122 97 24MB
German Pages [417] Year 2020
35 mm
Format: Bez.155x232, Aufriss: HuCo
JRGK 23
Noam Zadoff
Der Autor Noam Zadoff ist Assistenzprofessor am Institut für Zeit geschichte der Universität Innsbruck im Fach Israel Studien.
BAND 23
Ein Buch über das Leben des deutsch-israelischen Intellektuellen Gershom Scholem: die Geschichte eines Migranten und Remigranten, dessen Weg während des turbulenten 20. Jahrhunderts von Berlin nach Jerusalem führte – und zurück. Obwohl Gershom Scholem seine Auswanderung nach Palästina als Bewegung ohne Wiederkehr dargestellt hat, blieb er Zeit seines Lebens in engem Kontakt zu Deutschland. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren arbeitete er mit jüdischen Kulturinstitutionen und Verlagen in Berlin zusammen, doch auch nach dem Holocaust reiste er häufig nach Deutschland und übernahm eine besondere Funktion in den intellektuellen Kreisen des Landes: als moralische Autorität für die jüngere Generation, sowie als Brücke zur deutschen Kultur der Zwischenkriegszeit und des Kaiserreichs. Für Scholem selbst war diese »Rückkehr« auch ein Ergebnis seiner Ernüchterung von der zionistischen Utopie seiner Jugend.
ISBN: 978-3-525-57035-7
9 783525 570357
Zadoff Von Berlin nach Jerusalem und zurück
JÜDISCHE RELIGION, GESCHICHTE UND KULTUR
Von Berlin nach Jerusalem und zurück Gershom Scholem zwischen Israel und Deutschland
Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher
Band 23
Noam Zadoff
Von Berlin nach Jerusalem und zurück Gershom Scholem zwischen Israel und Deutschland Aus dem Hebräischen von Dafna Mach
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Gershom Scholem, im Hintergrund das Gemälde The Jester (1940–1949. Pastell, 60×40 cm) von Scholems Freundin, der Malerin Trude Krolik. Die Hand, die das Gemälde hält, gehört zu Fania Scholem. Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem GSA. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0963 ISBN 978-3-666-57035-3
Für Mirjam, Amos und Emilia
For the writer, language is a placenta. Language is not only a sweet and glorious conquest, but legitimization, a home. Norman Manea If authority be required, let us appeal to Plutarch, the prince of ancient biographers. […] „Nor is it always in the most distinguished achievements that men’s virtues or vices may be best discerned; but very often an action of small note, a short saying, or a jest, shall distinguish a person’s real character more than the greatest sieges, or the most important battles.“ (Plutarch’s Life of Alexander, Langhorne’s Translation). To this may be added the sentiments of the very man whose life I am about to exhibit. James Boswell
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung: Der metaphysische Clown . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Hoffnung und Enttäuschung: Die Kontinuität der Krise (1923–1938) 1. Kulturelle Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Anfänge in Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein junger deutscher Jude kommt nach Palästina . . . . . . . . Bialik und Agnon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erneuerung der hebräischen Sprache . . . . . . . . . . . . . b. Ein literarisch-kulturelles Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hebräische Universität und das Institut für Jüdische Studien Die Idee der Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Buber und die Zeitschrift Der Jude (1916–1928) . . . . . Jakob Klatzkin und die Encyclopaedia Judaica (1928–1934) . . . Salman Schocken und der Schocken-Verlag (1933–1939) . . . .
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2. (A-)Politische Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Brit Schalom: Ein politischer Kreis . . . . . . . . . Die Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . Die blutigen Unruhen von 1929 und deren Folgen b. Pilegesch: Ein intimer Kreis . . . . . . . . . . . . . Die Entstehung des Kreises . . . . . . . . . . . . . Die Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflüsse von außerhalb . . . . . . . . . . . . . . Persönliche Freundschaften . . . . . . . . . . . .
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68 68 68 71 77 87 98 98 101 105 111
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Inhalt
Zum Abschluss. Eine neue Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Reaktionen auf den Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Zionismus und Zion im Licht des Holocaust . . . . . . . . . . . . . b. Über die Wissenschaft des Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . .
133 133 143
5. Die Reise nach Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das „Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“ . . . . . . . b. Die Geschichte einer Reise: April bis August 1946 . . . . . . . . . . Vorbereitungen in Jerusalem (28. Januar bis 10. April) . . . . . . . . London – Paris, 1. Teil (10. April bis 15. Mai) . . . . . . . . . . . . . Paris, 2. Teil (15. bis 24. Mai) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zürich (24. Mai bis 5. Juni) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prag – Bratislava (Pressburg) – Wien – Prag (5. bis 24. Juni) . . . . Paris – Bad Arolsen – Frankfurt am Main – Offenbach (24. Juni bis 18. Juli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidelberg (18. Juli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankfurt-Offenbach (18. bis 24. Juli) . . . . . . . . . . . . . . . . . München (24. bis 29. Juli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankfurt – Berlin (30. Juli bis 11. August) . . . . . . . . . . . . . . Frankfurt – Heidelberg – Paris – Jerusalem (12. bis 26. August) . . . c. Die „Aktion“ der Bücher und Handschriften im Offenbacher Depot
160 160 169 169 172 178 181 182
6. Das Herz des Odysseus . a. Nach der Reise . . . . . b. Der öffentliche Aspekt c. Der persönliche Aspekt d. Schlusswort . . . . . .
233 233 237 240 244
3. Religiöse Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Schalschelet ha-Kabbala: Die Überlieferung . . . . . . . b. Der Ha-Ol-Kreis: Religion und religiöser Anarchismus c. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil: Verzweiflung: Die einzigartige Katastrophe (1939–1948)
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Inhalt
Dritter Teil: Nostalgie: Ein tiefes Heimweh (1949–1982) . . . . . . . . . . . .
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8. Zwischen Israel und Deutschland . . . . . . . . . . . . . a. Eichmann in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenüber dem Zionismus: Fragen der Zugehörigkeit Gegenüber dem Holocaust: Blick in die Zukunft . . . b. Das deutsch-jüdische Gespräch . . . . . . . . . . . . Vor dem Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach dem Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Zürich nach Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichte einer Freundschaft . . . . . . . . . . .
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9. Wieder in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens . . . . . b. Der erste fellow: Das Wissenschaftskolleg zu Berlin c. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen und Literatur . . . . . . Archive . . . . . . . . . . . . Gershom Scholems Schriften Forschungsliteratur . . . . .
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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. Eranos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Eranos-Treffen . . . . . . . . . . . . . Die Bühne: Am Fuß des Monte Verità . . . Der Geist von Eranos . . . . . . . . . . . . b. Der Weg zu Eranos . . . . . . . . . . . . . c. Widersprüche von Innen . . . . . . . . . . Die Tagung vom Sommer 1952 . . . . . . . Identifizierung und Distanz: Henri Corbin d. Kritik von Außen . . . . . . . . . . . . . . Carl Gustav Jung . . . . . . . . . . . . . Mircea Eliade . . . . . . . . . . . . . . . e. Die Bedeutung von Eranos . . . . . . . . .
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Danksagung
Ich möchte mich bei meinen Lehrern, Freunden und Kollegen, die mir in den unterschiedlichen Phasen der Arbeit an diesem Buch geholfen haben, bedanken. Gedankt sei insbesondere Moshe Zimmermann, Michael Brenner, Itta Shedletzky, Matthias Schmidt, Ada Rapoport-Albert, Rachel Elior, Moshe Idel, David Ruderman, Dan Laor, Jacob Barnai, Richard Cohen, David Myers, John Efron, Steven Aschheim, Jens Malte Fischer, Tilo Schabert, Shaul Magid, Malachi Hacohen sowie Eric Jacobson, mit denen ich die verschiedenen Aspekte von Gershom Scholems Leben und Werk diskutiert habe und die mir dabei halfen, mein Verständnis von Scholems komplexem Charakter zu schärfen und zu erweitern. Mein Dank geht auch an Freunde, Kollegen und an Studierende Scholems, die ihre Erinnerungen und Einblicke mit mir geteilt haben, besonders an Jürgen Habermas, Hartmut von Hentig, Mayer Abramowitz und Avraham Shapira. Ebenso dankbar für ihre Hilfe bin ich den Mitarbeitern der verschiedenen Archive und Bibliotheken, die ich für meine Recherchen aufgesucht habe: der Archivabteilung an der Israelischen Nationalbibliothek, des Central Archive for the History of the Jewish People in Jerusalem, des Archivs der Hebräischen Universität in Jerusalem, der Oral-History-Abteilung an der Hebräischen Universität und des Archivs des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Danken möchte ich auch Ernst-Peter Wieckenberg, der mir ein Fenster in die intellektuelle Welt Deutschlands in der Nachkriegszeit geöffnet hat. Meine Eltern, Diana und Efraim Zadoff, und meine Schwiegereltern, Huberta und Richard Triendl, standen mir während der Arbeit an diesem Buch stets mit ihrem Rat und ihrer Hilfe zur Seite. Die deutsche Übersetzung des Buches wurde durch eine finanzielle Unterstützung der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der LudwigMaximilians-Universität München ermöglicht. Mein besonderer Dank geht an Dafna Mach für die Übersetzung des Buches und an Josef Prackwieser für das Lektorat.
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Danksagung
Schließlich geht mein Dank an meine geliebte Familie, an Mirjam, Amos und Emilia, deren Geduld und Unterstützung das Schreiben dieses Buches ermöglicht haben. München, im Herbst 2019
Noam Zadoff
Einleitung: Der metaphysische Clown „I call myself a metaphysical clown“, Scholem says; „a clown hides himself in a theater“. […] „How much of Professor Scholem is theater?“ „Ask Mrs. Scholem“. Mrs. Scholem: „One hundred percent“. Cynthia Ozick 19741
Als der junge Berliner Jude Gerhard Arthur Scholem – der vierte und jüngste Sohn des Druckerei-Besitzers Arthur Scholem und dessen Frau Betty – sich entschloss, seinen Namen zu hebraisieren,2 signalisierte er damit eine zweifache Neuorientierung in seinem Leben: Durch Verzicht auf seinen zweiten Vornamen, den Rufnamen des Vaters, kehrte er seiner Vergangenheit, der durch Arthur Scholem repräsentierten deutsch-jüdischen bürgerlichen Kultur, den Rücken; und indem er seinen deutschen Vornamen Gerhard durch Gershom ersetzte, signalisierte er seine Hinwendung zur Zukunft: zum jüdischen Volk und zur hebräischen Kultur, zunächst in Berlin, später dann in Palästina. Der erste erhaltene Beleg für die Verwendung seines hebräischen Vornamens ist ein Brief an seinen Freund Harry Heymann; dort unterschrieb er sowohl mit „Gerhard“ als auch mit „Gerschom“ und fügte hinzu: „N.B. Jetzt ändern doch alle Leute ihre Namen, jetzt bin ich ‚ein Fremdling dort‘!!!“3 Gershom – so nannte der biblische Moses seinen ältesten Sohn, der ihm in seinem Zufluchtsland Midian geboren wurde; im Bibeltext (Ex 2,22) ist die Namensetymologie angegeben: Ein Fremdling (‚Ger‘) war ich dort (‚scham‘). Was den jungen Gerhard zur Annahme dieses hebräischen Vornamens veranlasste, waren gewiss nicht nur klangliche Erwägungen, sondern zusätzlich das Gefühl der Fremdheit im Geburtsland. Mit dieser Namensänderung stellte er sich in die Reihe vieler jüdischer Jugendlichen in Mittel- und Osteuropa, die sich zum Zionismus hingezogen fühlten und in das damalige Palästina auswandern wollten. Ein halbes Jahr später unterzeichnete er einen Brief an seinen Freund Aharon Heller mit dem vollen hebräischen Namen, der ihn für sein weiteres Leben begleiten sollte: Gershom Schalom.4 Vor einigen Jahren fand ich in einem Jerusalemer Antiquariat die deutsche Ausgabe der Korrespondenz zwischen Scholem und seinem Jugendfreund Walter 1 Ozick, The Fourth Sparrow, 148. 2 Den deutschen Vornamen ersetzte er durch einen hebräischen; der Familienname in hebräischen Buchstaben lautet nach der modernen israelischen Aussprache ‚Schalom‘. 3 Scholem an Heymann, 27. 1. 1917, in: Scholem, Briefe I, 68. 4 Scholem an Heller, 17. 7. 1917, in: ebd., 83.
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Einleitung: Der metaphysische Clown
Benjamin. Dieses 1980 erschienene Buch stammte aus dem Nachlass von Hedi Strauss, die 1938 von Deutschland nach Palästina ausgewandert war und dort als Lektorin für deutsche und englische Texte gearbeitet hatte.5 Auf dem Titelblatt steht eine kurze Widmung auf Deutsch aus Scholems Hand: „Für Hedi Strauss, mit herzlichem Dank und zur guten Erinnerung, Gerhard Scholem“. Dass Scholem so viele Jahre nach der Hebraisierung seines Namens in Israel eine Widmung mit seinem deutschen Namen unterschrieb, ließ mich vermuten, dass die durch die Namensänderung markierte Neubestimmung seiner Identität vielleicht doch nicht ganz so radikal und endgültig gewesen war, wie er sie gern darstellte. Ausführlich reflektiert hat Scholem seine zionistisch motivierte Auswanderung in seiner Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem, die 1977 auf Deutsch erschien, auf Hebräisch in erweiterter Form 1982 wenige Wochen nach seinem Tod. Schon die Überschrift lässt vermuten, dass Scholem hier gewissermaßen eine Einbahnstraße beschreibt: eine Bewegung von einem Ausgangs- zu einem Zielpunkt. Und so spielt Scholems Lebensgeschichte für den Leser zwischen diesen beiden Polen: zwischen Vergangenheit und Zukunft. Bekräftigt wird dieser Eindruck dadurch, dass Scholem seinen Bericht im Jahr 1925 enden lässt, im Alter von 28 Jahren, mit seiner Ernennung zum Dozenten an der soeben gegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem. Dieses Buch enthält das Narrativ seines Lebens, er schildert darin den „Weg eines jungen Juden, dessen Weg aus dem Berlin meiner Kindheit und Jugend nach Jerusalem und Israel führte“.6 Ungeachtet der Faszination durch den detailreich geschriebenen Bericht bleiben für den Leser viele Fragen offen: Weshalb hat Scholem die Geschichte seines Lebens gerade an diesem Punkt abgebrochen, obwohl noch ein gutes halbes Jahrhundert wissenschaftlicher und öffentlicher Tätigkeit, seine eigentliche Karriere, folgen sollte? Weshalb wollte er gerade dieses Kapitel seiner Lebensgeschichte erhellen und ließ die übrigen Abschnitte, die nicht weniger interessant gewesen wären, im Dunkeln? Weshalb veröffentlichte er seine Autobiographie zuerst auf Deutsch? Und wie hängt die im Titel angedeutete einlinige Bewegung mit der Beantwortung dieser Fragen zusammen? Aus solchen Erwägungen heraus ist das vorliegende Buch entstanden. In Scholems Darstellung seines Weges von Berlin nach Jerusalem, wie er ihn schriftlich und bei etlichen Gelegenheiten mündlich schilderte, gibt es eine unübersehbare Diskrepanz, denn sein Lebensweg ist offenbar nicht so einfach und geradlinig verlaufen, wie er selbst ihn sehen wollte; vielmehr war er von inneren 5 Hedi Strauss war die Sekretärin von Kurt Blumenfeld bis zu dessen Tod im Jahr 1963. Sie half Scholem bei der Niederschrift seiner Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem auf Deutsch. Bis zu Scholems Tod 1982 erledigte sie Schreibarbeiten für ihn: Strauss/Voss, Mein immergrünes Dorf, 88. 6 Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 9.
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Widersprüchen durchsetzt, um deren Ausgleich Scholem sein Leben lang bemüht war. Das vorliegende Buch versucht die Ambivalenz, die Scholems Weg nach Israel und sein dortiges Leben bestimmte, aufzuzeigen und im historischen Kontext zu untersuchen. Insofern ist es ein erster und bislang nicht unternommener Versuch, Scholems Leben und Werk innerhalb und in Wechselwirkung historischer und gesellschaftlicher Umstände zu begreifen. Wer Scholems umfangreichen, in gedruckter wie archivalischer Form vorliegenden Nachlass sichtet, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sein posthumes intellektuelles Vermächtnis sorgfältig vorbereitete. Wie manch andere Vertreter seiner Generation schrieb er in seiner Jugend Hunderte von Seiten in verschiedenste Tagebuchhefte. Zusammen mit zahlreichen Briefen brachte er diese Tagebücher nach Palästina mit und bewahrte sie sein ganzes Leben lang sorgfältig auf. Dass er diese Schriften verfasst und aufbewahrt hatte, zeigt, wie bewusst ihm seine eigene Rolle als Intellektueller gewesen sein muss. Die Fülle an erhaltenem Material weist darauf hin, dass er seine persönlichen Dokumente als würdiges Erbe für zukünftige Generationen betrachtete. Während der intensiven Arbeit in Scholems Privatarchiv an der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem beschlich mich oft das Gefühl, mich auf eine archäologischen Suche in einem Pharaonengrab, voll mit unbekannten und wertvollen Schätzen, begeben zu haben und auf geheimnisvolle Hinweise zu stoßen, die das Verständnis verschiedener Episoden von Scholems Leben ermöglichen. Gleichzeitig kam es mir oft so vor, dass Scholem in seinen biographischen Schriften auch eine Vielzahl von blinden Türen und Sackschächten angelegt hat, ganz so, wie sie in pharaonischen Grabkammern zu finden sind. Indem er hie und da komplexe wie auch widersprüchliche biographische Informationen streute und sich gleichzeitig hinter einer Fülle historischer Details versteckte, scheint es, als ob er den Biographen ablenken möchte, der die historische Person Scholems sucht, um dessen wahres Wesen zu begreifen. Vor dem Versuch, ein neues Portrait Scholems zu zeichnen, steht die Lektüre von dessen veröffentlichtem und unveröffentlichtem Œuvre im historischen Kontext, die aufmerksame Suche nach versteckten Intentionen und der Vergleich persönlicher Dokumente mit den Eindrücken, die er bei seinen Zeitgenossen hinterlassen hat. Scholem wird als einer der prominentesten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts angesehen, und sein Werk und intellektuelles Leben rücken immer mehr ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Dieses Buch ist die erste Biographie über Gershom Scholem seit seinem Tod und der erste Versuch, ihn als agierenden Menschen innerhalb seiner historischen und sozialen Verhältnisse darzustellen.7 Diese Monographie zeigt, wie Scholem zwischen den Herausfor7 Seit der Veröffentlichung der hebräischen Fassung dieses Buches im Jahr 2015 sind folgende
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derungen des jüdischen Lebens und den verschiedenen jüdischen Welten seiner Zeit navigierte. In ihr wird der Geschichte seiner Alija nachgegangen, von den Unruhen zwischen Juden und Arabern in Palästina im Jahr 1929, dem Holocaust und seinen Nachwirkungen berichtet sowie die politischen Entwicklungslinien in Israel bis in die 1970er-Jahre nachgezeichnet. Scholems Schriften und Betrachtungen berücksichtigen, wiewohl sie sein eigenes Leben zum Thema haben, nicht den gesamten historischen Kontext. Das Ziel dieses Buches ist es, ein neues und differenzierteres Verständnis zu schaffen, das eine innovative und tiefere Interpretation seines Lebens und Werkes ermöglicht. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Der erste behandelt die Jahre zwischen Scholems Übersiedlung nach Jerusalem und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs; im zweiten Teil geht es um Scholems Reaktion auf den Holocaust – sowohl in den Jahren während des Kriegs als auch angesichts seiner Erfahrungen während seiner Europareise nach Kriegsende; und der dritte widmet sich seiner Annäherung an die deutsch-sprachige intellektuelle Welt in den Jahrzehnten danach. Der erste Teil präsentiert Scholem und sein Wirken im Rahmen des großangelegten und kulturell bedeutsamen Projekts, das nichts weniger als eine „jüdische Renaissance“ zum Ziel hatte: das Sammeln jüdischen Kulturguts im „Kinnus“- oder Anthologie-Projekt. In diesem Zusammenhang geht es um sein Verhältnis zur Hebräischen Universität, zur hebräischen Sprache und zu den zwei großen hebräischen Schriftstellern jener Zeit, mit denen Scholem persönlich bekannt war: Chaim Nachman Bialik und Schmuel Josef Agnon. Außerdem wird Scholems Beteiligung an der jüdisch-kulturellen Erneuerung im Berlin der zwanziger Jahre untersucht. In jenen Jahren veröffentlichte Scholem einen großen Teil seines akademischen Schrifttums auf Deutsch, und zwar in jüdischen Publikationsorganen in Deutschland. Anschließend wird Scholems Tätigkeit im Brit Schalom dargestellt, der politischen Vereinigung, der er während dieses Jahrzehnts angehörte. Sein Engagement in diesem Kreis, der überwiegend aus deutsch-sprechenden Zionisten bestand und dessen Wirksamkeit sich zu einem erheblichen Teil in Deutschland abspielte, war für ihn eine Quelle der Enttäuschung über den Jischuw, die jüdische Bevölkerung Palästinas, und deren Haltung zur arabischen Bevölkerung. In denselben Jahren war Scholem auch Mitglied des Pilegesch-Kreises, einer kleinen Gruppe von Jerusalemer Akademikern aus dem deutschen Kulturbereich, die sich stets am Nachmittag des Sabbats zu Bände über das Leben Gershom Scholems erschienen: George Prochnik, Stranger in a Strange Land. Searching for Gershom Scholem and Jerusalem, New York 2017; Amir Engel, Gershom Scholem. An Intellectual Biography, Chicago 2017; David Biale: Gershom Scholem. Master of the Kabbalah, New Haven 2018; Zadoff, Mirjam/Zadoff, Noam (Hg.), Scholar and Kabbalist. The Life and Work of Gershom Scholem, Boston/Leiden 2018; Jay H. Geller, The Scholems. A Story of the German-Jewish Bourgeoisie from Emancipation to Destruction, Ithaca/London 2019.
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einer privaten Gesprächsrunde trafen. Diese Gespräche fanden auf Deutsch statt, worin sich der Wunsch der Teilnehmer äußerte, im geschlossenen Kreis eine Enklave deutscher Kultur zu bilden, obwohl ringsum alles Deutsche als feindlich wahrgenommen wurde und daher verpönt war. Ein weiterer Aspekt, der in diesem ersten Teil untersucht wird, ist Scholems Verhältnis zur religiösen Dimension des Judentums, wie es sich in diesen Jahren herauskristallisierte. Einerseits geht es um den Fokus seiner akademischen Erforschung der Kabbala, andererseits um sein Selbstverständnis als religiöser Mensch, der sich keiner religiösen Autorität unterworfen fühlte. Der zweite Teil dieses Buches ist Scholems Haltung gegenüber dem Holocaust gewidmet. Zunächst wird diskutiert, wie er auf den Holocaust reagierte, und zwar im Kontext der Haltung der jüdischen Bevölkerung Palästinas und deren Führung. Dazu wird hier unter anderem sein berühmter hebräischer Essay von 1944, die Überlegungen zur Wissenschaft des Judentums, analysiert. Im Weiteren folgt eine Schilderung der Monate Februar bis August 1946, die Scholem im Auftrag der Hebräischen Universität im besetzten Europa verbrachte, um von den Nationalsozialisten geraubte jüdische Bücher ausfindig zu machen. Im Zuge dieser Reise sah er sich unmittelbar mit den Folgen des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Dieses Unternehmen hatte für ihn große symbolische Bedeutung und hinterließ einen tiefen und nachhaltigen Eindruck, der einen biographischen Wendepunkt sowohl in seiner Einstellung zum Zionismus als auch zu Deutschland auslöste. Der dritte Teil ist Scholems Engagement in Deutschland und seiner Schreibtätigkeit in deutscher Sprache gewidmet, die in den Jahren nach 1945 stetig zunahm. Hier geht es um den Schweizer Eranos-Kreis, an dessen Treffen in Ascona er von 1949 bis 1979 regelmäßig aktiv teilnahm. Scholems Position in diesem Kreis und sein Verhältnis zu den anderen Teilnehmern besonders in den fünfziger Jahren ist aufschlussreich für seine Einstellung zur deutschen Kultur. Im Anschluss werden drei Aspekte aus Scholems intellektueller Tätigkeit in den sechziger Jahren näher behandelt: die Kontroverse mit Hannah Arendt über deren 1963 veröffentlichtes Buch Eichmann in Jerusalem; die Debatte darüber, ob und auf welche Weise der deutsch-jüdische Dialog in der Zeit vor dem Holocaust geführt worden war; schließlich Scholems Bemühungen, die Schriften seines verstorbenen Freundes Walter Benjamin in Deutschland stärker bekannt zu machen. Letztere Untersuchung konzentriert sich vor allem auf die beiden Briefbände, die Scholem 1966 zusammen mit Theodor W. Adorno herausgab. Die Arbeit am Benjamin-Nachlass wurde zur Grundlage einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialforschung und dem Suhrkamp-Verlag in Frankfurt am Main, was wiederum einen entscheidenden Faktor für Scholems Wahrnehmung im westdeutschen intellektuellen Milieu darstellte. Das letzte Kapitel dieses Teils behandelt seine Rezeption in Deutschland während der
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Einleitung: Der metaphysische Clown
siebziger Jahre bis hin zur Aufnahme in das damals neu gegründete Wissenschaftskolleg zu Berlin 1981, dem letzten Jahr seines Lebens. Der abschließende Teil dieses Buches diskutiert Gershom Scholems Autobiographie, die er gegen Ende seines Lebens veröffentlichte. Diese Biographie wird im Kontext zweier unterschiedlicher Zeitachsen gelesen: der Gegenwart, in der es geschrieben wurde, und der Vergangenheit, die es schildert. Auf diese Weise komme ich zum Abschluss auf die zentralen Fragen zurück, die am Beginn des Buches stehen und in ihrem Verlauf ausführlich erörtert werden. Die Analyse von Gershom Scholems Leben zwischen seinem Herkunftsland und Palästina bzw. Israel – d. h. seinem in jungen Jahren formulierten ideologischen Ziel und dessen Realisierung – erzählt zugleich ein wichtiges Kapitel der Geschichte des Zionismus und seiner Verwirklichung in Palästina und dem Staat Israel und damit des jüdischen Geisteslebens im 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus ist dieses Buch auch ein Beitrag zum Verständnis persönlicher Utopien, nachdem sie in Erfüllung gegangen sind. Obwohl das vorliegende Buch den Erzählfaden von Scholems Leben wie er selbst an einem bestimmten geographischen und chronologischen Punkt aufnimmt, will es im Unterschied zu Scholems eigener Darstellung kein vollständiges, in sich stimmiges Bild entwerfen. Das Wissen des Biographen und die Prinzipien, denen zufolge das dialektische Verhältnis zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem aufgezeigt wird, unterscheiden sich ganz wesentlich von denen des Autors, der eine kohärente Geschichte seines eigenen Lebens zu schreiben versucht. Einerseits besteht das Bedürfnis, möglichst Vieles aufzudecken, andererseits sind aufgrund des zeitlichen Abstands sowie des schwer fassbaren Charakters der menschlichen Psyche und Gefühlswelt erhebliche Beschränkungen gesetzt; innerhalb dieser Spannung entwickelt sich diese Lebensgeschichte – eine der vielen Lebensgeschichten von Gershom Scholem.
Erster Teil: Hoffnung und Enttäuschung: Die Kontinuität der Krise (1923–1938) Zionismus heißt die Umgehung jenes kritischen Punktes, an dem unser Volkstum in unserm Leben erschien. Die Kontinuität jener Krisis ist die Größe, die uns bedroht. G. Scholem 19191
1 Scholem, Tagebücher 2, 554.
1.
Kulturelle Zusammenhänge Indifferenz auf der einen Seite, maßlose Verhimmelung der Form, des gesprochenen Hebräisch ohne jede Kultur, die doch dem hebräischen Wort erst seinen Sinn verleiht, auf der anderen Seite kennzeichnen die geistige Lage des neuen Jischuw in dieser Frage, die eine der wichtigsten ist. Es steht zu befürchten, daß die junge, in diesem Milieu aufgewachsene hebräisch sprechende Generation vielleicht radikal hebräisch, aber viel weniger jüdisch sein wird als die Deutschlands oder Amerikas, die in ihrer Mitte große Lehrer hat, die wohl nicht hebräisch sprechen und schreiben, aber den Quellen des Judentums näher sind. Hugo Bergmann, 19271
a.
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Ein junger deutscher Jude kommt nach Palästina Am Morgen des Versöhnungstags, dem 20. September 1923, fuhr ein kleiner „Küstendampfer, der Fracht und ein paar Passagiere transportierte und die verschiedenen Häfen zwischen Alexandria und Istanbul anlief“, in den Hafen von Jaffa ein. Er hätte am Vorabend ankommen sollen, hatte sich aber in Port Said verspätet. Unter den wenigen Reisenden an Bord befanden sich zwei junge Juden aus Deutschland, die in den Jüdischen Studien des 20. Jahrhunderts Grundlegendes leisten sollten, jeder auf seinem Gebiet. Der erste, der Orientalist Shlomo Dov Goitein, ging nicht an Land, sondern fuhr weiter bis zur nächsten Station in Haifa; der andere, der von seiner Verlobten Escha Burchardt abgeholt wurde, stieg aus und betrat zum ersten Mal in seinem Leben den Boden des gelobten Landes. Nach zehn Tagen Aufenthalt in Tel-Aviv und im Moschaw Ein-Gannim bei Petach Tikwa, wo er das Laubhüttenfest bei seinen nicht lange zuvor eingewanderten Freunden aus der Berliner zionistischen Jugendbewegung verbrachte, gelangte Gershom Scholem nach Jerusalem, wo er sich niederließ.2 Beruflich integrierte sich der Sechsundzwanzigjährige schnell und leicht; bereits während seiner ersten Woche in Jerusalem wurden ihm zwei Arbeitsplätze angeboten: als Mathematiklehrer am Lehrerseminar in Jerusalem einerseits, als Bibliothekar an der hebräischen Abteilung der Nationalbibliothek, deren Leiter Hugo Bergmann war, andererseits. 1 Bergmann, Geistiges Leben, in: Palästina 10 (1927) 6, 325. 2 Die Darstellung hier folgt der erweiterten Fassung von Scholems Autobiographie: Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 202ff.
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Diesen hatte er bereits in Bern kennengelernt, bei ihm wohnte er in der ersten Zeit nach seiner Einwanderung.3 Nach einigem Überlegen entschied sich Scholem für die Stelle an der Bibliothek, obwohl sie schlechter bezahlt war. Dort würde er die Möglichkeit haben, sich mit Dingen zu beschäftigen, die ihn interessierten, wohingegen der Lehrerberuf allerlei zusätzliche Belastungen mit sich bringen könnte: „Als Lehrer würde ich auch am Nachmittag Hefte zu korrigieren haben, und wer weiß, ob nicht die Schüler über meine berlinische Aussprache lachen würden“, schrieb er in seinen Memoiren.4 An der Nationalbibliothek arbeitete er vier Jahre lang, bis er an der 1925 gegründeten Hebräischen Universität zunächst eine halbe, dann eine ganze Stelle als Dozent für Kabbala erhielt. Auch in persönlicher Hinsicht erwies sich Scholems Integration in Palästina bald als sehr zufriedenstellend. Am 5. Dezember, seinem Geburtstag, heiratete er seine Braut Escha Burchardt: Der Hochzeitsbaldachin stand auf dem Dach des orthodoxen Lehrerseminars im Stadtzentrum von Jerusalem, und die Trauung wurde von Rabbiner Simcha Assaf vorgenommen, der später Professor für Talmud, Rektor der Hebräischen Universität und Mitglied des israelischen Obersten Gerichtshofs werden sollte. Gershom und Eschas Ehe hielt zwölf Jahre: 1936 ließen sich die beiden scheiden und Scholem heiratete seine Studentin Fania Freud; diese Ehe hatte bis zu seinem Tod Bestand. Im Dezember 1924 bezog das junge Paar – Gershom und Escha – eine Wohnung in der Abbessinischen Straße an der Grenze zu Mea Schearim, dem Wohnviertel der Ultra-Orthodoxen. Damals gab es dort eine Vielzahl alter hebräischer Bücher zu kaufen, darunter auch kabbalistische Schriften, und in Anbetracht der geringen Nachfrage waren sie nicht allzu teuer, sodass Scholem seine Bibliothek schnell erweitern konnte.5 Überhaupt verlief Scholems Akklimatisierung ohne größere Schwierigkeiten. Körperlich gewöhnte er sich an die damals recht primitiven Jerusalemer Wohnverhältnisse, ohne von einer der Krankheiten befallen zu werden, mit denen andere Einwanderer aus Europa zu kämpfen hatten.6 In gesellschaftlicher Hinsicht stellt er seine Ankunft in Jerusalem als den Eintritt in ein Netzwerk dar, das sich gerade im Aufbau befand und aus dem für ihn viele dauerhafte freundschaftliche Beziehungen hervorgingen. So entstanden neue Bekanntschaften mit überwiegend osteuropäischen Einwanderern, die schon etwas länger im Land wohnten; gleichzeitig lebten alte Bekanntschaften wieder auf, vor allem mit Kommilitonen aus der zionistischen Jugendbewegung in Deutschland, die sich in landwirtschaftlich geprägten Siedlungen niedergelassen hatten.
3 4 5 6
Zu Scholems früherer Bekanntschaft mit Bergmann s. ebd., 128f. Ebd., 208. Ebd., 216–218. Ebd., 211f.
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Abbildung 1. Escha und Gershom Scholem, Jerusalem 1924
Wie Scholem seine Einwanderung rückblickend schildert, war sie in persönlicher, sozialer und ideologischer Hinsicht ein voller Erfolg. Etwa ein Jahr nach seiner Ankunft berichtete er seinem noch in Deutschland lebenden Freund Werner Kraft über seine Eindrücke und seine Lebensumstände in Palästina. In seiner Autobiographie zitiert Scholem einen längeren Passus aus diesem Brief, ohne den Namen des Empfängers zu nennen: Mein Leben hier verläuft sehr still. Von den innerlichen Verhältnissen, die die Beziehung zu[m] Lande betreffen, weiß ich nicht viel zu schreiben. Ich gehöre aufs entschiedenste zu der Sekte derer, die den apokalyptischen Meinungen anhängen, was das Schicksal der zionistischen Bewegung hier sein wird. Du kannst Dir in keiner Weise vorstellen, welche Welten sich hier berühren: das Leben hier ist für denkende Köpfe eine offene Einladung, überzuschnappen, und auf jeden Fall ist so oder so ein theologischer Hintergrund hier auch der lächerlichsten Lebensform unentrinnbar notwendig, wenn man nicht eben „auftreten“ will, was hier teilweise als Messias, teilweise als Arbeiterführer, z. T. noch in unheimlicheren, wesentlich unheimlicheren Kostümen geschieht. Man kann vom neuen Palästina in der Tat, wenn Du mich richtig verstehen willst, alles sagen, und insbesondere Schlimmes (wie sollte es auch bei diesem unvorstellbaren Aufeinanderprall entfesselter Produktivitäten aus 6 Erdteilen und der oberen Welt dazu
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anders sein?), aber daß hier mehr geschieht als in andern Winkeln dieser Erde, scheint mir notwendig zuzugeben.7
Bis hier klingt die Schilderung seines neuen Wohnortes zwar etwas sarkastisch, aber insgesamt recht positiv. Die Fortsetzung eben jenes Briefes wurde erst nach Scholems Tod veröffentlicht: Ich persönlich leide aufs katastrophalste an den Sprachverhältnissen, von denen man wohl nicht vernünftig schreiben kann. Sollte ich einmal eine Abhandlung darüber zu Stande bringen, wird sie Dir nicht verborgen bleiben. Die Literaten sind in diesem Lande zwar so schlecht wie überall, und wie jüdische Literaten sind, aber so hintergründig, wie die von Dir beschriebenen Gespenster sind sie nicht! Sie sind hierzulande (ein Phänomen, das erst die zionistische Phase völlig zur Entfaltung bringen wird) nur eines: dumm. Erstaunlich dumm, sage ich dir. Das Phänomen ursprünglicher, originaler (um nicht zu sagen originärer) Dummheit von Juden ist in der Diaspora offenbar völlig unbekannt. Es gehört zu den stärksten Eindrücken des Landes. Ich sage das nicht als Witz. Man trifft in diesem apokalyptischen Lande, und nur hier wohl, Gartenlaubenfiguren auf Hebräisch, ein sehr aufregendes Phänomen. Man trifft noch die letzten Kabbalisten.8
Neben Erstaunen und Verwunderung über die Atmosphäre in Scholems neuem Umfeld sind hier auch unverblümt negative Aussagen über die kulturellen Verhältnisse unter den damals in Palästina wohnhaften Juden zu vernehmen. Aus diesem letzten Teil, den er, wie gesagt, nicht in seine Autobiographie aufgenommen hat, ist zu spüren, wie enttäuschend für ihn die Begegnung mit der kulturellen und geistigen Seite Palästinas gewesen sein muss. Diese Enttäuschung ist durchaus verständlich, wenn man die Stellung Palästinas in der jüdischen Kulturwelt jener Jahre bedenkt, zumal im Vergleich zu den Verhältnissen in seiner Heimatstadt Berlin zur gleichen Zeit. Wenn Palästina in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts am Rande der jüdischen und hebräischen Geisteswelt lag, dann war Berlin der Nabel eben dieser Welt. Es ist nur nachvollziehbar, dass Scholems Wechsel aus diesem lebenssprühenden Zentrum an die Peripherie – in der Absicht, diese Peripherie zu einem neuen Zentrum zu machen – mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war und keineswegs so glatt und mühelos vonstattenging, wie er ihn im Rückblick darstellte. Wie dieser Übergang verlief und worin die im Brief an Werner Kraft artikulierte Enttäuschung bestand, wird deutlicher, wenn wir uns die zionistischen Vorstellungen vom Land Israel vor Augen führen, die der junge Scholem im Kontakt mit Vertretern hebräischer Kultur in Deutschland entwickelt hatte.
7 Bis hier das Zitat in: ebd., 225. 8 Gerhard Scholem an Werner Kraft, 17. Dezember 1924, Scholem, Briefe I, 222.
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Bialik und Agnon In Scholems jungen Jahren, während des Ersten Weltkriegs und zur Zeit der Weimarer Republik, erlebte Deutschland einen ungeheuren Aufschwung jüdischer Kultur. Das kulturelle Erwachen in den jüdischen Gemeinden selbst und der Zuzug jüdischer Intellektueller aus Osteuropa machten Städte wie Berlin, Frankfurt am Main oder Bad Homburg zu blühenden Zentren jüdischer Kultur.9 Die Begegnung der deutschen Juden mit Juden aus Osteuropa war für Scholem wie für viele seiner Altersgenossen ein prägendes Erlebnis, das sich auf seine zionistische Entwicklung entscheidend auswirkte. Die Konfrontation mit den „Ostjuden“, zunächst in den Schriften Martin Bubers, später in persönlichen Bekanntschaften, löste bei ihm eine Bewegung in Gang, die ihn ins Land Israel führen sollte. Die Herausbildung hebräisch-zionistischer Kulturzentren lässt sich als eine Entwicklung skizzieren, die in Osteuropa begann und über Deutschland schließlich zu ihrem Bestimmungsort im Land Israel führte. Die Blütezeit des Durchgangszentrums Berlin fiel genau in die Jahre, in denen Scholems zionistisches Bewusstsein Gestalt annahm, und sie hing, vor allem bei jugendlichen Zionisten, mit einem nostalgischen Blick auf das osteuropäische Judentum zusammen.10 Zum Stellenwert der Begegnung mit Juden aus Osteuropa für junge deutsche Juden schrieb Scholem viele Jahre später: Nicht nur ich, sondern auch sehr viele meiner Altersgenossen fühlten sich zu den Ostjuden hingezogen, und dies aus einem einfachen Grund. Je mehr wir in unseren eigenen assimilierten Familien auf Ablehnung ostjüdischer Art und Verachtung für alles, was Ostjuden und ihre Lebensweise anging, stießen, desto stärker zog uns gerade dieses Wesen an. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß es damals, besonders in den Jahren des Ersten Weltkriegs und kurz nachher, bei den Zionisten geradezu so etwas wie einen Kult alles Ostjüdischen gab. Wir alle hatten die ersten beiden Bücher Martin Bubers über den Chassidismus gelesen, Die Erzählungen des Rabbi Nachman und Die Legende des Baalschem, die wenige Jahre vor dem Krieg erschienen waren und Buber sehr berühmt gemacht hatten. In jedem Juden aus Rußland, Polen, Galizien, der uns begegnete, sahen wir etwas wie eine Inkarnation des Baalschem und jedenfalls des unverstellten und uns faszinierenden jüdischen Wesens. In meinem Leben haben diese ostjüdischen Kontakte und Freundschaften eine große Rolle gespielt.11
Unter jenen jungen osteuropäischen Juden, die Scholem wesentlich beeinflussten, war Salman Rubaschow, nachmals Shazar – der dritte Präsident des Staates Israel –, der ihn mit dem Kreis der russisch-jüdischen Zionisten und Sozialisten 9 Dazu Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 158–164; Aschheim, Brothers and Strangers. 10 Dazu s. Shavit, On the Hebrew Cultural Center. 11 Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 48f.
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in der Berliner Pension Struck bekannt machte. Dorthin war Gerhard Scholem umgezogen, nachdem ihn der Vater wegen seiner Kriegsgegnerschaft aus dem Haus geworfen hatte.12 Eine weitere Begegnung aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, aus der eine lebenslange komplexe Beziehung hervorgehen sollte, war die mit einem jungen hebräischen Schriftsteller aus Galizien, der damals in Deutschland lebte: Schmuel Josef Czaczkes, bekannt als Schmuel Josef (Schai) Agnon. Als der junge Scholem ihn während des Kriegs in Berlin kennenlernte, war er bereits ein berühmter Schriftsteller und eine bekannte Figur in der dortigen zionistischen Jugend. Das hatte Agnon nicht zuletzt den rühmenden Worten zu verdanken, die Martin Buber der deutschen Veröffentlichung zweier seiner Erzählungen voranschickte. Diese erschienen in der Anthologie Treue, die von Prager Zionisten im Berliner Jüdischen Verlag herausgegeben wurde und die man zu Pessach 1916 an alle jüdischen Soldaten in der deutschen Armee verschickte, die zionistischen Organisationen angehörten.13 In seiner Einleitung nannte Buber Schai Agnon einen der „Wenigen, die die Weihe zu den Dingen des jüdischen Lebens haben“, und bezeichnete ihn als Dichter und Erzähler, der den Reichtum und die Vielfalt jüdischen Lebens verkörpere. „Galizier und Palästinenser, Chassid und Pionier, trägt er in seinem treuen Herzen die Essenz beider Welten im Gleichgewicht der Weihe“, schrieb Buber und schloss mit einer Sympathiebekundung: „Soll ich sagen, wie wir ihn schätzen? Wir lieben ihn“.14 Auch wenn sich Scholem Jahre später über Bubers Stil in diesen Einführungsworten mokierte, dürften sie ihn wie viele seiner damaligen Altersgenossen in Deutschland tief beeindruckt haben. Als er Agnon in der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde Berlin zum ersten Mal von ferne sah, so erinnert sich Scholem, habe ihm die dortige Bibliothekarin diese Worte Bubers zugeflüstert.15 Die persönliche Bekanntschaft zwischen Agnon und Scholem kam 1917 durch einen gemeinsamen Freund, den Berliner Rechtsanwalt Max Strauß, zustande. Dieser arbeitete damals an einer deutschen Übersetzung von Agnons Roman Und das Krumme wird gerade, wobei er gelegentlich Scholems Rat einholte.16 Im Verlauf mehrerer Begegnungen bei Strauß kamen Scholem und Agnon einander näher, woraus eine andauernde Freundschaft entstand. Scholem war von dem etwa zehn Jahre älteren Dichter zutiefst beeindruckt:
12 Vgl. ebd., 92f. 13 Vgl. ebd., 104–107; Laor, Chaijej Agnon, 104f. Bei den dort veröffentlichten Erzählungen von Agnon handelt es sich um „Totentanz“ und „Aufstieg“, übersetzt von Max Mayer und Leo Herrmann. 14 Buber, Über Agnon, in: Leo Herrmann (Hg.), Treue – eine jüdische Sammelschrift, Berlin 1916, 59. 15 Scholem, Devarim be-Go, 463–465. 16 Vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 103f.
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Die russischen Juden, mit denen ich in der Pension Struck wohnte, waren ihrer Anlage und ihrem Charakter nach Intellektuelle, im Grunde Aufklärer und Aufgeklärte. Agnon aber kam gleichsam von ganz weit her, aus einer Welt der Bilder, in der die Quellen der Imagination aufs reichste sprudelten. Seine Gespräche waren oft genug durchaus profaner Natur, aber er sprach im Stile der Helden seiner Erzählungen, und dieser Sprechstil hatte etwas unwiderstehlich Anziehendes.17
Noch Jahre später bezeichnete er Agnons Auftreten in Deutschland als ein ganz besonderes Ereignis, weil dieser seine ganz eigene Art hatte, anders als die bis dahin in Deutschland bekannten hebräischen Schriftsteller. Die Verbindung von ostjüdischer Wesensart mit dem Land Israel machte Agnon in den Augen junger deutscher Zionisten zum Inbegriff eines authentischen Juden.18 Er erschien ihnen als eine Gestalt aus einer fremden, fernen Welt, die er seiner abendländischen Zuhörerschaft erschloss, indem er ihnen Geschichten erzählte. Die Welten, die dem jungen Scholem und seinen Altersgenossen aus Agnons Geschichten entgegentraten, standen in klarem Kontrast zur Welt des assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertums, dem sie angehörten. Diese bürgerlichen Kreise, mit deren Werten sie aufgewachsen waren, standen dem Ostjudentum fremd und feindlich gegenüber – und so erschien ihnen dieses als das authentische Judentum. Der junge Scholem verehrte Agnon, dessen Persönlichkeit und Erzählkunst ihn tief beeindruckten. Der außerordentliche emotionelle Einfluss von Agnons Erzählungen auf ihn ist in einer Tagebuchaufzeichnung vom 23. Juni 1918 belegt, in der Scholem berichtet, wie er eine von Agnons Erzählungen in der deutschen Übersetzung von Max Strauß seinen Freunden Dora und Walter Benjamin vorgelesen habe: Am Freitag Abend las ich Walter und Dora die Geschichte vom Thoraschreiber vor. Ich las sie vielleicht zum zehnten Male, aber wie ich es schon wußte, sie ergreift mich jedes Mal tiefer. Ich geriet vom ersten Wort an in eine solche Erregung, daß meine Stimme sich nur mit der allergrößten Anstrengung halten konnte, ich zitterte, als wenn ich ein Mädchen küssen müßte.19
Mit Scholems Einberufung zur Armee im Sommer 1917, seinem Umzug nach Jena und später in die Schweiz brach die Verbindung zu Agnon vorübergehend ab und erneuerte sich erst zwei Jahre später. Damals lebte Agnon in München, wo er zufällig mit Escha Burchardt zusammentraf, Scholems Freundin und spätere Frau. Der Schriftsteller überzeugte den Studenten, nach München zu kommen und dort einige seiner, Agnons, Erzählungen aus dem Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen. Und so kam dieser denn auch im Oktober in die bayerische 17 Ebd., 107. 18 Scholem, Agnon in Deutschland, 124. 19 Scholem, Tagebücher 2, 244; seine Agnon-Begeisterung übertrug sich auf Walter Benjamin, dazu Scholem, Walter Benjamin, 92.
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Hauptstadt, um sein Studium an der dortigen Universität fortzusetzen und mit seiner Freundin Escha zusammen zu sein.20 Für die Dauer eines halben Jahres, bis Agnon nach Leipzig und Berlin ging, standen die beiden in engem Kontakt und unternahmen häufig gemeinsame Spaziergänge durch den Englischen Garten. Rückblickend berichtet Scholem: Ich übersetzte in dieser Zeit eine ganze Zahl der kleinen Erzählungen Agnons, zum Teil noch aus dem Manuskript, ins Deutsche, darunter einige seiner vollkommensten Stücke, die dann – noch ehe sie auf Hebräisch veröffentlicht wurden – im Juden erschienen sind.21
In den folgenden Jahren veröffentlichte Agnon in der von Martin Buber 1916 begründeten Zeitschrift Der Jude vier Erzählungen in Scholems Übersetzung, und zwar Die Geschichte von Rabbi Gadiel dem Kinde (1920/21), Aufstieg und Abstieg, Die Geschichte von Asriel dem Bücherwart und Die große Synagoge (1924).22 Er schätzte Scholems Übersetzungen sehr und bezeichnete sie noch Jahre später als „ein musterhaftes Beispiel für Übersetzung aus dem Hebräischen in eine Fremdsprache“. Durch die häufigen Begegnungen und die lebhaften Gespräche gewann auch Agnon einen nachhaltigen Eindruck von dem jüngeren Scholem; in seiner Erinnerung sieht er ihn als einen Menschen von unersättlicher Neugier: „Mir schien, er sehe jeden Menschen, als sei er nur um seinetwillen auf die Welt gekommen, damit er etwas von ihm lerne, was ihn aber nicht daran hinderte, ihm zu widersprechen.“23 Wie Scholems Blick auf Agnon der eines jungen deutschen Juden auf einen „Ostjuden“ war, der neuen, wahrhaft jüdischen Geist mit sich brachte, so war Agnons Blick auf Scholem der eines Juden aus Galizien und Palästina auf einen außergewöhnlichen jungen Mann, der dem in Agnons Augen degenerierten deutschen Judentum entwachsen war. Scholems und Agnons Wege kreuzten sich wieder 1923, kurz bevor ersterer nach Palästina auswanderte. Damals lebte Agnon mit seiner Frau in Bad Homburg, während Scholem in Frankfurt am Main an dem von Rosenzweig gegründeten Freien Jüdischen Lehrhaus im kleinen Kreis kabbalistische Texte auf Hebräisch las. Bei seinen regelmäßigen Besuchen im Hause Agnon lernte Scholem einen weiteren Literaten kennen, der eine überaus wichtige Rolle in seinem Leben spielen sollte: den hebräischen Dichter Chaim Nachman Bialik. Bialik kam 1921 nach Deutschland, gleich nach dem Zwölften Zionistenkongress, der in Karlsbad stattgefunden hatte. Während der zweieinhalb Jahre, 20 Dazu: Laor, Chaijej Agnon, 126f. 21 Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 151; vgl. Scholem, Agnon in Deutschland, 130. 22 Die drei später übersetzen Erzählungen wurden in dem Bändchen: Agnon, In der Gemeinschaft der Frommen, wieder abgedruckt. Von Scholems Beiträgen zu Bubers Zeitschrift wird noch die Rede sein. 23 Agnon, Gershom Schalom, 293.
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die Bialik sich in Deutschland aufhielt, gründete er dort die beiden hebräischen Verlage Moria und Dvir. Dass Bialik nach Berlin kam und dort wirkte, war mehr als alles andere ein Indiz dafür, dass die Stadt zu einem Zentrum jüdischhebräischer Kultur geworden war.24 Die prekäre wirtschaftliche Situation der Weimarer Republik führte viele jüdische Kulturfunktionäre aus Osteuropa dorthin. Sie nutzten die galoppierende Inflation und gründeten mit Hilfe der mitgebrachten Fremdwährung Verlage wie Jakob Klatzkins Eschkol oder Simon Ravidowicz’ Ajanot; andere hebräische Verlage wie Stybel oder Omanut verlegten ihren Sitz von Osteuropa nach Deutschland. Bialiks Ankunft in Deutschland löste bei den deutschen Zionisten große Begeisterung aus, trotzdem machte ihm dies wenig Lust, sich in deutsch-jüdische Kreise zu integrieren. „Er lebte in Berlin in einer hebräischen Umgebung, ohne die fremde Umwelt in Anspruch zu nehmen“, schreibt Bialiks hebräischer Biograph, „er mochte die Berliner Juden nicht und hielt Abstand zu ihnen“.25 Im Sommer 1923 zog Bialik nach Bad Homburg, wo Agnon schon seit zwei Jahren wohnte. Dort bestand ein reger Kreis jüdischer Kultur, der sich um Agnon, Josef und Schoschana Persitz – die Besitzer des Omanut-Verlags –, den hebräischen Dichter Jakob Fichman, den Zionistenführer Nathan Birnbaum und den Vater des Kulturzionismus, Achad Haam (Ascher Ginsberg), versammelte. Jahre später bezeichnete Scholem diese jüdischen Intellektuellen als einen „glanzvollen Zirkel […] wie man ihn nur im Rußland der Vorkriegszeit und später in Israel treffen konnte“.26 Die Bekanntschaft zwischen Bialik und Scholem wurde durch Agnon vermittelt, der den jungen Mann zu einem Besuch bei Bialik und Achad Haam mitnahm. Schon bei dieser ersten Begegnung fühlte sich Bialik zu Scholem und dessen Interesse für die Kabbala hingezogen.27 Bialiks positiver Eindruck hatte wohl zwei Gründe, die nicht voneinander zu trennen sind: Zum einen hatte sich Scholem der Erforschung der Kabbala zugewandt, ein Gebiet, das Bialik am Herzen lag, zum anderen gehörte Scholem dem deutsch-jüdischen Bürgertum an, mit dem Bialik überhaupt nichts verband. Gerade weil er für diese Juden keine Sympathie empfand, war Bialik von dem jungen Scholem fasziniert.28 Dass Scholem dem Bild, das sich Bialik aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit deutschen Juden gemacht hatte, nicht entsprach, führte dazu, dass er, als deutscher Jude, zum einzigen „Jecke“ im Kreise der ostjüdischen zionistischen Intellektuellen in Bad Homburg wurde. Damit sicherte er sich Bialiks Sympathie, der ihn von nun an in seinem wissenschaft24 25 26 27 28
Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 217. Shva, Chose Brach, 196. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 196. Agnon, Gershom Schalom, 291. S. dazu die Rede, die Scholem am 21. 1. 1977 bei der Verleihung des Bialik-Preises hielt, in: Scholem, On the Possibility of Jewish Mysticism, 46.
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lichen Tun unterstützte und einer der Befürworter war, als es darum ging, ob Scholem 1925 die Dozentur für Kabbala an der Hebräischen Universität in Jerusalem erhalten sollte. In seinen Erinnerungen berichtet Scholem, er habe Bialik in Tel-Aviv gelegentlich am Freitagabend besucht. Dort seien etliche von Bialiks Freunden und Bekannten versammelt gewesen, „und man sprach – Jiddisch. Wenn ich hereinkam, sagte er: ‚Der Jecke is gekumen, me’darf reden loschen qoidesch (d. h. man muss hebräisch sprechen)‘“.29 Nach Bialiks Tod im Jahr 1934 notierte Scholem in seinem Tagebuch Erinnerungen an ihre ersten Begegnungen in Bad Homburg, wobei er auch die Faszination beschreibt, die Bialik für ihn empfunden habe: „Er ging mit mir 25 Jährigem um als sei ich eine neue Entdeckung, die ihm etwas über das deutsche Judentum aussagte, das er noch nicht gesehen hatte, und so blieb ich ihm wohl grade als ‚Deutscher‘ merkwürdig bis ans Ende“.30 Scholem hatte Bialiks Namen natürlich längst gekannt, bevor sie einander 1923 persönlich begegneten, und das Werk des Dichters hatte großen Eindruck auf ihn gemacht. Mit Bialiks Hebräisch hatte er 1915 zwar noch Schwierigkeiten, aber von der Bedeutung seines Werks für eine jüdische Renaissance war er überzeugt: „Bialik ist groß, weil unsere Hoffnung groß ist. Er ehrt unsere Hoffnung.“.31 Eine von Scholems ersten publizierten Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Deutsche war denn auch ein Text von Bialik, der Essay Halacha und Aggada. Martin Buber hatte die Übersetzung angeregt, und sie erschien 1919 in der von ihm begründeten Zeitschrift Der Jude.32 Doch während der Zeit, als er den Essay übersetzte und seine Vertrautheit mit Bialiks Œuvre vertiefte, wurde Scholems Haltung gegenüber Bialiks Dichtung komplexer und kritischer. Was ihn beim ersten Lesen von Bialiks Werk begeistert hatte, erschien ihm nun eher problematisch: Für ihn versuchte Bialik in seiner Dichtung sowohl das individuelle als auch das nationale jüdische Ich auf eine gemeinsame lyrische Projektionsfläche zu übertragen. Diese immanente Doppeldeutigkeit, die Scholem als das „Dämonisch-Zweideutige in ihm“ bezeichnete, sei für Bialiks Dichtung destruktiv, denn das Ich – das individuelle Element – verschwinde immer wieder in den Semi-Allegorien, die der kollektiven Ebene zuzuordnen seien. Von daher betrachtete Scholem Bialik als „ein Opfer, das der Erneuerung der Sprache gebracht werden mußte“. Bialiks Dichtung sei dazu verdammt, den Talpunkt zu markieren, von dem aus sich das Hebräische erst in die säkulare Moderne aufschwingen könne. So empfand er es als irritierend, dass Bialiks Dichtung von
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Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 197. Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 19. Tagebucheintrag vom 25. 12. 1915, in: Scholem, Tagebücher 1, 214. Der Jude 4 (1919/20), 61–77. Wieder gedruckt in: Bialik, Essays, 82–107.
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dessen Zeitgenossen als Höhepunkt des hebräischen Schaffens aufgefasst wurde und nicht als bloßes Durchgangsstadium.33 Bialiks Versuch, die Kluft zwischen dem individuellen und dem nationalkollektiven Ich zu überbrücken – eine unvermeidliche Kluft, solange sich das jüdische Volk im Exil befinde – sei daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch indem Bialik das nationale Empfinden auf Hebräisch artikuliere – oder wie Scholem es ausdrückte: durch seine Dichtung eine hebräische lyrische Dimension schaffe – beginne er, diese Kluft zu überbrücken, allerdings um den Preis der Zerstörung seiner eigenen Dichtung. Insofern sei Bialik der Erneuerung der hebräischen Sprache zum Opfer gefallen. Obwohl Scholem sich von Bialiks Dichtung wenig angesprochen fühlte, tat dies seiner persönlichen Wertschätzung des Schriftstellers keinen Abbruch. In einer undatierten Tagebucheintragung, allem Anschein nach vom 13. Juli 1934 – gleich nach Bialiks Tod – schildert er ihn als charismatischen Lehrer und Erzieher: „Er ging halb wie Sokrates durch die Straßen von Tel Aviv“. Das Geheimnis von Bialiks persönlicher Ausstrahlung bestand darin, so Scholem, dass er es verstand, sein jeweiliges Gegenüber an einem Gefühl teilhaben zu lassen. Von ihm empfand Scholem, etwas erhalten zu haben, was bei anderen Intellektuellen in Palästina nicht der Fall war: „Bialik hat viel für mich getan, auch ohne konkrete Schritte, und ich habe Grund mich daran zu erinnern. Er war die Inkarnation der mündlichen Tora, und das einzige was ihm zum großen Reformator fehlte, war vielleicht die Disziplin“.34 Scholems Einschätzung von Bialik, die dessen Person viel besser beurteilte als dessen Dichtung, war der zu Agnon konträr entgegengesetzt. Scholem betrachtete Agnon als bedeutenden Schriftsteller und Künstler, aber auf der menschlichen Ebene war das Verhältnis nicht ungetrübt. Agnons Schaffen schien ihm durch den Prozess der Modernisierung und Säkularisierung des Hebräischen nicht beeinträchtigt, von der Veränderung der Persönlichkeit des Dichters nach seiner Einwanderung, besonders nachdem dieser sich einem frommen Lebensstil zugewandt hatte, war er jedoch sehr enttäuscht. Niedergeschlagen hat sich diese Enttäuschung etwa in einer Tagebuchnotiz vom 22. Juni 1948, dort erwähnt er Agnons „wirklich unerträglichen Reden über sich selber“: 33 In: Scholem, Tagebücher 2, 375f (Eintrag vom 31. 12. 1918). 34 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 19. In seinem Brief an Walter Benjamin vom 17. 7. 1934 berichtet Scholem diesem vom „unerwarteten Tod der zweifellos moralisch bedeutendsten Figur Palästinas und der zionistischen Bewegung“. Auch ihm persönlich gehe Bialiks Tod sehr nahe, „war doch dieser Mann […] einer der Menschen, mit denen ich am meisten Kontakt hatte. Sein geistiges Wesen hat unsere Landschaft sonderbar erhellt […] Er war ein ‚Lehrer‘ genau in dem Sinn, in dem man sich die großen Talmudisten, einen Rabbi Akiba oder Jochanan, vorstellt“ (Benjamin/Scholem, Briefwechsel, 157); s.a. das Gedicht zum Andenken an Bialik, das Scholem am selben Tag verfasste, wie den Brief an Benjamin, abgedruckt in: Scholem, The Fullness of Time, 106.
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Vor 30 Jahren waren diese Reden für mich voll Anziehungskraft und voller Saft, aber in den Reden hat sich (außer der überaus intrikaten orthodoxen Heuchelei, die groteske Maße angenommen hat, besonders seit dem Krieg) nichts geändert, und ich beginne zu verstehen, warum so viele Menschen ihn einfach nicht ertragen können. Es ist oft wirklich keine Silbe mehr wahr in seinen Reden, alles nur noch ausgedünstete verrückte Selbstbespiegelung, ein Mantel seiner halb naiven Demut, die einem den Atem verschlägt. Ich sah ihn letzthin oft, und um die Wahrheit zu sagen, habe ich mich jedes Mal gefragt: u-ma [ ja und]??35
Scholems Ambivalenz gegenüber Agnon – Hochschätzung seines dichterischen Schaffens bei gleichzeitiger persönlicher Distanz – blieb lebenslang unverändert.36 Ähnlich widersprüchlich, nur mit umgekehrten Vorzeichen, war Scholems Verhältnis zu Bialik. Doch ungeachtet seiner Vorbehalte kann man wohl sagen, dass Agnon und Bialik die beiden zeitgenössischen hebräischen Schriftsteller waren, die Scholem am meisten schätzte und denen er eine entscheidende Rolle bei der Erneuerung der hebräischen Sprache zuerkannte.
Die Erneuerung der hebräischen Sprache Zu Pessach 1928 schickte die Jüdische Rundschau an zentrale Vertreter des öffentlichen jüdischen Lebens die Rundfrage: „Welches hebräische Buch der letzten 5 Jahre ist Ihnen das liebste und wichtigste?“ Zweck der Frage war kein „akademischer oder wissenschaftlicher“ Diskurs, sondern vielmehr „ein subjektives, vielleicht impressionistisches Urteil, aus dem unsere Leser Anregung schöpfen könnten: so wie jemand ein Buch, das er gelesen und das auf ihn Eindruck gemacht hat, einem Freunde empfiehlt“. Angefragt wurden nicht nur „Menschen, die selbst schaffend oder kritisch in der hebräischen Literatur tätig sind“, sondern auch „Leser der hebräischen Literatur, deren Urteil gerade für Deutschland interessant ist“. Anfang April wurde eine Auswahl der eingegan35 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 95–97; teilweise abgedruckt bei Niewöhner, Ich habe keinen Garten, 86f. 36 Als Beispiel mag Scholems Verhalten bei Agnons 75. Geburtstag dienen: Staatspräsident Salman Schasar veranstaltete zu diesem Anlass eine Feier, zu der er auch Scholem einlud. Dieser ließ Agnon zwar einen schriftlichen Glückwunsch zukommen, weigerte sich jedoch, an der Feier teilzunehmen. In seinem Tagebuch notierte Scholem am 3. 8. 1963: „Agnon als 30jähriger war als Person ein von sich erfüllter Künstler und als solcher interessant und bedeutend. Mit 75 Jahren ist die ungebrochene Zentrierung auf sich selbst mit so viel Theater und Eitelkeit verbunden, daß ich, wo so viel anderes seit dem Buber-Kurzweil Abend zwischen uns steht, mir es nicht mehr aufbürden will. Ich habe meinen Beitrag gegeben, aber ich meine den großen Prosaisten, nicht den mir immer schwerer erträglichen Menschen, der sein Problem in Kognak ersäuft.“ (Scholem, Tagebücher. 3. August 1963, 10); siehe im Kontrast dazu die warmen Worte, die Scholem fünf Jahre zuvor zu Agnons 70. Geburtstag öffentlich gesprochen hatte (Laor, Kol ma scheha-Lew roze lomar, 226–228).
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genen Antworten veröffentlicht, darunter die von Chaim Nachman Bialik, Martin Buber, Wladimir Jabotinsky, Joseph Klausner, Jakob Klatzkin, Max Mayer, Ernst Müller, und an letzter Stelle die von „Gerhard Scholem, Jerusalem“.37 Fünf Jahre nach seiner Einwanderung schätzte Scholem noch immer die hebräischen Schriftsteller, die er in Deutschland kennengelernt hatte. Als „die schönsten hebräischen Veröffentlichungen der letzten Jahre“ nannte er „die Erzählungen S. J. Agnons und die Kinderbücher Bialiks“. Zur Begründung seines Urteils spricht er von dem radikalen Wandel, dem die hebräische Sprache derzeit ausgesetzt sei, den Übergang „aus dem Buch ins Leben“. Er bezeichnet die Überbrückung des Abgrunds zwischen der jahrhundertelang nur geschriebenen Sprache überwiegend religiösen Schrifttums und den Ausdrucksformen eines modernen, säkularen Alltags als die heikle Aufgabe der gegenwärtigen Generation von Hebräisch-Sprechern; Exponenten der einen wie der anderen Existenzform der hebräischen Sprache sind ihm die Väter bzw. die Kinder, die Repräsentanten der Vergangenheit und der Zukunft: Die Welt unserer Väter und die Welt unserer Kinder, das sind die beiden großen Visionen derer, die im Übergang stehen, und ihre Koinzidenz im Geist der großen Dichter ist die einzige echte Bürgschaft der Erneuerung unserer Sprache, die von vielen Sprechern geschunden und von vielen Schreibern zerschwatzt, doch ihre besser heilende Macht an unseren Kindern bewähren muß. […] Es ist ein gutes Zeichen für unser Volk, daß seine größten Dichter der Welt des Kindes wieder nahe gekommen sind: Bialik, der in den letzten Jahren seinen Genius mit Bewußtsein in den Dienst des Kinderbuchs gestellt hat, und Agnon, dessen tiefste, in seiner Sprache zu so beispiellos vollendetem Ausdruck gelangte Intention: das Größte im Kleinsten aufzuschließen, ihn zum Hellseher auch in der Welt des jüdischen Kindes gemacht hat.38
Das schrieb Scholem 1928, als Bialik noch lebte und Agnon noch nicht den Ruf eines der größten hebräischen Schriftsteller erlangt hatte – in einer Zeit des Umbruchs, als die Erneuerung der hebräischen Sprache im Land Israel in vollem Gange war. Um den Hintergrund seiner Ausführungen zu verstehen, ist ein weiterer Text nötig, der zu Scholems Lebzeiten nicht gedruckt wurde: Für die Sammlung persönlicher Beiträge, die dem bereits schwer kranken Franz Rosenzweig zu seinem 40. Geburtstag im Dezember 1926 überreicht wurde, schrieb Scholem ein Bekenntnis über unsere Sprache, womit natürlich das Hebräische gemeint war. Dieser kurze, leidenschaftliche Text ist erst drei Jahre nach Scholems Tod veröffentlicht worden und hat verschiedene Interpretationen erfahren.39 Wie die Überschrift andeutet, legt er hier ein persönliches Bekenntnis ab über den damaligen Zustand der hebräischen Sprache und die großen Gefahren, 37 Jüdische Rundschau vom 4. 4. 1928, 201f. 38 Ebd., 202 (Hervorhebung von mir, N.Z.). 39 Gedruckt bei Mosès, Sprache und Säkularisation.
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die mit der Verwandlung des Hebräischen von einer heiligen zu einer Alltagssprache verbunden sind. Dieser Text – verfasst auf dem Höhepunkt eines Prozesses, der als die „Phase des großen Durchbruchs“ bezeichnet wurde, als die britische Mandatsregierung das Hebräische zur offiziellen Amtssprache erhob und seinen Wortschatz rapide erweiterte – spricht vom illusionären Charakter der Säkularisierung der Sprache und warnt vor den damit verbundenen Gefahren.40 Illusionär sei insbesondere die Annahme, man könne das Hebräische seiner in Jahrhunderten angestauten religiösen Tradition berauben und die alten Worte – Gefäße, in denen so lange Zeit heilige Bedeutung enthalten war – säkular verwenden: „die Verweltlichung der Sprache ist ja nur eine Façon de parler, eine Phrase. Es ist schlechthin unmöglich, die zum Bersten erfüllten Worte zu entleeren, es sei denn um den Preis der Sprache selbst“.41 Im Zentrum dieses an Rosenzweig adressierten Textes stehen die drei Generationen, die durch ihr Verhältnis zur hebräischen Sprache und deren Verwendung schicksalhaft verknüpft sind. Das Hebräische, dessen Erneuerung ein unvermeidlicher Vorgang sei, stelle das Bindeglied dar, das sie gleichzeitig verbinde und voneinander trenne. Die erste Generation sei die der Väter, deren Hebräisch in einer langen jüdisch-religiösen Tradition stand; ihre Verwendung der Sprache gehöre semantisch in den Bereich des Heiligen. Die zweite Generation sei die der nationalen Erneuerung, eine Generation des Übergangs, durch deren Rebellion gegen die ältere Generation das Kontinuum der religiösen Überlieferung unterbrochen worden sei. Diese Generation habe eine neue jüdisch-nationale Welt ohne Gott geschaffen und im Zuge dieses Vorgangs versucht, das Hebräische zu säkularisieren und ihm „den apokalyptischen Stachel auszuziehen“. Das sei allerdings nicht möglich, denn die Sprache lasse sich ihren über viele Generationen hin gewachsenen religiösen Gehalt niemals nehmen. Dieses Potential drohe wieder hervorzubrechen und werde auf die, die es zu ignorieren versuchten, zurückschlagen: Überliefern wir aber unsern Kindern die Sprache, die uns überliefert worden ist, machen wir, das Geschlecht des Übergangs, die Sprache der alten Bücher in ihnen lebendig, so daß sie sich an ihnen neu offenbaren kann – muß denn dann nicht die religiöse Gewalt dieser Sprache eines Tages gegen ihre Sprecher ausbrechen?42
Die dritte Generation, um die es Scholem in erster Linie geht, ist die der Kinder, denen das Hebräische in seiner neuen Form als säkulare Alltagssprache überliefert wird; sie erhalten die Sprache von deren Erneuerern, ohne ihren ursprünglichen Kontext zu kennen. Scholem äußert die Befürchtung, diese Generation werde das eigentliche Opfer dieses Vorgangs sein und den Preis für die 40 Morag, The Emergence of Modern Hebrew, 216–217. 41 Zitiert nach: Mosès, Sprache und Säkularisation, 215 42 Bei Mosès, ebd., 215.
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Rebellion – um nicht zu sagen: die Hybris – der Generation des Übergangs zahlen müssen. Die Initiatoren des Zionismus vererbten ihren Kindern eine heilige Sprache, die ihrer Heiligkeit scheinbar beraubt sei, aber ohne die Mittel, um es mit dem aufzunehmen, was sich hinter der äußeren Illusion verberge: dem noch in der Sprache enthaltenen religiösen Potential, mit dessen erneutem Ausbruch zu rechnen sei. Dieses Erbteil, dessen Übernahme „dämonischen Mut“ erfordere, werde sich an der Generation der Kinder rächen: Unheilschwer ist dies Hebräisch: in seinem jetzigen Zustand kann und wird es nicht bleiben, unsere Kinder haben keine andere Sprache mehr, und es ist nur wahr zu sagen, daß sie und allein sie die Begegnung werden bezahlen müssen, die wir ihnen ohne zu fragen, ohne uns selbst zu fragen, verschafft haben werden. Wenn die Sprache sich gegen ihre Sprecher wenden wird, – auf Minuten tut sie es schon in unserem Leben … – werden wir dann eine Jugend haben, die im Aufstand einer heiligen Sprache bestehen können wird?43
Die so genannte Generation der nationalen Erneuerung habe ihren Kindern durch die Sprache – wobei diese vielleicht nur als Symbol dient – den Bruch mit der Generation der Väter vererbt. Aber dieser Bruch sei eigentlich unmöglich, denn die Sprache selbst lasse ihn nicht zu, die Wörter seien nicht bereit, „den schweren Ballast historischer Töne und Obertöne ab[zu]werfen, der sich im Laufe von dreitausend Jahren heiligen Schrifttums angesetzt hat“.44 Die erneute Begegnung mit der Welt der Tradition, die den Kindern nach der Generationenfolge unweigerlich bevorstehe, drohe angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen dramatisch und schicksalhaft, geradezu apokalyptisch zu werden: „Jener Moment, wo sich die in der Sprache gelagerte Macht entfalten wird, wo das ‚Gesprochene‘, der Inhalt der Sprache, wieder Gestalt annehmen wird, wird jene heilige Tradition wieder als entscheidendes Zeichen vor unser Volk stellen, vor dem es nur die Wahl haben wird: sich zu beugen oder unterzugehen“.45 Trotz des Pessimismus, der aus dieser prophetisch anmutenden Warnung klingt, wird aus der Gegenüberstellung der beiden Äußerungen (Ende 1926 an Rosenzweig und Frühjahr 1928 gegenüber der Jüdischen Rundschau) deutlicher, welchen Stellenwert Agnon und Bialik für Scholem innerhalb der zionistischen Erneuerung der hebräischen Sprache und Kultur hatten. Wenn er die der künftigen Generation durch die Generation der nationalen Erneuerung übermittelte Sprache „unheilschwer“ nennt, dann sieht er im Werk dieser beiden großen hebräischen Dichter die „heilende Macht“, die jenes Unheil abzuwenden vermag, indem sie der jüngeren Generation die hebräische Sprache in ihrer überlieferten Form samt ihren Konnotationen aus dem Bereich des Heiligen übermittelt. 43 Bei Mosès, ebd., 216 (Hervorhebung von mir, N.Z.). 44 Scholem, S. J. Agnon, 90. 45 Bei Mosès, Sprache und Säkularisation, 216.
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In beiden Texten sieht Scholem die hebräische Sprache gleichzeitig als Mittlerin und Abgrund zwischen der Vätergeneration und deren Kindern. Tief wird dieser Abgrund durch die Säkularisierung der Sprache. Im Neuhebräischen werden die Wörter aus ihrem alten Kontext gelöst und in einen neuen hineingestellt, wodurch ihre gewaltige und lebendige religiöse Bedeutung verwischt wird, und im mangelnden Wissen um den ursprünglichen Kontext wiederum bestehe die größte Gefahr. Agnon und Bialik verringerten diese Gefahr, indem sie als Bindeglied zwischen den Generationen fungierten und so den Abgrund überbrückten. Durch ihr Werk bleibe die Welt des überlieferten Judentums der jüngeren Generation zugänglich, insbesondere da es ihnen gelungen sei, bei der Übertragung der Sprache in einen modernen, säkularen Rahmen deren ursprünglichen religiösen Kontext zu wahren. Daher sah Scholem Jahre später in Agnon und Bialik den Abschluss der klassischen hebräischen Überlieferung, denn sie seien die letzten hebräischen Dichter gewesen, deren Rohmaterial noch den traditionellen jüdischen Modellen entsprochen habe.46 An anderer Stelle bezeichnete Scholem Agnons Schaffen als „eine Art verzweifelter Beschwörung“ und „Anruf an die, die nach ihm kommen“ würden. Agnons Ruf an die nächste Generation von Hebräisch-Sprechern stehe genau an dem Punkt, wo die Kontinuität der Generationen durch die hebräische Sprache gewahrt bleibe: Er scheint zu sagen: „Da ihr die Stetigkeit der Tradition und ihrer Sprache in ihrem ursprünglichen Zusammenhang nicht mehr akzeptiert, so nehmt sie wenigstens in der Verwandlung an, die sie in meinem Werke durchgemacht hat, nehmt sie von einem an, der am Kreuzweg steht und nach beiden Richtungen schaut“.47
Trotz des wesentlichen Unterschieds in seiner Haltung gegenüber Bialik und Agnon und deren jeweiligem Werk sah Scholem zeit seines Lebens in ihnen die bedeutendsten hebräischen Dichter ihrer Generation. Beide markierten in seinen Augen einen kritischen historischen Wandel und Wendepunkt, und beide spielten eine zentrale Rolle für die hebräische Sprache: Sie überbrückten den Abgrund, der zwischen den Generationen klaffte, und sorgten dafür, dass der Zugang zum Ursprung des Hebräischen der zukünftigen Generation erhalten bleibe, die schon ganz innerhalb der erneuerten Sprache aufgewachsen war. Indem sie durch ihr dichterisches Schaffen den Bruch heilten, der sich im Rahmen der zionistisch-säkularen Revolte zwischen den Generationen aufgetan habe, sorgten Agnon und Bialik dafür, dass die Dialektik von Kontinuität und Revolte, die seines Erachtens das gesamte zionistische Werk durchzog, vor dem
46 Scholem, Rezifut u-Mered, 59. 47 Scholem, S. J. Agnon, 91f.
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Absturz in völlige Säkularisierung und Loslösung von der jüdischen Tradition bewahrt bleibe.48 Die persönliche Anziehungskraft, die Scholem mit den Beiden verband, beruhte auf dem Verhältnis zwischen deutschen Juden und „Ostjuden“ zur Zeit der Weimarer Republik. Für die beiden ostjüdischen Schriftsteller war Scholem etwas Besonderes und unterschied sich von allen, was sie sonst während ihres Aufenthalts in Deutschland angetroffen hatten. Und doch galt er ihnen als Vertreter der deutsch-jüdischen Kultur und „Jecke“. Für Scholem wiederum repräsentierten die beiden Dichter die authentische jüdisch-zionistische Tradition, grundverschieden von dem assimilierten bürgerlichen Judentum, das ihm aus Deutschland vertraut war. Ja mehr noch: Bialik und Agnon waren zwei zentrale Figuren im Umfeld reicher und lebendiger hebräischer Kultur, an der auch er in den Jahren vor seiner Auswanderung nach Palästina partizipiert hatte. Und obwohl beide im Lauf des Jahres 1924 ihren Wohnsitz ins Land Israel verlegten, kaum ein Jahr nach Scholems Übersiedlung, vermisste er in Jerusalem bald nach seiner Ankunft schmerzlich das, was er unter „Kultur“ verstand, nämlich die europäische. Obwohl Scholem sich selbst in den notwendigen Prozess der Erneuerung der hebräischen Sprache miteinbezog, beschränkte er sein wissenschaftliches und publizistisches Schreiben doch nicht auf das Hebräische. Neben seinen frühen Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Deutsche, die von seinem Interesse zeugt, die Werke der jüdisch-zionistischen Literatur den des Hebräischen unkundigen deutschen Juden zu vermitteln, veröffentlichte er in den Jahren nach seiner Auswanderung weiterhin Aufsätze und Bücher auf Deutsch. Auf diese Weise nahm er auch nach seinem Weggang noch eine zentrale Stellung im zionistischen intellektuellen Leben der Weimarer Republik ein, wie die Anfrage der Jüdischen Rundschau an „Gerhard Scholem, Jerusalem“ als bekannten zionistischen Literaturliebhaber bezeugt.
b.
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Die Hebräische Universität und das Institut für Jüdische Studien In den ersten Jahren nach seiner Einwanderung hatte Gershom Scholem vom intellektuellen Niveau der jüdischen Bewohnerschaft des Landes einen weitgehend negativen Eindruck gewonnen, den er in dem oben angeführten Brief an Werner Kraft vom 17. Dezember 1924 deutlich artikulierte. Weniger als eine Woche danach, am 22. Dezember 1924, dem ersten Tag des Chanukka-Festes, 48 Zu Scholems Auffassung des Zionismus als Dialektik von Kontinuität und Revolte vgl. Scholem, Zionism. Dialectic of Continuity and Rebellion.
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wurde auf dem Skopusberg das Institut für Jüdische Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem feierlich eröffnet.49 Die Errichtung dieses Instituts, zusammen mit der offiziellen Einweihung der Hebräischen Universität am 1. April 1925, war das prägendste Ereignis in Scholems israelischer Biographie. Die Geschichte seines Lebens war mit der Geschichte dieser Universität als im Aufbau begriffenes akademisches und geistiges Zentrum des jüdischen Volkes so eng verknüpft, dass beides bisweilen deckungsgleich schien.50 Das Institut für Jüdische Studien war das dritte Institut, das an der jungen Hebräischen Universität eröffnet wurde; ihm vorangegangen waren die Institute für Chemie und für Mikrobiologie. Große Hoffnungen wurden auf das neue Institut gesetzt: Es sollte namhafte jüdische Gelehrte aus allen Ländern nach Jerusalem locken und zum Weltzentrum für die Wissenschaft des Judentums werden. Allerdings stellte sich bereits im ersten Jahr seines Bestehens heraus, dass es die großen jüdischen Denker jener Generation nicht nach Jerusalem zog, und das Institut nicht umgehend die intendierte Funktion eines zentralen Heiligtums übernahm, von dem aus „die akademische Forschung eine geistige Botschaft an die Juden und an die Menschen in der ganzen Welt“ sandte.51 Manche Gelehrte waren eingeladen worden, wollten aber nicht nach Jerusalem übersiedeln, andere wären dazu bereit gewesen, wurden aber aus Gründen innerjüdischer Politik abgelehnt.52 So erhielten Nachwuchswissenschaftler, unter ihnen Gershom Scholem, die Chance, an der neugegründeten Universität aktiv zu werden. In den folgenden vierzig Jahren bis zu seiner Emeritierung 1966 spielte sich Scholems wissenschaftliche Tätigkeit vornehmlich in Zusammenarbeit mit oder im Auftrag der Universität ab: Vom Dozenten avancierte er zum Professor, zum Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, amtierte zweimal als Direktor des Instituts für Jüdische Studien und leitete seit 1968 die Israelische Akademie der Wissenschaften. Außerdem war er an verschiedenen Projekten der Hebräischen Universität beteiligt und fungierte als ihr Vertreter, auch im Ausland. Die Hebräische Universität bildete die Achse, um die sich sein Leben von nun an drehen sollte. Doch zurück nach Jerusalem in die erste Phase seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Um Scholems damalige Welt zu verstehen, ist der Konsolidierungsprozess der Universität in ihren ersten Jahren ein ausschlaggebender Faktor; dazu zählen auch die gesellschaftlichen und akademischen Kreise, die sich in 49 Dazu Lavsky, Bejn hanachat Ewen ha-Pina la-Pticha, 149f.; Katz, Gershom Schalom, 149f.; Myers, Re-Inventing the Jewish Past, 40. 50 Dan, Gershom Schalom we-Limudej ha-Kabbala, 199f.; Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism, 351– 356. 51 Katz, Mada tahor, 439; Myers, Re-Inventing the Jewish Past, 40f. 52 Vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 234f.; Katz, Gershom Schalom, 150f.
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ihrem Umfeld herausbildeten. Die Gründung der Hebräischen Universität und des Instituts für Jüdische Studien markiert den Anfang des Bemühens, Jerusalem als eigenständiges akademisches, kulturelles und geistiges Zentrum in der jüdischen Welt zu etablieren und den marginalen Status der Jerusalemer Intellektuellen aufzuwerten. Charakteristisch für diesen Prozess war die Spannung zwischen innovativen und konservativen Tendenzen, von denen die neue Institution gleichzeitig bestimmt wurde. Die innovativen Tendenzen waren aus dem Wunsch hervorgegangen, im Land Israel eine neue und kreative jüdische Gesellschaft zu schaffen. Die eher auf Kontinuität gerichteten Tendenzen stützten sich auf mittel- und westeuropäische akademische Modelle, damals der Inbegriff der abendländischen Wissenschaft. Ein erheblicher Prozentsatz der Universitätslehrer aus der Gründergeneration stammte aus deutschsprachigen Ländern, und auch die Osteuropäer unter ihnen hatten ihre Bildung an deutschen Universitäten erworben. Von daher betrachtet Hagit Lavsky die Hebräische Universität als „ein wichtiges Bindeglied zwischen Jerusalem und den Einwanderern aus Deutschland“.53 Was die dort geleistete Forschungsarbeit betrifft, so sieht Moshe Zimmermann in der historiographischen Tradition der Wissenschaft des Judentums aus Deutschland und in ihrer dialektischen Entwicklung im Gefolge der zionistischen Ideologie „eine natürliche Grundlage für die jüdische Geschichtsschreibung in Palästina und – seit 1948 – in Israel“.54 Im selben Sinne meint Avraham Shapira, eine direkte Verbindungslinie ziehen zu können „von der philologischen Tendenz, die in den deutschen Geisteswissenschaften seit Beginn des 19. Jahrhunderts üblich war, zu der philologischen Treue, die im Institut für Jüdische Studien an der Hebräischen Universität bis heute geübt wird“.55 Und tatsächlich orientierte sich das Institut für Jüdische Studien am Vorbild der wenige Jahre zuvor in Berlin gegründeten Akademie für die Wissenschaft des Judentums, die sich der deutschen philologischen und historiographischen Tradition gleichen Namens aus dem 19. Jahrhundert verpflichtete.56 Der Einfluss von dort war auch für Scholem evident, und er sah im Jerusalemer Institut für Jüdische Studien und in der dort praktizierten wissenschaftlichen Arbeit eine direkte Weiterführung der Wissenschaft des Judentums, wie sie sich im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachbereich herausgebildet hatte. Allerdings schien ihm die Orientierung der neuen Wissenschaft insofern anders, als ihre Perspektiven positive waren. Scholem definierte die Aufgabe, „die sich für die Wissenschaft vom Judentum an der Universität Jerusalem erhebt, dahin […] daß sie ein neues Bild der jüdischen Geschichte zu entwerfen hat“. Die jüdische 53 Lavsky, Maschmaut hakamata schel ha-Universita ha-Ivrit, 342f, wo sie auch eine Liste der deutschen Einwanderer unter den Gründern der Universität erstellt. 54 Zimmermann, Deutsche Geschichte in Israel, 423. 55 Shapira, Bejn Filologia le-Historiografia, 167. 56 Katz, Mada tahor, 444f.; Myers, Re-Inventing the Jewish Past, 37–40.
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Historiographie sei „nicht mehr, wie in den Blütezeiten der ‚Wissenschaft vom Judentum‘ in der Mitte des vorigen Jahrhunderts und im Grunde ununterbrochen bis zu unserer Generation, von apologetischen und emanzipatorischen Rücksichten beeinflußt“, sondern werde nunmehr „aus den eigenen Kräften und Bewegungen, die die jüdische Geschichte von innen her bestimmt haben“, untersucht.57
Die Idee der Sammlung Sowohl die Hebräische Universität als auch insbesondere deren Institut für Jüdische Studien waren von ihrer Gründung an dazu bestimmt, Weltzentren für jüdische Kultur und Wissenschaft in hebräischer Sprache zu werden. Auch in dieser Hinsicht entstand die Hebräische Universität nicht im luftleeren Raum; vielmehr hatte dieser Gedanke, der ihrer Gründung vorausging, seine kulturellen Wurzeln in der jüdischen und hebräischen Welt Ost- und Mitteleuropas. Was die hebräische Kulturrenaissance in Europa, besonders die Zentren in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik, auszeichnete, war das gleichzeitige Erstarken von innovativen und auf Wahrung der Kontinuität gerichteten Tendenzen. Das hervorstechendste und vielleicht bedeutsamste Beispiel, das dem zionistischen Werk und der Wissenschaft des Judentums seinen Stempel aufprägte, bestand in der Idee der Sammlung. Im Prinzip bestand das zionistische Ideal des Sammelns, ähnlich wie analoge romantische und nationale Tendenzen in Europa, darin, die jüdischen Kulturschätze zusammenzutragen und in aktualisierten Ausgaben neu zu publizieren. Auf diese Weise sollte eine Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit des jüdischen Volkes hergestellt und den neuen kulturellen Herausforderungen begegnet werden. In diesem gedanklichen Rahmen wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert Achad Haams Projekt einer jüdischen Enzyklopädie in hebräischer Sprache konzipiert. In diesem didaktisch orientierten Nachschlagewerk sollte alles enthalten sein, was die damalige jüdische Jugend über das Judentum wissen müsse: Wieder einmal brauchen wir ein neues Buch, geschrieben im leichten Hebräisch, das das Judentum mit allen seinen Verzweigungen umfassen soll, jedes Gebiet in der Bearbeitung zuständiger Gelehrter, so daß wir, ähnlich wie einst Maimonides von seinem Buche, von ihm sagen können: wer zuerst Hebräisch gelernt hat, braucht nur dieses Buch zu lesen, um daraus das Judentum in seinem ganzen Umfange kennen zu lernen.58
57 Scholem, Kabbala-Forschung und jüdische Geschichtsschreibung. 58 Achad Haam, Über eine jüdische Enzyklopädie, 401.
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In Analogie zum Mischne Tora des Maimonides, der die „mündliche Lehre“ des Judentums systematisch dargestellt hatte, sollte diese Enzyklopädie das Judentum in seiner ganzen kulturellen Breite darstellen.59 Chaim Nachman Bialik, eine der tragenden Säulen des Projekts der Sammlung, war durch Achad Haams Idee der Enzyklopädie beeinflusst, übernahm sie jedoch nicht unkritisch, sondern drängte auf Ausbau und Erweiterung. Im Unterschied zu Achad Haam schwebte Bialik nicht eine Enzyklopädie mit Studien zu verschiedenen jüdischen Themen vor. Seines Erachtens wolle und müsse der hebräische Leser „die Herrlichkeit seines Volkes von Angesicht zu Angesicht kennen […] lernen und nicht durch einen Mittel[s]mann“.60 Bialik seinerseits plädierte für die Zusammenstellung und Kanonisierung – in seinen Worten „Chathima“ – derjenigen jüdischen Schriften, mit denen die Generation der nationalen Erneuerung vertraut sein sollte. Gleichzeitig sollten all jene Schriften, die dem neuen Zeitalter nicht mehr entsprachen, als außerkanonisch definiert werden – und damit aus der Vergangenheit ausgesiebt, was weiterer Überlieferung würdig sei: Jede Chathima proklamiert den Abschluß der alten Periode und kündet zu gleicher Zeit den Beginn einer neuen. Nicht genug daran: nachdem das Beste, das aus dem Alten herausgenommen wurde, ungefährdet die neue Luft passiert hat und aus ihr geläutert hervorgegangen ist, wird es selbst zum Nährboden für neue Schößlinge, führt ihnen Feuchtigkeit und Nahrung zu und fördert ihr Wachsen und Blühen.
Er bezeichnete das „Projekt der Sammlung“ als Kanonisierung, ähnlich der Kanonisierung hebräischer Literatur in der Bibel, der Mischna und dem Talmud. Zugrunde lag dem dasselbe Gefühl einer historischen Stunde für das jüdische Volk und dessen Kultur. Doch im Unterschied zur Kanonisierung älteren jüdischen Schrifttums gelte es dieses Mal „nach nationalen Gesichtspunkten natürlich, nicht nach religiösen“ auszuwählen.61 Das Ziel dieses Unternehmens bestand also in der Anlage einer kanonischen Sammlung von Schätzen der schriftlich überlieferten jüdischen Literatur aller Zeiten. Dieser neue Kanon sollte festlegen, was marginal sei (und daher dem Vergessen anheimfallen dürfe) und was geeignet sei, einer neuen, säkularen hebräischen Kultur zum gegenwärtigen und künftigen Wachstum zu verhelfen. Im säkularen Rahmen des Zionismus, der das Kontinuum der jüdischen Überlieferung nicht fraglos übernahm, sondern eine Loslösung von orthodoxer Abkapselung sowie von Tendenzen der Assimilation und Selbstaufgabe forderte, dienten die Früchte des Projekts der Sammlung als Brücke zur Vergangenheit. 59 S. dazu Schweid, Jewish Thought in the 20th Century, 244–250; Rubin, Jewish Nationalism and the Encyclopaedic Imagination. 60 Bialik, Das hebräische Buch, 39. 61 Bialik, ebd., 41, 44.
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Dadurch sollte die Kontinuität der Generationen untereinander gewahrt bleiben, trotz des durch die zionistische Revolution bedingten Bruchs mit der Vergangenheit.62 Jeder Band der Enzyklopädie wurde nach den Anschauungen seines Herausgebers gestaltet, wobei die Generation der jüdischen Wiedergeburt ideologisch den Rahmen setzte. Im Bewusstsein, eine neuerliche, abschließende Kanonisierung vorzunehmen, traten die Herausgeber damit gewissermaßen in die Fußstapfen der anonymen Endredaktoren der Bibel, von Jehuda ha-Nasi als Redakteur der Mischna und von Maimonides für Mischne Tora. Das Nebeneinander von revolutionären und innovativen Tendenzen einerseits, konservativen und auf Kontinuität bedachten andererseits – ein Nebeneinander, das auch aus den oben angeführten Äußerungen von Bialik zu vernehmen ist – war eines der besonderen Merkmale des Projekts der Sammlung.63 Früchte dieses Projekts waren Anthologien verschiedenster Art, die in Deutschland auf Hebräisch und Deutsch erschienen, in Israel ausschließlich auf Hebräisch.64 Diese Tendenz ist auch aus Bialiks Rede zur Eröffnung der Hebräischen Universität zu vernehmen, wo er wieder das gleichzeitige Bestehen von Innovation und Tradition und deren Spannungsverhältnis betont: Das auf dem Skopusberg errichtete Lehrhaus für (religiöse) Lehre und (säkulare) Weisheit wird sowohl von den Materialien her als auch inhaltlich und formal ganz anders sein als die Lehrhäuser alten Stiles. Aber, meine Herren, in den Trümmern jener heiligen Stätten finden sich noch viele unversehrte Quadersteine, die für das Fundament und zum Bau unseres neuen Gebäudes geeignet sind. Mögen die Bauleute diese Steine nicht verwerfen.65
Doch der Wunsch, durch ein Institut für Jüdische Studien das Projekt der Sammlung zu forcieren, sollte sich nicht erfüllen. Einen Grund dafür sieht Israel Bartal in der einflussreichen Tradition der deutschen Rabbiner-Seminare, wo Distanz und strenge Wissenschaftlichkeit gefordert waren. Von dort sei keine Bereitschaft zu erwarten gewesen, an der Gestaltung einer zionistischen Kultur mitzuwirken und die Sammlung von Kulturgütern aus der Vergangenheit zu unterstützen, um die Richtung künftiger Entwicklungen zu bestimmen. Und so entstanden die meisten Sammlungsprojekte jüdischer und hebräischer Quellen außerhalb der Universität – in Israel und in Europa –, wobei einige immerhin nachträglich einen gewissen Einfluss auf die akademische Welt gewannen.66 62 Dazu Schweid, Jewish Thought in the 20th Century, 248–249; Bartal, The Ingathering of Traditions, 78–80, 478–480; Bartal, Mifal ha-Kinnus, 522f.; Meir, Hithawuto we-Gilgulaw, 120–124. 63 Vgl. Bartal, The Ingathering of Traditions, 80–81. 64 Bartal, Mifal ha-Kinnus, 524. 65 Bialik, Neum ha-Meschorer, 353f. 66 Bartal, Mifal ha-Kinnus, 527f.
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Gershom Scholem stellte in dieser Hinsicht einen Sonderfall dar, denn ihm war die Idee der Sammlung, wie sie Bialik entwickelt hatte, ein zentrales Anliegen, und seine an der Universität entstandenen Studien zur Kabbala sind stark davon geprägt. Einer der wichtigsten Belege dafür ist sein Schreiben an Chaim Nachman Bialik, in dem er die Pläne seiner Kabbala-Forschung darlegt und die Zukunft des Faches skizziert. In diesem Dokument, entstanden im Juli 1925 und kurz vor seiner Berufung als Dozent für Kabbala an die Hebräische Universität, findet die Idee der Sammlung deutlichen Niederschlag: Es ist völlig ausgeschlossen, zu einer Erkenntnis der Entstehung der Kabbala und ihrer Weiterentwicklungen zu gelangen, solange noch siebzig Prozent aller wichtigen Texte nur in Manuskripten zugänglich sind, in Handschriften, die über den ganzen Golus [Diaspora] verstreut sind. Ich bin überzeugt, daß es keine Hoffnung und keinen Neubeginn für die Erforschung der Kabbala geben wird, wenn man sich nicht der Erforschung dieser Handschriften zuwendet: alle, die von Bedeutung sind (und das sind in der Tat viele!) müssen in kritischen Editionen veröffentlicht und analysiert werden, damit aus ihnen die Wahrheit über die Entwicklung der Kabbala und ihre ursprüngliche Form herausgefiltert und rekonstruiert werden kann.67
In der Fortsetzung skizziert Scholem seine eigenen Pläne im Bereich der KabbalaForschung: zunächst die Untersuchung und Veröffentlichung einer erheblichen Anzahl kabbalistischer Handschriften, danach die Abfassung von Einzelstudien, aus denen sich ein Gesamtbild der Geschichte der Kabbala ergeben würde. „Am Ende einer solchen Arbeit oder während ihres Verlaufs“, schrieb er weiter an Bialik, „wird es vielleicht auch möglich sein, eine wirkliche Anthologie aus den kabbalistischen Schriften vorzubereiten, die nicht unter der Zufälligkeit dessen, was gedruckt vorliegt, zu leiden hat.“68 Bialik nahm Scholems Ausführungen sehr positiv auf; er hieß seine Pläne gut und versprach, ihn nach Kräften zu unterstützen: „Sie sind der Mann, nach langer Arbeit den verlorenen Schlüssel zum verschlossenen Tor der Kabbala zu finden. Ich hoffe, bei uns Männer zu finden, die erkennen werden, was für reiche Frucht aus dem Feld zu erwarten ist, dessen Untersuchung Sie Ihr Leben weihen wollen“.69 Die Idee der Sammlung in Bialiks Sinn spielte eine zentrale Rolle für Gershom Scholems akademisches Schaffen in Israel: sowohl in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf Hebräisch als auch in den öffentlichen Aufgaben, die er wahrnahm. Unter seinen wissenschaftlichen Arbeiten finden sich zahlreiche kommentierte Ausgaben handschriftlich überlieferter Texte im Bereich von 67 Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Peter Schäfer in: Scholem, Judaica 6, 55–67, hier: 58. 68 Ebd. 66. 69 Bialik an Scholem, 20. 7. 1925, nach: Scholem, Judaica 6, 75f.
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Kabbala und Sabbatianismus. Gedruckt wurden diese Arbeiten zum Teil in Zeitschriften, in denen die Idee der Sammlung dominierte, wie etwa Qiryat Sefer, der bibliographischen Vierteljahresschrift der Nationalbibliothek in Jerusalem, die Scholem zusammen mit Ben-Zion Dinur begründete, oder Kovez al Jad, der Zeitschrift der Gesellschaft Mekize Nirdamim, die ihrerseits stark im Ideal der Sammlung verwurzelt war. Daneben entstanden auch Anthologien, in denen Handschriften zum Sabbatianismus publiziert sind, sowie Einzelveröffentlichungen von Manuskripten als Bücher oder Broschüren.70 Auch in Scholems Forschung ist der Einfluss der Sammlungsidee erkennbar, ganz besonders in seinen beiden großen Arbeiten zum Sabbatianismus.71 Eine weitere wissenschaftliche Tätigkeit, die ebenfalls viel mit dem Konzept der Sammlung zu tun hatte, bestand in den zahlreichen Beiträgen, die er über viele Jahre hin für die Enzyklopedia Iwrit (Hebräische Enzyklopädie) verfasste. Scholems Beziehung zur Idee der Sammlung war nicht ausschließlich ideeller Art. Zusätzlich zu seinen einschlägigen Veröffentlichungen hatte er auch Positionen in israelischen Institutionen inne, die aus diesem Gedanken heraus entstanden waren. So war er etwa seit 1943 Ehrenmitglied der Gesellschaft Mekize Nirdamim, und 1970 löste er Agnon im Amt des Vorsitzenden ab. Diese Gesellschaft, die sich als „Erwecker der Schlummernden“ bezeichnete, hatte zwar schon früher bestanden, war aber offiziell 1863 im ostpreußischen Lyck gegründet worden. Sie hatte sich vorgenommen, „die in Bibliotheken befindlichen noch ungedruckten wertvollen Handschriften vornehmlich sephardischer Gelehrter zu veröffentlichen […] und diese Bücher unter den Mitgliedern der Gesellschaft zu verteilen“.72 Nach ungefähr einem Jahrzehnt kam die Tätigkeit der Gesellschaft zum Erliegen, wurde aber seit 1885 in Berlin erneut aufgenommen, was den Beginn der Blütezeit hebräischer Kultur in der deutschen Hauptstadt markierte, wovon bereits die Rede war. 1934 verlegte die Gesellschaft ihren Sitz nach Jerusalem, wo sie bis heute besteht. Die Redner bei der Feier zu ihrem hundertjährigen Bestehen, die am 20. November 1963 in der Jerusalemer Nationalbibliothek stattfand, waren Agnon als Präsident, Ephraim Elimelech Urbach als Sekretär und Gershom Scholem als Mitglied des Beirats. In seiner Ansprache rühmte Scholem die Tätigkeit der Gesellschaft im Geiste des Projekts der Sammlung, wobei gewisse Anklänge an seine im vorigen Kapitel zitierten Äu-
70 Hebräische Editionen wie: Scholem, Chalomotaw schel ha-Shabtaij, 1938 in Leipzig erschienen. 71 Scholem, Erlösung durch Sünde; ders., Sabbatai Zvi [erste hebräische Ausgabe 1957]; zur Idee der Sammlung als Grundlage dieser Arbeiten s. Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism, 301–313. 72 So die Absichtserklärung der Gründer in der hebräischen Zeitschrift ha-Maggid vom 12. 9. 1861 (zitiert am Ende von Scholems Festrede zum hundertjährigen Jubiläum der Gesellschaft am 20. 11. 1963. S. dazu: Mekize Nirdamim, 19–24)
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ßerungen über die historische Funktion von Agnon und Bialik unüberhörbar sind: Die Gesellschaft Mekize Nirdamim hat es den Generationen immer wieder eingeschärft, dass der geistige Besitz unseres Volkes, Worte der Lehre und der Weisheit, Kultur und Dichtung, Denken und Geschichte, eine einzige Aufgabe hat, nämlich als goldene Kette unserer väterlichen Überlieferung zu fungieren. Die Kontinuität der Generationen untereinander steht im Zentrum des Wirkens dieser Gesellschaft.73
Bereits zu Beginn seiner akademischen Karriere, noch vor seiner Übersiedlung nach Palästina, hatte Gershom Scholem unter dem Eindruck dieses Projekts gestanden, dem damals für die Erneuerung der jüdischen und hebräischen Kultur in Deutschland große Bedeutung zukam. Hebräische Druckereien und Buchhandlungen in seiner Vaterstadt waren ein Fundus jüdischer – hebräischwie deutschsprachiger – Anthologien jeglicher Art, was sich prägend auf die intellektuelle Atmosphäre des jüdischen Berlins auswirkte. Zusammenstellung, Übersetzung und Edition dieser Anthologien lagen in den Händen von Männern des geistigen Lebens, jungen und älteren, Neulingen und bekannten Größen. Neben Agnon und Bialik, von deren Tätigkeit schon die Rede war, oder dem Chassidismus-Forscher Schmuel Abba Hododezky lebte und wirkte in Deutschland der Schriftsteller Micha Josef Berdyczewski (Bin Gorion), der zahlreiche Sammlungen jüdischer Quellen herausgab – sowohl auf Hebräisch als auch auf Deutsch. Scholem kannte Berdyczewskis Anthologien und fand sie von Anlage und Inhalt her sehr gut, wie er in der Sendung des Hessischen Rundfunks aus Anlass seines 70. Geburtstags ausführt: Die „Sagen der Juden“ von Micha Josef Bin Gorion [Berdyczewski] in fünf Bänden halte ich für eine der größten Leistungen der jüdischen Wissenschaft. Es ist eine Sammlung ohne Kommentar, nicht umgeschrieben wie die Buberschen Legenden der Chassidim […] Bin Gorion […] begnügte sich mit der Präsentierung der Texte selbst, ohne jede literarische Zutat. Er gab auch genau seine Quellen an und begleitete den Text der Bibel sozusagen mit einem Legenden-Kommentar, der aus der jüdischen Volks-Phantasie und der Imaginationswelt der Juden stammte. […] diese mit großer Nüchternheit und Sachlichkeit übersetzten Texte waren die erste klassische Repräsentation einer vergessenen Welt für viele Juden und Nicht-Juden.74
Aus dieser Äußerung geht hervor, worin Scholems Kriterien für eine gute Anthologie bestanden: wissenschaftliche Präzision, treues Festhalten am Original, Ablehnung jeglicher Art von Bearbeitung und Popularisierung der Quellen. Den Gegenpol zu Berdyczewski bildete für Scholem eine der zentralen Figuren, die während jener Jahre in Deutschland wirkten und zu der er trotz aller Kritik zeit 73 Mekize Nirdamim, 23. 74 Berdyczewski, Die Sagen der Juden I–V, Frankfurt/M. 1913–1927. Scholem, Die Erforschung der Kabbala, CD 1.
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seines Lebens enge akademische und persönliche Kontakte unterhielt: Martin Buber.
Martin Buber und die Zeitschrift Der Jude (1916–1928) In Scholems jungen Jahren war Martin Buber innerhalb der jüdischen Jugend in Deutschland so bekannt wie beliebt. Von der Welle der Buber-Verehrung wurde auch der junge Scholem erfasst, und auch wenn er später vor allem an dessen Darstellung des Chassidismus Kritik übte, blieb der Ältere für ihn eine Autorität.75 Jahre später bemerkte er über Bubers Einfluss auf ihn und seine Altersgenossen: Und da kam Bubers Stimme, sie ertönte aus seinen Drei Reden über das Judentum und aus seinen ersten Schriften über den Chassidismus. Diese Stimme löste bei uns ein ungeheures Echo aus: Sie enthielt ein Versprechen, einen Zauber, eine Forderung. Sie versprach einer erstarrten jüdischen Welt eine revolutionäre Erweckung von innen heraus, die Enthüllung eines unter den offiziellen erstarrten Formen verborgenen Lebens. Sie bezauberte durch ihre Schönheit und ihren vollen Klang – Buber hatte immer eine ungeheure Ausdruckskraft. Er forderte Kontaktaufnahme und Identifizierung mit dem Herzen der Nation, nach seinem damaligen Verständnis, er verlangte von der Jugend, ein weiteres Glied in der Kette des verborgenen Lebens zu werden, das Erbe einer erhabenen und unsichtbaren Tradition von Erhebung und Aufstand anzutreten.76
Aus diesen Ausführungen geht auch hervor, wie sehr Buber geistig in der Idee der Sammlung verhaftet war, waren doch seine frühen Schriften, deren Einfluss auf die Zeitgenossen Scholem hervorhebt, durchaus anthologisch angelegt: Übersetzungen und Bearbeitungen einiger Geschichten des Rabbi Nachman von Brazlaw sowie eine Auswahl von Erzählungen über den Baal Schem-Tov.77 In den Jahren seines Wirkens in Deutschland war Buber an einigen Versuchen beteiligt, chassidisches Erzählgut zu sammeln und zu veröffentlichen, jeweils in Zusam75 Das komplexe Verhältnis zwischen Scholem und Buber lässt sich im Rahmen dieser Diskussion ersehen. Hier ist vor allem wichtig, was Scholem über Buber in seiner Autobiographie schreibt: „Ich habe Buber, auch wenn ich in zahlreiche Differenzen mit ihm geriet, je weiter ich mich in die Originalquellen vertiefte, stets als Person aufs höchste geachtet, ja verehrt. Er war völlig undogmatisch und hatte für andere Meinungen ein offenes Herz. In den Jahren bis zu meiner Auswanderung kam ich mit ihm noch oft zusammen, und er verfolgte meinen Weg mit Aufmerksamkeit und Sympathie. Seine Schwächen konnten mir nicht entgehen, aber die Erinnerungen an die vielen Gespräche, die ich über den Chassidismus und die Kabbala mit ihm hatte, als ich mich dem Studium der Kabbala aus den Originalquellen zuwandte, und die Erwartungen, die er offenkundig auf mich setzte, hielten der größtenteils ablehnenden Kritik Walter Benjamins die Waage“ (Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 77f.) 76 Scholem, Devarim be-Go, 457. 77 Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, Frankfurt/M. 1906; ders., Die Legende des Baal Schem, Frankfurt/M. 1908.
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menarbeit mit anderen Gelehrten, denen die Erneuerung der jüdischen Kultur im Deutschland der Weimarer Republik am Herzen lag. Mit Berdyczewski erwog er die Gründung einer „Societät zur Sammlung, Herausgabe (und Übertragung) jüdischer Mythen, Sagen und Legenden“.78 Zusammen mit Samuel Abba Horodezky plante er ein „Archiv für die Lehre des Chassidismus und des Baal Schem“, für dessen Finanzierung der Mäzen Salman Schocken vorgesehen war.79 In Zusammenarbeit mit Agnon sollte ferner ein „Corpus Chassidicum“ entstehen, eine vielbändige Anthologie in hebräischer Sprache, die als repräsentative Auswahl von chassidischen Erzählungen und chassidischer Lehre gedacht und den Bedürfnissen des zeitgenössischen Lesers angepasst war.80 Diese verschiedenen Pläne, die chassidischen Quellen zu sammeln und zu publizieren, wurden zwar nicht alle in die Tat umgesetzt, aber Zeev Gris sieht darin einen Beleg dafür, dass Buber mit diesen Versuchen eine „nationale Verantwortung“ an den Tag gelegt habe. Seine Sammlungen seien nicht nur für assimilierte jüdische und nichtjüdische Kreise in Deutschland bestimmt gewesen, sondern für ein breites Publikum, das an der kontinuierlichen Nutzung der Literatur des jüdischen Volkes interessiert war und sachkundige Hilfe brauchte, um diese literarischen Werke für künftige Generationen zu bewahren.81 Der erste persönliche Kontakt zwischen dem jungen Gerhard Scholem und Martin Buber kam im Dezember 1915 zustande. Anlass waren eine Buber-Parodie und Karikatur in der satirischen Zeitschrift Blauweiße Brille, die Scholem zusammen mit seinem Freund Erich Brauer herausgab und ohne das Wissen des Vaters in dessen Betrieb drucken ließ. Zur Überraschung der beiden jungen Männer lud Buber sie daraufhin zu sich nach Berlin-Zehlendorf ein und führte ein ernsthaftes, aber wohlwollendes Gespräch mit ihnen. Statt sie ob ihrer Respektlosigkeit zu rügen, rühmte er ihr Engagement und ihre Courage und forderte sie zur Mitarbeit an der Zeitschrift auf, die er in allernächster Zukunft unter dem Titel Der Jude herausbringen wollte.82 Scholem ging darauf ein, und mit seinen Beiträgen, die in Bubers Zeitschrift erschienen, begann eine persönliche und akademische Beziehung zwischen den beiden, die bis zum Tod des Älteren anhalten sollte. Buber gründete seine Zeitschrift, als deren Herausgeber er auch fungierte, mitten im Ersten Weltkrieg. Er wollte ein jüdisch-kulturelles Publikationsorgan schaffen, um den deutschen Juden im Krieg ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Schicksalsgemeinschaft zu vermitteln; ein Organ, das die innere 78 79 80 81 82
S.a. Gries, Ha-Reka ha-Jehudi le-Poalo schel Buber, 51. Gries, ebd., 51f. So bei Laor, Agnon and Buber, 61. Gries, Ha-Reka ha-Jehudi le-Poalo schel Buber, 52. Dieser Besuch ist ausführlich dokumentiert in: Scholem, Tagebücher 1, 201–203 (vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 76f.). Die Karikatur ist abgedruckt in: Scholem, Briefe I, 19.
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Gespaltenheit überwinden und ein verbindendes zionistisches Bewusstseins wecken sollte.83 Paul Mendes-Flohr hat darauf hingewiesen, dass bereits die Wahl des Namens Der Jude programmatisch war: Die Bezeichnung „Jude“ sollte kein Schimpfwort mehr sein, das man abzuschütteln suchte, sondern Ausdruck einer stolz bekannten Identität. Während der zwölf Jahre ihres Bestehens (1916–1928) war die Zeitschrift nicht nur „das wichtigste geistige Forum des modernen deutschen Judentums“, sondern es gelang ihr auch, die geistige Elite der Zeit – ein politisch und religiös weit gespanntes Spektrum jüdischer Persönlichkeiten – unter einem Dach zu vereinen. Der Jude entwickelte sich so zu einem bedeutenden intellektuellen Organ der Weimarer Republik überhaupt.84 Mit der Gründung von Bubers Zeitschrift setzte der umfangreiche Briefwechsel zwischen ihm und Scholem ein, von dem große Teile in Scholems Nachlass erhalten sind. In ihrem Briefwechsel zeichnet sich von Anfang an ab, dass zwischen dem jungen Zionisten und dem zwei Jahrzehnte älteren jüdischen Denker eine besondere Beziehung bestand. Buber brachte dem Studenten Scholem Respekt und Wohlwollen entgegen, auch eine gewisse Nachsicht gegenüber seinen extremen und unreifen Äußerungen. Offenbar hatte er die vielversprechenden Anlagen des jungen Forschers erkannt, denn er ermunterte ihn, weiter für den Juden zu schreiben, obwohl – oder vielleicht gerade weil – Scholems Einstellung zum Zionismus und zu den hebräischen Quellen der seinen entgegengesetzt war. Scholem gehörte zwar nicht zum festen Mitarbeiterstab der Zeitschrift, aber er steuerte bibliographische Auskünfte über chassidische Schriften bei und sendete regelmäßig Beiträge und Artikel zur Veröffentlichung.85 Auch in den Jahren nach seiner Übersiedlung nach Palästina wahrte Scholem den Kontakt zu Buber; er informierte ihn über seine akademische Laufbahn und seine Forschungspläne und bat ihn um Hilfe bei der Veröffentlichung seiner Arbeiten. Anfang Juni 1925 klagte er, wie schwierig es für ihn sei, Erträge seiner Forschung im Druck erscheinen zu lassen: Ich habe mit meinen Arbeiten kein Glück: es ist kein Ort da, weder hebräisch noch deutsch, wo forschende, nicht resümierende oder reflektierende Arbeiten über Kabbala gedruckt werden. Auf die Veröffentlichung einer Arbeit warte ich seit 1,5 Jahren. […] Im Hebräischen ist die Lage leider noch viel schlimmer. Ich werde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mich an Orte hinweisen können, an denen ich meine Arbeiten publizieren könnte.86
83 Vgl. Bubers Absichtserklärung in Der Jude 1 (1916), 1, unter dem Titel „Die Losung“. 84 Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 45; Mendes-Flohr, Martin Buber’s Reception among Jews, 121. 85 S.a.: Aschheim, The Metaphysical Psychologist, 917f.; Lappin, Der Jude, 366–369. 86 Scholem an Buber, 2. 6. 1925, im GSA, Korrespondenz Buber.
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Der ältere und angesehene Buber war für den jungen Scholem eine Autorität und eine Art Mentor. Buber enttäuschte das in ihn gesetzte Vertrauen nicht: Er förderte den angehenden Kabbala-Forscher, stand ihm mit Rat und Tat zur Seite, stellte ihm seine Zeitschrift für Veröffentlichungen zur Verfügung, selbst wenn diese offene oder verdeckte Kritik an Bubers Position enthielten und half ihm auch bei der Publikation seiner hebräischen Schriften in Palästina. Somit nahm Buber in Scholems geistiger Welt eine zentrale Stellung ein, doch dessen Verhältnis zu dem Älteren gestaltete sich, wie in solchen Fällen nicht selten, ambivalent. „Sich mit Buber auseinandersetzen“, erinnerte sich Scholem nach Jahren, „bedeutete, zwischen Bewunderung und Ablehnung, zwischen der Bereitschaft auf seine Botschaft zu hören, und der Enttäuschung über diese Botschaft und die Unmöglichkeit, sie zu realisieren, hin und her geworfen zu sein“.87
Jakob Klatzkin und die Encyclopaedia Judaica (1928–1934) Zusätzlich zu den Bemühungen, seine wissenschaftlichen Schriften in angemessener Form zu veröffentlichen, war Scholem Mitarbeiter des 1924 in Berlin gegründeten Eschkol-Verlags, dessen Programm an die Idee der Sammlung anknüpfte. Gründer des Eschkol-Verlags waren zwei Juden osteuropäischer Herkunft: Jakob Klatzkin, der damals als zionistischer Schriftsteller und Denker einen Namen hatte, und Nahum Goldmann, der spätere Präsident des Zionistischen Weltkongresses. Im Zentrum des Verlagsprogramms stand die Herausgabe „klassische[r] hebräische[r] Literatur in modernen wissenschaftlichen Ausgaben“,88 ein Sammlungsprojekt also, das unter dem Namen Encyclopaedia Judaica herausgebracht wurde. Diese sollte ursprünglich parallel auf Hebräisch, Deutsch und Englisch erscheinen, was sich aber als undurchführbar erwies – zunächst aus Mangel an finanziellen Mitteln, danach wegen der Obstruktion durch das nationalsozialistische Regime. In den Jahren von 1928 bis 1934, also während der Laufzeit des Projekts, erschienen zehn von fünfzehn geplanten Bänden der deutschen Encyclopaedia Judaica. Von ihrem hebräischen Gegenstück wurden ab 1929 nur zwei Bände publiziert, während die englische Ausgabe über Vorarbeiten nicht hinauskam.89
87 Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, in: Judaica 2 (1970), 133–192, hier: 134. 88 Programm des Eschkol-Verlags, zitiert bei Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 130; s.a.: Engelhardt, Arsenale jüdischen Wissens, 37ff.; Meir, Hithawuto we-Gilgulaw, 130f. 89 Zur Geschichte der Encyclopaedia Judaica s. Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 129–131; Engelhardt, Palimpsests, 203–205, und ders., Arsenale jüdischen Wissens.
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In der Einleitung zur deutschen und hebräischen Encyclopaedia beschreibt der Herausgeber, offenbar Jakob Klatzkin, sein Projekt als ein Glied in der Kette der jüdischen Überlieferung: Das jüdische Schrifttum ist in den entscheidenden Phasen seiner Entwicklung durch die Tendenz gekennzeichnet, die geistigen Errungenschaften und Werte des Judentums, Ergebnisse schöpferischer Wirksamkeit vieler Generationen, zusammenzufassen, in Sammelwerken festzulegen und zu sichern, sie somit vor Vergessenheit zu bewahren und späteren Geschlechtern zu überliefern.
Als enzyklopädische Vorläufer (wenn auch nicht alphabetisch angelegt) nennt er den Talmud, das halachische Kompendium des Maimonides (Mischne Tora) und den Schulchan Aruch; Achad Haam und dessen Plan einer jüdischen Enzyklopädie sah er sich von der Intention her verbunden. Klatzkin fungierte nicht nur (zusammen mit Ismar Elbogen) als Gesamtherausgeber, sondern betreute außerdem fachlich die Themenbereiche Philosophie, Religionsphilosophie, Kabbala und Chassidismus. Aus diesem Grund wandte er sich 1924 an Scholem, stellte ihm die geplante Enzyklopädie vor und lud ihn zur Mitarbeit ein. Um sein Angebot attraktiver zu machen, stellte er die Neuauflage von Scholems Dissertation über das Buch Bahir im Eschkol-Verlag in Aussicht.90 Bis Mai 1925 hatte Klatzkins Angebot schon konkretere Formen angenommen: Nunmehr wurde Scholem gebeten, nicht nur einzelne Artikel, sondern auch einen monographischen Beitrag über Wesen und Entwicklung der Kabbala zu verfassen.91 In einem Begleitschreiben zur Liste der von Scholem erbetenen Artikel erläutert Klatzkin das Prinzip der monographischen Beiträge, wobei er einerseits verspricht, dem Bereich Kabbala in der hebräischen Enzyklopädie erheblich mehr Raum zu gewähren, als es bisher üblich gewesen war, andererseits behutsam gewisse Umfangsbeschränkungen ankündigt.92 Aus Klatzkins Ausführungen geht hervor, wie eng verbunden seine Enzyklopädie mit der damals in Deutschland präsenten Idee der Sammlung war; darüber waren er und Scholem sich einig. Allerdings reichte dieser gemeinsame Nenner doch nicht für eine erfolgreiche Zusammenarbeit aus; es kam zu Reibereien und Zerwürfnissen, obwohl Klatzkin versucht hatte, manchen Konflikt im Voraus zu entschärfen. Zu einem ersten Bruch zwischen Berlin und Jerusalem kam es infolge redaktioneller Veränderungen an Scholems ersten eingesandten Beiträgen. Als sich
90 Klatzkin an Scholem, Postkarte vom 3. 5. 1924 und Brief vom 27. 5. 1924, GSA, Korrespondenz Klatzkin. Der Neudruck von Scholems Doktorarbeit wurde erst später bei Schocken vorgenommen. Näheres dazu im Folgenden; s.a.: Engelhardt, ebd., 254–258. 91 Klatzkin an Scholem, 27. 5. 1925, GSA, Korrespondenz Klatzkin. 92 Klatzkin an Scholem, 25. 5. 1925, ebd.
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Scholem darüber beschwerte, antwortete ihm Jakob Naphtali Simchoni, Klatzkins Stellvertreter: Die Korrekturen und Zusätze, die wir an Ihren Beiträgen angebracht haben, tragen zur Sache bei und zur Objektivität, die ein Grundsatz unserer Enzyklopädie ist. In seiner ursprünglichen Form war Ihr Beitrag über Abulafia eine reine Verteidigung, wobei die ‚andere Seite‘ völlig unterschlagen wurde.93
Scholem antwortete mit einem scharfen Brief, in dem er gegen die Haltung der Reaktion ihm gegenüber protestierte und seine Mitarbeit an der Enzyklopädie kündigte. Darauf erwiderte Simchoni: „Es gibt zweierlei Wissenschaft: eine objektive und eine subjektive – davon kann die Enzyklopädie nur der ersteren dienen“.94 Weshalb Scholem dann doch weiterhin für die Encyclopaedia Judaica schrieb, ist unklar – vielleicht durch Vermittlung von Klatzkin oder von dritter Seite; vielleicht war die Möglichkeit, im Rahmen dieser neuen jüdischen Enzyklopädie Fachbeiträge zu veröffentlichen, auch zu verlockend, als dass Scholem sie hätte aufgeben mögen. Jedenfalls nahm er nach einiger Zeit seine Beraterfunktion gegenüber der Redaktion wieder auf und erklärte sich bereit, weitere Artikel beizusteuern, allerdings unter einer Bedingung: „Ich übernehme in der Enzyklopädie stets nur Artikel, in denen ich wissenschaftlich irgendetwas Neues zu sagen habe, das aus der bekannten Literatur nicht von andern kompiliert werden könnte“.95 In diesem Zugeständnis war die nächste Meinungsverschiedenheit bereits angelegt, denn in der Fortsetzung dieses Briefes weigert er sich, für die wenigen ihm anvertrauten Beiträge eine Umfangsbeschränkung nach Maßgabe der Spalten in der 1901–1906 erschienenen amerikanischen Jewish Encyclopedia zu akzeptieren, wie Klatzkin ursprünglich angekündigt hatte; falls die Redaktion darauf insistiere, werde er überhaupt nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten. So riss die Kette der Krisen nicht ab. Auf den Erhalt von Scholems Beitrag „Bahir, Buch“ erwiderte Klatzkin postwendend: Ich freue mich über Ihren ausgezeichneten Beitrag, knapp und komprimiert, reich an neuen Untersuchungen und Deutungen – doch zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass für einen so großen Artikel über das Buch Bahir in unserer Enzyklopädie kein Raum ist.
Aus der Befürchtung heraus, das Gesamtprojekt würde auf zwanzig statt der geplanten fünfzehn Bände anwachsen, bittet er darum, den Artikel um die Hälfte zu kürzen – zumal das Buch Bahir ja auch in dem geplanten Gesamtartikel 93 Simchoni an Scholem, 12. 2. 1926, ebd. 94 Simchoni an Scholem, 10. 3. 1926, GSA, ebd. Eine handschriftliche Fassung von Scholems Protest findet sich in dem Exemplar von Simchonis Schreiben vom 12. 2. 1926. 95 Scholem an Klatzkin, 3. 5. 1928, ebd.
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„Kabbala“ behandelt werde.96 Scholem wies dieses Ansinnen empört zurück, Klatzkin beharrte auf seinem Standpunkt, und nach kurzem Schriftwechsel verlangte Scholem sein Manuskript zurück und kündigte seine Mitarbeit an der Enzyklopädie ein weiteres Mal auf: Ich hege ernstliche Zweifel darüber, ob bei einem solchen Stand der Dinge, wie ihn unsere Verhandlung illustriert, meine Mitarbeit noch fruchtbar sein kann. Es versteht sich ja, dass, sollte es einmal dazu kommen, das Schicksal des Gesamtartikels Kabbala genau so sein wird, wie das des Artikels Bahir: Sie werden ihn loben, aber nicht drucken.97
Einen Monat später kam ein kurzes Schreiben von Klatzkin mit der Mitteilung, die Redaktion habe kurzfristig entschieden, „Ihren Artikel über ‚Bahir‘ vollständig zu bringen, da infolge unvorhergesehener Umstände Raum frei geworden ist“.98 In den folgenden Jahren schrieb Scholem weitere Artikel für die deutsche Encyclopaedia Judaica, allerdings in geringerem Umfang als zuvor. Sein bedeutendster Beitrag zur deutschen Encyclopaedia Judaica war der Artikel über Kabbala, den Klatzkin mit der Bemerkung ankündigte, dass er „wohl die Krone des nächsten Bandes darstellen wird“.99 In seinem Begleitbrief erläutert Scholem, weshalb der Artikel wesentlich länger geworden sei, als Klatzkin ursprünglich vorgesehen hatte, nämlich zwei Druckbogen statt einem: „Ich glaube auch, dass für die Leser eine solche zusammenfassende Darstellung von größerem Interesse ist als viele der kleinen völlig überflüssigen Rabbiner-Biographien, die jetzt den Raum der Encyclopedia fressen.“ Aufgrund seiner früheren Erfahrungen verwahrt er sich im Voraus gegen etwaige Einwände der Redaktion: Sollen Sie nicht bereit sein, den Artikel zu drucken, so bitte ich Sie um baldigste Zurückstellung, da ich dann anders darüber zu verfügen gedenke. Keinesfalls kann ich mich damit einverstanden erklären, dass der Artikel irgendwelchen anderen Herren zur etwaigen Umarbeitung ausgeliefert wird.100
Die Zusammenarbeit von Scholem und Klatzkin endete 1932. Infolge der Weltwirtschaftskrise war der Eschkol-Verlag in finanzielle Schwierigkeiten geraten und konnte seinen Autoren keine Honorare mehr zahlen. Daraufhin schrieb Scholem im Dezember 1932 in einem letzten Brief an die Redaktion, wegen der 96 Klatzkin an Scholem, 20. 9. 1928, ebd. 97 Scholem an Klatzkin, 15. 11. 1928, ebd. 98 Klatzkin an Scholem, 13. 12. 1928, ebd. Scholems Beitrag über das Buch Bahir ist 1929 im dritten Band der deutschen Encyclopaedia Judaica erschienen (Sp. 969–979). 99 Erschienen im 9. Band (1932), Sp. 640–732; Klatzkin an Scholem, 19. 1. 1932, ScholemArchiv, im Korrespondenz-Ordner Klatzkin. 100 Scholem an Klatzkin, 7. 1. 1932 mit Klatzkins Antwort vom 19. 1. 1932 (ebenfalls auf Deutsch), Scholem-Archiv, ebd. Zu Klatzkins Brief mit der Umfangsbeschränkung vom 9.7.930, s. ebd.
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ausbleibenden Bezahlung für einige seiner bisherigen Beiträge könne er künftig nicht mehr für die Encyclopaedia Judaica arbeiten. Nicht lange danach ging der Verlag in Konkurs und musste schließen, womit denn auch sein Sammlungsprojekt beendet war.101 In den Jahren seiner Autorschaft für die Encyclopaedia Judaica verfasste Scholem fünfzehn Beiträge für die deutsche und neun für die zwei erschienenen Bände der hebräischen Ausgabe – quantitativ mag das nicht viel sein, doch überzeugten die einzelnen Artikel durch ihr inhaltliches Gewicht. Bedeutsam ist besonders der erwähnte Artikel über Kabbala, der drittlängste Beitrag innerhalb der Enzyklopädie. Michael Brenner erblickte darin einen Beleg für „den Willen der Herausgeber, dem neuen Fach der Kabbala einen prominenten Platz in dem Projekt einzuräumen“.102 Aus Scholems Sicht wiederum ist es verständlich, wie wichtig ihm die Veröffentlichung dieses Artikels war, wollte er damit doch seinen Status als akademische Koryphäe in den Kabbala-Studien zu etablieren. Hier stand ihm ein anspruchsvolles und weit verbreitetes Medium in deutscher Sprache zur Verfügung, um das Fundament seines Forschungsgebietes zu legen und dessen Grenzen abzustecken.103 So erhielt er im Rahmen des enzyklopädischen Projekts die einmalige Gelegenheit, seinen eigenen Kanon zu schaffen und die künftige Kabbala-Forschung grundlegend zu umreißen. Auf diese Weise machte er sich selbst zum Begründer einer eigenständigen Disziplin und eines Forschungsbereiches, den es bis dahin nicht gegeben hatte.104
Salman Schocken und der Schocken-Verlag (1933–1939) Eine der wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten in Scholems Leben war der Kaufmann, Kulturagent und -mäzen Salman Schocken (1877–1959). Schocken war ein wohlhabender jüdischer Geschäftsmann aus Posen, Besitzer einer Warenhauskette, die seinen Namen trug und die ihm seinen Reichtum verschaffte. Neben seiner Handelstätigkeit hegte er seit jungen Jahren großes Interesse für deutsche Philosophie und Literatur und legte sich eine bibliophile Sammlung an. Gegen Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts wandte er sich, angeregt durch die Begegnung mit Bubers Bearbeitung der Geschichten des 101 Scholem an Klatzkin, 22. 12. 1932, Scholem-Archiv, ebd. Im Herbst 1933 unternahm Scholems Mutter, in Berlin noch einen Versuch, für ihren Sohn die ausstehenden Gelder beim Eschkol-Verlag einzutreiben. Doch erfuhr sie, dass der Verlag nicht mehr bestehe und dass Klatzkin in die Schweiz gereist sei (Scholem/Scholem, Mutter und Sohn, 336–337). 102 Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 132. 103 Vgl. Engelhardt, Palimpsests, 305; Brenner, ebd., 132f. 104 Vgl. Abrams, Defining Modern Academic Scholarship; Katz, Gershom Schalom u-Tchilat Darko, 154–159.
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Rabbi Nachman, dem Kulturzionismus zu. Von da an brachte er viel Geld und Energie für die Förderung und Erneuerung jüdischer Kultur auf, ein Interesse, das er sich Zeit seines Lebens bewahrte und das ihn zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit auf diesem Gebiet werden ließ.105 Schockens zionistisches Wirken begann 1912 mit der Errichtung einer Ortsgruppe der Zionistischen Vereinigung in Zwickau, seinem damaligen Wohnsitz. Zwei Jahre später machte er den Delegierten, die am Zionistenkongress in Leipzig teilnahmen, eine Ausgabe von Herzls Kongress-Reden zum Geschenk. Die Hintergründe dieser Geste erläuterte er dem Zionisten Kurt Blumenfeld: „Hätten die zionistischen Delegierten die Kenntnis des deutschen Judentums vom 18. und 19. Jahrhundert und die Kenntnis der großen deutschen Literatur, so würden sie wissen, daß sie den Fuß in Deutschland nur leicht aufsetzen können“.106 Schockens Auffassung, nach der das Wissen um die Vergangenheit von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft sei, fand deutlichen Ausdruck in einer Ansprache, die er 1916 vor den Teilnehmern eines Außerordentlichen Delegiertentags im Berliner Hotel Savoy hielt. Dort artikulierte er seine zionistische Überzeugung erstmals öffentlich und tat kund, dass er die jüdische Frage nicht als eine politische, sondern als eine kulturelle betrachte: Um zum wahren Geist des Judentums zurückzukehren, müssten die altehrwürdigen Zeugnisse der jüdischen Kultur wissenschaftlich aufbereitet und zugänglich gemacht werden. In den 30.000 Bänden der hebräischen Literatur ruhen unsere Schätze vergraben, und unsere Arbeiten können wahrhafte Mekize Nirdamim (Erwecker der Schlummernden) sein, wenn sie die Goldadern wertvollen jüdischen Lebens aus den verschütteten Büchern herausholen. Unsere Wissenschaft wird lebende Wissenschaft sein können. In unserem Zukunftsideal haben wir das Organ, die Tatsachen der Vergangenheit und der Gegenwart nach einem Prinzip der Auswahl zu sehen, die die bedeutsamen Vorgänge, die leitenden Kulturwerte heraushebt.107
Diese jüdische Kulturarbeit sei durch Zionisten zu leisten, und dafür müsse eine Institution zur Unterstützung jüdischer Kulturschaffender gegründet werden. Ohne die akademische Seite dieser Arbeit zu vernachlässigen, hob Schocken auch die Notwendigkeit ihrer Wirkung für eine breite jüdische Öffentlichkeit hervor: Unsere Arbeit wird erst dann ihre Wirkung beginnen, wenn wir eine gute Darstellung von der Vergangenheit unseres Volkes und seines gegenwärtigen Bestandes unter dem
105 Zu diesem Umschwung in Schockens Leben s. David, The Patron, 68. 106 Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, 93f.; Poppel, Salman Schocken, 22. 107 Schocken verwendet hier bewusst den Namen der Gesellschaft, die er zuvor schon erwähnt hatte. Sein Referat ist gedruckt in: Jüdische Rundschau, 5. 1. 1917, 3; s.a. David, The Patron, 111f.
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Gesichtspunkt unserer Zukunftsentwicklung in die Hand jedes jüdischen Lesers geben können.108
Schockens Vorschlag, einen Ausschuss für jüdische Kulturarbeit zu errichten, wurde angenommen; Mitglieder waren Hugo Bergmann, Kurt Blumenfeld, Max Brod, Martin Buber, Moses Calvary, den Vorsitz führte Schocken selbst zehn Jahre lang bis zu seinem Ausscheiden Ende 1927.109 Im Rahmen der Arbeit dieses Ausschusses kam auch der erste Kontakt zwischen ihm und dem jungen Gerhard Scholem zustande. Scholem hatte Salman Schocken das erste Mal Ende Dezember 1916 anlässlich jenes zionistischen Delegiertentags im Berliner Hotel Savoy gesehen; sein Eindruck von dieser Veranstaltung war nicht gerade positiv: „Selten habe ich eine Versammlung gesehen, die so rettungslos in der Sphäre des Geschwätzes geblieben wäre wie diese“, notierte er in seinem Tagebuch.110 Ein erstes Gespräch ergab sich, nachdem Scholem ein Rundschreiben des Ausschusses für Jüdische Kulturarbeit beantwortet hatte, indem er zur Mitarbeit aufgefordert worden war: Er bat Schocken um ein persönliches Treffen und wurde im Januar 1918 nach Zwickau eingeladen,111 wo er ihm erklärte, dass er absagen müsse, da er im Begriff stehe, in die Schweiz zu reisen und sich dort überwiegend seinem Studium widmen wolle. Doch führte dies keineswegs zum Abbruch des Kontakts zwischen den beiden. Im Rückblick schreibt Scholem über das Treffen in Zwickau: „Jedenfalls kam ich von dort sehr beeindruckt zurück, denn ich hatte einen Mann von Statur kennengelernt“.112 Auch Schocken hatte von seinem Besucher einen sehr positiven Eindruck gewonnen, denn er bot ihm eine Stelle als persönlicher Fachmann für Hebräisch an, was dieser offenbar dankend ablehnte. Doch da Schocken über diese Begegnung an Buber schrieb, der junge Mann werde wohl ein halbes Jahr lang für den Kulturausschuss arbeiten, scheint Scholems Absage nicht so spontan und strikt gewesen zu sein, wie er in seiner Autobiographie behauptet.113 Dieser positive Anfang der Beziehung zwischen Salman Schocken und Gershom Scholem fand seine Fortsetzung mit der Gründung des SchockenVerlags 1931, in dem der Kabbalaforscher nicht wenige Erträge seiner Arbeit veröffentlichte. 108 Schockens Referat, ebd. sowie Poppel, Salman Schocken, 23. 109 Zur Abstimmung über Schockens Vorschlag s. Jüdische Rundschau, ebd., 9; Poppel, ebd. 24f. 110 Scholem, Tagebücher 1, 455 (28. 12. 1916); vgl. ders., Von Berlin nach Jerusalem, 119. Einen Beleg für Anthony Davids Äußerung (David, The Patron, 112), der junge Scholem habe Schockens Ansprache im Vergleich zu den übrigen Rednern als wohltuende Ausnahme empfunden, konnte ich nicht finden. 111 Scholem an Schocken, 18. 1. 1918, in: Scholem, Briefe I, 138–140. 112 Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 119f. 113 So bei David, The Patron, 122.
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Kulturelle Zusammenhänge
Schon bevor er seinen Verlag gründete, entfaltete Schocken eine rege Tätigkeit im Bereich der jüdischen Kultur, die ganz im Zeichen des Projekts der Sammlung stand. So war etwa die Herausgabe von Anthologien ein zentraler Bestandteil seiner lebenslangen finanziellen Unterstützung von Shai Agnon. In einem Vertrag von März 1916 verpflichtete sich Agnon, innerhalb von fünf Jahren eine Anthologie mit dem Titel Vom Juden herauszubringen.114 Eine weitere Anthologie wurde im Rahmen des Ausschusses für Jüdische Kulturarbeit konzipiert: Martin Bubers Schwiegersohn Ludwig Strauß erhielt den Auftrag, ein Jüdisches Lesebuch zu erstellen, das dem jüdischen Leser „eine repräsentative Auswahl klassischer jüdischer Texte“ aus den verschiedensten Epochen und Bereichen in deutscher Übersetzung an die Hand geben sollte.115 Als Schocken 1927 den Vorsitz des Kulturausschusses enttäuscht niederlegte, setzte er die Projektidee in einem anderen Rahmen um, ernannte Nahum Glatzer zum Mitherausgeber und veröffentlichte 1931 im neugegründeten Schocken-Verlag die Anthologie Sendung und Schicksal – ein jüdisches Lesebuch.116 Zu diesem Zeitpunkt hatte Salman Schocken schon einige literarische Projekte ins Leben gerufen: zunächst die Herausgabe der Gesammelten Schriften von Agnon, außerdem das Forschungsinstitut für hebräische Dichtung, dessen Aufgabe darin bestand, aus hebräischen Handschriften literarische Texte des jüdischen Mittelalters herauszugeben – in erster Linie aus einer Sammlung von nahezu 3.000 Fragmenten aus der Kairoer Genisa, die Schocken 1928 erworben hatte.117 Ein weiteres bedeutendes Projekt war die Verdeutschung der Heiligen Schrift von Martin Buber und Franz Rosenzweig, die Schocken von Lambert Schneider übernahm, als dessen Verlag in Konkurs ging. In der Folge wurde der Berliner Verleger Schneider – zusammen mit dem Indologen Moritz Spitzer als wissenschaftlichem Herausgeber – eine der tragenden Säulen des Schocken-Verlags bis zu dessen Schließung Ende 1938 durch das nationalsozialistische Regime.118 Kaum hatte der Schocken-Verlag seine Tätigkeit aufgenommen, begann die Zusammenarbeit mit Gershom Scholem, der einer der zentralen Autoren des Verlages werden sollte.119 Ende Januar 1933 ließ ihn Lambert Schneider wissen, dass Schocken auf Empfehlung von Martin Buber großes Interesse an seiner 114 Laor, Chaijej Agnon, 107; s.a. Hirschfeld, Schocken und Agnon. 115 Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 226. Dahm, Das jüdische Buch (280) berichtet, Schocken habe Bialik bei der Konzeption dieses Bandes zu Rate gezogen. 116 Über diese Phase in Schockens Leben ist viel geschrieben worden: David, The Patron, 176, 197–199; Dahm, Das jüdische Buch, 279–283; Poppel, Salman Schocken, 25f. 117 Geleitet wurde das Institut von Haim Brody, 1933 verlegte es seinen Sitz nach Jerusalem. Dazu David, The Patron, 178–180; Lehnardt, Das Forschungsinstitut; Dahm, Das jüdische Buch, 290f. 118 Dazu Schneider, Rechenschaft, 37–44; Dahm, ebd., 291–296. 119 Unter den ersten 35 Veröffentlichungen des Verlags waren ein Neudruck von Scholems Doktorarbeit über das Buch Bahir sowie seine Bibliographia Kabbalistica.
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Forschung zeige.120 Scholem war ebenfalls interessiert und erklärte seine grundsätzliche Bereitschaft, Arbeiten zu Themen zu liefern, die Buber in einer Redaktionssitzung vorgeschlagen hatte. Was ihn besonders lockte, war ein langfristiges Projekt, nämlich eine ausführliche Monographie zur Kabbala: „Die Abfassung eines solchen umfassenden Werkes bildet das wissenschaftliche Hauptziel meiner Lebensarbeit“, schrieb er an Schneider.121 Damit begann seine jahrelange fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Schocken-Verlag, die – ähnlich wie seine Mitarbeit an der Encyclopaedia Judaica – nicht ganz reibungslos verlief, was nicht zuletzt eine Folge von Scholems Temperament war. Aus der im Scholem-Archiv erhaltenen Korrespondenz mit dem Verlag tritt eine Fülle von Plänen zutage, von denen aus zeit- und persönlichkeitsbedingten Schwierigkeiten nur ein Teil verwirklicht werden konnte. Doch was realisiert wurde, ist bedeutsam und bildete das Fundament von Scholems künftiger Forschung. Schneiders erster Vorstoß bei Scholem nahm konkrete Formen an, als der Almanach des Schocken-Verlags konzipiert wurde, von dem insgesamt sechs Bände erschienen (1933–1939). Bei dem Almanach, der jährlich zum Jüdischen Neujahr herauskam, handelte es sich im Wesentlichen um eine Anthologie jüdischer Quellentexte aus verschiedenen Epochen, ergänzt durch Beiträge von zeitgenössischen Intellektuellen. Auf diese Weise sollte die Kontinuität jüdischen Lebens über Generationen hin abgebildet werden. Im Juni 1933 lud Spitzer Scholem zur Mitarbeit am ersten Band des Almanachs ein, den er zusammen mit Buber herausgab. Er stellte ihm frei, eine historische oder theologische Abhandlung beizutragen, bestand jedoch auf einer Vorgabe: Nur darauf bitte ich Sie bei der Wahl des Themas zu achten, daß der Almanach möglichst mit allen seinen Beiträgen – natürlich in indirekter Weise – zur aktuellen Situation, ihrer Not und der in ihr verborgenen Möglichkeit, durch Umkehr zu einem guten Ende zu kommen, etwas Wegweisendes oder wenigstens „Anzügliches“ aussagen soll.122
So veröffentlichte Scholem im ersten Band des Schocken-Almanachs einen Beitrag über die Geschichte der Kabbala nach der Vertreibung der Juden aus Spanien sowie eine überarbeitete Version des Textes Hachschara, der bereits 1924 in Bubers Zeitschrift Der Jude erschienen war. In den fünf weiteren Bänden des Almanachs, der sich großer Beliebtheit erfreute, wurden drei weitere Arbeiten Scholems gedruckt: ein Hymnus des Nachmanides zum jüdischen Neujahrsfest in deutscher Übersetzung, ein Beitrag zum Sabbatianismus und eine Studie über die Chasside Aschkenas.123 120 121 122 123
Schneider an Scholem, 26. 1. 1933, in: Scholem, Briefe I, 414. Scholem an Schneider, 6. 4. 1933, in: ebd., 250f. Spitzer an Scholem, 6. 6. 1933, GSA, Korrespondenz Schocken. Scholem, Nach der Vertreibung aus Spanien; zur Geschichte der Kabbala vgl. Scholem, in: Almanach des Schocken-Verlags 5694 (1933–1934), 55–70; Mosche Ben Nachman, Hymnus
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Kulturelle Zusammenhänge
Im September 1933 erhielt Scholem von Spitzer die Mitteilung, dass der Schocken-Verlag ein weiteres Projekt plane, bei dem seine Mitarbeit erwünscht sei: die Bücherei des Schocken-Verlags, ein jüdisches Äquivalent zu der bekannten Schriftenreihe des deutschen Insel-Verlags: kleine Bändchen zu geringem Preis, für weiteste Verbreitung gedacht, literarische Dokumente aus allen Perioden der jüdischen Geschichte enthaltend, und solche nichtjüdischen Werke, die aus irgendeinem besonderen Grund einen Platz in einer für Juden bestimmten Bücherei beanspruchen können.124
Darin wurde die Linie weitergeführt, die Schocken bereits für den Almanach seines Verlags vorgegeben hatte, nur waren die Beiträge umfangreicher. Anders als bei den Almanachen, die in einem Band diverse kleinere Texte vereinten, handelte es sich bei der Bücherei des Schocken-Verlags um eine Folge von einzelnen Bänden, die jeweils einen Quellentext aus der jüdischen Vergangenheit enthielten und so ein Bild von der Vielfalt des Judentums boten. Im Einklang mit der Idee der Sammlung sollten sämtliche Bände der Reihe Texte beinhalten, die für die Erneuerung der jüdischen Kultur unter den besonderen Umständen jüdischer Existenz im nationalsozialistischen Deutschland relevant waren. Außerdem sollten die Bände preiswert und für Laien verständlich sein.125 Scholem nahm Spitzers Angebot, kabbalistische Quellen in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen, begeistert an und bot verschiedene Themenmöglichkeiten zur Auswahl.126 Nach Rücksprache mit Buber entschied sich Spitzer für eine kabbalistisch-messianische Anthologie und eine Sammlung von Auszügen aus dem Sohar.127 Scholem übernahm die Abfassung dieser Bände, außerdem eine umfangreichere Anthologie kabbalistischer Quellentexte mit wissenschaftlichen Anmerkungen.128 Tatsächlich erschienen, solange der Schocken-Verlag seinen Sitz in Berlin hatte, nur zwei Bände aus der Feder Scholems in seinem Programm: als Band 40 der Schocken-Bücherei Die Geheimnisse der Schöpfung, ein Kapitel aus dem Sohar in deutscher Übersetzung sowie die hebräische Ausgabe einer sabbatianischen Handschrift aus Schockens Sammlung mit einer ausführlichen Einfüh-
124 125 126 127 128
vom Schicksal der Seele, in: ebd. 5696 (1935/6), 86–89; ders., Zum Verständnis des Sabbatianismus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der ‚Aufklärung‘, ebd. 5697 (1936/7), 30–42; ders., Die Frommen Deutschlands. Ein Kapitel jüdischer Religionsgeschichte, ebd. 5698 (1937/8), 53–64. Spitzer an Scholem, 28. 9. 1933, GSA, Korrespondenz Schocken. Weiteres zur Schocken-Bücherei bei David, The Patron, 220f.; Dahm, Das jüdische Buch, 326–329. Scholem an Spitzer, 9. 10. 1933, GSA, Korrespondenz Schocken. Spitzer an Scholem, 19. 10. 1933, ebd. Scholem an Spitzer, 17. 12. 1934, in: Briefe I, 258.
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rung.129 Von Band 40 war Schocken derart begeistert, dass er sich persönlich um die Drucklegung kümmerte und außerdem einen bibliophilen Privatdruck in 150 Exemplaren herstellen ließ.130 Auch die Ausgabe des hebräischen Manuskripts erschien als Privatdruck und war eines der wenigen Bücher, die beim SchockenVerlag in Deutschland auf Hebräisch erschienen.131 Hinzu kamen noch Scholems frühe Agnon-Übersetzungen, die seinerzeit in Der Jude veröffentlicht worden waren und nun als separates Bändchen in der Schocken-Bücherei nachgedruckt wurden.132 Über die Gründe, weshalb Scholems Veröffentlichungstätigkeit im SchockenVerlag erheblich magerer ausfiel als angekündigt, können nur Vermutungen angestellt werden. Der Briefwechsel zwischen Spitzer uns Scholem zeugt von Spannungen, die dafür ursächlich gewesen sein mögen. Diese betrafen zum einen das Verhältnis zwischen Autor und Verlag, wie es bereits während Scholems Mitarbeit an der Encyclopaedia Judaica zu beobachten war. Das lag sowohl an Scholems Charakter als auch an seiner Kommunikation mit Schneider und Spitzer in Berlin. So erfuhr Spitzer im November 1934 von dritter Seite, sein Autor grolle dem Verlag und ihm persönlich, weil er erst in letzter Minute telegrafisch zur Mitarbeit am zweiten Band des Almanachs aufgefordert worden sei. Aus diesem Grund sei ihm nicht genug Zeit geblieben, einen Beitrag vorzubereiten und einzusenden, weshalb er Spitzers Briefe jetzt unbeantwortet ließe.133 Spitzer klagte daraufhin Schocken sein Leid in dieser Angelegenheit: Scholem ist einer der am schwierigsten zu behandelnden Autoren unter allen, mit denen wir es zu tun haben. Er macht immer weitreichende Zusagen und lässt, wenn es ernst werden soll, die Verbindung abreißen. Wir müssen dann immer wieder versuchen, die Fäden wieder zu knüpfen. Es ist für mich persönlich sehr schwer, immer wieder neu mit ihm anzuknüpfen. Man gerät so allmählich in die sehr unerwünschte Situation eines, der petitioniert.134
Die Unstimmigkeit ließ sich jedoch beheben, indem Spitzer direkt an Scholem schrieb und ihn um Klärung der Sache bat. In einer versöhnlichen Antwort räumte Scholem die Berechtigung von Spitzers Klagen ein, womit die Beziehung wiederhergestellt war.135 129 Scholem, Chalomotaw schel ha-Schabtaij. 130 Scholem, Die Geheimnisse der Schöpfung; s.a. Schneider an Scholem, 8. 8. 1935, GSA, Korrespondenz Schocken. 131 Ein Verzeichnis sämtlicher bei Schocken in Berlin erschienenen Veröffentlichungen bei Dahm, Das jüdische Buch, 473–501. 132 Agnon, In der Gemeinschaft der Frommen. 133 Spitzer an Scholem, 29. 11. 1934, GSA, Korrespondenz Schocken. 134 Spitzer an Schocken, 20. 11. 1934, ebd.; s.a. Scholem/Weiss, Chalifat Michtawim, 335. 135 Spitzer an Scholem, 29. 11. 1934; Scholem an Spitzer, 13. 12. 1934, beide im GSA, Korrespondenz Schocken.
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Doch 1935 kam es zu einer weiteren Krise zwischen Scholem und dem Schocken-Verlag in Folge der Veröffentlichung von Franz Rosenzweigs Briefen durch dessen Witwe und Ernst Simon. Darin ist ein Brief an Joseph Prager vom 30. Mai 1923 enthalten, in dem Rosenzweig über die Kurse am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main berichtet, unter anderem über den Lektürekurs Sohar chadasch. „Den hält Scholem, der über den Sommer hier ist, und macht’s, wie immer mit unflätigem Benehmen, aber, ebenfalls wie immer, glänzend“.136 Durch die Veröffentlichung dieser Bemerkung, zusammen mit kritischen Äußerungen über Scholems Charakter in anderen Briefen,137 fühlte sich dieser verletzt. Anscheinend hatte man ihm diesen Teil der Briefausgabe – im Unterschied zu anderen – vor der Drucklegung nicht gezeigt, um seine Zustimmung einzuholen. Er beklagte sich darüber sowohl bei Rosenzweigs Witwe als Herausgeberin des Briefbandes wie auch bei Spitzer. Letzterer erwiderte darauf: Und zu Ihren Bemerkungen über die Rosenzweig-Briefe, aus deren Klang ich eine gewisse Bitterkeit herauszuhören fürchte. Seien Sie versichert, dass man aus diesen Briefen nichts über Sie erfährt, was nicht zu der Schätzung passte, die Sie bei allen, die Sie kennen, genießen. Wenn das Ungestüm Ihrer jungen Jahre sich in den Briefen stärker spiegelt, als Ihnen heute vielleicht lieb ist, so kann doch kein Leser vergessen und hat Rosenzweig selber doch gewusst und es sogar explizit zum Ausdruck gebracht, dass Sie ohne dieses Ungestüm nicht das hätten werden können, was Sie damals schon waren und heute sind und was Sie, wie wir alle hoffen, noch einmal werden.138
Spitzers humorvolle Ironie trug wesentlich zum Gelingen der Zusammenarbeit bei und führte auf die Dauer zu einer persönlichen Freundschaft zwischen den beiden. Ein weiterer Grund, weshalb nicht mehr Arbeiten von Scholem bei Schocken erschienen, liegt möglicherweise in Scholems Haltung zur Idee der Sammlung selbst, war er doch strikt gegen jede Popularisierung, wohingegen Schocken ein möglichst großes Publikum erreichen wollte. Darüber hinaus spielt noch ein anderer Faktor mit, den Scholem brieflich mehrfach anspricht, nämlich Deutsch bzw. Hebräisch als Sprachen, in denen seine Veröffentlichungen verfasst waren. Ende 1934 nahm Scholem in einem Brief an Spitzer, worin er über eine geplante Monographie über Kabbala berichtete, Bezug auf diese Frage: Ich habe, wie Sie leicht verstehen werden, in dieser Zeit und den gegenwärtigen Bedingungen große seelische Hemmungen, als Professor an der Hebräischen Universität ein grundlegendes Buch über mein Lehrgebiet zuerst auf Deutsch veröffentlicht zu
136 Rosenzweig, Briefe und Tagebücher 2, 907. 137 S. z. B. Brief vom 12. 5. 1921 an Rudolf Hallo, ebd., 704; s.a. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 173f. 138 Spitzer an Scholem, 9. 5. 1935, GSA, Korrespondenz Schocken. Scholems Brief an Edith Rosenzweig ist abgedruckt in: Scholem, Briefe I, 259.
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sehen. […] Ich würde mich dem Vorwurf der Illoyalität aussetzen, wenn ich ein solches Buch deutsch herausbrächte, sofern irgendeine Gelegenheit vorhanden ist, es zuerst oder zugleich auf Hebräisch zu publizieren.139
Angesichts der politischen Umstände, unter denen der Schocken-Verlag agieren musste, ist Scholems Haltung verständlich. Hätte er eine Monographie von dieser Tragweite ausschließlich auf Deutsch veröffentlicht, wäre er in einen Konflikt geraten zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland, das die Juden in Palästina durch die deutsche Sprache repräsentiert sahen, und seinen jüdischen Mitbewohnern, deren Sprache Hebräisch war. Allerdings waren Veröffentlichungen in hebräischer Sprache damals technisch viel aufwendiger als auf Deutsch: Der Satz eines hebräischen Buches kostete wesentlich mehr als der eines deutschen, sowohl in Deutschland als auch in Palästina.140 Nicht zuletzt war es auch Scholems große Belastung durch den akademischen Alltag, die ihn von der Umsetzung etlicher geplanter Arbeiten abhielt. Als Professor an einer im Aufbau begriffenen Universität, an der ihm neben der Lehre noch weitere Verpflichtungen oblagen, fand er einfach nicht die Zeit und Energie, alle seine Pläne umzusetzen. Außerdem bestand der Schocken-Verlag in Deutschland ja nur sechs Jahre lang und wurde 1938 durch das nationalsozialistische Regime geschlossen, woraufhin seine Publikationstätigkeit in Deutschland abbrach. Die Reihe der Schocken-Bücherei hätte hundert Bände umfassen sollen; letzten Endes erschienen nur 92, was unter den damaligen Umständen eine beachtliche Leistung war.141 Nach dem gewaltsamen Ende, das der Tätigkeit des Schocken-Verlags in Berlin gesetzt wurde, setzte Schocken nach seiner Emigration in Jerusalem und New York einige der in Berlin entwickelten Ideen fort – Scholems Beitrag zur Arbeit des Verlags gehörte dazu. 1934 verließ Salman Schocken das nationalsozialistische Deutschland und verlegte seinen Wohnsitz nach Jerusalem, wo er sich im Stadtteil Rechavia niederließ. Sein Wohnhaus und das Bibliotheksgebäude daneben ließ er von dem bekannten Bauhaus-Architekten Erich Mendelsohn entwerfen.142 Dass er und Scholem sich in jenen Jahren näherkamen, lag nicht nur an deren Nachbarschaft, sondern auch daran, dass Schocken als Schatzmeister und Vorsitzender des Exekutivrats der Hebräischen Universität fungierte, bis er 1940 in die USA übersiedelte.143 Nicht nur eine vielschichtige Freundschaft verband die beiden, Schocken unterstützte Scholems Forschungsarbeit auch finanziell. Zusätzlich zu den Honoraren, die Scholem für Vorträge, Aufsätze und Buchveröffentlichungen 139 140 141 142 143
Scholem an Spitzer in: Scholem, Briefe I, 257. Schneider an Scholem, 3. 1. 1935, GSA, Korrespondenz Schocken. Poppel, Salman Schocken, 33. Zu dieser Epoche in Schockens Leben s. David, The Patron, 230–255. Dazu Cohen, ha-Har weha-Giwa, 84–87; David, ebd., 249–251.
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Kulturelle Zusammenhänge
erhielt, errichtete Schocken 1939 das Jerusalemer Schocken-Institut zur Erforschung der Kabbala unter Scholems Leitung und Mitarbeit von Chaim Wirszubsky, Isaiah Tishby und Joseph Weiss. Für ihre Forschungen zur Kabbala und zur Geschichte des Sabbatianismus erhielten sie außerdem freien Zugang zu Schockens Bibliothek und Handschriftensammlung. Scholem verpflichtete sich seinerseits dazu, allgemein verständliche Monographien zur Geschichte der jüdischen Mystik zu verfassen.144 Salman Schocken pendelte die folgenden Jahre zwischen USA, Europa und Israel, wobei er zunehmend vereinsamte. Während dieser Zeit freundete er sich mit Scholems Schüler Joseph Weiss an und studierte mit ihm zusammen die Schriften des R. Nachman von Brazlaw. Bald nach Schockens Tod im Sommer 1959 schrieb Weiss an Scholem, in jenem Sommer habe der Mäzen ihn zu sich in die Schweiz eingeladen, „um die Bücher von neuem zu lernen, die wir gemeinsam in Jerusalem studiert haben“, nämlich die Schriften des R. Nachman von Brazlaw, die Schocken während seiner letzten Lebensjahre auf seinen Reisen mit sich zu führen pflegte.145 Diese Texte, deren Bearbeitung durch Buber Schocken seinerzeit den Zugang zu jüdischen Themen eröffnet hatten, begleiteten ihn auch in seinen letzten Tagen. Dazu bemerkte sein Sohn, Gershom Schocken, im Nachruf auf seinen Vater: „An ihm hat sich erfüllt, was T. S. Eliot in East Coker (1940), einem seiner Quartette, die Salman Schocken gut kannte, zitiert: ‚In my end is my beginning‘.“146 Bald nach Schockens Tod resümierte Scholem über ihrer beider persönliches Verhältnis in seinem Tagebuch: So sind nun 41 Jahre einer meiner merkwürdigsten menschlichen Beziehungen (seit meinem Besuch in Zwickau im Winter 1918) an ihrem Ende. Ein Mann, den ich mehr gekannt habe als die meisten Menschen, mit denen ich zu tun gehabt habe. Ein wahrhaft einzigartiges Gemisch von großartigen Gaben, manchmal einfach erstaunlicher Intuition, von nicht ausgehaltener Großartigkeit (und manchmal Generosität) der Anlage und bösartiger Dämonie. Einen bittereren Teufel haben wenige Menschen in sich gehabt als dieser Mann, der es verstand, jeden, dem er Gutes erwies, sich durch Sadismus zum Feind zu machen. Und dabei, welche unstillbare Sehnsucht, angenommen zu sein und verehrt (mehr als geehrt, was er schließlich alles erlangte) zu werden […]. Ich bin immer, im Grunde, gut mit ihm ausgekommen, weil ich (glaube ich) einer der wenigen war, die kein Blatt vor den Mund nahmen, wenn sie mit ihm sprachen.147
Viele Jahre später schrieb Scholem an seinen Bruder Reinhold, Erfolg und Besonderheit des Schocken-Verlags in Berlin seien weitgehend der anarchistischen
144 145 146 147
David, ebd., 305. Weiss an Scholem, 7. 8. 1959, in: Scholem/Weiss, Chalifat Michtawim, 182. Schocken, Darko schel Salman Schocken, B9. Tagebucheintrag vom 6. 8. 1959, in: Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 114f.
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Veranlagung des alten Schocken und des jungen Spitzer zu verdanken gewesen.148 Von daher wird verständlich, inwiefern sich Scholem diesem Werk verbunden fühlte, das auf dem Boden des nationalsozialistischen Deutschland gedieh und von dem er selbst nicht wenig profitierte: kurzfristig durch seine Veröffentlichungen in Berlin, langfristig durch die Entfaltung seiner Forschungsinteressen und -pläne. Aus Anlass des 80. Geburtstags von Salman Schocken im Oktober 1957 resümierte Scholem die Leistung des Schocken-Verlags immer noch aus der Perspektive der Neubelebung jüdischer Kultur in Deutschland: Der Schocken-Verlag hat es wunderbar verstanden, Geistiges zum Leben zu erwecken. Durch ihn hat sich der Schriftvers erfüllt: „Den Strauchelnden haben deine Worte aufgerichtet, wankende Knie hast du gestärkt“ (Hi 4,4). Eine solche Zusammenführung jüdischer Werte im weitesten Sinne war dem deutschen Judentum in den Zeiten seiner Größe nicht vergönnt, sondern erst am Vorabend seines Untergangs.149
In diesem Kapitel ging es um die zentrale Funktion, die die zionistische Idee der Sammlung jüdischen Kulturguts für Gershom Scholem hatte, und wie sie seine wissenschaftliche Tätigkeit zur Zeit der Weimarer Republik und danach beeinflusste. Seine Untersuchungen, Übersetzungen und bibliographischen Arbeiten sind das Werk eines Sammlers, der nach verstreuten Bruchstücken der jüdischen Geschichte sucht, um sie wissenschaftlich aufzuarbeiten, zu bewahren und zugänglich zu machen. Scholems Forschung wollte, wie er immer wieder betonte, aus einem „ungeheuren geistigen Trümmerfeld den ursprünglichen Bau und seine Gestalt-Veränderungen“ wiederherstellen.150 Doch um den Stellenwert der Idee der Sammlung für ihn richtig zu verstehen, genügt es nicht, seine realisierten und nicht realisierten wissenschaftlichen Pläne zu betrachten; zudem ist ein weiterer zentraler Aspekt in seinem Leben heranzuziehen, nämlich seine private Büchersammlung, die in über sechzig Jahren auf nahezu 25.000 Bände anwuchs.151 Diese Bücher vermachte er noch zu seinen Lebzeiten der Nationalbibliothek in Jerusalem. In mancher Hinsicht kann Scholems Bibliothek als ideale Verwirklichung der Idee der Sammlung im Bereich der Kabbala gelten. Dort stehen Originaltexte nebeneinander, die das kontinuierliche Fortbestehen jüdischer Kultur bezeugen, ohne jegliche Vermittlung oder wissenschaftliche Bearbeitung, nur mit handschriftlichen Kommentaren Scholems versehen. Bücher, die nicht in seine Konzeption passten, wurden nicht in die Sammlung aufgenommen, er verschenkte sie an seine Schüler. Sein ganz besonderes Verhältnis zu seiner Bibliothek und seine bewusst angewandten Auswahlkriterien artikulierte Scholem 148 149 150 151
Scholem an Reinhold Scholem, 25. 3. 1974, in: Scholem, Briefe III, 97. Scholem, Le-Salman Schocken ben ha-Shmonim, in: Haaretz 20. 10. 1957. Scholem, Kabbala-Forschung und jüdische Geschichtsschreibung, 31. Dan, Introduction, 20.
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Abbildung 2. Fania und Gershom Scholem. Aufgenommen von Alfred Bernheim
schon als ganz junger Mann, als seine private Büchersammlung noch in den Anfängen steckte: Ich verspüre große Sehnsucht nach meiner Bibliothek, diesem meinem besten Freund. Obwohl es unrecht ist, seine Liebe nicht an die Lebendigen, sondern an die Thora zu verschenken. Meine Bibliothek ist Thora, in ihrem ganzen Umfang, alles, was nicht Thora ist, ist verurteilt, draußen zu bleiben. Auch die Schriften der Anarchisten gehören dazu. O, wenn ich erst wieder an meinem Tisch sitze und meinen Blick über die Bücherreihen wandern lasse.152
Aus der Vielfalt der Fakten und Äußerungen lässt sich ein doppeltes Bedürfnis herauslesen, das hinter Scholems leidenschaftlichem Büchersammeln gestanden haben dürfte, ein privates und ein öffentliches Interesse. Die private Seite besteht 152 Tagebucheintrag von August 1916, in: Scholem, Tagebücher 1, 381.
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aus zwei Komponenten: Zum einen sah er sich als Sammler dazu berufen, den „Kampf gegen die Zerstreuung“153 zu führen, indem er eine möglichst vollständige und in sich geschlossene Sammlung erstellte, zum anderen wollte er jedes Stück der Sammlung als eigenständiges Ganzes behandeln. Verblüffend ähnlich hatte sein Freund Walter Benjamin die Mentalität des ‚Sammlers‘ geschildert: Man erinnere doch nur, von welchem Belang für einen jeden Sammler nicht nur sein Objekt, sondern auch dessen ganze Vergangenheit ist, ebensowohl die zu dessen Entstehung und sachlicher Qualifizierung gehört wie die Details aus dessen scheinbar äußerlicher Geschichte: Vorbesitzer, Erstehungspreis, Wert etc. Dies alles, die „sachlichen“ Daten wie jene andern, rücken für den wahren Sammler in jedem einzelnen seiner Besitztümer zu einer ganzen magischen Enzyklopädie, zu einer Weltordnung zusammen, deren Abriß das Schicksal seines Gegenstandes ist.154
An diesem Punkt, auf der Suche nach einer Weltordnung in den Gegenständen selbst, traf Scholems private Sammelleidenschaft mit dem öffentlichen Aspekt zusammen, mit der nationalen Bestimmung seiner Bibliothek. Oder wie Joseph Dan schreibt: Es ist unverkennbar, dass das Sammeln von Büchern für Scholem nicht nur Privatsache war, sondern ein Bestandteil der geistigen Erneuerung im Rahmen seiner zionistischen Überzeugung, und trotzdem er über seine private Bibliothek eifersüchtig wachte, hat er sie gegen die Entwicklung der hebräischen Forschungsarbeit in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht abgeschirmt.155
Der hervorstechendste Ausdruck für die Verschmelzung von Privatem und Öffentlichem war wohl die Übereignung seiner Bibliothek 1965 an die Jerusalemer Nationalbibliothek. Dorthin wurden seine Bücher nach seinem Tod verbracht, wo sie bis heute in eigenen Räumen aufbewahrt werden und zugänglich sind. Dieser Akt, der unmittelbar mit dem Projekt der Sammlung zu tun hatte, war Scholems letzter Schritt in seinem jahrzehntelangen Wirken für die Bibliothek – in den Worten des Dichters und Sprachwissenschaftlers Malachi Beit-Arié: „He saw the assembly of all the written records of Jewish culture in the National Library in Jerusalem as a way of ensuring Jewish continuity, and he devoted himself fervently to that goal“.156
153 154 155 156
Den Begriff hat Walter Benjamin geprägt: Benjamin, Der Sammler, 279. Ebd., 274. Dan, Introduction, 14. Beit-Arié, Gershom Scholem as Bibliophile, 125.
2.
(A-)Politische Kreise Eine Berichterstattung über das geistige Leben Palästinas muß notwendigerweise bruchstückartig sein, zersplittert, wie das geistige Leben Palästinas selbst. Schwerlich gibt es noch irgendwo in der Welt ein Land, dessen Bewohner so sehr in Gruppen und Grüppchen geteilt lebten und so wenig voneinander wüßten, wie Palästina. […] Fast jedes Haus eine Welt für sich, jedenfalls jede Religion, jede Landsmannschaft. Man spricht bei uns seit Jahren von Annäherung an die Araber. Man vergißt, daß hiezu das Primitivste fehlt: eine gemeinsame Sprache, ja auch nur die Gelegenheit, einander zu begegnen. Hugo Bergmann, 19271
a.
Brit Schalom: Ein politischer Kreis
Die Vereinigung Im April 1926 erschien in der Jerusalemer Tageszeitung Doar hajom und kurz darauf auch auf Deutsch in der Jüdischen Rundschau eine kleine Anzeige, die acht Unterschriften trug. Sechs der Unterzeichner – unter ihnen Yehoshua Radler-Feldmann (Rabbi Binyamin), Hugo Bergmann und „Gerhard“ Scholem – gehörten dem unlängst gegründeten Brit Schalom (Friedensbund) an. Der Zeitungstext enthielt eine kurze Erklärung, die sich gegen die jahrelang von den revisionistischen Gruppen erhobene Forderung richtete, eine jüdische Legion in Palästina einzurichten: Wir sehen mit Bedauern, daß Regierungen und Völker es vorziehen, auch weiterhin ihre Sicherheit lieber der Gewalt der Waffen als der Herstellung gerechter und freundschaftlicher Beziehungen anzuvertrauen und daß sie größeren Wert auf Rüstungen als auf die kulturelle und wirtschaftliche Hebung der Massen legen. Wir glauben, daß Rüstungen und das Gefühl des Mißtrauens und der Furcht nicht vor Kriegen schützen, sondern sie herbeiführen. Wir glauben, daß unsere Bestrebungen dahin gehen sollten, alles zu tun, um den Geist militärischer Gesinnung und ein falsches Spiel mit Begriffen von Heroismus und nationaler Ehre bei uns zu bekämpfen.
Die Verfügung der Mandatsregierung, eine jüdische Polizeitruppe einzurichten, war von Seiten der jüdischen Bewohner des Landes mit einem PropagandaFeldzug unterstützt worden, der nach Meinung der Unterzeichner nicht nur die 1 Bergmann, Geistiges Leben, in: Palästina 10 (1927) 3, 132f.
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Tatsachen falsch „beleuchtete“, sondern auch „an die Instinkte der Furcht und des nationalen Prestiges“ appellierte. Indem Araber von der Teilnahme an diesem Organ der öffentlichen Sicherheit von vornherein ausgeschlossen seien, werde eine Diskriminierung geschaffen, die zu einem Anstieg der Spannung zwischen beiden Völkern führen müsse. Daher lehnten die Unterzeichner „jede Propaganda für die Schaffung einer jüdischen Legion, aus welchen Gründen auch immer, auf das entschiedenste ab“ und forderten „die Aufhebung dieser Verfügung“.2 Diese öffentliche Äußerung Gershom Scholems über Politik erfolgte in dem einzigen ausdrücklich politisch orientierten Rahmen, in dem er während seines ganzen Lebens in Palästina/Israel jemals tätig war: Brit Schalom. Offiziell gegründet wurde Brit Schalom im März 1926, obwohl die Vereinigung als loser Zusammenschluss bereits seit Ende 1925 bestand. Die Initiative war von Arthur Ruppin ausgegangen, der bis 1928 den Vorsitz führte. Außer ihm gehörten zum engeren Kreis Hugo Bergmann, Rabbi Binyamin, Chaim Kalvarisky-Margaliot, Jakob Tahon, Josef Luria, Hans Kohn und Gershom Scholem. Hinzu kamen Robert Weltsch und Georg Landauer, die von Deutschland aus mitwirkten, ersterer als Herausgeber der Jüdischen Rundschau, letzterer als Leiter des Palästina-Amtes in Berlin.3 Das Ziel des Vereins, wie im ersten Heft seines Organs Sche’ifotenu („Unsere Bestrebungen“) mitgeteilt wurde, bestand darin, „einen Weg zu bahnen zur Verständigung zwischen Hebräern und Arabern, zu Formen gemeinsamen Lebens im Land Israel auf der Grundlage völliger Gleichheit, was die politischen Rechte von zwei weitgehend autonomen Nationen betrifft, und zu gemeinsamer Arbeit für die Entwicklung des Landes“.4 Die Tätigkeit des Vereins bestand ausschließlich in Forschung, und zwar innerhalb der zionistischen Bewegung und in Absprache mit deren Leitung. Seine Mitglieder, deren Zahl nie mehr als ein paar Dutzend betrug, waren überwiegend zionistische Intellektuelle unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung.5 Ihre politischen Vorstellungen unterschieden sich so gravierend voneinander, dass Brit Schalom kaum als eine einheitliche Gruppe beschrieben werden kann.6 Das dort versammelte geistige Potential, das eine Vielfalt von Meinungen und Neigungen hervorbrachte, ist einer der Gründe für das relativ große Interesse von Forschern an Brit
2 Doar ha-Jom vom 11. 4. 1926, 4; Jüdische Rundschau vom 23. 4. 1926, 231; s.a. Kedar, LeToldotea schel Brit Schalom, 266. 3 Kedar, Le-Toldotea schel Brit Schalom, 232–234; s.a.: Kedar, Brith Shalom, 55–64. 4 Scheifotenu 1,1 (1927), zitiert nach Kedar, ebd., 248f.; Kedar, Brith Shalom, 68; Gordon (Hg.), Brit Schalom weha-Zioninut ha-du-leumit, 288. 5 Die Mitgliederliste des Jahres 1930, die sich im GSA (Ordner 253) befindet, enthält 38 Namen. 6 Kedar, Le-Toldotea schel Brit Schalom, 234.
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Schalom und für deren vielfältige Versuche, den Charakter des Vereins als Gruppe sowie die Stellung einzelner Mitglieder zueinander näher zu analysieren.7 Aharon Kedar unterscheidet zwei Gruppen von Mitgliedern: Die eine bestand aus zionistischen Intellektuellen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwiegend aus Osteuropa nach Palästina eingewandert waren. Ihr Zionismus gestaltete sich auf politische und pragmatische Weise und ging mit ihrer jeweiligen persönlichen Verwirklichung einher. Zu dieser Gruppe gehörten der aus Deutschland stammende Arthur Ruppin, Jacob Tahon, Haim Margaliot und Rabbi Binyamin. Die zweite Gruppe bezeichnet Kedar als „die Radikalen“: Intellektuelle mitteleuropäischer Herkunft, von denen etliche an der Hebräischen Universität arbeiteten. Dazu gehörten etwa die bereits genannten Hugo Bergmann, Hans Kohn, Robert Weltsch, Gustav Landauer, Shmuel Sambursky, Markus Reiner, Ernst Simon und Gershom Scholem.8 Die Bezeichnung dieser Gruppe als „radikal“ rührt daher, dass sie sich weitaus mehr als die anderen Mitglieder von Brit Schalom darum bemühte, die nationalen Ziele der Juden mit denen der Araber zu vereinen sowie moralischen Fragen im Zuge der Aufbauarbeit in Palästina großes Gewicht beizulegen. Die Überlegungen, von denen sich die „Radikalen“ leiten ließen, hatten sich noch in Europa herausgebildet und waren von Tendenzen beeinflusst, die für das geistige und intellektuelle Klima im deutschsprachigen Kulturraum während der Zwischenkriegszeit charakteristisch gewesen waren: im Besonderen die politischen und geistigen Strömungen, die damals in der zionistischen Jugend vorherrschten,9 zudem das mitteleuropäische Bildungsideal mit seiner Vorliebe für Liberalismus und Mäßigung und nicht zuletzt die Unzufriedenheit mit dem ethnisch geprägten Nationalismus, den sie in ihrer Jugend erlebt hatten und um dessen Gefährlichkeit sie wussten.10 Scholems gedruckte und ungedruckte Schriften lassen erkennen, dass die für diesen „radikalen“ Flügel von Brit Schalom charakteristischen Ideen in hohem Maß mit seinem Verständnis der „arabischen Frage“ und deren zentraler Bedeutung für die zionistische Verwirklichung kompatibel sind. Scholems Teilnahme am Brit Schalom in den Jahren seines Bestehens (1926–1933) sowie seine eigenen Schriften aus diesem Zeitraum zeigen seinen Zionismus als einen per7 Neben etlichen hebräischen Arbeiten von Aharon Kedar, Hagit Lavsky und Amnon RazKrakotzkin s. bes. die Untersuchungen von Heller, Mi-Brit Schalom le–Ichud; Aschheim, Beyond the Border, 6–44; Gorny, Zionism, 118–128. 8 Kedar, Le-Toldotea schel Brit Schalom, 234–236; Kedar unterscheidet noch einige Untergruppen, etwa Pazifisten und Orientalisten (ebd., 237). Ratzabi, Between Zionisms and Judaism, behandelt den „radikalen“ Flügel von Brit Schalom. 9 Lavsky, Before Catastrophe, 162–180; Ratzabi, Between Zionism and Judaism. 10 Dazu Weiss, Central European Ethnonationalism, 97–98; Mosse, German Jews; Mosse, Gershom Scholem, 126–128; s.a. Aschheim, Beyond the Border, 14.
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sönlichen Versuch, jene Utopie zu verwirklichen, die er als junger Mensch in Deutschland entwickelt hatte.
Die Utopie Die Begeisterung des jungen Scholem für den Zionismus folgte der Richtung von Achad Haam und dessen Vorstellung von einem „geistigen Zentrum“ in Palästina. Dieser „Kulturzionismus“ ging davon aus, dass das Hauptproblem des modernen Judentums ein kulturelles sei, weshalb Herzls territorialer Zionismus, dem es in erster Linie um die Gründung eines jüdischen Staates ging, keine angemessene Antwort auf „die jüdische Frage“ sein könne. Achad Haam plädierte dafür, zunächst ein kleines Zentrum in Palästina zu errichten, das im Lauf der Jahre zum kulturellen Mittelpunkt des jüdischen Volkes werden sollte: Diese Ansiedlung, die nach und nach entstehen wird, wird mit der Zeit ein Zentrum des Volkes werden, in ihr wird der Volksgeist ungetrübt zur Geltung kommen und sich allseitig zur größtmöglichen Vollkommenheit entfalten. Von diesem Mittelpunkt aus wird dann der Geist des Judentums an alle Punkte der weiten Peripherie dringen, zu allen Gemeinden der Diaspora, um sie zu beleben und alle zu einer Einheit zusammenzuschließen. Dann, wenn die nationale Kultur in Palästina diese Höhe erreicht haben wird, wird sie uns sicherlich selbst aus ihrer Mitte jene Männer geben, die es verstehen werden, den geeigneten Moment zu nützen, um dort auch einen Staat und nicht nur einen Judenstaat, sondern einen tatsächlichen jüdischen Staat zu gründen.11
Demnach seien Zukunft und Kontinuität des jüdischen Volkes von seiner kulturellen, nicht seiner politischen Entwicklung abhängig. Dieses geistige Zentrum im Land Israel würde das Fundament bilden, von dem die jüdische Diaspora ihre kulturelle, intellektuelle und religiöse (geistige) Nahrung erhielte, und auf diese Weise das Fortbestehen des Judentums garantieren. Als kleines, aber geistig potentes Zentrum würde Palästina als moralisches Vorbild für das Judentum in der Diaspora dienen, mit dem es in engem Kontakt stehen sollte.12 Achad Haams intellektueller Partikularismus fand in den Tagebüchern Scholems besonders dort Ausdruck, wo er mit Gedanken an einen „Bund der Eiferer“ spielte. Dieser utopische Geheimbund, den er einem idealisierten Selbstbild gemäß („so wie ich sein möchte“) entwarf, sollte aus jungen Zionisten bestehen, „die von Zion im Innersten beherrscht werden, denen Zion restlos zum Religiösen schlechthin geworden ist“. Die jungen Leute sollten dort ein reines Leben führen, wie dies im 16. Jahrhundert die Anhänger von Isaak Luria in Safed taten. Allerdings sollte diese Gemeinschaft nicht asketisch leben, ganz im Ge11 Achad Haam, Judenstaat und Judennot, 57. 12 Dazu etwa: Scholem, Tagebücher 1, 80f.; ders., Tagebücher 2, 29.
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genteil, denn „die Freude wäre sicher auch bei diesen wie bei den Chassidim eine Kardinaltugend“.13 Ziel des Geheimbunds war die allmähliche „Veredelung“ des Volkes, bis es für den Durchbruch des Zionismus bereit sein würde: „Der Geheimbund nämlich ist das Stadium des Düngens, das Volk kann nur in kleinen Teilen gedüngt werden, nachher kommt natürlich ein anderes Stadium, in dem der Zionismus in einem anderen Sinne an die Oberfläche tritt oder besser durchbricht“.14 Diese partikularistische Tendenz im Sinne Achad Haams begleitete Scholem ein Leben lang und entwickelte sich zu einem Aspekt seiner späteren Kritik am Zionismus. Hier liegen die Wurzeln seiner Sicht des Zionismus in den zwanziger Jahren als einer Bewegung, die zu früh gesiegt habe: Die politischen Erfolge der Balfour-Erklärung und der wachsenden Einwanderung junger Juden ins Land, hinter denen nationale Tendenzen standen, hatten sich ereignet, bevor das erste Stadium der Wiedergeburt des jüdischen Volkes erreicht und ein geistig-kulturelles Zentrum errichtet waren. Parallel zu den Schriften Achad Haams machte sich der junge Scholem mit der Lehre Martin Bubers bekannt. Wie viele seiner jüdischen Altersgenossen war auch er anfangs von Bubers charismatischer Persönlichkeit begeistert, doch mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, den Buber befürwortete, schlug seine Begeisterung in scharfe Kritik um; Achad Haam hingegen blieb er treu. In einem Eröffnungsvortrag zu einem Abend über Buber, den die zionistische Jugendgruppe Jung-Juda im Januar 1915 veranstaltet hatte, meinte Scholem noch, Buber sei „nächst Achad Haam die bedeutendste Persönlichkeit des heutigen Zionismus und eine seiner stärksten geistigen Potenzen“.15 Etwa anderthalb Jahre später standen die beiden für ihn nicht mehr auf demselben Niveau: Buber stellte in seinen Augen nun ein negatives Moment im deutschen Judentum wie auch in den jüdischen Jugendbewegungen dar, und vertrete nur, so kommentierte er abfällig, eine „Erlebnismystik“, wohingegen der wahre Zionismus in Gestalt von Achad Haam aus Osteuropa komme: „Wahrhaft gut ist es, daß in Rußland nicht Buber, sondern Achad Haam der ‚Mann‘ ist, der ja vom Erlebnis nichts sagt, sondern vom Geiste. Die deutschen Juden bleiben solange weg von Zion, als sie in Heppenheim bleiben“.16 Gegen das positive, „wahre“ Modell des osteuropäischen Zionismus, das Scholem in Achad Haams Lehre sah, stellte er das negative Modell des deutschen Zionismus, repräsentiert durch Buber und dessen Schwerpunkt auf dem „Erlebnis“. Viele Jahre später erinnert sich Scholem: „Buber imponierte mir sehr, 13 14 15 16
Aufzeichnung vom 14. 8. 1916, in: Scholem, Tagebücher 1, 363f. Aufzeichnung vom 18. 12. 1916, in: ebd., 449. Ebd., 111; vgl. auch ebd., 82. Aufzeichnung vom 18. 8. 1916, ebd., 387f. Im März 1916 hatte Buber seinen Wohnsitz von Berlin nach Heppenheim an der Bergstraße verlegt; s.a.: Scholem an Lehmann, 9. 10. 1916, in: ebd., 49.
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aber schließlich definierte ich mich als Anhänger Achad Haams […] Es war sein großer moralischer Ernst, der mich überzeugte“.17 Bereits in Bubers ersten drei Reden über das Judentum, die er in den Jahren 1909 bis 1911 vor dem jüdischen Studentenverein Bar-Kochba in Prag gehalten hatte, aus dessen Reihen einige Vertreter des „radikalen“ Flügels von Brit Schalom hervorgingen (Bergmann, Weltsch und Kohn), begann er den Schwerpunkt seines Denkens auf die innere Bedeutung jüdischer Religion und Nationalität zu verlagern.18 Damals hatte Buber sich eine Zeit lang von jedweder öffentlichen zionistischen Tätigkeit zurückgezogen und sich ganz dem Studium der chassidischen Bewegung gewidmet.19 Die in diesem Zusammenhang entstandenen Texte beeinflussten Scholems Generation der zionistischen Jugend auf ungeheure Weise, und insofern war auch Scholems Zionismus nicht unerheblich durch Buber geprägt: Dessen orientalisierende Tendenz, die sein Verhältnis zum Judentum charakterisierte, war bereits in seinen ersten Schriften zum Chassidismus spürbar und wurde anschließend in seinen Reden über das Judentum systematisiert.20 Die Anziehungskraft des Orients auf Scholem passte deshalb gut in den Zeitgeist seiner Jugendjahre in Berlin. Diese an vielen Stellen seiner frühen Tagebücher wahrnehmbare Tendenz ist Gegenstand etlicher Studien geworden, entweder im Kontext der Kabbala-Forschung, die Scholem und seine Schüler als akademische Disziplin an der Hebräischen Universität etablierten, oder als Teil eines postkolonialen Diskurses über Orientalismus, häufig im Bemühen, beides miteinander zu verbinden.21 Diesen Untersuchungen gemeinsam ist die These, dass Scholem als Vertreter der abendländischen Kultur in den Orient gekommen sei und sich dort nicht wirklich integrieren, sondern vielmehr in seinem westlichen Bezugssystem bleiben wollte. Diese These beruft sich auf sein angeblich ambivalentes Verhältnis zum Orient, das auf „Bewunderung und Abscheu“ zugleich gegründet gewesen sei.22 Er habe vom Orient – dem angeblichen Ursprung des „wahren Wissens“– das Rohmaterial übernommen, das er für die Konstruktion seiner überwiegend westlichen Theorien benötigte, wobei diese wiederum den eigentlichen Kontext dieses Wissens ignorierten. Der Orient fungiere 17 18 19 20
Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 63. Dazu Ratzabi, Between Zionism and Judaism, 344. Dazu Friedman, Encounter on the Narrow Ridge, 55–72. S.a. Mendes-Flohr, Fin-de-siècle Orientalism, 85–86; s.a. Mendes-Flohr, Martin Buber’s Reception among Jews. 21 Dazu Anidjar, Jewish Mysticism; Raz-Krakotzkin, Orientalisem, 48–52; Raz-Krakotzkin, Bejn „Brit Schalom“ u-wejn Bejt ha-Mikdasch, 100–105; Biale, Shabbatai Zvi, 107*–110*; Huss, Ask No Questions, 146–148; Huss, Authorized Guardians. 22 Hier bezieht sich Anidjar auf einen Satz in Scholems Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 39: „Wer sich tiefer in das Denken großer Kabbalisten zu versenken sucht, wird die Zwiespältigkeit der Empfindung zwischen Bewunderung und Abscheu selten los“ – von ‚Orient‘ ist dort allerdings nicht die Rede.
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gleichzeitig als Quelle des Wissens und als Herkunftsort der apokalyptischen Gefahr, und das Wissen sei von dieser Gefahr, d. h. vom Orient, zu entfernen und durch Einbettung in den Westen zu ‚erlösen‘.23 Es erscheint mir jedoch fraglich, ob diese im postkolonialen Diskurs beheimatete Perspektive etwas zum Verständnis von Scholems Persönlichkeit, seiner Forschung und dem gedanklichen Hintergrund seines Zionismus beitragen kann. Aus der Lektüre von Scholems Schriften ergibt sich ein weitaus komplexeres Bild, wonach er sich der Gefahren, die mit dem Orientalismus einhergingen, bewusst war und sie zu vermeiden suchte, indem er sie von seinem eigenen sehnsüchtigen Verlangen nach dem Orient unterschied. In seinen frühen Tagebüchern gibt es zahlreiche Stellen, wo dem damaligen Zeitgeist entsprechend das jüdische Volk und das Land Israel mit dem Orient gleichgesetzt werden, auf den sich sein zionistisches Sehnen richtet.24 Diese Dinge schrieb Scholem als junger Mensch nieder, als er noch sehr stark von Buber beeinflusst war. Diese Beeinflussung ist in Scholems damaliger Auffassung des Orients deutlich erkennbar; an vielen Stellen setzt er sich mit Bubers Persönlichkeit und Lehre sowie mit dessen Bedeutung für seine Altersgenossen ausdrücklich auseinander.25 So notierte er etwa am 15. Dezember 1915, kurz nach seinem ersten Besuch bei Buber, als sich seine Kritik an dessen Zionismus und Einfluss auf die jüdischen Jugendbewegungen herauszukristallisieren begann: Habe ich, Gerhard Scholem, Sehnsucht nach Palästina? Habe ich ein Recht und – innerlich – eine Pflichtung [sic] hinüberzugehen? Schwere Frage und müßte doch eigentlich von jedem von uns schlank mit Ja beantwortet werden. Das ist klar, ich möchte weg von hier, aber möchte ich nicht ebenso gern nach Arabien, Persien, China, nach dem Orient? Ich habe in mir eine große Liebe zum Orient und glaube, daß Erez Israel nur im Bunde mit dem anderen Orient seine Auferstehung feiern kann. Aber ich glaube doch, nach dem Orient möchte ich reisen, in Erez Israel möchte ich wohnen! Und dies ist ein Unterschied. Ich will nicht hingehen, um Jerusalem gesehen zu haben in der Fülle ihrer Tage und um ein „interessantes“ Land gesehen zu haben, von dem man schamlos reden kann, sondern ich will ein Sohn der alten Erde werden und ein Bürger der Zukunft.26
Hier stellt der junge Scholem sich selbst die Frage, inwiefern die Faszination des Orients einerseits und die des Landes Israel andererseits sich für ihn decken, und er gelangt zu einer klaren Differenzierung: Sein Interesse am Orient außerhalb Palästinas ist ein eher touristisches; dagegen ist sein Wunsch, nach Palästina zu gehen, der Wunsch nach Beheimatung. Dem Schreiber des Tagebuchs war auch 23 Raz-Krakotzkin, Bejn „Brit Schalom“ u-wejn Bejt ha-Mikdasch, 100. 24 So etwa die Aufzeichnung vom 26. 11. 1914 und 23. 1. 1915 (Scholem, Tagebücher 1, 61, 83). 25 So etwa in Scholems Eröffnung des Buber-Abends in der Jung-Juda vom 27. 1. 1915, in: Scholem, Tagebücher 1, 111f.; vgl. die Aufzeichnung vom 22. 5. 1915, ebd., 118f. 26 Aufzeichnung vom 11. 12. 1915, in: Scholem, Tagebücher 1, 195f.
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klar, dass die Erneuerung des Judentums im Orient gewisse Opfer verlangen würde, um den westlichen Zionismus den Gegebenheiten des Lebens am Ort seiner Sehnsucht anzupassen. Worauf verzichtet werden müsse, sei nichts Geringeres als die abendländische Wissenschaft, der er sein Leben hatte widmen wollen: „Wenn die Aufopferung der Wissenschaft geschähe, um der Erneuerung des Orients aus orientalischem Geist heraus zu dienen, da wäre nichts gegen zu sagen“. In der unmittelbaren Fortsetzung erläutert Scholem, was er damit meint, wobei er das Widersprüchliche seines Wunsches, als im Westen geborener Mensch im Orient zu leben und westliche Wissenschaft zu betreiben, ausdrücklich anspricht: Es scheint übrigens – scheint es nur so oder ist es auch wirklich der Fall? – eine Paradoxie zu sein, daß ich, der ich durchaus und unverändert ein Europafeind und Anhänger des neuen Orients bin, der auf seiner starken Welle auch das neue Juda tragen wird, vorläufig mit der Absicht mich begnügen muß, als Lehrer der eben europäischen Wissenschaft hinüberzugehen. Wenn dies wirklich in seinem ganzen Widersinn ein Paradox ist, dann ist freilich nur eine Auflösung möglich und nur noch ein einziger Weg übrig, der zum Orient führt: Das ist der, Bauer in Palästina zu werden.27
Scholems Wissen um den inneren Widerspruch, dass er „Orientale“ werden wolle, ohne die Beschäftigung mit westlicher Kultur und Wissenschaft aufzugeben, zeugt von einem hohen Maß an Reflexion, die mit seiner Hinwendung zum Zionismus und mit seiner Einwanderung ins Land Israel einherging. Die Utopie, die er vor seinem geistigen Auge erstehen ließ, war weder ein Entwurf ohne orientalische Elemente noch einer aus ausschließlich orientalischen Komponenten, die westlichen Bedürfnissen angepasst worden wären (auch das von Scholem hier angeführte Ideal, den eigenen Boden zu bearbeiten, ist nicht orientalischen Ursprungs, sondern in Europa entstanden). Wichtig scheint mir, dass diese Utopie Raum für Unbekanntes enthielt, Sorge vor der Zukunft in Palästina und Bedenken ob der Gefahren, die der Übergang vom Abendland ins Morgenland mit sich bringen würde. Eine der Hauptgefahren sah der junge Scholem darin, dass dieser Übergang nur teilweise vollzogen werden würde, dass, wer im Orient säße, seinen Blick immer noch gen Westen richten würde: Wenn ich nicht nach Palästina gehen würde, würde ich hier ein Heuchler ersten Ranges werden. Übrigens besteht in Palästina die Möglichkeit genauso fort: Es hängt von der dortigen Menschheit ab, ob auch sie nach Europa schielt, mit beiden Augen, oder nach Osten. Ich schiele nach Osten, ich schiele aber nicht, sondern ich sehe, ich hoffe, ich brenne.28
27 Tagebuchaufzeichnung vom 4. 1. 1916, in: Scholem, Tagebücher 1, 226. 28 Aufzeichnung vom 8. 3. 1916, in: Scholem, Tagebücher 1, 281.
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Zions Wiedergeburt, wie Scholem sie sich etliche Jahre vor seiner Einwanderung ausmalte, müsste sich in den Orient und dessen räumliche Gegebenheiten einfügen; der Blick aus dem Orient zurück nach Europa erschien ihm ebenso unehrlich wie ein weiterer Aufenthalt in Europa. Diese Äußerung stimmt mit der von Achad Haam geforderten ethischen Haltung, von der Scholems Zionismus geprägt war, überein. Der zionistisch motivierte Entschluss, nach Palästina auszuwandern, war eine persönliche Entscheidung aus moralischen Beweggründen, so wie die kleine Anzahl von Menschen, der die Errichtung eines geistigen Zentrums der Juden im Land Israel oblag, durch moralische Lauterkeit und kreatives Leben der ganzen übrigen Nation ein Vorbild sein sollte.29 Beim Versuch, die Utopie in die Wirklichkeit umzusetzen, stellte sich allerdings heraus, dass etliche ihrer Aspekte nicht einfach realisierbar waren; so brauchte etwa das Zentrum Beziehungen zur Peripherie und musste daher in ständiger Verbindung zum Abendland stehen. Auch die Schwierigkeiten, einen Menschen aus der einen in eine völlig andere Welt zu verpflanzen, lagen außerhalb des Vorstellungsbereichs des jungen Scholem. Jene Gründe zu beleuchten, weshalb Scholem sich entschloss, weiterhin westliche Wissenschaft zu betreiben und darauf verzichtete, sich durch Landarbeit zu verwirklichen, obwohl er gerade darin eine Lösung für das Paradox abendländischer Existenz im Morgenland gesehen hatte, würde den Rahmen einer historischen Untersuchung sprengen. Nichtsdestoweniger geht aus seinen Tagebuchaufzeichnungen deutlich hervor, dass der Schreiber um die Spannung zwischen Orient und Okzident wusste und dass ihm die Problematik des Zusammentreffens der beiden Welten bekannt war. So bemühte er sich auch, vor seiner Einwanderung nach Palästina Arabisch zu lernen. Wie wichtig ihm das war, belegt die Anzahl von arabischen Lehrbüchern, die er mit ins Land brachte.30 Beim Versuch, die Idealvorstellungen Achad Haams an Ort und Stelle in die Tat umzusetzen, mussten äußere und innere Hindernisse überwunden werden. Das gewichtigste äußere Hindernis, das in den Augen der Mitglieder von Brit Schalom eine Herausforderung für einen Zionismus in ihrem Sinne darstellte, war das Verhältnis zu den Arabern. Das Ziel bestand darin, die Interessen der arabischen Bevölkerung auf egalitäre und gerechte Weise in die jüdisch-nationale Vision einzubinden. Dem gegenüber stand aber die Auseinandersetzung mit der revisionistischen Bewegung innerhalb des Zionismus und deren Forderung nach 29 Zu diesem Ideal von Achad Haam s. Anita Shapira, Land and Power, 17f.; Ratzabi, Ha-idea hapolitit, 259f. 30 Sein Wunsch, Arabisch zu lernen, ist seit März 1916 bezeugt; s. etwa Scholem, Tagebücher 1, 257, 275, 396 (Anm. 153). Unter seinen mitgebrachten Büchern waren mindestens zehn arabische Grammatiken; außerdem enthielt seine private Bibliothek eine Abteilung von über 30 Bänden arabischer und islamischer Literatur in deutscher Übersetzung; s. Scholem, Verzeichnis der Bücher, 5f.
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jüdischer Ausschließlichkeit oder doch wenigstens Mehrheit im Land. Diese Forderung, die auf der Vorstellung einer territorialen Lösung nach Herzls Vorstellungen beruhte, stellte aber für Scholem, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ein gefährliches messianisches Bestreben mit destruktivem Potential dar.
Die Verwirklichung Könnte man die Regeln geschichtswissenschaftlichen Arbeitens für einen Moment außer Kraft setzen, müsste man an dieser Stelle die Begegnung zweier alter Freunde auf dem Ölberg schildern, kurz nach Pessach 1923 – ein paar Monate vor der Einwanderung Gerhard Scholems. Was sich ihnen darbot, war das Bild einer weitläufigen Stadt, einer „Weltstadt, nach den Begriffen des zwanzigsten Jahrhunderts“. Sie sahen neue Stadtviertel, in denen Straßenbahnen verkehrten, moderne Gebäude, baumbestandene Alleen, gepflegte Parkanlagen, zahlreiche Schulen, Paläste und Theater. Die beiden imaginären Freunde, Friedrich Löwenberg und Mr. Kingscourt, hatten dem Freitagabend-Gottesdienst im Jerusalemer Tempel beigewohnt und anschließend einen ortsansässigen Maler in seiner Werkstatt besucht. Dieser hatte ihnen von der geistigen Wiedergeburt des Volkes berichtet, insbesondere über die jüdische Akademie, in der vierzig Fachleute aus allen Wissensbereichen tätig seien und sich um die Bildung der neuen Gesellschaft kümmerten. Diese Institution wurde von der Kommune getragen und ermöglichte es ihren Mitgliedern, ihr Leben ganz und gar der Wissenschaft zu widmen: Es ergab sich auch von selbst, daß die vierzig Juden der Akademie von nationalem Chauvinismus frei waren. Als dieses Institut errichtet wurde, kamen seine ersten Mitglieder aus verschiedensprachigen Kulturen zusammen und einigten sich auf dem Boden der Menschlichkeit. So schuf ihr Beisammensein einen Geist, welcher nicht entthront werden konnte, weil sie selbst sich die folgenden Genossen wählten. Die erste Satzung des Stifters aber lautete: „Die jüdische Akademie hat die Aufgabe, das Verdienst einzelner um die Menschheit aufzusuchen“. Diese Aufgabe war selbstverständlich nicht an die Grenzen des Landes gebunden.31
So beschrieb Theodor Herzl in seinem 1902 erschienenen utopischen Roman Altneuland die Aufgabe der Wissenschaft im Land Israel, wie sie sich gegen Ende des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts stellen würde. Das tatsächliche Jerusalem der zwanziger Jahre stand zwar längst nicht auf dem von Herzl erträumten technologischen und kulturellen Niveau, aber die Ähnlichkeit zwischen der von ihm entworfenen jüdischen Akademie und den Vorstellungen der radikalen Vertreter von Brit Schalom, von denen etliche der Hebräischen Universität an31 Herzl, Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen, 169. Für das Zitat hier oben s. ebd., 161.
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gehörten, ist frappant: Sie alle sahen im jüdischen Chauvinismus eine akute Gefahr für die Verwirklichung der zionistischen Utopie. Auch wenn Scholem von Herzls Altneuland alles andere als begeistert war – er bezeichnete es als „ein seelenloses Buch“, das „allen Jungen eine große Enttäuschung“ bereitet habe32 – gibt es unverkennbare Übereinstimmungen von Herzls fiktiver Darstellung der geistigen und akademischen Seite des Zionismus mit der Auffassung des jungen Scholem, der den Zionismus als Inspirationsquelle für die Menschheit sehen wollte. So schrieb er 1916 in sein Tagebuch: Denn in Zion wird der Nabel der Welt sein, in dem Zion, das aus den Leiden der Menschheit aufgebaut und mit der Sehnsucht der Getretenen gesegnet ist. Denn Zion wird ganz und gar nichts anderes sein als die Menschheit, die am Anfange steht: am Anfange der Menschheit!33
In dem bereits erwähntem Brief Scholems an Werner Kraft vom 17. Dezember 1924, ein gutes Jahr nach seiner Einwanderung, klang die Schilderung der geistigen Situation im Land Israel einigermaßen ambivalent. Wie schon oben erörtert, war Scholems Wahrnehmung der ihn umgebenden Realität unmittelbar abhängig von seinen Erwartungen an das Land und von der diesem bei der Wiedergeburt des jüdischen Volkes zugedachten Rolle; mit anderen Worten: seine Vorstellungen von der zionistischen Politik. Seine gegenüber Werner Kraft geäußerten Klagen über die Situation des Hebräischen im Land sowie über die Qualität der hebräisch schreibenden Publizisten kehren in zahlreichen Aufzeichnungen dieses Zeitraums wieder und standen in seinem Denken und seiner politischen Haltung an zentraler Stelle. Im folgenden Text, den er ungefähr zur selben Zeit wie jenen Brief an Werner Kraft niederschrieb, verknüpft Scholem Aspekte der nationalen Wiedergeburt mit Tendenzen der zionistischen Bewegung im Land: Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben. Die Stunde ist da, wo die Herzen sich entscheiden müssen, ob sie den Zionismus, dessen Sinn die Vorbereitung des Ewigen ist, gegen den Zionismus des Judenstaates, der die Katastrophe ist, aufgeben wollen. Die Theokratie hat sich als zu schwach erwiesen, und Gottes Priester haben sich nicht in die Bresche des Volkes gestellt. Und in die Lücke einer noch unvollziehbaren Theokratie hinein will sich nun eine weltlich-vorgestrige Zionistenstaatlichkeit stellen. Die lebendigen Kräfte des Volkes, die gerade in Palästina am wenigsten wirken, sterben ab, fließen ab in andere Volksadern, weil wir unserer Berufung nicht treu geblieben sind. Bei Gott – es war ja nicht dieses das, was wir wollten. Wir glaubten im Innern an die Fülle des Herzens, und jene magere und kalte Kleinbürgerlichkeit, die einen Chaluz mit einem Klausner verbindet – unvergesslich sind mir seine Tiraden, die ich 1923 in Petach-Tikwa anzuhören hatte, als ich zufällig in einen Vortrag von ihm geriet – bringt uns
32 Aufzeichnung vom 11. 12. 1915, in: Scholem, Tagebücher 1, 195. 33 Aufzeichnung vom 2. 1. 1916, ebd., 225.
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um. Und warum? Weil die Vertrocknung der Sprache unser Herz ausgedörrt hat, weil uns kein Ausdruck, der auch Eindruck wäre, hier übriggeblieben ist – denn das Wachsende hier hat noch keinen Ausdruck, soweit es noch vor der sichtbaren Erscheinung steht. Wir kamen und gedachten uns in die Fülle eines Meeres zu stürzen, nicht im äußern, aber in der Intensität des wachsenden Lebens, aber wir waten nur im Schlamm des Geschwätzes, das aus den vollbesuchten Versammlungen nicht anders als aus den Spalten des „Ha-Schiloach“ zu uns tönt. So müssen wir sehend einem Zusammenbruch entgegengehen und noch wünschen, dass er bald käme. Metaphysisch haben wir die Schlacht, die der Zionismus in der Welt gewonnen hat, im Lande verloren. So bleibt es denn nur fraglich, welche Front vor Gott die wahrere sein wird. Wir wissen es nicht mehr.34
Dieser Text gehört zu einer Reihe von Notizen und Tagebucheinträgen über den Zionismus, die Scholem in den Jahren unmittelbar nach seiner Einwanderung niederschrieb und die noch weitgehend unveröffentlicht sind.35 Darin geht es zumeist um seine Auseinandersetzung mit dem zionistischem Denken, und zwar vor dem Hintergrund der neuen Realität im Land: Migrationskrisen und Scholems wachsende Enttäuschung von der Entwicklung der zionistischen Bewegung. Das oben angeführte Zitat kann als ein erster privater Rechenschaftsbericht in Palästina gesehen werden; erstaunlich sind Tiefe und Umfang der darin geäußerten Kritik. Die von Scholem angesprochenen Punkte blieben zentral in seiner Kritik am Zionismus während des folgenden Jahrzehnts, dem Zeitraum seiner Tätigkeit bei Brit Schalom. Im Verlauf dieser Jahre sollte die Kritik sich auf weitere Punkte ausdehnen, aber die Hauptpunkte sind bereits hier angelegt. Teilweise könnte Scholem seine Enttäuschung von der Situation im Land sogar vorausgesehen haben, als er noch in Deutschland gewesen war; er könnte sich auch darauf eingestellt haben, dass die palästinische Realität womöglich in eine andere Richtung tendieren würde als die von ihm erhoffte.36 Der oben stehende Abschnitt ist zentral für das Verständnis von Scholems Verhältnis zum Zionismus in jenen Jahren und als Hintergrund seiner Tätigkeit im Brit Schalom; er enthält nämlich den Kern seiner Kritik am Zionismus, die ihn auch in späteren Jahren verfolgen sollte.
34 Scholem, Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben (1924). Chaluz = Pionier; Haschiloach war eine hebräische Zeitschrift, die 1896 von Achad Haam gegründet und 1903 bis zu ihrer Einstellung von Joseph Klausner zusammen mit Chaim Nachman Bialik herausgegeben wurde. 35 Diese in den Jahren 1924–1932 verfassten Texte befinden sich im GSA, Ordner 277/I–II. Avraham Shapira, der Herausgeber von Scholems hebräischen Schriften, nennt sie nach einem von Scholem persönlich gehörten Ausdruck „zionistische Esoterik“ (Shapira, Hakijumi weha-histori, 10). 36 Weidner, Gershom Scholem, 104–129, bes. 105; s.a. Biale, Scholem und der moderne Nationalismus, 261–263.
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Schon der erste Satz des Textes ist überaus komplex: „Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben“. Er geht also davon aus, dass die Katastrophe, mit der sich der Zionismus auseinanderzusetzen hat, diesem inhärent sei. In diesem Stadium glaubte Scholem noch, der Zionismus, wie er ihn verstand, werde es mit dieser Katastrophe aufnehmen können, was dem ganzen Abschnitt von vornherein einen optimistischen Anstrich verleiht. Worin dieses Unglück besteht, erfährt der Leser in der unmittelbaren Fortsetzung, ebenso die Bedeutung des Zionismus für den Verfasser. Im Grunde handelt es sich um zwei Kräfte, die Scholem einander gegenüberstellt: auf der einen Seite der Judenstaat, das ist die Katastrophe, und auf der anderen „die Vorbereitung des Ewigen“. Angesichts der Beeinflussung durch Achad Haam ist doch wohl anzunehmen, dass mit der Vorbereitung des Ewigen die Errichtung des geistigen Zentrums im Land gemeint war. Den Judenstaat bezeichnet Scholem als „Theokratie“, was sich auf die nationalistische Richtung im Zionismus bezieht, die das Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel von der Bibel herleitete und dieses Ziel mit Brachialgewalt erreichen wollte. Dieses Streben nach territorialer Herrschaft und deren gewaltsame Aneignung berief sich auf die biblisch-messianische Ethik der Propheten in Verbindung mit europäisch-chauvinistischen Tendenzen jener Zeit.37 Was Scholem hier anspricht, sind die ersten Anzeichen dessen, was sich innerhalb kurzer Zeit zur revisionistischen Bewegung entwickeln sollte, die Vladimir Jabotinsky 1925 gründete, nahezu parallel zur Gründung von Brit Schalom. Diese Tendenzen innerhalb des Zionismus bezeichnet Scholem als „weltlichvorgestrige Zionistenstaatlichkeit“, denn er sah darin einen Verrat an der Mission des Zionismus und die Zerstörung seines Werks von innen heraus. Als Symbolfigur dieser Richtung nennt Scholem Joseph Klausner, der dem revisionistischen Lager angehörte und bald nach Gründung der Hebräischen Universität dort den Lehrstuhl für neuere hebräische Literatur erhalten hatte. Die erste Begegnung mit diesem Vertreter der akademischen Welt scheint für Scholem nachhaltig negativ gewesen zu sein.38 Wenn die Zukunft des jüdischen Volkes und der Schlüssel zu dessen Fortbestand in der Errichtung eines geistigen Zentrums im Land Israel bestand, stellte in der Tat jede – schriftlich oder mündlich – geäußerte Mittelmäßigkeit oder geistige Falschheit eine Bedrohung dar. Oder anders gesagt: Wenn die jüdische Kultur die Voraussetzung für die zionistische Verwirklichung und die Erneuerung des Judentums darstellte, dann war die akademische Forschung in hohem Maße relevant für die Kernziele des Zionismus. Klausner wiederum gehörte den Kreisen der revisionistischen Rechten an und stellte seine wissenschaftliche Tätigkeit bewusst in den Dienst politisch-
37 Dazu Shavit, Realism and Messianism, 113. 38 S. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 204.
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revisionistischer Vorstellungen;39 insofern verkörperte er für Scholem die Gefahr, die dem Zionismus vonseiten der Sprache und ihrer Verwendung drohte: „weil die Vertrocknung der Sprache unser Herz ausgedörrt hat“. Das war auch die Gefahr, vor der Scholem in dem berühmten Text zu Rosenzweigs 40. Geburtstag gewarnt hatte; darin hatte er diese Gefährdung von innen heraus sogar für schwerwiegender gehalten als den sich formierenden Konflikt mit der arabischen Bevölkerung.40 Was hier aufscheint, ist sozusagen der politische Hintergrund von Scholems an Rosenzweig gerichteten Bemerkung: Der in der Erneuerung der hebräischen Sprache angelegte Zündstoff sei gefährlicher als die äußeren Faktoren, in denen die Revisionisten die akute Bedrohung sahen.41 Scholem schließt mit einem Satz, der seine über Jahre hin geäußerte Kritik an der zionistischen Verwirklichung auf den Punkt brachte: Metaphysisch habe der Zionismus im Land das verloren, was er im Ausland (in der Diaspora) gewonnen hatte. Damit war die Frage nach der religiösen Ethik unbeantwortet geblieben: „So bleibt es denn nur fraglich, welche Front die wahrere sein wird. Wir wissen es nicht mehr“. Für Scholem zeichnete sich „die wahrere Front“ sehr bald ab. Einen Höhepunkt erreichte seine diesbezügliche Kritik am Zionismus 1930, und zwar in seiner Reaktion auf die blutigen Ausschreitungen des Jahres 1929. Der hier vorgelegte Text ist auch insofern bedeutsam, als er Ende 1924 niedergeschrieben wurde, ein gutes Jahr nach Scholems Einwanderung; hier wird deutlich, dass die Grundlinien des Programms von Brit Schalom bei Scholem bereits ein Jahr vor dessen Gründung vorgezeichnet waren. Offiziell gegründet wurde Brit Schalom Anfang 1926, und seine erste öffentliche Erklärung war die zu Beginn dieses Kapitels zitierte, die sich gegen die Errichtung einer jüdischen Legion wendet. Jüdische Militäreinheiten waren von jeher eines der zentralen Anliegen der Politik von Vladimir Jabotinsky gewesen. Im Ersten Weltkrieg war es ihm gelungen, diese Idee in die Tat umzusetzen, als innerhalb der britischen Armee jüdische Brigaden eingerichtet worden waren,42 deren letzter Verband erst nach den Unruhen von 1929 aufgelöst wurde. Jabotinskys politische Tätigkeit mündete 1925 in einer politischen Bewegung, der Weltunion der revisionistischen Zionisten, die bis zu ihrem Ausscheiden 1933 eine Fraktion innerhalb des zionistischen Weltkongresses bildete.43 Die Grundsätze dieser Bewegung waren durch Jabotinsky schon in den Jahren vor ihrer Gründung ausgearbeitet worden. Was das Verhältnis des Zionismus zu den
39 Myers, Re-Inventing the Jewish Past, 96f.; Biale, Gershom Scholem, 178f.; Shavit, Jabotinsky, 127–131. 40 Scholem, Bekenntnis zu unserer Sprache, bei Moses, Sprache und Säkularisation, 215. 41 Dazu Herzog, Monolingualism, 232. 42 Dazu Shimoni, The Zionist Ideology, 237; Katz, Lone Wolf. 43 Dazu Shapira, Land and Power, 154–163; Shimoni, ebd.; Shavit, Jabotinsky, 28–57.
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Arabern im britischen Mandatsgebiet Palästina betrifft, schrieb Jabotinsky bereits 1923 in seinem berühmt gewordenen Essay Die eiserne Wand: Die zionistische Kolonisation muss man entweder einstellen oder sie gegen den Willen der einheimischen Bevölkerung weiterführen. Sie kann daher nur unter dem Schutze einer von der einheimischen Bevölkerung unabhängigen Macht – einer eisernen Wand – die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann, weitergeführt und entwickelt werden.44
Jabotinskys Ziel lag in der zionistischen Verwirklichung des jüdisch-nationalen Gedankens, und seine Haltung war insofern realistisch, als sie sowohl die Existenz der palästinischen Araber als eine nach Selbstverwirklichung strebende Nationalität anerkannte als auch eine Lösung für die Existenz zweier Völkerschaften auf demselben Territorium vorschlug. Grundsätzlich war Jabotinsky nicht gegen ein Übereinkommen mit den Arabern im Land, aber der Weg zur Unterzeichnung ging für ihn nur über die „eiserne Wand“, d. h. die einseitige Verstärkung der jüdischen Herrschaft im Land bis eine Mehrheit oder sogar Ausschließlichkeit erreicht werde. Der Anstoß für die Errichtung von Brit Schalom war in hohem Maß eine Reaktion auf die revisionistischen Tendenzen in der zionistischen Bewegung, und die ideologische Ausrichtung von Brit Schalom besonders in Bezug auf ihr Verhältnis zu den Arabern Palästinas lässt sich als spiegelverkehrt zur Haltung der revisionistischen Bewegung beschreiben.45 Die Gemeinsamkeiten der beiden Bewegungen hat Anita Shapira herausgearbeitet: Beide wichen dem Problem der Araber in Palästina nicht aus, sondern setzten sich damit auseinander, indem sie eine praktische Lösung suchten, wobei sie die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Völkern und das Bestehen einer arabischen Nationalität anerkannten.46 Zu ergänzen wäre noch die Einsicht, dass die anzustrebende Lösung eine extreme sein müsse, denn jede Art von Kompromiss sei, so wie die zionistische Führung der jüdischen Siedler im Land sie zu betreiben suchte, unzulänglich. Der gewichtige Gegensatz zwischen den beiden Bewegungen bestand in Folgendem: Die Revisionisten sahen den auf militärische Macht gestützten territorialen jüdischen Nationalismus als einzigen Weg, um überhaupt eine jüdische Mehrheit im Land zu erlangen und die zionistische Idee zu verwirklichen. Die Mitglieder von Brit Schalom erblickten hingegen in eben dieser Mehrheit die Katastrophe des Zionismus und einen Beweis für dessen moralisches Scheitern von innen heraus, da er die Bedürfnisse des arabischen Volkes ignoriere und einen hohlen militärisch-territorialen Nationalismus auf sein Panier schreibe anstelle der Erneuerung des Geistes, der Moral und der Kultur des jüdischen 44 Jabotinsky, Die eiserne Wand. 45 Lavsky, Before Catastrophe, 163–167. 46 Shapira, Land and Power, 163–164.
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Volkes. Dem revisionistischen Nationalismus mit seiner Forderung nach Bevorzugung der jüdischen Bevölkerung setzte Brit Schalom den bi-nationalen Gedanken entgegen, wonach beide Völker gleiches Gewicht und gleiche Rechte bei der Bestimmung der politischen Gestalt Palästinas haben sollten. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Bewegungen bestand natürlich in ihrer Größe und in der Anerkennung, die sie über die Jahre hin von Seiten der zionistischen Bewegung erfuhren. Während Brit Schalom sich mit seinen Gedanken am politischen Rand, wenn nicht gar außerhalb des zionistischen Konsensus bewegte, haben sich die Ideen der Revisionisten in der jüdischen Öffentlichkeit des Landes langsam, aber sicher durchgesetzt; bis heute ist die Politik des Staates Israel dadurch beeinflusst. In dem oben angeführten Text von 1924 hatte Scholem einen katastrophalen Zusammenbruch des Zionismus vorausgesehen und sogar gehofft, dass dieser bald eintreten würde, wohl in der Hoffnung, dass er dadurch gezwungen sein würde, seinen in Scholems Augen falschen derzeitigen Weg zu verlassen. Im April 1926 gewann dieser Zusammenbruch in Scholems privaten Aufzeichnungen Wesen und Gestalt: Und so wird unser Unternehmen der grauenhaften Krise, die wir noch weiterleben müssen, der Epoche wo die Juden in Palästina auf einer eisernen Wand werden hinaufklettern sollen, wehrlos, innerlich wehrlos, gegenüberstehen, weil wir der Erbsünde verfallen sind: der Anticipation unseres Sieges. Wer seine Siege im Geistigen vorwegnimmt, verliert die Macht, sie im Körperlichen zu gewinnen. Wir träumten nicht nur unsere Utopie selber, die schönen Stunden, die wir zu schwärmen glaubten, sie haben unsere beste Kraft gesogen: wir haben zu früh gesiegt, denn wir sind in der sichtbaren Welt der Intelligenz die Sieger, bevor wir es in der unsichtbaren der Dämonen waren, die die Sprache unserer in Versammlungen erkämpften Wiedergeburt bedrohen.47
Die eiserne Wand, die physische Macht, nach Jabotinsky die Vorbedingung für den Erfolg des zionistischen Werkes und für die jüdische Existenz im Land, wird bei Scholem zum Haupthindernis für die Verwirklichung des Zionismus. Die jüdische Bevölkerung des Landes sollte zuallererst von innen geschützt werden durch die Stärkung der jüdischen Kultur, und nicht den Schutz nach außen durch Bewaffnung suchen. Sollte letzteres vor ersterem bevorzugt werden, bliebe der Jischuw am Ende schutzlos. Die ersten politischen Maßnahmen der britischen Mandatsregierung, die eine deutliche pro-jüdische Tendenz und Verständnis für die konkreten Bedürfnisse des Zionismus erkennen ließen, hatten in den Reihen der zionistischen Bewegung Optimismus aufkommen lassen. Die britischen Erklärungen, zur Errichtung der nationalen Heimstätte die jüdische Einwanderung nach Palästina fördern und dort die jüdische Niederlassung ausbauen zu wollen, schufen den Eindruck, als ob dies die Gelegenheit sei, den Traum des jüdischen 47 Scholem, Die Verzweiflung der Siegenden (1926).
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Staates in die Tat umzusetzen.48 Darin bestand laut Scholem der verfrühte Sieg des Zionismus, der bereits in diesem Stadium damit rechnete, seine Hoffnungen auf der physisch-konkreten Ebene verwirklichen zu können. Gegen diese Außenseite setzt Scholem die verborgene Innenseite, die er „dämonisch“ nennt, durch die das zionistische Werk zum Scheitern verurteilt sei, was sich wiederum in der Verwendung der hebräischen Sprache äußere. Bei dieser dämonischen Innenseite handelt es sich um Geist und Moral, genauer gesagt: um das Abweichen von Geist und Moral, denen der Zionismus verpflichtet gewesen wäre. Die Illusion des Sieges in der sichtbaren Welt der Rationalität führte dazu, dass der Kampf auf der verborgenen Ebene der Moral vernachlässigt werden würde. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer prinzipieller Unterschied zwischen Scholems Auffassung und der revisionistischen Richtung wichtig, nämlich die Reihenfolge der Schritte, die zur Realisierung der zionistischen Idee führen sollten. Aus den bisher angeführten Äußerungen von Scholem wird deutlich, dass seines Erachtens die geistige und moralische Verwirklichung des Zionismus der politisch-konkreten vorangehen müsse, und das konkrete Tun Auswirkungen auf das moralische Niveau des Handelnden habe. Bei Jabotinsky war die Reihenfolge umgekehrt: An höchster Stelle steht die physische Verwirklichung, und die Moral geht dem Handeln voraus. Mit anderen Worten: Laut Jabotinsky muss die Entscheidung, ob der Zionismus moralisch sei, vor dem konkreten Handeln fallen, „und wenn er moralisch, d. h. im Recht ist, dann ist dieses Recht in die Tat umzusetzen ohne Rücksicht auf Zustimmung oder Ablehnung von irgendeiner Seite“.49 Daraus wird verständlich, dass Scholem in der Gründung der revisionistischen Bewegung, die in Bezug auf die zionistische Verwirklichung entgegengesetzte Ansichten vertrat, einen Faktor erblickte, der das Eintreten der gefürchteten und zugleich herbeigesehnten Katastrophe beschleunigte. Allerdings klingt der Text von 1926 weniger optimistisch als der von 1924, das Gefühl der Niederlage hatte sich verstärkt. Die private Lösung, die er für die Auseinandersetzung mit seinem durch die neuen Strömungen in der zionistischen Bewegung entstandenen inneren Konflikt gefunden hatte, schrieb er am 18. September 1926 nieder, am Versöhnungstag, dem dritten Jahrestag seiner Einwanderung: Ich kann keine Brücke von meinen geheimen Hoffnungen zu dem kleinbürgerlichverlogenen, mit der nationalen Presse geschmückten Bum-Bum (Betrieb) finden. Das
48 Dazu Shapira, Land and Power, 83–85. Günstig für die Ansiedlung von Juden in Palästina klangen die Balfour-Erklärung von 1917 sowie die Formulierung des britischen Mandatsvertrags, der im April 1920 in San-Remo aufgesetzt wurde und im September 1923 in Kraft trat. 49 Jabotinsky, Die eiserne Wand.
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waren nicht die Kräfte, die mich lockten. Aber ich habe wenigstens das eine gefunden: Stille.50
Auch Brit Schalom verfolgte in seinen ersten Jahren eine Politik des Schweigens und verzichtete auf Öffentlichkeitsarbeit angesichts des wachsenden Nationalismus, ein Umstand, der weitgehend auf Arthur Ruppins Einfluss zurückging. Die Frage, ob dies der richtige Weg sei, wurde unter den Mitgliedern heftig diskutiert, woraufhin Ruppin sein Amt als Vorsitzender schließlich niederlegte.51 Hinter dem Entschluss, passiv zu bleiben und sich jeglicher Öffentlichkeitsarbeit zu enthalten, stand die primäre Definition von Brit Schalom als einer Gruppe von Forschern. In Scholems Aufzeichnung vom Versöhnungstag des Jahres 1926 artikuliert sich neben seinem Verzicht auf Aktivismus noch ein weiteres, persönliches Moment. Da von seiner zionistischen Utopie keine direkte Linie zu dem führte, was sich vor seinen Augen verwirklichte, diente ihm das Schweigen als eine Art inneres Exil, durch das er sich vor der enttäuschenden Wirklichkeit abschirmte. Damit war der ständige Konflikt zwischen dem zionistischen Traum und Alltag wenigstens teilweise behoben. Während dieses Zeitraums gab Scholem keinerlei öffentliche Erklärung über seine politische Position ab – die einzigen Zeugnisse für den Sturm, den die vom Zionismus eingeschlagene Richtung in ihm hervorrief, bestehen in privaten Aufzeichnungen. Ein Umschwung setzte 1928 ein, als die Angehörigen des radikalen Flügels von Brit Schalom mit politischen Erklärungen an die Öffentlichkeit zu treten begannen, was einen strategischen Wandel signalisierte. Scholem beteiligte sich an dieser Initiative, indem er bei der Redaktion der hebräischen Zeitschrift Scheifotenu (Unsere Bestrebungen), dem Organ von Brit Schalom mitwirkte und politische Aufsätze veröffentlichte, mit denen er sich gegen die revisionistische Richtung im Zionismus positionierte. So schrieb er etwa am 20. November 1928 in der Jüdischen Rundschau einen Artikel mit dem Titel „Ist die Verständigung mit den Arabern gescheitert?“, in dem er erklärt, Brit Schalom werde ungeachtet der Gegnerschaft in der jüdischen Öffentlichkeit „die unbequeme Rolle des unabweisbaren und unermüdlichen Forderers“ nach friedlichem Ausgleich mit den Arabern spielen müssen. Er schließt mit den Worten: Es bleibt nur dieser dornenvolle Weg, in unserem Lager und im Lager der Araber für die Annäherung zu wirken. Oder es bleibt der Weg des Revisionismus, sich auf ein imaginäres Schwert zu stützen und nicht vor der Vergewaltigung der Landeseinwohner zurückzuschrecken, um den Judenstaat durchzusetzen. Aber dies gerade, falls es sich verwirklichen ließe, wäre nichts anderes als der absolute Untergang des Zionismus.52 50 Scholem, Heute, vor drei Jahren. 51 Dazu Kedar, Le-Toldotea schel Brit Schalom, 265–271. 52 Scholem, Ist die Verständigung mit den Arabern gescheitert?, in: Jüdische Rundschau 33 (20.11.28), 644.
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Robert Weltsch, der Herausgeber der Jüdischen Rundschau, stand Brit Schalom nahe und ließ dessen Vertreter regelmäßig zu Wort kommen; dadurch entwickelte sich die Jüdische Rundschau vorübergehend vom deutschsprachigen Organ der Zionistischen Vereinigung zur Basis für die Verbreitung der Ideen von Brit Schalom in Deutschland, was bei deutschen Zionisten auf Widerspruch stieß.53 Im Februar 1929 veröffentlichte Scholem einen weiteren Artikel in der Jüdischen Rundschau, wo er für die Errichtung einer Volksvertretung in Palästina plädiert, in der Araber und Juden gemeinsam und gleichberechtigt über die Zukunft des Landes beraten sollten.54 1928 war das Jahr, in dem der jüdische Messianismus in Scholems Augen eine negative Färbung erhielt, und zwar in seinem ersten Aufsatz über den Sabbatianismus, der im letzten Heft von Der Jude zu Bubers 50. Geburtstag erschien. Zunächst handelt es sich um eine akademische Abhandlung Über die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardozos, doch sie gipfelt in einer aktuellen Erklärung: Die messianische Phraseologie des Zionismus, besonders in entscheidenden Momenten, ist nicht die geringste jener sabbatianischen Verführungen, die die Erneuerung des Judentums, die Stabilisierung seiner Welt aus ungebrochenem Sprachgeist, zum Scheitern bringen können. Denn so vergänglich in der Zeit, wie alle theologischen Konstruktionen, auch die Cardozos oder Jakob Franks gewesen sein mögen – der tiefste und zerstörendste Antrieb des Sabbatianismus: die Hybris des Juden ist geblieben.55
In den Tagebüchern und frühen Aufzeichnungen des jungen Scholem nimmt der Messianismus nicht unbeträchtlichen Raum ein. Die Gestalt des Messias beschäftigte ihn häufig, und zumeist erschien ihm der jüdische Messianismus als ein positives und konstruktives Moment.56 So schrieb er etwa am 3. November 1917: „Im Gedanken des messianischen Reiches ist das größte Bild der Geschichte gefunden worden, auf dem sich ihre unendlich tiefe Beziehung zu Religion und Ethik aufbaut“; und noch in der oben erwähnten Aufzeichnung von 1926 bezeichnet Scholem – im Zusammenhang mit der Kritik an den Revisionisten – den messianischen Kampf als „das wahre Dasein“.57 Jüdischer Messianismus als historische Erscheinung blieb eines seiner Forschungsgebiete, dem er einen erheblichen Teil seiner intellektuellen Energie widmete. Allerdings schwächte sich der positive Ton, der in seinen Jugendschriften zu vernehmen war, 53 54 55 56
Dazu Lavsky, Before Catastrophe, 170–180. Scholem, Zur Frage des Parlaments, in: Jüdische Rundschau 34 (8.2.29), 65. Scholem, Über die Theologie des Sabbatianismus, in: Der Jude 9 (1928), 123–139, hier: 139. In einer Tagebuchaufzeichnung vom 22. 5. 1915 (Scholem, Tagebücher 1, 120f.) hatte er sich selbst als Messias gesehen, aber nach ein paar Wochen war er davon wieder abgekommen (ebd., 158); dazu Brenner, From Self-Declared Messiah, 178f.; s.a.: Zadoff, The Archive, the Students and the Emotions, 418. 57 Scholem, Tagebücher 2, 70, bzw. Scholem, Die Verzweiflung der Siegenden (1926).
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in seinen späteren Jahren merklich ab. Scholem betonte nicht nur das Potential der Erneuerung im Sabbatianismus: überkommene Strukturen der jüdischen Gesellschaft aufzubrechen und neue jüdische Lebensformen wie Chassidismus, Aufklärung und Säkularisierung anzukündigen. Er warnte auch vor dem Preis, den das jüdische Volk für seinen Messianismus zu zahlen habe, da dieser für eine gesunde und eigenständige Gesellschaft in Israel eine Bedrohung darstelle.58 Dieses bedrohliche Moment sah Scholem überall, wo der Zionismus mit Messianismus gleichgesetzt wurde, nicht nur in der revisionistischen Bewegung, sondern auch im allgemeinen politischen Zionismus.59 Hier ist festzuhalten, dass sich die Einstellung des Zionismus und der jüdischen Bewohnerschaft des Landes zur messianischen Idee seit eh und je sehr komplex gestaltete; dem vergangenen und gegenwärtigen jüdischen Messianismus wurden einerseits positive Züge zugeschrieben, wie die Auflehnung gegen Veraltetes und das Streben, eine neue Welt aufzubauen, andererseits gab es auch umgekehrte Tendenzen, etwa, dass vor Extremismus zurückgeschreckt, und vor den damit verbundenen Gefahren gewarnt wurde.60 Jedenfalls markierte das Jahr 1928 den Wandel in Scholems Haltung gegenüber dem Messianismus, dessen bedrohliche Seiten er nun deutlicher sah, und diese neue Sicht ging wiederum mit dem Beginn seiner Erforschung des Sabbatianismus zusammen. Doch der persönliche Bruch mit dem Zionismus, der seiner veränderten Position zum jüdischen Messianismus zugrunde lag, resultierte aus einer jahrelang schwelenden Krise, die im August 1929 mit den Zusammenstößen zwischen Juden und Arabern an der Klagemauer einen Höhepunkt erreichte.
Die blutigen Unruhen von 1929 und deren Folgen Der Entschluss der Mitglieder von Brit Schalom, ihr Schweigen zu brechen und stärker an die Öffentlichkeit zu treten, hing mit der Spannung um die Kontrolle über die heiligen Stätten der Juden und Muslime in Jerusalem zusammen, die seit Herbst 1928 ständig eskalierte. Am Vorabend des Versöhnungstags hatten Juden auf dem Platz an der Klagemauer eine Trennwand errichtet, damit jüdische Männer und Frauen dort getrennt beten konnten. Darauf erhob der oberste muslimische Rat Beschwerde, die Juden hätten den Status quo an der Klagemauer verletzt. Das war der Auftakt zu sich stetig verschärfenden Spannungen zwischen Juden und Arabern, wobei die Klagemauer zum Symbol des Kampfes 58 Scholem, Sabbtai Zwi; Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee, 70–74; s.a. Werses, Haskala we-Schabtaut, 253–268; Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism. 59 Dazu Ratzabi, Between Zionism and Judaism, 176. Scholems Einstellung dazu änderte sich infolge von Hitlers Machtübernahme und dem Holocaust, Näheres dazu unten. 60 Dazu Kolatt, Zionut u-Meschichijut; Shavit, Realism and Messianism.
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zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen wurde. Dahinter stand wohl die Sorge der Araber vor der Bedrohung durch die schnell anwachsende jüdische Bevölkerung und die ausdrückliche Unterstützung der zionistischen Politik vonseiten der britischen Mandatsregierung. Ein Ausbruch erfolgte am 14. August 1929: zunächst eine jüdische Demonstration in Tel-Aviv, dann ein Gottesdienst an der Klagemauer, zu dem 3.000 Juden strömten (es war der 9. Av, der Fasttag zum Gedenken an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels). Am folgenden Tag versammelten sich Hunderte von Juden an der Klagemauer, darunter Mitglieder von Betar, der revisionistischen Jugendgruppe, mit Keulen bewaffnet. Nach dem muslimischen Gebet am Freitag, dem 16. August, zog ein vandalisierender arabischer Mob durch Jerusalem; im Verlauf der folgenden Tage, bis zum 24. August, wurde die jüdische Bevölkerung im ganzen Land von Arabern angegriffen. Bei diesen Ausschreitungen wurden 133 Juden getötet und 339 verwundet (auf arabischer Seite gab es bei den Versuchen, die jüdische Bevölkerung zu schützen, und im Zuge von Racheakten 116 Tote und 232 Verletzte).61 Die jüdischen Bewohner des Landes waren vom Ausmaß und von den Folgen dieser Ausschreitungen zutiefst schockiert: „For the first time“, schreibt Anita Shapira in ihrer Studie, the Jewish community in Palestine found itself caught up in a wave of violent disturbances that swept with a fury through Jewish settlements and neighbourhoods throughout the length and the breadth of the country. The danger now appeared to threaten the very survival of the entire Jewish community.62
Das Gefühl, bedroht zu sein, führte zu einem Wandel in der zionistischen Politik der jüdischen Bewohner und in ihrer Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung. Der Trennungsprozess zwischen den beiden Volksgruppen beschleunigte sich, der Abgrund zwischen ihnen wurde tiefer und die gegenseitige Feindschaft verschärfte sich.63 Auf der jüdischen Seite begann ein Prozess, in dem „almost imperceptibly, a powerful identity was generated between self-defence, demonstration of force, and national revival“.64 Indem diese Gewaltanwendung verherrlicht wurde, erschien jeglicher Verzicht auf physische Verteidigung und Gegenangriffe in negativem Licht. Durch diese neue Realität fanden sich die Mitglieder von Brit Schalom außerhalb des Konsensus. Im Zeitraum nach den Ausschreitungen tobte um die Anhänger von Brit Schalom ein Sturm der medialen Entrüstung, der sich innerhalb der jüdischen Presse im Land Israel und in Deutschland abspielte, und sie suchten verzweifelt ihre Weltanschauung vor der Spitze der gegen sie gerichteten Kritik in Schutz zu nehmen. Auch Scholem 61 62 63 64
Morris, Righteous Victims, 111–120. Shapira, Land and Power, 174. Sela, The „Wailing Wall“ Riots, 61. Noch dazu: Cohen, Year Zero. Shapira, Land and Power, 174.
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gehörte zu denjenigen, die den Weg von Brit Schalom verteidigten; in Erwiderungen, die im Organ der Bewegung (Scheifotenu) und in der hebräischen Tageszeitung Davar erschienen, geißelte er den verhängnisvollen Fehler, den die jüdische Bevölkerung des Landes begangen habe, und verbreitete die Kunde dessen, was in seinen Augen der richtige Weg der zionistischen Bewegung war.65 Im Zuge dieser Veröffentlichungen präzisierte Scholem seine Haltung gegenüber dem Zionismus und dessen Entwicklung und baute die Ansichten aus, die bis dahin nur in seinen privaten Aufzeichnungen Niederschlag gefunden hatten. Ein polemischer Aufsatz Scholems mit dem Titel Worin gehen die Meinungen auseinander? erschien in Scheifotenu,66 in dem er versuchte deutlich zu machen, worin genau die Meinungsverschiedenheit zwischen den allgemeinen Zionisten und den Mitgliedern von Brit Schalom bestand. Von daher bildete dieser Aufsatz gewissermaßen Scholems Abrechnung mit dem Zionismus und mit dessen Entwicklung und Missgriffen, die zur Krise von 1929 geführt hätten. Scholem vertrat die Auffassung, die Diskussion um die „arabische Frage“ enthalte wiederum innerjüdische Fragen nach dem Weg des Zionismus überhaupt: Es werde hier im Grunde um das Wesen des Zionismus und die Art und Weise seiner Verwirklichung gerungen.67 Nach Scholem war die Errichtung des Zentrums im Land Israel im Sinne von Achad Haam, das den ewigen Bestand des Judentums garantieren und als Quelle geistiger Inspiration für die Diaspora habe fungieren sollen, gescheitert.68 Der Zionismus wurde in der Diaspora aktiv, bevor das geistige Zentrum im Land errichtet war. So setzte er seine besten Kräfte, zumal angesichts seines großen Erfolgs in der Diaspora, für die Erreichung des falschen Ziels ein: Er sorgte für die Erneuerung und kontinuierliche Erhaltung des vorläufigen jüdischen Lebens im Exil, d. h. in der Peripherie, anstatt Anstrengungen in die Errichtung des kulturellen Zentrums zu investieren, des ewigen Mittelpunkts dieser Peripherie. Am Beispiel der deutschen Juden suchte Scholem die These zu belegen, dass der Zionismus sich eigentlich in zwei Bewegungen gespalten habe, die im Wesentlichen nichts miteinander zu tun hätten und die immer weiter auseinanderdrifteten: Die Bewegung im Land Israel ist nicht mehr identisch mit der Bewegung der nationalen Erneuerung, auf die sie sich nur zum Schein beruft; ihre gewaltige reale Kraft schöpft sie nicht aus dem Wunsch nach revolutionärer Migration, sondern im Gegenteil aus tiefen Schichten der Wirklichkeit im Exil.69 65 Diese Artikel wurden gedruckt in: Scholem, Od Davar, 68–90. 66 Ebd., 74–82. 67 Dieser Aufsatz wird bei Rotenstreich besprochen, Gershom Scholem’s Conception of Jewish Nationalism, 107–109 und bei Gorny, Zionism and the Arabs, 194–196. 68 Scholem, Od Davar, 76. 69 Ebd., 78.
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Zwischen dem Land Israel und der Diaspora sei demnach ein Bruch entstanden. Was die Mitte des Zionismus hätte sein sollen, sei schlussendlich zu dessen Peripherie geworden, während die zionistische Bewegung im Ausland weiterbestehen würde, auch wenn das Zentrum im Land zu existieren aufhöre.70 Laut Scholem müsse der Zionismus exklusiv und partikularistisch werden: eine Art Sekte, aber keinesfalls eine „weitgespannte nationale Massenbewegung“.71 Diese Sekte stellte das Esoterische, das Verborgene und Unsichtbare der geistigen Erneuerung des Judentums dar, wozu – wie oben ausgeführt – die Wiederbelebung der hebräischen Sprache gehörte; das exoterische universale Stadium sollte erst darauf folgen. Der verfrühte Erfolg der zionistischen Bewegung habe sie in eine Krise gestürzt, denn nun habe sie keine Berufung mehr, auf die sie hinarbeiten könne, weil ihre politischen Ziele im Bereich des Sichtbaren bereits erreicht seien, bevor sie ihre Aufgabe im Verborgenen erfüllt habe. In poetischer Sprache schrieb Scholem in seinem Brief an Walter Benjamin vom 1. August 1931, einer chronologischen und thematischen Parallele zu dem soeben behandelten hebräischen Aufsatz: In der leeren Leidenschaft der öffentlich gewordenen Berufung haben wir selbst die Kräfte der Zerstörung beschworen. Wo die Berufung nicht in ihrer Profanation sich erhielt, wo nicht Gemeinschaft in ihrer rechtmäßigen Verborgenheit entfaltet wurde, sondern der Verrat an den geheimen Gütern, die uns hergelockt, eine positive Seite der dämonischen Propaganda wurde, da begann unsere Katastrophe. Das Sichtbarwerden unserer Sache hat sie zerstört. Die Begegnung mit Dornröschen fand vor zu vielen zahlenden Zuschauern statt, als daß sie in einer Umarmung hätte enden können. Der Zionismus hat die Nacht mißachtet, und die Zeugung, die ihm alles sein mußte, auf einen Weltmarkt verlegt, wo zuviel Sonne schien, und wo die Begehrlichkeit des Lebendigen in eine Prostitution der letzten Reste unserer Jugend entartetete. Das war nicht der Platz, den wir zu finden kamen, und nicht das Licht, an dem wir uns entzünden durften.72
Den „Sündenfall“ des Zionismus erblickte Scholem in dieser Hinsicht darin, dass sich die zionistische Führung auf die Großmächte stützte und sich nach dem Ersten Weltkrieg auf die Seite der Sieger schlug, sprich in das Lager des britischen Imperialismus überlief. Dabei vergaß aber der Zionismus „sich mit der unsichtbaren, unterdrückten, erst zu Aufstieg und Sichtbarkeit bestimmten Macht zu verbünden“. Indem der Zionismus sich – durch die Balfour-Erklärung – auf die Seite der Sieger schlug, habe er einen seiner wichtigsten Grundsätze verraten, nämlich sein revolutionäres Moment. Revolutionen müssten von unten her, von den Schwachen kommen, daher wären die moralisch und historisch richtigen 70 Ebd., 79. Vgl. auch Scholems Äußerungen in seinem langen Brief an Walter Benjamin vom 1. 8. 1931: Scholem, Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, 216f. 71 Scholem, Od Davar, 79. 72 Scholem, Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, 217.
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Verbündeten, die Schicksalsgenossen des jüdischen Volkes, nicht die Engländer gewesen, sondern die Araber in Palästina. Weil er mit dem englischen Imperialismus gemeinsame Sache machte, habe sich der Zionismus in eine Sackgasse hineinmanövriert, aus der er nicht wieder heil herauskommen könne: „Entweder er wird zusammen mit den Fluten des Imperialismus weggespült oder im revolutionären Feuer des erwachenden Orients verbrannt“.73 Scholem verfolgt in diesem Aufsatz eine politisch-praktische Linie, die einerseits den Territorialismus der Revisionisten zurückwies, aber sich gleichzeitig von der Haltung der 1930 frisch gegründeten israelischen Arbeiterpartei (Mapai) distanzierte, denn diese drückte sich vor einer Entscheidung, was das Verhältnis des Zionismus zu den Arabern in Palästina anging.74 Die Arbeiterpartei vertrat den Mainstream des Zionismus und stand dank ihrer sozialistischen Grundsätze der Weltanschauung der Brit-Schalom-Mitglieder näher als der revisionistischen Bewegung. Die Kritik an Mapai von Seite der Revisionisten war eine Folge des 17. Zionistenkongresses, der im Sommer 1931 in Basel stattfand. Bei dieser Gelegenheit hatte Jabotinsky eine Debatte über das „Endziel“ des Zionismus vom Zaun gebrochen, und zwar vor dem Hintergrund der Diskussion mit Brit Schalom. Während des Kongresses gab Chaim Weizmann ein Interview, in dem er erklärte, dass er eine jüdische Mehrheit im Land nicht befürworte. Der Inhalt dieses Interviews löste unter den Delegierten große Empörung aus, woraufhin Jabotinsky seinen Mitgliedsausweis demonstrativ zerriss. Diese Episode markierte den Anfang des Austritts der Revisionisten aus der Zionistischen Weltunion, der 1935 vollzogen wurde.75 Daraufhin sah sich die Arbeiterpartei genötigt, ihre unentschiedene Haltung aufzugeben und klar zu definieren, auf was für ein Ziel der Zionismus hinarbeite; sie musste Farbe bekennen, ob sie für die Errichtung eines jüdischen Staates einstehe. Ihre große Sorge bestand darin, dass jede Erklärung, der Zionismus wolle einen jüdischen Staat, also eine jüdische Mehrheit im Land, zu einem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten führen werde. Daher wurde auf dem Kongress eine abgeschwächte und allgemein gehaltene Verlautbarung verabschiedet, wonach das Ziel des Zionismus in der „Förderung der steten Einwanderung und Niederlassung und [der] Erneuerung einer vollen nationalen Existenz im Land mit allen Anzeichen normalen jüdischen Lebens“ bestehe.76 Auf diese Erklärung und Ben-Gurions Vorwurf, die „Verkleinerer des Zionismus“ von Brit Schalom hätten die Diskussion ausgelöst, in der die Revisionisten die Arbeiterpartei zu klarer Stellungnahme genötigt hätten, reagierte Scholem mit einem Leitartikel in Scheifotenu unter der Über73 74 75 76
Scholem, Od Davar, 79–80. Dazu Shapira, Land and Power, 186–194. Dazu Shimoni, The Zionist Ideology, 262; Shavit, Jabotinsky, 60. Zitiert bei Shapira, Land and Power, 395–396, Anm. 74; vgl. auch ebd., 264f.
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schrift „Das Endziel“. Darin beschuldigte er die Arbeiterpartei, sie kaschiere ihre militante Ideologie aus taktischen Gründen mit scheinbar friedlichen Verlautbarungen: „Hier enthüllt sich die furchtbare seelische Verfassung, die zu Untergang und Auflösung der (zionistischen) Bewegung führen muss: Die überwiegende Mehrheit des Kongresses will den Judenstaat, will das aber nicht offen zugeben“.77 Scholem hegte die Befürchtung, diese zunächst taktische Erklärung werde mit der Zeit zur Überzeugung der Arbeiterpartei werden, und dem widersetzte sich Brit Schalom energisch. Den Vorwurf, Brit Schalom „verkleinere“ den Zionismus, wies Scholem entschieden zurück: Wir wollen nicht die Gestalt des Zionismus dezimieren, sondern die Zionisten aus einem überflüssigen und gefährlichen Alptraum wecken; dieser Traum hat absolut nichts mit dem Wesen des Zionismus als Erneuerungsbewegung des jüdischen Volkes zu tun, und diesen Kampf müssen wir unverdrossen und in verstärktem Maße weiterführen. Wenn das der Traum des Zionismus ist: Zahlen und „Grenzen“, wenn er das braucht, um existieren zu können, dann muss er letzten Endes scheitern, genauer gesagt: dann ist er bereits gescheitert.78
Scholems Kampf gegen die Stimmen, die für die Rechtmäßigkeit einer jüdischen Mehrheit im Land plädierten, blieb nicht auf seine öffentliche Tätigkeit im Brit Schalom und auf die Veröffentlichung von Aufsätzen in Palästina und in Deutschland beschränkt. Scholems Haltung und Ansichten zu den Unruhen von 1929 äußerten sich auch in der Praxis, und zwar in seiner mangelnden Bereitschaft, an den propagandistischen Bemühungen um die Darstellung der arabischen Gewalttaten mitzuwirken, um dadurch die Sympathie der Briten zu gewinnen. Infolge der Ausschreitungen des Sommers 1929 setzte die zionistische Führung eine Forschungskommission ein, die Material über die religiöse und historische Beziehung von Juden zur Klagemauer und deren rechtliche Implikationen sammeln sollte. Die Ergebnisse sollten einer internationalen Kommission vorgelegt werden, die nur zur Klärung dieser Angelegenheit ins Land kommen würde.79 Im Rahmen ihrer Tätigkeit wandte sich die jüdische Forschungskommission an Scholem mit der Bitte, er möge ihre Arbeit „durch Überprüfung des gesamten Materials in der kabbalistischen Literatur zur Frage der Klagemauer und zu einer jüdischen Gebetsstätte auf dem Tempelberg“ unterstützen.80 Scholem beantwortete diesen Brief nicht, und weigerte sich, die Forschungskommission zu unterstützen.81 Ein Jahr später erschien ein Leserbrief 77 In: Scholem, Od Davar, 69. 78 Ebd., 70. 79 Vermutlich handelt es sich um den Besuch von Hopp-Simpson im Verlauf des Jahres 1930, der die Frage der jüdischen Einwanderung und Niederlassung im Land prüfen sollte; dazu Morris, Righteous Victims, 116f. 80 Ch. Ariav an Gershom Scholem, 24. 2. 1930, in: Doar hajom, 1. 3. 1931. 81 Der Wortlaut des zweiten Briefs vom 4. 4. 1930 ist in Scholems Aufzeichnungen enthalten.
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auf der Titelseite der hebräischen Tageszeitung Doar ha-Jom (Tagespost), die damals mit den Ansichten des revisionistischen Lagers konform ging. Der Verfasser äußerte seine Unzufriedenheit in Bezug auf Scholems Position.82 Drei Tage danach erschien auf der dritten Seite derselben Zeitung eine Erwiderung von Scholem. Seine Ablehnung, der Forschungskommission behilflich zu sein, so Scholem, habe sich nur darauf bezogen, als Berater zu fungieren und somit als Privatmann an einer „wissenschaftlichen Arbeit zu juristisch-politischen Zwecken“ mitzuwirken. Die Gründe für seine damalige Weigerung, die er David Yellin mündlich mitgeteilt habe, seien weiterhin akut: Ich meinte und meine immer noch, dass das Eintreten der Juden in einen Prozess um die Klagemauer ein großes Unglück für das jüdischen Volk war; daher nehme ich wie jeder Privatmann, der ein Gewissen hat, für mich das elementare Recht in Anspruch, mich einer aktiven Mitwirkung (worum ich gebeten war) an der Vorbereitung von Schritten zu enthalten, die ich für schädlich und destruktiv halte. Meines Erachtens kann die Frage der Klagemauer nicht durch juristische Verhandlungen vor einer dritten Seite gelöst werden.83
Hier wird erkennbar, wie Scholem seine politischen Anschauungen auf die praktische Ebene übertrug. Dahinter steht seine Kritik an einer der Gemeinsamkeiten von Arbeiterpartei und Revisionisten, nämlich dem Vertrauen auf die Engländer und der Kooperation mit der Mandatsregierung als Schlüssel, um die politischen Ziele des Zionismus zu erreichen, wie immer diese definiert sein mochten. Für Scholem, abgesehen von seiner Ablehnung der politischen Seite des Zionismus, waren die natürlichen Verbündeten, mit denen man sich für die Verwirklichung des zionistischen Traums verständigen müsse, die Araber Palästinas, nicht die Briten. Die Gründe dafür, dass Scholem der Untersuchungskommission bezüglich der Klagemauer seine Mitarbeit verweigerte, veranschaulichen das Gewicht, das er der direkten Verständigung mit der anderen Seite beilegte. Er wollte Großbritannien keine Autorität für die Beilegung des Konflikts in Palästina zuerkennen. Belege für den schwerwiegenden Bruch mit dem Zionismus, der sich in seinem Innern auf die Unruhen von 1929 hin vollzog, finden sich auch in privaten schriftlichen Äußerungen. In dem Brief an seine Mutter ganz kurz nach den Ereignissen versuchte Scholem zwar noch einen sachlichen Ton zu wahren, indem er die Bemühungen um den Schutz der jüdischen Bewohnerschaft schilderte; auch im Brief an Robert Weltsch betonte er die entscheidende Rolle der Hagana, der jüdischen Selbstverteidigungsorganisation in Palästina, für den
82 A. Babakov, Michtaw galuj leha. David Yallin and Ben-Yvi, in: Doar hajom, 21. 2. 1931, 1. 83 Dr. Schalom One, in: Doar ha-Jom vom 7. 4. 1931, 3. Zu dieser Affäre s. Biale, Gershom Scholem, 179f.
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Schutz der jüdischen Bevölkerung.84 Aber je mehr Zeit verging, desto trüber wurde seine Stimmung. Gegen Ende Juni 1930 verfasste Scholem das Gedicht Begegnung mit Zion und der Welt (der Untergang), aus dem bittere Enttäuschung und Ernüchterung sprechen. Die beiden abschließenden Strophen des Gedichtes lauten: Das war die trübste Stunde / Erwachen aus dem Traum / Und doch: die die Todeswunde / empfingen, merkten es kaum // Was innen war, ist nach außen / verwandelt, der Traum in Gewalt, / und wieder sind wir draußen / und Zion hat keine Gestalt.85
Auch im brieflichen Kontakt mit Freunden und Kollegen, die sich damals noch in Europa aufhielten, verlieh Scholem dem emotionalen Aufruhr Ausdruck, der sich in seinem Innern abspielte. An Martin Buber, eine von den Mitgliedern des Brit Schalom geschätzte und verehrte Persönlichkeit, schrieb er über seine Empfindungen. Aus diesem Brief ist der heftige Umschwung deutlich ersichtbar, der sich in seiner Welt ereignet hatte: Die Qual dieses Zustands, […], reicht an die Grenzen des Ertragbaren: müssen wir uns doch sagen, daß es ja nichts nützt, wie wir den Zionismus auslegen, wenn einmal (und es ist jetzt die entscheidende Stunde, darüber kann sich ja niemand täuschen) sein Antlitz, auch das in sich selbst gewandte, sich als das einer Medusa herausstellt. Freilich: Das ist der Moment, um dessentwillen viele von uns, und ich jedenfalls, hier sind: Wir glauben, daß es unerträglich sein würde, sich sagen zu müssen, deine Sache ist gescheitert, ohne daß du auch nur dabei warst. Der fürchterliche innere Zustand, die völlige Demoralisation, die sich uns hier enthüllt, läßt nun kaum Hoffnung, daß noch irgend etwas zu tun sei, da ja historische Stunden nicht wiederkehren und nichts mehr von dem für die Erneuerung des Judentums in diesem halben Jahr Verlorenen einzuholen ist.86
Das war nicht aus der Erregung des Augenblicks heraus geäußert, vielmehr hatte sich hier Scholems Einstellung zum Zionismus und zum zionistischen Werk im Land Israel von Grund auf gewandelt. Genauer gesagt: Er hatte einsehen müssen, dass die zionistische Bewegung eine Wendung vollzogen hatte, woraufhin ihre Verwirklichung anders verlaufen würde als er es sich erträumt hatte. In den Jahrzehnten nach der Auflösung von Brit Schalom, im Grunde während seines gesamten weiteren Lebens, enthielt sich Scholem jeder politischen Tätigkeit. So trat er etwa der 1942 von Jehuda L. Magnes gegründeten Vereinigung Ichud nicht bei, obwohl sie in mancher Hinsicht eine Fortsetzung von Brit Schalom war und etliche der früheren Mitglieder darin mitwirkten.87 Die Jahre seiner Mitgliedschaft im Brit Schalom waren die einzige Phase in Scholems Leben, während der 84 Gerhard an Betty Scholem, 5. 9. 1929, in: Scholem/Scholem, Mutter und Sohn, 200–203; Gershom Scholem an Robert Weltsch, 22. 9. 1929, in: Scholem, Briefe I, 240–242. 85 Scholem, The Fullness of Time, 88. 86 Gerhard Scholem an Martin Buber, 22. 5. 1930, in: Buber, Briefwechsel II, 380f. 87 Zur Geschichte des Ichud s. Heller, Mi-Brit Schalom le–Ichud.
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er einer politisch ausgerichteten Gruppe aktiv angehörte. Danach zog er sich in den Bereich seiner akademischen Forschungsarbeit zurück und lebte „wie ein Professor an einer deutschen Universität, den akuten Vorgängen und seiner Umgebung weit entrückt“, wie Joseph Dan es darstellte.88 Von da an und weiter entwickelte Scholem eine sachliche und pragmatische Einstellung zum Zionismus, anfangs, um die Positionen von Brit Schalom zu verteidigen, danach, um im Staat Israel seine zionistische Position zu erläutern. So rekonstruierte er etwa in einem Interview viele Jahre später eine Szene aus einem Vortrag, den er seinerzeit für Brit Schalom in Deutschland gehalten hatte: Man hat mich mal gefragt, als ich im Ausland war, ich war gebeten worden, über Brit Schalom zu sprechen, man hat mich gefragt in einer sehr stürmischen Diskussion in Frankfurt am Main 1932: Was wollen Sie denn eigentlich? Da habe ich ihnen gesagt, und ich war damals als einer der angeblich Radikalen von Brit Schalom bekannt, was ich will, ist doch ganz einfach, ich will den Judenstaat zu beiden Seiten des Jordan. Wie Sie wissen, war das damals das Schlagwort der Revisionisten. Wenn Sie mich fragen, was ich will – ich will den Judenstaat zu beiden Seiten des Jordan. Aber es geht ja gar nicht darum, was ich will. Es geht darum, was man unter den bestehenden Umständen im Land überhaupt wollen kann. Nicht, was man sich so einfach erträumt. Im Traum will ich einen Judenstaat; in der Wirklichkeit glaube ich nicht, dass ein Judenstaat in dieser Form möglich ist. Und deshalb verfolge ich die Linie von Brit Schalom.89
Scholems nüchterne Haltung war in der Überzeugung verankert, dass die Forderung nach einem jüdischen Staate in der damaligen politischen Wirklichkeit schlechterdings „unrealistisch war. Keiner aus dem Lager meiner Diskussionspartner, führende Gewerkschaftler, glaubte, die Frage des Judenstaates anno ’29 sei für unsere Generation relevant. Keiner hat das geglaubt“.90 In der politischen Situation des Landes Israel in den dreißiger Jahren war die einzige reale Möglichkeit, die Scholem sich vorstellen konnte, die Errichtung eines kleinen geistigen Zentrums, das mit den Arabern zusammenarbeiten sollte und im Lauf der Jahre vielleicht zu einem bi-nationalen Staat werden könnte. Aus dieser Vorstellung heraus verstand Scholem den Zionismus einerseits als eine nicht-messianische Bewegung, zum anderen beurteilte er die Tendenz, dass diese Strömung nach politischer Verwirklichung strebte, als gefährlichen Messianismus. Die Idee der politischen Erlösung im Land betrachtete er bereits 1929 als eine gefährliche Vermischung von Religion und Politik, wie er in der hebräischen Zeitung Davar schrieb: Ich leugne ganz entschieden, dass der Zionismus eine messianische Bewegung ist und dass er das Recht hat, […] sich der religiösen Sprache zu politischen Zwecken zu 88 Dan, Gershom Schalom, chawurat Eranos, 294. 89 Brit Schalom. Reaijon im Professor Gershom Schalom, DOH, ICJ, HU Jerusalem, 6. 90 Ebd., 9.
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bedienen. Die Erlösung des Volkes Israel, auf die ich als Zionist hinarbeite, ist ganz und gar nicht identisch mit der religiösen Erlösung, die ich für die Endzeit erhoffe.91
Am Grundsatz der Trennung von Staat und Religion hielt Scholem zeit seines Lebens fest, und in der logischen Fortsetzung davon vertrat er auch die Überzeugung, der Zionismus sei nicht messianisch, auch nicht nach der Gründung des Staates Israel. In späteren Jahren stellte der Zionismus für Scholem den Eintritt des jüdischen Volkes in die Geschichte dar; und nachdem die Juden ihr Schicksal selbst in die Hand genommen hätten, müssten sie auch Rechenschaft über ihr Tun und Lassen ablegen. In diesem Sinne sah er den Zionismus als eine Erscheinung innerhalb der Geschichte und nicht – wie die Erlösung – an deren Ende.92 Was seine persönliche Einstellung zum Zionismus und den Grund seiner Übersiedlung ins Land Israel betrifft, entwickelte Scholem in den Jahren danach eine Haltung, die man als „Alternativlosen Zionismus“ bezeichnen könnte, d. h., er verstand seine Auswanderung und sein Bemühen um Verwirklichung der zionistischen Utopie nur als einen Versuch, dessen Erfolg in der Realität nie garantiert war. Der Beweggrund für dieses Experiment sei die Einsicht gewesen, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, als einen Versuch zu wagen. Erste Anzeichen für diese Haltung finden sich bereits in den frühen Aufzeichnungen, von denen einige oben angesprochen worden sind. Deutlicher gemacht hat Scholem diese seine Haltung in Interviews Jahre später, nachdem der Staat Israel längst gegründet war. So erläutert er etwa in einem hebräischsprachigen Interview von Ende 1964: Wenn Sie mich bei meiner Einwanderung gefragt hätten, ob ich ein politisches Interesse am Zionismus habe, hätte ich zweifellos mit Nein geantwortet. Wenn Sie mich gefragt hätten: Warum sind Sie eingewandert? Hätte die Antwort nur eine sein können – ich habe diese Antwort schon oft gegeben, deshalb kann ich sie rekonstruieren – Ich bin eingewandert, weil ich glaubte, dass es keine Hoffnung gibt außer hier. Ich hatte keine Gewissheit, dass dieses Werk hier gelingen würde. Ich wusste nicht, ob der Zionismus eine politische oder eine unpolitische Richtung einschlagen würde. […] Was mich hergebracht hat, war nicht die Gewissheit, dass die zionistische Sache Erfolg haben würde. Dessen war ich mir überhaupt nicht sicher. Da war ich immer pessimistisch, sehr sogar. Ich war pessimistisch in Bezug auf die zionistische Sache, aber ich wünschte ihr Erfolg, d. h. ich wollte und musste im Land Israel sein, man musste es wenigstens versucht haben. Es gibt keinen anderen Weg. Wenn Sie mich gefragt hätten: Erwarten und wünschen Sie den Aufbau einer neuen Gesellschaft? Ist Ihnen das wichtiger, die Gestaltung eines lebendigen sozialen Organismus, oder scheint Ihnen der politische
91 Scholem, Od davar, 85–90. 92 Scholem, Rezifut u-Mered, 56f.
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Rahmen wichtiger? Zweifellos hätte ich Ihnen als junger Mann geantwortet wie heute: Wichtiger ist mir das Erstere.93
Diese deterministische Haltung, deren erste Anzeichen, wie gesagt, bereits in Scholems frühen Schriften erkennbar sind, wurde erst in den Jahren nach der Staatsgründung deutlich ausformuliert. Diese Auffassung hatte den Vorteil, dass sie ihm den Konflikt überwinden half, der durch die Entwicklung des Zionismus in den folgenden Jahren sowie später durch den Holocaust und dessen Auswirkungen auf das zionistische Projekt entstanden war. Der „Alternativlose Zionismus“ ermöglichte es Scholem, weiterhin im Land zu bleiben, und das trotz der Enttäuschung darüber, dass die zionistische Bewegung einen Kurs eingeschlagen hatte, der sich dem nationalistischen Denken der Revisionisten näherte und von Achad Haam entfernte. Eine gewisse Enttäuschung war wohl im Zuge der Einwanderung und Eingewöhnung in das neue Leben im Land Israel nachvollziehbar; insofern war diese Empfindung nicht speziell für Scholem charakteristisch, sondern auch für etliche seiner Zeit- und Schicksalsgenossen. Scholem wollte weiterhin Zionist genannt werden, und er musste sich mit der veränderten politischen Realität in seinem Heimatland, Palästina/Israel, abfinden. Deshalb hob er das Deterministische an seiner Auffassung des Zionismus so hervor und betonte, dass es keinen anderen Weg gebe. Ähnlich enthielt er sich in seinen späteren Jahren jeglichen Urteils über Brit Schalom und über dessen historischen Beitrag oder Aussagen darüber, was an ihm richtig oder falsch gewesen sei. Das wiederum geht mit seinem völligen Verzicht auf Teilnahme am politischen Geschehen zusammen. So äußerte er sich in einem hebräisch geführten Interview von 1972: Ich kann heute, nach allem, was geschehen ist, nicht sagen, ob die Politik von Brit Schalom unter den damaligen Umständen richtig war, ob die Idee von Brit Schalom von vornherein falsch oder vernünftig und aussichtsreich war – das ist heute schwer zu beurteilen. Die Geschichte hat entschieden, und die Dinge haben sich so entwickelt, dass sie im arabischen Lager die Elemente erledigt haben, die es in den vierziger Jahren gab, damals waren sie nämlich interessiert, sich mit den Juden zusammenzusetzen und Möglichkeiten zu klären. […] Unter den Umständen der zwanziger Jahre jedenfalls, als Brit Schalom aktiv zu werden begann – er bestand ja nur bis 1932 – war seine Idee meines Erachtens eine, um die es sich zu kämpfen lohnte oder die wenigstens ernsthaft diskutiert werden sollte. Besonders was den moralischen Hintergrund der zionistischen Bewegung im Hinblick auf ihre Zukunft betrifft – wir waren doch sicher, dass der Zionismus mit Mitteln öffentlicher Moral verwirklicht werden würde, die sich vertreten ließen, bei allen damit verbundenen Schwierigkeiten beim Aufbau einer neuen Gesellschaft. Ich will heute nicht sagen: Wir haben gesündigt oder Ich habe gesündigt, ich will auch nicht sagen, Wir waren die Gerechten und haben den Weg richtig gesehen. Ich bin heute nicht sicher, ob das möglich war, ob das in politischer Hinsicht eine ernsthafte 93 Ebd., 121.
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Möglichkeit war, ob die Sache durch Faktoren vereitelt wurde, die sie nicht hätten vereiteln sollen, oder ob die historischen Umstände, die überwiegend weder von den Juden noch von uns abhingen, nicht einmal von unseren Gegnern im zionistischen Lager, eine Verschiebung der Werte mit sich brachten, vielmehr die objektive Situation schufen, die doch vom Willen der Einzelnen abhängt.94
Die Anschauungen, die dem Programm von Brit Schalom zugrunde lagen, finden sich ansatzweise bereits in Scholems Tagebüchern vor seiner Einwanderung. Dass er bereits 1925 politische Tendenzen erkennen ließ, die nach 1929 Bedeutung für ihn erlangen sollten, zeugt von seiner hohen politischen Sensibilität für das, was innerhalb der jüdischen Bewohnerschaft des Landes vorging. Die Ereignisse von 1929 markierten einen Bruch in seiner Einstellung zum zionistischen Aufbauwerk, aber angelegt war die Krise schon vorher. Viele Jahre später, in einem anderen hebräisch geführten Interview, bezeichnete Scholem die zwanziger Jahre als einen „plastischen Moment in der Geschichte“ für die jüdische Bewohnerschaft des Landes und die zionistische Bewegung und meinte, „damals hätten wir vielleicht Entscheidungen treffen können, die sich auf unsere Beziehungen zu den Arabern ausgewirkt hätten“. Doch das Gefühl, etwas versäumt zu haben, endete 1933 mit der nationalsozialistischen Machtübernahme und der Beeinflussung des Zionismus dadurch: „Aber nachdem Hitler da war“, fährt Scholem in diesem Interview fort, „war nichts mehr zu machen, es ging nur noch darum, möglichst viele Juden zu retten“.95 1933 hörte Brit Schalom auf zu bestehen, und damit der einzige öffentliche politische Rahmen, in dem sich Scholem zeit seines Lebens engagierte. Daraufhin war es nur verständlich, dass seine sozialen Bindungen in den folgenden Jahren eher privaten Charakter tragen würden, dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. Das war in der Tat ein Merkmal des so genannten Pilegesch-Kreises, der im Folgenden vorgestellt werden soll.
b.
Pilegesch: Ein intimer Kreis
Die Entstehung des Kreises Das Jerusalem der dreißiger Jahre war eine Stadt, die sich im Schwung des Aufbaus befand. Neue Stadtviertel erstanden und bestehende wurden erweitert und ausgebaut. Die neuen und alten Stadtteile bildeten ein Mosaik aus unterschiedlichen Quartieren, die sorgfältig voneinander getrennt waren. Jedes Stadtviertel hatte seinen eigenen Charakter, so dass ein Spaziergänger das Gefühl bekommen konnte, er gehe durch lauter verschiedene Städte, die sich wunder94 Brit Schalom. Reaijon im Professor Gershom Schalom, DOH, ICJ, HU Jerusalem, 12–13. 95 Englisch geführtes Interview mit David Biale: Scholem, The Threat of Messianism.
Pilegesch: Ein intimer Kreis
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barerweise zu einer Einheit zusammengefunden hatten. Dasselbe galt für die jüdische Einwohnerschaft der Stadt. Der Historiker Walter Laqueur, der damals in Jerusalem wohnte, schreibt über die Stadt und ihre Bewohner: „There was no Jerusalem society at the time, but there were a great number of societies, mostly quite small“.96 Menschen, die einen gemeinsamen Nenner hatten, schlossen sich zu kleineren Kreisen zusammen, so dass man die Einheit der Stadt aus dem Auge verlieren konnte: „[T]here were so many different Jerusalems and everyone spent most of the time in his or her little ghetto“.97 Im Folgenden soll ein solcher Jerusalemer Zirkel vorgestellt werden, der während der Jahre 1935 bis 1946 bestand, also von kurz vor bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Es handelte sich um einen Kreis von bedeutenden Forschern aus unterschiedlichen akademischen Feldern, die sich jeden Sabbat-Nachmittag im Jerusalemer Stadtteil Rechavia versammelten und sich bei einer Tasse Tee über metaphysische Themen unterhielten. Die ersten Mitglieder des Kreises waren der Orientalist und Philologe Hans Jakob Polotsky, Mitbegründer der Ägyptologischen Abteilung an der Hebräischen Universität; der Philosoph und Gnosis-Forscher Hans Jonas; der Klassische Altertumswissenschaftler Hans (Yohanan) Lewy; Shmuel Sambursky, der erste Physiker an der Hebräischen Universität, der sich später der Wissenschaftsgeschichte zuwenden sollte; der Historiker und Politikwissenschaftler George Lichtheim, der jüngste unter den Teilnehmern, der während seines Aufenthalts in Palästina als Korrespondent der Zeitung Jerusalem Post arbeitete; und nicht zuletzt Gershom Scholem. Darüber, wie diese ungewöhnliche Personengruppe sich zusammenfand, berichtet Hans Jonas in seinen Memoiren: [U]nd so begann die Freundschaft Polotzky-Jonas-Lewy – „PIL“. Wir bildeten sofort einen Club, der sich regelmäßig traf und sich nach den Anfangsbuchstaben „PIL“ nannte. PIL ist das hebräische Wort für Elefant, und wir hatten den Elefanten als unser Zeichen. […] Diesem Club schlossen sich schnell weitere an: George Lichtheim, der Physiker Hans (Shmuel) Sambursky und unvermeidlicherweise natürlich Gershom Scholem. Als letzterer als regelmäßiges Mitglied aufgenommen wurde, sagte er: „Das muß sich im Namen ausdrücken“. Wir fragten ihn dann, was er als geeignete Abwandlung von „PIL“ vorschlage, und er hatte gleich einen Namen parat: „Pilegesch“.98
Mit Scholems Beitritt und der Anpassung des Namens der Gruppe tauchte unversehens eine erotisch-humoristische Konnotation auf, der harmlose „Elefant“ wandelte sich nämlich zur „Konkubine“ (hebr. Pilegesch). Dieses Detail ist bemerkenswert, zumal dieser Name von Scholem geprägt wurde, der sich bald zur tragenden Säule des Zirkels entwickeln sollte. Die Antwort auf die Frage, weshalb 96 Laqueur, Thursday’s Child, 214. 97 Ebd., 216. 98 Jonas, Erinnerungen, 148.
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Scholem – abgesehen von einem amüsanten Geistesblitz – dem erweiterten Club diesen Namen gab, ist in Scholems geistiger Vorstellungswelt zu suchen, und da bietet sich der Sohar als Quelle an. Diese mystische Schrift, offenbar im 13. Jahrhundert durch einen Gelehrtenzirkel verfasst, ist das zentrale Corpus der kabbalistischen Literatur, dessen Untersuchung sich Scholem jahrelang gewidmet hat. Wie schon Yehuda Liebes gezeigt hat, enthält der Sohar nicht wenig Humor, Eros und Erotik,99 aber wichtig ist besonders die Darstellung der Paarbeziehung im Sohar. An verschiedenen Stellen im Sohar steht zu lesen, der Mensch habe sich immer in der Paarung von männlichen und weiblichen Elementen zu befinden. Wenn ein Mann Geschlechtsverkehr mit seiner Frau hat und damit seine Bestimmung erfüllt, ruhe die Schechina auf ihm, sozusagen das weibliche Element der Gottheit, eine Art göttliche Mutterfigur. Doch was geschieht, wenn ein Mann sich von seiner Frau trennt und hinauszieht ins Leben? Dann rettet ihn die Schechina vor der Sünde des Alleinseins, indem sie sich mit ihm verbindet anstelle der daheimgebliebenen Ehefrau. Wie Liebes schreibt, findet diese Paarung des Mannes mit der Schechina ihren konkreten Ausdruck darin, dass er unterwegs Gelehrte trifft, die ihm seine Reise durch die göttlichen Lehren versüßen. Damit enthält das Lernen der Tora, nach dem Sohar, zumal wenn es in Gemeinschaft betrieben wird, ein erotisches Element, sozusagen als Ersatz für die sexuelle Beziehung zur Frau.100 So ist vielleicht der Hintergrund für die Wahl dieses Namens zu verstehen, abgesehen von dem Schalk im Auge. Gut zu dieser Erklärung passt der Umstand, dass es sich um einen reinen Männer-Club handelte, denn als sich der Zirkel zusammenschloss, lebten die Mitglieder jeweils allein – entweder, weil sie noch nicht verheiratet waren (Jonas und Lichtheim), oder weil ihre Ehe in die Brüche gegangen war (wie bei Scholem und Sambursky). Hans Jonas erläutert: „Daß wir nicht gebunden waren, war förderlich, denn so fand sich ein Männerbund zusammen, der viel Zeit hatte. Es warteten keine Frauen zu Hause, die darauf bestanden, daß man den Sabbatnachmittag lieber ihnen widmete als dem endlosen Geschwätz der Männer“.101 Insofern war die Wahl des Namens Pilegesch also kein Zufall, sondern charakterisierte – mit einem nicht geringen Maß an Selbstironie – den Status der Gruppenmitglieder beim Zusammenschluss des Zirkels, wobei eine säkulare Vokabel mit mystischem Inhalt versehen wurde.
99 Liebes, Sohar we-Eros. 100 Ebd., bes. 104f. 101 Jonas, Erinnerungen, 151.
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Die Mitglieder Nicht nur ihr Leben als alleinstehende Männer war den Mitgliedern des Zirkels gemeinsam, sondern auch die deutsche Herkunft (mit Ausnahme von Polotsky, der in Zürich geboren war) und in unterschiedlichem Maß die Affinität zur zionistischen Ideologie. George Lichtheim war der Sohn des deutschen Zionistenführers Richard Lichtheim, und Sambursky bezeugte, er sei in eine Familie mit tiefen zionistischen und hebräischen Wurzeln hineingeboren. Andere hatten als junge Leute ihren eigenen Weg zum Zionismus gefunden, so etwa Jonas oder Scholem.102 Jedenfalls waren alle aus zionistischen Beweggründen ins Land gekommen. Die Mehrheit der Mitglieder, außer Jonas und Lichtheim, lehrten und forschten an der Hebräischen Universität und beherrschten die hebräische Sprache gut (darin zeichneten sich besonders Scholem und Sambursky aus, da sie seit jungen Jahren Hebräischstudien betrieben). Doch über die Verwendung der Sprache gibt Jonas in seinen Memoiren überraschende Auskunft: Aber in unseren privaten Gesprächen hielten wir am Deutschen fest – nicht etwa aus Verbindung mit dem Deutschtum, sondern einfach, weil das die uns natürliche Sprache war, in der wir uns am besten auszudrücken vermochten. Selbst ein so eifriger Zionist und Judaist wie Scholem hat niemals gefordert, man müsse eigentlich hebräisch sprechen. Vor der Torheit, man dürfte nicht deutsch sprechen, da Deutschland jetzt das verruchte Land und unser größter Feind sei, waren wir vollkommen gefeit.103
Nach Aussage von Jonas war es also Bequemlichkeit ebenso wie das Bemühen um Präzision des Ausdrucks, weshalb sich die Herren des Klubs auf Deutsch unterhielten. Mir scheint ein weiterer Grund bemerkenswert, der auf den ersten Blick evident ist, der aber zugleich ein Schlüssel zum Selbstverständnis der Mitglieder ist. Sie sprachen Deutsch, weil sie aus dem deutschen Sprachraum gekommen waren, das heißt sie gehörten der deutschsprachigen intellektuellen Kultur an; dabei lebten sie zu einer Zeit, in der ihre Muttersprache im Land Israel emotional schwer belastet war. Über das Problem der deutschen Sprache als Ausdruck der komplexen und ambivalenten Situation der Juden aus Deutschland in Israel ist viel geschrieben worden;104 auch Hans Jonas kommt in dem zuletzt zitierten Abschnitt seiner Erinnerungen darauf zu sprechen. Aus den verschiedenen Untersuchungen geht hervor, dass unter den mittel-europäischen Einwanderern in Palästina zwei gegenläufige Tendenzen vorherrschten: zum einen die Abkapselung in dem relativ kleinen Kreis von Einwanderern aus demselben Herkunftsland, zum anderen die notwendige Öffnung auf die Aus102 Was Jonas betrifft, s. Jonas, Erinnerungen, 54–78. 103 Jonas, Erinnerungen, 154f. 104 S. etwa Getter, Ha-Alija mi-Germania, 139; Gelber, Moledet Chadascha, 222; Wormann, German Jews in Israel, 82f.
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einandersetzung mit der neuen Realität hin. Unabhängig davon, ob die Einwanderer überzeugte Zionisten waren oder das Land Israel nur als eine vorübergehende Zufluchtsstätte betrachteten – ein dialektisches Unverständnis zwischen dem jeweiligen Migranten und den Gegebenheiten im Land bestand immer. Auch Scholem beobachtete diese Ambivalenz bei den deutschsprachigen Einwanderern; am 26. April 1933 schreibt er darüber an seine Mutter: Es ist übrigens merkwürdig, wie sich hier die Perspektive der Judenfrage tiefsinnig verändert. Die Deutschen empfanden die Juden als Fremde, und sogar ein Teil der Juden fühlte sich fremd in Deutschland. Hier aber empfinden die Juden, die in ihrer großen Mehrheit Ostjuden sind, die deutschen Juden als Fremde. Sie bemerken mehr Deutsches als Jüdisches an ihnen. […] Es ist eben eine merkwürdige Sache um die Völkerscheide, und „Alljuda“ kann nur für den eine Einheit bedeuten, der es nie zusammen gesehen hat. Hier hat man dazu Gelegenheit, und man muß die Leistung bewundern, die hier das Werk in Gang gebracht hat.105
Paradoxerweise traten ausgerechnet im Land Israel die Unterschiede zwischen den verschiedenen jüdischen Einwanderern deutlicher hervor. Mit diesen Gegensätzen sahen sich alle Neuangekommenen konfrontiert, unabhängig vom Grad ihrer zionistischen Begeisterung. Das hervorstechendste Unterscheidungsmerkmal war im Fall der Juden aus Deutschland, wie gesagt, die deutsche Sprache mit allem, was damit für die sonstige damals im Land ansässige jüdische Bevölkerung verbunden war. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb der Kreis um Scholem das Bedürfnis verspürte, eine Art geschützten Raum zu schaffen, wo sich die Auseinandersetzung mit der komplexen äußeren Wirklichkeit innerhalb einer geschlossenen Gruppe und mit bewährten Mitteln aus dem Herkunftsland führen ließ. Die deutsche Sprache samt ihrer kulturellen Fracht grenzte die Mitglieder des Zirkels gegen ihre Umwelt in Palästina ab, und sie schuf ein Gefühl von Intimität und Schicksalsgemeinschaft der Mitglieder untereinander. Wer kein Deutsch verstand, konnte nicht an dem teilnehmen, was innerhalb der Gruppe vor sich ging, und blieb somit ausgeschlossen. Besonders wenig Chancen, etwas zu verstehen, hatten Außenstehende in einem Bereich, den die Gruppe perfektionierte, nämlich den der Satire und des Humors. Was den Sinn für Humor betrifft, über den die Männer von Pilegesch in hohem Maß verfügten, sollen sie selbst zu Wort kommen. So beschrieb etwa Scholem in der Gedenkrede auf den früh verschiedenen Hans Lewy, die er 1945 an der Hebräischen Universität hielt, dessen Beziehung zu den Mitgliedern der Gruppe: „Seine Loyalität war vorbildlich, auf ihn konnte man sich verlassen. Dabei behielt 105 Gerhard an Betty Scholem, in: Scholem/Scholem, Mutter und Sohn, 298. Zu dem von Scholem mit Anführungszeichen versehenen Ausdruck „Alljuda“ bemerkt die Herausgeberin, dass er zur Bezeichnung des Stereotyps sowohl aus zionistischer als auch aus nationalsozialistischer Perspektive dienen kann.
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Abbildung 3. Mitglieder des Pilegesch-Kreises: (von links) Hans Lewy, Miriam und George Lichtheim, Jacob Polotsky
er ein offenes Auge für die Schwächen seiner Kollegen. Die verstand er in aller Ruhe mit augenzwinkerndem Ernst zu analysieren“.106 Sozusagen ein Nachhall dieser Äußerungen ist aus dem Beileidsschreiben zu vernehmen, das Hans Jonas gleich nach Scholems Tod an dessen Witwe richtete: In ihm konzentrierte sich für mich Jerusalem: gedanklich, temperamentmäßig, gestenhaft, im Getöse des leidenschaftlichen Gesprächs, in der elektrischen Hochspannung jedes Austauschs, der blitzenden Rede und Widerrede, der unerschöpflichen Originalität, der nie ermüdenden Neugier, dem immer frischen Interesse, der Streitbarkeit gepaart mit generösem Anerkennen des Anderen, souverän in Selbstsicherheit wie freigebigem Wohlwollen, mit Witz im Ernst und Ernst im Witz, Humor inmitten der 106 Nachruf auf Hans Lewy, abgedruckt in: Scholem, Devarim be-Go, 481.
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Passion des Erkennens und Benennens, und in alldem fühlbar die dunkeln, unheimlichen, erregenden Tiefen hinter der blendenden Helle des Intellekts – so beherrschte er unseren Kreis PILEGESCH unvergesslichen Angedenkens, er war der Brennpunkt, wo er war, war das Zentrum, das Bewegende, der aus sich selbst immer neu sich aufladende Akkumulator für die hin und her zuckenden Energien, ein Urphänomen nach Goethes Wort.107
Humor und Satire waren natürlich nicht auf den Pilegesch-Kreis beschränkt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden innerhalb der Mauern der Hebräischen Universität und anderswo Satiren verfasst.108 Eine Vorstufe des universitären Humors, wie er in dem Jerusalemer Zirkel gepflegt wurde, ist in Scholems jungen Jahren zu finden, genauer gesagt in jenen Monaten des Jahres 1918, die er zusammen mit seinem Freund Walter Benjamin in dem Dorf Muri bei Bern verbrachte. Während ihres dortigen Beisammenseins begannen die beiden Freunde gemeinsam, philosophische Texte zu studieren und gründeten zum Spaß eine imaginäre Alternativ-Universität, eine Art Parodie auf den akademischen Betrieb zu ihrer Zeit. Im Rückblick schrieb Scholem dazu: Da wir […] „unsere eigene Akademie“ bildeten, wo an der Universität so wenig zu lernen war, kam es zur halb-ernst, halb-spaßhaft gemeinten Gründung der „Universität Muri“ und deren Institutionen, einer Bibliothek und einer Akademie. Im Vorlesungsverzeichnis dieser Universität, dem Statut der Akademie und dem imaginären Katalog der neu eingelaufenen Bücher, zu denen Benjamin von Witz sprühende Besprechungen lieferte, fand unser Übermut und unsere Verspottung des akademischen Betriebes in den nächsten drei, vier Jahren ein angemessenes Ventil. Benjamin zeichnete als Rektor und machte mir mehrfach brieflich und mündlich Mitteilungen über die neuesten Vorgänge an unserer Fantasie-Universität – während ich mich als „Pedell am religionswissenschaftlichen Seminar“, manchmal aber auch als Mitglied der Fakultät vernehmen ließ.109
Physisch bestand die „Universität Muri“ nur während der kurzen Zeit, die Scholem und Benjamin gemeinsam in jenem Schweizer Dorf verbrachten, etwa drei Monate; aber virtuell ließen die Gründer diese Institution noch jahrelang wiederaufleben. Ungeachtet des ständig wachsenden geographischen und ideologischen Abstands zwischen den beiden bildete die humoristische Rede von ihrer fiktiven Privat-Universität weiterhin eine Art Code intimer Kommunikation, die ihnen Vergnügen bereitete.110
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Hans Jonas an Fania Scholem, 24. 2. 1982, in: Scholem, Briefe III, 462. S. z. B. Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism; Weiss, Divrej Schalom. Scholem, Walter Benjamin. Geschichte einer Freundschaft, 76f. S. etwa Benjamins Brief an Scholem vom 21. 11. 1921, ebd., 140; oder Benjamins Brief an Scholem vom 25. 6. 1932, in: Benjamin/Scholem, Briefwechsel 17–20. Einschlägige Bezugnahme auch bei Scholem, ebd., 231.
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Die humoristische Kreativität der beiden Freunde schlug sich vor allen in zwei erhaltenen Texten nieder. Den ersten hatten sie gemeinsam verfasst und er bietet sozusagen einen Überblick über ihre imaginäre Universität, deren Lehrkörper und Kursangebot, darunter etwa „Robert Eisler: Der abendländische Paganismus von Papageno bis Paganini“ oder „Siegmund Freud: Woher die kleinen Kinder kommen“.111 Der andere stammt aus Scholems Feder und trägt den umständlichen Titel „Amtliches Lehrgedicht der Philosophischen Fakultät der Haupt- und Staats-Universität Muri, von Gerhard Scholem, Pedell des religionsphilosophischen Seminars, zweite umgearbeitete und den letzten approbierten Errungenschaften der Philosophie entsprechende Ausgabe, Muri: Verlag der Universität“, auf dem inneren Titelblatt findet sich die Widmung „Seiner Magnifizenz Walter Benjamin, Rektor der Universität Muri, damals wie heute gewidmet, zum 5. Dezember 1927, vom Verfasser“. Geschrieben hatte Scholem dieses humoristische Gedicht im Stile von Wilhelm Busch noch in Muri zu Benjamins 25. Geburtstag,112 gedruckt wurde es erst im Dezember 1927 in Berlin zu Scholems 30. Geburtstag, und zwar von seinen Brüdern Reinhold und Erich, die es für den „Berliner Bibliophilen-Abend“ herausbrachten.113
Einflüsse von außerhalb Ein weiteres Merkmal des Pilegesch-Kreises war die lockere, humorvolle Einstellung zu der erotischen, insbesondere homo-erotischen Komponente eines intellektuellen Männer-Klubs. Vermutlich war es nicht nur die Gruppe der Jünger von R. Schimon b. Jochai, dem angeblichen Verfasser des Sohar, die den Mitgliedern jenes Jerusalemer Zirkels vorschwebte, sondern ein weiterer, ganz anderer Zirkel, nämlich der Stefan-George-Kreis.114 Die Männer von Pilegesch waren zu einer Zeit in Deutschland aufgewachsen, als Georges Dichtung und Gedanken aus dem Kreis seiner Anhänger besonders auf die dortige Jugend
111 Zur Bekanntschaft von Benjamin und Scholem mit Eisler s. Scholem, ebd., 164f. und ders., Von Berlin nach Jerusalem, 157–163. Gedruckt sind diese kleinen Satiren in: Benjamin, Gesammelten Schriften, IV/1, 441–447, unter dem Titel Acta Muriensa. 112 Vgl. Scholem, Walter Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, 91. 113 Dazu Scholem, ebd., 179; Scholem/Scholem, Mutter und Sohn, Brief vom 21. 2. 1927, S. 154, Fn. 2. Der Text ist zugänglich in: Scholem, Tagebücher II, 307–310 sowie in: Scholem, The Fullness of Time, 70–85. 114 Zum George-Kreis ist sehr viel geschrieben worden; einen aktuellen Überblick über die Sekundärliteratur bietet Norton, Secret Germany. Unweit der Versammlungsstätte des Pilegesch-Kreises schrieb Scholems Jugendfreund Werner Kraft seine Monographie über Stefan George.
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großen Eindruck machten.115 In einem Schreiben an Erich von Kahler rekonstruierte Scholem 1964 seine Beziehung zu Georges Dichtung in seiner Jugend. Als Fünfzehnjähriger habe er sich von etlichen Gedichten Georges stark angesprochen gefühlt, aber gegenüber dem 1914 erschienenen Gedichtband Der Stern des Bundes habe er eine starke Abneigung empfunden, die sich seit damals nicht legte.116 Bereits in Scholems frühen Tagebüchern wird George gelegentlich satirisch erwähnt,117 und in dem alphabetisch angelegten Amtlichen Lehrgedicht der Universität Muri steht unter dem Buchstaben G: „Wer Gundolf auf den Goethe kriecht / Bekommt die Georgianer-Gicht“.118 Was Scholem hier hervorhebt, ist die gleichsam zweigleisige Beziehung zu George und dessen Kreis: Ablehnung des ideologischen und religiösen Aspekts und gleichzeitig Liebe zu dessen Lyrik. Scholems eigenes Verhältnis zu Georges Werk dürfte ähnlich differenziert gewesen sein, denn eine Beeinflussung durch dessen Dichtung ist in seinem Leben nicht selten wahrzunehmen. So befanden sich in seinem privaten Bücherbestand, der inzwischen als Gershom Scholem Bibliothek in die israelische Nationalbibliothek übernommen worden ist, acht Bände aus Georges Feder und weitere elf über ihn und seine Jünger.119 Scholems ambivalente Beziehung zu Stefan George äußerte sich etwa in einer Rede, die er kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 in Zürich hielt. Im Zusammenhang mit seiner Meinung zur Situation der Juden in der Welt angesichts der großen Ereignisse bekannte er sich zum Judentum als einer lebendigen, dynamischen 115 Ein Beispiel dafür, wie junge Deutsche, unter ihnen zahlreiche Juden, Stefan George rezipierten, ist etwa in der Autobiographie des rechtzeitig nach Palästina ausgewanderten Schalom Ben-Chorin zu finden; er schreibt: „Für mich war Stefan George Stern, Magnet und Verkündigung. In seiner Erscheinung begegnete mir nicht nur der Dichter, sondern der Seher“ (Ben-Chorin, Jugend an der Isar, 89, s.a. im Verzeichnis der Namen). 116 Scholem an von Kahler, 24. 12. 1964, in: Scholem, Briefe II, 118f. In seiner Autobiographie schreibt Scholem, er habe sich den Stern des Bundes gleich nach Erscheinen 1914 gekauft, aber „als ich ihn acht Jahre später wieder las“ [brachte er mich] „einiger wunderbarer Gedichte ungeachtet so auf, daß ich den Band aus meiner Bibliothek hinauswarf.“ (Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 19). 117 Etwa in: Scholem, Tagebücher 1, 363f. Scholems Verhältnis zu George behandelt Weidner, Das Dämonische. Der achtzehnjährige Scholem spielte mit dem Gedanken der Gründung eines „Bundes der Eiferer“, jugendliche Idealisten, die nach Palästina gehen sollten, um dort den Zionismus durch Landarbeit zu verwirklichen. Doch meldete er selbst Zweifel an der Realisierbarkeit eines solchen Projekts an und meinte, ein solcher Bund könnte „viel eher in Polen oder Rußland entstehen“ als in dem „vollkommen verseuchten Deutschland, wo er dann nur gleichsam ein jüdischer Georgianer-Bund sein würde, aus der vollkommenen Scheidung und dem Bruch, nicht aus der Verbundenheit mit der Sehnsucht des Volkes entstanden“ (364). Weidner (ebd., 232) liest aus dieser Stelle eine positive Haltung des jungen Scholem gegenüber dem George-Kreis heraus; ich kann ihm darin nicht zustimmen. 118 In: Scholem, Tagebücher 2, 308 und: Scholem, The Fullness of Time, 74. 119 Sogar ein Exemplar von Der Stern des Bundes befindet sich darunter, allerdings die Ausgabe von 1920, die unter den Büchern, die Scholem bei seiner Einwanderung 1923 mitbrachte, nicht verzeichnet ist (Scholem, Verzeichnis der Bücher, GSA, 11).
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Erscheinung mit Vergangenheit und Zukunft. Um diesen Punkt zu unterstreichen, zitierte er einen Vers aus einem deutschen Gedicht, den er mit folgenden Worten einführte: „Von einem großen deutschen Dichter stammt der Vers, es sei ‚Herr der Zukunft, wer sich wandeln kann‘“.120 Scholem verschwieg sowohl den Namen des Dichters als auch den des Werks, aus dem das Zitat stammte; auf diese zweifache Problematik hat sein Jugendfreund Werner Kraft nachdrücklich aufmerksam gemacht.121 Scholems Wahl dieses Zitats ist erstaunlich, zumal angesichts seiner Abneigung gegenüber Georges späten Gedichten. Es handelt sich nämlich um die Schlusszeile aus Georges umstrittenem Gedicht Der Krieg von 1917.122 Über die darin zum Krieg ausgedrückte Haltung gehen die Meinungen auseinander, und auch an den Teilen daraus, die rassistische und antisemitische Anschauungen wiedergeben, wurde Anstoß genommen.123 Die Tatsache, dass Scholem ein Zitat aus diesem Gedicht für eine Rede vor einem europäischen Publikum unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg wählte, veranschaulicht jedenfalls sein komplexes Verhältnis zur deutschen Kultur: Sie war und blieb ein wichtiger Bestandteil seiner geistigen Welt. Demnach war die Differenzierung zwischen Kritik an der Weltanschauung des George-Kreises und Wertschätzung seiner Gedichte ein Prozess, den Mitglieder von Pilegesch in ihrer Jugend durchgemacht hatten. Und diese ihre Kritik brachten sie auf originelle Weise zum Ausdruck. Der wichtigste erhaltene Beleg für die intellektuellen Resultate ihrer wöchentlichen Zusammenkünfte ist ein Heft mit dem Titel Nicht imaginäre Portraits, das zwanzig satirische Gedichte enthält, allesamt in deutscher Sprache. Die Gedichte sind verschiedenen Mitgliedern des Kreises sowie Personen aus deren Umfeld gewidmet. Diese kleine Gedichtsammlung ist nie regulär veröffentlicht worden; vielmehr ließ Sambursky das Heft 1960 drucken und verteilte es unter seinen Freunden. So existiert etwa zusätzlich zu den Exemplaren der Jerusalemer Nationalbibliothek in Samburskys Nachlass das Exemplar, das er dem Historiker Jacob Talmon geschenkt hatte; diesem beigefügt ist ein ausführliches Inhaltsverzeichnis samt Erläuterungen zu den Gedichten und deren Protagonisten: Leute aus dem Umkreis des Pilegesch.124 Verfasst sind die Gedichte von Sambursky, vielleicht unter Beteiligung weiterer Mitglieder des Kreises, und zwar in den Jahren 1937 bis 1957. 120 Scholem, Judaica 2, 48f. 121 Kraft, Gershom Scholem über Stefan George. 122 Dieses Gedicht erschien zunächst 1917 als Pamphlet, später erschien es wieder in Georges Gedichtsammlung Das neue Reich von 1928. In: Scholem, Verzeichnis der Bücher, GSA, die Scholem bei seiner Einwanderung mitbrachte, erscheint es als Nr. 520. 123 Kraft, Gershom Scholem über Stefan George, 45f.; Norton, Secret Germany, 544f., 546–548, untersucht ein paar problematische Strophen aus diesem Gedicht und zeigt, wie Georges Anhänger sich nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten, aus dem semantischen Komplex dieses Werks einen Ausweg zu finden. 124 Sambursky-Archiv, Ordner 95.
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In fast allen Gedichten werden zentrale deutsche Dichter parodiert, so z. B. Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke und eben Stefan George. Scholem ist einer der am häufigsten Porträtierten: Nicht weniger als vier der zwanzig Gedichte beleuchten verschiedene Facetten seiner Persönlichkeit auf humorvolle Weise, so etwa ein Gedicht mit dem Datum 15. Januar 1940, dessen Stil George imitiert: An Scholem Du fischer in dem pfuhl der finsterlinge Entrücktes stammeln deutest du als form Und wendest einen wirren wust von worten In kunstvoll langgefügter sätze sinn Verschwendend so des geistes hehren hort An stoffe die von niedrer ordnung sind. Du sollst aus Sohars schwelend schwarzen dünsten In den bereich des wahren lichtes tauchen Eh der frankisten faulig giftige früchte An dir ihr dunkles werk vollzogen haben.125
Im Zentrum dieses Gedichts steht Scholems wissenschaftliche Tätigkeit im Bereich der Erforschung von Kabbala und Sabbatianismus und deren möglicher negativer Einfluss auf seine Arbeit und Persönlichkeit. Etwa drei Jahre zuvor hatte Scholem seinen berühmten Aufsatz Erlösung durch Sünde veröffentlicht, in dem er die häretische Theologie der Sabbatianer nach dem Tod von Sabbatai Zvi bis hin zum Frankismus untersucht.126 Dieses Forschungsgebiet erregte schon vor und noch mehr nach dem Erscheinen von Scholems Studie in gewissen Kreisen viel Widerstand, während es in anderen Kreisen begeistert aufgenommen wurde.127 Auf den ersten Blick scheint dieses Gedicht die Haltung der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert zu vertreten, in deren Augen Kabbala und alles, was damit zusammenhing, etwas Verächtliches war und keine ernsthafte Betrachtung verdiente. Doch bei genauerem Lesen entsteht der Eindruck, dass die vertretene Meinung eher die von Scholem selbst ist, der sich als Pionier betrachtete, der ungeachtet der feindseligen Verachtung, die dem Forschungsgebiet entgegengebracht wurde, als Erster die Geschichte der Kabbala erforschte, oder in seinen eigenen Worten: „Als ich noch ein junger Spund war, zog ich mir eine Furche in dem Feld, das damals mir allein gehörte, denn niemand hatte sich die Mühe gemacht, es zu bebauen und zu bewahren“.128 Mit anderen Worten: Trotz der zwischen den Zeilen spürbaren kleinen Sticheleien 125 126 127 128
Deutscher Text auch bei Jonas, Erinnerungen, 152. Deutsche Übersetzung in: Scholem, Judaica 5. Dazu Werses, Haskala we-Schabtaut, 9–20; Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism. Hebräische Ansprache 1962 beim Erhalt des Rothschild-Preises: Even maassu haBonim (ein Stein, den die Bauleute verworfen haben), in: Scholem, Devarim bego, 64.
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war der Gesamttenor dieses Gedichts Scholem gegenüber durchaus wohlwollend. Möglicherweise oder tatsächlich gegen ihn erhobene Vorwürfe wurden ins Groteske übersteigert und auf diese Weise ins Lächerliche gezogen. Darüber hinaus wurden in anderen Gedichten auch Marotten, wie seine Vorliebe für Süßigkeiten und seine Wettleidenschaft humorvoll porträtiert.129 Die teils satirische, teils karikatureske Beschreibung der Mitglieder von Pilegesch ist durchwegs von freundschaftlichem Augenzwinkern begleitet. Etwas härter wurden Personen angegangen, die dem Kreis zwar nahestanden, aber nicht angehörten. So wurde etwa der Botaniker Ephraim Hareuveni, ein aus Russland stammender Erforscher der biblischen Flora an der Hebräischen Universität, im Titel des ihm gewidmeten Gedichts von 1938 als Nudnik apostrophiert, also als Quälgeist. Eine andere wichtige Figur, die den Mitgliedern des Kreises nahestand und damals ebenfalls an der Hebräischen Universität wirkte, war Martin Buber. Dieser wurde als Nummer 3 in Samburskys Sammlung etwas bissig porträtiert: Die Improvisation (M. B.) Noch steht er mit gesenktem Haupt, als fehle zur letzten Klärung ihm nur jenes Wort, das er schon längst, dass er es nicht verfehle, sich aufgeschrieben hat am rechten Ort. Dann löst die Hand sich, die noch eben schürfte und suchend schon das Neue ahnen ließ, und plötzlich sagt er es so stark, als dürfte nun keiner daran zweifeln, dass ihm dies erst jetzt gelang. Doch wie er seine Hörer so sehr im Banne seines Wortes spürt, dass sie voll Überraschung zu dem Lehrer aufschauen, wird auch er dazu verführt, dass er, nun völlig von sich hingerissen, schon selber daran glaubt und ohne Scheu, nicht mehr verkrampft, mit ruhigem Gewissen es wiederholt, als sei es wirklich neu.
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Manche der Gründe für diese respektlose Karikatur von Buber als Redner liegen wohl in den Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und zumindest einigen Mitgliedern des Kreises. Was hier angeprangert wird, ist die auch anderswo bezeugte Theatralik seines öffentlichen Auftretens. Eine analoge Schilderung übermittelt etwa Nahum Glatzer, in seiner Jugend Bubers Assistent in Frankfurt: 129 So etwa das vierte von den Nicht imaginären Portraits, abgedruckt bei Jonas, Erinnerungen, 165f.
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Buber was preparing an address he was to deliver. He wrote the text, then by reading it over had it committed to memory. But when he delivered the speech the audience was made to believe that the speaker was struggling over the ideas as they came to him at the moment, that he was coining the beautiful phrases, that the quotations and allusions just occurred to him at the moment. He paused for moments of reflection, placed his hand to his large forehead to help the flow of ideas, etc. But everything was planned in advance, the text, the phrases, the quotations, the allusions, the spontaneity, and the inspiration. If this is theater, it is at least good theater.130
Einen weiteren Grund, weshalb sich Buber bei den Mitgliedern von Pilegesch, die zumindest nach außen hin als praktizierende Zionisten erschienen, keiner ungetrübten Zustimmung erfreute, sprach Sambursky in einem hebräisch geführten Interview von Anfang 1990 unverblümt an; auf die Frage nach etwaiger Beeinflussung durch Buber antwortete er: Für meinen Kreis galt das nicht. Buber lernte ich 1934 in Berlin kennen, wo ich ihn zusammen mit Salman Schocken aufsuchte. Was mich damals an Buber störte, war die Tatsache, dass er überhaupt nicht an Einwanderung dachte; er kam erst 1938. Dass er zionistische Reden schwang und dabei in Deutschland wohnen blieb, machte auf uns einen sehr schlechten Eindruck.131
Ähnlich beschrieb Scholem im Winter 1974 seine Enttäuschung von Buber und dessen politischem Weg: „Buber sprach große Worte, die sehr extrem und radikal klangen, zog aus ihnen aber keinerlei Konsequenz. Als die Zeit der Klärung und der praktischen Konsequenz kam, schloß er sich den religiösen Sozialisten in Deutschland an und nicht den Leuten von Degania“.132 Und an anderer Stelle äußerte Scholem zur selben Sache: „Buber, dessen Gespräche, Reden und Aufrufe um das Wort ,Verwirklichung‘ kreisten, hatte sich, so schien es den Enttäuschten, ihr verweigert“.133 Sambursky und Scholem (und nicht nur sie) nahmen Anstoß an der Diskrepanz zwischen Bubers Reden und Handeln; er sprach als Zionist, handelte aber nicht entsprechend, denn seinen Wohnsitz verlegte er erst 1938 nach Palästina, als er schlechterdings nicht mehr nach Deutschland zurück konnte. Das war wohl einer der Gründe dafür, dass sich die Mitglieder von Pilegesch von ihm distanzierten, und um diese Abgrenzung zu markieren, war die Satire ein vortreffliches Mittel.
130 Glatzer, The Memoirs, 101. 131 Das Interview führten N. Ofek und P. Mendes-Flohr, in: Itton 77, 13 (Januar/Februar 1990), 28–31, 53. 132 Scholem, Es gibt ein Geheimnis in der Welt, 65. Degania war der erste Kibbuz im Land, gegr. 1910. 133 Scholem, Judaica 2, 135; Mendes-Flohr, Martin Buber’s Reception among Jews, 121–122.
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Persönliche Freundschaften Abgesehen von dieser Gedichtsammlung gibt es im Scholem-Archiv noch etliche weitere Belege für die Zusammenkünfte des Kreises und für die zentrale Rolle, die Scholem darin spielte. So findet sich unter den verschiedenen Glückwünschen zu Geburtstagen und sonstigen Anlässen ein Gedicht von Polotsky und Jonas vom 25. August 1937 zum 20. Jubiläum des Tages, an dem Scholem wegen (vorgetäuschter) seelischer Störungen aus der deutschen Armee entlassen worden war, oder ein von Lewy verfasster Text zum 15. August 1940, der bei einer Feier zum 25. Jahrestag des Beginns von Scholems „schriftstellerischer Tätigkeit“ im Hause Schocken verlesen wurde. Zum selben Anlass schrieb Hans Jonas, der sich 1939 zum Dienst in der britischen Armee gemeldet hatte und in Zypern stationiert war, einen Text im Stile von Thomas Manns Zauberberg; darin findet sich folgende humoristische Beschreibung von Scholem in der Rolle des „Fremden“: Auf langen Beinen daherschreitend, die bei jedem Schritt eine leichte Auswärtsbewegung beschrieben, sodass sie der ganzen Gestalt eine Art von Schlingern mitteilten; mit langen Armen und riesigen Händen gestikulierend, wobei die eine noch ihr besonderes Spiel mit einem Gegenstande trieb, der sich bei näherem Zusehen als ein in rastlosem Zwirbeln abwechselnd zu einem Röhrchen gerollter und wieder entrollter Papierstreifen erwies; den Oberkörper leicht vorgebogen und den Kopf aus dem Nacken nochmals vorgeschoben; mit Ohren, deren Ausmaße denen der anderen Extremitäten nicht nachstanden – hatte die Gestalt des Fremden trotz des im gesitteten Abendlande üblichen Sakko-Anzuges, mit dem sie bekleidet war, wohl infolge ihrer vielfältig schlenkrigen Bewegungen etwas so Phantastisches, und wir möchten sagen, Flatterndes an sich, dass es die Freunde kaum gewundert hätte, wenn er bei einbrechender Dämmerung wie eine Fledermaus schwärzliche Flügel entfaltet und sich schaukelnden Fluges über das in Dunkel sinkende Tal hin entfernt hätte.134
Humor und Satire dienten demnach zur Abgrenzung der Gruppe sowohl von außen nach innen als auch umgekehrt. Nach außen bildeten sie eine Barriere zwischen Eingeweihten und Nahestehenden, im Innern fungierten gutmütige Neckereien als Grundlage einer freundschaftlich intimen Kommunikation, die Scholem in seinem schon erwähnten Nachruf auf Hans Lewy als „ernsthaft mit humorvollem Augenzwinkern“ charakterisierte. Obwohl über die Vorgänge innerhalb dieses geschlossenen Kreises kaum etwas bekannt ist, gibt es ein paar wenige Zeugnisse, die darauf schließen lassen, dass die Beziehungen der Mitglieder untereinander durchaus nicht immer eindeutig und spannungsfrei waren. 134 Dieser Text sowie die beiden vorerwähnten im GSA, Ordner 16. Abgedruckt ist letzterer Text zur Gänze bei Wiese, Zusammen Philosoph und Jude, 69–71.
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Der deutlichste Beleg dafür ist ein (deutscher) Brief vom 26. Februar 1938, in dem Lewy Scholem, der sich damals im Ausland befand, über die Mitglieder des Klubs (mit Ausnahme von Lichtheim) berichtet. Der Brief handelt hauptsächlich von den dramatischen Ereignissen in Samburskys Leben; darauf folgt ein Abschnitt über Hans Jonas und dessen Beziehungen zu Lewy: Jonas bereitet sich zu einem Husserlgedenkvortrag vor, den er auf Bergmanns Einladung hin an der Universität halten soll (am 7.VI.). Da ich mit ihm (Jonas) Mittag esse, habe ich mitunter schwer zu leiden. Die ganze Lehre erscheint mir als eine Mischung von Naivität und Hybris, was ich aber nur vor Ihnen auszusprechen wage, da ich da nichts mehr zu verlieren habe. Es ist mir jedenfalls selten etwas so Unsympathisches zu Ohren gekommen. Da ich nicht „mitgehen kann“, so ist die Stimmung z. Z. zwischen uns etwas gereizt, was aber ab 8.VI. sich bessern wird. Bergmann und Buber wollen versuchen Jonas zu lancieren, ich weiß nicht wie und halte mich still, um nicht als Miesmacher zu gelten. Sein Buch ist noch lange nicht am Ende, es wird wieder sehr tiefsinnig und die Lektüre viel Schweiß kosten. Wir hatten darüber viele interessante Gespräche; seine Idee, Plotin zum Gnostiker zu machen, ist mittlerweile systematisch fundiert worden, hoffentlich stimmen nur die philosophiegeschichtlichen Prämissen. Er ist mir darin viel zu großzügig.135
Die hier von Lewy geschilderte Spannung stellt eine Ergänzung der Perspektive von Jonas dar, dessen Erinnerungen so ziemlich das einzige veröffentlichte Zeugnis über die Beziehungen der Pilegesch-Mitglieder untereinander bilden. Aus Lewys Brief geht einerseits hervor, dass neben den allwöchentlichen Zusammenkünften zwischen einigen Mitgliedern weitere private Kontakte bestanden;136 andererseits waren die Beziehungen komplexer und ambivalenter, als sie aus dem Abstand von Jahrzehnten erscheinen mochten. Dazu gehören auch Unstimmigkeiten vor dem Hintergrund fachlicher Divergenzen, wie die oben von Lewy geschilderte. Nicht nur über das Bestehen des Pilegesch-Kreises sind die Nachrichten spärlich, auch über sein Ende ist wenig bekannt. Dass Jonas 1943 zur britischen Brigade eingezogen wurde und nach Italien ging, hat sich sicherlich auf die Situation der Gruppe ausgewirkt, stärker noch Lewys unzeitiger Tod 1945, der als tragischer Verlust empfunden wurde. Im Herbst 1945 verließ auch George Lichtheim Palästina. Dazu kam, dass die Mitglieder der Gruppe sich (zum Teil: wieder) verehelichten, die Frauen aber nicht Teil der Gruppe wurden. Vielleicht hatten sich die wöchentlichen Zusammenkünfte innerhalb von zehn Jahren auch einfach totgelaufen, so dass sich die Gruppe ohne großen Aufhebens auflöste, 135 Hans Lewy an Gershom Scholem, im GSA, Korrespondenz Lewy. 136 Jonas (Erinnerungen, 151) bezeugt tägliche Begegnungen mit Lewy: „Mit Hans Lewy […] traf ich mich täglich, weil wir gemeinsamen Mittagstisch hatten, meist bei ihm zu Hause, weil dort jemand für ihn kochte, zeitweise auch bei mir – dann kochte meine Vermieterin, Frau Erlanger. Hans Lewy war mein engster, vertrautester Freund“.
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was in dem Gedicht aus Samburskys Sammlung angedeutet scheint, das den Kreis insgesamt porträtiert: Der Klub Die Sabbate verrannen wie ein Wasser, das immer schwächer fließt und dann nicht mehr. Die späten Jahre waren nur ein blasser Reflex der ersten Zeit, die schon so sehr zurücklag, dass sie heimlich sie verklärten, denn seltener nur kamen unverhofft die blendenden Duelle und gelehrten Disputationen. Doch sie übten oft das Stummsein, welches ihnen nie verdorrte, und wo sie fruchtbar waren und gescheit. Und in dem Ring des Schweigens und der Worte schritt Eines unerbittlich fort: die Zeit.
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Um 1945 herum dürfte sich der Pilegesch-Kreis aufgelöst haben, aber damit endete weder die Erinnerung daran noch die Freundschaft von einzelnen Mitgliedern untereinander. Sambursky und Scholem etwa blieben noch über viele Jahre hin befreundet. Lichtheim, der nach London gezogen war, wo er bis zu seinem Selbstmord ein einsames Leben führte, wahrte den Kontakt zu seinen Freunden in Jerusalem und behielt jene Jerusalemer Jahre als seine glücklichste Zeit in Erinnerung.137 Auch Jonas und Scholem unterhielten jahrelang eine persönliche und intellektuelle Freundschaft, die manches Auf und Ab erlebte.138
Zum Abschluss. Eine neue Identität Die Geschichte des Pilegesch-Kreises ist die einer Gruppe von Intellektuellen, Jeckes in den besten Jahren, die aus zionistischer Überzeugung ins Land gekommen waren; einige von ihnen waren auch in anderen Kreisen wie etwa Brit Schalom aktiv gewesen, die meisten waren an der Hebräischen Universität tätig. Ein Jahrzehnt lang kamen sie jeden Sabbat-Nachmittag in Rechavia zusammen und unterhielten sich auf Deutsch. Aus der Geschichte dieses Zirkels sind mancherlei Einsichten in die damalige Situation im Land und in die Funktion der verschiedenen Kreise im Leben der Einwanderer zu gewinnen. Die Mitglieder des Pilegesch-Kreises waren, wie gesagt, alle aus zionistischen Motiven eingewandert, samt den damit verbundenen Erwartungen, Idealen und 137 Jay, The Loss of George Lichtheim. 138 Zu den Beziehungen zwischen Jonas und Scholem s. Wiese, For a Time I was privileged to enjoy his friendship; ders., Zusammen Philosoph und Jude, 63–95.
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Enttäuschungen. Und ein weiteres wichtiges Merkmal hatten diese Männer gemeinsam: Ein eklektisches Zusammenspiel von jüdischer Tradition, insbesondere der mystischen, und deutscher Kultur, beides verknüpft durch Humor und Satire. In diesem kulturellen Verschmelzungsprozess ist meines Erachtens eine Tendenz zu sehen, durch die die Hebräisch sprechende Bevölkerung des Landes in jenen Jahren zusammengehalten wurde: der Wille zur Schaffung einer neuen Identität auf individueller wie auf kollektiver Ebene sowie das langwierige und vielschichtige Ringen um die Herausbildung dieser Identität. Der Rückgriff auf Texte verschiedenster Herkunft zur Konsolidierung einer neuen Identität innerhalb einer im Entstehen begriffenen Gesellschaft (wobei fragmentarische Erinnerung an Vergangenes, die Herausforderung der Gegenwart und die Aussicht auf Zukünftiges mitspielten) galt auch für die Angehörigen anderer Kreise zu jener Zeit. Allen gemeinsam war die Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des Landes, die Verwendung von Mitteln, die aus dem Erbe des jeweiligen Herkunftslandes herrührten, und die Bemühung, eine künftige Identität in einer komplexen und widerspruchsvollen Gegenwart zu konstruieren. Mit anderen Worten: Der Übergang von der europäischen Vergangenheit zur erhofften Konstituierung des jüdischen Volkes im Land Israel zeitigte häufig eine von Zerrissenheit und Fremdheit erfüllte Gegenwart. Um diese Fremdheit zu überwinden und gewissermaßen aus dem Nichts eine neue Identität zu schaffen, wurden vertraute Baumaterialien zu Hilfe genommen, dialektisch verbunden mit neuen Elementen, die im Land Israel zur Verfügung standen. Doch während politische Vereinigungen wie etwa Brit Schalom (dem, wie gesagt, einige Mitglieder von Pilegesch angehört hatten) die Suche nach einer lebendigen jüdischisraelischen Identität in der Koexistenz mit den palästinischen Arabern öffentlich vollzogen, suchten die Männer von Pilegesch ihre persönliche Identität im privaten Kreis, als Mitschaffende am kollektiven zionistischen Werk und gleichzeitig als Migranten, die mit den individuellen Schwierigkeiten des Wechsels aus der einen Heimat in die andere zu kämpfen hatten. Und was die Funktion der Satire betrifft: Schon oben wurde der hohe Stellenwert von Sprache und Humor angesprochen, durch den sich die Gruppe definierte, indem sie einen Diskurs für Eingeweihte schuf, der für Außenstehende weitgehend unverständlich war. Dieser Humor war nicht nur eines der Merkmale, das die Gruppe zusammenhielt, sondern darüber hinaus das kulturelle Mittel zur internen Verständigung – eine Intimsprache, die sich die Mitglieder schufen und mit der sie sich von der Außenwelt abgrenzten. Dafür spricht auch die Beobachtung, dass Sambursky das Exemplar seiner Gedichtsammlung, das er Jacob Talmon, einem Nicht-Mitglied, überreichte, mit Erläuterungen versehen musste, denn sonst hätte dieser einen Großteil des darin enthaltenen Humors nicht verstanden. Allerdings ist Satire etwas schwer Fassbares – wer sie von außen zu begreifen versucht, hat seine Mühe damit, denn wenn Humor erst
Pilegesch: Ein intimer Kreis
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erklärt werden muss, verliert er viel von seiner Wirkung. Satire braucht wohl vor allem Schweigen, das Schweigen von Eingeweihten, begleitet von einem halb belustigten, halb ernsthaften Lächeln. Diese Form humorvoller Interaktion sollte die erheblichen Schwierigkeiten mit der Realität in Palästina überspielen helfen. So charakterisiert Scholems intimer Gegner, der Literaturkritiker Baruch Kurzweil, die Satire etwa wie folgt: Eine Erschütterung des Bewusstseins, wodurch die Wirklichkeit ganz anders wahrgenommen wird, bildet die Ausgangsbasis für die Satire. Dahinter steht das Vertraute, das Bekannte, was den Grundpfeilern des Lebens und der Richtigkeit des vor Augen Stehenden eine gewisse Sicherheit verleiht. Eine große, enttäuschte Hoffnung, eine glühende, unglückliche Liebe – das sind die Hintergründe für die Satire. Ihre Erfolge sind durch Schmerz und Verzweiflung erkauft, ihr Gelächter ist unterdrücktes Weinen. Zwei Realitäten prallen in jeder Satire aufeinander: die Realität, wie sie ist, und die Realität, wie sie sein sollte.139
Vielleicht bestand darin das eigentliche Geheimnis jenes intellektuellen Klubs im Jerusalemer Stadtteil Rechavia: das in den gegenseitigen Beschreibungen der Mitglieder ständig wiederkehrende Motiv, die Verwischung der Grenzen zwischen Ernst und Scherz, zwischen Wirklichkeit und Utopie. Das Motto „mit Witz im Ernst und Ernst im Witz“, mit dem Hans Jonas in seinem bereits erwähnten Kondolenzschreiben an Scholems Witwe dessen Rolle im Pilegesch-Kreis beschreibt, mag die Weltanschauung auch der übrigen Mitglieder charakterisieren.
139 Kurzweil, Be-Maawak al erkej ha-Jahadut, 55.
3.
Religiöse Zusammenhänge Die „wahre“ Sprache kann nicht gesprochen werden, sowenig wie das absolut Konkrete vollzogen werden kann. Gershom Scholem, 19571
a.
Schalschelet ha-Kabbala: Die Überlieferung
Wie erwähnt, war die Idee der Sammlung ein höchst wichtiger Faktor in Scholems Entwicklung, insbesondere bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Hinter seinen in jenen Jahren verfassten Arbeiten stand die Sicht der Anthologie als Gattung, die Aspekte der kulturellen und nationalen Erneuerung des Judentums in sich vereinigt. Wie Agnon und Bialik, in seinen Augen die Protagonisten des Projekts der Sammlung, suchte auch Scholem den Abgrund zwischen den Generationen zu überbrücken. Durch die Erforschung der Kabbala beabsichtigte er, die dem Judentum trotz des Bruchs mit der vorangegangenen Generation innewohnende Tradition aufzunehmen und sie gemäß seinem Verständnis an die künftigen Generationen weiterzuvermitteln. Doch abgesehen von der oben ausführlich behandelten Beeinflussung durch Agnon und Bialik wird im Folgenden gezeigt, dass Scholem seine eigenen Vorstellungen von der Aufgabe des Sammelns hatte, die sich von der seiner Mitstreiter in manchem unterschied. So achtete Scholem sorgfältig auf philologischwissenschaftliche Genauigkeit, worauf Bialiks populär ausgerichtete Bemühungen, ähnlich wie jene Bubers, verzichteten, und im Unterschied zu Bialik betrachtete Scholem das Hebräische nicht als die alleinige Sprache, in der Sammlungen jüdischer Texte zu veröffentlichen seien. An diesem Punkt stand Scholem den Anthologien von Berdyczewski näher, die er, wie erwähnt, sehr schätzte. Solch sprachliche Kompromissbereitschaft stand im Gegensatz zu dem Plädoyer für das Hebräischstudium, das Scholem vor seiner Einwanderung energisch abgegeben hatte. Das war ein Kernpunkt seiner Kritik an Buber und an den jüdischen Jugendbewegungen in Deutschland: „Ich habe immer gepredigt“, resümierte Scholem Jahre später, „die jungen Leute sollten sich erst mal hinsetzen, 1 Scholem, Zehn unhistorische Sätze über Kabbala (1957), in: Judaica 3, 271.
Schalschelet ha-Kabbala: Die Überlieferung
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Hebräisch lernen und etwas über ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart erfahren, anstatt sich in romantischen Erlebnissen zu ergehen“.2 Obwohl seine Auswanderung aus Deutschland unter Verzicht auf eine wissenschaftliche Karriere dort und seine Einwanderung ins Land Israel von scharfer Kritik am Verhalten der deutschen Juden sowie von Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in Deutschland überhaupt begleitet waren, veröffentlichte Scholem während all dieser Jahre weiterhin auf Deutsch. Er übersetzte Stücke hebräischer Literatur ins Deutsche, und seine in verschiedenen deutschen Zeitschriften erschienenen Rezensionen und Abhandlungen machen quantitativ wie qualitativ einen erheblichen Anteil seines akademischen Schaffens in den Jahren nach seiner Auswanderung aus. Das spricht wohl dafür, dass es ihm doch an Anerkennung durch ebenjenes Publikum gelegen war, dem er den Rücken gekehrt hatte. Dieser Widerspruch lässt sich meines Erachtens durch die innere Dialektik erklären, die häufig mit dem Wechsel aus einer Welt in eine andere einhergeht. Das größte Problem bei einem solchen Übergang ist natürlich das der Sprache. Vermutlich fiel es Scholem in jenen Jahren noch leichter, Deutsch zu schreiben als Hebräisch, daher war es ihm bequemer, in Deutschland zu veröffentlichen. Außerdem belief sich damals die Zahl der wissenschaftlichen Organe in hebräischer Sprache zahlenmäßig auf niedrigem Niveau, worunter er zu leiden hatte. „Ich habe mit meinen Arbeiten kein Glück“, klagte er 1925, ca. zwei Jahre nach seiner Emigration, in einem Brief an Buber, dem er seinen Aufsatz Alchemie und Kabbala zuschickte, „es ist kein Ort da, weder hebräisch noch deutsch, wo forschende, nicht resümierende oder reflektierende Arbeiten über Kabbala gedruckt werden“.3 In seinem berühmten Schreiben an Bialik vom Juli desselben Jahres bemerkt er allerdings bedauernd, seine Bücher würden auf Deutsch gedruckt, weil er keine Möglichkeit gefunden habe, sie auf Hebräisch erscheinen zu lassen.4 Der Hauptteil seiner sozialen und professionellen Netzwerke befand sich immer noch in Deutschland, und die Schwierigkeiten, im Land Israel ein neues aufzubauen, trugen mit dazu bei, dass sich seine Verbindungen zu den deutschen Juden trotz – oder vielleicht gerade wegen – seines abrupten Weggangs aus dem Zentrum zur Peripherie sogar verstärkten. In diesem Zusammenhang ist auf die Dialektik hinzuweisen, wenn Zentrum und Peripherie vertauscht werden: Beide sind ja aufeinander angewiesen, da sie einander definieren. Einerseits bezeugt die Tatsache, dass Scholem all diese Jahre lang weiterhin auf Deutsch publizierte, dass er das Zentrum jüdischer Kultur immer noch in Deutschland sah; andererseits ist jedoch zu bedenken, dass die Peripherie ohne die Anerkennung durch das alte 2 Scholem, Rezifut u-Mered, 116; s.a. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 85f.; Schäfer, Berliner Zionistenkreise, 135–141. 3 Scholem an Buber, 2. 6. 1925, GSA, Korrespondenz Buber. Scholems Artikel wurde gedruckt in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 69 (1925), 13–30, 95–110. 4 Auf Deutsch in: Scholem, Judaica 6, 55–67.
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Religiöse Zusammenhänge
Zentrum nicht zum neuen Mittelpunkt werden konnte. Oder anders gesagt: Dadurch, dass Scholem als in Israel lebender Forscher und Professor an der Hebräischen Universität in Deutschland wissenschaftliche Arbeiten erscheinen ließ, die dort anerkannt wurden, verschaffte er Palästina/Israel eben die Anerkennung, die erforderlich war, um zum neuen Zentrum zu werden. Gleichzeitig war die Veröffentlichung seiner Arbeiten in Deutschland das Eingeständnis, dass dort weiterhin das kulturelle Zentrum lag, dessen Zustimmung es einzuholen galt. Jedenfalls musste und wollte Scholem seine Arbeiten in Deutschland publizieren, weil eine Kluft bestand zwischen Deutschland als Zentrum jüdischer Kultur und Palästina, das auch kulturell sehr am Rand von Europa lag. Die Mitte der zwanziger Jahre, als Scholem die beiden eben angeführten Briefe verfasste sowie jenes Schreiben an Werner Kraft, aus dem im ersten Kapitel zitiert wurde, war genau die Zeit, in der sich ein hebräisches literarisches Zentrum in Palästina zu konsolidieren begann. Den Beginn dieses Vorgangs sieht Zohar Shavit 1924 mit der Einwanderung von Bialik und der Verlegung des Dvir-Verlags nach Palästina. Damit seien vier Jahre kultureller Stagnation in Palästina zu Ende gegangen, und ein Prozess habe eingesetzt, mit dessen Abschluss das Land Israel seine Hegemonie im Bereich der hebräischen Kultur behaupten konnte.5 Die zunehmende Einwanderung, insbesondere die aus Deutschland nach 1933, samt der allmählichen Liquidierung des jüdischen Kulturlebens in Deutschland, führte zur Festigung des jüdischen Kulturzentrums in Palästina. Scholem selbst war daran beteiligt, etwa durch die Gründung der bibliographischen Zeitschrift für jüdische Studien Qiryat Sefer (1924) sowie durch die gewichtigen Beiträge, die er dort und in anderen lokalen Zeitschriften veröffentlichte. Doch bei allem guten Willen fühlte er sich ein gutes Jahr nach seiner Einwanderung in seiner Jerusalemer Umgebung mit „ursprünglicher, originaler (um nicht zu sagen originärer) Dummheit von Juden“ konfrontiert und sah am einen Ende des Spektrums seiner dortigen Zeitgenossen „Gartenlaubenfiguren auf Hebräisch“, am anderen „die letzten Kabbalisten“.6 Unter den Hebräischsprechern im Land, mit denen sich Scholem trotz thematischer Nähe häufig nicht gut verstand, waren nicht nur die Vertreter eines revisionistisch geprägten Zionismus, an der Hebräischen Universität repräsentiert durch Joseph Klausner, sondern auch „jene letzten Kabbalisten“, von denen er in Jerusalem einige antreffen konnte. Scholems mangelnde Beziehung zu den Kabbalisten seiner Zeit hat die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen.7 5 Shavit, Ha-Schlawim ha-ijkarjim, 91. Zur Etablierung des Landes Israel als literarisches Zentrum seit Beginn der zwanziger Jahre s.a. Sheffi, Vom Deutschen ins Hebräische, 116, 137. 6 Scholem an Werner Kraft, 17. 12. 1924, in: Scholem, Briefe I, 222; ausführlich zitiert im ersten Kapitel. 7 Dazu Huss, Ask No Questions; Meir, Rechowot ha-Nahar; Huss, Authorized Guardians.
Schalschelet ha-Kabbala: Die Überlieferung
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Für diese Diskussion ist vor allem die Beobachtung der Fremdheit wichtig, die Scholem gegenüber den praktizierenden Kabbalisten seiner Zeit empfand. Der Kabbalist erscheint Scholem als das Gegenstück, sozusagen das Negativ zum „aufklärerischen Kritiker“: Der Kabbalist selbst lebt in dieser Welt der jüdischen Mystik. Er reiht sich bewußt und freudig in die lange Kette der mystischen Überlieferung ein und sieht sie von innen her. Damit gewinnt er unmittelbaren Anschluß an das, was in dieser Generation von dem geistigen Gut dieser Bewegung etwa lebendig geblieben ist. Aber er verzichtet und muß wohl verzichten auf viele Fragestellungen, die der Wissenschaftler nicht aufgeben kann, ohne sich selbst aufzugeben. Er lebt in der Kabbala – aber auch das nur in einem sehr bedingten Maße. Stellt doch die jüdische Mystik eine Bewegung dar, die nun etwa 2.000 Jahre hindurch in immer neuen Gestalten, mit immer neuen Fragen und Antworten das religiöse Anliegen ihrer Träger auszudrücken versucht hat. Es handelt sich hier keineswegs um eine ihrem Lehr-, ja auch nur ihrem Gefühlsgehalt nach durchaus einheitliche Bewegung. Allzu verschieden sind die Quellen und Antriebe gewesen, die das religiöse Interesse der Mystiker angeregt, ihre Phantasie und ihr Denken bewegt haben. Dennoch unternahmen diese es immer wieder, diese ganze Welt, soweit ihre Dokumente ihnen noch erreichbar und verständlich waren, als eine einheitliche harmonistisch zu interpretieren, wobei denn fast durchwegs das Ganze dieser Welt im Lichte des jeweils letzten Stadiums der Entwicklung gesehen wurde. Die Fragen und Antworten des letzten Systems – und an Systemen und Systemfragmenten hat es der Kabbala nicht gefehlt! – wurden allzu leicht in alle früheren hineingelesen. Solle doch diese Kabbala oder, wie ihr Name sagt, geheime „Überlieferung“ nichts sein als die verlorene Urtradition der ersten Menschen über die göttlichen Dinge. Historischer Sinn und historische Kritik waren niemals die starke Seite der Mystiker.8
Der Kabbalist wird hier von Scholem geschildert als in der mystischen Überlieferung – anders gesagt: im mystischen Kanon – gefangen, einem System verhaftet, dem er sich fraglos unterordnet. Daher sei seine Sicht unkritisch, und es mangele ihm an historischer Perspektive. Dem Kabbalisten stellt Scholem den Wissenschaftler gegenüber, d. h. sich selbst. Im Gegensatz zu der angeblich für den Kabbalisten charakteristischen Sehweise, die Einheitlichkeit im Bereich der Erscheinungen sucht, hat der Wissenschaftler die Aufgabe, Fragen zu stellen wie auch die Vielfalt der Erscheinungen und Dynamik der mystischen Überlieferung herauszuarbeiten. Das Gegenstück zur Passivität der Kabbala, der Überlieferung, bildet die Aktivität der Forschung. Mir scheint, Scholems Geringschätzung des geistigen Lebens vor Ort hing damit zusammen, dass er das Gefühl hatte, aus dem Zentrum an die Peripherie gekommen zu sein, auch wenn diese ihrerseits am Beginn eines kulturellen Entwicklungsprozesses stand, aus dem sie als eigenständiges Zentrum hervorgehen sollte. Im Grunde war Scholems Erkenntnis,
8 Scholem, Kabbala-Forschung und jüdische Geschichtsschreibung, 27f.
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Religiöse Zusammenhänge
dass er in der Peripherie gelandet war, eng mit seinem zionistisch-utopischen Bestreben verknüpft, die Peripherie ihrerseits in ein Zentrum zu verwandeln. Was Scholems negative Haltung gegenüber den Kabbalisten seiner Zeit betrifft, so meint Boaz Huss, diese rühre aus seiner niedrigen Bewertung der Mystik her, im Sinne der Prämissen der modernen Kabbala-Forschung, die aus dem modernistischen, zionistischen und orientalistischen Diskurs hervorgegangen sei. Scholem habe die zionistisch-akademische Erforschung des Judentums überhaupt und speziell der Kabbala als einen Bestandteil der geistigen Erneuerung des Judentums betrachtet und gemeint, mit philologischen und historischen Methoden das metaphysische und mystische Fundament der Kabbala ergründen zu können.9 Huss weist darauf hin, wie Scholem in dem bekannten Schreiben zu Salman Schockens 60. Geburtstag am 29. Oktober 1937 seinen eigenen Zugang zur Kabbala schildert: Denn der Berg, das Korpus der Dinge, bedarf gar keines Schlüssels; nur die Nebelwand der Historie, die um ihn hängt, muß durchschritten werden. Sie zu durchschreiten – daran habe ich mich gemacht. Ob ich im Nebel stecken bleibe, sozusagen den „Tod in der Professur“ erleiden werde? Aber die Notwendigkeit der historischen Kritik und kritischen Historie kann, auch wo sie Opfer verlangt, durch nichts anderes abgegolten werden. Gewiß, Geschichte mag im Grunde Schein sein, aber ein Schein, ohne den in der Zeit keine Einsicht in das Wesen möglich ist. Im wunderlichen Hohlspiegel der philologischen Kritik kann für heutige Menschen zuerst und auf die reinlichste Weise, in den legitimen Ordnungen des Kommentars, jene mystische Totalität des Systems gesucht werden, dessen Existenz doch grade in der Projektion auf die historische Zeit verschwindet. In diesem Paradox, aus solcher Hoffnung auf das richtige Angesprochenwerden aus dem Berge, auf jene unscheinbarste, kleinste Verschiebung der Historie, die aus dem Schein der ‚Entwicklung“ Wahrheit hervorbrechen läßt, lebt meine Arbeit, heute wie am ersten Tag.10
Daraus geht deutlich hervor, dass die Kabbala-Forschung für Scholem letzten Endes einen metaphysischen oder religiösen Stellenwert einnahm. Allerdings scheint mir hier keine Alternative oder Aufhebung der religiösen Tradition intendiert, sondern eine Parallel-Überlieferung. Neben die „lange Kette der mystischen Überlieferung“ des Kabbalisten ist die Kette der Überlieferung zu stellen, der Scholem angehörte, und zwar der oben ausführlich erörterte zionistischliterarische Kanon, dessen Konturen innerhalb des Projekts der Sammlung versuchsweise nachgezeichnet wurden. In diesem Sinne ist auch Scholems nachdrückliche Feststellung in dem Schreiben an Schocken zu verstehen, „die 9 Huss, Ask No Questions, 142–145. 10 In: Scholem, Briefe I, 471f.
Schalschelet ha-Kabbala: Die Überlieferung
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Notwendigkeit der historischen Kritik und kritischen Historie“ könne „durch nichts anderes abgegolten werden“. Wie jede andere hatte auch diese Tradition ihre eigenen Gesetze, was ihr Weltverständnis betrifft. Diese Regeln, Werkzeuge zur Untersuchung des Vergangenen, die für Scholems Tradition galten, standen in konträrem Gegensatz zu den Gesetzen der Kabbalisten; und ähnlich gelagert war der Gegensatz zwischen den jeweiligen autoritativen Quellen, aus denen die eine und die andere Tradition ihre Verbindlichkeit ableiteten. Wenn – laut Scholem – für den Kabbalisten die Autorität aus dem Empfang der Tora herrührte, dann kam sie für den Forscher aus der historischen Untersuchung, deren Bezugspunkt die Wissenschaft des Judentums war. Doch das Ziel des Wissenschaftlers besteht, ähnlich wie das des Kabbalisten, in dem Versuch, wieder zu dem ursprünglichen Verständnis des Anfangs zurückzukehren. So beschrieb Scholem 1937 seine akademische Tätigkeit in Jerusalem als das Bemühen, „aus diesem ungeheuren geistigen Trümmerfeld [von Zeugnissen der alten Kabbala – N.Z.] den ursprünglichen Bau und seine Gestaltveränderungen“ wiederherzustellen.11 Ich habe nicht den Eindruck, dass Scholem seine Historiographie und Kabbala-Forschung hier als säkulare Ausläufer der mystischen Überlieferung selbst darstellt.12 Eigentlich handelt es sich um zwei parallele Traditionen, zwischen denen keinerlei Berührung möglich ist. So lässt sich erklären, weshalb Scholem für die zeitgenössische Kabbala und die Welt der Jerusalemer Kabbalisten in den Jahren nach seiner Einwanderung so wenig übrig hatte; verständlich wird auch die klare Trennlinie, die er im letzten Satz seines Buches Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen zwischen der Wissenschaft und der Religion zog: Über das Schicksal und den mystischen Wandel zu sprechen, der in der großen Katastrophe, die über das jüdische Volk in dieser Generation tiefer als je bisher in seiner langen Geschichte hereingebrochen ist, uns noch beschieden sein mag – und ich glaube, daß uns ein solcher Wandel noch bevorsteht, – ist Sache der Propheten und nicht der Professoren.13
Dabei wäre die Annahme verkehrt, Scholem sei säkular eingestellt gewesen und habe von Gott und Glauben nichts wissen wollen. Sein oben angeführtes Schreiben zu Salman Schockens 60. Geburtstag zeigt, dass er durchaus an eine hinter der Erscheinungswelt verborgene Wahrheit glaubte, der er sich verbunden 11 Scholem, Kabbala-Forschung und jüdische Geschichtsschreibung, 31. 12 Huss, Ask No Questions, 145f.; Biale, Gershom Scholem, 102. Weitere Deutungsmöglichkeiten dieses Abschnitts bei Schäfer, Die Philologie der Kabbala, 13–16; Weidner, Reading Gershom Scholem, 221ff. 13 Das englische Original Major Trends in Jewish Mysticism ist 1941 erschienen, die erste deutsche Ausgabe 1957. Ich argumentiere in die Richtung von Shaul Magids Verständnis eines kulturellen Säkularismus Scholems: Magid, Mysticism, History, and the „New“ Kabbalah, 515.
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Religiöse Zusammenhänge
fühlte und von der er sich in seinem politischen und moralischen Verhalten leiten ließ. Doch im Unterschied zu den verschiedenen religiösen Strömungen im Judentum war dieses religiöse Empfinden für Scholem von Grund auf subjektiv, passte in keinen religiösen Rahmen und ordnete sich keiner religiösen Autorität unter. Dieses Gefühl beschrieb er als religiösen Anarchismus. Dieser kann als das Hauptmerkmal von Scholems Haltung gegenüber der Religion gesehen werden und als der Punkt, an dem die politische und die religiöse Ebene seines Denkens einander berühren. Das Beispiel, an dem sich Scholems anarchische Religiosität für den vorliegenden Diskurs auf relevante Weise zeigt, ist sein Verhältnis zu einem religiösen Zirkel, dem er nicht angehörte, aber dessen Mitgliedern er nahestand. Dieser Kreis, der ebenfalls aus deutschsprechenden Jerusalemer Juden bestand, nannte sich Ha-Ol, das Joch.
b.
Der Ha-Ol-Kreis: Religion und religiöser Anarchismus
Wenig ist bekannt über diesen kurzlebigen Kreis und seine Sitzungen; offenbar passte er in die Jerusalemer Atmosphäre, die auch den oben dargestellten Pilegesch-Kreis hervorgebracht hatte. Doch im Unterschied zu diesem, der rein privater Natur gewesen war, wurden in jenem aktuelle religiöse Fragen diskutiert. Mendes-Flohrs Untersuchungen zu diesem Kreis haben ergeben, dass er im Frühjahr 1939 durch Jehuda Leib Magnes und Martin Buber begründet wurde; zu seinen festen Teilnehmern gehörten Fritz (Yitzhak) Baer, Schmuel Hugo Bergmann, Julius Guttmann und Ernst (Akiba) Simon.14 Abgesehen von vereinzelten Erwähnungen im Tagebuch von Magnes und zwei Briefen von Magnes und Buber an Mahatma Ghandi ist der Hauptbeleg für die Tätigkeit dieses Kreises das Protokoll der Sitzung vom 13. Juli 1939, die im Hause von Magnes stattfand.15 Zu dieser Sitzung, in der es um die Bedeutung der Tora für die Zeitgenossen gehen sollte, war Scholem eingeladen worden, um mit einem Vortrag die Grundlage für eine Diskussion schaffen.16 Scholem widmete diesem Vortrag eingehende Vor14 Mendes-Flohr, Divided Passions, 344; Mendes-Flohr, The Yoke of the Kingdom, 234. MendesFlohr möchte auch Scholem diesem Kreis zurechnen. Wie hier argumentiert wird, gehörte Scholem wahrscheinlich nicht zu den festen Teilnehmern des Kreises. Zum Entstehungshintergrund dieses Kreises s. ebd., 233–237. 15 Für eine englische Übersetzung des hebräischen Originals, s. Mendes-Flohr, Divided Passions, 345f. sowie The Yoke of the Kingdom, 237–239. 16 Meine folgenden Ausführungen stützen sich in erster Linie auf Scholems Tagebucheintrag vom 13. 7. 1939, (Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 51), der gleich zu Anfang erkennen lässt, dass Scholem dort als Außenstehender auftrat: „In Magnes’ Haus hatte ich mich zu einer einleitenden Auseinandersetzung über den Sinn, den wir heute noch mit dem Wort Tora verbinden können, für seinen Kreis Ha-Ol bestimmen lassen“ – die Rede von „seinem“ (d.i. Magnes’) Kreis zeugt von Distanz.
Der Ha-Ol-Kreis: Religion und religiöser Anarchismus
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bereitungen, indem er Etliches zum Thema der Tora und ihrer Bedeutung las. Doch als er hinkam, hatte er den Eindruck, diese Vorbereitung sei überflüssig gewesen; er sprach, ohne auf den wissenschaftlichen Hintergrund einzugehen und war äußerst behutsam bei der Artikulierung seiner Position. Scholem befürchtete, das zahlreich versammelte Publikum würde ihn womöglich als neuen Theologen missverstehen, aber diese Sorge erwies sich als grundlos: „Ich dachte, ich würde einen Aufstand erregen – nichts dergleichen. Alles bestürmte mich mit Fragen“. Er notierte als herausragende Fragesteller Guttmann, Baer, Simon, Buber und Magnes, fügte jedoch die Bemerkung hinzu: „nicht nach dem Meritum der Sache“. Erhalten ist, wie gesagt, Scholems hebräische Kurzfassung seiner eigenen Ausführungen sowie der Äußerungen seiner anwesenden Freunde bzw. Kollegen dazu; ungeachtet der Knappheit und des lakonischen Stils, der solche Zusammenfassungen auszeichnet, ist dies ein wichtiges Zeugnis für seine Einstellung zur Religion im Kontext des Zionismus in jenen Jahren. Im Zentrum von Scholems einleitenden Bemerkungen zur Bedeutung der Tora stand der Begriff der Exegese. Beim Terminus Tora unterschied er zwei semantische Komponenten: zum einen die „Wegweisung“, zum anderen die Überlieferung. Die Tora setze die Existenz einer obersten Instanz voraus und stehe zwischen dieser und dem Menschen. Daher gebe es keine Tora ohne Auslegung, oder wie Scholem es formulierte: „Es gibt keine schriftliche Lehre ohne mündliche“. Die wahre Lehre lasse sich weder erfassen noch ausdrücken, das einzig Mitteilbare sei die Auslegung: Wenn wir die Tora auf die schriftlich überlieferte Lehre beschränken wollten, könnten wir nicht einmal den Pentateuch Tora nennen, sondern nur die Zehn Gebote. Demnach ist die Tora selbst bereits mündliche Lehre. Verstehbar ist die Tora nur als mündliche Lehre, nur in relativierter Form. Sie ist ‚reine Tora‘ (Tora temima), unantastbar, und erst durch Vermittlung der mündlichen Lehre wird sie verständlich. Dieser dialektische Charakter der Tora verwandle ihr Verstehen in einen Dialog, eine Folge von Fragen und Antworten, die naturgemäß dynamisch und flexibel sei und deren Gestalt der Generation des jeweiligen Exegeten entspreche. Demnach sei als Gegenstück zur jüdisch-orthodoxen Auslegungstradition auch mit einer autoritativen exegetischen Tradition zu rechnen, die dem Geist der gegenwärtigen Generation gemäß sei: „Wir müssen also auf unsere mündliche Lehre warten, die für uns verbindlich ist und keinen Raum für eine freie, unautorisierte Entscheidung lassen wird“. Scholems abschließende Feststellung lautet: „Es gibt keine Tora ohne Tora-Verleihung, es gibt keine Tora ohne Heteronomie, es gibt keine Tora ohne autorisierte Überlieferung“. In einem (deutschen) Tagebucheintrag schrieb Scholem, seine Ausführungen seien gut angekommen, allerdings auf Kritik von Seiten der Mitglieder des HaOl-Kreises gestoßen. In seiner (hebräischen) Kurzfassung des Protokolls sind
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Religiöse Zusammenhänge
denn auch Kritikpunkte verschiedener Sprecher vermerkt. Julius Guttmann habe eingewandt, Scholems Haltung führe zu völligem Subjektivismus; in Scholems Ausführungen habe die mündliche Lehre keinerlei Inhalt, ein solcher sei erst zu suchen. Ernst Simon nahm Anstoß an der angeblichen Heteronomie der Tora; er plädierte für die exegetische Autonomie jedes Menschen, die eine ethische Grundlage haben müsse. Fritz Baer dagegen beanstandete die theologische Dimension in Scholems Äußerungen; seines Erachtens sei die Auslegung der Tora „die Schaffung eines Lebensreglements im Einklang mit dem hebräischen Rechtssystem“. Buber betonte in diesem Zusammenhang den Begriff der Offenbarung und die Fähigkeit des Menschen, durch sein Tun Offenbarung herbeizuführen. Und Magnes habe dagegen protestiert, dass Scholem die Tora faktisch aufhebe, indem er ihr jegliche religiöse Autorität abspreche: „Nach der üblichen Auffassung ist die mündliche Lehre ein ‚Zaun‘ um die Tora; laut Scholem stellt sie die Befreiung von der schriftlichen Lehre dar. Das war die Haltung des Evangeliums. Damit wird die Tora aufgehoben“. Scholem habe auf die vorgebrachte Kritik folgendermaßen erwidert: In gewissem Maße sind wir alle Anarchisten. Aber das ist ein Übergangsstadium, und wir sind das lebendige Beispiel dafür, dass wir dadurch nicht aus dem Judentum hinausfallen. Wir sind nicht eine Generation ohne Gebote, aber unsere Gebote haben keine Autorität. Ich habe keine Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den Orthodoxen. Wir sind nicht weniger legitim als unsere Väter, sie hatten nur eine klarere Adresse. Wir verhalten uns vielleicht anarchistisch, aber wir sind gegen Anarchie. […] Ich glaube an Gott, das ist das Fundament meines Lebens und Glaubens. Alles übrige ist fraglich und kann diskutiert werden.17
Hier legt Scholem seinen ‚religiösen Anarchismus‘ zum ersten Mal dar; im weiteren Verlauf seines Lebens sollte er noch öfter darauf zurückkommen.18 Den Kern dieses Anarchismus bildet die Leugnung der bestehenden religiösen Autoritäten bei gleichzeitigem Glauben an die Existenz Gottes. Oder mit Scholems hier verwendeten Begriffen: Glaube an die reine Tora – als solche – nicht an die bestehende exegetische Autorität. Diesen Grundsatz hat Scholem in Gesprächen und Interviews etliche Male wiederholt.19 Für die Diskussion hier ist wichtig, dass 17 Alle Zitate übersetzt aus: Scholem, Od Davar, 95–97. 18 Zu Anarchismus und speziell religiösem Anarchismus bei Scholem gibt es mehrere Untersuchungen: Biale, Gershom Scholem, 94–100; Biale, Gershom Scholem and Anarchism; Hamacher, Gershom Scholem, 54–57; Jacobson, Metaphysics of the Profane, 52–81; Weidner, Gershom Scholem, 262–269. Vgl. auch Mendes-Flohr, Divided Passions, 399f. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die polemischen Artikel von Baruch Kurzweil, der behauptete, hinter Scholems religiösem Anarchismus verberge sich Nihilismus; s. Kurzweil, be-Maawak, 179f., 198f.; dazu Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism, 324f. 19 S. z. B.: Scholem, On the Possibility of Jewish Mysticism, 16f., 86–87; ders., Es gibt ein Geheimnis in der Welt, 88; ders., Zionism. Dialectic of Continuity and Rebellion, in: Ben Ezer, Unease in Zion, 277f.
Der Ha-Ol-Kreis: Religion und religiöser Anarchismus
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sich an diesem Punkt, im Sommer 1939, in Scholems politischer und religiöser Welt eine gewisse Wende um die Idee des Anarchismus abzeichnet. Scholems Ausführungen vor dem Ha-Ol-Kreis waren nicht seine erste Bezugnahme auf den Begriff Anarchismus. Bereits in seinen frühen Tagebüchern äußerte Scholem – wohl unter dem Einfluss seines älteren Bruders Werner – revolutionäre politische Gedanken in sozialistischem und anarchistischem Sinn. Während seiner Jugend in Deutschland verwendete er diesen Terminus, um zu erläutern, wie die in seinen Augen richtige politische Verwirklichung des Zionismus zu geschehen habe.20 In seinen Memoiren schreibt Scholem über seine Beeinflussung durch anarchistische Lehren in jungen Jahren: Die gesellschaftlichen und moralischen Vorstellungen von Anarchisten wie Tolstoi und Landauer haben in einflußreichen Gruppen, die aus Rußland und deutschsprachigen Ländern kamen, beim Aufbau des neuen Lebens im Lande Israel eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gehabt. Meine eigene Entwicklung bewegte sich in den Jahren, von denen hier die Rede ist, stark in dieser Richtung, obwohl mir die Realisierungsmöglichkeit einer anarchistischen Gesellschaft immer zweifelhafter wurde.21
Als Scholem feststellen musste, dass diese extremen Theorien sich im Land Israel nicht so verwirklichen ließen, wie er es sich als Jugendlicher vorgestellt hatte, erfuhr der Begriff Anarchie bei ihm eine Entpolitisierung. Wie aus seinen Ausführungen vor dem Ha-Ol-Kreis hervorgeht, ging es hier um die Verlagerung seines Schwerpunkts aus dem öffentlich-politischen Bereich in jenen des Religiösen und Privaten. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Entwicklung auch mit den politischen Vorgängen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre zusammenhing, besonders mit der Auflösung von Brit Schalom, nachdem Scholem sich nicht mehr politisch betätigte. Anders gesagt: Als Scholem sah, dass sich der Zionismus – unter Zuhilfenahme der Weltmacht Großbritannien und ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der arabischen Bevölkerung – materialistisch, institutionell und national verwirklichte, entfernte er sich vom Anarchismus als politischer Theorie, wie er ihn während des Ersten Weltkriegs vertreten hatte. Stattdessen verlagerte er den Begriff in den privaten Bereich seines Glaubens.22 Vielleicht war es seine Wahrnehmung, dass der Zionismus das revolutionäre Ideal, auf Seiten der Schwachen und Unterdrückten zu stehen, aufgegeben und sich auf die Seite der Sieger geschlagen hatte, die den Wandel in seiner Vorstellung von Anarchismus bewirkte. Das hier zitierte Dokument ist der erste 20 So etwa in einer Tagebuchaufzeichnung von Januar 1915, wo es um Herzls „Judenstaat“ geht: Scholem, Tagebücher 1, 81, 143; s.a. Tagebucheintrag vom 25. 12. 1918, in: Scholem, Tagebücher 2, 423f. 21 Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 61. 22 Vgl. Biale, Gershom Scholem, 65, der die Wurzeln von Scholems theologischem Anarchismus in Anarchisten-Kreisen findet, mit denen Scholem während des Kriegs in Berührung gekommen war.
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Religiöse Zusammenhänge
Beleg für diese Wende, wobei es sich um einen Ausdruck oder ein Resultat seiner fortgesetzten Enttäuschung darüber handeln dürfte, wie sich der Zionismus verwirklicht hatte. An diesem Punkt stimme ich Paul Mendes-Flohr zu, wenn er die religiöse Haltung der Mitglieder des Ha-Ol-Kreises mit politischem Eklektizismus in Verbindung bringt: The members of Ha-‘ol understood the charge, as Magnes put it, to be „servants of God“, as a call to social and political activism, particularly on behalf of what they deemed to be the most exigent issue facing the Jewish community in Palestina: the need to promote Arab-Jewish reapprochement.23
Aber bei Scholem ging es nicht um politisches Handeln, sondern um den Verzicht darauf und um seinen Rückzug in die private und individuelle religiöse Sphäre. Darin unterschied er sich von den Mitgliedern des Ha-Ol-Kreises, und vielleicht stieß er dort deshalb von vielen Seiten auf Kritik. In dieselbe Richtung deutet der Umstand, dass er dem drei Jahre danach – im Sommer 1942 – gegründeten Ichud, dessen tragende Säulen Magnes, Simon und Buber waren, nicht beitrat.24 Auch Scholems Tagebuchnotiz unmittelbar nach seinem Auftritt vor dem Ha-Ol-Kreis, zeugt von Distanz gegenüber den dort Versammelten: Ich sagte, woran ich glaube, und wie ein Offenbarungsglaube „auf dem Nullpunkt“ für mich aussähe. Was ich nicht sagte, war, daß ich an heilige Texte glaube. Über die Unvollziehbarkeit des absoluten Wortes aber sprach ich mich sehr deutlich aus. Ich ging aber, da die anderen keine eigenen Gedanken vorzubringen hatten, sondern begierig auf die „Tora“ waren, die von mir zu holen wäre, mit dem bedrückten Gefühl weg, auf einem falschen Piedestal zu stehen. Als ich sprach, durchfuhr mich, wie schon manchmal, der Gedanke, daß ich mehr ausdrückte, als ich niederzuschreiben vermocht hätte. Der mystische Aphorismus, der doch hinter allem stand, war hier mit dem freundlichen Schein des philosophischen Dialektikers erfüllt.25
Was Scholem bei seinem Vortrag gestört hatte, war also die Erwartung der Zuhörer, eine religiöse Lehre von ihm zu hören, während er sie zu eigenständigem Denken hatte anregen wollen. Vermutlich fühlte er sich deshalb so unbehaglich, weil er sich hier in die Rolle eines Propheten gedrängt fühlte, und ein solches Amt hatte er im Lauf seines Lebens immer wieder abgelehnt, zumal es sich in seiner Vorstellung mit Martin Buber verband, den er scharf kritisierte.26 23 Mendes-Flohr, Divided Passions, 347. 24 Zum Ichud s. Heller, Mi-Brit Schalom le–Ichud. In einem hebräisch geführten Interview von 1964 sagte Scholem, er vertrete immer noch den Anarchismus als politische Theorie, aber ihm sei bewusst, dass dieser sich nicht realisieren lasse (Scholem, Rezifut u-Mered, 122). 25 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 52. 26 Dazu Shedletzky, Auf der Suche nach dem verlorenen Judentum, 41–43; Dan, Gershom Schalom, Chawurat Eranos, 293–298.
c. Schlusswort
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Demnach war diese Veranstaltung für Scholem insofern kein Erfolgserlebnis, als er das Gefühl hatte, mit den Zuhörern keine Verständigung erzielt und ihnen nicht vermittelt zu haben, was er eigentlich hatte sagen wollen. Verständlich wird Scholems Enttäuschung vor allem in Hinblick auf die Zentralität, die der religiöse Anarchismus in seinem Leben einnahm.27 Für Scholem umfasste die Idee des religiösen Anarchismus wichtige religiöse und theologische Fragen, etwa in Bezug auf religiöse Autorität, die Tora und ihre Auslegung, Gott und dessen Offenbarung; das alles war für ihn überschattet von dem Paradox, das in dem Versuch lag, etwas in Worte fassen und in einer historischen Realität artikulieren zu wollen, das transhistorisch und eigentlich unsagbar war.28 Die Überlieferung, d. h. der Versuch, etwas nicht Tradierbares von einer Generation an die andere weiterzugeben, steht im Zentrum dieses Vorgangs, insofern, als sie „das Wort Gottes in der Zeit anwendbar“ macht.29 Hierin steckt das komplexe Verhältnis zwischen schriftlicher und mündlicher Lehre, zwischen der Idee als solcher und ihrer Deutung, zwischen Gott und der Welt, zwischen dem durch die hebräische Sprache Symbolisierten und dem Symbol. An diesem Punkt treffen die drei bisher behandelten Ebenen in Scholems Leben zusammen: die kulturelle, die politische und die religiöse.
c. Schlusswort Die hier vorgenommene Unterscheidung dieser drei Bereiche in Scholems Leben bis zum Holocaust ist rein technisch bedingt: Eigentlich sind bei ihm das Kulturelle, das Politische und das Religiöse untrennbar ineinander verwoben; daher darf deren dynamische Verknüpfung, wie sie sich in Scholems Schriften und in seinem Verhalten gegenüber seinen Freunden und Kollegen äußert, nicht übersehen werden. Zum besseren Verständnis dieser Dynamik möchte ich ein Modell anbieten, das durch Veranschaulichung der Interaktion zwischen den drei Sphären ein Gegengewicht zur bisherigen, eher statischen und separaten Darstellung bilden kann, obwohl ich mir der beschränkten Aussagekraft von Modellen bewusst bin.
27 Scholem, Es gibt ein Geheimnis in der Welt, 21f., 90f. Scholem betonte immer wieder, er sei ein religiöser Mensch, seine Lebensanschauung sei keine säkulare; s. ebd. 43f. Mendes-Flohr, Divided Passions, 348, bringt Ausführungen zu Scholems Religiosität aufgrund eines Gesprächs mit Fania Scholem. 28 Auf dieses Paradox hat Scholem in Veröffentlichungen verschiedener Art immer wieder hingewiesen, so etwa in den Zehn unhistorischen Sätzen über Kabbala von 1957 (in: Scholem, Judaica 3, 264–271); s. dazu Kapitel 7. 29 Scholem, Es Gibt ein Geheimnis in der Welt, 17.
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Religiöse Zusammenhänge
Was hier gebraucht wird, ist eine Figur mit drei Endpunkten, ein gleichseitiges Dreieck. Im oberen Winkel steht das Religiöse, links unten das Kulturelle und rechts unten das Politische. Auf den Seiten des Dreiecks verläuft eine Bewegung gegen den Uhrzeigersinn: Von der Religion zur Kultur führt der Strahl der Sammlung, denn über dieses Medium übertrug Scholem Begriffe aus der religiösen Welt auf die kulturelle Ebene, um eine neue Tradition zu schaffen. Von der Kultur zur Politik führt der Strahl des Ethischen, wozu die Vorstellungen gehören, die hinter der Tätigkeit von Brit Schalom standen – ethisch-soziale Gedanken, die in der hebräischen Kultur wurzelten und in politisches Handeln übertragen wurden. Dieser Seite lässt sich der Pilegesch-Kreis zuordnen, wo die Verbindung des Kulturellen mit dem Politischen sozusagen negativ besetzt war: Rückzug aus dem öffentlichen Bereich in den privaten. Die dritte Seite führt von der Politik zurück zur Religion; das ist der Strahl des Anarchismus. Jede der drei Seiten ist durch die sie begrenzenden Winkel definiert und fungiert gleichzeitig als Verbindungslinie zwischen ihnen. So vereint die anarchistische Seite in sich sowohl die Verlagerung des Politischen in Scholems Inneres, d. h. den Rückzug aus dem politischen Bereich auf die religiöse Ebene, als auch die Art und Weise, wie das Politische und das Religiöse bei Scholem während jenes Zeitraums zusammengingen. Die Fläche des Dreiecks steht für die Utopie selbst – Scholems zionistischen Traum, eingerahmt von den Seiten und Winkeln des Dreiecks.
Zur Konstruktion des Modells ist noch ein Element erforderlich, das die Dynamik ins Spiel bringt, die in und zwischen allen Teilen des Dreiecks wirksam ist und es beweglich macht. Bewegung ist notwendig, damit das Dreieck, das ist die Utopie, nicht in sich zusammenbricht. Dieses Element ist die hebräische Sprache,
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deren Existenz laut Scholem den Bestand von Judentum und Zionismus garantiert. Dieses Modell ist, wie gesagt, eine vereinfachte Darstellung der dynamischen Konstruktion von Scholems zionistischer Utopie in den ersten beiden Jahrzehnten seines Lebens in Palästina; außerdem ermöglicht es Einblick in die Struktur von Utopien überhaupt. Die Utopie wird durch die drei Winkel samt den Seitenlinien mit ihrer Spannung geschaffen, eingefasst und geschützt. Scholems extreme und kompromisslose Einstellung zum Zionismus – entweder dessen erfolgreiche Verwirklichung ganz in seinem Sinn, oder lieber gar nichts30 – bereichert das oben entworfene Modell um eine weitere Komponente: den inneren Widerspruch. Wie jede Utopie ließ sich auch die des jungen Scholem nicht verwirklichen, ohne ihr zartes Gewebe zu beschädigen. Im Moment der Verwirklichung vermögen die verschiedenen beteiligten Elemente der hinter ihnen stehenden extremen Forderung nicht standzuhalten. Mit anderen Worten: Der Versuch, das Potential des Zionismus zu realisieren, verlangte Kompromisse bei der praktischen Umsetzung, und solche Zugeständnisse widersprachen Scholems extremen Ansprüchen. Im Sieg der Utopie ist der Keim zu ihrem Untergang und ihrer Selbstzerstörung bereits angelegt; sobald sie realisiert wird, ist sie auch schon gescheitert. Solange das Land Israel im Status von Utopie und politischer Peripherie verharrte, hatten Scholems politische Positionen Bestand; doch kaum war es zum politischen Zentrum mit allem, was dazugehört, geworden, hörte die Utopie auf zu bestehen. Vielleicht war es unter anderem diese Dynamik, die bei Scholem jene Enttäuschung auslöste, die allem Anschein nach unvermeidlich war. Ein weiteres Element, das vielleicht auch in Scholems Utopie beschlossen lag, war die Kontinuität zwischen Generationen im Judentum. Wie oben erwähnt, erblickte Scholem in dieser Kontinuität das Moment, das den Fortbestand des Judentums gewährleistete. Dessen Existenz war in seinen Augen umso bedrohter, je weiter die Verwirklichung der zionistischen Idee Fortschritte machte und Gestalt gewann. Ein späterer Ausdruck dieses utopischen Wunsches, gleichzeitig eine Verbindung zwischen den drei Endpunkten des oben skizzierten Dreiecks, 30 Eine zeitgenössische Äußerung zu Scholems extremen Ansprüchen an die Verwirklichung des zionistischen Ideals stammt aus der Feder von Franz Kafka, und zwar in dessen Brief an Felice Bauer vom 22. 9. 1916 (Kafka, Briefe an Felice, 703f); Felice hatte Kafka über eine Diskussion im Berliner Jüdischen Volksheim zwischen dem jungen Scholem und dem Pädagogen Siegfried Lehmann berichtet. Dort hatte Scholem die Forderung erhoben, „man möge doch, statt sich mit solchem Unfug und literarischem Geschwätz zu befassen, lieber Hebräisch lernen und zu den Quellen gehen“ (Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 86). Dazu bemerkt Kafka: „Ich neige im Geiste immer zu Vorschlägen wie denen des Hr. Scholem, die das Äußerste verlangen und damit gleichzeitig das Nichts“. Scholem hat die Eindrücke seiner damaligen Besuche im Volksheim auch in seinem Tagebuch festgehalten: Scholem, Tagebücher 1, 396–399.
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findet sich in der Ansprache, die Scholem im Winter 1955 zum dreißigjährigen Jubiläum des Instituts für Jüdische Studien an der Hebräischen Universität hielt: Möge die Liebe zu Israel und dessen Erbe ebenso stark bleiben wie die zum Land; und wenn wir nun freie Menschen im eigenen Land sind, so wollen wir uns mit Seilen der Liebe und des Verstehens an die Überlieferung der Generationen binden, die Vision der Besiegten nicht vergessen, nun da wir zu Siegern geworden sind.31
Diese Worte wurden gesprochen, nachdem der Staat Israel bereits gegründet worden war, was einen Höhepunkt in der siegreichen Verwirklichung der zionistischen Idee darstellte. Allerdings schließt der erste Teil dieses Buches noch vor diesem Sieg, unmittelbar vor dem Hereinbrechen der ihm vorausgehenden Katastrophe. Die Konsolidierung des jüdischen Zentrums in Palästina vollzog sich im Schatten der historischen Ereignisse der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die dem Bestand des jüdischen Kulturzentrums in Europa ein jähes und brutales Ende bereiteten. Ein solches Ende vermochten die zionistischen Aktivisten, einschließlich Scholem, in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren nicht abzusehen; damals rangen sie um die Geburt einer neuen Realität aus der Utopie und bemühten sich, aus der Peripherie ein gleichermaßen wichtiges Zentrum zu machen.
31 Scholem, Od Davar, 149.
Zweiter Teil: Verzweiflung: Die einzigartige Katastrophe (1939–1948) I am very skeptical whether we indeed wish to bind ourselves, as people proclaim from every hill and mountaintop, to the memories of the millions who were killed in Poland and Lithuania etc. I am very doubtful as to whether this is possible without directly confronting the great problematic of our life. We must confront the reality which forces us to interpret an unparalleled catastrophe. We do not know what answers we can give, but there is no way to escape the question. Gershom Scholem, March 19461
1 Scholem, On the Possibility of Jewish Mysticism in Our Time, 162.
4.
Reaktionen auf den Holocaust Ein Mal sprach er zu mir: Da kam Hitler und brachte den ganzen Zionismus durcheinander. Joseph Weiss1
a.
Zionismus und Zion im Licht des Holocaust
Über die Haltung der jüdischen Bewohner Palästinas zum Holocaust und wie weit sie Bescheid wussten, was sich in den Jahren 1938 bis 1945 in Europa abspielte, ist viel geschrieben worden.2 In der aktuellen Forschung gilt Ende 1942 als Wendepunkt in der Einschätzung der Judenvernichtung in Europa seitens der jüdischen Bevölkerung Palästinas.3 Vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zu jenem Zeitpunkt ließen sich die eintreffenden Nachrichten über eine Massenvernichtung von Juden in Europa noch als Gerüchte von beschränkter Glaubwürdigkeit abtun, was angesichts ihrer Schrecklichkeit nahelag. Außerdem fühlten sich die Juden Palästinas bis dahin durch die Armee der Achsenmächte bedroht, die unter Generalfeldmarschall Rommel bis Ägypten vorgedrungen war. Diese akute Gefahr mochte von geographisch ferner liegender Bedrängnis ablenken.4 Mit der Niederlage der Achsenmächte bei El Alamein im Oktober 1942 schien diese Bedrohung abgewendet zu sein; zusammen mit dem deutschen Fiasko vor Stalingrad markierte diese Schlacht den Umschwung zu Gunsten der Alliierten und den einsetzenden Untergang des nationalsozialistischen Deutschlands. Nun weniger von der eigenen Bedrohung abgelenkt, waren die Juden in Palästina offen für die Wahrnehmung des Unheils, das den Juden in Europa widerfuhr, verdichteten sich doch die bis dahin vereinzelten Nachrichten gegen Ende zur unabweisbaren Gewissheit, dass Juden auf europäischem Boden systematisch ermordet wurden. 69 Juden, die einen palästinischen Pass besaßen, 1 Weiss, Divrej Schalom, 382. 2 S. insbesondere Porat, The Blue and the Yellow Stars of David; Weitz, Mudaut we-Chosser Onim; Ofer, Fifty Years After mit weiterer Literatur; Shapira, Ha-Schoa u-Milchemet ha-Olam. 3 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 44ff.; Weitz, ebd., 31, 35ff. 4 Weitz, ebd., 27f.
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Reaktionen auf den Holocaust
waren im Rahmen eines Austausch-Abkommens der Alliierten mit den Nationalsozialisten Mitte November 1942 aus Europa nach Palästina zurückgeschickt worden; was sie aus erster Hand berichteten, löste bei der jüdischen Bevölkerung des Landes tiefe Erschütterung aus. Die Erkenntnis über das Ausmaß des Holocaust begann Gestalt anzunehmen. Bald nach der Heimkehr der von den Nationalsozialisten Freigelassenen veröffentlichte die Jewish Agency eine offizielle Mitteilung in der hebräischen Tageszeitung Haaretz, in der die Faktizität der entsetzlichen Nachrichten bestätigt wurde. Mitte Dezember 1942 erschien in der internationalen Presse eine Verlautbarung der Alliierten, worin die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten verurteilt wurde.5 Als in Folge weitere Nachrichten aus den deutsch besetzten Gebieten eintrafen und die Lokalpresse diesen immer mehr Gewicht einräumte, beseitigte dies in der jüdischen Öffentlichkeit Palästinas die letzten Zweifel an der bitteren Wahrheit. Im Zuge der Bewusstwerdung des in Europa stattfindenden Genozids waren innerhalb der jüdischen Bevölkerung des Landes zahlreiche Stellungnahmen zu den Ereignissen zu vernehmen, aus denen ein Wechselbad aus Schuldgefühlen, tiefer Niedergeschlagenheit und Verzweiflung auf der einen, Verdrängung und Herunterspielen auf der anderen Seite deutlich wird. Die israelische HolocaustForscherin Dina Porat hat vorgeschlagen, diese extremen, entgegengesetzten (aber keinesfalls widersprüchlichen) Reaktionen „nicht nur auf der politischnationalen, sondern auch auf der psychologischen und kognitiven Ebene“ zu prüfen, „wo Emotion und Logik den Holocaust als unfassbar zurückweisen“. Als mögliche Erklärung dafür nennt sie unter anderem den Umstand, dass „der Holocaust außerhalb jedes persönlichen wie kollektiven menschlichen Erfahrungshorizonts lag“, denn selbst in der Vergangenheit eines leidgeprüften Volkes wie des jüdischen gebe es dafür keinen Präzedenzfall, was die Glaubhaftigkeit des Geschehens beeinträchtigt habe, zumal in Anbetracht der geographischen Entfernung zwischen Europa und Palästina.6 Im Zuge der Bemühungen, sich dem Eindruck des Geschehens zu stellen, wurde unter den Juden in Palästina vom 30. November bis zum 2. Dezember 1942 eine dreitägige Trauer mit Fasten und Protesten angesetzt; innerhalb dieser drei Tage wurde zum Handeln aufgerufen, und man diskutierte, was die jüdische Führung in Palästina tun könne.7 Auch danach, während des ganzen Jahres 1943, fanden weitere Trauer- und Mahnveranstaltungen statt, aber diese ersten drei Trauertage waren die bedeutsamsten; eine Wasserscheide zwischen den ersten drei Jahren eingeschränkten Wissens und den letzten drei Kriegsjahren, in denen man Bescheid wusste. Als prägend wie spannungsgeladen in dieser zweiten Phase 5 The Blue and the Yellow Stars of David, 59–67. 6 Ebd., 71. 7 Über diese drei Tage s. Porat, ebd., 76–78.
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gestaltete sich einerseits die Erwartung, die jüdische Führung im Lande müsse Maßnahmen zur Rettung der Juden in Europa ergreifen, und andererseits deren Untätigkeit samt einem Gefühl von Hilflosigkeit angesichts ihrer prekären Situation in der internationalen Politik. Ein weiterer Kontrast kam hinzu: Jener zwischen der Einsicht, wie furchtbar sich das Geschehen ausnahm (wovon die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung des Landes persönlich betroffen war, denn fast jeder hatte Angehörige in Europa), und zwischen dem verständlichen Bedürfnis, ein einigermaßen normales Alltagsleben zu führen. Diese widerstreitenden Gefühle zeitigten verschiedenartige, zum Teil publik gemachte Reaktionen – ein Umstand, der von der schweren Erschütterung und Verunsicherung der Juden in Palästina zeugt. Charakteristisch für diese Reaktionen war der Versuch, die gegenläufigen Stimmungen zu begreifen und zu analysieren, begleitet von teils vorwurfsvoll, teils apologetisch gefärbten Erklärungen, weshalb die Juden Palästinas (zumindest oberflächlich betrachtet) ihr Leben weiterlebten, als ob nichts wäre. Daneben finden sich Äußerungen von Schuldgefühlen, die Ernsthaftigkeit der Lage nicht früh genug erkannt zu haben sowie Aufrufe zu weltweitem, öffentlichem Handeln.8 Besonders markant unter den damals zu vernehmenden Stimmen war jene einer kleinen Gruppe von Intellektuellen, die mit Eintreffen der bitteren Kunde Ende 1942 gegründet worden war und sich Al-Domi („schweig doch nicht“ – Ps 83,1) nannte. Die Tätigkeit dieses Kreises, dem der Schriftsteller Rabbi Binyamin, der Psychiater Fischel Schneurson, der Historiker Josef Klausner, der Philosoph Schmuel Hugo Bergmann, Jehuda Leib Magnes, Martin Buber und Ben-Zion Dinur angehörten, bestand darin, Trauer- und Mahnveranstaltungen zu organisieren, Aufklärungsarbeit zu leisten und zu Rettungsaktionen von Seiten der Juden Palästinas aufzurufen.9 Dadurch wollten die Mitglieder der Gruppe die politische Führung und die breite Öffentlichkeit von der Notwendigkeit überzeugen, großangelegte Rettungsaktionen zu beginnen. Gleichzeitig wollte die Gruppe dem Umstand vorbeugen, dass die Juden Palästinas sowie die Juden und die Intellektuellen in der freien Welt in Verzweiflung und Untätigkeit versänken.10 Durch ihre verschiedenen Aktionen und Initiativen kämpfte die Gruppe gegen das Schweigen und die Lähmung der Juden Palästinas an, ein ihres Erachtens gefahrenträchtiger Zustand. Trotz ihrer erklärtermaßen guten Absichten vermochte es die Gruppe AlDomi nicht, weite Kreise der jüdischen Öffentlichkeit in Palästina zu nennenswerten Aktionen anzuspornen; auch die praktischen Vorstöße, die sie zu un-
8 Dazu Weitz, Mudaut we-Chosser Onim, 49–53; Ofer, Fifty Years After, 452–545. 9 Zu dieser Gruppe s. Porat, Al-domi; Zameret, Bejn Palestinozentriut le-Judozentriut, 278–282. 10 Porat, Al-domi, 100.
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ternehmen versuchte, blieben weitgehend wirkungslos.11 Enttäuscht vom Misserfolg ihrer Öffentlichkeitsarbeit, beschränkte die Gruppe ihre Tätigkeit auf Versammlungen in kleinerem Kreis, in denen Bedeutung und potenzielle Wirkungen des Holocaust diskutiert wurden. Zumindest eine dieser Diskussionen – die indirekt mit Gershom Scholem zu tun hat – wurde von Ben-Zion Dinur (Dinaburg) schriftlich festgehalten. Ende 1942 oder Anfang 1943 waren einige Mitglieder von Al-Domi zusammengekommen, um zu erörtern, welche möglichen Haltungen man gegenüber den aus Europa eintreffenden Hiobsbotschaften einnehmen könne. Den Inhalt dieses Gesprächs zeichnete Ben-Zion Dinur auf, präsentierte ihn im Rahmen eines Vortrags am Jerusalemer Lehrer-Seminar und brachte ihn auch als Broschüre heraus.12 Die fünf Sprecher der Gruppe, deren Äußerungen Dinur wiedergibt, werden nur nach ihren Berufen bezeichnet: ein Philosoph (Martin Buber), ein Frommer (Fischel Schneurson), ein Historiker (Ben-Zion Dinur), ein Schriftsteller (Yizhak Yatziv) und ein Soldat (Ben-Zion Israeli).13 Als er an die Reihe kam, sprach Ben-Zion Dinur über das öffentliche Bewusstsein von Schuld, und darüber, dass die Zionisten die dem Holocaust vorangehenden historischen Ereignisse nicht richtig gedeutet und nicht begriffen hätten: Die bloße Tatsache, dass diese fürchterliche Katastrophe über uns scheinbar plötzlich hereingebrochen ist, so dass wir verlegen und hilflos dastanden, nicht wussten, woher unsere Hilfe kommen könnte, als ob das nicht zu erwarten, zu befürchten gewesen wäre – das ist ein schwerer Vorwurf gegen uns alle, gegen das Volk, gegen die Generation und gegen jeden Einzelnen von uns. Wir haben gesündigt, sind schuldig geworden vor dem Volk, vor dem Menschen, vor Gott. Und die erste, heiligste Lebenspflicht für uns Überlebende ist die: Wir müssen Rechenschaft ablegen über unser Verschulden.14
Der Holocaust sei weder plötzlich noch unerwartet angebrochen, vielmehr seien zahlreiche Vorzeichen zu beobachten gewesen, etwa die Pogrome in Osteuropa und die blutigen Ausschreitungen, denen Juden seit eh und je ausgesetzt waren – insbesondere die antisemitische Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. Aus dem zionistischen Lager seien zwar ‚Propheten‘ aufgestanden, 11 Porat, Al-domi, 120–124; Porat sieht die Bedeutung dieser Gruppe in ihrem bloßen Bestehen sowie in ihrem Bemühen, sich der durch den Holocaust entstandenen neuen Realität zu stellen und deren aktuelle Auswirkungen zu diskutieren. S. dazu auch: Porat, Martin Buber. 12 Dazu Zameret, Bejn Palestinozentriut le-Judozentriut, 280. 13 Dinur, Goralenu u-Milchamtenu; wiederabgedruckt in: Dinur, Sachor, 14–34 (Zitatnachweise nach diesem Nachdruck). Die namentliche Identifizierung der Sprecher bei Porat, Al-domi (123f., Anm. 67) und Martin Buber, 119. Porat äußert die Vermutung, dass vielleicht Protokolle mehrerer Sitzungen in diese Gesprächsaufzeichnung eingegangen sind. 14 Dinur, ebd. 18.
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die den Mut und den Scharfblick besessen hätten, vor dem herannahenden Unheil zu warnen, aber es sei die Schuld der zionistischen Vereinigung, nicht auf sie gehört zu haben: Sie habe sich der Auseinandersetzung mit der Realität entzogen und ihre historische Pflicht vernachlässigt, die Verantwortung auf sich zu nehmen und sofortige Schritte zu ergreifen, um die Juden aus Europa nach Palästina in Sicherheit zu bringen, als die politische Situation im Lande dies noch zugelassen hätte. Stattdessen hätten die Zionisten in Palästina Herzls Weg verlassen, jeder habe sich nur um sich selbst gekümmert: Der große, wahrhafte Prophet, der nicht seinesgleichen hatte nach dem Ende der Vision in Israel, der deutlich sah und es klar aussprach, der in die Zukunft schaute und Wege zu Rettung und Erlösung wies – ihn haben wir verlassen, auf seinen Ruf haben wir nicht gehört, ihn haben wir nicht unterstützt. Wir haben ihm den Titel ‚Diplomat‘ verliehen und uns andere Propheten ernannt, die bequemer und besser waren, klüger und verständiger. Scharfsinnig und lebensklug, wie sie waren, haben sie uns darüber belehrt, dass das jüdische Problem unlösbar sei; solchen Spruch haben wir gern gehört, denn er befreite uns von übermäßiger Sorge. Gott wird’s machen, uns bleibt nicht viel zu tun.
Die Zionisten seien hochmütig und selbstsicher gewesen, sie hätten sich in der Rolle der Generation gefallen, die am Vorabend der Erlösung stehe; sie seien so damit beschäftigt gewesen, die Vorzüge dieses Status auszukosten, dass sie es versäumt hätten, die Verantwortung zu übernehmen, die mit solch hohem Amt verbunden sei. Dinur verwies auf die Ironie und die Tragik, die darin liege, dass ausgerechnet der Generation der nationalen Wiedergeburt diese Strafe zuteil geworden sei: „Gibt es eine schwerere und grausamere Strafe für diese Generation, als den Becher der Zerstörung und Vernichtung bis auf den Grund leeren zu müssen?“15 Zum Abschluss betonte Dinur die Notwendigkeit, sich in dieser schicksalhaften Stunde zu vereinen, Spannungen und Reibereien beiseite zu lassen, und unverzüglich Schritte zur Rettung möglichst vieler Juden aus Europa zu ergreifen. Die Broschüre, in der Dinur diese Reden kurz danach drucken ließ, versah er mit dem Titel: „Unser Schicksal und unser Kampf – fünf Ansprachen von einem Tag der Trauer und des Aufschreis“; das Heft erschien im März 1943 und Dinur verschickte einige Broschüren an Kollegen und Freunde.16 So gelangte dieses Heft zu Gershom Scholem, der es aufmerksam las und in einem Brief, der bislang eine seiner ganz wenigen direkten und aktuellen Stellungnahmen zur Vernichtung der Juden in Europa darstellt, erwiderte:
15 Ebd., 22, 23. 16 S.a. Zameret, Bejn Palestinozentriut le-Judozentriut, 181f (bes. Anm. 77).
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5. IV. 1943 Mein lieber Herr Dinaburg, ich habe Ihre Broschüre, die Sie mir freundlicherweise zukommen ließen, mit Interesse gelesen, auch versucht, die Gedanken jener Redner nachzuvollziehen, von denen einige Gesichter mir bekannt scheinen. Ich will Ihnen nicht verhehlen, was für ein Gefühl mich beim Lesen dieser Reden befällt: Wir können doch nichts erwidern, wir haben keine Worte zur Verfügung, und die Worte einiger der Redner, etwa des Frommen und des Publizisten […] erregen in mir starken Widerstand. Aber das ist nicht erstaunlich: Während der Katastrophe gibt es keine Theorie, Worte hat nur, wer aus irgendeinem Abstand schauen kann, doch wer mitten darin steht – der kann seit eh und je nur schweigen. Das ist mein Gefühl, obwohl ich immer staune, wie meine Freunde artikulieren können, was der Mund nicht zu sagen und das Ohr nicht zu hören vermag. Dabei stecken wir doch alle mitten in diesem Zusammenbruch, uns fehlt der erforderliche seelische Abstand, und vielleicht ist es das, was die Worte einiger der Redner unmenschlich wirken lässt. Verstehen kann ich den Philosophen, vielleicht auch den Historiker, obwohl ich seiner Einschätzung der zionistischen Bewegung, als ob sie die Katastrophe vorausgesehen hätte, schlechterdings nicht zustimmen kann – das ist in meinen Augen unvereinbar mit dem, was wir alle in den vergangenen dreißig Jahren miterlebt haben. Keiner von den zionistischen Propheten und keiner von unseren Leuten, auf die man hörte (ganz zu schweigen von denen, auf die man nicht hörte!) hat sich eine solche von der Bewegung der Wiederbelebung zu übernehmende Rolle vorgestellt. Nein, mein Lieber – weder Sie noch ich, weder Herzl noch Nordau haben die jüdische Krise in ihrem wahren Licht gesehen, das darf man uns nicht zum Vorwurf machen, denn an einen solchen Ausbruch der finsteren Mächte [wörtlich: ‚Sitra achra‘] hatte kein Mensch gedacht. Wie hätte er auch, und was hätten die Gedanken genützt – diese Vision hätte uns doch den Atem verschlagen, ich fürchte, sie hätte uns gelähmt, statt uns zu beflügeln. Das ist im Grunde das Tragische: Der Zionismus, der sich die Liquidierung des Exiljudentums nicht so vorgestellt hatte, hat überhaupt keine Antwort auf diese Ereignisse. Er hatte eine Antwort auf Ereignisse völlig anderer Art – wozu sollen wir uns klüger und reicher machen, als wir waren? Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen sage, dass der Historiker meines Erachtens einmal anders sprechen muss, und dann wird seine Rechnung noch viel trüber ausfallen als die Ihrige. Und auf eine solche Rechnung müssen wir uns gefasst machen. Ihr Gershom Scholem17
Scholems Reaktion auf Dinurs Broschüre und die heftigen Widerstände, die er bei der Lektüre empfand, sind wichtig, um seine Haltung gegenüber dem Holocaust zu verstehen, soweit dieser bei den Juden damals in Palästina wahrgenommen wurde, und um diese Haltung gegenüber den verschiedenen Reaktionen aus der jüdischen Bevölkerung zu verorten. Scholem artikuliert in seinem Schreiben zwei Einwände gegen die von Dinur herausgegebenen Äußerungen. Der eine ist ein Vorbehalt gegen die schriftliche und mündliche Artikulierung 17 Original hebräisch, in der Sammlung Dinur, CAHJP, Signatur P28/11/138.
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solcher Dinge in dieser tragischen Stunde. Laut Scholem kann über solch katastrophales und beispielloses Geschehen nur aus einer gewissen Distanz und aus historischer Perspektive geredet und nachgedacht werden, wohingegen der Zeitgenosse, der die unfasslichen und unsagbaren Ereignisse am eigenen Leib erfährt, sie überhaupt nicht angemessen beurteilen könne, und deshalb zum Schweigen verurteilt sei. Scholems zweiter Einwand richtet sich gegen Dinurs eigene Worte, nämlich gegen den von ihm erhobenen Vorwurf, das jüdische Volk und der Zionismus hätten die Stimmen, die vor der herannahenden Katastrophe gewarnt hatten, geflissentlich überhört.18 Dagegen verwahrt sich Scholem energisch mit dem Argument, keiner von den maßgeblichen Männern des Zionismus habe voraussehen können, wie extrem sich die Dinge entwickeln würden. Denn der „Generation der Wiederbelebung“ – und diesen Terminus hat Scholem doppelt unterstrichen, um die traurige Ironie zu betonen, die im Bedeutungswandel dieses Wortes in seinem neuen historischen Kontext liegt – war eine andere Aufgabe zugedacht, als die wenigen Überlebenden eines ermordeten Volkes zu repräsentieren. Nicht nur, dass keiner der wichtigsten zionistischen Vertreter das Unheil hätte voraussehen können, darüber hinaus hätte die Ahnung eines dermaßen erschütternden Schicksals die zionistischen Aktivisten in ihrem Handeln erlahmen lassen. Darin sieht Scholem die Wurzel der wahrhaft großen Tragödie des Zionismus angesichts des Holocaust: Der Zionismus sei zur Lösung anderer Probleme in einer anderen historischen Wirklichkeit geschaffen worden, sein Ziel sei die Errichtung eines jüdischen geistigen Zentrums im Land Israel gewesen, um die Fortdauer der Existenz des Judentums zu gewährleisten. Auf die Ereignisse der Gegenwart, deren Schrecken jegliches Vorstellungsvermögen überstiegen – die physische Liquidierung der Juden im Exil durch die Nationalsozialisten – habe er schlechterdings nichts zu erwidern. Aus Scholems Äußerungen in seinem Brief an Dinur folgt demnach, dass das historische Ereignis der Vernichtung der europäischen Juden das zionistische Werk zwangsläufig in eine Sackgasse geführt habe: Der Zionismus, der nicht imstande war, die Ereignisse vorauszusehen, konnte von vornherein keine Antwort auf diese geben; dadurch habe er seine Legitimation und Relevanz als Voraussetzung einer geistigen Wiederbelebung des Judentums wie überhaupt für eine politische Lösung der „Judenfrage“, verloren. Und wer in einer solchen Sackgasse stecke, könne eigentlich nur schweigen.19 Grundsätzlich widersprach also Scholems in diesem Brief geäußerte Haltung jener Tendenz, die unter den meisten jüdischen Bewohnern Palästinas vorherrschte: nämlich, den Holocaust (wie Dinur) als nachträgliche Bestätigung zu 18 Dazu Zameret, Bejn Palestinozentriut le-Judozentriut, 282–287. 19 S.a. Talmon, Israel among the Nations, 160–161.
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betrachten, dass der zionistische Weg der richtige gewesen sei. Dazu bemerkt Yechiam Weitz: „Das Gefühl, die wichtigste aus dem Holocaust gewonnene Erkenntnis (oder doch eine der wichtigsten) sei der Sieg des Zionismus gewesen, war eindeutig und allen Strömungen der jüdischen Bevölkerung in Palästina gemeinsam.“20 Allerdings waren unter den Juden in Palästina auch etliche, die das Vertrauen in den Weg und die Ziele der zionistischen Bewegung verloren hatten; solche Stimmen ertönten besonders in dem hier zur Debatte stehenden Zeitraum, als die Ausmaße der Katastrophe bekannt wurden. Auch in der Gruppe Al-Domi wurden Zweifel an Geltung und Relevanz des Zionismus laut, verstärkt durch die Unfähigkeit der jüdischen Führung in Palästina, sich zu einer wirksamen Rettungsaktion zu entschließen. Martin Buber ging sogar so weit, diese Passivität und Hilflosigkeit als Mangel an Solidarität der palästinischen Juden mit ihren europäischen Brüdern zu deuten.21 Dalia Ofer wiederum erklärt die fast völlig fehlende Kritik an der Entscheidung der jüdischen Führung in Palästina, mit der britischen Regierung zu kollaborieren, obwohl diese jüdischen Flüchtlingen die Einwanderung nach Palästina verwehrte und dadurch die Rettung von Juden hintertrieb. Einen möglichen Grund dafür sieht Ofer in „the deep-rooted feeling that there were limits to the Yishuv’s ability and in the perplexity caused by the disparity between Zionism’ self-image as the only solution for ensuring continued Jewish existence and its actual ability to assist and save European Jewry“.22 Doch im Unterschied zu der relativ kleinen Al-Domi-Gruppe – aus der einige Sprecher in der von Dinur veröffentlichten Broschüre zu Wort gekommen waren – und auch im Unterschied zu der von Ofer erwähnten Enttäuschung war Scholems Verzweiflung am Zionismus nicht durch die mangelnde Reaktion der palästinischen Juden auf die Vernichtung ausgelöst, sondern wurzelte tiefer: Die katastrophale historische Entwicklung habe den Zionismus nachträglich als eine für das jüdische Volk nutzlose Geistesströmung erwiesen. Wie im ersten Teil dieses Buches ausführlicher dargelegt, hatte bei Scholem bald nach seiner Einwanderung, wenn nicht schon vorher, eine gewisse Enttäuschung im Hinblick auf die Verwirklichung der Ziele des Zionismus eingesetzt. Dabei markierte die blutigen Ereignisse von 1929 den Wendepunkt, von dem an er nicht mehr aktiv in die Politik einzugreifen versuchte. Schon damals zeichnete sich seine deterministische Haltung gegenüber dem Zionismus ab, und aus dem Schreiben an Dinur geht hervor, dass diese sich noch verstärkt hatte: Unter dem niederschmetternden Eindruck des Genozids an den europäischen Juden blieb ihm nur noch das Schweigen. Scholems Sicht des Zionismus angesichts der Vernichtung 20 Weitz, Jischuv, Gola we-Schoa, 143; s.a. Ofer, Fifty Years After, 465. 21 Dazu Porat, Al-domi, 111ff; Porat, Martin Buber, 119f. 22 Ofer, Fifty Years After, 465.
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des europäischen Judentums spricht auch aus einer Tagebucheintragung, die er drei Monate vor dem Brief an Dinur niederschrieb. Darin übt er scharfe Kritik am Zionismus, an der zionistischen Arbeit und an der jüdischen Öffentlichkeit in Palästina: 9. Januar 1943 In Europa geht mein Volk unter, physisch und wenn etwa etwas davon bleiben sollte, seelisch – das Volk dessen echtes trauriges Schicksal zu teilen ich doch eigentlich hierherkam. Ich kam ja, weil ich die Vorstellung nicht ertragen konnte, daß wir es nicht versucht haben zu retten, und dachte: wenn scheitern, dann darfst du dich nicht drücken. Nun sitzen wir hier in einem Zion, das keines ist: 500.000 Menschen (Juden) – so muß man wohl sagen – und davon vielleicht 50.000 von denen an die wir dachten. Das andere Lug und Trug – und dabei ist doch aber das entscheidend, daß zum anderen jener Lug und Trug den „Aufbau“ in den großen Maßstäben „geschmißen“ hat, vollbracht hat, wenn dieses Nachtasyl in der Heimat, für ein Volk das inzwischen abgeschlachtet wurde, ein Vollbringen ist. Und der Rausch aus Zittern geht weiter…23
Dieser Text ist ganz deutlich eine private Aufzeichnung, daher lässt er die stilistische und inhaltliche Klarheit vermissen, die Scholem für andere bestimmte Äußerungen ansonsten auszeichnet. Doch ist die Eintragung sehr aufschlussreich, um seine Einstellung zum Zionismus und zur damaligen jüdischen Führung in Palästina besser zu verstehen. Der erste wichtige Punkt, der hier zur Sprache kommt, ist das (oder ein) Motiv für Scholems Einwanderung, wie er es zu jenem Zeitpunkt sah: nämlich, am tragischen Schicksal seines Volkes teilzuhaben und dadurch – offenbar – die jüdische Kultur vor ihrer Vernichtung zu retten und ihr Weiterbestehen zu sichern; doch hatte er feststellen müssen, dass die zionistische Arbeit in Palästina überwiegend in eine andere Richtung ging. Aus der Fortsetzung dieses Abschnitts tritt wiederum das Deterministische zutage, das oben als ‚alternativloser Zionismus‘ bezeichnet wurde. Aber sein persönlicher Ansatz, sich mit der Bestimmung des Zionismus auseinanderzusetzen, stellte keine Lösung für jenes gewichtige Problem dar, das er im Zusammenhang mit dem politischen Zionismus gegeben sah: Der von ihm bevorzugte jüdisch-kulturelle Charakter der jüdischen Gemeinschaft in Palästina trat zugunsten einer möglichst zahlreichen Einwanderung von Juden zurück. So seien kaum zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung in Palästina Menschen von der Art, wie sie für die Verwirklichung des Kulturzionismus gebraucht worden wären, die übrigen neunzig Prozent bezeichnet er als „Lug und Trug“. Zu seinem Unmut war es diese Mehrheit der palästinischen Juden, die den Aufbau des Landes bis dahin bewerkstelligt hatte, wodurch die Haltung des politischen Zionismus die dominierende geworden war. So sei das jüdische Siedlungswerk in Palästina zu einem
23 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 66. (Hervorhebung von mir, N.Z.)
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„Nachtasyl in der Heimat“ geworden, das seinen Zweck auch insofern verfehlt habe, als das Volk, dem es hätte dienen sollen, inzwischen ermordet wurde. Dass Scholem hier den Ausdruck „Nachtasyl“ wählte, war bittere Ironie, denn als „Nachtasyl“ hatte seinerzeit Max Nordau Uganda bezeichnet, als er im Sommer 1903 auf dem sechsten Zionisten-Kongress für Herzls umstrittenen Vorschlag plädierte, Uganda zum vorläufigen Zufluchtsland für die in Europa verfolgten Juden zu machen – mit der Nennung des afrikanischen Landes reagierte Herzl auf die Pogrome von Kischinew. Nordau hatte damit die Vorläufigkeit dieser Lösung signalisieren wollen, Uganda sollte nur eine Durchgangsstation auf dem Weg ins Land Israel sein. Damals hatte Nordau gesagt: Vor dem unverrückbaren Ziele der jüdischen Besiedlung Palästinas darf es nur eine Haltestelle unterwegs und eine provisorische Arbeit geben: das ist die Errichtung eines Notbaues für die Hunderttausende unglücklicher Brüder – ob Zionisten oder nicht, ist ganz gleichgültig; es genügt, daß sie Juden sind – die, anders als wir Sässigen, nicht warten können, die bereits auf der Wanderung begriffen sind, […] die untergehen würden, wenn wir nicht etwas tun würden, um sie zu retten. Für diese Hunderttausende müssen wir, ehe wir ihnen eine ständige Dauerwohnung anweisen können, gleichsam ein Nachtasyl eröffnen.24
Vor dem Hintergrund dieser Kongress-Rede von Nordau tritt Scholems ironische Verwendung desselben Ausdrucks deutlich hervor. In seinem Tagebucheintrag bezeichnet Scholem seine eigene Einwanderung als einen Rettungsversuch, allerdings war dessen Richtung angesichts der historischen Ereignisse eine andere geworden: Herzls Vorschlag war seinerzeit auf heftigen Widerstand gestoßen, weil die Befürchtung bestand, Uganda werde aus einem Provisorium zu einer Dauerlösung werden und dadurch Zion als den eigentlichen Bestimmungsort verdrängen; doch nun war eben dieser Bestimmungsort, Zion, zu einem jüdischen Territorium ohne geistige Bestimmung geworden, zu einem „Nachtasyl in der Heimat“, und das eigentliche Ziel verloren gegangen. Unter dem Druck der historischen Umstände war das Land Israel zu einem palästinischen Uganda geworden, oder wie Achad Haam gesagt hätte: zu einem Judenstaat, und nicht zu einem jüdischen Staat. Daraus ist Scholems doppelte Enttäuschung und Resignation zu spüren: Nicht nur, dass die in Palästina befindlichen Juden nicht jene Zionisten waren, von denen die Errichtung eines jüdischen Zentrums im Land Israel zu erhoffen war und dadurch das Land seine jüdische Bedeutung eingebüßt hatte; darüber hinaus war das jüdische Volk, das in einem späteren Stadium der zionistischen Verwirklichung hätte ins Land strömen sollen, inzwischen auch ermordet worden. So war Zion zu einem Zentrum ohne Peripherie geworden, d. h. es war seiner Wirksamkeit als Zentrum beraubt, denn die Peripherie ist ein wesentlicher Faktor bei der Definition des Zentrums. 24 Nordau, Zionistische Schriften, 152f.
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Scholems Kritik an der jüdischen Bevölkerung des Landes während der Kriegsjahre, die in seinen Augen in „Lug und Trug“ lebte, wird im folgenden Kapitel noch ausführlicher zur Sprache kommen. Im gegenwärtigen Kontext ist die Beobachtung wichtig, dass der soeben zitierte Tagebucheintrag aus dem Gefühl einer persönlichen Krise heraus geschrieben scheint. In der Tat sind an etlichen weiteren Stellen in Scholems Tagebuch aus diesem Zeitraum Anzeichen dafür zu finden, dass sich sein Gemütszustand verschlechterte. Er klagte darüber, dass er nicht arbeiten konnte, dass ihm der Kontakt mit den Menschen ringsum schwer fiel und er sich zunehmend isoliert fühlte. So beginnt etwa der bereits erwähnte Tagebucheintrag vom 9. Januar 1943 mit Problemen, die ihn bei der Abfassung seines Buches über den Sabbatianismus begleiteten; danach kommt er auf den jüngst verstorbenen Arthur Ruppin zu sprechen, einen der Begründer von Brit Schalom: Der Tod von Ruppin schien mir fast ausschließlich unter der einen Perspektive: wie beneidenswert. Und dabei kann ich doch gar nicht von meiner ganz innerlichen Qual und Versuchung weg. […] Ich habe in diesen zwei Wochen mit keinem, aber keinem Menschen ein Wort gesprochen, bei dem ich nicht gegen ein Gähnen hätte ankämpfen müssen.Ich sehe zuerst endgültig und wahr, daß meine Jugend, an die ich so paradox bisher geglaubt hatte, vorbei ist. Das ist es, was ich so schwer fassen kann. Die Jugend ist vorbei, aber ich kann das andere Leben nicht ergreifen. Es geht ja soweit, daß ich nicht mehr zu konzentrierter Lektüre fähig bin: das schlimmste Zeichen bei mir.25
Scholems seelischer Zustand in den Jahren des Weltkriegs fand auch markanten Ausdruck in seinem schon häufig erörterten Aufsatz über die Wissenschaft des Judentums von 1944. Ich lese diesen Text als ein Dokument, das sowohl Scholems damalige seelische Verfassung als auch seine Einstellung zum Judentum und zum jüdischen Volk angesichts des Holocaust widerspiegelt. Scholems Reaktion artikulierte sich durch ein für ihn naheliegendes Prisma, nämlich das des Verständnisses der jüdischen Geschichte, reflektiert durch die Geschichte der Wissenschaft des Judentums, an der ihm so viel lag.
b.
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Im Herbst 1944 erschien im Kalender der hebräischen Tageszeitung Haaretz ein Beitrag von Gershom Scholem mit dem Titel: Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum (Vorwort zu einer nicht gehaltenen Jubiläumsrede). Dieser Text wurde zu einem der meistdiskutierten Aufsätze von Scholem und ist für das Verständnis seiner Geschichtsauffassung von zentraler Bedeutung; die „nicht gehaltene Jubiläumsrede“ hätte wohl zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des Instituts für 25 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 65.
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Jüdische Studien an der Hebräischen Universität stattfinden sollen.26 Wir wissen zwar nichts über die Umstände, unter denen die Feier – wenn eine solche tatsächlich geplant war – oder Scholems Teilnahme daran abgesagt wurde, aber der von ihm hinzugesetzte Untertitel ist insofern bedeutsam, als er den Gesamttenor des Aufsatzes anklingen lässt: Worte, die ungesprochen bleiben, gute Absichten, die nicht in die Tat umgesetzt werden. Das im Titel anklingende ungute Gefühl von Passivität und Machtlosigkeit durchzieht den gesamten Aufsatz. Was Scholem hier vorlegt, ist eine Art Rechenschaftsbericht über die verschiedenen Entwicklungsstadien der Wissenschaft vom Judentum, eine herbe Kritik an den Begründern dieser Disziplin im 19. Jahrhundert sowie an der Generation ihrer Nachfolger, die unter dem Eindruck der „nationalen Erneuerung“ des jüdischen Volkes wirkten. Scholems Text ist durchwegs unter dem Eindruck des Holocaust entstanden; geschrieben von einem Mann, der sich über das Schicksal der Juden in Europa keine Illusionen mehr macht und angesichts der unwiederbringlich Verlorenen Bilanz zieht. Auch die verwendete Sprache und die Metaphorik weisen in diese Richtung, und zwar insofern, als sie semantisch ins Düstere und Morbide tendieren. Die seinen Ausführungen zugrundeliegende Prämisse ist die Annahme, dass der Erneuerungsprozess der jüdischen Wissenschaft völlig gescheitert sei, insbesondere in der Art, wie ihn die zionistische Bewegung konzipiert hatte und wie er durch die Errichtung des Instituts für Jüdische Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem realisiert worden war: Die Erhebung von Materialien aus der Vergangenheit solle demnach als vitale Kraft für den gegenwärtigen Aufbau fungieren. Mit diesen Überlegungen versucht Scholem, die Ursachen für das Scheitern und die Enttäuschung aufzudecken, er will zeigen, worin der gegenwärtige beklagenswerte Zustand der Jüdischen Studien seine Ursache habe. Um diese Fragen zu beantworten, analysiert Scholem die Entwicklung der Wissenschaft vom Judentum im 19. Jahrhundert mitsamt ihren Widersprüchen. Diese Widersprüche seien wichtig für das Verständnis der Rolle, welche diese Wissenschaft als historischer Faktor in der Geschichte des jüdischen Volkes gespielt habe. Er unterscheidet dreierlei Widersprüche: Der erste sei der zwischen der Proklamation einer objektiven, „reinen“ Wissenschaft und der politischen Aufgabe, die ihr im 19. Jahrhundert als Mittel im Kampf des Judentums für gleiche Rechte zukam. Der zweite Widerspruch liege in der Tatsache, dass die Begründer der Wissenschaft Aufklärer waren und ihr humanistisches Pathos den Lehren der Aufklärung entstammte, gleichzeitig aber ihr Zugang zur historischen Forschung und die angestrebten Ziele von romantischen Motiven bestimmt ge-
26 Deutsche Übersetzung von Peter Schäfer in: Scholem, Judaica 6, 7–52 – im Folgenden danach zitiert.
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wesen seien.27Als dritten und grundsätzlichsten Widerspruch nennt Scholem die enge Verknüpftheit der „Konstruktions- und Destruktions-Tendenzen in dieser Wissenschaft“.28 Zwar enthalte jede Erneuerungsbewegung einen Kern oder ein Potenzial von dialektischer Anwendung der historischen Kritik zum Zweck von Aufbau und Erneuerung, doch bei der Wissenschaft des Judentums habe diese Dialektik ein fürchterliches Paradox hervorgebracht: Die Art und Weise, wie die Wissenschaftler des Judentums im 19. Jahrhundert die Geschichte verstanden, machte die Nutzung des optimistischen und konstruktiven Potenzials von Forschung und Wissenschaft unmöglich; so sei das romantische Ziel ihrer Forschung praktisch darauf hinausgelaufen, dem Judentum ein „sofortiges Begräbnis“ zu bereiten. Diese Aussage erläutert Scholem in der Fortsetzung, wobei er den historischen Zusammenhang mit den derzeitigen Ereignissen im Europa des Jahres 1944 andeutet: In der letzten Zeit neigen wir gelegentlich dazu, die Tendenzen zum historischen Selbstmord, zur Liquidation und Auflösung, die in der jüdischen Aufklärung wirksam waren, allzu sehr zu vertuschen. Zehn Gewänder trug der Dämon, der über diese Liquidation im Abendland eingesetzt war – offenkundig und im Verborgenen. Allzu oft vergessen wir, daß die Wissenschaft vom Judentum ebenfalls erheblichen Anteil an den Liquidationstendenzen hatte und daß ihre Vertreter hauptsächlich in dieser Funktion von den in der Öffentlichkeit maßgeblichen Kräften akzeptiert wurden.
Ob mit oder ohne Absicht – die Richtung, in die die Männer der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert den Gegenstand ihrer Forschung lenkten, war die von „Liquidation“ und „Tod“; den „berühmten Optimismus in ihren Ansichten“ bezeichnet Scholem als „Lüge und Maske“, er sieht darin etwas von der sitra achra, der Seite des Bösen. In der Fortsetzung schildert er anschaulich den so genannten metaphysischen Schauplatz der Wissenschaft des Judentums als einen Zustand zwischen Leben und Tod. Den Bereich, wo das Rationale und das Geistige in der jüdischen Geschichte betont wird, um bei Nichtjuden Gehör zu finden, sieht er als eine Wüste, wo körperlose Geister umherirren, die sehnsüchtig auf ihre vergangene Welt zurückschauen. „Wie gern würden auch sie dort wandeln, wie müde sind sie vom generationenlangen Wandern und verlangen nach Ruhe“. Leopold Zunz, den Begründer der Wissenschaft des Judentums, und den Bibliographen Moritz Steinschneider bezeichnet er als „Riesen […], die sich aus nur ihnen bekannten Gründen zu Totengräbern, Einbalsamierern und sogar Leichenrednern gemacht haben, die sich als Zwerge verkleiden, die Gräser auf den Feldern der Vergangenheit sammeln und sie trocknen, auf daß keine Lebensessenz in ihnen bleibe, und sie in etwas legen, von dem zweifelhaft ist, ob es
27 Scholem, Judaica 6, 13–17. 28 Ebd., 19.
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ein Buch oder ein Grab ist“.29 Mit diesen Worten beschreibt Scholem die apologetische Tendenz der jüdischen Forschung, die der christlich-deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts das Judentum mundgerecht machen wollte, um die Emanzipation der Juden und ihr Aufgehen in eben dieser Gesellschaft zu erleichtern. Um die jüdische Geschichte akzeptabel zu machen, sei ihr das lebendige Mark entzogen worden, es wurde ignoriert, was nicht ins politische Konzept der Forscher passte. So fehlte den Arbeiten dieser Wissenschaftler die fruchtbare und schöpferische dialektische Spannung zwischen den in der jüdischen Kultur nebeneinander wirksamen destruktiven und konstruktiven Kräften; die jüdische Wissenschaft versank in ein belangloses Gleichmaß und erging sich in einer „Orgie der Mittelmäßigkeit“.30 Dieser traurige Zustand änderte sich mit dem Aufkommen des Zionismus, als die ganze jüdische Geschichte einen Perspektivenwechsel erfuhr, wonach der Blick nicht von außen nach innen, sondern „vom Zentrum zur Peripherie gehen müsse“. Aus einer neu gewonnenen jüdischen Identität heraus sollte „das ganze Gebäude der Wissenschaft neu erbaut“ werden, und „die Probleme, Ereignisse und Ideen als das anzusehen, was sie wirklich sind, im Rahmen ihrer historischen Funktion in der Nation“.31 Daraufhin bestand die Aufgabe der jüdischen Wissenschaftler im Zeitalter der „nationalen Erneuerung“ darin, ein Bild der Geschichte des jüdischen Volkes zu entwerfen, das nicht mehr apologetisch auf die nicht-jüdische Umgebung hin orientiert sein sollte. Diese neue Wissenschaft vom Judentum bemühte sich nicht mehr um „das Waschen und Einbalsamieren des Toten“, sondern um „die Aufdeckung des verborgenen Lebens durch die Entfernung der verhüllenden Vorhänge und Kulissen und der irreführenden Etiketten“. Oder anders gesagt: Die jüdischen Wissenschaftler der nationalen Erneuerung sollten die Erscheinungen aufdecken, die der Geschichte des Judentums ihre Vitalität verliehen. Das waren eben die Phänomene, vor denen die ältere Generation der Wissenschaftler des Judentums zurückgeschreckt war, die sie hatten einbalsamieren, trocknen und begraben wollen, da sie nicht mit ihren politischen Zielen in Einklang zu bringen waren: „Und es ist durchaus wahrscheinlich, daß das, was jene Entartung nannten, von uns für eine Lichterscheinung gehalten wird, und was jenen wie kraftlose Phantastereien vorkam, sich uns als lebendiger, mächtiger Mythos offenbaren wird.“ Durch solches Aufdecken des bisher Verborgenen entstehe ein neues, umfassenderes Bild der Geschichte des jüdischen Volkes, frei von den Widersprüchen, mit denen die Wissenschaft vom Judentum im 19. Jahrhundert behaftet gewesen war.
29 Ebd., 21–26. 30 Ebd., 31. 31 Ebd., 41.
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Eine Wissenschaft, welche die Verlogenheit der reinen Geistigkeit begreift, weiß sich auch von neuem dem Problem des wechselseitigen Einflusses von Körper und Seele der Nation zu stellen und wird uns lehren, in unbestechlicher Nüchternheit das gewaltige Problem des Verhältnisses zwischen Israel und den Völkern zu sehen.32
Damit hat Scholem den Kern seiner Kritik erreicht. Der Rückblick auf die Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert und ihre Schwächen diente ihm nur als Hintergrund für das akute Problem, das ihm auf der Seele brannte: die derzeitige Situation der Jüdischen Studien, die eben jene Veränderung hätten erfahren sollen, die er für das Zeitalter der nationalen Erneuerung skizziert hatte. Diese habe zwar neuen Sinn und Inhalt in die jüdische Wissenschaft gebracht, vieles habe sich seit damals getan, aber letzten Endes sei die derzeitige Generation jüdischer Wissenschaftler doch „auf dem Weg von der Vision zur Verwirklichung steckengeblieben“. All das Niedrige, Groteske, Kränkende aus dem Erbe der alten Wissenschaft des Judentums sei nicht gründlich genug durch das Skalpell der Kritik ausgemerzt worden. „In Wirklichkeit haben wir in zahllosen Einzelheiten genau dieselbe Sichtweise übernommen, die wir in unseren Deklarationen schmähten. Wir traten als Rebellen an, als Nachfolger finden wir uns wieder“.33 Die Mängel, die von der jüngeren Generation der jüdischen Wissenschaftler an ihren Vorgängern gerügt worden waren, bestünden immer noch, nur mit anderen Vorzeichen. Der Hauptunterschied bestehe darin – in Paraphrase eines Ausspruchs von Scholems großem Gegner, Baruch Kurzweil34 – dass an die Stelle der apologetischen Haltung der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert nunmehr die jüdisch-nationale getreten sei: „Alle diese Plagen haben jetzt ein nationales Gewand angezogen. Vom Regen in die Traufe: Nach der Leere der Assimilation kommt eine andere, die der großsprecherischen nationalen Phrase“. Oder anders gesagt: Die Sprache und der historische Kontext der jüdischen Geschichtsschreibung hätten sich zwar geändert, aber die grundsätzliche Verfälschung der jüdischen Wissenschaft zur Erreichung politischer, womöglich messianischer Ziele, bestehe immer noch, nur dass die Ziele früher emanzipatorische waren und nunmehr nationale. 32 Ebd., 43–45. 33 Ebd., 49. 34 Kurzweil, be-Maavak, 201. Den Hauptpunkt von Kurzweils Kritik an Scholem bildete hier der Vorwurf der Säkularisierung, d. h. des Versuchs, ein Judentum und eine jüdische Wissenschaft aufzubauen, in deren Zentrum nicht Gott stehe, sondern der Begriff der Geschichte; daher schreibt er: „Doch ist die Erkenntnis unabweisbar, dass an die Stelle der Apologetik ein säkularer Nationalismus getreten ist“. Kurzweils Polemik sieht in Scholem einen Vertreter des säkularen jüdischen Nationalismus, aber nach meinem Verständnis von Scholems Ausführungen wendet sich dieser gerade gegen die nationalistisch-messianischen Strömungen im Zionismus. Näheres dazu im Folgenden. Eine ausführlichere Erörterung von Scholems Einstellung zur Säkularisierung und weshalb ihn Kurzweil ebendiesem Lager zurechnete, würde hier zu weit führen; vgl. Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism.
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Doch nicht nur in dieser Hinsicht habe die Wissenschaft vom Judentum ihr erklärtes Ziel verfehlt; die über die Juden Europas hereingebrochene Katastrophe habe überdies die bloße Hoffnung auf Verbesserung in Frage gestellt: Es ist noch zu früh, ein Loblied anzustimmen. Die Wissenschaft vom Judentum braucht eine Reform an Haupt und Gliedern. Wer weiß, ob es uns noch gelingen wird, das uns Auferlegte zu vollenden. Denn wir haben auf Heilung gehofft, doch statt dessen – Grauen.35 Durch die völlige Vernichtung unseres Volkes in Europa ist auch die Mehrheit der frischen Kräfte, auf die wir unsere Hoffnung zur Weiterführung des Werkes setzten, vernichtet. Vielleicht wissen wir gar nicht, wie verwaist und einsam wir bei unserer Aufgabe sind. Werden wir den Bau mit den verbliebenen Kräften der Überlebenden bewältigen? Manchmal scheint es, daß wir vor der großen Vision einer sich erneuernden Wissenschaft vom Judentum genauso dastehen wie jene Engel, die gerufen wurden, vor Gott ihr Loblied zu singen, es aber nicht zum Abschluß bringen konnten, „denn ihre Kraft, vor ihrem Schöpfer zu stehen, läßt nach und hört auf, wie das Verlöschen des Funkens auf der Kohle“.36
Was dem Leser dieses Aufsatzes unübersehbar entgegentritt, ist die durchweg negative Note und das Gefühl der Hilflosigkeit. Michael Brenner schreibt dazu in seiner Darstellung der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert: „Weder zuvor noch danach hatte ein Vertreter der Jüdischen Studien solch radikale Worte zur Entstehung und Entwicklung seiner Disziplin geäußert“.37 Der Text strahlt vom Anfang bis zum Ende Pessimismus, Passivität und Resignation angesichts der historischen Situation aus, um die es geht: die Unfähigkeit der Wissenschaft des Judentums im Zeitalter der „nationalen Erneuerung“, im Vergleich zu den Leistungen der vorangegangenen Generation eine tatsächliche Veränderung und Erneuerung zu bewirken. Scholem stellte die vorige Generation als dämonisch dar, ihr Tun stamme von der Sitra achra, die Liquidationstendenzen rochen nach Tod und bereiteten dem Judentum ein wissenschaftliches Begräbnis. Die Gegenwart sei gekennzeichnet vom Unvermögen der neuen Generation jüdischer Historiker und Denker daran etwas zu ändern. Trotz positiver Anfänge habe sich letzten Endes die Macht der Kontinuität als stärker erwiesen, und die gutgemeinte Revolte habe nur Formales verändert, nicht aber die Inhalte. Und für die Zukunft sei wenig anderes als Zerstörung und Isolierung zu erwarten, zudem noch die Ungewissheit, ob die wichtige Aufgabe der Rettung von jüdischer Wissenschaft und Judentum überhaupt zu vollenden sei. Der Aufsatz schließt mit dem Gleichnis von den Engeln, die ihren Lobgesang vor dem göttlichen Thron nicht vollenden können, weil sie zu klein und zu schwach seien: Die zionistischen Vertreter der modernen Wissenschaft vom Judentum, einschließlich er selbst, so
35 Scholem strukturiert diese Wendung nach Jes 5, 7. 36 Scholem, Judaica 6, 50–52. 37 Brenner, Propheten des Vergangenen, 223.
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Scholem, scheitern an ihrer Aufgabe vor Gott und seien nicht imstande, das angefangene Werk zu vollenden. Die tiefe Resignation, die dem Leser aus diesem Text entgegenschlägt, blieb Scholems Kollegen an der Hebräischen Universität, gegen die sich seine Kritik in erster Linie richtete, natürlich nicht verborgen; in einigen Fällen resultierte daraus eine selbstkritische Debatte. So dokumentierte etwa Hugo Bergmann in seinem Tagebuch am 5. Oktober 1944 ein Gespräch über Scholems Aufsatz, das er unterwegs zu einem Seminar von Jugendleitern mit seinen Begleitern führte: Auf dem Wege hatte ich mit [Nathan] Rotenstreich und [Hannoch] Reinhold [(Rinot)] ein Gespräch über Scholems aufregenden Aufsatz im Kalender des Haarez. Ich sagte, der Artikel könne eigentlich ein Selbstmord-Motiv geben, weil er zu so verzweifelten Resultaten kommt. Denn warum haben wir nicht eine von Seitenblicken nach rechts und links freie Wissenschaft des Judentums geschaffen, warum blieb die in hebräischer Sprache geschriebene Wissenschaft genau so apologetisch und idyllisch und innerlich unwahr, wie die in fremden Sprachen geschaffene? Es muß etwas tief Innerliches sein, das uns nicht offen und aufrecht uns selbst ins Gesicht sehen läßt, irgendwie ein schlechtes Gewissen über uns selbst. Mir scheint es, daß es daher kommt, daß wir nicht wissen, wo wir selbst geistig stehen, weil wir auch im nationalen Judentum keinen Standpunkt gefunden haben, auf dem wir stehen könnten, von dem aus wir ruhig zu unserer Existenz ja sagen könnten und uns der jüdischen Räuber nicht zu schämen brauchten.38
Bergmann, ebenfalls ein früheres Mitglied von Brit Schalom, sah den Ansatzpunkt für Scholems Kritik offenbar nicht nur in der jüdischen und zionistischen Historiographie, sondern auch im politischen Bereich. Das ist eine Bestätigung für Avraham Shapiras Feststellung, Scholems historiosophische Perspektive sei nicht nur das Resultat seines Zionismus gewesen, sondern geradezu mit diesem identisch.39 Im Unterschied zu einem später vorgebrachten Erklärungsversuch, wonach Scholems Schuldgefühl daher rühre, dass er sich durch die Auswanderung nach Palästina dem Schicksal des europäischen Judentums entzogen habe,40 sieht Bergmann den Ursprung dieses Gefühls in der aktuellen Situation in Palästina. Das Bewusstsein, nach zwanzig Jahren im Land immer noch nicht ‚angekommen‘ zu sein – sei es auf privater oder auf kollektiver Ebene – war für Zionisten wie Scholem und Bergmann nicht leicht zu verkraften. Beide waren enttäuscht über die politische Entwicklung bis zu jenem Zeitpunkt und darüber, dass extreme und messianische Tendenzen innerhalb der jüdischen Bevölkerung des Landes zunahmen. Diese Enttäuschung stand im Zentrum von Scholems Aufsatz, wie aus einem Tagebuch-Eintrag vom 12. November 1944 hervorgeht. Dort berichtet er über ein Gespräch, das er anscheinend mit dem Dichter 38 Bergmann, Tagebücher und Briefe I, 640. 39 Shapira, The Symbolic Plane, 342. 40 Myers, Re-Inventing the Jewish Past, 168.
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Avraham Ben-Yitzhak (Avraham ‚Sonne‘)41 über diesen Aufsatz und dessen Implikationen geführt hatte: Heute kam Sonne auf Besuch. Rühmende Worte über meinen Aufsatz im Luach Haaretz. Er sei gekommen, um das Geheimnis in meinem Aufsatz zu erfahren, „wohin die Fahrt gehe“. Langes Gespräch über jüdische Geschichte und ihre Gebrechen. Interessant, was ihn am meisten berührt hatte: der Satz über die Abrechnung mit den Nichtjuden [Gojim].42 Warum ist es mit der jüdischen Vergangenheit und Gegenwart nicht in Ordnung? Ich antwortete: Wegen des Messianismus, der eine schäbige Auffassung der Realität als Negativum mitbedingt. Es ist nicht nur Revolution, was aus Utopien folgt, sondern auch Onanie und Lähmung. Und daß die Juden in 1000 Jahren der Vision Zions keine einzige Gurke dort gezogen haben, ist kein Zufall.43
Die scharfe Kritik, die Scholem hier am Messianismus übt, ist in diesem historischen Kontext als Kritik an den aktivistischen nationalistischen Tendenzen in der jüdischen Bevölkerung des Landes zu verstehen, die auf ein möglichst großes Territorium aus waren und die künftige Bestimmung der Grenzen des Landes beeinflussen wollten. Gemeinsam war diesen Strömungen die Vorstellung, dass die Ziele der zionistischen Bewegung durch Gewaltanwendung zu verwirklichen seien – sei es durch Errichtung von Siedlungen aus strategischen Gründen, wie sie auf die blutigen Unruhen von 1936–1939 hin stattgefunden hatte, sei es durch Vergeltungs- und Terroraktionen gegen Araber und Engländer, die sich im Lauf der vierziger Jahre mehrten. Über Scholems Ablehnung dieses politischen Kurses, den große Teile der jüdischen Bevölkerung des Landes eingeschlagen hatten, gibt ein Brief Auskunft, den er vier Jahre zuvor an seinen Freund Walter Benjamin geschrieben hatte, zwei Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und ungefähr einen Monat nach Verabschiedung des britischen Weißbuchs, das heftige Proteste ausgelöst hatte: Die Chance, eine lebensfähige palästinensische Siedlung durch die Welt des nächsten Weltkriegs zu retten, wird von uns selbst nicht weniger als von Engländern und Arabern gefährdet. Auch bei uns kommt Greuliches herauf, und mich schaudert, wenn ich daran zu denken versuche, was allein die Folge sein kann. Wir leben im Terror; die Kapitu41 Ben Yitzhak wohnte damals in Jerusalem und war mit Leuten aus dem Kreis um Scholem befreundet, so etwa mit Lea Goldberg, Berl Katznelson und Robert Weltsch. Zu seiner Persönlichkeit und Dichtung s. Goldberg, Pgischa im Meschorer; Ben-Yitzhak, Es entfernten sich die Dinge; seine politischen Ansichten waren ähnlich wie die von Scholem, dazu Goldberg, ebd. 53f. 42 Gemeint ist wohl der Satz „Eine Wissenschaft, welche die Verlogenheit der reinen Geistigkeit begreift, weiß sich auch von neuem dem Problem des wechselseitigen Einflusses von Körper und Seele der Nation zu stellen und wird uns lehren, in unbestechlicher Nüchternheit das gewaltige Problem des Verhältnisses zwischen Israel und den Völkern zu sehen, ohne Weinerlichkeit und ohne Prahlerei“ (ebd., 44f). 43 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 73; Die zweite Hälfte dieses Tagebucheintrags wechselt vom Hebräischen ins Deutsche.
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lation der Engländer vor ihm bringt die Narren unter uns zu der Meinung, daß dies also auch die einzige Waffe sei, mit der wir, unbeschadet unserer besonderen Bedingungen, etwas erreichen können. Daher geschieht, was geschieht. Ich habe nie geglaubt, daß die Engländer uns viel tun können, solange wir die Grundlagen nicht selber aufgeben, auf denen menschlich unsere Sache hier beruht. Aber wir sind im besten Zug, eben das zu tun.44
Scholems heftige Äußerungen gegenüber Benjamin erfolgten in Reaktion auf die historischen Vorgänge und Veränderungen, die sich zum Zeitpunkt der Niederschrift unter den Juden in Palästina vollzogen. Die Unruhen von 1936–1939,45 die mit einem arabischen Generalstreik eingesetzt hatten und mit gewaltsamen Übergriffen der arabischen Bevölkerung auf die ansässigen Juden und die britische Mandatsregierung einhergingen, bildeten einen Wendepunkt in der Haltung der jüdischen Bevölkerung des Landes zu der Frage, inwieweit Gewalt zur Erreichung politischer Ziele angewandt werden dürfe: Als die Ausschreitungen begannen, hatten sich die meisten Juden in Palästina noch in Zurückhaltung geübt und sich jeglicher Gewalt gegenüber der arabischen Bevölkerung enthalten. Dieses Verhalten ging aus politisch-praktischen Erwägungen hervor, war aber auch moralisch fundiert.46 Je länger die Terrorakte andauerten, insbesondere nach Veröffentlichung des Teilungsplans der Peel-Kommission von 1937, wurde die von der Hagana geübte Zurückhaltung, die für den Großteil der jüdischen Bevölkerung verbindlich gewesen war, von einer aktivistischen Politik unter Führung des Irgun abgelöst, der Vertretung der revisionistischen Bewegung, die sich 1937 von der Hagana abgespalten hatte. Im Zuge dieser neuen Politik wurde die Anwendung von Gewalt aus einem Mittel zum Selbstzweck; nunmehr bestand das erklärte Ziel in dem „conquest of the homeland Israel by the sword of Israel“.47 Die Führung der jüdischen Bevölkerung im Lande bestand aus Angehörigen der Arbeiterbewegung; die Unbotmäßigkeit des Irgun ihr gegenüber sowie seine beträchtlichen Erfolge bei ihren Gegnern gingen so weit, dass zu befürchten war, er werde die Herrschaft gewaltsam übernehmen.48 Parallel dazu vollzog sich auch unter der linken Führung ein Wandel in Bezug auf ihr strategisches Vorgehen und dessen politische Implikationen. Die Errichtung zahlreicher Siedlungen in Randgebieten, wo noch keine Juden lebten, wollte – in Erwiderung auf den Teilungsplan – durch territoriale Expansion und Aneignung von Ländereien im
44 Scholem an Benjamin, 30. 6. 1939, in: Benjamin/Scholem, Briefwechsel, 308. 45 Auch als „der große arabische Aufstand“ bekannt, dazu Shapira, Land and Power, 219–276; Morris, Righteous Victims, 121–157. 46 Shapira, Land and Power, 235. 47 Ebd., 245. 48 Ebd., 246–248.
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Norden des Landes die künftigen Grenzen des jüdischen Teils von Palästina bestimmen.49 Während dieses Zeitraums wurden jene Positionen, die gegen ein gewaltsames Vorgehen und – im Sinne von Achad Haam – für ein Selbstverständnis des Juden als moralischem Menschen eingetreten waren, in den Hintergrund. An ihre Stelle trat die Auffassung, wonach Juden um ihr Leben und ihre Ehre kämpfen müssen; das Recht der Juden auf das Land Israel lasse sich nur mit Gewalt („force“) und vor allem mit Macht („power“) durchsetzen. Nach Anita Shapira sei in den Jahren des Zweiten Weltkriegs das Verständnis von Gewalt als notwendigem Verteidigungsmittel abgelöst worden durch „a new and broader one that viewed power as a legitimate means for ensuring the further development of the Zionist project“.50 Als gegen Ende des Jahres 1942 die Kunde vom Ausmaß der Judenvernichtung in Europa nach Palästina durchsickerte, wuchs dort die Gegnerschaft zur britischen Mandatsregierung, weil diese die Einwanderung von Juden verhinderte; entsprechend tolerierte die jüdische Öffentlichkeit die Anwendung von Gewalt gegenüber den Engländern mehr und mehr. Bis 1944, als Scholem seinen Aufsatz über die Wissenschaft vom Judentum veröffentlichte, war die Führung der jüdischen Bevölkerung des Landes zu der Überzeugung gelangt, nun sei die Zeit der revolutionären Offensive gekommen, um endlich das Ziel der zionistischen Bewegung zu erreichen. Dieser Umschwung wurde ausgelöst durch die Kunde vom Ausmaß der Judenvernichtung in Europa, durch die Einsicht, dass ein Krieg zwischen Juden und Arabern unabwendbar sei, und durch die Erwartung einer neuen Weltordnung mit dem herannahenden Ende des Weltkriegs. Das führte zu einem Anwachsen von jüdischem Terror; die von der Hagana abgespaltenen jüdischen Untergrundorganisationen Irgun und Lechi griffen britische Ziele an, was kollektive Bestrafung der jüdischen Bevölkerung durch die Briten nach sich zog. Am 8. August unternahmen Lechi-Agenten einen Anschlag auf den britischen Hochkommissar, im September auf einen Offizier der britischen Geheimpolizei. Im selben Zeitraum ging der Irgun gegen verschiedene britische Einrichtungen im Land vor, darunter gegen die Polizeistationen in Bet Dagon und in Hadera, ebenfalls im September.51 Durch diese Aktionen stieg die Popularität der militanten Untergrundorganisationen in der jüdischen Öffentlichkeit; die offizielle jüdische Führung wurde dagegen umso mehr als hilflos und untätig wahrgenommen; diese war zum einen mit der Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge aus Europa beschäftigt, zum anderen hatte sie beschlossen, mit aktivem Widerstand gegen die Engländer zu warten, bis der Krieg in Europa ent-
49 Dazu Reichmann, Hithawut Mapat ha-Jischuw, 250–270; Shapira, Land and Power, 253–255. 50 Ebd., 286–289. Hier: 288. 51 Dazu Gelber, Ha-Medinijut ha-Britit, 384–388.
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schieden sein würde.52 Gegen diese Atmosphäre, die seit geraumer Zeit in Palästina herrschte und immer stärker wurde, ging Scholem mit seinem Aufsatz über die Wissenschaft vom Judentum vor. Damit artikulierte er seinen Widerstand gegen die von der jüdischen Bevölkerung Palästinas geübte Politik der Gewalt, die ein ‚Ende mit Schrecken‘ herbeiführen wollte. Vor diesem Hintergrund lassen sich Scholems Ausführungen hier auch als Kritik gegen die zionistisch-revisionistische Geschichtsschreibung verstehen, die von der wissenschaftlichen Fundierung eines nationalistischen politischen Zugriffs ausgeht.53 Daneben spielte die von Scholem geübte Kritik vielleicht noch eine weitere Rolle, nämlich in Bezug auf seine eigenen akademischen Leistungen. Von Scholems Mitwirkung an dem nationalen Projekt der Sammlung war schon im ersten Teil dieses Buchs die Rede. Dort war auch sein Brief an Chaim Nachmann Bialik vom Sommer 1925 erwähnt, worin er seine umfangreichen akademischen Pläne im Bereich der Kabbala-Forschung entfaltet. Vor einer langen Liste, aus der seine geplanten kodikologischen Untersuchungen und Veröffentlichungen hervorgehen, schreibt der damals siebenundzwanzigjährige Scholem: „Folgende Arbeiten habe ich vor zu übernehmen – nicht in der Hoffnung, sie in ein, zwei Jahren abschließen zu können, wohl aber im Verlauf von zwanzig Jahren!“54 Inzwischen waren nahezu zwanzig Jahre vergangen, und Scholem ging nun mit sich selbst ins Gericht, weil er von dem damals angekündigten umfangreichen akademischen Programm nur einen kleinen Teil bewältigt hatte. Diese ihm mangelhaft erscheinende Arbeitsleistung war nicht nur akademisch-professionell relevant, vielmehr artikulierte sich darin auch die Spannung zwischen Utopie und Wirklichkeit – ähnlich der Kritik an der politischen Situation in Palästina. Wie schon oben angedeutet, waren die intellektuellen Ambitionen, die Scholem in seinem jugendlich hoffnungsvollen Schreiben an Bialik an den Tag legte, durchaus von zionistischen – politischen und utopischen – Beweggründen getragen. Außerdem entwarf er dieses Programm, als er sich erst knapp zwei Jahre im Land befand, gleich nach der Eröffnung der Hebräischen Universität, noch bevor er dort seine Dozentenstelle erhalten hatte. Vermutlich hatte er damals noch keine klare Vorstellung davon, wieviel Kraft die Integration in die palästinische Gesellschaft kosten und wie aufwendig die hebräischsprachige Lehrtätigkeit an der Universität sein würde. Er hatte vermutlich mehr wissenschaftliche Leistung von sich erwartet, und zog sich nun knapp zwei Jahrzehnte später selbst dafür zur Rechenschaft, dass er dem Druck der Umstände nachgegeben und die 52 Gelber, ebd., 386. 53 Brenner, Propheten des Vergangenen, 224; Myers, Re-Inventing the Jewish Past, 96f. 54 Auf Deutsch ist dieser Brief in der Übersetzung von Peter Schäfer zugänglich, in: Scholem, Judaica 6, 55–67, hier: 60.
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Auflehnung gegen die Väter der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert vernachlässigt hatte, dass er „auf dem Weg von der Vision zur Verwirklichung steckengeblieben“ war. An die Stelle der Begeisterung für „das Licht der großen wissenschaftlichen Idee“ war Routine getreten, mit all ihren Schwierigkeiten; daraufhin musste er feststellen, dass auch seine eigene wissenschaftliche Arbeit nicht nur Rebellion gegen die vorige Generation enthielt, sondern auch Kontinuitäten aufwies: „Sind nicht doch ein paar Seelen(funken) aus jener Welt des tohu eingedrungen und haben Verwirrung in der Welt des tiqqun gesät, an dem wir arbeiten?“.55 In diesem Sinne ist vielleicht auch zu verstehen, was Scholem über diesen Aufsatz an Shalom Spiegel schreibt: „Ich bin wirklich zerrieben zwischen den zwei Möglichkeiten, das Joch ‚der Rebellen, die sich als Nachfolger entpuppten‘, auf mich zu nehmen oder mich dagegen aufzulehnen. Und hier ist der Ursprung einer großen Schwäche wie auch zugleich einer Stärke“.56 Die bisherige Darlegung von Scholems Kritik an den Vertretern der Wissenschaft des Judentums weist auf drei mögliche Lese- oder Bedeutungsebenen derselben hin: zum einen als Kritik an der politischen Situation im Land und am politischen Messianismus gewisser Kreise, der damals unter den Juden in Palästina um sich griff; zum anderen als Selbstkritik, als persönliche Abrechnung, da Scholem sein selbstgestecktes wissenschaftliches Programm nicht erfüllt hatte und damit sein utopisches Ziel nicht erreichte, wenn auch nur im akademischen Rahmen. Die dritte und in unserem Kontext vielleicht wichtigste Bedeutungsebene ist der Ausdruck, den Scholem seiner Resignation über die Vernichtung des europäischen Judentums und die Auswirkungen auf den Zionismus insgesamt verleiht. Wie schon angedeutet, steht die Wissenschaft des Judentums hier als eine Art Gleichnis für das Judentum überhaupt, so dass die Situation der jüdischen Wissenschaft die Situation und die Tendenzen des Judentums in seiner Gesamtheit veranschaulicht. Wenn also die Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert „zum historischen Selbstmord, zur Liquidation und Auflösung“ tendierte, war sie an dem historischen Vorgang beteiligt, der zum Untergang, also zum Holocaust, führte.57 Insofern war Scholems Vorhaben von 1921, einen Aufsatz über den Selbstmord des Judentums durch das, was man „Wissenschaft des Judentums“ nennt, zu schreiben,58 angesichts der historischen Ereignisse tragisch realisiert worden. Von daher war es vielleicht die katastrophale Entwicklung der historischen Wirklichkeit, die ihn dazu veranlasste, seine „Rechnung mit der Wissenschaft des Judentums zu begleichen“ und aufzuzeigen, wie sie in die Katastrophe verwoben war. 55 56 57 58
Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum, in: Scholem, Judaica 6, 47–50. Scholem an Shalom Spiegel, 8. 5. 1945, in: Scholem, Briefe I, 297. Scholem, Judaica 6, 21f. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 141; vgl. Brenner, Propheten des Vergangenen, 226.
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Ähnlich lässt sich auch Scholems Abrechnung mit den Juden in Palästina begreifen, mit seinen Zeitgenossen, die mit der Erneuerung begonnen hatten, aber auf dem Weg von der Vision zur Verwirklichung steckengeblieben waren, so dass sie die Richtung verloren und ihre Kräfte erlahmten. Sie verfehlten den angefangenen Weg und fanden sich als Erben wieder, wo sie als Rebellen ausgezogen waren; durch die Politik der Gewalt, die sie in Palästina betrieben, traten sie die Nachfolge der Liquidation und Auflösung des Judentums an. In diese unglückliche Situation waren sie geraten, weil sie einer nationalen Utopie gefolgt waren und die akute Gefahr, die dem jüdischen Volk drohte, ignoriert hatten: Im Exil war der physische und geistige Bestand des Volks gefährdet, in Palästina die Weiterführung des zionistischen Aufbauwerks, weil dessen moralische Komponente vernachlässigt wurde. Auf der einen Seite die Dezimierung des Judentums, die das zionistische Ideal hätte verwirklichen sollen, auf der anderen die Tendenz der palästinischen Juden, die Interessen der arabischen Bevölkerung im Land zu ignorieren, was in Scholems Augen ein Hindernis auf dem Weg zur zionistischen Verwirklichung war – so erschienen ihm die Bemühungen seiner eigenen Generation, genauso wie die der vorangegangenen, in bitter ironischem Licht. Scholem selbst bezeugte viele Jahre später, er habe diesen Aufsatz „dans un moment de rage linguistique“ geschrieben,59 und er habe sich nie entschließen können, „ihn in der ursprünglichen Fassung Lesern, die mit dem Jüdischen nicht vertraut sind, vorzulegen“.60 Fünfzehn Jahre später wandte er sich diesem Thema noch einmal zu: 1959 hielt er am Londoner Leo-Baeck-Institut vor deutschjüdischen Emigranten einen Vortrag mit dem Titel „Wissenschaft vom Judentum – einst und jetzt“.61 In diesem in deutscher Sprache gehaltenen Vortrag legte Scholem eine wesentlich ausgewogenere Haltung gegenüber der Wissenschaft des Judentums an den Tag; seine Äußerungen über die Vergangenheit wie über die Gegenwart waren weitaus gemäßigter. Nachträglich bedauerte er es, den späteren Vortrag überhaupt gehalten zu haben. In seinem Buch über Walter Benjamin nannte er ihn „eine stark verwässerte, allzu kompromißlerische deutsche Rede“, und in einem französischen Interview von 1980 äußerte er sich noch drastischer: Ich bedauere es zutiefst, dass ich für die Spießbürger des Londoner Baeck-Instituts so sprechen musste. […] Ich habe fast so gehandelt wie diejenigen, die zwar keine Nazis waren, aber sich bereit erklärten, für Das Reich zu schreiben. Der erste Aufsatz, auf hebräisch, richtete sich an eine Leserschaft, die imstande war, anders zu denken.62 59 Scholem, L’identité juive, 4. 60 Scholem, Walter Benjamin, 140. 61 Zunächst gedruckt im Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 3 (1950), 10–20, dann wieder in: Scholem, Judaica 1, 147–164 (danach zitiert). 62 Scholem, L’identité juive, 4. Das Reich (1940–1945) war eine nationalsozialistische Wochenzeitung.
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Wenn er die weltanschauliche Distanz zum Publikum seines deutschen Vortrags als so gravierend empfand, dass er sich selbst mit einem Opportunisten verglich, der für ein nationalsozialistisches Organ schrieb, ohne selbst Nationalsozialist zu sein, lässt das auf erhebliche Vorbehalte gegenüber jenem deutsch-jüdischen, nicht-zionistischen Bürgertum schließen, dem er Jahrzehnte zuvor den Rücken gekehrt hatte und dem er nun in London wieder begegnete. In diesem Publikum, das nicht imstande sei, „anders zu denken“, sah er anscheinend die unmittelbare Fortsetzung des jüdischen Bürgertums im Deutschland des 19. Jahrhunderts, dessen assimilatorischen Tendenzen die Wissenschaft des Judentums hatte dienen wollen.63 In diesem späteren Vortrag klingt die Kritik an der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert wesentlich milder, und der bittere Ton gegenüber seinen Zeitgenossen fehlt völlig. Statt dessen erwähnt Scholem den Holocaust und die Gründung des Staates Israel als „zwei Seiten eines einzigen ungeheuren historischen Vorgangs“, und in Bezug auf diese beiden Momente meint er: „Wir haben auch selbst noch kaum die Möglichkeit gehabt – in der geringen Distanz, in der wir zu den Ereignissen stehen –, die Bedeutung dessen, was wir selbst erlebt und erlitten haben, zu rationalisieren und wissenschaftlich zu durchdringen.“ Allerdings warnt er gegen Ende seiner Ausführungen vor der „Erbschaft einer umgekehrten Apologetik, die nun sozusagen alles und jedes zionistisch revidiert“; diese Haltung, für die ihm „Beispiele in unserer wissenschaftlichen Arbeit“ begegneten, sieht er als eine Verlängerung der „Sünden“ der älteren Wissenschaft des Judentums.64 Die Unterschiede zwischen beiden Aufsätzen kann man hauptsächlich auf zwei Faktoren zurückführen: auf die historischen Umstände, unter denen die Analyse formuliert wurde, und das jeweilige Zielpublikum. Während der zweite Vortrag 1959 in London gehalten wurde, war während der Niederschrift des hebräischen Aufsatzes die Judenvernichtung in Europa noch in vollem Gange, was bei Scholem selbst (sowie bei der jüdischen Einwohnerschaft Palästinas) Verzweiflung und ein Gefühl der Hilflosigkeit auslöste. Außerdem richtete sich der hebräische Aufsatz an Scholems Kollegen und unmittelbare Schicksalsgenossen, mit denen er die Erschütterung über das Geschehen in Europa und die Sorge um die jüdische Existenz in Palästina teilte. Mit dem Publikum seines Londoner Vortrags dagegen empfand Scholem weniger Solidarität, vermutete bei ihm weder Bereitschaft noch Fähigkeit, sich den harten Aussagen des hebräischen Aufsatzes zu stellen, den er ohnehin teilweise für unübersetzbar hielt.65 Scholem bedauerte nicht nur, diesen Vortrag in London gehalten zu haben; 63 Vgl. Schäfer, Nachwort, 107f; Brenner, Propheten des Vergangenen, 226. 64 Scholem, Judaica 1, 160–161. 65 Scholem, L’identité juive, 4.
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Avraham Shapira, der Herausgeber seiner hebräischen Schriften, erinnert sich auch, dass Scholem die hebräische Fassung des Londoner Vortrags ausdrücklich nicht in die Aufsatzsammlung aufgenommen haben wollte, die noch zu seinen Lebzeiten erschien,66 wohingegen er gegen den Abdruck des deutschen Originals in Judaica 1 (1963) nichts einzuwenden hatte. Demnach war er mit dem deutschen Vortrag vielleicht doch nicht ganz so unzufrieden, wie seine provokativen Äußerungen es nahelegen; oder zumindest fand er ihn gut genug für ein Publikum, das mit der Jüdischen Kultur nicht allzu sehr vertraut war. Scholems Aufsatz über die Wissenschaft des Judentums kann auch als ein persönliches Dokument gelesen werden, in dem sich manches von der seelischen Not niedergeschlagen hat, in der er sich zur Zeit der Niederschrift befand.67 Die Einbettung in den historischen Kontext wirft Licht auf Scholems Einstellung zu den katastrophalen Ereignissen, die noch nicht abgeschlossen waren. Dass dem Schluss des Aufsatzes jegliche Hoffnung oder Andeutung einer Lösung fehlt – ein Umstand, der den Leser hilflos in Aporie versinken lässt –, war von Scholem offenbar keineswegs als literarischer Effekt intendiert, sondern sollte die authentische Wiedergabe seiner innersten Gefühle verdeutlichen und die tiefe Resignation, in der er steckte, ausdrücken. Eigentlich ist dieser Aufsatz die Zwischenabrechnung eines Historikers mit der zionistischen Bewegung zu einem Zeitpunkt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging und das an den Juden verübte Verbrechen bekannt wurde. Im Zentrum dieser Zwischenbilanz steht die Verzweiflung über die Situation des Judentums in der Welt und in Palästina, wobei die Entwicklung der Wissenschaft des Judentums – die ein wichtiges Hilfsmittel beim Aufbau des Landes hätte sein sollen – kritisch untersucht wurde, um mit der tragischen Situation irgendwie zurechtzukommen. Vielleicht stellt der Aufsatz auch so etwas wie die künftige Abrechnung des Historikers dar, von der Scholem in dem Brief an Dinur gesprochen hatte. Diese Abrechnung war von bitterer Resignation geprägt, von tiefer Enttäuschung über die Situation des Zionismus und den eigenen zionistischen Weg. Aber während diese Bilanz in dem privaten Schreiben an Dinur mehr die historischen Umstände und das Schicksal der Juden thematisiert, zielt der veröffentlichte Essay auf die Juden in Palästina und auf die politischen Zustände im Lande. Am 6. Dezember 1944, einen Tag nach seinem 47. Geburtstag und wenige Monate vor Kriegsende, hielt Scholem in seinem Tagebuch die düsteren Sätze fest:
66 Shapira, The Symbolic Plane, 344 Anm. 50. Scholems Londoner Vortrag erschien erst im zweiten Band seiner hebräischen Aufsatzsammlung: Scholem, Od Davar (1990), 133–142. 67 In einem Beitrag zu Scholems 60. Geburtstag (in: Davar vom 6. 12. 1957) machte Nathan Rotenstreich den Vorschlag, die „Betrachtungen zur Wissenschaft des Judentums“ als „ein persönliches, vielleicht sogar sehr persönliches Dokument“ zu lesen.
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Ist es denn wahr, daß Gott in der Verlassenheit zusammengebrochenen Lebens erscheint? Warum dann ist alles so völlig dunkel, ausweglos und verstellt in meinem Leben […]? Ich kämpfe noch manchmal verzweifelt mit den Resten der großen Visionen, die mich angefeuert haben, als ob ich sie noch auf dies oder jenes Stück Papier bringen könnte – und ich habe den Glauben an die Kraft dazu verloren. Wie vergeblich alles, wie völlig aussichtslos.68
Am Ende des Weltkriegs, als Deutschlands Niederlage besiegelt war, stellte Scholem in seinem Tagebuch eine Art innere Bestandsaufnahme darüber an, wo die Welt inzwischen stehe, wo das jüdische Volk und wo er selbst: 7. Mai 1945. Deutschland hat kapituliert – das größte Verbrechen hat seine Sühne gefunden, wenn man dies eine Sühne nennen kann. Wir sind abgestumpft, fast zu sehr, um die Tragweite des Ereignisses, das für uns ja „nur“ den Tod des jüdischen Volkes enthält, soweit es in Europa saß, noch zu empfinden. Ich sitze da und sinniere, womit wir bezahlt haben. 5 Jahre sind nun seit dem Überfall auf den Westen vergangen. Aber sprechen tun die Deutschen noch heute, als ob nichts passiert sei – außer ihrem Unglück! Wie werden wir uns zurechtfinden? Eine neue Welt gibt es sicherlich nicht, nicht einmal eine bessere. Nur eine Welt ohne Hitler und Göbbels. Was weiter kommt, weiß nur Gott. Die Propheten haben alle ziemlich ausnahmslos Unrecht behalten. Ich bin allein – Fanja ist noch in Tiberias zur Kur und soll übermorgen kommen. Wie allein ist schwer zu sagen, Ich habe diesen Krieg einsam überstanden. Freunde gibt es in einem echten Sinne nicht mehr. Wenig inhaltreiche Wahrnehmung. Ich kämpfe vergebens gegen einen Strom von innen, der mich Menschen immer weiter entfremdet, ja, der mich sprachlos macht. Dies ist eine mir im Krieg immer evidenter gewordene unheimliche Zentraltatsache meines Lebens. Und sie ist mit einem moralischen Entschluß nicht mehr zu heben. Und sei es selbst – bin ich denn zu moralischen Entschlüssen noch fähig? Zu tief sitzt die Desperation, die mir seit Jahren allein Gegenstand meiner privatesten Meditationen bildet. Vae Victis.69
Hier sind die Veränderungen abzulesen, die sich bei Scholem über die Kriegsjahre hin vollzogen, und zwar in Bezug auf seine Einstellung zur Verwirklichung der zionistischen Idee, samt den Auswirkungen auf sein persönliches Befinden. An die Stelle seiner relativ optimistischen Äußerungen von 1933 und der Überzeugung, dass der Zionismus eine Antwort auf die Ereignisse zu bieten habe, war der Zusammenbruch des Glaubens an den Zionismus getreten, begleitet von tiefer persönlicher Resignation, einem Gefühl völliger Vereinsamung und Verlust des Vertrauens auf die „Reste der großen Visionen, die mich angefeuert haben“. Scholem, für den die Verwirklichung der zionistischen Idee wegen seiner Einwanderung nach Palästina ein im Grunde moralischer Entschluss gewesen war, hegte am Ende des Krieges Zweifel an seiner persönlichen Fähigkeit, moralische 68 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 74. 69 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 79f.
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Entschlüsse zu fassen, da sein Glaube an den bisher eingeschlagenen Weg so erschüttert war. Dieser persönliche Zusammenbruch kam aus der Einsicht, dass der Zionismus von vornherein keine Antwort darauf hatte sein können, was sich in diesen Jahren in Europa abgespielt hatte. Als Zionist und als Intellektueller fühlte sich Scholem durch die äußeren historischen Ereignissen zutiefst angegriffen; von da an enthielt er sich jeglicher politischen Tätigkeit und wurde noch skeptischer gegenüber seiner eigenen zionistischen Utopie, die schon zwei Jahrzehnte lang durch die historischen Ereignisse schwer beeinträchtigt worden war. Die Erkenntnis, die zu diesen Resultaten geführt hatte, ließ ihn bei Kriegsende in dem Bewusstsein, eine Niederlage erlitten zu haben, weshalb der oben angeführte Tagebuch-Eintrag mit den Worten schließt: Vae victis – wehe den Besiegten!
5.
Die Reise nach Deutschland
His interest in handwritten and printed books went beyond their function as the sole sources of the historian […]. He had a unique sort of emotional relationship with books, where the distinctions between function and essence, between the vessel and its contents, became blurred. Malachi Beit-Arié1 „Es ist den Büchern nicht besser ergangen als den Menschen“, sagte Scholem. Barbara Honigmann2
a.
Das „Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“
Am Ende des Zweiten Weltkriegs, mit der Befreiung Europas durch die Alliierten, fanden sich in den ehemals deutsch besetzten Gebieten ungeheure Mengen von Besitztümern, zumeist von den Nationalsozialisten geraubte Bücher und Bibliotheken. Diese Bücher waren vor dem Krieg im Besitz von Gruppen gewesen, die dem nationalsozialistischen Regime nicht genehm waren, wie etwa den Freimaurern; überwiegend handelte es sich aber um jüdische Kultgegenstände und Kulturschätze, Bibliotheken, Handschriften und Bücher aus jüdischem Besitz. Die Mehrzahl der geraubten Bücher stammte aus jüdischen Gemeinden und Privatbibliotheken in Deutschland, etwa ein Drittel davon war aus den von den Deutschen eroberten Gebieten dorthin transferiert worden.3 Geleitet wurde die Plünderung und Aufbewahrung der geraubten Güter durch eigens dafür gegründete „Forschungsstellen“, die das Judentum und „die jüdische Frage“ unter nationalsozialistischen Vorzeichen untersuchten; zu den wichtigsten davon zählten ein Referat innerhalb des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), das die meiste Zeit unter Leitung von Adolf Eichmann stand, und der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR).4 Die in der amerikanisch besetzten Zone aufgefundenen Büchersammlungen wurden von der Armee zu einer Sammelstelle gebracht, die im Juli 1945 in der Rothschild-Bibliothek in Frankfurt am Main eingerichtet wurde. Nachdem diese Bibliothek die Fülle der Bücher nicht mehr fassen konnte, wurde im September 1945 ein fünfstöckiges Gebäude der I.G. 1 2 3 4
Beit-Arié, Gershom Scholem as Bibliophile, 120f. Honigmann, Doppeltes Grab, 94. Poste, The Development, 334. Dazu Schidorsky, Gewilim nisrafim, 158–184; Schidorsky, The Library; Starr, Jewish Cultural Property; Kennedy Grimsted, Roads to Ratibor, 392–413; Collins/Rothfeder, The Einsatzstab; Gallas, Das Leichenhaus der Bücher, 30–36.
Das „Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“
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Farben in Offenbach zu einem riesigen Büchermagazin umfunktioniert. Die dortige Büchersammlung wuchs rapide an, und im März 1946 wurde das Magazin unter der Leitung des amerikanisch-jüdischen Archivars Seymour Pomrenze geöffnet; es diente als Zentralstelle für die Sammlung und Identifizierung geraubter Bücher mit dem Ziel, sie ihren legitimen Eigentümern zurückzuerstatten.5 Wo sich die legitimen Eigentümer der Bücher oder deren Erben feststellen ließen, war die Rückgabe des geraubten Gutes relativ einfach; was aber sollte mit den Büchern geschehen, die einer öffentlichen jüdischen Einrichtung gehört hatten oder deren Eigentümer nicht feststellbar oder ermordet worden waren? Wer hatte als legitimer Erbe dieser Bücher zu gelten? Unter den damaligen jüdischen Zentren war die Beantwortung dieser Fragen gegenüber den Alliierten in Europa und gegenüber der nicht-jüdischen Welt von akuter Dringlichkeit, denn der Status des jüdischen Volkes war im internationalen Recht nicht verankert, weshalb kollektive Entschädigungsforderungen nicht möglich waren. Mehr noch: Nach der üblichen Rechtsauffassung gehörten im Krieg erbeutete erbenlose Güter entweder dem Staat, auf dessen Territorium sie sich befanden, oder der Besatzungsmacht, oder sie hätten an die Staaten zurückgegeben werden müssen, in denen sie sich ursprünglich befunden hatten.6 Demnach war damit zu rechnen, dass die Güter entweder in Deutschland bleiben oder in die USA transferiert oder aber in europäische Staaten zurückgeschickt werden würden, wo kein jüdisches Leben mehr bestand, die vielleicht sogar mit den Nationalsozialisten kollaboriert hatten. Gleichzeitig war auch die Situation innerhalb des jüdischen Volkes durchaus komplex. Faktisch barg die Frage nach dem Schicksal dieser Bücher viele Fragen in sich, die nach Kriegsende in aller Schärfe aufgetaucht waren: Wer ist der wahre Repräsentant des jüdischen Volkes, dem das jüdische Kultur- und Geisteserbe gehören? Wo liegt das Zentrum jüdischen Lebens, von wo eine Fortsetzung nach dem großen Bruch ausgehen soll? Noch bevor der Krieg zu Ende war, als sich die Niederlage der Deutschen bereits abzeichnete und die Ausmaße der Zerstörung des europäischen Judentums zumindest im Westen bekannt waren, hatten die jüdischen Zentren der Welt sich angeschickt, für das Problem des erbenlos in Europa verbliebenen jüdischen Kulturguts eine Lösung zu suchen. Zum ersten Mal öffentlich diskutiert wurde die Frage in Großbritannien, und zwar in einem Vortrag, den der Historiker Cecil Roth vor der Jewish Historical Society of England im April 1943 hielt, und der ein 5 Dazu Pomeranz, Operazie Offenbach, 283; Schidorsky, Gewilim nisrafim, 213–226; Waite, Returning Jewish Cultural Property, 213–215; Pomrenze, Offenbach Reminiscences; Pomrenze, The Restitution; Herman, Hashavat Avedah, 149–188; Gallas, Das Leichenhaus der Bücher, 27– 76. 6 Schidorsky, The Salvaging, 198; Kurtz, Nazi Contraband, 154; s.a. Takzir ha-Waada hamischpatit, 2.
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Die Reise nach Deutschland
Jahr danach im Druck erschien.7 Im Zentrum von Roths Ausführungen stand das Problem der geraubten jüdischen Bücher im nationalsozialistischen Deutschland und die Frage, was mit ihnen geschehen solle. Ironisch schilderte er die Anstrengungen der Nationalsozialisten, jüdische Bücher und Kultgegenstände zusammenzutragen, und entwarf Leitlinien für deren Rücküberführung in den Besitz des jüdischen Volkes. Was die herrenlosen Bücher betraf, so schlug Roth vor, sie der Hebräischen Universität Jerusalem zu treuen Händen zu übergeben;8 zum Abschluss seiner Rede empfahl er die Einsetzung eines Unter-Ausschusses, der die Sache weiter behandeln sollte. Ein solcher Ausschuss wurde denn auch eingesetzt. Seine Aufgabe bestand darin, mit den Regierungen der Alliierten bezüglich des geraubten Besitzes Kontakt aufzunehmen und sich um weitere Aspekte der Wiederherstellung jüdischen Kulturlebens in Europa zu kümmern. Als Ausschussmitglieder fungierten Roth selbst sowie der Jurist Norman Bentwich.9 Unter ähnlichen Umständen wurde im Sommer 1944 in den USA die Commission for European Jewish Cultural Reconstruction (CEJCR) gegründet; den Vorsitz hatte der Historiker Salo W. Baron inne. Diese Kommission verfolgte das Ziel, die jüdischen Gemeinden in Europa und in aller Welt wiederaufzubauen, unter anderem durch die Restitution geraubten Kulturguts an das jüdische Volk und die Verteilung unter die verschiedenen Gemeinden. Organisiert und geleitet wurde die Kommission durch amerikanisch-jüdische Intellektuelle und Akademiker wie Hannah Arendt, den Historiker Joshua Starr und den Juristen Jerome Michael.10 Im Zuge ihrer Arbeit veröffentlichte die Kommission 1946 eine vorläufige Liste von jüdischen Kulturschätzen, die in Europa vor dem Dritten Reich existiert hatten, als ersten Schritt zur Klärung, wohin sie verschleppt worden waren.11 Außerdem wurde aufgrund des Interesses, das in den USA an den Büchern in der amerikanischen Besatzungszone erwachte, und zwar speziell an jüdischen Büchern, eine Delegation der Library of Congress gebildet, die den Auftrag hatte, die Sammlung der eigenen und die Bestände anderer Bibliotheken dadurch zu bereichern, dass sie Bücher aus dem amerikanisch besetzten Teil Deutschlands erwarb und in die USA brachte.12 Parallel zu den Bemühungen unter den amerikanischen Juden, auf das weitere Schicksal der geraubten Bücher Einfluss zu nehmen, wurden ebenso an der 7 8 9 10
Roth, The Restitution; s.a. Schidorsky, Gwilim nisrafim, 205–207. Roth, ebd., 257. Dazu Herman, Hashavat Avedah, 45–47. Baron, The Spiritual Reconstruction, 6f; Cohen Grossman, Scholar as a Political Activist, 149f; Kurtz, Nazi Contraband, 154f. 11 Tentative List of Jewish Cultural Treasures in Axis-Occupied Countries (= Supplement to Jewish Social Studies 8, 13), New York 1946; so auch das Vorwort von Baron ebd., 7; Gallas, Das Leichenhaus der Bücher, 102–109. 12 Peiss, European Wartime Acquisitions; Waite, Returning Jewish Cultural Property, 216–218.
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Hebräischen Universität erste Vorkehrungen getroffen, um die Bücher nach Möglichkeit wieder in den Besitz des jüdischen Volkes gelangen zu lassen. Nach Auffassung der Universität war die beste Adresse, wohin die Bücher gelangen könnten, die Jüdische Nationalbibliothek in Jerusalem. So schrieb der damalige Präsident der Hebräischen Universität, Jehuda Leib Magnes, am 4. Mai 1945, als die Befreiung Europas durch die Alliierten noch im Gange war, an Chaim Weizmann: At the University we are convinced that the books and manuscripts and other contents of these Jewish Libraries should be deposited with the Jewish National and University Library in Jerusalem. The communities and institutions to which these libraries belonged do no longer exist; and even though these communities be reestablished, it is very questionable if they will be able to safeguard and effectively use these libraries. In Jerusalem, on the other hand, the attempt is being made, and with considerable success, to create a Central Library for the Jewish People, and at Jerusalem there are gathered a larger number of distinguished Jewish scholars than in any other place, for whom these libraries could be of great use in their work of research.13
Zwei Tage später, am 6. Mai 1945, trat in Jerusalem „Das Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“ (Ha-Waada le-hazalat Ozrot Hagola) zusammen, um über die verschiedenen Aspekte und Aktionsmöglichkeiten in Bezug auf die Restitution der geraubten Bücher zu beraten. Aus dem Protokoll dieser Sitzung, an der führende Vertreter der Hebräischen Universität, unter ihnen Gershom Scholem, teilnahmen, geht hervor, dass sämtliche Teilnehmer die Entsendung eines Bevollmächtigten der Universität nach Europa für äußerst wichtig erachteten.14 Die Hebräische Universität müsse möglichst bald einen Vertreter nach Europa schicken, der in Verbindung zu jüdischen Einrichtungen in Großbritannien und in den USA stehen und die Interessen der Hebräischen Universität vertreten solle. Martin Buber meinte, es sei wichtig, dass die Universität ihren Anspruch beizeiten anmelde. Und Scholem warnte davor, dass jüdische Einrichtungen in Großbritannien und in den USA die Bücher für sich beanspruchen könnten. „Die Universität muss als Treuhänderin auftreten“, sagte er, „es ist eine Delegation nach München und nach Frankfurt zu entsenden; an diesen zwei Orten befinden sich Schätze von geraubten Büchern. Wenn ein Vertreter der Universität nicht bald auftaucht, wird man ohne uns entscheiden. Man muss sich 13 Jehuda Magnes an Chaim Weizmann, 4. 5. 1945, im CAHJP, Magnes collection, file 2060. In einem Schreiben an den britischen Hochkommissar vom 15. 5. 1945 äußerte sich Magnes im selben Sinne (im NLI Archiv, Akten Ozrot ha-Gola, 212/1), indem er ihn bat, sich bei den Londoner Behörden für die Hebräische Universität einzusetzen. Dieses Schreiben schloss Magnes mit den Worten: „We feel that we [the Hebrew University] can well be regarded as the spokesman of the Jewish people in this regard“. 14 ‚Ha-Waada le-hazalat Ozrot Hagola‘, Sitzung vom 6. 5. 1945, im CAHJP, Magnes collection, file 2057.
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an England und Amerika wenden.“ Die meisten Teilnehmer der Sitzung sprachen sich dahingehend aus, dass Jehuda L. Magnes der richtige Mann für eine solche Mission sei. Bei der nächsten Sitzung der Kommission am 5. November 1945 war auch Magnes anwesend. Dieses Mal stand die Dringlichkeit der Mission im Zentrum.15 Scholem meinte, Bücher und Handschriften müssten nach ihrer Bedeutsamkeit aufgesucht werden. Er betonte, da es sich um eine diplomatische Mission handele, sei Magnes derjenige, der sie am besten durchführen könne. Gotthold Weil, der Direktor der Nationalbibliothek, stellte eine Liste von Entschädigungsforderungen an die Deutschen auf: a) eine gewisse Anzahl von jüdischen Manuskripten aus der Münchner und anderen Bibliotheken; b) die jüdische Nationalbibliothek dürfe sich aus deutschen Bibliotheken Inkunabeln mit jüdischem Inhalt aussuchen; c) da bereits klar sei, dass nicht alle deutschen Universitäten weiterbestehen würden, solle die Bibliothek darauf drängen, aus deren Beständen 50.000 Bände allgemeinen Inhalts zum Ausgleich für das Geraubte auswählen zu dürfen, darunter Reihen wissenschaftlicher Zeitschriften, Quellensammlungen und dergleichen. Diese Forderungen sollten so bald wie möglich angemeldet werden. Prof. Simcha Assaf schloss sich dem an und fügte hinzu, dies sei die letzte Gelegenheit, in Jerusalem ein leistungsfähiges Forschungszentrum einzurichten, und dieser Anspruch sei berechtigt.16 Am 4. Januar 1946 erschien in der hebräischen Tageszeitung Haaretz eine Reportage von Robert Weltsch über seinen jüngsten Aufenthalt in Frankfurt am Main.17 Unter anderem berichtete er darin von einem Besuch bei der Sammelstelle für jüdische Bücher in der Rothschild-Bibliothek und von der Begegnung mit dem Leiter für jüdische Erziehung der jüdischen Hilfsorganisation Jewish Joint Distribution Committee (Joint) in Deutschland, Koppel Pinson. Zwar seien die meisten Bücher bereits in ein noch nicht zugängliches Depot in Offenbach überführt worden, aber bei der Besichtigung der Rothschild-Bibliothek gewann Weltsch den Eindruck, hier handele es sich um „die größte jüdische Bibliothek auf der Welt“. Da die Bücher überhaupt nicht geordnet seien, habe er sich über deren Wichtigkeit kein Urteil bilden können: „Die meisten Bücher, die ich aufgeschlagen habe, sind ohne jeglichen bibliothekarischen Wert“, gab er zu, „aber man kann nie wissen, ob nicht ein wertvolles hebräisches Buch neben einem jiddischen Schundroman steht“.18 Die Hauptschätze lägen vermutlich in Offenbach, und niemand könne wissen, ob noch andere Bücherkisten auftauchen 15 ‚Ha-Waada le-hazalat Ozrot Hagola‘, Sitzung vom 5. 11. 1945, im CAHJP, Magnes collection, file 2057. 16 Die Äußerungen der einzelnen Sprecher sind dem Sitzungsprotokoll entnommen; s.a. Schidorsky, The Salvaging, 197f. 17 Weltsch, Ha-Sifrija ha-Jehudit ha-Gdola ba-Olam, 2. 18 Ebd.
Das „Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“
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würden, die irgendwo versteckt waren. Was den weiteren Verbleib dieser Bücher betraf, forderte Weltsch das jüdische Zentrum in Palästina zu politischer und bibliographischer Intervention auf, sowohl im innerjüdischen Rahmen als auch auf der internationalen Bühne: Hier muss dem jüdischen Palästina die ihm angemessene Aufgabe gesichert werden; es ist schade, dass in dieser Sache bisher weit weniger geschehen ist, als was hätte geschehen können. Der öffentlichen Meinung in aller Welt muss bewusst gemacht werden, dass Erez Israel das geistige Zentrum des jüdischen Volkes ist und dass die Kulturschätze, die den Juden in Europa weggenommen worden sind und jetzt keine Besitzer mehr haben, dorthin gehören. […] Es ist dafür Sorge zu tragen, dass Fachleute zur Bearbeitung des Materials nach Deutschland entsandt werden. Das ist ein Recht, das die Nationalbibliothek in Jerusalem für sich in Anspruch nehmen muss. Sie sollte eine Gruppe von Bibliotheksfachleuten nach Frankfurt schicken, um die Bücher zu sichten, ihren Wert zu schätzen, sie zu ordnen und zu katalogisieren. Es ist doch absurd, dass damit bisher deutsch-arische Sachbearbeiter beauftragt sind, die von jüdischer Literatur keine Ahnung haben. Mir scheint, ich war der Erste, der diese Bibliothek aus wissenschaftlichem Interesse betreten hat. […] Diese ganze gewaltige Sammlung war bisher herrenloses Gut, unbeachtet. Man sollte unverzüglich versuchen, von der amerikanischen Militärverwaltung – die solchen Dingen in der Regel Verständnis entgegenbringt – die Erlaubnis zu erhalten, eine Delegation jüdischer Fachleute aus Jerusalem dorthin zu schicken.19
Dieser Aufruf von Weltsch aus Frankfurt fiel in Jerusalem nicht auf taube Ohren. Zwei Tage nach Erscheinen des Beitrags schickte der geschäftsführende VizePräsident der Universität, David Werner Senator, einen Brief an den Rektor, Michael Fekete, und legte den Zeitungsausschnitt bei. Senator plädierte dafür, dass in Sachen dieser Bücher etwas geschehen müsse; die Universität solle mit den amerikanischen Militärbehörden in Deutschland Kontakt aufnehmen. Senator befürwortete den Vorschlag von Weltsch, speziell ausgebildete Bibliothekare zur Aufarbeitung des dort befindlichen Materials nach Deutschland zu schicken; auf längere Sicht sei dies den Interessen der Universität gewiss förderlich. Da diese Sache von hoher nationaler Bedeutung sei, wollte Senator sich mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an die Jewish Agency, an den Jüdischen Weltkongress und an das Joint zu wenden. „You know that there is a weekly plane from Palestine to the America zone“, schrieb er an Fekete, „I would therefore suggest that the committee dealing with the matter should have a meeting as soon as possible and should elaborate definite and concrete proposals in the direction outlined above“. Die Sache ging wirklich zügiger voran: „Das Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“ hielt im Januar 1946 zwei weitere Sitzungen ab, um die Bemühungen um die Entsendung von Vertretern der Uni-
19 Senator an Fekete, 6. 1. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2056.
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versität nach Europa zu intensivieren. Bei der zweiten dieser Sitzungen, am 24. Januar,20 wurden drei wichtige Dinge beschlossen. Erstens die Einsetzung eines Unterausschusses, der die Beziehungen des „Komitees für die Rettung des jüdischen Raubguts“ zu anderen, jüdischen wie nicht-jüdischen Institutionen in aller Welt erörtern sollte. Dieser Ausschuss, dem Hugo Bergmann, Gotthold Weil und Gershom Scholem angehörten, tagte am 31. Januar 1946 das erste Mal. Seine Empfehlung lautete, es solle eine kleine internationale Kommission unter der Leitung eines Delegierten der Hebräischen Universität eingesetzt werden, um die Interessen des jüdischen Volks vor den Amerikanern zu vertreten und eine Entscheidung über die Verteilung des geraubten jüdischen Kulturguts zu verlangen. Außerdem setzte der Ausschuss Kriterien für die künftige Verteilung fest, wonach jüdische Institutionen in England den Vorrang erhalten sollten, weil sie unter dem deutschen Bombardement gelitten hätten; das übrige solle zu gleichen Teilen an die USA und an das jüdische Palästina gehen. Etwaige Meinungsverschiedenheiten sollten von zwei Schiedsrichtern beigelegt werden – der eine aus Palästina, der andere aus den USA.21 Zweitens sollte neben dem „Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“ ein juristischer Ausschuss eingerichtet werden, der sich der juristischen Fragen, die die Rettungsaktion betraf, annehmen sollte. Zu Ausschussmitgliedern wurden drei führende Juristen der Hebräischen Universität ernannt: Norman Bentwich, Nathan Feinberg und Abraham Chaim Freiman; die erste Sitzung fand am 29. Januar statt.22 Innerhalb eines Monats, bis zum 26. Februar 1946, hatte der juristische Ausschuss ein Memorandum erarbeitet, in dem die rechtlichen Aspekte der Situation im Hinblick auf das geraubte jüdische Kulturgut angesprochen wurden.23 Dieses neun Seiten umfassende Memorandum bildete die Grundlage für die vom Komitee künftig zu ergreifenden Maßnahmen. Nach einem kurzen Überblick über die derzeitige Situation der geraubten jüdischen Kulturschätze auf europäischem Boden wandte sich das Memorandum der Frage nach dem Besitzrecht zu. Das Hauptproblem war der in den meisten Staaten geltende Grundsatz, wonach der jeweilige Staat in Bezug auf Privatbesitz von verschollenen Personen ohne gesetzliche Erben erbberechtigt sei.24
20 ‚Ha-Waada le-hazalat Ozrot Hagola‘, Sitzung vom 24. 1. 1946, im GSA, Akte 23. 21 ‚Ha-Waada le-hazalat Ozrot Hagola‘, Unterausschuss für die Bestimmung der Beziehungen zu anderen Institutionen, Sitzung vom 31. 1. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2057. 22 Ernennungsschreiben an die drei Mitglieder von B. Segal, 25. 1. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2056. Zu diesem Ausschuss s.a. Schidorsky, Gwilim nisrafim, 240–243. 23 Zu diesem Memorandum s. Schidorsky, Gwilim nisrafim, ebd.; Schidorsky, The Salvaging, 198–203. 24 Taskir ha-Waada ha-mischpatit, 2.
Das „Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“
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Allerdings sei im vorliegenden Fall das Erbrecht des deutschen Staates nicht anzuerkennen, denn die erbenlosen Hinterlassenschaften im deutschen Staatsgebiet seien durch systematische Ermordung der jüdischen Erblasser zustande gekommen:25 In Anbetracht all dessen, was über den systematischen Vernichtungsfeldzug bekannt ist, den der deutsche Staat gegen das jüdische Volk geführt hat, ist es ein Gebot von Recht und Gerechtigkeit sowie der elementarsten menschlichen Lauterkeit, die Hinterlassenschaften der ermordeten Juden, die keine rechtlichen Erben haben, nicht der deutschen Staatskasse zuzuführen, sondern dem jüdischen Volk, das dieses Kulturgut geschaffen hat. Das im Land seiner Väter wieder erstehende jüdische Volk hat die besondere geistige Verpflichtung, die Schätze seiner Kultur in seinem nationalen und geistigen Zentrum in Palästina zu pflegen und zu bewahren.26
Die Überführung des ehemals jüdischen Eigentums nach Palästina entspreche auch der Vorschrift des Erbrechts, wonach der mutmaßliche Wunsch des Erblassers nach Möglichkeit respektiert werden solle; die jüdischen Opfer hätten sicher dafür plädiert, ihren Besitz „einem jüdischen Kollektiv, das sich mit jüdischer Kultur und Literatur befasst“ zur Verfügung zu stellen (S. 5). Da die Hebräische Universität in Jerusalem die einzige jüdische Universität auf der ganzen Welt sei, und die ihr zugeordnete Nationalbibliothek dem jüdischen Volk insgesamt zur Verfügung stehe, gebe es keinen Ort und keine Institution innerhalb der jüdischen Welt, die mehr kulturelles, moralisches und menschliches Recht darauf hätten, als Treuhänder für die kulturellen Hinterlassenschaften der vernichteten jüdischen Diaspora eingesetzt zu werden, als die National- und Universitätsbibliothek auf dem Skopusberg in Jerusalem (S. 6). Die Hebräische Universität und die Nationalbibliothek seien bereit, diesen Besitz zu übernehmen, für seine Erhaltung zu sorgen und zwei Jahre lang auf Ansprüche von etwaigen Eigentümern einzugehen; nach Ablauf dieser Frist sollten diese Kulturgüter Eigentum der National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem werden. Was die Beteiligung anderer jüdischer Einrichtungen weltweit betraf, empfahl der juristische Ausschuss, nach außen hin eine einheitliche Front zu schaffen, indem der Anspruch der Hebräischen Universität als einziger präsen25 An diesem Punkt beruft sich das Memorandum zum einen auf das vor dem „Dritten Reich“ gültige deutsche Gesetz (§§ 2334, 2339), welches dem Mörder das Erbrecht am Eigentum des Ermordeten abspricht, und zum anderen auf 2 Kön 21,19, wo der Prophet Elia König Ahab den Vorwurf macht, er habe den Besitzer des begehrten Weinbergs nicht nur ermordet, sondern ihn auch noch beerben wollen. Das Memorandum beruft sich auch auf die Präzedenzfälle des armenischen Völkermords in der Türkei – dort war entschieden worden, dass der erbenlose Besitz an die Gemeinschaft gehen solle, welcher der Besitzer angehört hatte – und aus dem Gesetz zur Rückerstattung von erbenlosem geraubtem Eigentum an die jüdische Gemeinde, das kurz zuvor in Griechenland erlassen worden war. 26 Taskir ha-Waada ha-mischpatit, 3f. Im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen in Klammern jeweils auf den hebräischen Text des Memorandums.
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tiert werden sollte. Zu diesem Zweck müsse mit verschiedenen Kultureinrichtungen in den USA, in Großbritannien und Europa eine Einigung über die interne Verteilung der Bücher gemäß den speziellen Bedürfnissen der jeweiligen Gemeinschaft eine Einigung erzielt werden (S. 7). Im letzten Paragraphen des Memorandums war von der Möglichkeit die Rede, vom deutschen Staat „eine gewisse Entschädigung auch aus den Kulturbeständen der öffentlichen Bibliotheken in Deutschland“ zu verlangen (S. 8). Im Rahmen dieser Entschädigung sollten dem jüdischen Volk hebräische und jüdische Handschriften und Drucke, Bücher und Archive jüdischen Inhalts und eine gewisse Menge allgemeiner wissenschaftlicher Literatur übereignet werden. Diese Forderung beruhe auf drei Argumenten: Erstens hätten die Deutschen durch ihr Verhalten gegenüber den Juden bewiesen, dass sie nicht würdig seien, jüdischen Kulturbesitz zu bewahren; zweitens sei dem jüdischen Volk und seiner Kultur unwiederbringlicher Schaden zugefügt worden, und das deutsche Volk schulde dem jüdischen Volk Ausgleichszahlungen für dessen verbrecherische Vernichtung (S. 8). Drittens hätten deutsche Kultureinrichtungen über die Jahre hin zahlreiche Spenden von jüdischen Mäzenen erhalten, und angesichts des an den Juden begangenen Massenmords sei das jüdische Volk berechtigt, diese Geschenke zurückzuverlangen (S. 8f.). Die in diesem Memorandum formulierten Grundsätze bildeten die Leitlinien für die künftigen Bemühungen der Hebräischen Universität, ihre Besitzansprüche auf das geraubte erbenlose jüdische Eigentum geltend zu machen. Etwas abgeschwächt wurde die Forderung der Hebräischen Universität nach ausschließlicher Treuhandschaft, als sich herausstellte, wie dringend die jüdischen Bücher aus Deutschland hinausgeschafft werden mussten. Wie im Folgenden näher ausgeführt werden wird, war diese Dringlichkeit der Faktor, der die gegenseitige Rivalität der verschiedenen jüdischen Zentren in den Hintergrund treten ließ und dazu beitrug, dass letzten Endes doch so etwas wie eine einheitliche Front entstand. Der dritte und vielleicht wichtigste Beschluss, den das „Komitee für die Rettung des jüdischen Raubguts“ am 24. Januar 1946 fällte, war die Wahl der beiden Delegierten, die nach Europa reisen und dort erste Schritte zur praktischen Verwirklichung der in dem Memorandum festgelegten Grundsätze ergreifen sollten. Gewählt wurden Abraham Yaari, Bibliothekar an der Nationalbibliothek, und Gershom Scholem.27
27 „Sichron Dwarim schel ha-Waada le-Wchirat Chawerim la–Mischlachat scheteze le-Eropa beKescher le-Hazalat Ozrot ha-Gola“, 28. 1. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2056.
Die Geschichte einer Reise: April bis August 1946
b.
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Vorbereitungen in Jerusalem (28. Januar bis 10. April) Sobald seine Ernennung zum Mitglied der Delegation feststand, machte sich Scholem an die Vorbereitungen für die Reise. Am 28. Januar beantragte die Hebräische Universität für die beiden Delegationsmitglieder beim amerikanischen Konsulat in Jerusalem ein Visum für Deutschland; dieser Antrag wurde Anfang März abgelehnt.28 Durch dieses erste behördliche Hindernis ließ sich Scholem jedoch nicht abschrecken. In einem Schreiben an Senator vom 21. Februar bat er diesen, ihm Einreiseerlaubnisse in die Tschechoslowakei, nach Italien, Holland, Frankreich, England, Polen und in die Schweiz zu besorgen. Nach seinem Europaaufenthalt wollte er zu einer Vortragsreihe in die USA weiterfliegen: Für den Fall, dass die Amerika-Reise zustandekommt, dem Wunsch von Dr. Magnes sowohl betreffs der Bibliotheken als auch in Bezug auf meine Vorträge entsprechend, möchte ich direkt von England nach Amerika weiterreisen, ohne hierher zurückzukommen; meinen Abschlussbericht schreibe ich dann dort.29
Im Zuge der Vorbereitungen ergab sich eine Unstimmigkeit zwischen Scholem und Yaari, was die Verteilung der Verantwortung und Entscheidungsgewalt im Verlauf ihrer Mission betraf. Yaari bestand auf völliger Gleichberechtigung zwischen den beiden Emissären, Scholem dagegen argumentierte, einer von beiden müsse im Fall von Meinungsverschiedenheiten den Ausschlag geben, und das sei nicht Yaari, sondern er als der Ranghöhere.30 Yaari fühlte sich durch Scholem nicht gebührend berücksichtigt und wandte sich an Magnes; dieser wiederum bat Scholem, Yaari als Gleichgestellten zu beteiligen, gestand ihm jedoch in Zweifelsfällen die Entscheidungsvollmacht zu: „Ich hoffe, dass Sie dies gutheißen“, schrieb Magnes an Scholem, „und die erforderlichen Schritte tun, um die Sache beizulegen, damit dieses historische Unternehmen nicht gleich zu Anfang auf Hindernisse stößt“.31 In seiner Antwort verlangte Scholem ein Treffen mit Yaari, Fekete und Magnes, in dem die Kompetenzen während der Reise festgelegt werden sollten; vor allem am Ende seines Schreibens tritt die persönliche Missstimmigkeit zwischen ihm und Yaari deutlich zutage.32 Die Angelegenheit wurde in einer Besprechung von Fekete, Senator und Scholem beigelegt; im Sinne des von Magnes gemachten Kompromissvorschlags wurde 28 29 30 31 32
Yaari, Din we-Cheschbon, in: Schidursky: Gwilim nisrafim, 386f. Scholem an Senator, 21. 2. 1946, GSA, Akte 23. Scholem an Michael Fekete, 16. 2. 1946, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 346–348. Magnes an Scholem, 1. 3. 1946, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 349. Scholem an Magnes, 3. 3. 1946, ebd.
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das Ergebnis in einem Schreiben festgehalten, das an Yaari und an Scholem geschickt wurde: a. Gleichberechtigung der beiden Delegationsmitglieder in Bezug auf die Vorbereitungen, Durchführung und Verantwortung für die Mission; die Delegation müsse einen abschließenden Rechenschaftsbericht vorlegen. b. Beide Mitglieder sollten von der Universitätsleitung eine gleichlautende Vollmacht erhalten. c. Bei jeder Streitfrage, die sich im Verlauf ihrer Tätigkeit ergeben werde, sollten die Delegationsmitglieder einen Ausgleich suchen; falls ein solcher nicht zu erreichen sei, liege die Entscheidungsgewalt beim Ranghöheren der beiden, d. h. bei Prof. Scholem.33
Bei dieser Besprechung wurden auch andere wichtige Angelegenheiten geregelt. So wurde etwa in Bezug auf die Finanzierung der Reise beschlossen, die Hebräische Universität werde der Delegation über den Joint in Europa einen Kredit von 1.000 israelischen Pfund gewähren (600 für die Ausgaben für die Verhandlungen, 400 für etwaigen Ankauf von Büchern, wofür die Genehmigung der Universität einzuholen sei), und eine weitere Summe von bis zu 100 Pfund für persönliche Ausrüstungsgegenstände. Außerdem werde die Universität für die beiden Reisenden eine Kaskoversicherung abschließen und für die sichere Aufbewahrung von Scholems wissenschaftlichen Unterlagen während seiner Abwesenheit sorgen.34 Ende März ließ die Hebräische Universität den beiden Delegierten ihr Bestallungsschreiben zugehen, in dem ihre Aufgaben umrissen waren: 1. Sie sollten jeder erreichbaren Information über jüdische Sammlungen, Bibliotheken, Archive und sonstige Akten, die sich in deutschen Händen befänden, nachgehen und sich bemühen, diese Sammlungen zu prüfen, soweit es ihnen möglich sei. 2. Sie sollten Kontakte zu jüdischen Institutionen vor Ort, Gemeinden oder sonstigen Organisationen knüpfen, die etwas zur Klärung des Schicksals von Sammlungen in der Vergangenheit und in der Zukunft beitragen könnten, und mit ihnen einschlägige Fragen erörtern; außerdem sollten sie sich bemühen, etwas über das Schicksal der Besitzer herauszufinden und Kontakte zu Besitzern von privaten Sammlungen herzustellen, soweit solche in den zu bereisenden Ländern vorhanden seien.35
In der Fortsetzung wird der informative Charakter ihrer Mission betont: Scholem und Yaari sollten möglichst viele Einzelheiten über die Bücher herausfinden, aber keine offiziellen Verhandlungen juristischer Art initiieren. Gegen Ende wird 33 Michael Fekete an Scholem und Yaari, 14. 3. 1946, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 350. 34 Beschlüsse der Sitzung vom 14. 3. 1946 mit dem Rektor, Dr. Senator und Prof. Scholem bezüglich der Europa-Mission; NLI Archiv, Akten Ozrot ha-Gola, 212/2. 35 Schreiben der Hebräischen Universität an Scholem und Yaari (hebr.), 21. 3. 1946, NLI Archiv, Akten Ozrot ha-Gola, 212/1.
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ein weiteres Mal die Kompetenzverteilung angesprochen, außerdem wird eine enge Zusammenarbeit mit den Vertretern der Jewish Agency und des Joint in Europa empfohlen. „Im Notfall“, schrieb Fekete, „sind Sie berechtigt, in allem, was mit dieser Ihrer Mission zusammenhängt, als Bevollmächtigte der Jewish Agency aufzutreten“.36 Kontakt zu und Rückhalt bei den internationalen jüdischen Organisationen, insbesondere bei der zentralen jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation, dem Joint, waren für das Gelingen der Mission unerlässlich, denn diese hatten Zugang zur amerikanischen Besatzungszone, und ihre Leiter arbeiteten mit den militärischen Behörden vor Ort eng zusammen. Im Zuge dieser Kontaktherstellung schrieb Magnes an den europäischen Leiter des Joint in Paris, Joseph Schwartz, und bat um Unterstützung für die Vertreter der Universität bei ihrer Mission. Im Antwortschreiben gab der Vertreter von Schwartz Magnes die Zusage, der Joint werde ihnen nach Kräften behilflich sein; allerdings betonte er – und das war eine deutliche Warnung – die Reise von Paris nach Deutschland sei derzeit keineswegs einfach, denn es herrsche Mangel an Übernachtungsmöglichkeiten und Verpflegung.37 Eine von Scholems letzten Vorbereitungen im Hinblick auf die bevorstehende Reise nach Europa bestand darin, dass er versuchte, von Juden in Palästina Auskunft über Ort und Inhalt einzelner Bibliotheken zu erhalten. In Tel-Aviv suchte er die Maimonides-Bücherei in der Javne-Straße 16 auf, um sich bei deren Direktor, Asriel Hildesheimer, der vor dem Krieg Bibliothekar am orthodoxen Rabbiner-Seminar in Berlin gewesen war, nach dem Verbleib der Seminarbibliothek zu erkundigen.38 Bei dieser Gelegenheit traf er Hildesheimer nicht an, aber, nach Jerusalem zurückgekehrt, erhielt er von ihm einen Brief mit Auskünften über das wenige, was er vom Schicksal der Bibliothek unter dem Nationalsozialismus wusste, sowie Angaben über die darin enthaltenen Bücher und ein Muster des Bibliotheksstempels, um von dort stammende Bücher identifizieren zu können. Zum Schluss seines Schreibens verband Hildesheimer seine Hoffnung, die Bücher möchten gefunden werden, mit einer Bitte: Für den Fall, dass es Ihnen gelingt, die Bibliothek zu finden und auch deren Transfer nach Palästina bewilligt zu bekommen, möchte ich hoffen, dass die Bücher dem Bestand der Maimonides-Bücherei eingegliedert werden. Hier befinden sich bereits an die 1000 Bände, die ich unter Lebensgefahr aus dem von der Gestapo bewachten Bibliotheksgebäude gerettet habe, und außerdem hat die Nationalbibliothek schon [Exemplare
36 Ebd. 37 Arthur Greenleigh an Jehuda Magnes, 2. 4. 1946, im GSA, Akte 23. 38 Nach der von der CEJCR veröffentlichten vorläufigen Liste der Bibliotheken in Europa hatte die Bibliothek des Berliner Rabbinerseminars 20–25.000 Bände umfasst, 139 Manuskripte und zwei Inkunabeln; s. Tentative List of Jewish Cultural Treasures, 2.
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dieser] Bücher (mit wenigen Ausnahmen), wohingegen die Bücher, wenn sie in die Maimonides-Bücherei kämen, für ganz Tel-Aviv ein großer Segen wären.39
Auf einen entsprechenden Aufruf der Universität in einer der hebräischen Tageszeitungen gingen etliche Briefe mit Hinweisen ein, wo weitere Sammlungen jüdischer Bücher erhalten geblieben sein könnten. So schrieb etwa Hanna Marcus aus Tel-Aviv an Scholem und berichtete von einer großen Menge von Büchern, die im Keller des Büros der zionistischen Vereine in Berlin, Meineckestr. 10, zum Transport an die Hebräische Universität bereitgelegen hatten; dieser sei aber nach dem 9. November 1938 nicht mehr zustande gekommen. Als eine der letzten in Deutschland verbliebenen Angestellten der Jüdischen Rundschau hatte sie im Juli 1939 gesehen, wie diese Büchersammlung, die ganze Bibliotheken umfasste, von den Nationalsozialisten abgeholt worden war. Sie erklärte sich bereit, mit weiteren Auskünften zu dienen, und bat um Mitteilung, falls Scholem bei seiner Mission auf Spuren dieser Bücher stoßen sollte.40 Da unter den jüdischen Einwohnern Palästinas bekannt war, dass Scholem und Yaari nach Europa reisen sollten, um von den Nationalsozialisten geraubte jüdische Bibliotheken aufzuspüren, lieferten Personen, die in Deutschland mit Büchern und Bibliotheken zu tun gehabt hatten, verschiedentlich Informationen, die beim Auffinden der Schätze behilflich sein könnten. Viele von ihnen hegten die Hoffnung, die Bücher und Bibliotheken, die sie bei der Flucht aus Deutschland hatten zurücklassen müssen, in ihrer neuen Heimat wieder zurück zu erhalten. Am 10. April traten die beiden Abgesandten der Hebräischen Universität ihre Reise an, versehen mit Empfehlungsschreiben und den eingeholten Auskünften, aber ohne Einreiseerlaubnis nach Deutschland.
London – Paris, 1. Teil (10. April bis 15. Mai) Gershom Scholem und Abraham Yaari flogen über London, wo sie zwei Tage Zwischenstation machten, nach Paris. Dort trafen sie am 14. April ein. Den Aufenthalt in England nutzte Scholem zu einem Besuch bei den Angehörigen seines sechs Jahre zuvor in Buchenwald ermordeten Bruders Werner, seinen Nichten Edith und Renée und seiner Schwägerin Emmy;41 außerdem traf er mit Vertretern des Joint zusammen und mit Norman Bentwich, der für die beiden Vertreter der Hebräischen Universität den Kontakt zum Büro des Joint in Paris 39 Hildesheimer an Scholem(hebr.), 25. 3. 1946, NLI Archiv, Akten Ozrot ha-Gola, 212/1; wie Hildesheimer die Bücher aus der Seminar-Bibliothek herausschmuggelte, berichtet Schidorsky, Gwilim nisrafim, 93. 40 Hannah Marcus an Scholem, 29. 3. 1946, NLI Archiv, Akten Ozrot ha-Gola, 212/1. 41 S. dazu: Zadoff, Der rote Hiob.
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herstellte. Nach ihrer Weiterreise schrieb er an Magnes und berichtete unter anderem über die Spannungen unter den verschiedenen jüdischen Organisationen, was den Anspruch auf die geraubten jüdischen Bücher betraf. Cecil Roth sei mit dem Vorgehen der Hebräischen Universität nicht einverstanden. Er plädiere vielmehr für die Errichtung eines Dachverbands für die amerikanische, britische und die Juden Palästinas, der für die Restitution der Bücher und ihre gerechte Verteilung zuständig sein sollte; die sich als Möglichkeit abzeichnende Rolle der Hebräischen Universität als Treuhänderin und Verteilerin dagegen lehnte er strikt ab. Mit noch größeren Schwierigkeiten auf dem Weg zur Erreichung ihrer Ziele habe die Hebräische Universität von amerikanischer Seite zu rechnen. Es gebe ein Dokument, wonach Koppel Pinson, der Leiter der pädagogischen Abteilung des Joint in Deutschland, versucht habe, die Bücherbestände allesamt in die USA schaffen zu lassen, um sie der Treuhandschaft von amerikanischen Institutionen zu unterstellen. „As he is the person to whom S[cholem] and Y[aari] turn“, schrieb Bentwich an Magnes, „I expect he will not be very helpful“.42 In Paris wimmelte es nach dem Krieg von Displaced Persons (DPs) und von Heimgekehrten; ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und politische Exilanten schufen bei ihrer Rückkehr in die Stadt eine völlig neue Gesellschaft, in der Optimismus herrschte, die aber gleichzeitig verwundet und gespalten war. Die Pariser Juden, die gehofft hatten, in ihre gesellschaftliche und familiäre Umgebung und zu ihrem Vorkriegseigentum zurückkehren zu können, mussten häufig feststellen, dass ihr Besitz in fremde Hände geraten war, und die Rückerstattung nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatten. Enttäuscht über die bestehende Situation, insbesondere über die Gleichgültigkeit der nicht-jüdischen Pariser Bevölkerung und den empfindlichen Mangel an materiellen Gütern, waren die Juden in Paris durchweg niedergeschlagen.43 Doch bis 1946 hatten die jüdischen Einrichtungen der Stadt ihre Tätigkeit wieder aufgenommen, auch der Joint war sehr tätig und bildete einen zentralen Faktor bei der Erneuerung des physischen und geistigen Lebens der Juden in Frankreich.44 Gleich nach ihrer Ankunft in Paris nahmen Scholem und Yaari Kontakt zum Joint und zu Ruth Klüger-Aliav auf, die im Auftrag des Geheimdienstes Mossad an der Rettung von Juden aus Europa und ihrer illegalen Einwanderung nach Palästina/Israel arbeitete; außerdem bemühten sie sich um Einreiseerlaubnisse nach Deutschland und Österreich, was sich als ein schwieriges Unterfangen erwies, das geraume Zeit in Anspruch nehmen würde. Ein Grund für die Schwierigkeiten war eine am 1. April in Kraft getretene neue Regelung der amerikani42 Bentwich an Magnes, 12.–14. 4. 1946, im CAHJP, Magnes collection, Akte 2056. 43 Auslander, Coming Home?, 243–245. 44 Mandel, Philanthropy or Cultural Imperialism?, 53–55.
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schen Behörden, wonach im Unterschied zu früher für die Einreise nach Deutschland eine besondere Genehmigung der amerikanischen Militärregierung erforderlich war.45 Am 17. April reichten die beiden ihr Gesuch um Einreiseerlaubnis ein, das an den Sitz der amerikanischen Militärzentrale in Berlin weitergeleitet wurde.46 Während sie auf Antwort warteten, begannen sie, erste Erkundigungen über die Situation der Bücher in Frankfurt am Main anzustellen. Von Pinsons Versuch, die Bücher in die USA schaffen zu lassen, hatten sie schon erfahren; außerdem gab es Gerüchte, wonach Bücher aus den Sammelstellen gestohlen wurden. Solche Mitteilungen ließen ihre Mission umso dringlicher erscheinen und machte ihnen das Warten auf das Visum nicht leichter. Die Sorge, zu spät zu kommen, wuchs ebenso wie die Enttäuschung über das Verhalten des Joint, der sie hätte unterstützen sollen, dies aber nach ihrem Empfinden nur teilweise und unwillig tat. So schrieb Scholem am 24. April an Werner Senator: Hier hat sich zweierlei herausgestellt: a) Wir sind mindestens zwei bis drei Monate zu spät gekommen, es gibt Leute, die uns das zum Vorwurf machen. Sie sagen, noch vor kurzer Zeit wäre es möglich gewesen, viele von den Sachen, für die wir hierher gekommen sind, herauszuholen, aber inzwischen seien von verschiedenen Seiten Juden wie Nicht-Juden darauf bedacht, so viel wie möglich für Amerika beiseite zu schaffen. b) Die Haltung des Joint ist nicht eindeutig. Einerseits wollen sie zweifellos helfen und haben dies in kleineren Dingen hier auch getan, aber andererseits sind sie sehr bürokratisch und geben uns zu verstehen, dass wir stören. […] Wir haben den Eindruck, wenn ich es auch nicht hundertprozentig beweisen kann, dass der Joint es aus Gründen seines Ansehens in Amerika sehr gern sehen würde, wenn die Bücher nach Amerika gingen, denn dann könnten sie sagen: Das haben wir für die Juden in Amerika geleistet.47
Trotz der nicht gerade ermutigenden Situation und den Visaschwierigkeiten bei der Erlangung des Visums gingen die Vorbereitungen für die Fahrt nach Deutschland weiter. Auf Empfehlung des Joint und der Jewish Agency kauften sich Scholem und Yaari amerikanische Uniformen, denn man hatte ihnen gesagt, mit Eintreffen der Einreiseerlaubnis würden sie sich in der amerikanisch besetzten Zone nur in amerikanischer Uniform fortbewegen können. „Wir sehen
45 Scholem und Yaari an die Hebräische Universität, 19. 4. 1946, im GSA, Akte 23; s.a. Yaari, Din we-Cheschbon, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 385–389. 46 Scholem und Yaari an die Hebräische Universität, 30. 4. 1946, im GSA, Akte 23. 47 Scholem an Senator (hebr.), 24. 4. 1946, im GSA, Akte 23. In seinem (hebräischen) Reisetagebuch notierte Scholem unter dem 21.4: „Magnes hat sich gewaltig geirrt, als er annahm, der JDC [Jewish Distribution Corporation] werde uns wie seine eigenen Mitarbeiter behandeln. In allem, was auf Zugehörigkeit zu ihnen schließen ließe, stellen sie sich stur. Es besteht keine rechte Beziehung, bloß Verlegenheit. Unsere Einreise nach Deutschland ist einstweilen nicht abzusehen. Alles, was wir von ihnen bekommen haben, ist die Benützung eines Fahrzeugs bei Bedarf, und damit hat sich’s!“ (Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 4).
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furchtbar lächerlich aus“, schrieb Scholem an Senator, „wie in einer Operette“.48 Außerdem wandten sich Scholem und Yaari an die UNRRA mit der Bitte, ihnen die Einreise nach Deutschland durch eine Einladung zu erleichtern, die auch erteilt wurde; parallel dazu beantragten sie ein Visum nach Prag. Im selben Zeitraum wurde das Gesuch um Einreiseerlaubnis nach Österreich von den Behörden in Wien abschlägig beschieden. Trotzdem trafen die beiden mit Gideon Ruffner zusammen, dem Vertreter der Jewish Agency in Deutschland und Österreich, der sich auf der Durchreise nach Wien befand. Sie sprachen mit ihm über die Möglichkeit, die Amerikaner zu überzeugen, dass die in Wien befindlichen jüdischen Bücher über die Jewish Agency an die Hebräische Universität als Treuhänderin geschickt würden. „if he succeeds“, schrieben Scholem und Yaari nach Jerusalem, „there will be no necessity for us to go to Vienna at all“.49 Am 3. Mai wurde das Gesuch um Einreiseerlaubnis nach Deutschland von den amerikanischen Behörden in Berlin abgelehnt, trotz der von der UNRRA ergangenen Einladung.50 Nach einigem Hin und Her kamen Scholem und Yaari zu dem Schluss, dass dies offenbar mit der Ablehnung ihres vorigen Antrags zusammenhing, den sie am 28. Februar beim amerikanischen Konsulat in Jerusalem gestellt hatten. Nach dem abschlägigen Bescheid von damals waren ihre Namen bei den amerikanischen Behörden in Berlin anscheinend bekannt, und die Erlangung eines Visums, nachdem ein Gesuch einmal abgewiesen worden war, galt als nahezu unmöglich. Vielleicht hatte die amerikanische Entscheidung auch mit der allgemeinen Politik der Amerikaner in Bezug auf die geraubten Bücher in Europa zu tun: Die Sammelstellen, darunter auch das Archiv-Depot in Offenbach, sollten so schnell wie möglich geräumt werden. Das konnte in zwei Etappen geschehen: Soweit sich die Herkunft der Bücher feststellen ließ, sollten sie in ihre Ausgangsstaaten zurückkehren und durch die dortigen Behörden an öffentliche oder private Eigentümer zurückgegeben werden. Was als herrenloses Gut übrigbleiben würde, sollte in die USA gehen und dort bis auf Weiteres aufbewahrt werden. Damit wären diese Bücher für das jüdische Volk verloren. Hinter dem Plan, einen Teil der Bücher in die USA zu bringen, standen vermutlich jüdische Institutionen in Amerika wie die CEJCR unter Leitung von Salo W. Baron, der Joint, in Deutschland vertreten durch Koppel Pinson, und andere. Anscheinend ergingen mehrere Anfragen von jüdischen Einzelpersonen und Institutionen in Amerika an die amerikanischen Militärbehörden, und das Fehlen einer einheitlichen Front und mangelnde Abstimmung der Maßnahmen von Seiten der jüdi48 Scholem an Senator (Hebr.), 24. 4. 1946, im GSA, Akte 23; auch in Yaari Din we-Cheschbon, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 386. 49 Scholem und Yaari an die Hebräische Universität, 30. 4. 1946, GSA, Akte 23. 50 Telegramm von Scholem an die Hebräische Universität, 8. 5. 1946, ebd.
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Abbildung 4. Scholem in amerikanischer Uniform neben einer unbekannten Frau, Paris 1946
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schen Einrichtungen hat sich ungünstig ausgewirkt und wird weiteren Schaden anrichten, bis hin zum völligen Verlust dieser Kulturschätze für das jüdische Volk. Wir erachten es als unbedingt notwendig, in Amerika unverzüglich eine einheitliche Front der jüdischen Institutionen zu schaffen.51
Infolge des abschlägigen Bescheids aus Berlin wurde beschlossen, dass Yaari nach Palästina zurückkehren sollte, wohingegen Scholem in Paris bleiben und abwarten wollte, was sich auf diplomatischem Weg erreichen ließe;52 zum einen war der Antrag auf ein Visum nach Prag noch in der Schwebe, zum anderen bestand eine gewisse Aussicht, dass Scholem vielleicht als Bildungsbeauftragter des Joint in den DP-Lagern nach Deutschland einreisen dürfe.53 Aber auch das Warten auf das tschechische Visum erschien Scholem fruchtlos: „Sie werden mich nicht hineinlassen“, schrieb er am 7. Mai in sein Reisetagebuch, „ein ganz böser Stern scheint über allem zu stehen, was ich auf dieser Reise mache; es ist wie verhext“.54 Am 10. Mai, noch bevor Yaari nach Palästina zurückgeflogen war, erhielt Scholem die Mitteilung, dass auf Betreiben von Joseph Schwartz, dem Generaldirektor des Joint in Paris, die Berliner Entscheidung revidiert worden sei: Den Abgesandten der Hebräischen Universität wurde die Einreise nach Deutschland gewährt.55 Trotz dieser positiven Wendung und gegen Scholems Rat beschloss Yaari, seinen Teil der Mission abzubrechen und nach Palästina zurückzukehren; die erhaltenen Unterlagen bieten keine Erklärung für seinen Entschluss. Vielleicht war es die Langsamkeit, mit der die Dinge vonstattengingen, und das lange Warten auf das Visum, das ihn zermürbt hatte; vielleicht hatten auch die gestörten persönlichen Beziehungen zu Scholem und die Spannungen, die bereits vor der Abreise zwischen den beiden bestanden hatten, damit zu tun.56 Wie dem auch sei, Scholem beschloss zu bleiben; als Begründung gab er an: „Ich hielt (und halte) es für einen schweren Fehler, die große Sache mittendrin aufzugeben, solange eine echte Aussicht auf einen gewissen Erfolg besteht. Auf jeden Fall habe ich beschlossen, hierzubleiben und zu sehen, wie es weiter-
51 Yaari, Din we-Cheschbon, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 386–388; vgl. auch Scholems Schreiben an Leo Baeck vom 2. 6. 1946, in: Scholem, Briefe I, 315. 52 Telegramm von Scholem an die Hebräische Universität, 8. 5. 1946, im GSA, Akte 23. Um eben diese Zeit reiste Magnes in die USA und führte in Washington Verhandlungen in Sachen der jüdischen Bücher. 53 Scholem an Magnes, 22. 5. 1946, im CAHJP, Magnes collection, Akte 2060. 54 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 9. 55 Telegramm von Scholem an die Hebräische Universität, 11. 5. 1946, GSA, Akte 23; Scholem an die Hebräische Universität, 22. 5. 1946, ebd. 56 Eine kurze handschriftliche Stellungnahme von Scholem zu Yaaris Entschluss, vorzeitig zurückzukehren, s.: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 351.
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geht“.57 Am 15. Mai verließ Yaari Paris und machte sich auf den Heimweg nach Jerusalem.
Paris, 2. Teil (15. bis 24. Mai) Scholems Befürchtungen in Bezug auf die amerikanischen Absichten, die jüdischen Bücher in die USA bringen zu lassen, waren durchaus begründet. In genau diesem Zeitraum, am 17. Mai 1946, wurde dem Berater für jüdische Angelegenheiten beim amerikanischen Oberkommando in Europa, Rabbiner Philip S. Bernstein,58 ein Memorandum unterbreitet: Es enthielt die Empfehlung, die jüdischen Bücher, deren Besitzer nicht festzustellen waren, in die USA zu schicken, und zwar wegen der Gefahr, die ihnen von den sowjetischen Behörden drohten, denn diese verlangten die Restitution der geraubten Kulturgüter nach Osteuropa.59 Ein von Palästina erhobener Anspruch würde von den Großmächten nicht anerkannt; er würde vielleicht sogar den sowjetischen Forderungen in die Hände spielen, da keiner der zur Debatte stehenden Bücherbestände ursprünglich aus Palästina stammte und die jüdische Bevölkerung Palästinas keinerlei rechtliche Grundlage für ihre Forderungen besaß. Daher sei es das Beste, die ehemals in Privatbesitz befindlichen Bücher ihren Besitzern zurückzugeben, soweit sich diese ermitteln ließen; die Bücher aus dem Besitz jüdischer Gemeinden dagegen sollten solange in Treuhandschaft gegeben werden, bis sich wieder jüdische Gemeinden in Europa, die Verwendung für die Bücher hätten, konsolidieren würden. So sei auch mit herrenlosen Büchern zu verfahren, bis ein Schlüssel für die gerechte Verteilung unter den verschiedenen jüdischen Gemeinden gefunden werde. Die Institution, die eine solche Treuhandschaft übernehmen und für die rasche Überführung der Bücher aus Deutschland sorgen könne, sei die Library of Congress in Washington, die sich bereit erklärt habe, für den Transport der jüdischen Bücher in die USA zu sorgen. Dort sollten die Bücher nach Maßgabe der Bedürfnisse jüdischer Gemeinden in aller Welt und in Übereinkunft mit der CEJCR sortiert und neu verteilt werden. Für die Hebräische Universität dagegen war nur die Errichtung einer Gedenkbibliothek vorgesehen: „The erection of a Memorial Library at the Hebrew University to commemorate the millions of
57 Scholem an die Hebräische Universität (hebr.), 22. 5. 1946, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 353. 58 Zu Bernsteins Tätigkeit in diesem Amt s. Genizi, Joez u-Mekim, 57–80. 59 Memorandum submitted by the Commission of European Jewish Cultural Reconstruction to Rabbi Philip S. Bernstein; angeblich basierte diese Empfehlung auf zahlreichen Briefen, die Koppel Pinson und Seymour Pomrenze aus Deutschland an die Kommission gerichtet hatten.
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slaughtered European Jews should be seriously considered“,60 so das Memorandum. Was sich hier abzeichnete, erhöhte Scholems Gefühl, dringend handeln zu müssen, und machte ihm das zermürbende Warten auf das Eintreffen des Visums nach Deutschland sicher nicht leichter. Seine Hoffnung erwies sich zudem als verfrüht, denn sein Anliegen war in der Bürokratie der amerikanischen Militärbehörden verlorengegangen; was kam, war nicht das Visum für Berlin, sondern eine vorläufige, lokal beschränkte Einreisegenehmigung. Das eigentliche Visum müsste neuerlich wieder in Berlin beantragt werden, und zwar bei denselben Dienststellen, die das vorige Gesuch soeben abgelehnt hatten und die von dem neuerlichen Antrag noch nichts wussten. Die Aussicht auf Erfolg war also äußerst gering. Nach etlichem Hin und Her bekam Scholem die Auskunft, er müsse drei weitere Wochen abwarten, um eine endgültige Antwort auf sein Gesuch zu erhalten.61 Er beschloss, nicht nach Palästina zurückzukehren, sondern in Paris zu bleiben, solange noch ein leiser Hoffnungsschimmer bestand, nach Deutschland zu kommen. An Magnes schrieb er: „At any rate I have decided to stick it out, and would return to Palestine only if I have to give up all hope of doing any real business here“.62 In der Zwischenzeit traf Scholem regelmäßig französische Juden und sammelte Eindrücke, in welcher Situation sie sich nach dem Krieg befanden. Darüber schrieb er in einem seiner ersten Briefe an Werner Senator in Jerusalem: Was ich aus etlichen Gesprächen mit französischen Juden erfahren habe, ist furchtbar bedrückend. Ich habe verschiedene Leute getroffen, darunter auch entfernte Verwandte von mir, die ihre Kinder taufen ließen und mir erklärten, diese sollten vergessen, dass sie in ihrer Kindheit Juden gewesen seien.63
Auch die Begegnung mit der jüngeren Generation in Frankreich empfand er als enttäuschend, insofern nämlich, als sie bei ihm Zweifel aufkommen ließ, wie weit diese jungen Leute zur künftigen jüdischen Existenz oder gar zur Stärkung des jüdischen Zentrums im Land Israel beitragen könnten: „They are not at all in the state of mind that we supposed them to be and the trends leading away from Judaism are stronger than the opposite ones, as far as I can see“.64 Aus den vielen Begegnungen, an denen er teilnahm, den öffentlichen Veranstaltungen, zu denen er eingeladen wurde, und den Vorträgen, die er vor jüdischem Publikum hielt, gewann Scholem einen unerfreulichen Eindruck, wie er an die Hebräische Universität schrieb: „Der Eindruck vom jüdischen Leben 60 61 62 63 64
Ebd., 4. Scholem an die Hebräische Universität, 22. 5. 1946, im GSA, Akte 22. Scholem an Magnes, 22. 5. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2060. Scholem an Senator, 24. 4. 1946 (hebr.), im GSA, Akte 23. Scholem an Magnes, 22. 5. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2060.
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hier ist recht bedrückend; ich kann leider gar nicht sagen, dass ich mich hier amüsiere, nicht einmal in dieser Hinsicht“.65 Hinzu kam die Nachricht vom Tod seiner 1939 nach Australien geflüchteten Mutter, die ihn in Paris erreichte.66 In sein Tagebuch schrieb er am 17. Mai 1946: Gestern Nacht erhielt ich die Nachricht, dass Mutter am 5. Mai gestorben ist, als wir in Versailles spazierengingen! Während wir mit einer Freundin des Vaters von Pflaum67 über sie sprachen, hat sie ihren Geist aufgegeben. Ich war seit einigen Wochen auf diesen Augenblick gefasst, aber nun fühle ich mich doch wie versteinert, versteinert bis ins Herz hinein. Ich weiß nicht, was für ein Gefühl von fürchterlicher Versteinerung, von zunehmender Verlassenheit es ist, das mir nicht erlaubt, die Bilanz meines Lebens so richtig zu ziehen. Mutter hatte während der letzten Jahre mehr Raum in meinem Leben eingenommen als früher. Ihre Gestalt hat an Klarheit gewonnen, sobald sie die 70 überschritten hatte, etwas leuchtete auf, auch ist mir meine seelische Bindung an sie in manchem deutlicher geworden. Was sie in Australien durchzumachen hatte, hat sie uns nähergebracht, und ihre geistige Kraft war erstaunlich. Ich hatte eine leichte Mutter, die sich nicht einmischte und sich selbst sehr klug zu schützen wusste. Was mich ihr in früheren Jahren entfremdete, vor an die dreißig Jahren, verschwamm und verschwand. […] Ich stelle mir vor, dass ihr eigentliches Leben sehr schwer war, und sie hat es geistig stark gemeistert.68
In Ruth Klüger-Aliav, die bei der Jewish Agency in Paris arbeitete, fand Scholem eine Vertraute. Aus den langen Gesprächen mit ihr schöpfte er Trost in schwierigen Momenten. Sie war es auch, die den Vorschlag machte, er könne doch in die Schweiz fahren und versuchen, von dort aus ein Visum für Prag zu bekommen. „Das liegt mir in der Tat sehr“, schrieb Scholem in sein Tagebuch, „zumal ich an diesem Abend genau von dort eine Einladung bekommen habe, von dem Zahnarzt Dr. Hurwitz, ich solle auf ein paar Tage zu ihm kommen“.69 Eine Woche später traf Scholem in Zürich ein.
65 Scholem an die Hebräische Universität (hebr.), 22. 5. 1946, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 356. 66 Zur Auswanderung von Betty Scholem und ihren beiden älteren Söhnen s. Scholem/Scholem, Mutter und Sohn, 460ff. S. auch Zadoff, Der Rote Hiob. 67 Heinz Pflaum, der seinen Namen in Hiram Peri hebraisierte, war ein Cousin von Scholem und Professor für Romanistik an der Hebräischen Universität. 68 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 15. 69 Tagebuch-Eintrag vom 17. 5. 1946; Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 14.
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Zürich (24. Mai bis 5. Juni) „Die ungeheuren Schwierigkeiten, die ich in Paris vorfand, waren wie weggezaubert, als ich mich schließlich in die Schweiz begab“, schrieb Scholem in seinem Rechenschaftsbericht an die Hebräische Universität.70 Mit Hilfe von Dr. Siegmund Hurwitz, einem jungianischen Psychologen, der gute Beziehungen zum tschechischen Vize-Konsul unterhielt, erlangte Scholem mühelos ein Visum für Prag. Allerdings konnte er die Reise erst zehn Tage danach antreten, weil die Fahrgelegenheiten in die tschechische Hauptstadt bis dahin ausgebucht waren.71 Der Aufenthalt in Zürich bewirkte eine positive Wendung, nicht nur in Scholems offizieller Mission, sondern auch in seinem Gemütszustand, weil er manches wiedersah, was er aus seinen jüngeren Jahren kannte.72 „Zürich ist wunderbar“, notierte Scholem in seinem Tagebuch, „allerdings ohne Schokolade, denn als vor zwei Wochen die Rationierung aufgehoben wurde, sind sie wie wild über die Geschäfte hergefallen und haben alles gekauft, nichts mehr zu finden!!“73 Die Wartezeit in Zürich verbrachte Scholem bei seinen neuen Freunden, Siegmund Hurwitz und Rivka Schärf, ebenfalls Jungianerin, mit Gesprächen über seine Arbeit und Kabbala-Forschung; von ihrer Gastfreundschaft war er sehr beeindruckt: „Sie bringen sich geradezu um für mich“, notierte er.74 Außerdem nutzte er die Zeit zu Besuchen bei alten Freunden und Bekannten, so etwa bei Dora Benjamin, der Schwester seines Freundes Walter, die schwer krank in einem Zürcher Krankenhaus lag und wenige Tage nach seinem Besuch verstarb.75 Außerdem besuchte er einen achtzigjährigen Cousin seiner Mutter, den Mathematiker Arthur Hirsch, bei dem er schon als Schuljunge auf Familienurlaub und während seines Schweizer Aufenthalts 1918–19 zu Gast gewesen war,76 sowie die deutsch-jüdische Dichterin Margarete Susman, mit der er längere Gespräche führte.77 Über seine neuen Freunde kam am 27. Mai eine Begegnung mit Carl Gustav Jung zustande, mit dem Scholem sich über Kabbala unterhielt. „Ein Abend mit Professor Jung, dem Psychologen“, schrieb er anderntags in sein Tagebuch, „obwohl Mayer mich gewarnt hatte, er habe zum Nationalsozialismus tendiert. 70 Scholem, Din we-Cheschbon al Peulotaj, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 390. 71 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 17. 72 1918 war Scholem für anderthalb Jahre in die Schweiz gefahren; die meiste Zeit hatte er bei Walter Benjamin in Bern verbracht, aber er war auch gelegentlich nach Zürich gekommen. Vgl. Scholem, Walter Benjamin, 69–110; Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 123–136; Zadoff, Der rote Hiob. 73 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 18. 74 Ebd. 75 Vgl. Scholem, Walter Benjamin, 247. 76 Dazu: Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 135f; Scholem/Scholem, Mutter und Sohn, 44. 77 Ausführlicher zum Verhältnis zwischen Scholem und Susman s. u. Kap. 8.
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[…] Ein aufmerksamer Zuhörer.“78 Der Eindruck, den Scholem an jenem Abend von Jung gewann, war zwiespältig, besonders was dessen Berührungspunkte mit der nationalsozialistischen Ideologie betraf; in seinem Tagebuch notierte er ein paar Tage danach: „Gestern mit Dr. Schärf Gespräch über Jung und die Nazis. Versuch, ihn von den Vorwürfen reinzuwaschen – die Vorwürfe bestehen offenbar zu Recht, wie ich aus der Verteidigung entnehme“.79 Einen Höhepunkt des Zusammenseins mit den Jungianern und der langen Gespräche und Spaziergänge mit Schärf und Hurwitz bildete ein Abend zu Scholems Ehren, bei dem er vor einem Kreis von Zürcher Intellektuellen über Sabbatianismus sprach. „Für mich war es interessant“, schrieb Scholem am 5. Juni, „ob auch für die Anwesenden (alle Eingeladenen waren da und noch mehr)?“80 Dieser Kontakt, den Scholem in Zürich zu einem Kreis von Jungianern knüpfte, zu dem er in den folgenden Jahren wachsende Beziehungen unterhielt, führte letzten Endes zu seiner regelmäßigen Teilnahme an den Eranos-Tagungen in Ascona. Wie positiv diese Begegnung auf Scholem gewirkt hatte, geht aus dem herzlichen Dankschreiben hervor, das er später aus Prag an Dr. Hurwitz und dessen Frau schrieb: Ich bin mit den angenehmsten Erinnerungen an diese Tage und die dort angeknüpften Verbindungen weggefahren und hoffe zuversichtlich, daß ich mich einmal in Jerusalem werde „revanchieren“ können. Es war eine Erholung in all dem Trubel und den nervenfressenden Enttäuschungen dieser Reise.81
Prag – Bratislava (Pressburg) – Wien – Prag (5. bis 24. Juni) Einige Tage, nachdem Scholem und Yaari sich auf die Reise von Palästina nach Paris gemacht hatten, traf in Jerusalem ein Schreiben von Hugo Bergmann aus Prag ein, in dem er über größere in Prag und in Bratislava befindliche Bücherbestände berichtete. Soweit er habe feststellen können, seien Schwierigkeiten bei der Überführung der Bücher aus Prag an die Hebräische Universität nicht von Seiten der lokalen Behörden, sondern von Seiten der dortigen jüdischen Gemeinde zu befürchten; daher empfahl er, mit Leo Baeck Kontakt aufzunehmen, denn dieser könne die Leitung der Prager Judengemeinde vielleicht zur Freigabe der Bücher nach Jerusalem bewegen.82 Diese Information wurde sogleich an Scholem weitergeleitet, der inzwischen in Paris gelandet war, und bildete einen 78 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 19. 79 Tagebuch-Eintrag vom 30.5: Scholem, ebd., 20. Ausführlicher zu Scholems Haltung gegenüber Jung s. u. Kap. 7. 80 Scholem, ebd., 21. 81 Scholem an Hurwitz, 8. 6. 1946, in: Scholem, Briefe I, 318. 82 Bergmann an Senator, 12. 4. 1946, NLI Archiv, Akten Ozrot ha-Gola, 212/1.
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entscheidenden Faktor bei seiner Entscheidung, auch in der Tschechoslowakei zu recherchieren. Die Bücher, von denen Bergmann berichtete, stammten nicht ursprünglich aus der Tschechoslowakei, vielmehr hatten die Nationalsozialisten sie aus Berlin dorthin verschleppt. In Berlin waren die aus den von den Deutschen besetzten Gebieten geraubten Bücher gesammelt und von jüdischen Zwangsarbeitern im Reichssicherheitshauptamt und beim Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg sortiert worden. Die Überführung der Büchersammlungen aus Berlin in Randgebiete des deutschen Reichs – hauptsächlich Schlösser in kleineren Orten in Schlesien und in der Tschechoslowakei – hatte 1943 begonnen, um die Bibliotheken vor der Bombardierung durch die Alliierten in Sicherheit zu bringen. So war eine sehr große Sammlung von jüdischen Büchern und Handschriften, etwa eine Viertelmillion Bände, nach Schloss Niemes in Nordböhmen gelangt. Eine kleinere Sammlung, etwa 60.000 Bände, ging von Berlin nach Theresienstadt, wurde dort aufbewahrt und durch jüdische Fachleute betreut. Eine solche Bibliothek zur Benutzung durch die Lagerinsassen sollte ausländischen Beobachtern ein normales Alltagsleben im Konzentrationslager vortäuschen.83 Nach Kriegsende, im September 1945, waren die Bücher von Theresienstadt nach Prag in das Gebäude des Jüdischen Museums gebracht worden. Dieses Museum war 1906 von der Prager Judengemeinde eingerichtet worden; 1941 wurde es von den Nationalsozialisten geschlossen, aber ein Jahr später wiedereröffnet, um Kunstschätze, jüdische Kultgegenstände und Bücher aus dem Besitz inzwischen vernichteter jüdischer Gemeinden aufzunehmen. Die Meinungen gehen darüber auseinander, ob die Wiedereröffnung 1942 eine Initiative der jüdischen Gemeinden gewesen war, um den jüdischen Besitz bis zum Ende des Weltkriegs sicher aufzubewahren, oder ob es die Absicht der Nationalsozialisten gewesen sei, die „jüdische Rasse“ nicht nur auszulöschen, sondern gleichzeitig ihre Kultur zu dokumentieren.84 Jedenfalls fungierte dieses Museum während des Krieges als Aufbewahrungsort für jüdisches Raubgut, und nach dem Krieg befanden sich dort 213.096 Objekte, ungefähr ein Drittel davon Bücher.85 Dieser Sammlung wurde nun die Bibliothek aus Theresienstadt angegliedert.86 Scholems Flug von Zürich nach Prag verlief ohne Zwischenfälle, nur das lange Sitzen in dem engen tschechischen Flugzeug („wie in der Tram“) war ihm unbequem.87 Hier, nahezu zwei Monate nach seiner Abreise aus Palästina, konnte 83 Scholem, Din we-cheschbon schel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 359–362. 84 Dazu: Rupnow, Ihr müßt sein, auch wenn ihr nicht mehr seid. 85 S. Braunová, Origin of the Book Collection, 163. 86 Weiteres zu diesem Museum bei Rupnow, Täter, Gedächtnis, Opfer; Potthast, Das Jüdische Zentralmuseum. 87 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 27.
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sich Scholem zum ersten Mal der Aufgabe widmen, für die er eigentlich nach Europa gereist war: geraubte jüdische Bücherbestände aufzuspüren und zu klären, ob und wie sie an die Jüdische Nationalbibliothek nach Jerusalem gelangen könnten. Da Scholem am jüdischen Wochenfest in Prag ankam, das in jenem Jahr mit Pfingsten zusammenfiel, musste er sich noch bis 11. Juni gedulden, denn die zuständigen Behörden waren geschlossen. Doch gelang es ihm, mit dem Vertreter der Jewish Agency in Prag, Paul März, zusammenzutreffen, der ihm seine Unterstützung zusagte, sowie mit dem tschechisch-jüdischen Historiker Otto Muneles. Muneles stammte aus einer alten orthodoxen Prager Familie und hatte dort Klassische Altertumswissenschaften studiert. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte er sein Studium abgebrochen und war mit seinem Freund Mordechai Georg Langer nach Galizien gereist; dort hatten sich die beiden dem Kreis um den Belser Rebbe angeschlossen, Muneles hatte dort auch geheiratet. Nachdem er zum Rabbiner ordiniert worden war, kehrte er samt seiner jungen Familie nach Prag zurück, wo er sein akademisches Studium mit einer Dissertation in Semitistik abschloss. Dabei behielt Muneles den chassidischen Lebensstil bei; zwischen den beiden Weltkriegen fungierte er als Sekretär der Prager Beerdigungsbruderschaft (Chevra kadischa). Im Zuge des Holocaust wurden seine Frau und seine Kinder in Auschwitz ermordet; er selbst wurde nach Theresienstadt verschleppt, wo er die von den Nationalsozialisten geraubten hebräischen Bücher zu sortieren und zu katalogisieren hatte. Nach dem Krieg kehrte Muneles nach Prag zurück; er nahm dort die nach dem Krieg ins Jüdische Museum gelangenden hebräischen Bücher auf und sammelte historisches Material zu den Grabsteinen auf dem alten jüdischen Friedhof in Prag.88 Scholem war von der tragischen Gestalt dieses gebrochenen Mannes, mit dem er viel zu tun hatte, zutiefst beeindruckt; er verfasste sogar gute zwanzig Jahre später einen Nachruf auf ihn. Darin schilderte er ihn als einen „versteinerten Mann“, der den Glauben an Gott und Mensch verloren habe: „Er, der gläubige Chassid, hatte seinen Glauben verloren und war zu der Erkenntnis gelangt, dass es weder Recht noch Rechtsprechung gebe.“ Trotzdem sei er im Juni 1946 sehr hilfsbereit gewesen: Das Judentum war ihm ferngerückt, zum Gegenstand der Forschung geworden, ausschließlich der Vergangenheit angehörend. Eine Zukunft habe es nicht; alles, was es besitze, seien seine Toten. Seine Gestalt, wie sie sich mir bei meinen Begegnungen mit ihm einprägte, hatte etwas furchtbar Erschütterndes. Er sprach leise, fast flüsternd, zutiefst resigniert; Bemühungen um Wiederbelebung der Gemüter und Erneuerung der Nation schienen ihm aussichtslos. […] Er hatte die menschliche Bosheit in jenen furchtbaren Jahren erlebt und machte sich keinerlei Illusionen, weder was Nicht-Juden noch was Juden betraf. Wenn er von seinen Erlebnissen in Theresienstadt zu berichten 88 Dazu Sadek, Dr. Otto Muneles, 73–78; Braunová, Origin of the Book Collection, 165.
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begann, erstarrte auch dem Zuhörer das Blut in den Adern. Er selbst glaubte an nichts mehr, weder im säkularen noch im religiösen Bereich, aber er versagte keinem seine Hilfe, der ihn darum bat – und seine Hilfe war von unschätzbarem Wert; manche seiner Hilfeleistungen dürfen bis heute nicht näher ausgeführt werden.89
Zusammen mit Muneles besuchte Scholem das Jüdische Museum in Prag und stellte fest, dass sich dort an die 100.000 Bücher aus Böhmen befanden und eine ähnliche Menge von Büchern aus Theresienstadt. Er fand die Bücher in unerfreulichem Zustand vor: „So gut wie alles ist noch in Kisten verpackt und direkte Prüfung nicht möglich. Die Aufbewahrung in muffigen und halbfeuchten Räumen in Kellern gibt zu Bedenken Anlass“.90 Sehr beeindruckt war Scholem von den riesigen Kunstsammlungen des Prager Museums, mit denen man mehrere Museen hätte bestücken können. Allerdings bestehe derzeit kaum Aussicht, diese nach Palästina zu bringen, denn sie seien recht bekannt, und von kunstgeschichtlicher Seite bestehe großes Interesse daran. Daher empfahl Scholem, die Verhandlungen über etwaigen Transfer von jüdischen Kunstgegenständen aus Prag zurückzustellen. Von Muneles erfuhr Scholem, dass sich ein beträchtlicher Teil der Bibliothek des Berliner Rabbinerseminars, über die er bereits vor seiner Reise bei Asriel Hildesheimer Erkundigungen eingezogen hatte, unter den aus Theresienstadt gebrachten Büchern befinde.91 Sogleich teilte er Muneles mit, die Nachfolgerin dieser Bibliothek befinde sich in Tel-Aviv, und er werde Dr. Hildesheimer demnächst verständigen, um die Überführung der Bücher in die MaimonidesBücherei zu veranlassen. An die Universität schrieb er in dieser Sache: Es ist wichtig, dass die Universität sich ihrerseits möglichst bald mit Dr. H. in Verbindung setzt, Tel Aviv Rechov Jawneh, um eine Verabredung über diese Bücher zu treffen. Man sollte vorschlagen, dass Dinge, die bei uns fehlen oder in Seminaren wichtig sind, uns überlassen werden, das übrige aus dieser Bibliothek nach Tel Aviv gehen würde. Ich halte es für richtiger, nicht direkt an Dr. H. zu schreiben.92
Dieser Brief reflektiert die Auffassung von Rangunterschieden der jüdischen Institutionen untereinander, was ihre Ansprüche auf die Zuteilung von Büchern betrifft. Für Scholem hatte die Nationalbibliothek in Jerusalem den Vorrang, aber 89 Scholems (hebräischer) Nachruf auf Otto Muneles erschien unter dem Titel „Schkia biDmama“ (Untergang in Todesstille) in der hebräischen Tageszeitung Haaretz vom 21. 4. 1967, 10. Einzelheiten darüber, wie Dr. Muneles auf nicht immer legale Weise beim Transfer der Bücher aus der Tschechoslowakei nach Jerusalem behilflich war, finden sich bei Schidorsky, Gwilim nisrafim, 261, sowie dort in den Anhängen, 398–434. 90 Scholem, Joman al Sichotaj be-Prag (deutsch), 2. 91 Scholem, ebd. Laut Shavit, Hunger for the Printed Word, 126, bildete die Bibliothek des Berliner Rabbinerseminars den Grundstock zu der jüdischen Bücherei in Theresienstadt. 92 Scholem, ebd. Vgl. Scholem, Din we-Cheshbon al Peulotaj, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 397.
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ihm war klar, dass deren Forderung selbst in Palästina nicht unangefochten bleiben würde. An den folgenden Tagen führte Scholem in Prag Gespräche mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Karel Stein, mit dem Sekretär des Gemeinderats Kurt Wehle und mit Arnost Frischer, dem Präsidenten des Rats der jüdischen Gemeinden in Böhmen und Mähren. Ihnen allen machte er den Vorschlag, dass die ursprünglich aus Deutschland stammenden Theresienstädter Bücher nach Jerusalem gehen und der Hebräischen Universität zu treuen Händen übergeben werden sollten. Die Zustimmung von Stein und Wehle zu diesem Plan erhielt Scholem ohne Weiteres, mit Frischer dagegen war die Sache nicht so einfach, denn er meinte, die Bücher aus Deutschland müssten den in Deutschland befindlichen jüdischen Überlebenden überlassen werden. Nach längerer Beratung wurde beschlossen, Scholem solle einen Brief an die Mitglieder des Gemeinderats schreiben, worin er seine Bitte vorbringen und begründen sollte.93 Das tat er, und auf der Sitzung des Gemeinderats am 30. Juni 1946 wurde entschieden, „die Bücher aus Theresienstadt bei der Hebräischen Universität zu deponieren, vorausgesetzt die tschechoslowakischen Behörden stimmen dem zu“.94 Unterdessen nutzte Scholem seinen Aufenthalt auch zur Suche nach wertvollen Büchern in den Sammlungen des Museums, fand aber weniger als erhofft: „Einige wertvolle Bestände, aber nichts eigentlich Nervenaufpeitschendes“, notierte er im Tagebuch seiner Besprechungen (3). Auch ein Besuch im Prager Stadtviertel Smichov am 11. Juni führte zu keinen sensationellen Entdeckungen: Nachmittags Besuch in Smichov, wo in der Friedhofshalle die Bücher der Prager Juden liegen, 10,000e von Bänden, 80–90 % Gebetbücher und Bibeln, praktisch alles ohne Wert. Übrigens schlecht untergebracht, Räume ohne Fenster, Bretterverschläge, Feuchtigkeit und Mäuse können das ihre tun. Im Vergleich dazu die Theres[ienstädter] Sachen besser untergebracht.95
Am 18. Juni reiste Scholem nach Bratislava, wo er sich drei Tage lang aufhielt. Die dortige Situation sei wesentlich einfacher als die in Prag, leider seien auch die Bücher von geringerem Wert.96 Von den bei der Befreiung dort befindlichen 150.000 Büchern seien viele verschenkt oder gestohlen worden. Allerdings war der Umgang mit dem Vorstand der jüdischen Gemeinde zu Bratislava weitaus einfacher als in Prag: „Die slovakischen Juden sind nicht auf Legalität versessen. Die Regierung obstruiert die Restitution ihres Vermögens auf jede mögliche 93 Scholem, Joman al Sichotaj be-Prag (deutsch), 3–4; ders., Din we-Cheshbon al Peulotaj, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 392. 94 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, 3 mit einem Auszug aus dem Protokoll der Gemeinderatssitzung (deutsch), in Schidorsky, Gwilim nisrafim, 381. 95 Scholem, Joman al Sichotaj be-Prag (deutsch), 3. 96 Scholem, Din we-Cheschbon al Peulotaj, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 391.
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Weise, daher sind sie froh, etwas für das jüdische Volk außer Landes schaffen zu können und stellen weder Fragen noch Ansprüche“. Dass die jüdische Gemeinde in Bratislava so kooperationsbereit war, lag also daran, dass dort keinerlei Anstalten gemacht wurden, jüdischen Besitz an Juden zurückzugeben; ihnen war klar, dass die Überführung nach Jerusalem der einzige Weg war, das geraubte Gut den dortigen Behörden zu entziehen und in jüdische Hände gelangen zu lassen. Nach Scholems Schätzung befanden sich in Bratislava ca. 6.000 Bände, für die bei der Hebräischen Universität Verwendung bestand, und er schlug vor, sie mit den „Repatrisierungszügen“ möglichst rasch nach Paris zu schaffen; diese Züge brachten nach der Neuaufteilung Europas Displaced Persons in ihre Ursprungsländer zurück, und zwar ohne Gepäckkontrolle, „allerdings befürchten sämtliche ‚Schmuggler‘, dass das nicht ewig so weitergehen wird; in drei oder weniger Monaten dürften diese Eisenbahnsendungen aufhören, mit denen wir ganze Bibliotheken hätten transferieren können, wenn wir uns rechtzeitig dazu entschlossen hätten.“97 Von Bratislava aus reiste Scholem noch für einen Tag illegal nach Wien. Am 19. Juni fuhr er mit einem Privatwagen ohne Genehmigung der Militärbehörden dorthin und hielt sich 24 Stunden in der Stadt auf. An diesem Tag stellte er fest, dass sich in Bezug auf die Sammlungen jüdischer Bücher in Wien derzeit nicht viel machen ließ. Gerüchtweise erfuhr er, dass ein Teil der Wiener Gemeindebibliothek nach Bayern verschleppt worden war,98 und ein anderer Teil sich im Keller der Wiener Nationalbibliothek unter Verschluss befinde. Der Vorstand der jüdischen Gemeinde wollte sich die Bücher von dort erst herausgeben lassen, wenn eine adäquate Lösung für ihren Verbleib gefunden sein würde.99 Ein Grund dafür war die Befürchtung, dass die Russen, die einen Teil der Stadt beherrschten, sich der Bücher bemächtigen und sie nach Osten verschicken lassen würden; der Hauptgrund war aber der, „dass gewisse Personen im Gemeinderat finanziell an diesen Dingen interessiert sind, sie würden die Bücher erhalten wollen, um sie zu verkaufen“.100 Da die jüdische Gemeinde als rechtmäßige Eigentümerin der Bücher anerkannt war, konnte der Vorstand Anspruch auf die Bücher aus Bayern erheben und sie zusammen mit den in Wien befindlichen an die Hebräische Universität überführen lassen, und prinzipiell erklärte er sich Scholem gegenüber bereit dazu. Trotz dieses ursprünglichen Einverständnisses erwies sich die Überführung der Bücher aus Wien nach Jerusalem als ein schwieriges Unter97 Ebd., 392–393. 98 Kurze Zeit danach, bereits in Berlin, erfuhr Scholem von Augenzeugen, dass dieser Teil der Bibliothek in Landshut verbrannt war; vgl. Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 371f. 99 Scholem, Din we-Cheschbon al Peulotaj, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 394–396. 100 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 372.
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fangen, zunächst, da die jüdische Gemeinde in ihrem Entschluss zu schwanken begann, dann wegen bürokratischer Hindernisse von Seiten der österreichischen Regierung; abgeschlossen ist dieses Kapitel bis heute nicht.101 Bevor Scholem nach Bratislava zurückfuhr, hinterließ er noch Instruktionen, was für Bücher aus den dort lagernden riesigen Haufen für die Hebräische Universität auszusortieren seien: „alte Drucke von vor 1700, Responsensammlungen, Drucke aus Ungarn, aus der Slovakei und aus Munkatsch, die hier in großen Mengen liegen und bei uns gewiss weitgehend fehlen; Manuskripte und sonstiges handschriftliches Material“.102 Anschließend machte er sich auf den Weg zurück nach Prag. Am Morgen des 22. Juni, einen Tag nach seiner Rückkehr aus Bratislava, erhielt Scholem die erfreuliche Mitteilung, die ersehnte Einreiseerlaubnis nach Deutschland sei eingetroffen. Die diplomatischen Bemühungen in den USA und die Versuche des Joint in Paris hatten endlich Erfolg gehabt: Aus Berlin war die Genehmigung gekommen, dass Scholem als Beauftragter der UNRRA und des Joint in amerikanischer Uniform nach Deutschland einreisen dürfe.103 Zwei Tage nach Erhalt dieser Botschaft flog Scholem nach Paris zurück. Die Bücher, die er in Prag, Bratislava und Wien gesehen hatte, waren nicht die große wertvolle Sammlung, die er zu finden gehofft hatte, insofern war seiner Mission auch dort kein voller Erfolg beschieden. Bis zu der (offenbar bedeutenden) Sammlung in Niemes war er nicht vorgedrungen, obwohl er aus verschiedenen Hinweisen hatte entnehmen können, dass die wichtigsten Bücher und Manuskripte dorthin verbracht worden waren – sofern sie sich noch dort befanden.104 Trotzdem schrieb er an die Universität: „Meine Aktionen hier waren insgesamt erfolgreicher, als ich erwartet hatte“.105 Was Scholem zustande gebracht hatte, waren wichtige Kontakte, die letzten Endes zur Versendung zahlreicher Bücher an die Hebräische Universität führten,106 wie er selbst aus der Tschechoslowakei berichtete: 101 Dazu ausführlich: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 263–274, sowie im Anhang 435ff.; Adunka, Der Raub der Bücher, 122–162. 102 Scholem, Din we-Cheschbon al Peulotaj, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 392. 103 Scholem an die Hebräische Universität, 2. 7. 1946, HUA, Akten Gershom Scholem, 1946. S.a. Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 357. 104 Ebd., 359–361, dort auch eine Liste der nach Niemes verbrachten Büchersammlungen. 105 Scholem an die Hebräische Universität (Hebr.), 2. 7. 1946, HUA, Akten Gershom Scholem, 1946. 106 Nach Scholems Rückkehr wurde beschlossen, die Bemühungen um den Erhalt von Büchern zunächst auf die Tschechoslowakei zu konzentrieren, und in den folgenden Jahren nahmen viele Bücher den Weg von dort an die Jerusalemer Nationalbibliothek, darunter auch die Sammlung aus Schloss Niemes sowie Magazine aus anderen Schlössern. Dazu Schidorsky, The Salvaging, 204–212; Yavnai, Jewish Cultural Property, 133–138. Aus den Aufzeichnungen über die weiteren Delegationen, die von der Hebräischen Universität nach Europa
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Es versteht sich, dass die praktische Durchführung der genannten Pläne noch einige Zeit dauern wird, und es war ja nicht gedacht, dass ich monatelang hier sitzen soll, bis die Dinge abgewickelt sind. Aber ich darf doch hoffen, die Lage geklärt und Grund zu konkretem Handeln gelegt zu haben, das dann durch unsere Freunde vor Ort geschehen soll, die lange darauf gewartet haben, dass einer von uns kommt und ihnen sagt, was in dieser Sache zu machen sei (was uns bedauerlicherweise Zeit und wertvolle Sammlungen gekostet hat). Von nun an kann die Universität selbst mit den zionistischen Personen und Institutionen vor Ort kommunizieren, denn diese kennen nun unsere Linie und sind bereit, sie weiter zu verfolgen. Damit hoffe ich, dass wir das uns gesteckte Ziel erreichen werden.107
Paris – Bad Arolsen – Frankfurt am Main – Offenbach (24. Juni bis 18. Juli) In Paris traf Scholem die letzten Vorbereitungen zur Einreise in die amerikanisch besetzte Zone. Wie lange sein Aufenthalt dort dauern und wie er ihn gestalten würde, war ihm noch nicht klar. So schrieb er noch aus Prag an die Hebräische Universität: Wieviel Zeit ich in Deutschland verbringen werde, kann ich im Voraus nicht sagen. Soweit ich mir das vorstellen kann, wohl nicht weniger als einen Monat. Es kommt ganz darauf an, was sich dort machen lässt. Außerdem muss ich ja auch mehr oder weniger Zeit für meine Deckfunktion verwenden als Vertreter des Joint in Sachen Kultur und Erziehung. Es versteht sich von selbst, dass ich Lager besuchen werde. Zunächst gehe ich nach Frankfurt, von dort nach München. Anscheinend ist meine Einreise-Erlaubnis auch für die britische Zone gültig.108
In einem Privatbrief an Magnes eine Woche später äußerte sich Scholem etwas anders: „Wenn es möglich wäre, würde ich von dort [scil. Deutschland] nach Hause fahren, denn ich bin furchtbar müde“. In der Fortsetzung dieses Schreibens berichtet Scholem von den Erkundigungen, die er vor der Fahrt nach Deutschland eingezogen hatte; aus weiteren Gesprächen mit Vertretern des Joint habe er entnommen, dass deren Haltung ihm gegenüber unverändert geblieben sei: „Von der Leitung des Joint erhielt ich die inoffizielle Mitteilung, dass mit zügiger Kooperation von Prof. Koppel Pinson leider nicht zu rechnen sei. I took entsandt wurden, geht hervor, dass seit Scholems Rückkehr bis Dezember 1947 nicht weniger als drei in die Tschechoslowakei gingen; dazu Schidorsky, Gwilim nisrafim, 254–263, und 398–434. 1955 wurde in Tel-Aviv ein Theaterstück von Lea Goldberg mit dem Titel „Die Schlossherrin“ uraufgeführt; die Handlung spielt in einem tschechischen Schloss unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Protagonisten treten ein Vertreter der Hebräischen Universität auf der Suche nach verschollenen Büchern sowie dessen Begleiterin auf. 107 Scholem, Din we-Cheschbon al Peulotaj, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 396f. 108 Scholem an die Hebräische Universität (hebr.), 23. 6. 1946, HUA, Akten Gershom Scholem 1946.
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the hint.“ Zum Schluss schreibt er noch: „Ich hatte gedacht, meine Mission würde am 1. Juli zu Ende sein und ich könnte an meine Arbeit zurück, doch siehe da, sie fängt erst richtig an! Wer jetzt nach Europa fährt, muss sich auf erheblichen Zeitaufwand gefasst machen!“109 Am 1. Juli nahm Scholem den Nachtzug von Paris nach Frankfurt. „Schlafen konnte ich nicht“, schrieb er in sein Tagebuch, „wegen des Schnarchens der Mitreisenden“.110 Bei seiner Ankunft in Frankfurt stellte sich heraus, dass er erst seine Aufenthaltsgenehmigung in Händen haben musste, bevor er an die Arbeit gehen konnte. Zu diesem Zweck musste er sich zum amerikanischen Oberkommando nach Bad Arolsen bei Kassel begeben, um sich den entsprechenden Schein ausstellen zu lassen. Die zwei Tage, die er dort aufgehalten wurde, nutzte er für Exkursionen mit einem Jeep der US-Armee. „Ein nettes Städtchen“, notierte er, „die Landschaft wunderschön, ringsherum friedlich – und die Deutschen, die einen anstarren“. Am 4. Juli konnte er schließlich mit den erforderlichen Papieren nach Frankfurt zurückkehren. Frankfurt am Main bestand unmittelbar nach dem Krieg aus zwei Teilen. Auf der einen Seite der amerikanische Teil der Stadt, der voller Leben war, wie Robert Weltsch von seinem Besuch in Frankfurt anlässlich seiner Europa-Reise Anfang 1946 berichtete: „Die Straßen voll von amerikanischen Fahrzeugen aller Art, Militärs und Verwaltungsangestellte in Uniform erfüllen Teile der Stadt mit Leben, die wichtigsten amerikanischen Dienststellen bilden die Zentren und Knotenpunkte. […] Was immer an Gebäuden sich wiederaufbauen ließ, ist erstklassig renoviert und mit dem modernsten Komfort ausgestattet, einschließlich Zentralheizung (sogar zu viel).“111 Auf der anderen Seite der größere, von Deutschen bewohnte Teil der Stadt, der noch völlig in Trümmern lag: „Dort sind ganze Straßenzüge dem Erdboden gleich gemacht, aber durch all die düsteren Gassen, die durch die Trümmerberge gebahnt wurden, gehen Leute; und man fragt sich: Wie und wo können Menschen dort überhaupt wohnen?“ Doch auch in jenem Teil der Stadt fuhren Straßenbahnen, und in der städtischen Oper wurde um die Jahreswende 1945/46 Beethovens Fidelio gegeben. Deutsche und Amerikaner waren in Frankfurt weitgehend voneinander getrennt; abgesehen von den Dienstleistungen für die Bewohner der amerikanischen Stadtviertel hatten die beiden Bevölkerungsgruppen nichts miteinander zu tun. Scholems Besuchsziel lag am anderen Ufer des Main: das große Bücher-Depot in Offenbach, Mainstraße 169. Diese Lagerräume waren seit 2. März in Betrieb; sie enthielten die Bestände der Frankfurter Rothschild-Bibliothek, hierhin sollten 109 Scholem an Magnes, 30. 6. 1946, CAHJP, Magnes collection, file 2060. 110 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 31. 111 Dieses und das folgende Zitat aus: Robert Weltsch, Ha-Sifrija ha-Jehudit ha-Gdola ba-Olam, 2.
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alle in der amerikanisch besetzten Zone noch auffindbaren Bücherbestände verbracht werden. Die Leitung des Offenbacher Archiv-Depots lag während der ersten Monate seines Bestehens in den Händen des amerikanisch-jüdischen Offiziers Seymour Pomrenze, der vor seiner Einberufung zur US-Armee Archivar bei den amerikanischen National Archives gewesen war. Als er seinen Posten in Offenbach antrat, lagerten dort mehr als anderthalb Millionen Bücher, die sortiert und ihren Eigentümern zurückgegeben werden sollten.112 Seine Eindrücke vom Beginn seiner Offenbacher Tätigkeit beschrieb Pomrenze viele Jahre danach als gleichermaßen überwältigend und faszinierend: My first impressions of the Offenbach Collecting Point were overwhelming and amazing at once. As I stood before a seemingly endless sea of cases and books, I thought what a horrible mess! What could I do with all these materials? How could I carry out my assignment successfully? Beyond the mess, however, was an even larger mission. Indeed, the only action possible was to return the items to their owners as quickly as possible.113
Während der sechs Wochen, in denen Pomrenze für die Sortierung und Restitution der Bücher zuständig war, ging diese Arbeit denn auch zügig und effektiv vonstatten. Während dieses Zeitraums wurden größere Sammlungen von Büchern, deren Eigentümer sich feststellen ließen, in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Die erste dieser Büchersendungen, Lastwagen mit 371 Bücherkisten, ging am 12. März nach Holland; im selben Monat erfolgten weitere Büchersendungen nach Frankreich und nach Belgien.114 Gleichzeitig strömten weiterhin Materialien aus der ganzen amerikanischen Besatzungszone nach Offenbach, und am 1. Mai war das dortige Depot zur einzigen Sammelstelle von zurückzugebenden Büchern und Drucksachen erklärt worden.115 Am 15. April wurde Pomrenze durch den ebenfalls amerikanisch-jüdischen Offizier Isaac Bencowitz abgelöst, der im Zivilleben Chemiker gewesen war. Als Bencowitz die Leitung des Magazins übernahm, wurden dort pro Tag 30.000 Objekte identifiziert und sortiert, und zwar durch elf Teams, die aus deutschen Zivilisten bestanden. Da unter dem deutschen Personal niemand war, der die hebräische Schrift lesen konnte, wurden die hebräischen und jiddischen Bücher beiseitegelegt, bis sich jemand ihrer annehmen würde. Den Verlauf der Arbeit im Offenbacher Archiv-Depot schilderte die amerikanische Historikerin Lucy Dawidowicz, die Anfang 1947 dorthin auf Besuch kam: The hundreds of thousands of books, brought from all over the American zone, stretched wall to wall in a continuing vista of wooden boxes on two floors of the Depot. When the books arrived, each case was opened and examined to check the condition of its 112 113 114 115
Poste, ebd., 340. Pomrenze, The Restitution, 2. Poste, ebd., 351–353; Pomrenze, Offenbach Reminiscences, 15f. Poste, ebd., 342.
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contents. The Depot maintained a Care and Preservation Room to dry wet books and manuscripts and to make minor repairs. After the preliminary inspection, the cases were moved to a general sorting area where they were divided into books in western languages and books in Yiddish and Hebrew – languages which the German staff was unable to decipher. The next step was to set aside the identified books from the unidentifiables.116
Es war den Bemühungen von Koppel Pinson zu verdanken, dass 25.000 der herrenlosen Bücher auf Jiddisch den Bewohnern der DP-Lager in Deutschland leihweise zur Verfügung gestellt wurden, denn dort herrschte großer Mangel an Materialien für kulturelle und pädagogische Tätigkeiten. Bis Ende April hatte der Joint an die 20.000 Bücher aus dem Offenbacher Magazin zu diesem Zweck erhalten.117
Abbildung 5. Bücher im Offenbach Archival Depot, 1946. Aus einem Fotoalbum des OAD, aufgenommen von Isaac Bencowitz
116 Dawidowicz, From That Place, 315. 117 Poste, The Development, 339, 348, 360; Dawidowicz, ebd., 312f; Lewinsky, Displaced Poets, 54–58.
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Bis Ende April, als Bencowitz die Leitung des Archiv-Depots übernahm, die er bis Oktober 1946 innehaben sollte, waren bereits mehr als eine Million Exemplare an ihre Eigentümer zurückgeschickt worden; etwa 800.000 befanden sich noch in Offenbach.118 Im Lauf des Monats Mai wurden keine nennenswerten Büchermengen verschickt,119 doch Ende Juni wurde von nahezu 1.220.000 Büchern und Handschriften berichtet, die seit der Eröffnung des Depots ihren Eigentümern wieder zugestellt worden seien;120 von der knappen Million der verbliebenen Stücke war bei ca. der Hälfte die Entscheidung, was mit ihnen geschehen solle, noch offen – sie war abhängig von der künftigen Politik der amerikanischen Besatzungsbehörden. Darunter fielen Bücher unbekannter Herkunft und Stücke, deren Herkunft nur teilweise geklärt war.121 Um diese etwa 500.000 Bücher zu prüfen und zu sortieren, war Scholem nach Offenbach gekommen. Im Bericht des Archiv-Depots von Ende Juni 1946 steht zu lesen, von den herrenlosen Büchern seien bereits 267.400 sortiert worden. Die Sichtung der Bücher habe ergeben, dass 43 Prozent davon auf Hebräisch geschrieben seien und sechzehn Prozent (42.000), die jüdische Themen behandelten, auf Deutsch.122 Außerdem waren bis zu Scholems Ankunft in Offenbach bereits Teile der Breslauer Seminarbibliothek angekommen, Teile der Gemeindebibliotheken aus Frankfurt und Berlin (darunter die Privatbibliothek von Hermann Cohen), Teile der YIVO-Bibliothek aus Wilna, die amtlichen Bücher jüdischer Gemeinden sowie an die 600 Manuskripte (darunter eine bedeutende Sammlung von Handschriften der Lubawitscher Chassidim).123 Im Verlauf dieser Monate waren noch weitere Büchersendungen aus der amerikanischen Besatzungszone eingegangen. Doch bis zu Scholems Ankunft war ein Großteil der Bücher bereits an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgeschickt worden – zumeist in die Staaten, wo sie sich vor dem Krieg befunden hatten. Sobald Scholem in Frankfurt angekommen war, traf er sich mit Pinson und Bencowitz. Zu seiner Überraschung empfing Pinson ihn weitaus freundlicher, als er in Folge der Vorwarnung des Joint erwartet hatte. Pinson habe viel erzählt, was er bereits für die Rettung und Restitution der Bücher geleistet habe, und Scholem sogleich nach Offenbach eingeladen, um dort die hebräischen Handschriften zu
118 119 120 121
OAD Monthly Report, 30. 4. 1946, 5; Poste, The Development, 361. OAD Monthly Report, 31. 5. 1946, 6f. OAD Monthly Report, 30. 6. 1946, 2. Dazu: Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 364; Scholem, Li-Scheelat ha-Sifrijot ha-schedudot, 6. 122 OAD Monthly Report, 31. 5. 1946, 8, 11; Poste, The Development, 361. 123 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 367.
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sichten.124 Pinson, der zwei Wochen später aus Deutschland abreisen sollte, beklagte sich bei Scholem über die Leute vom Joint, denen es an Interesse für jüdische Kultur und deren Schätze fehle, was Scholem als Ausdruck gegenseitig gespannter Beziehungen wertete: „Pinson äußert sich so grimmig über das Joint wie die sich über ihn“, notierte Scholem am 5. Juli, „interessant, beide Seiten zu hören“.
Abbildung 6. Gershom Scholem im Offenbach Archival Depot, Sommer 1946
Am 6. Juli, fast drei Monate nach seiner Abreise aus Jerusalem, gelangte Scholem ans Ziel seiner Wünsche: das Archiv-Depot in Offenbach. Nach einem ersten Rundgang durch das Gebäude schrieb er in sein Tagebuch: Der erste Morgen in Offenbach – zwei Stunden lang mit Pinson durchs Haus gegangen, alle Arrangements gesehen. Eine Menge Bücher und geordnete Stapel, Anweisungen, die alles zulassen! Aber wir sind viel zu spät gekommen. Vor Monaten hätte sich etwas machen lassen, wenn man ihnen die richtigen Leute geschickt hätte. Die beiden Leiter sind Juden, die gern helfen wollen, aber noch mehr Sorge vor den Behörden haben als die Leute in Prag. Der einzige, der mit ihnen umzugehen versteht – Pinson, der die wirklich wertvollen Stücke von hier mitnehmen könnte!!125
124 Tagebuch-Eintrag vom 5. 7. 1946. Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 33. 125 Ebd., 34.
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Am Abend desselben Tages sprach Scholem mit Bencowitz über die Absichten der Hebräischen Universität und ihren Wunsch, die Bücher in Treuhandschaft an die Nationalbibliothek in Jerusalem bringen zu lassen. Bencowitz war mit diesem Plan der Hebräischen Universität nicht einverstanden; er war nur bereit, beim Transfer von Büchern in die USA behilflich zu sein, sofern die Überführung der Bibliothek des YIVO an deren Geschäftsstelle in New York genehmigt werden sollte. Allerdings riet er Scholem, die Bücher so bald wie möglich aus dem ArchivDepot herauszuholen: Er [scil. Bencowitz] ist allenfalls dazu bereit, ein paar Tausend Bücher zusammen mit den Beständen des YIVO hinauszuschmuggeln, sobald die Transport-Anweisung kommt (und die ist noch nicht da). Zu allem, was uns in Erez Israel wichtig ist, sagte er: forget about it! Sein wichtigster Rat war der, die Entscheidung in Washington müsse sehr schnell fallen, denn nach ihm komme ein deutscher Archiv-Leiter, der nach Kräften dafür sorgen werde, dass die Bücher in deutsche Hände kommen.126
Während der ersten drei Tage seines Aufenthalts in Offenbach gewann Scholem aus seinen Gesprächen mit Pinson und Bencowitz eine Vorstellung vom allgemeinen Zustand der Bücherbestände im Archiv-Depot. Das Bild, das aus seinem Ergebnisprotokoll dieser Gespräche hervorgeht, war nicht gerade rosig. Zum einen wurde ihm klar, dass er zu spät gekommen war; die meisten Bücher waren bereits sortiert und an ihre Besitzer zurückgeschickt worden, um die Schließung des Depots innerhalb weniger Monate möglich zu machen. Außerdem sollte die Leitung demnächst in deutsche Hände übergehen, wodurch die Möglichkeit, Bücher in jüdische Hände gelangen zu lassen, vereitelt schien. Ebenfalls enttäuschend war die Feststellung, dass die meisten Bücher weder ursprünglich in jüdischem Besitz gewesen waren noch von jüdischen Themen handelten – die nach Palästina gelangten Berichte hatten anders gelautet. Bestände aus großen jüdischen Bibliotheken aus Deutschland und Österreich fanden sich in Offenbach nicht. Besonders schlecht ist die Lage in Bezug auf Handschriften. In Offenbach befinden sich nur ein paar hundert (etwa 400) hebr. Handschriften, und ausnahmslos aus keiner der großen Sammlungen, sondern aus süddeutschen Gemeindebibliotheken und baltischen Ländern. Kaum Wertvolles, wirklich Altes überhaupt nicht.127
Angesichts dieses Befunds schrieb Scholem später in seinem zusammenfassenden Bericht, in Bezug auf Kulturschätze im Sinne von seltenen Büchern, wichtigen Handschriften oder sonst wertvollem Archivmaterial sei der Inhalt des Offenbacher Depots enttäuschend gewesen.128 Außerdem hatten die Gespräche 126 Ebd., 34f. 127 Scholem, Resümee der Besprechungen, 1. 128 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 365.
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mit Pinson keinen Zweifel daran gelassen, dass keinerlei Aussicht bestand, die Bücher zur Gänze oder zum Teil nach Palästina zu transferieren. Dabei erklärte Pinson sich grundsätzlich bereit, mit der Hebräischen Universität zusammenzuarbeiten, und gab Scholem zu bedenken, dass sich zunächst die verschiedenen jüdischen Organisationen untereinander einigen müssten, um rasch möglichst viele Bücher aus Deutschland herauszuholen. Dazu kommentierte Scholem: „Wie die Dinge liegen, hat er leider Recht. In Paris oder New York [werden] wir, bzw. das jüdische Volk, immer noch weniger von diesen Dingen verlieren, als wenn sie hier bleiben“.129 Was sich als Möglichkeit herauskristallisierte, war die Errichtung einer Sammelstelle für jüdische Bücher außerhalb Deutschlands; dorthin sollten innerhalb kurzer Zeit möglichst viele Bücher transferiert und dann durch die jüdischen Zentren weitergeleitet werden. Um die amerikanische Besatzungsmacht zu einer solchen Lösung zu bewegen, müssten die Vertretungen des Judentums in aller Welt unter Hintanstellung ihrer Rivalitäten eine gemeinsame Linie verfolgen. Diese Gespräche bewirkten offenbar einen Wandel in Scholems Auffassung darüber, was er in Europa zur Rettung jüdischer Bücher beizutragen habe. In Anbetracht des bevorstehenden Wechsels in der Leitung des Archiv-Depots sowie aus Sorge vor etwaigen Diebstählen durch das dortige Personal gelangte Scholem zu der Überzeugung, die Bücher müssten so schnell wie möglich irgendwohin gerettet werden, wo sie dem jüdischen Volk zur Verfügung stünden, bevor sie diesem völlig verloren gingen.130 Am 9. Juli, dem Tag der Abfassung seines Rechenschaftsberichts, telegraphierte Scholem an Magnes, der sich damals in den USA aufhielt: „unless decision reached until August danger imminent Jews loose [sic] all“.131 Zu dieser Auffassung war Scholem gegen Ende seiner Mission gelangt, wie unter anderem aus einem Schreiben hervorgeht, das er von Paris aus, unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Palästina, an Stephen S. Wise, den Präsidenten des jüdischen Weltkongresses, schickte: Everybody to whom I spoke, including the people of the Fine Arts and Monuments Commission, implored me to do what I could to work for one policy to be advocated. They say that if the Jews between themselves are divided, even the State Department will be afraid of making a decision, and the whole business may linger for years. To this must be added the fact that I have not found anybody who thinks it possible that a direct transfer of the libraries to Palestine may be achieved, and no decision on that line is within our reach. On the other hand, I consider it very important to get these collections,
129 Scholem, Resümee der Besprechungen, 3. 130 Dazu schrieb Scholem an Magnes: „Es gibt die Möglichkeit, hier viel zu stehlen, trotz der Sicherheitsvorkehrungen, und das Personal wird von dieser Möglichkeit Gebrauch machen! Einstweilen besteht noch kein Interesse an jüdischen Büchern, sondern nur an Dingen mit deutschem Inhalt, aber warum sollen wir warten, bis es zu spät ist?!“ Scholem an Magnes (Hebr.), 14. 7. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2060. 131 Scholem an Magnes, 9. 7. 1946, GSA, Akte 23.
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as far as they are still there, out of Germany as soon as possible. The longer they remain there, the greater the danger will be for losing parts of them. Any place outside Germany would be better than to leave them at their present place, although they are now kept in boxes after having been sorted in a very summary fashion.132
Während der folgenden Tage bemühte sich Scholem im Offenbacher ArchivDepot darum, Handschriften und Bücher zu identifizieren und zu ordnen. Da die meisten Bücher bereits in verschlossenen Kisten verwahrt waren, konnte er in erster Linie nur einige Ratschläge geben sowie Stapel von Büchern auf Deutsch und Lateinisch durchsehen. Im Zuge dieser Tätigkeit wurde Scholem klar, wie beschränkt seine Möglichkeiten und wie falsch die Vorstellungen gewesen waren, die man sich vor seiner Entsendung nach Europa gemacht hatte. Darüber schrieb er an Magnes: Ich habe mich mit dem Ordnen von Handschriften und sonstigen besonderen Büchern beschäftigt. Nächste Woche gehe ich an die Untersuchung von Materialien aus den Grenzländern, und ich könnte jeden Tag weinen, wenn ich sehe, wieviel ich hätte ausrichten können, wenn ich, wie ursprünglich geplant, noch im April hierher gekommen wäre, als der Großteil der Bücher noch nicht neu geordnet und in Kisten verpackt war; damals hätte ich Einfluss auf das Ordnen gehabt und entsprechende Instruktionen geben können. Nun bestehen nur noch beschränkte Möglichkeiten, hie und da einen guten Rat zu erteilen, der auch befolgt wird, und das bemühe ich mich zu tun. […] Die Hauptarbeit, die getan werden müsste, die ich aber nicht zu tun vermag, wäre meines Erachtens das Fahnden nach dem gewaltigen weggepackten und versteckten Material. Dafür wäre zweierlei erforderlich, was uns in Jerusalem so nicht klar war: a) sehr viel Zeit, denn es ist eine Detektivarbeit, das ausfindig zu machen, was die Amerikaner und die Engländer nicht gefunden haben. b) völlige Bewegungsfreiheit, die ich entschieden nicht habe in Anbetracht der militärischen Besatzung und der Bedingungen, unter denen der Joint mir die Einreise-Erlaubnis nach Deutschland besorgt hat.133
Scholems negativer Eindruck vom Joint und dessen Haltung ihm und seiner Mission gegenüber verschärfte sich weiter. „Das Büro des Joint ist nicht kooperativ“, schrieb er am 9. Juli in sein Tagebuch, „d. h. die Leiterin hat kein Interesse an meiner Mission, ich habe sogar den Eindruck, dass sie liebenswürdige Sabotage übt“. Und zwei Wochen später, vor seiner Fahrt nach München, notierte er: „Meine Bitterkeit und Enttäuschung über das Verhältnis des Joint zu mir wird immer schlimmer“.134 Daneben erhielt Scholem auch positive Mitteilungen, die den Zeitdruck ein wenig linderten. Die amerikanischen Behörden hatten beschlossen, Bencowitz solle nicht, wie angekündigt, schon im August abgelöst 132 Scholem an Wise, 23. 8. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2060. Im selben Sinne äußerte sich Scholem in dem Bericht, den er nach seiner Rückkehr einreichte: Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 374. 133 Scholem an Magnes, 14. 7. 1946 (hebr.), im CAHJP, Magnes collection, file 2060. 134 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 36 bzw. 40.
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werden, sondern drei weitere Monate im Amt bleiben; damit waren der Übergang des Archiv-Depots in deutsche Hände und seine Schließung zumindest aufgeschoben. Außerdem hatte die CJCR beim amerikanischen Verteidigungsministerium die Entscheidung bewirken können, dass keine Bücher mehr aus der amerikanischen Besatzungszone hinausgeschafft werden dürften, es sei denn mit ausdrücklicher Genehmigung des State Department.135 Dadurch wurde die Rücksendung der Bücher in ihre Herkunftsländer aufgehalten, was den jüdischen Organisationen weitere Möglichkeiten verschaffte, auf die Entfernung von Büchern aus dem Archiv-Depot hinzuarbeiten.
Heidelberg (18. Juli) Am 18. Juli fuhr Scholem für einen Tag nach Heidelberg; sein Besuch dauerte nicht länger als acht Stunden. Er traf dort mit drei deutschen Intellektuellen zusammen: mit dem katholischen Verleger Lambert Schneider, mit dem protestantischen Arzt und Philosophen Victor von Weizsäcker, einem Freund Martin Bubers, und mit dem Philosophen Karl Jaspers, dessen Buch Die Schuldfrage Anfang 1946 bei Lambert Schneider in Heidelberg erschienen war. Diesen dreien gemeinsam war einerseits ihre wichtige und aktive Funktion beim kulturellen Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg, andererseits ihre Nähe zum Judentum und zu Scholems Bekanntenkreis von vor dem Krieg, insbesondere zu Martin Buber und Ernst Simon. An letzteren schrieb Scholem sogleich nach seiner Rückkehr nach Frankfurt einen ausführlichen Brief, in dem er von seinem Kurzaufenthalt in Heidelberg berichtete.136 Den Großteil seiner Zeit in Heidelberg verbrachte Scholem mit Lambert Schneider. Mitte der zwanziger Jahre hatte Schneider in Berlin einen Verlag gegründet, in dem die ersten Bände der Verdeutschung der Schriften von Martin Buber und Franz Rosenzweig erschienen waren. Als der junge Verleger in finanzielle Schwierigkeiten geriet, kaufte Salman Schocken 1931 den LambertSchneider-Verlag samt den Rechten an der Bibelübersetzung auf; Schneider selbst übernahm er als Verlagsleiter neben Moritz Spitzer als Chefredakteur. In den dreißiger Jahren hatte Schneider mit Scholem über die Projekte korrespondiert, die letzterer für den Berliner Schocken-Verlag übernehmen sollte.137 135 Telegramm von Magnes an Scholem, 17. 7. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2060. 136 Scholem an Simon, 19. 7. 1946, im GSA, Korrespondenz-Ordner Simon. Darin befindet sich ein für Buber kopierter Auszug aus Scholems Brief an Simon; was außerdem in dem Schreiben an Simon stand, ist nicht bekannt, denn das Original hat sich noch nicht gefunden. 137 Ein diesbezügliches Schreiben von Scholem an Schneider ist abgedruckt in: Scholem, Briefe I, 250f.
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Nach dem Krieg hatte Schneider seinen eigenen Verlag neu gegründet und war nach Heidelberg gezogen.138 Er freute sich jetzt ungemein, von Scholem Neuigkeiten über gemeinsame Bekannte in Jerusalem zu hören, insbesondere über Buber, Spitzer und Schocken. Schneider war, wie Scholem an Ernst Simon schrieb, 1943 aus Berlin weggezogen, als der letzte Angestellte des SchockenVerlags, Erich Loewenthal, nach Auschwitz deportiert worden war.139 Nach der Neugründung von Schneiders Verlag in Heidelberg war eines seiner ersten Projekte die 1945–1949 erscheinende Zeitschrift Die Wandlung, eine Monatsschrift herausgegeben von dem Staatswissenschaftler Dolf Sternberger,140 Karl Jaspers, dem Romanisten Werner Krauss und dem Kultursoziologen Alfred Weber, einem Bruder von Max Weber. Beiträge zu dieser Zeitschrift lieferten neben Jaspers selbst Hannah Arendt, T. S. Eliot, Rudolf Bultmann und Viktor von Weizsäcker. In dieser Zeitschrift, deren Name eine Anspielung auf die Verwandlung von Wein in Blut bei der katholischen Messe enthalten mochte, artikulierten die darin vertretenen deutschen Intellektuellen ein Selbstverständnis, das verblüffend ähnlich klang wie das, was von der anderen Seite, aus den Lagern der Displaced Persons zu vernehmen war. So schrieb etwa Jaspers im Geleitwort zum ersten Heft der Wandlung: Wir haben fast alles verloren: Staat, Wirtschaft, die gesicherten Bedingungen unseres physischen Daseins, und schlimmer noch als das: die giltigen [sic], uns alle verbindenden Normen, die moralische Würde, das einigende Selbstbewußtsein als Volk. […] Haben wir wirklich alles verloren? Nein, wir Überlebenden sind noch da. Wohl haben wir keinen Besitz, auf dem wir ausruhen können, auch keinen Erinnerungsbesitz; wohl sind wir im Äußersten; doch daß wir am Leben sind, soll einen Sinn haben. Vor dem Nichts raffen wir uns auf.141
Die neue Monatsschrift sollte einen Umschwung in der deutschen Gesellschaft initiieren, geistige Grundlagen für eine Veränderung schaffen, zur Erneuerung des Verantwortungsbewusstseins beitragen, gegenseitiges Vertrauen fördern und Werte wie Freiheit und Humanismus propagieren und zum geistigen Wiederaufbau Deutschlands (neben dem physischen) beitragen. Diese Zeitschrift war nicht die einzige, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg um den Aufbau einer neuen Gesellschaft bemühte; in ähnliche Richtung zielten etwa auch Das goldene Tor (Alfred Döblin) oder Der Ruf (Alfred Andersch und Hans Werner Richter).142 Scholems deutsche Kollegen waren, nicht viel anders als die Überlebenden des Holocaust und die Abgesandten aus dem jüdischen Palästina, in der Gegenwart 138 Dazu Dahm, Das jüdische Buch, 291–299 sowie [Schneider], Rechenschaft. 139 Zu Loewenthal und seinen Beziehungen zu Schneider s. Dahm, Das jüdische Buch, 422f. 140 Mit Sternberger traf Scholem damals nicht zusammen, weil dieser sich gerade nicht in Heidelberg befand – so laut Scholems Bericht an Ernst Simon. 141 Jaspers, Geleitwort zu Die Wandlung 1 (1945), 3 (Hervorhebung von mir, N.Z.). 142 S. auch: Waldmüller, Die Wandlung.
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mit Zerstörung konfrontiert und hatten sich mit einer ungewissen Zukunft auseinanderzusetzen. Außerdem sahen sich Scholems Heidelberger Freunde einer feindlichen Front von nur teilweise entnazifizierten Deutschen gegenüber. Zum Zeitpunkt von Scholems Besuch in Heidelberg waren die Bemühungen der Autoren der Wandlung um geistige Erneuerung noch nicht von Erfolg gekrönt, wie Scholem nach Auskunft von Schneider an Simon schrieb: Die Hälfte seien noch Nazis, und wenn die Amerikaner morgen abzögen, würden die Leute der „Wandlung“ (von der ich alle Hefte mitnehme nebst anderem) ein paar Tage später erschossen werden, auf offener Straße, vor allem Karl Jaspers (von dem soeben ein recht bemerkenswertes Buch über „die Schuldfrage“ erschienen ist). Von Schuld will keiner was hören, nur allzu begreiflich. […] Die Wandlung sei wirklich eine Sache der älteren Nicht-Nazis von vor 1933, und der Name unberechtigt, bisher.143
Ungeachtet dieser ungünstigen Voraussetzungen äußerte Schneider Scholem gegenüber auch den Wunsch, wieder Bücher über jüdische Themen zu drucken, denn es bestehe Nachfrage danach in der nicht-jüdischen deutschen Gesellschaft. Nachdem er sich von Schneider verabschiedet hatte, unterhielt sich Scholem eine Stunde lang mit von Weizsäcker; hauptsächlich sprachen sie über Buber. Vor dem Krieg war von Weizsäcker Neurologe in Heidelberg gewesen, während des Krieges war er als Professor für Neurologie an der Universität Breslau tätig, 1945 war er nach Heidelberg zurückgekehrt. Weizsäckers Integrität während der Kriegsjahre ist umstritten: So gab es in Loben (polnisch: Lubliniec) bei Breslau eine Euthanasie-Anstalt für geistig und physisch behinderte Kinder und Jugendliche, wobei bis heute unklar ist, wie weit Weizsäcker wusste, was sich hinter den Mauern dieser Anstalt abspielte. Fest steht aber, dass er an den dort begangenen Verbrechen nicht aktiv beteiligt war.144 Von Weizsäcker war mit Martin Buber befreundet und hatte zusammen mit diesem und dem katholischen Theologen Joseph Wittig in den Jahren 1926–1928 die Zeitschrift Die Kreatur herausgegeben, die bei Lambert Schneider in Berlin erschien.145 Weizsäcker erkundigte sich bei Scholem nach Bubers Ergehen und bat ihn, diesem von seiner Situation und der seiner Mitarbeiter zu erzählen, denn die Postverbindung in die amerikanische Besatzungszone funktionierte so gut wie gar nicht. Was Weizsäcker vor allem mitzuteilen bat, war das Befinden seiner Kinder: Seine beiden 143 Scholem an Simon (Hebr.), 19. 7. 1946, GSA, Korrespondenz Simon. Trotz dieser anfänglichen Schwierigkeiten wurde die Zeitschrift bald doch eines der einflussreichsten politischkulturellen Organe im Nachkriegsdeutschland, dazu Laurien, Zeitschriftenlandschaft, 64. 144 Dazu Benzenhöfer, Der Arztphilosoph, 152–160. 145 Diese Zeitschrift, bei deren Gründung auch Franz Rosenzweig Pate gestanden hatte, wollte ein Forum für jüdisch-christliche Verständigung bieten, weshalb sie gemeinsam von einem Juden (Buber), einem Protestanten (v. Weizsäcker) und einem Katholiken (Wittig) herausgegeben wurde. Zur Geschichte der Kreatur s. Petuchowski, Die erste jüdisch-christliche Zeitschrift; Benzenhöfer, Der Arztphilosoph, 72–78.
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Söhne waren im Krieg verschollen, die beiden Töchter lebten und waren gesund.146 Bei Jaspers und dessen jüdischer Frau aß Scholem zu Abend. Dort drehte sich das Gespräch um die Ereignisse in Palästina und um ihre gemeinsamen Bekannten Hannah Arendt und Hans Jonas. Außerdem war von Scholems Arbeit die Rede sowie von Jaspers’ biblischer Theologie. Noch während des Gesprächs hupte draußen Scholems Chauffeur, und weil Scholem nicht gleich beim ersten Besuch bei Jaspers übernachten wollte, fuhr er noch in der Nacht nach Frankfurt zurück. Er verließ Heidelberg mit positiven Eindrücken und mit dem Wunsch, noch einmal wiederzukommen. Dazu schrieb er an Simon: „Vielleicht komme ich aber nochmal hin, bevor ich nach Paris zurückgehe, denn es waren hier doch einige Menschen, mit denen zu reden eine gute Tat ist“. Ungefähr einen Monat später, kurz vor seiner Rückkehr nach Palästina, kam Scholem tatsächlich noch einmal nach Heidelberg, dieses Mal für zwei Tage (mit Übernachtung bei Schneider). Scholems Besuche in Heidelberg blieben auch dort in guter Erinnerung, wie ein Brief bezeugt, den Schneider ihm zwei Jahrzehnte später schrieb: Meine Frau und ich haben ebenso wenig wie Sie die 3 Tage von 1946 vergessen, als Sie in Uniform zu uns kamen und aus allen Taschen den Kindern Bonbons und Schokolade schenkten. Sie boten in der Uniform ein höchst kauziges Bild, Sie paßten nicht in die Uniform und die Uniform nicht zu Ihnen. So sahen die Kinder den ersten Juden in einer seltsamen Verkleidung. Darüber könnte man eine Novelle schreiben.147
Frankfurt-Offenbach (18. bis 24. Juli) In den Tagen nach der Rückkehr aus Heidelberg schloss Scholem seine Tätigkeit im Offenbacher Archiv-Depot ab, wie er am 22. Juli an Magnes schrieb: „Meine Aufgabe in Offenbach ist im Grunde beendet: Ich konnte technische Hinweise geben, nachdem ich mir angesehen hatte, wie die Arbeit dort vonstatten geht. Ich hoffe, dass auch das zu etwas gut ist. Ich glaube nicht, dass sich hier noch viel machen lässt.“148 Während der ganzen Zeit seines Aufenthalts in der amerikanischen Zone fuhr Scholem neben seiner Arbeit in Offenbach auch in die DP-Lager bei Frankfurt und bei München und hielt dort Vorträge.149 Diese Besuche waren Teil seiner Funktion als Vortragender im Auftrag des Joint, die er zum Schein übernommen hatte, um die Einreiseerlaubnis zu bekommen, aber er dürfte auch ein persön146 147 148 149
Scholem an Simon, 19. 7. 1946, ebd.; s.a. Benzenhöfer, ebd., 178. Schneider an Scholem, 12. 8. 1965, im GSA, Korrespondenz Schneider. Scholem an Magnes (Hebr.), 22. 7. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2060. Eine Liste von Studien zum Schicksal der jüdischen Überlebenden in Europa findet sich bei Brenner, Nach dem Holocaust, 229–232; s.a. Grossmann, Jews, Germans and Allies, 131–235.
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liches Interesse an der Begegnung mit den Überlebenden gehabt haben. So sprach Scholem etwa am 11. Juli zwei Stunden lang im Lager Zeilsheim bei Frankfurt: „Mein Vortrag über die geistige Atmosphäre in Palästina stieß auf großes Interesse“, schrieb er in sein Tagebuch.150 Die Begegnung mit den Insassen der DP-Lager in Deutschland machte auf Scholem großen Eindruck; zurück in Jerusalem hielt er darüber Vorträge und veröffentlichte auch einen Beitrag in der hebräischen Tageszeitung Haaretz.151 Darin beschrieb er seinen Eindruck vom Leben der Juden in Deutschland als „furchtbar bedrückend“. Er betrachtete die Situation der Displaced Persons in den Lagern als trübe und sehr problematisch. Das Hauptproblem sei kein materielles: „Dort leidet niemand Hunger wie die Deutschen. Die Lagerinsassen erhalten doppelt so viel zu essen wie die Deutschen.“ Das Problem sei vielmehr ein geistiges und seelisches: Der lange Aufenthalt auf deutschem Boden wirke schwer demoralisierend, mangelnder Arbeitswille und Untätigkeit führten zu Reibereien der Lagerinsassen untereinander – unter anderem um die Frage, weshalb dieser oder jener Häftling eines Konzentrations- bzw. Vernichtungslagers davongekommen sei, ob er moralisch schuldig geworden sei, um zu überleben. Außerdem zogen etliche von den Displaced Persons aus den Lagern in die umliegenden deutschen Städte, einige von ihnen trieben Handel auf dem Schwarzmarkt, wodurch sie am deutschen Wirtschaftsleben teilnahmen; „und so wird eine neue Exilsgemeinde entstehen“, schrieb Scholem, „nicht von deutschen Juden, sondern von polnischen Juden in Deutschland. Eine solche Möglichkeit ist durchaus nicht auszuschließen.“ Eine weitere Möglichkeit, auf die viele LagerInsassen hofften, war die Auswanderung in die USA, aber das gestaltete sich als nicht so einfach, weil von den amerikanischen Konsulaten in Deutschland nur schwer eine Einreiseerlaubnis zu erhalten war. Und was die Einwanderung nach Palästina betraf, sah die Situation angesichts der wachsenden Spannung im Lande zwischen Briten, Juden und Arabern und der gegeneinander verübten Gewalttaten noch hoffnungsloser aus. Für die Einwanderungswilligen wurde das Warten in Europa zu einer unerträglichen Qual. So schilderte Scholem in einem Brief an Magnes die Situation von jungen Juden im DP-Lager Zeilsheim: Ich habe hier einige jüdische Studenten getroffen, die bei uns studieren wollen, und jeder fragt, wie ein Student zum Studium ins Land gelangen könne – und ich weiß nichts zu antworten. Die Stimmung, die hier durch das völlige Fehlen von Einwanderungsmöglichkeiten in absehbarer Zeit entsteht, lässt sich mit Worten nicht beschreiben. Der Schaden ist ungeheuer und furchtbar, buchstäblich jeder, den man trifft, beklagt die um sich greifende Demoralisierung. Schwer, das mitanzusehen. Ich bemühe mich, etwas
150 Aufzeichnung vom 11.7: Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 37. 151 Scholem, Ha-Jehudim be-Germania ka-Jom, 3f.
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von den Lagern zu sehen zu bekommen; ich spreche, wo immer ich dazu aufgefordert werde, zum ersten Mal in meinem Leben habe ich auf jiddisch vorgetragen!152
Dass Scholem dort jiddisch sprechen musste, lässt auf mangelnde Hebräischkenntnisse unter den in Zeilsheim untergebrachten jüdischen Überlebenden schließen. Wie er selbst nach seiner Rückkehr berichtete, hatte er unter den 3.500 Lager-Insassen nur 180 angetroffen, die Hebräisch lernten. Ihre Bemühungen waren nicht sonderlich ernsthaft, und das, obwohl im Lager Zeilsheim Hebräischunterricht angeboten wurde. Hierzu schrieb er in einem Zeitungsartikel: „Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen und ihnen gesagt: Ihr sitzt doch acht Stunden pro Tag müßig herum – lernt acht Stunden pro Tag Hebräisch und das acht Monate lang, dann beherrscht ihr die Sprache, bis ihr nach Palästina kommt. Darauf sie: Das findet sich dann in Palästina. Darauf ich: In Palästina werdet ihr andere Sorgen haben! Aber sie lernen nicht.“153 Ähnlich kritisch wie Scholem äußerten sich auch andere Emissäre aus dem jüdischen Palästina gegenüber den Insassen der DP-Lager in Deutschland, besonders wenn sie ihnen relativ lange nach deren Befreiung begegneten. In einer Studie zu diesem Problem unterscheidet Irit Kenan zwei gegenläufige Reaktionen der Abgesandten aus Palästina auf die Begegnung mit jüdischen Überlebenden in den DP-Lagern: auf der einen Seite Idealisierung und Verherrlichung ihrer seelischen Widerstandsfähigkeit, auf der anderen Seite Kritik an den negativen Verhaltensweisen, die sich in den Lagern herausbildeten.154 Die Hintergründe für diese unterschiedliche Darstellung und Beurteilung sieht Kenan im Zeitpunkt der Begegnung und der Bedeutung für das zionistische Aufbauwerk. Was den Zeitpunkt betrifft, so war die Empathie und das Gefühl der Solidarität mit den Überlebenden größer, wenn die Begegnung bald nach der Befreiung der Opfer stattfand, also bevor das Leben im DP-Lager zur Routine geworden war. Aus zionistischer Sicht war die Begegnung zwischen den Emissären und den Überlebenden spannungsreich, denn die Zionisten in Palästina waren auf massive jüdische Einwanderung angewiesen, und ein etwaiger Verlust dieses Menschenkontingents bedeutete für die zionistische Bewegung ihrerseits eine Frage von Sein oder Nicht-Sein.155 Scholem wiederum machte hinter dem Wunsch vieler Überlebender, nach Palästina auszuwandern, nicht so sehr zionistische Motive aus als vielmehr den Willen, aus Europa wegzukommen und nicht mehr unter Nicht-Juden leben zu 152 Scholem an Magnes (hebr.), 22. 7. 1946, im CAHJP, Magnes Collection, file 2060. 153 Scholem, Ha-Jehudim be-Germania ka-Jom, 4. Zur Verwendung von Jiddisch in den DPLagern s.a. Lewinsky, Displaced Poets. 154 Kenan, Lo nirga ha-Raaw, 22, 155–160. 155 Kenan, Bejn Tikwa le–Charada; Kenan, Lo nirga ha-Raaw, 159; s.a. Weitz, Mudaut weChosser Onim, 100–129.
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müssen. Die Leute wollten endlich in Ruhe und Frieden leben. Als ihnen klar wurde, dass die Situation in Palästina nicht so einfach war und ein ruhiges und friedliches Leben dort alles andere als gesichert schien, erlahmte die zionistische Begeisterung in den DP-Lagern. Je mehr Nachrichten von zunehmenden Spannungen in Palästina eintrafen, desto eher sahen sich die Überlebenden nach anderen Lösungen um. Für Scholem als Zionisten war die Begegnung mit ihnen entmutigend und besorgniserregend – das waren nicht die Menschen, die dem zionistischen Ideal Gestalt verleihen würden, bemerkte er.156 Die meisten seien nicht am Zionismus interessiert, sondern an den materiellen Umständen ihres Lebens, und die wenigen wirklichen Zionisten unter den DPs verlören angesichts der unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten den Mut. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn auch im Hinblick auf die so genannten Ausbildungs-Kibbuzim, kleine Gruppen von Überlebenden, die sich in gesonderten Lagern auf die Landarbeit in Palästina vorbereiteten. Ihre Situation hatte etwas Zwiespältiges: Bearbeiten wollten sie den Boden des Landes Israel, saßen aber auf dem Boden des verhassten Deutschlands.157 Auch Scholem nahm Anstoß an dem inneren existenziellen Widerspruch eines großen Teils dieser vorgeblichen Gemeinschaftssiedlungen, wie er nach seiner Rückkehr schrieb: Diese Leute weigern sich strikt, in Deutschland auch nur einen Finger krumm zu machen; manche gehen darin so weit, dass sie nicht einmal ihr eigenes Zimmer aufräumen, „das soll die ‚Schickse‘ (d.i. ein nicht-jüdisches Mädchen) machen“. Sie aber hocken beieinander und nennen das Kibbuz. Mit diesem Terminus wird überhaupt Schindluder getrieben: 5 Händler vom Schwarzmarkt, die gemeinsam wohnen und sich zwei „Schickses“ halten, bezeichnen sich als Kibbuz. Natürlich gibt es auch echte Kibbuzim. Aber der Begriff, eine Art Zauberwort, ist so verbreitet, dass der Sprachgebrauch seinen eigentlichen Inhalt verloren hat.158
Angesichts dieser verzweifelten Umstände fühlte sich Scholem machtlos: „Wer könnte einem Menschen raten, nach allem, was dieser jahrelang durchgemacht hat, unter dem Eindruck der derzeitigen Hiobsbotschaften?“ fragte er sich.159 Vor dem Hintergrund der gewaltsamen Ereignisse des Sommers 1946 hatten die nach Europa entsandten Vertreter des Jischuw keinen leichten Stand. Die überlebenden Juden fanden sich zwischen zwei Welten: die vergangene war zerstört, und die künftige, die den Verlust gutmachen sollte, war in ihrer Existenz bedroht. Diese komplexe Situation ist bei Chaim Avni geschildert, der im Sommer 1946
156 Seinen hebräischen Zeitungsaufsatz schloss Scholem mit den Worten: „Ich habe kaum einen Menschen gefunden, den die Probleme dieses Judentums nicht in Sorge und Bedrängnis versetzt hätten, und das ist der Überrest unseres Volkes [Scheerit Pletatenu] in Europa“. 157 Brenner, Nach dem Holocaust, 46; Baumel, Kibbutz Buchenwald, 2–25. 158 Scholem, Ha-Jehudim be-Germania ka-Jom, 4. 159 Ebd.
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von der Zionistischen Weltorganisation in die DP-Lager in Deutschland entsandt worden war: In den Tagen, da die Nachrichten vom Geschehen in Palästina zu uns gelangten, saß ich in dieser Welt von Uniformen und staatlichen Vertretern; vor Augen hatte ich die Bilder, die ich während der letzten Wochen bei meinen Besuchen in den Lagern der jüdischen Flüchtlinge in Deutschland gesehen hatte. Es ist nicht leicht, diese Welt zu verstehen, wenn man eine gedankliche Linie zieht von dieser Station, genannt UNRRA-Camps, zur Endstation – Erez Israel (Palästina). Das Herz erstarrt und die Augen verdüstern sich, und in allen Knochen wird der riesige, abgrundtiefe Schmerz spürbar – wenn man sich diese beiden Bilder vor Augen führt: Palästina im Belagerungszustand und dieses fürchterliche Exil.160
Auch Scholem blieb von den Nachrichten über die Situation in Palästina, wo die Gewalttaten ständig eskalierten, nicht unberührt. Seinen schon erwähnten Brief an Magnes schloss er mit den Worten: „Die Nachrichten aus Erez Israel sind bedrückend und erschweren all mein Tun. Es tut furchtbar weh, aus SensationsTelegrammen zu erfahren, wie zerstört wird, was wir aufgebaut haben“.161 An diesem Tag, dem 22. Juli 1946, hatte der Irgun einen Sprengstoff-Anschlag auf das King-David-Hotel in Jerusalem unternommen. Nach seinem Besuch in Heidelberg und nach Abschluss der Hauptarbeit in Offenbach widmete Scholem den Rest seiner Frankfurter Zeit der Suche nach der Sammlung von jüdischen Büchern aus der Stadtbücherei, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Juden begründet und finanziert worden war.162 Während des nationalsozialistischen Regimes war diese Bibliothek an Ort und Stelle geblieben, weil der Bürgermeister es entschieden abgelehnt hatte, sie herauszugeben. Zu seiner Enttäuschung musste Scholem bei seinem Besuch feststellen, dass die kostbare Hebraica-Sammlung – zusammen mit ungefähr zwei Dritteln der Bücherbestände aus dem Magazin – bei einem Luftangriff der Alliierten am 18. März 1944 in Flammen aufgegangen war.163 Doch die Judaica-Sammlung sowie einige der wertvollen Handschriften im Besitz der Bibliothek waren erhalten geblieben. Ermutigend für Scholem war zusätzlich zu diesem erfreulichen Umstand ein Gespräch mit dem neuernannten Bibliotheksdirektor, dem Sozialisten Hans Wilhelm Eppelsheimer; dieser hatte sich geweigert, sich von seiner 160 Avni, Im Jehudim be-Machanot ha-Akurim, 28. Dies schrieb Avni im August 1946, unmittelbar nach dem so genannten Schwarzen Sabbat, dem 29. Juli, an dem die britische Polizei in Palästina eine allgemeine Ausgangssperre verhängt und zur Vergeltung für Anschläge der jüdischen Widerstandsbewegungen zahlreiche führende Juden festgenommen hatte. 161 Scholem an Magnes (Hebr.), 22. 7. 1946, im CAHJP, Magnes collection, file 2060. 162 Zur Geschichte dieser Sammlung s. Loewy, Die Judaica-Sammlung; Heuberger, Bibliothek des Judentums. 163 Scholem an die Hebräische Universität, 29. 7. 1946, in: Scholem, Briefe I, 320; Scholem, LiScheelat ha-Sifrijot ha-schedudot, 6; Schidorsky, Das Schicksal, 207; s.a. Heuberger, Bibliothek des Judentums, 85–116.
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jüdischen Frau scheiden zu lassen, bis sie 1946 infolge einer Krankheit gestorben war. 1952 beschrieb ihn Nehemiah Allony, der von der Hebräischen Universität geschickt worden war, um hebräische Handschriften als Mikrofilm aufzunehmen, als einen weißhaarigen Herrn von eindrucksvoller Statur, mit dem man offen reden konnte. Allonys gewann einen ausgesprochen positiven Eindruck von Eppelsheimer: „Dieser Mann ist ein Liberaler von der guten Art, wie es sie in Deutschland vor Hitler und vor Kaiser Wilhelm gab“.164 Im Gespräch mit Eppelsheimer schlug Scholem vor, die Frankfurter Stadtbibliothek solle die hebräischen Handschriften aus ihrem Besitz der Hebräischen Universität übereignen; er begründete diesen Vorschlag damit, dass all diese Handschriften sowie die Bücher der Judaica-Sammlung von Juden gespendet worden waren, oder wie Scholem sich ausdrückte: „alles von jüdischem Geld bezahlt“. Eine solche Geste könne „ein kleiner Schritt zur Wiedergutmachung des Unrechts sein, das sich mit Worten nicht beschreiben lässt“.165 Damit verfolgte er die Linie weiter, die im Memorandum des „Komitees für die Rettung des jüdischen Raubguts“ vorgegeben war. Wie schon erwähnt, hatte sich der juristische Ausschuss der Hebräischen Universität dafür ausgesprochen, auch die Übergabe von hebräischen Büchern und Handschriften aus öffentlichen Bibliotheken in Deutschland an das jüdische Volk zu verlangen.166 Scholems Eindruck war der, dass Eppelsheimer geneigt sei, sich diese Argumentation zu eigen zu machen; an die Hebräische Universität schrieb er: „He was very sympathetic and willing to consider it with his municipal authorities“.167 In ihrem Gespräch kamen die beiden überein, dass die Schenkung der hebräischen Bücher und Handschriften ein Akt moralischer Restitution gegenüber dem jüdischen Volk auf dem Weg über die Hebräische Universität sein solle. Daher bestand Eppelsheimer darauf, dass alle erforderlichen Schritte in diese Richtung von Deutschen zu ergreifen seien und nicht von Juden.168 So hatte Scholem Kontakte zu lokalen Behörden eingeleitet, um die jüdischen Kulturschätze aus öffentlichen Bibliotheken in Deutschland an die Hebräische Universität zu übermitteln, und diese Linie verfolgte er auch bei seinem Besuch in München weiter.
164 Allony, Nehemia, Ktav-Jad schel Mosche Rabbenu, 82. 165 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 373. 166 Takzir ha-Waada ha-mischpatit, 9. s.a. oben, 5 A. 167 Scholem an die Hebräische Universität, 29. 7. 1946, in: Scholem, Briefe I, 320. 168 Scholem an Joseph Horovitz, 19. 8. 1946, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 383–384.
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München (24. bis 29. Juli) The Munich of old, the pride of Bavarians and the Mecca of visitors from all over the world is no more. Instead, we have desolate wastes, and ruins that gaze on us accusingly from hollow eyes; the bitter heritage of an age of horrors. And yet life does not stand still, if it does not of itself give up the struggle, nor has the Munich heart, as the saying has it „the golden Munich heart“, ceased to beat.
Mit diesen Worten beginnt das Vorwort des Münchner Oberbürgermeisters Karl Scharnagl zu dem englischsprachigen Reiseführer der Stadt von 1946, dem ersten nach dem Zweiten Weltkrieg.169 Diese Darstellung gibt in hohem Maße jenes Bild wieder, das sich die Münchner nach dem Krieg von ihrer Stadt machten. Ein Blick auf weitere 1946 in München erschienene Bücher, in deren Mittelpunkt die Stadt steht, lässt zwei programmatische Hauptrichtungen erkennen: zum einen ein romantisch verklärender Rückblick auf die Vergangenheit der Stadt vor der Zeit des Nationalsozialismus, zum anderen (gelegentlich auch gleichzeitig) ein Blick in die Zukunft und der Aufruf zum Wiederaufbau. So veröffentlichte etwa der Maler Rudolf Trickl eine Mappe mit zehn Aquarellzeichnungen, in denen er aus der Erinnerung verschiedene Orte der Stadt zeigt, wie sie vor der Zerstörung im Weltkrieg ausgesehen hatten.170 Ein anderer Band, der erste in der Reihe, enthält idyllische Schilderungen aus der Feder verschiedener Autoren, die typische Münchner Orte und Veranstaltungen von vor zwanzig Jahren beschreiben, darunter die Oper, das Oktoberfest, das Künstlerviertel Schwabing und das Alpine Museum.171 Im selben Jahr erschien ein weiterer Band zur Geschichte Münchens, worin ein Teil dem Erscheinungsbild der Stadt unmittelbar nach dem Krieg gewidmet ist. Der Autor schreibt pathetisch und bilderreich: „Die Stadt liegt in Leid und Wunden. Ein Gang durch die verwüsteten Straßen mutet mich an, als besuchte ich einen sehr schwer Erkrankten, der Kraft und Hilfe erwartet und dem das Herz nur Mitleid bietet. Aus Mitleid allein wird nie neues Leben geboren“. In der Fortsetzung appelliert der Verfasser an die Stadtbewohner, die schweren Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit hinter sich zu lassen und den Wiederaufbau der Stadt anzugehen: „Versucht das verlustig Gegangene in euch zu bewahren! Zeigt und beweist, dass ihr mannhafte Bürger seid, Bürger der Welt, der Heimat und unserer Stadt! Baut auf, im Geist und mit regen Händen! Jeder Tag eine Tat. München wird leben!“172 Zahlreiche weitere Stimmen riefen damals 169 Dieser Reiseführer wurde 1946 von dem Bibliothekar Hans Ludwig Held, von dem noch die Rede sein wird, herausgegeben. Der Band enthält Einzeldarstellungen touristischer Attraktionen der Stadt und deren Geschichte, wobei die Zeit des Nationalsozialismus jeweils übergangen wird. 170 Trickl, Rudolf, München: eine Erinnerung, München 1946. 171 Vonficht, Rudolf et al., Zwanzig Jahre vorher: München, I, München 1946. 172 Schmitt, Fritz, München – wie es war…, München 1946, 60.
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zum – physischen und kulturellen – Wiederaufbau der Stadt auf; zu ihnen gehört Karl Meitinger, der in der erwähnten Reihe einen Band mit Plänen zur architektonischen Rekonstruktion und Neugestaltung Münchens vorlegte.173 Interessanterweise stand es um die Stimmung unter den Juden in München und in den nahegelegenen DP-Lagern nicht wesentlich besser. Die Resignation angesichts des ungeheuren Ausmaßes der gegenwärtigen Zerstörung ließ den jüdischen Überlebenden der Stadt und Umgebung dieselben zwei Möglichkeiten wie den deutschen Münchnern: Einerseits konnten sie in Erinnerungen an ein fernes Gestern schwelgen, um so die schweren Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit aushalten zu können, andererseits richteten sie ihr Handeln auf eine utopische Zukunft aus. Der Emissär der zionistischen Weltorganisation Chaim Avni schrieb dazu: Auf der engen Straße findet man immer Leute, meist Jugendliche, die umhergehen und etwas suchen. Ich glaube, sie suchen einen Lebensinhalt. Am Morgen steht man auf und weiß nicht wozu. Der Tag vergeht, und es wird Nacht, und so vergeht ein Tag und dann die Nacht. Und wenn du einem solchen Jugendlichen in die Augen blickst und in seiner Seele zu lesen verstehst – dann begreifst du, dass er seelisch noch in jenen Tagen umherirrt, er erinnert sich an das Gestern und sehnt sich nach dem Morgen. Die Gegenwart ist überflüssig, sie dient nur als Brücke zwischen dem Leben, das einmal war, und dem Leben, das sein wird. Das Gefühl des Provisorischen ist auf Schritt und Tritt zu spüren. Nichts ist stabil – weder materiell noch geistig. Gestern noch waren sie in der Hölle auf Erden, morgen wollen sie im Himmel auf Erden sein – und dazwischen nichts als untätige Leere.174
Als Scholem nach München kam, befanden sich demnach viele der deutschen wie der jüdischen Bewohner der Stadt in einem schwer zu ertragenden Provisorium zwischen Vergangenheit und Zukunft und bemühten sich nach Kräften, diesen Zustand nicht als unveränderlich hinzunehmen. Die vielen jüdischen Überlebenden, die durch das amerikanische Militär in Lagern in und bei München untergebracht worden waren, sowie die jüdischen Hilfsorganisationen, die ihre Dienststellen in der Stadt eröffnet hatten, machten die bayerische Hauptstadt damals vorübergehend zum größten jüdischen Zentrum auf dem Boden des befreiten Deutschlands.175 So unterhielt auch der Joint
173 Meitinger, Karl (Hg.), Das neue München: Vorschläge zum Wiederaufbau, München 1946. 174 Avni, Im Jehudim be-Machanot ha-Akurim, 35; s.a. Mankowitz, Life between memory and Hope, 21. Lewinsky, Displaced Poets, 127–132, verweist auf den nostalgischen Vergleich, den die Überlebenden zwischen dem DP-Lager und dem osteuropäischen Stetl vor dem Holocaust anstellten. Zur intensiven Beschäftigung der Überlebenden mit ihrer jüngsten Vergangenheit und deren Dokumentation s. Pinson, Jewish Life, 108f.; Grossman, Jews, Germans and Allies, 196–200. 175 Pinson, ebd., 107; Wetzel, Jüdisches Leben, 69; Kauders/Lewinsky, Neuanfang, 186.
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ein Büro in der Siebertstraße in Bogenhausen,176 und da Scholem als angeblichem Vertreter dieser Hilfsorganisation genehmigt wurde, reiste er nun nach München. Auch in persönlicher Hinsicht hatte der Besuch in München seinen Sinn. Die Stadt war Scholem keineswegs fremd, er kannte sie aus seinen Studienjahren 1919–1922. In München hatte er seine Doktorarbeit über das Buch Bahir geschrieben, wozu er eine Handschrift dieser mystischen Abhandlung aus der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek benutzt hatte; von hier aus hatte er auch seine Auswanderung nach Palästina in die Wege geleitet.177 Sobald er in München angekommen war, machte sich Scholem auf die Suche nach Beständen jüdischer Bücher; zu diesem Zweck traf er mit verschiedenen wichtigen Persönlichkeiten zusammen, von denen er sich Unterstützung erhoffte. Leo Schwarz, der Direktor des Joint für die Displaced Persons in München, verschaffte ihm eine Unterkunft in einer seiner Dienststellen. Scholem war von dieser Hilfsbereitschaft sehr angetan, zumal sie sich angenehm von der reservierten bis feindseligen Haltung unterschied, die ihm vonseiten des Frankfurter Joints entgegengebracht worden war. „Dieser Mann hat ein offenes Herz“, schrieb Scholem gleich am Tag seiner Ankunft in sein Tagebuch, „Mitte vierzig, energiegeladen und bereit, etwas zu tun“.178 Am Nachmittag ging Scholem in Begleitung der deutschen Sopranistin Delia Reinhardt in ein Museum, das eine „Ausstellung alter deutscher Bilder“ zeigte. Die Sängerin war mit einem Juden verheiratet und Regimegegnerin gewesen. Da ihre Berliner Wohnung zerbombt war, musste sie nach Bayern ausweichen, von wo sie ihren Wohnsitz bald danach in die Schweiz und in die USA verlegte. Am nächsten Morgen hatte Scholem eine Besprechung mit dem Leiter der wieder im Aufbau begriffenen jüdischen Gemeinde, dem Kinderarzt Julius Spanier. „Das letzte Mitglied der Synagoge Ohel Jakob,179 vor 25 Jahren habe ich dort mit ihm zusammen gebetet! Gebürtiger Münchner, jetzt Leiter der jüdischen Gemeinde. Er wäre bereit, alles zu tun – aber zur Zeit hat er nichts“.180 Von Spanier erfuhr Scholem, dass die Chancen, jüdische Bücher in München aufzuspüren, nicht gut standen: Viele Bücher waren den Luftangriffen durch die Alliierten zum Opfer gefallen, die Gemeindebibliothek war verschwunden, und keiner wusste wohin; das Gemeindearchiv war zusammen mit anderen nichtjüdischen Archiven irgendwohin verschleppt worden, und dort waren sie alle-
176 Wetzel, ebd., 73; eine Karte der Dienststellen jüdischer Organisationen in Bogenhausen bei Kauders/Lewinsky, ebd., 191. 177 Über diese Phase in seinem Leben s. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 137–174. 178 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 42. 179 Zu dieser Münchner Synagoge, deren Gottesdienste Scholem seinerzeit besuchte, s. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 144. 180 Tagebuch-Eintrag vom 25. 7. 1946: Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 43.
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samt verbrannt.181 Einige wertvolle Stücke waren auf dem jüdischen Friedhof vergraben worden, aber noch niemand hatte sich daran gemacht, sie wieder auszugraben. Spanier begrüßte Scholems Vorschlag, etwaige in München wiederauftauchende jüdische Kulturschätze nach Jerusalem zu transferieren, und zwar wegen des Zustands, in dem sich die Münchner jüdische Gemeinde damals befand: „Hier gibt es drei Paare, bei denen beide Partner Juden sind; alles übrige sind Mischehen, wobei jeweils ein Partner sich als Jude definiert und zur Gemeinde gehören will“.182 Scholems nächste Besprechung mit „Dr. Omer, einem Halbjuden“, war ebenso wenig ermutigend. Obwohl er vom Verbleib jüdischer Bücher hätte wissen müssen, behauptete Dr. Omer gegenüber Scholem, er habe keine Ahnung. Dieses Gespräch resümierte Scholem für sich: Es gebe Nazis, die noch wüssten, wohin die Dinge verschwunden seien, besonders Leute von der Universität, wie der ehemalige Professor für semitische Sprachen. Es müsste möglich sein, sie zum Reden zu bringen. Was all diese Leute wüssten, sei überaus wenig. Allerdings erfuhr ich von ihm etwas, woran ich nicht gedacht hatte: Held ist noch am Leben und hat wieder die Leitung der Stadtbücherei.183
Im Verlauf seiner Reise hatte Scholem öfters die Möglichkeit gehabt, von Nazis Informationen über das Schicksal jüdischer Bücher zu erhalten. Etliche Male bekam er zu hören, dass noch Sammlungen jüdischer Bücher existierten, deren Versteck aber nur den ehemaligen national-sozialistischen Sachbearbeitern bekannt seien. Diese Leute erklärten sich bereit, ihr Wissen weiterzugeben, allerdings unter einer Bedingung, die Scholem in einem Rechenschaftsbericht erwähnte, den er nach seiner Heimkehr schrieb: „Es erhebt sich die Frage, wie weit man mit solchen Leuten Kontakt aufnehmen darf, um Informationen zu erhalten, denn das geht natürlich immer mit der Forderung dieser Herren zusammen, ihnen bei der Erlangung eines ‚Persil-Scheins‘ behilflich zu sein, indem man ihnen Judenfreundlichkeit bescheinigt“. Scholem beschloss, auf solche Informationsquellen zu verzichten, und traf mit den Betreffenden nicht zusammen; in seinem Bericht vermerkte er jedoch, dass deren Mitteilungen wohl glaubwürdig sein dürften, denn viele Nazis hätten sich wertvolle jüdische Bücher privat unter den Nagel gerissen. „Von daher könnte es sein“, schrieb er, „dass solche Dinge in Deutschland demnächst zum Kauf angeboten werden“.184
181 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 369. 182 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 43. 183 Ebd. 184 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 372.
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Ein Detail aus der zuletzt zitierten Gesprächszusammenfassung freute Scholem sehr: Hans Ludwig Held, der seit 1921 die Münchner Stadtbibliothek geleitet hatte, und 1933 als Sozialist entlassen worden war, hatte dieses Amt 1945 wiedererhalten.185 Scholem war mit Held befreundet gewesen. Nach Scholems Weggang hatten die beiden ein paar Briefe gewechselt, und bei seinem MünchenBesuch im Oktober 1927 hatte Scholem Held anscheinend besucht. Held interessierte sich für das Judentum und hatte einiges über jüdische Themen veröffentlicht, darunter Bearbeitungen talmudischer Erzählungen mit einer Einleitung und ein Buch über den Golem, um den sich ihr kurzer Briefwechsel gedreht hatte.186 Die Begegnung mit Held fand nach einem erfolglosen Gespräch mit dem Direktor der Bayerischen Staatsbibliothek statt, der wenig Hilfsbereitschaft an den Tag legte. Wenigstens hatte er Scholem wissen lassen, dass die im Besitz der Bibliothek befindliche berühmte, bedeutende Sammlung hebräischer und jüdischer Bücher und Handschriften vollständig erhalten geblieben sei und erneuter Bearbeitung harre.187 Diese Sammlung war Scholem aus seiner Münchner Studienzeit wohlvertraut; 1925 hatte er im ersten Band von Qiryat Sefer sogar ein paar Korrekturen zum „Katalog der hebräischen Handschriften der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek in München“, den der berühmte jüdische Bibliograph Moritz Steinschneider 1895 erstellt hatte, veröffentlicht.188 Im Gespräch mit Held trug Scholem denselben Gedanken vor, den er schon in Frankfurt mit Eppelsheimer erörtert hatte: Die Deutschen sollten dem jüdischen Volk zur Entschädigung für das zugefügte Leid und Unrecht etwas schenken – vorzugsweise, aber nicht ausschließlich, aus dem geraubten jüdischen Kulturgut. In diesem Sinne machte Scholem den Vorschlag, die Stadt München solle die wichtigsten hebräischen Handschriften aus ihrem Besitz der Hebräischen Universität übereignen, in erster Linie den berühmten Kodex 95 aus dem Jahr 1342, die einzige nahezu vollständige aus dem Mittelalter erhaltene Talmudhandschrift, die bereits in Steinschneiders Katalog als das weitaus wertvollste Stück der ganzen Sammlung ausgewiesen war.189 Diesen Akt bezeichnete Scholem als eine moralische Geste und als einen ersten Schritt zur Überbrückung des furchtbaren Abgrunds, der zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk 185 Zu Helds Leben und Wirken s. Hanko, Großer Eingeweihter; Krauss, Nachkriegskultur, 13– 28. 186 Held, Hans Ludwig, Talmud Legenden: dem Talmud nacherzählt und eingeleitet, München/ Leipzig 1912; ders., Das Gespenst des Golem: eine Studie aus der hebräischen Mystik mit einem Exkurs über das Wesen des Doppelgängers, München 1927. 187 Zur Geschichte dieser Sammlung s. Dannhauer, Die Hebraicasammlung. 188 Steinschneider, Die hebräischen Handschriften; s. noch dazu Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 146. 189 Steinschneider, Die hebräischen Handschriften, 60; zu dieser Handschrift und ihrer Geschichte s. Sirat, Le premier Talmud; Striedl, Babylonischer Talmud.
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klaffte. An die Hebräische Universität schrieb Scholem über das Gespräch mit Held: I said that it might be an important moral gesture if German authorities, of their own free will, would turn over certain of these objects, and especially the Munich manuscript of the Talmud, to the Hebrew University in Jerusalem as a symbolic act towards the Jewish people and as a first step toward bridging the awful abyss that has been created between the two peoples.190
Obwohl Scholem in beiden Städten dieselbe Position vertrat, war er sich dessen bewusst, dass sich die Dinge bezüglich der Frankfurter und der Münchner Büchersammlung unterschiedlich verhielten: In Frankfurt konnte er damit argumentieren, dass die in der Stadtbibliothek befindlichen Judaica von Juden gespendet worden waren; dagegen war die Bayerische Staatsbibliothek die legale Eigentümerin der dortigen Hebraica-Sammlung, weshalb kein jüdisches Besitzrecht postuliert werden konnte. So verliefen die Verhandlungen in München auf moralischer und politischer, nicht auf juristischer Grundlage. Daher erzählte Scholem Held von Eppelsheimers Idee, dass eine solche Initiative von deutscher Seite und ohne jegliche jüdische Intervention ausgehen müsse, um moralisch wirksam zu sein. In dem hebräischen Rechenschaftsbericht, den Scholem nach seiner Heimkehr verfasste, schrieb er dazu: „Die Deutschen, die bereit sind, sich dafür einzusetzen, sind ausgesprochene Anti-Nazis und Männer von lauterem Charakter“, wobei er sicherlich an Eppelsheimer und Held dachte; „sie sind daran interessiert, dass die Sache als Angebot von deutscher Seite kommt und nicht als jüdische Forderung“.191 Eine Sorge, die Held zur Sprache brachte, war die, dass ein entsprechendes deutsches Angebot von jüdischer Seite womöglich abgelehnt werden würde, was für die beteiligten Deutschen ausgesprochen peinlich wäre. Das Votum, das Scholem in dieser Sache an die Hebräische Universität sandte, signalisiert die Bereitschaft, Deutsche nicht pauschal zu verdammen, sondern zu differenzieren: I, personally, expressed the opinion that the University would give a decent and encouraging answer to such a symbolic act of restituting the important Jewish treasures which are legally in the hand of the Bavarian Government. I said that the University might recall the existence of two Germanys and, at any rate, would take an attitude in line with general humanistic and liberal principles which it has always stood for.192
Es war für beide Seiten zu früh, als dass Scholems kühne Absicht, den Abgrund zwischen den beiden Völkern zu überbrücken und die jüdische Bereitschaft zu 190 Scholem an die Hebräische Universität, 29. 7. 1946, in: Scholem, Briefe I, 320 (Hervorhebung von mir, N.Z.). 191 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 373. 192 Scholem an die Hebräische Universität, 29. 7. 1946, ebd. (Hervorhebung von mir, N.Z.).
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signalisieren, zwischen zweierlei Arten von Deutschen zu unterscheiden, hätte realisiert werden können; vielleicht war das mit ein Grund, weshalb die Überführung der kostbaren Talmud-Handschrift in die Jerusalemer Nationalbibliothek nicht zustande kam. So befinden sich die hebräischen Handschriften, einschließlich des Kodex 95, bis heute im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek. Über die Hintergründe, weshalb Scholems Vorschlag nicht zur Durchführung kam, erfuhr Nehemiah Allony als er nach im November 1951 nach München kam, um die Möglichkeiten photographischer Präservierung von dort befindlichen hebräischen Handschriften für das in Jerusalem geplante Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts zu prüfen. In seinen Aufzeichnungen von dieser Reise steht zu lesen: „Vor zwei oder drei Jahren war Prof. G. Scholem in Deutschland und bat um die Talmudhandschrift, Kodex München 95; die bayerische Regierung tendierte dazu, sich Prof. Scholems Meinung anzuschließen, aber Prof. Paul Ruf war strikt dagegen“.193 1957 versuchte Salman Schocken, die Handschrift auf dem Tauschweg für seine private Sammlung zu erwerben; diese Transaktion wurde aber nicht nur von der Bayerischen Staatsbibliothek torpediert, sondern auch von Theodor Heuss, dem damaligen Bundespräsidenten; anscheinend bestanden Befürchtungen, die Überführung jüdischer Handschriften aus Deutschland nach Israel werde sich politisch nachteilig auswirken.194 Der überwiegende Teil der kleinen, aber wertvollen Sammlung hebräischer Handschriften in Frankfurt (die größere Sammlung, die während des Krieges verschollen war, tauchte erst später wieder auf) ging 1950 in Privatbesitz über, und zwar im Zuge eines Tauschabkommens zwischen der Stadt Frankfurt und der ehemaligen Frankfurter Familie Levy in New York. Dieser wurden die Handschriften im Austausch gegen ein wertvolles Grundstück im Herzen der Stadt überlassen, das der jüdischen Familie gehörte, sowie gegen die Bezahlung einer Summe, die ausreichte, um die Frankfurter Stadtbibliothek zu sanieren.195 Eppelsheimers spätere Begründung weist deutliche Anklänge an das 1946 mit Scholem Besprochene auf: das Prinzip der Entschädigung, die Vorstellung, dass das jüdische Leben in Deutschland endgültig zum Erliegen gekommen sei, und die Vermutung, dass es wohl dem Willen der ursprünglichen jüdischen Spender entspreche, wenn diese Handschriften wieder in jüdische Hände kämen. Was nicht ausdrücklich gesagt wurde, aber zweifellos eine Rolle spielte, war die Erwägung, dass auf diese Weise Geld für den Wiederaufbau der Frankfurter Stadtbibliothek beschafft werden konnte und die erheblichen Erhaltungskosten
193 Paul Ruf leitete während Allonys Besuch in München die Handschriften-Abteilung der Bayerischen Staatsbibliothek; während Scholems Besuch fungierte er als deren stellvertretender Leiter. Allony, Nehemia, Ktav-Jad schel Mosche Rabbenu, 44f. 194 Vgl. David, The Patron, 389f. 195 Dazu Heuberger, Bibliothek des Judentums, 120–131.
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der Handschriften gespart wurden.196 Die Judaica-Sammlung wiederum gab Eppelsheimer nicht heraus, sondern behielt sie für die Frankfurter Bibliothek. Scholems Bemühungen, jüdische Handschriften und wichtige Bücher aus den Beständen jüdischer Büchereien für die Nationalbibliothek in Jerusalem zu erhalten, waren praktischen Erwägungen geschuldet: Er suchte gewissermaßen einen gewissen Ausgleich für all jene Handschriften, die sich einst in jüdischem Besitz befunden hatten. Das Schicksal dieser Handschriften war ungewiss, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Zuge von Luftangriffen der Alliierten verbrannt waren, war mindestens genauso groß wie die, dass sie dereinst wiederauftauchen würden. Diese Ungewissheit bezeichnete Scholem in seinem bereits erwähnten Schreiben an die Hebräische Universität als „one of the worst features of my experience here“.197 Scholems verzweifelte Suche nach Informationen über den Verbleib jüdischer Bücher in München war leider ergebnislos: „Jedermann gibt mir andere Adressen, die nicht viel nützen, und verweist mich an jemand anders, der noch weniger weiß“, schrieb er am 26. Juli 1946 in sein Reisetagebuch. Diese Situation trug zu Scholems steigender Erschöpfung bei, die ihm sowohl seelisch als auch körperlich schwer zu schaffen machte. Dies bestärkte ihn in seiner Ansicht, die Einschätzung des zum Aufspüren der Bücher erforderlichen Zeitaufwands sei von vornherein falsch gewesen, und aufgrund dieser Fehleinschätzung sehe er sich nun mit einer unlösbaren Aufgabe konfrontiert. Am 28. Juli, unmittelbar vor seiner Abreise aus München und direkt nach einem Besuch im DP-Lager Landsberg, schrieb er in sein Tagebuch: Ein heftiger Sturm gegen Abend. Ich fühle mich miserabel, der Aufgabe hier überhaupt nicht gewachsen! Meine Schlafstörungen rühren von dieser ständigen Aufregung her, und meine Bedenken nehmen kein Ende. Jede Kleinigkeit kostet hier viel Zeit, und ich bringe nichts zustande, weil ich nicht unbegrenzt viel Zeit zur Verfügung habe!198
Frankfurt – Berlin (30. Juli bis 11. August) Von seinem Misserfolg niedergeschlagen, verließ Scholem München: „Kein gutes Gefühl bei meinem Weggang von hier“, schrieb er am 29. Juli in sein Tagebuch, unmittelbar bevor er den Nachtzug nach Frankfurt bestieg – „einige Dinge konnte ich nicht finden, und wer wird sie nun finden?!“ Auf der Durchreise in Frankfurt brachte er seine persönlichen Habseligkeiten und seine zivile Kleidung im Büro der Jewish Agency in Frankfurt unter, denn in Berlin bestand Gefahr, 196 Nach Vollzug der Transaktion nahm die Familie Levy die Handschriften unter Verschluss und gewährte keiner Einsicht, nicht einmal zu Forschungszwecken (Heuberger, ebd., 129). 197 Scholem an die Hebräische Universität, 29. 7. 1946, in: Scholem, Briefe I, 321. 198 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 47.
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dass sie gestohlen werden würden. Außerdem machte er sich ein düsteres Bild von den Beziehungen der maßgeblichen jüdischen Organisationen untereinander: Die Spannung und gegenseitige Verbitterung zwischen den Lagern ist sehr groß. Von allen Seiten höre ich nur Beschwerden übereinander, von denen manche überzeugen mögen, andere nicht einmal zum Schein; wir sind weit entfernt von einer ‚einheitlichen Front‘!199
Am 1. August um 9 Uhr morgens kam Scholem mit dem Nachtzug aus Frankfurt in Berlin an; „die Reise ist glatt verlaufen, obwohl das Fräulein von der UNRRA mir keinen Schlafwagen geben wollte!“ Übernachten sollte Scholem in Berlin beim Joint, aber da diese Lokalität weit außerhalb der Stadt lag, machte er sich nicht nur auf die Suche nach Büchern und Handschriften, sondern auch nach einer günstigeren Unterkunft. Für die ersten Tage waren Besprechungen mit verschiedenen Leuten vorgesehen, aber gleich am Tag nach seiner Ankunft besuchte er auch die DP-Lager in Schlachtensee und Tempelhof, „um die Ankömmlinge aus Russland in Augenschein zu nehmen“. Von dort aus begab er sich zum ersten Mal nach dem Weltkrieg ins Zentrum von Berlin, um die Orte seiner Kindheit aufzusuchen: Habe unsere Wohnungen Neue Grünstraße, Friedrichsgracht, [??] gesehen – alles kaputt! Die Innenstadt – tot. Wir fuhren bis zur Synagoge Oranienburgerstraße. Am Abend im Lager zum Empfang des Sabbat (Kabbalat Schabbat) zusammen mit Rabbiner Rosenberg und Hermann Landau aus Fürth. Ein seltsames Gefühl – Schabbat Chason in Berlin, nach 14 Jahren!200
Die Atmosphäre, die er während seines Aufenthalts in der Stadt wahrnahm, assoziierte Scholem mit den Daten des jüdischen Kalenders: Die Tage vor dem neunten Aw, dem Fasttag zur Erinnerung an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, sind von Trauer und Klage bestimmt. Nicht zufällig betonte Scholem, dass der 3. August 1946 der Sabbat unmittelbar vor dem neuenten Aw war; Schabbat Chason, an dem in der Synagoge das erste Kapitel aus Jesaja (Chason Jeschajahu) vorgetragen wird. Dort heißt es: Euer Land: eine Öde, eure Städte: vom Feuer verbrannt, eure Erde: vor euren Augen von Fremden gefressen, zur Öde geworden, das Unterste zuoberst gekehrt durch Fremde. Übrig bleibt die Tochter Zion, wie eine Hütte im Weinberg, ein Nachtasyl im Kürbisfeld, wie eine Stadt unter Belagerung. Wo nicht der Herr der Heerscharen uns einen Rest gelassen, wären wir wie Sodom, glichen Gomorrha (Jes 1,7–9).
An jenem Sabbat bezog Scholem auch ein „furchtbar kleines Zimmer“ in Dahlem, im Südwesten von Berlin. Nach einem weiteren Gang durch das Stadtzentrum 199 Scholem, ebd., 48–49. 200 Ebd., 50–52.
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Abbildung 7. Friedrichsgracht im Spittelmarkt-Viertel, Mai 1945
traf er mit dem jüdischen Altphilologen Ernst Grumach zusammen, der 1941 zur Zwangsarbeit verpflichtet worden war, und zwar in der vom Reichssicherheitshauptamt errichteten Bibliothek der geraubten Bücher.201 Von ihm hörte Scho201 Ebd. 53. Dazu auch Schidorsky, Confiscation of Libraries, sowie den autobiographischen Anhang in Schidorsky, The Library, 42–47.
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lem manches Wichtige über die Bibliotheken, die von den Nationalsozialisten dorthin transferiert worden waren; außerdem berichtete Grumach, er selbst habe einen Großteil der von ihm zu betreuenden Bücher nach Schloss Niemes in die Tschechoslowakei weitergeschickt. Als die beiden Männer sich spät in der Nacht trennten, stellte sich heraus, dass das Fahrzeug des Joint, das Scholem zu seinem Hotel hätte bringen sollen, nicht da war; so irrte Scholem anderthalb Stunden zu Fuß durch die Stadt, bis er bei seiner Unterkunft angekommen war. Seine Haltung gegenüber den Vertretern des Joint wurde immer negativer; am nächsten Tag schrieb er in sein Tagebuch: „da braut sich ein böses Verhältnis zu mir zusammen, ich spüre es durch die Maske des schiefen Lächelns hindurch. Woran es liegt, weiß ich nicht, aber ich spüre es deutlich“.202 Am darauffolgenden Tag, dem 4. August, beschloss Scholem nach einer schlaflosen Nacht, seine Mission abzubrechen und nach Hause zu fahren. Er verzichtete auf einen Versuch, in die britische Besatzungszone vorzudringen, und gab ebenso die anschließende Reise in die USA auf, die er zusammen mit seiner Frau hatte unternehmen wollen. Da es ihm auch in Berlin nicht gelungen war, irgendeine Spur bedeutsamer Bücherbestände zu finden, und unter dem Druck der Zeit und der ihm auferlegten Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit, vor allem aber wegen seines trüben Gemütszustands, kam er zu dem Schluss, die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben und an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gelangt zu sein. Den Abend des Neunten Aw verbrachte Scholem bei einem Gottesdienst mit den im Lager Schlachtensee untergebrachten Displaced Persons. Mayer Abramowitz amtierte als Rabbiner. „Abramowitz hat die Klagelieder rezitiert“, schrieb Scholem am 5. August in sein Tagebuch, „die Veranstaltung war eindrucksvoll – und doch empfand ich, dass die Anwesenden nicht darauf ansprachen, als wären sie zu Stein geworden“. Abramowitz war für Scholem ein alter Bekannter aus der Zeit, als dieser bei Schaul Lieberman am Jewish Theological Seminary in New York studiert und dort 1938 auch Gastvorlesungen bei Scholem gehört hatte. Inzwischen fungierte Abramowitz als Militärrabbiner bei der US-Armee.203 Solange er in Deutschland stationiert war, besuchte Abramowitz zahlreiche DP-Lager, hielt dort nicht nur Gottesdienste, sondern organisierte auch materielle Hilfe; einige der Lagerinsassen unterstützte er bei ihren Bemühungen, nach Palästina zu gelangen. Im Juli 1946 war er nach Berlin versetzt worden, wo er bei Fluchtversuchen aus Osteuropa behilflich war und die jüdischen Bewohner von Tempelhof und Schlachtensee betreute. Das Wirken des jungen Armee-Rabbiners hinterließ einen nachhaltigen Eindruck; noch Jahr-
202 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 57. 203 Ebd., 53; Schreiben von Abramowitz an Zadoff vom 21. 8. 2007, Privatarchiv Zadoff.
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zehnte später hatte ihn ein Mitarbeiter des Joint, der zur selben Zeit in Berlin tätig war, in lebhafter Erinnerung: He looked like a boy of sixteen, he was so young. He was an ambulant guy, he poured out himself song, speech, poetic, he was a lyrical little character. And he surrounded himself with a group of DPs and he organized a choir, DP choir, and he organized young girls into some kind of activities and young boys into some kind of activities.204
Das Bedeutendste, was Abramowitz während seiner Berliner Tätigkeit zustande brachte, war die Gründung einer großen jüdisch-hebräischen Schule für die jüdischen Kinder im amerikanischen Sektor, vor allem in den genannten beiden Lagern. Parallel dazu stellte er ein Lehrerausbildungsprogramm auf die Beine, an dem einschlägig gebildete Bewohner der Lager teilnahmen.205 Die Lehrer trafen sich jeden Donnerstagabend, bekamen Unterrichtsmethodik auf Hebräisch vermittelt, besprachen die in den Lagern anstehenden Probleme und pflegten Geselligkeit mit Singen, Tanzen und Essen.206 So geschah es auch am Abend des 8. August 1946; an die hundert Lehrer aus dem Lager waren bei Abramowitz zusammengekommen, der unlängst von einem Besuch in Palästina zurückgekehrt war. Er berichtete ihnen, idealisierend und voll Pathos, von der Situation der Juden in Palästina insgesamt, und über deren Vorbereitungen für die Ankunft der jüdischen Flüchtlinge. Ein Bericht über seine Rede erschien zwei Wochen später auf Jiddisch in der Lagerzeitung: Er redet […] in warmen Worten, erzählt uns, wie gut der Jischuw [die jüdische Bewohnerschaft Palästinas] organisiert ist. Wie jeder Jude weiß, für was er kämpft. Groß wie klein schenken den Schwierigkeiten keine Beachtung, sie schauen nicht auf ihre eigenen Sorgen, sie alle sind mit nur einer Aufgabe beschäftigt: Vorbereitungen zu treffen für Tausende neue Einwanderer. Ohne Aufregung, ohne Lärm. Das Leben verläuft normal. Keine Minute ist verloren, nicht eine Sekunde jüdischer Arbeit für unsere Sache.207
Die warmen Worte des charismatischen jungen Rabbiners fanden offene Ohren; begierig sog das Publikum die utopischen Schilderungen von Palästina auf, gewann daraus Sicherheit und Vertrauen, auch Trost für seine derzeitige Situation und eine Perspektive für die Zukunft. In dem jiddischen Bericht wird auch die Wirkung dieser Rede erwähnt: Der Rabbi spricht und seine Worte waren voller Begeisterung, unseren verwundeten Geist heilend wie der beste Balsam. Der Jischuw ist voller Hoffnung. Unser Sieg – so ruft 204 Interview with Henry Levy, interviewed by Alex Grobman, 22. 5. 1975, DOH, ICJ, HU, 11. 205 Dazu Grobman, Rekindling the Flame, 158–160. 206 The Role of American Chaplains in Rescuing Holocaust Survivors in Europe, 1944–1948, Interview with Rabbi Mayer Abramowitz, interviewed by Alex Grobman, 10. 7. 1975, DOH, ICJ, HU, 28. 207 Kotler, Lejb, A Messibas Mojrim beim Chaplain Abramowitz, in: Undser Lebn, 25. 8. 1946, 15.
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Abramowitz aus – ist gesichert. Es gibt keine Kraft, die den mächtigen Strom zurückhalten kann.208
Nach der Ansprache von Abramowitz begann die festliche Mahlzeit, die Anwesenden unterhielten sich über ihre Arbeit und ihre künftige Bestimmung im Sinne des soeben Gehörten. Nach dem Essen erhob sich der Gast aus Jerusalem, der Professor von der Hebräischen Universität, der die ganze Zeit dabei gewesen war, und sprach etwa eine Viertelstunde lang auf Hebräisch. Scholem hob die Leistung der jüdischen Erzieher rühmend hervor und versuchte, ihnen Mut zu machen, ihren Weg weiter zu gehen. Im Bericht der Lagerzeitung heißt es dazu: Ein besonderes Vergnügen war es für uns, die Worte von Professor Scholem zu hören, der in lebendigem Hebräisch seine Freude ausgedrückt hat, vor sich eine Gruppe Lehrer und Erzieher zu sehen, die wachsam sind und alles tun, um die Erzieher einer felsenfesten Generation zu sein, um eine Jugend zu unterrichten, mit dem Geist ihrer Helden erfüllt zu sein. Eine Generation, die um ihren Wert weiß und bereit ist, Taten zu verrichten.209
Scholems Begegnungen mit den Displaced Persons und die von ihm in Frankfurt und Berlin gehaltenen Ansprachen lassen erkennen, dass er sich nicht nur als Beauftragten der Hebräischen Universität und der Nationalbibliothek verstand, sondern darüber hinaus als Abgesandten der jüdischen Bewohnerschaft Palästinas insgesamt. Es ging ihm nicht allein darum, herrenlose jüdische Bücher ins Land zu bringen, um dort das geistige Zentrum jüdischer Kultur zu unterstützen, sondern auch darum, die Herzen der heimatlosen jüdischen Überlebenden zu stärken und ihre zionistischen Neigungen zu fördern, woraufhin sie nach Palästina einwandern und dieses Land zu einem jüdischen Zentrum machen würden. Bei seinem Besuch in Berlin, der Stadt seiner Kindheit, traf Scholem auch Berliner Juden, die nach dem Krieg dorthin zurückgekehrt waren. Mit ihnen unterhielt er sich häufig, übernahm es auch, Grüße an Verwandte und Freunde in Palästina auszurichten. Da der Kontakt zwischen den Juden in Deutschland und denen in Palästina technisch ungeheuer schwierig war, wurde ein Besucher aus Palästina jeweils damit beauftragt, Einzelheiten über Freunde und Verwandte zu ermitteln und diesen wichtige Informationen zukommen zu lassen. Scholem notierte sich zahlreiche solche Aufträge. So steht in seinem Tagebuch unter dem 8. August etwa folgendes zu lesen: Grüße an [Richard] Köbner von seiner Cousine Frau Grete Lasch aus Breslau, sie hat ihn und seine Schwester Lotte in liebevoller Erinnerung; ebenfalls Grüße an [Julius] Guttmann und seine Grete. 208 Ebd. 209 Ebd.
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Mit wem ist Margot Engel, Dr. Chem. aus Berlin-Jerusalem verheiratet?? Frau Jenny Joachimson, Moltkestr. 8–11, Niederschönhausen, möchte es wissen.210
Über all seinen Begegnungen mit den verschiedenen jüdischen Bewohnern Berlins und ungeachtet der physischen und seelischen Erschöpfung, die aus seinen Tagebuchaufzeichnungen spricht, vernachlässigte Scholem die Suche nach Büchern offenbar nicht. Darüber berichtet aus dem Abstand von Jahrzehnten Henry Levy, sein damaliger Verbindungsmann zum Joint, der Scholem bei vielen seiner Unternehmungen in Berlin begleitete. In dessen Augen stellte der Jerusalemer Professor mit seiner Bücherleidenschaft zwar ein Kuriosum dar, aber angetan war er doch von ihm: I provided Gershom Scholem with a uniform. I provided him with a jeep and a driver and he would move into East Germany, from Berlin to East Berlin to look for books! While I was too busy with people […] but evenings I had the advantage of being able in an accidental way to sit down with a great character, and I realized immediately, of course, that this was somebody special. One day he had had some trouble with going into a basement looking for some books. He tore his uniform and I could see […] that he was more at home with books than with uniforms and jeeps. He was a delight, though. You know these abstracted individuals are sometimes delightful. In any case, he was doing a good job recuperating books from various cellars. He could tell in a minute what they were worth or what they weren’t worth. We could get them, they would be packed. We would send them to the University. We did a lot of that, something that Gershom Scholem said […] we were able to get it out very easily. So we sent a lot of books to the University.211
Der Umfang dieser Tätigkeit sowie die Menge der Bücher, von der Levy in dem Interview erzählt, mögen übertrieben sein: Weder in Scholems Reisetagebuch noch in seinem Abschlussbericht sind Bücher erwähnt, die er hätte verpacken und nach Palästina schicken können. Authentisch dagegen klingt der Eindruck, den Scholem in der kurzen Zeit seines Berlinaufenthalts hinterließ: einerseits ein Bücherwurm, dem die Welt des Militärs fremd war, andererseits eine faszinierende Persönlichkeit, mit der man gern zusammensitzt. Abramowitz bezeichnete den Kontakt mit Scholem damals in Berlin noch sechs Jahrzehnte danach als ein Glanzlicht seines dreijährigen Dienstes als Militärrabbiner im besetzten Deutschland.212 Dagegen war Scholems Gespräch mit Ruben Peiss, dem Leiter einer Delegation der amerikanischen Library of Congress, weniger erfolgreich. Scholem sprach mit ihm über Akten der Gestapo und nationalsozialistische Literatur, die er gern nach Jerusalem schaffen würde, weckte aber dadurch das Interesse der Ameri210 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 60. 211 Transkript des Interviews, das Alex Grobman am 22. 5. 1975 mit Henry Levy führte, 17f. 212 Abramowitz an Zadoff, 22. 8. 2007, Privatarchiv N.Z.
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kaner an diesen Dingen, so dass deren Überführung nach Palästina unmöglich wurde. „Der Mann ist unfreundlich“, schrieb Scholem über Peiss in sein Tagebuch, „er verfährt streng nach Vorschrift!“ Ein weiteres Gespräch mit einem amerikanischen Offizier brachte Scholem zu der Einsicht, dass dieses Vorgehen aussichtslos sei: „Natürlich bringt die Arbeit mit ihnen überhaupt nichts, es sei denn, ich hätte sehr viel Zeit, dann könnten sie etwas für mich arrangieren, durch die offiziellen Kanäle“.213 Scholems Hoffnung, in Berlin wichtige Bücher auftreiben zu können, hatte sich also nicht erfüllt. Seine Erkundigungen ergaben, dass die Gestapo sämtliche öffentlichen jüdischen Büchereien beschlagnahmt hatte. Bücher allgemeinen Inhalts waren an deutsche öffentliche Bibliotheken gegangen und würden sich nur schwer ausfindig machen lassen. Was private Bücherbestände betraf, schrieb Scholem in seinem Rechenschaftsbericht: „Nur in ganz wenigen Fällen ist es einzelnen Juden, die in Mischehe lebten und deren Wohnungen wunderbarerweise nicht durch Bombardierung zerstört wurden, gelungen, ihre Privatbibliothek zu erhalten; ich habe nicht mehr als zwei solcher Büchersammlungen mit eigenen Augen gesehen, und deren Besitzer sind sehr froh“.214 Auch der Berliner jüdischen Gemeinde war kaum etwas von ihren Büchereien und Archiven von vor dem Krieg geblieben. Doch in diesem Bereich konnte Scholem eine grundsätzliche Übereinkunft erzielen, wonach die jüdische Gemeinde in Berlin der Hebräischen Universität die Bücher zu überlassen bereit war, die von den Nationalsozialisten nach Schloss Niemes in die Tschechoslowakei geschickt worden waren.215 Am 9. August machte sich Scholem auf den Weg zum Vorstand der jüdischen Gemeinde, um diese Vereinbarung schriftlich fixieren zu lassen, als er in einen Verkehrsunfall verwickelt wurde: Mitten in der Stadt, Ecke Unter den Linden und Friedrichstraße, stieß ein Motorrad mit dem Militärfahrzeug zusammen, in dem er saß, was ihm eine tiefe Schnittwunde am rechten Arm einbrachte. Die Untersuchungen, die im Krankenhaus der Gemeinde vorgenommen wurden, ergaben, dass er zum Glück keine Rippen gebrochen hatte. „Es tut furchtbar weh und ich bin ebenso schwach“, schrieb er anderntags in sein Tagebuch, „aber es besteht die Hoffnung, dass die Wunde innerhalb einer Woche verheilt, wenn sie sich nicht infiziert. Ein Souvenir aus Berlin. Mein Mantel und meine Uniform sind zerrissen, und ich habe keine zum Wechseln!“ Diese Verletzung machte 213 Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 58. 214 Scholem, Din we-Cheschbon shel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 370. 215 Die Kopie eines offiziellen Schreibens vom Vorstand des jüdischen Gemeinderats in Berlin an die Hebräische Universität vom 9. 8. 1946 ist Scholems Rechenschaftsbericht (Din weCheschbon shel Prof. Gershom Schalom) als Anhang 5 beigefügt. In: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 382–383.
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Die Reise nach Deutschland
Scholem sowohl physisch als auch psychisch ziemlich zu schaffen; dadurch wurden sein ungutes Gefühl und seine Enttäuschung darüber, während seines Aufenthalts in Berlin nichts erreicht zu haben, nur noch verstärkt. In sein Tagebuch schrieb Scholem weiter: „Telegramme mit der Absage meiner US-Reise habe ich noch nicht geschickt – ich empfinde eine grausame innere Trägheit, nur noch verschlimmert durch fieberhafte Tätigkeit, die zu nichts führt.“216
Frankfurt – Heidelberg – Paris – Jerusalem (12. bis 26. August) Am Morgen des 12. August kehrte Scholem nach Frankfurt zurück, wo er Vorkehrungen für den Heimflug traf und seine geplante Amerika-Reise absagte: Brief an Joint mit Bitte, mir einen Platz nach Palästina zu besorgen, Telegramme an die Universität, an Schocken und Magnes in New York mit Absage meiner Reise in die USA. Ich habe beschlossen, was ich vor zwei Monaten hätte beschließen sollen, als ich in Prag saß und ins Träumen geriet. Jetzt ist es spät, und ich werde Fania die Freude verderben. Aber ich habe das Gefühl, dass ich nicht anders kann, ich bin einfach nicht in der Verfassung für eine solche Reise, es wäre moralisch und geistig unverantwortlich, wenn ich ginge.217
Scholems physischer Zustand hatte sich zwar ein wenig verbessert, die Wunde begann zu heilen, aber psychisch war er schwer angeschlagen: „Ich habe keinen ‚heiligen Geist‘ in mir, etwas ist bei mir zerbrochen, ich bin sehr niedergeschlagen, etwas von der kreativen Energie, die ich hatte. Diese Mission hat mich aufgefressen und mir nichts von der inneren Erlösung verschafft, die ich mir vorgestellt hatte“.218 Auch der einsetzende Heilungsprozess erwies sich nur scheinbar als solcher, die Wunde plagte ihn weiter: „Heute früh ist die Wunde wieder aufgegangen, weil sie gestern nicht fest genug verbunden worden war. Ein Mordsdreck.“219 Während der letzten Tage seines Deutschlandaufenthalts traf sich Scholem noch einmal mit Pinson und Eppelsheimer, arbeitete sogar noch ein paar Stunden zusammen mit Bencowitz im Offenbacher Archiv-Depot. Selbst ein zweitägiger Besuch in Heidelberg, wo er dieses Mal neben Schneider, Jaspers und Weizsäcker auch Sternberger traf, vermochte nicht, seine düstere Stimmung aufzuhellen. „Traurige Tage in Frankfurt“, notierte er sich, „fürchterlich isoliert gefühlt“. Am 20. August kehrte er nach Paris zurück:
216 217 218 219
Scholem, Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 61–62. Tagebuch-Eintrag vom 13. 8. 1946, ebd., 64. Ebd. (Hervorhebung von mir, N.Z.). Tagebucheintrag vom 15.8, ebd., 65.
Die „Aktion“ der Bücher und Handschriften im Offenbacher Depot
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Traurige Rückkehr nach Paris – nichts war vorbereitet. Das Telegramm nach Palästina mit der Absage der Reise, das ich vor einer Woche aus Frankfurt geschickt hatte, kam heute per Kurier in Paris an und wurde soeben weitergeleitet. Alles drunter und drüber. Aussichten auf baldige Reise – keine!! Die Plätze im Flugzeug sind durch Angehörige der Jewish Agency besetzt, und Schiffe gibt es keine. Wieder bin ich in widrige Umstände verstrickt wie immer. Trübselige Briefe von meiner Fania, das Herz könnte einem brechen. Telegramm von Schocken, wir sollten in Europa Urlaub machen!! Was für ein Wahnsinn.220
Im Gegensatz zu seiner pessimistischen Voraussage brauchte er nicht mehr lange in Europa auszuharren: Am 26. August – nahezu viereinhalb Monate, nachdem er sich auf den Weg nach Paris gemacht hatte – erreichte Scholem sein Zuhause in der Abarbanel-Str. 28 im Jerusalemer Stadtteil Rechavja wieder.
c.
Die „Aktion“ der Bücher und Handschriften im Offenbacher Depot
Ein paar Monate, nachdem Scholem das Flugzeug bestiegen hatte, das ihn von Paris über Kairo nach Tel-Aviv bringen sollte, nahm eine ganz besondere Schiffsfracht den Weg über das Mittelmeer ins Land Israel. Im Bauch dieses Schiffes, das aus Großbritannien kam, waren unter den privaten Bücherbeständen von Chaim Weizmann, des ersten Präsidenten des künftigen Staates Israel, fünf Kisten versteckt, in denen eine größere Anzahl von hebräischen Büchern und wertvollen seltenen Handschriften an die Nationalbibliothek in Jerusalem gelangen sollten. Dass diese einzigartige Sammlung aus dem Depot in Offenbach an Bord dieses Schiffes gekommen war, hing direkt mit Scholems dortigem Wirken zusammen und war durch eine Art Handstreich eines jungen amerikanischen Militärrabbiners in der amerikanischen Besatzungszone zustande gekommen: Herbert Friedman.221 Während der Tage, die Scholem über den Bücherstapeln in Offenbach verbrachte, legte er das Seltenste und Wertvollste an hebräischen Büchern und Handschriften, das ihm in die Hände fiel, beiseite und verpackte die Schriften in fünf separaten Kartons. Da er befürchtete, die seltenen Stücke könnten gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verkauft werden, suchte er bei den amerikanischen Behörden um Erlaubnis an, diese fünf Kisten nach Palästina mitzunehmen. Dass sein Antrag abgelehnt wurde, hing offenbar damit zusammen, dass auch amerikanisch-jüdische Institutionen, allen voran das Jewish Theological Seminary in 220 Ebd., 66–67. 221 Die hier gebotene Darstellung beruht auf Friedmans Aussagen: Friedman, Roots of the Future, 106–112; Interview with Herbert Friedman, 12. 6. 1992, USHMM; s.a. Plunder and Restitution, SR-199 sowie das einschlägige Kapitel bei Herman, Hashavat Avedah, 171–181.
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Die Reise nach Deutschland
New York unter Louis Finkelstein, Interesse geäußert hatten, einen Teil dieses wertvollen Materials für ihre Bibliotheken zu erhalten. Enttäuscht über die abschlägige Antwort wandte sich Scholem an den jungen amerikanischen Militärrabbiner vor Ort; dieser zeigte Verständnis und versprach, bei der Lösung des Problems behilflich zu sein. Gegen Abend des 31. Dezember 1946 – mehr als drei Monate, nachdem Scholem Europa verlassen hatte – holte Friedman die fünf Kisten unter dem Vorwand aus dem Archiv, es handele sich um Bücher, die der Joint den DP-Lagern leihweise zur Verfügung stellen wolle, wobei der Leiter des Depots, Bencowitz, ein Auge zudrückte. Auf dem Leihschein fälschte Friedman die Unterschrift von Koppel Pinson, dem Leiter der jüdischen Erziehungsabteilung des Joint in Deutschland, der einige Monate zuvor in die USA zurückgekehrt war. Gegen Mitternacht, als die Belegschaft des Depots schon angeheitert Silvester feierte, ließ Friedman die Kisten in einen fensterlosen Krankenwagen des Joint verladen und von dort auf einen in der Nähe wartenden Militärlastwagen bringen. Von Offenbach reiste Friedman mit der kostbaren Fracht nach Paris zum Büro der Jewish Agency, um sie von dort an Gershom Scholem nach Palästina schicken zu lassen. Die Jewish Agency war nicht bereit, das gestohlene Gut in Empfang zu nehmen und in die Angelegenheit verwickelt zu werden, gab ihm aber einen wertvollen Hinweis: Die private Bibliothek von Chaim Weizmann werde von Großbritannien nach Palästina verschifft; das Schiff mache zur Zeit Zwischenstation in Antwerpen, solle seine Fahrt aber demnächst fortsetzen. Darin sah Friedman eine günstige Gelegenheit: „Integrating my five craters with dozens of his would be the easiest way to smuggle the goods in to Palestine and Scholem“, schrieb er Jahre später in seinen Memoiren.222 Er fuhr also mit den an Scholem adressierten Kartons nach Antwerpen, verteilte sie unter Weizmanns Bücherkisten, telegraphierte an Scholem, die Sendung sei unterwegs nach Jerusalem, und kehrte nach Offenbach zum Dienst zurück. Ein paar Wochen später wurde Friedman von der amerikanischen Militärpolizei verhört, die ihn mit Beweismaterial konfrontierte, wonach er für das Verschwinden dieser Bücher verantwortlich sei. Da er mit einem Prozess vor dem Militärgericht rechnen musste, bat Friedman um ein Gespräch mit Rabbiner Philip S. Bernstein, dem Berater für jüdische Angelegenheiten bei der amerikanischen Militärverwaltung, und zog ihn ins Vertrauen. Bernstein arrangierte für Friedman eine Audienz bei General Lucius D. Clay, dem Oberkommandierenden der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland, und Friedman schenkte diesem reinen Wein ein. Aus dem Abstand von Jahrzehnten rekonstruierte Friedman seine Argumentation gegenüber General Clay ungefähr folgendermaßen:
222 Friedman, Roots of the Future, 109.
Die „Aktion“ der Bücher und Handschriften im Offenbacher Depot
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I said I didn’t want the stuff to get stolen and lost the second time. Those boxes wouldn’t be secure in that warehouse, somebody would rip them open, somebody would see the stuff, somebody would recognize it. An antiquarian would be approached, the stuff has value. And it was lost once. Its owners are gone. The Jewish people collectively is concentrating in Palestine. Palestine will be free one fine day. These should be in the National Jewish Library in Palestine, that’s the successor, inheritor of all that stuff. That’s why I did it.223
General Clay ließ sich offenbar überzeugen, dass Friedman nicht aus Eigennutz gehandelt habe, sondern aus echter Sorge um den Erhalt der Schriftstücke. Vielleicht war es Friedmans zionistischer Enthusiasmus, der seinen Worten besondere Überzeugungskraft verlieh. Jedenfalls ließ Clay das militärische Gerichtsverfahren gegen Friedman einstellen, ordnete allerdings dessen sofortige Rückkehr in die USA und Entlassung aus dem Militär an.224 Was die Kartons betraf, so befahl Clay ihre sofortige Rückführung nach Europa. Am Ende des Gesprächs fasste sich Friedman ein Herz und beschwor Clay, die kostbaren Kulturschätze nicht ein weiteres Mal auf Reisen zu schicken, sondern sie der Hebräischen Universität in Palästina zu treuen Händen zu überlassen.225 Aufschluss, wo die Bücher in den folgenden Monaten verblieben waren, bieten die im Archiv der Hebräischen Universität erhaltenen Telegramme, die damals zwischen Jerusalem, Frankfurt und Paris hin und her gingen.226 Als Werner Senator Mitte Januar 1947 von der Existenz der Büchersendung erfuhr, wandte er sich an Scholem mit der Bitte um Aufklärung; doch dieser wusste bis dahin nichts von Friedmans Aktion und konnte auch keine Auskunft über den genauen Inhalt der Kisten geben. Wie unvorbereitet ihn die Nachricht traf, geht aus einem Schreiben Scholems an Senator von Anfang März hervor, worin er seine Bemühungen schildert, noch vor Ankunft der Sendung in Palästina deren Inhalt festzustellen. Scholem schreibt, er habe einen Vertrauensmann der Universität zu Nachforschungen auf das Schiff geschickt, das anscheinend immer noch in Frankreich vor Anker lag: „Die Schwierigkeit ist die, dass ich keine Ahnung habe, was diese mysteriösen Dinge sind, ich habe nur die eine oder andere Vermutung, ich muss also warten, bis unser Freund die Kisten aufmacht und nachsieht.“227 Daran anschließend äußert Scholem Befürchtungen bezüglich der Folgen seiner Verwicklung in den Diebstahl und den widerrechtlichen Transfer der Bücher. 223 Interview with Herbert Friedman, 12. 6. 1992, USHMM, 33. 224 Laut Genizi (Joez u-Mekim, 73), war es dem Eingreifen von Rabbiner Bernstein und Abraham Hyman aus dem Amt des Militärberaters zu verdanken, dass Friedman relativ glimpflich davonkam, zumal auch dafür gesorgt wurde, dass seine vorzeitige Entlassung aus dem Militärdienst nicht zu seinen Ungunsten ausschlug. 225 Interview with Herbert Friedman, ebd. 226 HUA, Akten Ozrot ha-Gola 1947, 046. 227 Scholem an Senator (hebr.), 9. 3. 1947, Hebrew HUA, ebd., 1947.
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Die Reise nach Deutschland
Anfang 1947 wurde um die Entsendung einer weiteren Delegation nach Europa verhandelt, die sich um den Transport zahlreicher Bücher nach Palästina kümmern sollte, und Scholem hatte sich, wenn auch nicht gerade mit Begeisterung, bereit erklärt, auch dieses Mal mitzufahren, falls sich sonst niemand fände, der dazu geeignet sei. „Aber jetzt“, schrieb er, „müssen Sie sich klarmachen, wenn da etwas dahintersteckt und mein Name bei der vorgesetzten Behörde bekannt wird, besteht keinerlei Aussicht, dass ich da nochmal hinkomme, denn ich würde sofort disqualifiziert werden. Und das ist eine große Sorge, denn ich weiß nicht, wer sonst hinfahren könnte.“228 Scholems Befürchtungen in Hinblick auf etwaige wütende Reaktionen der amerikanischen Militärbehörden, die weitere Bemühungen um die Rettung jüdischer Bücher behindern könnten, erwiesen sich als berechtigt, jedenfalls kurzfristig. So hatte etwa das Joint in Deutschland große Schwierigkeiten, weitere Bücher aus dem Offenbacher Depot für die Insassen der DP-Lager bewilligt zu bekommen. Lucy Dawidowicz, eine amerikanische Historikerin, die vom Joint in die DP-Lager nach Europa entsandt worden war und damals in dem Archiv-Depot in Offenbach arbeitete, schrieb darüber an Max Weinreich, den Leiter der YIVO in New York: The main reason for the difficulty now is that what are considered the most important Hebrew and Yiddish manuscripts have disappeared from Offenbach. This is strictly confidential and was told to me in great confidence by Mr. Joseph A. Horne, Director of the OAD, a civilian, who has recently taken over. […] we have reason to believe that this material (5 cases) was taken by Chaplain Herbert Friedman in collusion with Professor Scholem from Palestine for the Hebrew University or for someone personally.229
So sprach es sich unter den interessierten jüdischen Einrichtungen herum, dass die Kisten gestohlen worden waren, was die amerikanischen Behörden wiederum unter Zugzwang setzte, die Bücher aufzuspüren und zurückzuholen. Ende März erhielt Scholem ein Telegramm aus Frankfurt, in dem Friedman ihm mitteilte, die Bücher müssten offenbar zurückgeschickt werden; er solle den Erhalt der Kisten bestätigen und versichern, sie bis zum Eintreffen anderslautender Weisung nicht zu öffnen. Wenige Tage danach kam ein weiteres Telegramm, dieses Mal von Philipp Bernstein: Die Kisten müssten sofort nach Frankfurt zurückgeschickt werden, und zwar solle dies persönlich und um jeden Preis durch Charles Passman geschehen, den neuen Direktor des Joint in Europa, der sich damals besuchsweise in Palästina aufhielt. Darauf erwiderte Scholem, die Kisten seien noch gar nicht im Lande angekommen; um sie zurückschicken zu können, müsse
228 Ebd. 229 Lucy Dawidowicz an Max Weinreich, 16. 2. 1947, AJHS, call-P-675, box 55, folder 3.
Die „Aktion“ der Bücher und Handschriften im Offenbacher Depot
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man erst ihre Ankunft abwarten.230 Am 8. April landeten sie schließlich in Jerusalem und wurden, wie versprochen, von der Hebräischen Universität in Gewahrsam genommen. Auf Scholems telegraphische Mitteilung an Bernstein kam von diesem die Anweisung, die Kisten sollten zunächst bei der Universität unter Verschluss bleiben; Meldung sei direkt an General Clay zu erstatten, ansonsten seien weitere Weisungen abzuwarten.231 Einen Monat später erging die Aufforderung vom amerikanischen Konsulat in Jerusalem, ihm die Kisten zuzustellen, denn sie sollten nach Europa zurückgeflogen werden.232 Am 7. Mai 1947 wurden diese ins amerikanische Konsulat transportiert; bei der Übergabe wurde offenbar ein flüchtiger Blick auf den Inhalt geworfen: „four cases which are apparently full, one case which is practically empty“ steht auf der Quittung, die der Hebräischen Universität ausgestellt wurde.233 Kurz darauf kam es aber zu einer Kehrtwende, denn es erging die entgegengesetzte Anordnung, die Bücher sollten in Jerusalem bleiben und der Hebräischen Universität als Treuhänderin übergeben werden. Ob Bernstein bei General Clay interveniert hatte oder ob dieser sich durch Friedmans Vorstellungen, welche Gefahren diesen Kulturgütern bei erneutem Transfer drohten, hatte erweichen lassen, geht aus den erhaltenen Unterlagen nicht hervor. Belegt ist der amerikanische Beschluss, die Bücher in Jerusalem zu lassen und bei der Hebräischen Universität zu deponieren, in einem Schreiben von Senator an Salo Baron vom 11. Mai, vier Tage, nachdem die Kisten ins amerikanische Konsulat überführt worden waren: Vor einiger Zeit sind fünf Kisten mit Büchern (eine halb leer) eingetroffen, adressiert an Prof. Scholem an der Hebräischen Universität, Absender Prof. Scholem Offenbach. In Bezug auf diese Kisten sind zwischen den amerikanischen Militärbehörden und der Hebräischen Universität etliche Telegramme gewechselt worden, und nach einigen Abenteuern – die Kisten standen schon zum Rücktransport nach Deutschland bereit – kam schließlich die Mitteilung, diese Kisten sollten hier bei der Universität als Treuhänderin bleiben. Zur Zeit wird der Inhalt der Kisten untersucht.234
Bei der Überprüfung des Inhalts wurde durch Dr. Daniel E. Goldschmidt von der Hebräischen Universität im Beisein eines Vertreters des amerikanischen Kon-
230 Friedman an Scholem, Telegramm vom 21. 3. 1947, HUA, ebd.; Bernstein an Scholem, Telegramm vom 25. 3. 1947, ebd.; Scholem an Friedman, Telegramm vom 25. 3. 1947, ebd.; Scholem an Bernstein, Telegramm vom 30. 3. 1947, ebd. 231 Scholem an die Geschäftsstelle des Joint in Paris, Telegramm vom 10. 4. 1947, ebd.; Telegramm des Joint aus Paris an die Hebräische Universität, 14. 4. 1947, ebd. 232 Telegramm von Scholem an den Joint in Paris, 27. 4. 1947, und Aufzeichnung eines Telefongesprächs zwischen David Werner Senator von der Hebräischen Universität und Herrn Porter, dem amerikanischen Vize-Konsul, am 2. 5. 1947, ebd. 233 Diese Quittung, datiert vom 7. 5. 1947 und befindet sich ebenfalls im HUA, Akten Ozrot haGola, 1947. 234 Senator an Baron (hebr.), 11. 5. 1947, ebd.
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sulats ein knappes Verzeichnis in englischer Sprache erstellt.235 Die Liste endet mit einer kurzen Erklärung, worin die Hebräische Universität den Erhalt der Sammlung am 22. Juni 1947 bestätigte und sich der vom amerikanischen Konsulat in Jerusalem gestellten Bedingung unterwarf: „we undertake to return any and all of them on first request from that office“.236 So gelangten im Sommer 1947 an die jüdische Nationalbibliothek auf dem Skopusberg in Jerusalem fünf Kisten mit Schriftzeugnissen jüdischer Kultur in Europa, die von den Nationalsozialisten geraubt, von den amerikanischen Besatzungsbehörden nach Offenbach ins Depot gebracht, dort von Gershom Scholem sortiert und von Herbert Friedman gestohlen und nach Palästina geschickt worden waren. Wie schon erwähnt, waren Scholems und Friedmans Befürchtungen, aus dem Offenbacher Archiv könnten die Bücher gestohlen und in Deutschland illegal verkauft werden, durchaus nicht unbegründet. Außerdem kam es unter der amerikanischen Militärregierung in Deutschland auch sonst gelegentlich vor, dass amerikanische Militärgeistliche die Vorschriften zurechtbogen, um jüdischen Interessen zu dienen. So stieß etwa Scholems Freund und Schüler, der Militärrabbiner Mayer Abramowitz, auf Schwierigkeiten, als er Lehrbücher für die von ihm gegründete jüdische Schule drucken lassen wollte. Um die Bücher überhaupt drucken zu können, stahl Abramowitz die Materialien aus einem Militärmagazin, die Druckarbeiten ließ er mit Hilfe von Drohungen und Bestechungen mit Zigaretten und amerikanischer Kohle durch eine deutsche Druckerei in der französisch besetzten Zone durchführen.237 Insofern war Friedmans Vorgehen unter den damaligen Bedingungen der amerikanischen Militärverwaltung in Europa nichts Außergewöhnliches, und wenn er nicht aufgeflogen wäre, hätte die Sache damals wahrscheinlich kein sonderliches Aufsehen erregt. Darüber hinaus besteht durchaus Grund zu der Annahme, dass die wertvollen Schriftstücke vermutlich zum großen Teil verschwunden wären, wenn Friedman sie nicht illegal aus dem Depot herausgeholt und heimlich nach Palästina geschickt hätte. In Anbetracht der Bedeutsamkeit dieses Unternehmens im internationalen Rahmen und da das Thema für die verschiedenen jüdischen Zentren überaus heikel war, konnte Friedmans Vorgehen allerdings nicht geheim bleiben, und so wurde die Geschichte sowohl in der jüdischen Welt als auch bei amerikanischen Militärinstanzen bekannt. 235 Verzeichnis der Handschriften aus den Diaspora-Schätzen, 22. 6. 1947, im NLI Archiv. Wer dieses Verzeichnis abgefasst hatte, ist in einem englischen Schreiben von Scholem an Magnes belegt, 21. 3. 1948, im GSA, Ordner 23. Dr. Goldschmidt hatte bereits 1946 eine vorläufige Liste der Bibliotheken und Archive in den besetzten Ländern zusammengestellt, dazu Schidorsky, Gewilim nisrafim, 227. 236 Reschimat Kitwe ha-Jad me-„Ozrot ha-Gola“, 22. 6. 1947, NLI Archiv, 11. 237 The Role of American Chaplains in Rescuing Holocaust Survivors in Europe 1944–1948, Interview with Rabbi Mayer Abramowitz, DOH, ICJ, HU, 31f.
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Am 9. Dezember 1947, also fast ein Jahr nach der Entwendung der fünf Kisten aus dem Offenbacher Depot, erschien auf der Titelseite der europäischen Ausgabe der amerikanischen Militärzeitung Stars and Stripes ein Bericht über den Diebstahl der Bücher aus dem Depot in Offenbach und ihre illegale Überführung nach Palästina.238 Die Verfasser der Reportage waren von General Lucius D. Clay über den Vorfall informiert worden, hatten auch selbst gewisse Nachforschungen angestellt, deren Ergebnisse sie mitteilten, ohne die Namen der beteiligten Personen zu nennen. Die Darstellung der Vorgänge war knapp und strotzte von Ungenauigkeiten. So hieß es dort etwa, den Diebstahl hätten zwei Offiziere der amerikanischen Armee begangen, einer davon ein Militärgeistlicher; außerdem stand dort zu lesen, die Kisten seien nach einiger Zeit plötzlich in Jerusalem aufgetaucht, und zwar infolge von Nachforschungen des dortigen amerikanischen Konsuls. Die beiden spektakulärsten Angaben dieses Zeitungsberichts betrafen die mutmaßliche Menge der gestohlenen Bücher (ca. 1.100) und deren mutmaßlichen Wert (drei bis fünf Millionen Dollar). Für diese Schätzungen berufen sich die Reporter auf ein angeblich von Scholem angefertigtes Inhaltsverzeichnis. Die Reportage endet mit einer Kritik an der Nachlässigkeit der amerikanischen Militärbehörden in Bezug auf die von den Nationalsozialisten geraubten jüdischen Kulturschätze: Clay pointed out that probably 90 per cent of the items eventually will ‚wind up in Palestine, anyway‘. This is impossible under present MG [Military Government] regulations which state that all looted materials must be returned to the country of origin. The 1,100 are thought to have originated entirely in Europe. Similarly, if their pre-Nazi owners resided in Germany there is no provision for restitution to them and MG is wholly responsible for safeguarding such materials.239
Ein paar Monate später fiel diese Reportage Magnes in die Hände, der sie sofort an Scholem mit der Bitte um Stellungnahme weiterleitete. Eine wohlfundierte Reaktion auf die Reportage war deshalb erforderlich, weil sie voraussichtlich Interesse an den Büchern erregen würde, woraufhin diese der vorläufigen Treuhandschaft der Hebräischen Universität entzogen werden könnten. „Zu erwähnen ist auch, wo genau sich das Material zur Zeit befindet“, schrieb Magnes an Scholem, da er mit der Erhebung von Ansprüchen rechnete; „ich hoffe, dass die Dinge nicht in der Bibliothek zerstreut worden sind, sondern als geschlossenes Depot aufbewahrt werden, bis endgültig entschieden wird, was mit ihnen geschehen soll“.240
238 Haeger/Long, Lost EC Treasure; eine Kopie der Titelseite mit dem Anfang der Reportage bei Grobman, Rekindling the Flame, 177. 239 Haeger/Long, Lost EC Treasure, 12. 240 Magnes an Scholem (hebr.) 16. 2. 1948, GSA, Korrespondenz Magnes.
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Weniger als einen Monat danach schrieb Scholem an Magnes eine ausführliche Erwiderung, worin er hauptsächlich zur Schätzung von Menge und Wert der Bücher in der Reportage Stellung nahm.241 Zum einen bestritt er, ein Verzeichnis der in den Kisten enthaltenen Schriftstücke angefertigt und ein Urteil über deren Wert abgegeben zu haben. Die Kriterien, wonach er die Bücher aussortiert habe, seien vielmehr ihr wissenschaftlicher und musealer Wert gewesen, auch was künftige Forscher davon profitieren könnten. Der Geldwert der Schriftstücke sei unerheblich, er schätze ihn auf höchstens 10.000 Dollar, obwohl der Marktwert solcher Unikate bekanntlich schwer zu bestimmen sei. Auch die Anzahl der in den Kisten enthaltenen Bücher sei weit übertrieben. Es handele sich um etwa 350 Stücke, nicht 1.100, wie in dem Zeitungsbericht behauptet. Die falsche Schätzung führte Scholem auf das in dem Offenbacher Depot übliche Packverfahren zurück, wonach ein voll gepackter Karton durchschnittlich 220 Stücke enthielt, diese Anzahl sei mit fünf multipliziert worden, und so seien die Reporter auf 1.100 gekommen.242 Gestützt werden Scholems Angaben durch das bereits erwähnte Verzeichnis über den Inhalt der Kartons, das Dr. Goldschmidt noch im amerikanischen Konsulat unmittelbar vor der Übergabe an die Hebräische Universität anfertigte; es umfasst 378 Titel, nach Kartons geordnet. Die Bedeutung dieser Liste für das Verständnis von Scholems Mission, die jüdischen Bücher aus dem Offenbacher Archiv-Depot zu retten, ist kaum zu überschätzen. Durch aufmerksame Betrachtung dieser Liste lässt sich vielleicht ein Stück weit nachvollziehen, was Scholem empfunden haben mag, als er diese Schriftstücke untersuchte und sortierte. Die Handschriften und Bücher, aus denen diese zufällig zusammengewürfelte Sammlung besteht, sind ein Symbol für die Zerstörung des Judentums in Europa und veranschaulichen das in Deutschland nach dem Weltkrieg herrschende Chaos. Die kleine Sammlung enthält Handschriften aus verschiedenen europäischen Orten, besonders aus Osteuropa, und der provisorische Katalog weist keinerlei innere Ordnung auf, die Stücke sind in der Reihenfolge notiert, wie Scholem sie in die Kartons gelegt hatte bzw. wie sie bei deren Öffnung in Jerusalem zutage getreten waren. Der hervorstechendste Eindruck ist der von etwas Fragmentarischem: Ganz unterschiedliche Texte – aus verschiedenen Epochen, Gegenden, literarischen Gattungen – sind zufällig aufeinandergestapelt worden. Dabei war hier kein blinder Zufall am Werk, vielmehr wurde die Sammlung von Scholem zusammengestellt, der eine gewisse Richtung be241 Scholem an Magnes, 21. 3. 1948, GSA, Ordner 23. 242 Von der Problematik dieser geschätzten Quantitäten schreibt auch Lucy Dawidowicz (From That Place, 317), die Anfang 1947 im Auftrag des Joint im Offenbacher Archival Depot tätig war: „Each case was estimated to hold 200 books, but that was an arbitrary figure. Cases with volumes of the Talmud held only about 100 books; cases with unbound periodicals, paperbound books, and pamphlets held about 500 items“.
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stimmte, innere Kriterien schuf, wonach er entschied, was wichtig genug war, um für die Zukunft des jüdischen Volkes aufbewahrt zu werden – das alles natürlich im eng gesteckten Rahmen der Offenbacher Bestände. Der gemeinsame Nenner dieser vielen von Herkunft, Form und Inhalt her so verschiedenen (Hand-)Schriften war der, dass sie allesamt von dem reichen und vielfältigen jüdischen Kulturleben zeugten, das in Europa vernichtet worden war. Dass diese Schriftstücke auf verschlungenen Wegen zunächst in das Offenbacher Depot und dann illegal nach Jerusalem gelangt waren, bildet außerdem eine Analogie zum Weg der jüdischen Displaced Persons, die nach schweren Schicksalsschlägen in der Kriegszeit den Weg nach Deutschland gefunden hatten, von wo sie ins Land Israel zu gelangen hofften. Und wie bei der Begegnung mit den Insassen der DP-Lager in Deutschland, so empfand Scholem bei der Begegnung mit den jüdischen Büchern zunächst in Offenbach und dann fast ein Jahr später in Jerusalem eine gewisse Enttäuschung, wie er am 16. Juni 1947 an Salo W. Baron schrieb: „I must say I am a little disappointed in the contents – from my own inspection I gather that there is nothing very ancient there, no medieval mss. [manuscripts], most of it dating to the 17th or 18th centuries if not later“.243 Aus dem Verzeichnis geht hervor, dass die Sammlung tatsächlich keine wirklich alten Handschriften enthielt, keine Inkunabeln, die im Jahre 1947 hohen antiquarischen Wert gehabt hätten; dabei bleibt Scholems damalige Feststellung natürlich bestehen, wonach sich der Wert solcher Schriftstücke eigentlich gar nicht in Geld ausdrücken lässt; jedenfalls ist ihr historischer Wert als Zeugnisse jüdischer Kultur ungleich höher als ihr materieller und nimmt mit den Jahren immer noch zu. Magnes’ Sorge, die Veröffentlichung eines Berichts über den Diebstahl der wertvollen Sammlung in der amerikanischen Militärzeitung könnte Forderungen nach Rückgabe der Stücke zur Folge haben, erwies sich als grundlos. Die seltenen Stücke befinden sich bis heute in der israelischen Nationalbibliothek auf dem Jerusalemer Universitätscampus Givat Ram; aber bis sie vom Skopusberg dorthin gelangten, hatten sie noch ein Abenteuer zu bestehen. Der Campus der Hebräischen Universität auf dem Skopusberg in Jerusalem blieb 1948 mit Ende des israelischen Unabhängigkeitskrieges und nach dem Waffenstillstand mit Jordanien eine israelische Enklave, die von jordanischem Territorium umgeben war. Dort eingeschlossen befand sich ein erheblicher Bücherbestand der Nationalbibliothek, darunter auch die Kartons aus dem Offenbacher Archiv-Depot. Im Lauf der Zeit wurden die Schriftstücke in kleinen Mengen jeweils durch Soldaten, die einmal wöchentlich im Militärkonvoi von ihrem Dienst auf dem Skopusberg ins israelische Staatsgebiet zurückkehrten, nach Westjerusalem geschmuggelt,
243 Scholem an Baron, 16. 6. 1947, HUA, Akten Ozrot ha-Gola, 1947.
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wo sie in dem neuen Gebäude der Universitätsbibliothek aufbewahrt wurden, das in den fünfziger Jahren auf dem Campus Givat Ram errichtet worden war.244 Auch für Scholem selbst nahm diese Geschichte ein gutes Ende; anders als befürchtet, wurde er weder in der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland noch unter den amerikanischen Juden zur persona non grata. Scholem nahm weiterhin wichtige Aufgaben im Rahmen der Tätigkeit des „Komitees für die Rettung des jüdischen Raubguts“ wahr, er fungierte als stellvertretender Vorsitzender der Jewish Cultural Reconstruction mit Sitz in New York, der Interessenvertretung sämtlicher jüdischer Zentren, was die Rückgabe von den Nationalsozialisten geraubter jüdischer Kulturgüter betraf. Ein paar Jahre später war er an der Errichtung des Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts an der Jerusalemer Nationalbibliothek beteiligt, im Zusammenhang damit war Scholem auch daran beteiligt, die Reise Nehemia Allonys, der in Europa hebräische Handschriften auffinden und nach Jerusalem überführen sollte, vorzubereiten.245 Doch aus verständlichen Gründen findet sich in Scholems privaten Aufzeichnungen kaum eine Erwähnung der Aktion Offenbach und der vorübergehenden Berühmtheit, die Scholem dadurch erlangt hatte, abgesehen von einem kurzen Tagebucheintrag, in dem er von einem Wiedersehen mit Joseph Schwartz, dem damaligen Direktor des Joint in Europa, in Jerusalem berichtet: „4. August [1948] – Gestern Abend mit Senator auf eine Art Empfang für Dr. Joseph Schwarz [sic] vom Joint und dort auch Mr. Goldstein, den ich von Paris her kannte, getroffen. Unterhaltungen über die Büchersachen. Schwarz begrüsste mich mit den Worten: ‚Sie sind ja inzwischen a famous thief geworden‘“.246
244 Dazu Friedman, Roots of the Future, 111; Interview with Herbert Friedman, 12. 6. 1992, USHMM, 34f. 245 Allony, Ktav-Jad schel Mosche Rabbenu, 11–38. 246 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 107.
6.
Das Herz des Odysseus
Ach Gerhard, flicken Sie sich Ihr Herz wieder zusammen. Machen Sie es wie Odysseus; dem konnten die Goetter auch nur ein untreffbares Herz geben, weil er so voller Listen es sich immer wieder erneute. Sie wissen doch, dass dies noch nicht das Ende ist; es kann doch immer noch schlimmer kommen. Und selbst das Ende sollte man imstande sein zu ueberstehen (das heisst nicht unbedingt ueberleben). Hannah Arendt an Gershom Scholem, 27. November 19461 In meinem Herzen steht die Stadt in die mich Gott geschickt. Der Engel der dies Siegel hat wird nicht von ihr berückt. Gershom Scholem2
a.
Nach der Reise
Mit Scholems Entsendung nach Europa und seiner Rückkehr von dieser Mission setzten die Bemühungen der Hebräischen Universität ein, die von den Nationalsozialisten geraubten jüdischen Kulturgüter zu retten und rückerstatten zu lassen; im Rahmen dieses Projekts kam es noch zu drei Europareisen von Emissären der Universität. Auf Grund von Scholems bisherigen Nachforschungen und der Zusage seitens der Vertretung der jüdischen Gemeinden in Böhmen und Mähren wurde beschlossen, die Vorkehrungen für den Transport und weitere Suchaktionen zunächst auf Prag und die Tschechoslowakei zu konzentrieren: Daraufhin gingen die drei folgenden Reisen, zu deren erster sich Hugo Bergmann im November 1946 aufmachte – etwa drei Monate nach Scholems Rückkehr.3 Offenbar war es Scholems Empfehlung auf den Eindruck hin, den er im Verlauf seiner Reise vom Zustand der Bücher gewonnen hatte, die die Hebräische Universität dazu bewog, eine gemäßigtere Richtung einzuschlagen; bis dahin hatte sie sich als die alleinige Vertreterin des jüdischen Volkes und als die legitime Erbin der geraubten jüdischen Kulturschätze verstanden, deren Besitzer nicht mehr auffindbar waren. Die Grundzüge der von der Universität zunächst verfolgten Linie waren durch die juristische Kommission und deren Memorandum 1 Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 140–142. 2 Vierte Strophe des Gedichts „Gruß vom Angelus“, das Scholem an Walter Benjamin zu dessen Geburtstag 1921 geschickt hatte; abgedruckt in: Scholem, The Fullness of Time, 64–66. 3 Eine tabellarische Auflistung all dieser Reisen bei Schidorsky, The Salvaging, 204. Bergmanns Tagebuchaufzeichnungen von seiner Reise sind erhalten in: Bergmann, Tagebücher und Briefe, 700–706.
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Das Herz des Odysseus
bestimmt.4 Wie schon erwähnt, war Scholem in Anbetracht der Aufbewahrungsverhältnisse und der Gefahren, die den Büchern von Seiten etwaiger Diebe wie auch aufgrund der internationalen Rechtslage drohten, zu der Einsicht gelangt, die jüdischen Zentren in aller Welt müssten sich zusammenschließen, um die Bücher so bald wie möglich aus Deutschland abtransportieren zu lassen; über die Verteilung innerhalb der jüdischen Welt könne später entschieden werden. Bei der Sitzung des „Komitees für die Rettung des jüdischen Raubguts“ bald nach Scholems Heimkehr, bei der auch der Vorsitzende der CJCR, Salo W. Baron, zugegen war, fielen zwei wichtige Entscheidungen in dieser Richtung.5 Die eine ging dahin, dass die Kommissionen in Jerusalem und in New York enger zusammenarbeiten und einander über die jeweiligen Beschlüsse informieren sollten, die andere war eine auf Scholems Ausführungen hin einstimmig angenommene Verlautbarung, der Abtransport der Bücher aus Deutschland sei dringend und habe den Vorrang vor der Frage nach deren Verteilung.6 Mit der Zeit entwickelte die Hebräische Universität auch mehr Verständnis für die Bedürfnisse der verschiedenen jüdischen Zentren in aller Welt, insbesondere in den USA. Die Rivalität der jüdischen Zentren untereinander nahm gleichzeitig ab – unter anderem dank der Tatsache, dass der jüdischen Nationalbibliothek das Recht der ersten Wahl unter den zu restituierenden Büchern gewährt wurde.7 Ein wesentlicher Beitrag zur Schaffung dieser mehr oder weniger einheitlichen Linie der jüdischen Einrichtungen in aller Welt war die Ablösung der JCJR im April 1947 durch eine Art Dachverband für sämtliche Bemühungen um die Restitution geraubter jüdischer Kulturschätze, die Jewish Cultural Reconstruction Inc. (JCR). Diese Institution war für die Auffindung, Sammlung und Verteilung des Kulturbesitzes unter die verschiedenen jüdischen Zentren zuständig und bestand bis 1952. Schließlich teilten sich Israel und die USA 85 Prozent der Kulturgüter, 8 Prozent gingen nach Europa (die Hälfte davon nach Großbritannien), und der Rest, ca. 7 Prozent, wurde unter die übrigen jüdischen Zentren in aller Welt
4 S. o. Kapitel 5. 5 Das Komitee zur Rettung der Schätze der Diaspora, Sitzung am 12. Ellul 5606 (8. 9. 1946), NLI Archiv, Akten Ozrot ha-Gola. Die Teilnehmer waren: „Der Rektor [M. Fekete] als Vorsitzender, Prof. S. Baron als Gast, Prof. Buber […] Dr. Banet, Prof. Guttmann, Herr Dinaburg, Prof. Weil, Dr. Senator […] und Prof. Scholem“. Auf der Tagesordnung stand „allgemeine Beratung in Sachen Rettung der Schätze der Diaspora [Ozrot Ha-Gola]“. 6 So im (hebräischen) Protokoll der Sitzung (s. vorige Anm.), S. 3 und 6. Im selben Sinne schrieb Scholem am Ende des Rechenschaftsberichts über seine Mission: „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Bücher trotz aller Versprechungen gefährdet sind, solange sie sich in Deutschland befinden, insbesondere im Fall von Veränderungen in der Verwaltung (des OAD). Der wichtigste Schritt besteht darin herauszuholen, was herauszuholen ist – wohin, ist eine zweitrangige Frage“ (Scholem, Din we-Chschbon schel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 374). 7 Schidorsky, The Salvaging, 211.
Nach der Reise
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verteilt.8 Solange diese Organisation bestand, hatte Salo W. Baron den Vorsitz, als Generalsekretäre fungierten Joshua Starr und nach ihm Hannah Arendt; eine Zeitlang amtierte, wie schon erwähnt, auch Scholem als stellvertretender Vorsitzender. Äußerlich betrachtet war Scholems Mission also erfolgreich gewesen: Er hatte Informationen gesammelt und Kontakte zu den jüdischen Gemeinden in der Tschechoslowakei geknüpft, die erheblich dazu beitrugen, dass von dort viele Bücher an die Hebräische Universität gelangten.9 Außerdem hatte er durch vorbereitende Gespräche mit deutschen Bibliotheksdirektoren in Frankfurt und in München Möglichkeiten nicht nur für die Restitution geraubter jüdischer Bücher aufgetan, sondern auch den Weg zu Verhandlungen über Entschädigungen geebnet, im Zuge derer jüdische Manuskripte übereignet werden sollten, die sich rechtmäßig im Besitz deutscher Bibliotheken befanden. Darüber hinaus hatte seine intensive Arbeit im Offenbacher Archiv-Depot, beim Sichten und Verpacken der Bücher und seine Bemühungen um deren Wegschaffung aus Deutschland letzten Endes dazu geführt, dass Kisten mit wertvollen Manuskripten und Büchern durch Herbert Friedman heimlich auf den Weg nach Jerusalem gebracht wurden. Ohne diese Initiative wären diese 378 Schriften nicht in das Magazin der Nationalbibliothek gekommen. Von der Hebräischen Universität wurden Scholems Leistungen vollauf gewürdigt: „Trotz der vielen Schwierigkeiten ist es Ihnen gelungen, uns eine Fülle von Informationen aus dem Ausland zu verschaffen und die Situation zu klären“, schrieb Werner Senator in dem offiziellen Dankschreiben der Universität nach Scholems Rückkehr. „Sie haben wichtige Kontakte hergestellt, und wir hegen die Hoffnung, dass es dank Ihres Wirkens schließlich gelingen wird, Materialien zu bekommen, die für unsere Nationalbibliothek sehr wichtig sind.“10 Auch Scholem selbst resümierte in seinem abschließenden Rechenschaftsbericht, er habe die ihm aufgetragene Mission weitgehend durchführen können.11 In den Wochen unmittelbar nach seiner Rückkehr hatte Scholem noch mit der Abwickelung von Angelegenheiten zu tun, die mit seiner Reise zusammenhingen: Aus verschiedenen Orten in Europa erhielt er Briefe mit weiteren Informationen über Bücher sowie Bitten, die akademischen Kontakte 8 Schidorsky, Gwilim nisrafim, 226–237; Plunder and Restitution, SR-187; s.a. Cohen Grossman, Scholar as Political Activist, 152f. 9 Dazu Schidorsky, ebd., 254–263; Braunová, Origin of the Book Collection, 166–168. 10 Senator an Scholem (hebr.), 1. 9. 1946, NLI Archiv, Akten Ozrot ha-Gola 1946. 11 Scholem, Din we-Chschbon schel Prof. Gershom Schalom, in: Schidorsky, Gwilim nisrafim, 357. Die zweite seiner Aufgaben, nämlich die Anknüpfung von Kontakten zu jüdischen Institutionen in Bezug auf die Bücher, habe er allerdings nur teilweise erfüllen können, da es an autorisierten jüdischen Einrichtungen und Personen fehlte, mit denen er hätte verhandeln können (ebd.).
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Das Herz des Odysseus
nach den Jahren des Weltkriegs wiederaufzunehmen; auch er schickte Briefe nach Europa, sowohl was die jüdischen Bücher betraf, als auch an alte und neue Bekannte und Freunde. Während dieses Zeitraums war er überdies mit der Abfassung des Rechenschaftsberichts über seine Europareise beschäftigt; außerdem veröffentlichte er einen Bericht über seine Mission in der hebräischen Tageszeitung Haaretz und hielt einen Vortrag über das Leben von Juden in Deutschland nach dem Holocaust, der ebenfalls in Haaretz gedruckt wurde.12 Doch trotz des äußerlichen Anscheins von Geschäftigkeit und dem erfolgreichem Abschluss seiner Mission war Scholem an Leib und Seele gebrochen heimgekehrt. Der in Berlin erlittene Unfall sowie die Eindrücke des Gesehenen und Erlebten hatten ihn physisch wie psychisch so erschöpft, dass ihm die Hebräische Universität eine Woche nach seiner Rückkehr 50 Pfund für einen Erholungsurlaub bewilligte.13 Den Zustand, in dem er sich bei der Ankunft aus Europa befand, schilderte seine Frau Fania viele Jahre später: Als er ins Land zurückkam, war er körperlich geschwächt und geistig niedergeschlagen. Die meisten Stunden am Tag lag er untätig rum, sprach mit kaum jemand, und wiederholte nur immer wieder Sätze wie: „Das jüdische Volk ist ermordet, existiert nicht mehr, nur noch schwer angeschlagene Wracks, kraft- und richtungslos. Der Quell, aus dem wir Kraft schöpften, ist nicht mehr, das Volk ist an der Wurzel abgehauen. Und wir in Israel, eine Handvoll Leute, die letzten Überlebenden. Werden wir die Kraft aufbringen, die freie und schöpferische Gesellschaft zu errichten, zu deren Aufbau wir hierher gekommen sind? Vielleicht werden wir es nicht schaffen und zugrundegehen, denn wir haben unseren organischen Zusammenhalt verloren, wir sind verwaist“. Er pflegte auf dem Bett zu liegen, wechselte von einer Lagerstatt zur andern und fand keine Ruhe. Scholem war untröstlich, und es dauerte ein ganzes Jahr, bis er sich einigermaßen erholt hatte.14
Einige resignative Äußerungen kehren in seinen Reiseberichten ständig wieder: die Klagen, vom Joint nicht die nötige Unterstützung zu erhalten; das Gefühl, zu spät gekommen zu sein und daher vieles versäumt zu haben, aus Mangel an Zeit das gesteckte Ziel nicht zu erreichen – das waren Symptome einer zunehmenden Depression. Dieser Eindruck geht deutlich aus seinem Reisetagebuch sowie aus seinen aus Europa geschickten Briefen hervor. Aus diesen Dokumenten ist zu entnehmen, dass sich sein Zustand mit der Einreise nach Deutschland, ins Land seiner Kindheit und Jugend, verschlimmerte; seine Äußerungen aus der Zeit seines Aufenthalts in Paris und in der Tschechoslowakei klingen nicht ganz so verzweifelt. Zwischen dem äußeren Verlauf seiner Reise und der Entwicklung seines Gemütszustands ist demnach ein Zusammenhang zu beobachten; richtig 12 Scholem, Ha-Jehudim be-Germania ka-Jom; ders., Li-Scheelat ha-Sifrijot ha-schedudot (auf Deutsch in: ders., Briefe I, 472–478). 13 Senator an Scholem, 1. 9. 1946, HUA, Akten Ozrot ha-Gola. 14 Fania Scholem, be-Schulej ha-„Hakdama“ ha-awuda sche-nitgalta, 28.
Der öffentliche Aspekt
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schlimm wurde es in seiner Vaterstadt Berlin, und seine Verletzung, die zu dem Entschluss führte, seine Mission abzubrechen, markiert den Höhepunkt der inneren Krise, die er durchmachte. Wie in den vorangehenden Kapiteln ausführlich dargestellt, befand sich Scholem während des Weltkriegs und danach in schwerer seelischer Bedrängnis, die während seiner Reise durch Europa ihren Höhepunkt erreichte. Die äußeren Anzeichen dessen, was wie eine tiefe Depression aussieht, geben die inneren Vorgänge wieder, die sich bei Scholem unter dem Eindruck und parallel zu den historischen Ereignissen vollzogen. Daher scheint mir der Versuch, einen Einblick in die Krise zu gewinnen, die er während seines Aufenthalts in Europa und danach durchmachte, zugleich ein Versuch, die Einwirkung des Holocaust auf sein Leben zu ergründen. Zu diesem Zweck ist Scholems Mission aus zweierlei Perspektive zu betrachten: der öffentlichen und der persönlichen.
b.
Der öffentliche Aspekt
Wie schon erwähnt, war Scholem angeblich in erzieherischer Mission des Joint nach Europa gereist, und das war kein bloßer Deckmantel, wie seine zahlreichen Besuche in deutschen DP-Lagern sowie seine Gespräche mit französischen Juden, die er zu Beginn seiner Europareise in Paris geführt hatte, bezeugen. Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen wie auch aus seinen Briefen geht deutlich hervor, welch hohen Stellenwert er diesem Bereich seiner Tätigkeit beimaß und wie sehr er um dessen öffentliche Relevanz wusste. Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht nur, dass er dort Vorträge hielt, sondern auch, was er seinen Zuhörern zu vermitteln versuchte, soweit ein Echo davon erhalten ist: Er sprach den heimatlosen Überlebenden Mut zu, bestärkte diejenigen, die auf Einwanderungsmöglichkeit nach Palästina warteten, in ihrem Vorhaben und berichtete allen Lagerinsassen, was in Palästina politisch und geistig vor sich ging. Insofern fügte sich Scholems Wirken in Europa in die Tätigkeit all der zionistischen Emissäre ein, die aus Palästina zu den Überlebenden nach Europa entsandt wurden; deren Berichte lassen sich zur Verdeutlichung und Ergänzung von Scholems Erfahrungen heranziehen. Auch für die übrigen Vertreter der Juden in Palästina war die Begegnung mit den Überlebenden alles andere als einfach, denn dadurch wurden ihnen die Dimensionen der Tragödie erst so richtig bewusst. So schreibt Irit Kenan in ihrer einschlägigen Studie: Die Emissäre waren als Zionisten ausgezogen, sie wollten den in Europa übriggebliebenen Juden eine Botschaft von ihren Brüdern in Palästina bringen, sie kamen als Träger einer nationalen Vision. Art und Umfang der Katastrophe, die ihr Zielpublikum
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Das Herz des Odysseus
betroffen hatte, wurden ihnen erst klar, als sie die Lager betraten und den Überlebenden von Angesicht zu Angesicht begegneten.15
Der Hauptgrund, weshalb diese Emissäre aus Palästina nach Europa entsandt wurden, war der, dass der Zionismus hoffte, sich durch die Einwanderung der in Europa heimatlos gewordenen Juden rekrutieren zu können. Die Sorge um die Zukunft des Zionismus und die Notwendigkeit, die Überlebenden so schnell wie möglich nach Palästina zu bringen, schufen eine Dissonanz zwischen den hochgespannten Erwartungen der Überlebenden einerseits und den Befürchtungen, sie hätten vielleicht nicht genug zionistisches Engagement und Willenskraft, um noch einen Kampf auf sich zu nehmen.16 Die Diskrepanz zwischen dem Auftrag, mit dem die Emissäre ausgezogen waren, und der ihnen entgegentretenden Realität samt der emotionellen Belastung durch die Begegnung mit den Überlebenden rief in ihnen den Eindruck hervor, zwischen zwei völlig verschiedenen Welten zu stehen. Auf der einen Seite standen ihre Auftraggeber in Palästina, denen nicht klar war, wie verzweifelt es um die Lage in Europa bestellt war, auf der anderen Seite fiel es ihnen selbst nicht leicht, sich in die Mentalität der Juden einzufühlen, die in Europa überlebt hatten. Diese Situation, noch verschärft durch objektive Schwierigkeiten im Nachkriegsdeutschland, etwa das völlige Fehlen von postalischen oder telegraphischen Kontaktmöglichkeiten zwischen Deutschland und Palästina, gab den Emissären häufig das Gefühl, allein auf verlorenem Posten zu stehen. Zu ihrer anstrengenden und aufreibenden Tätigkeit in den Lagern kamen oft noch bürokratische Schwierigkeiten im Umgang mit den amerikanischen Militärbehörden und der UNRRA hinzu.17 Für Scholem etwa war das zermürbende Warten auf die Einreiseerlaubnis nach Deutschland und die unbefriedigende Zusammenarbeit mit dem Joint ein Grund zur Frustration. Außerdem war seine Situation in mancher Hinsicht noch schwieriger als die der zionistischen Emissäre: Von den mangelnden Kontakten nach Hause und dem Missverhältnis zwischen dem erhaltenen Auftrag und den faktischen Möglichkeiten seiner Ausführung einmal abgesehen, war er noch isolierter als andere, da er keiner Organisation angehörte, die ihm logistischen und emotionellen Rückhalt geboten hätte. Gerade die Besonderheit seiner Mission erschwerte ihm die Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Situation, mit der er konfrontiert war; insofern ist es durchaus verständlich, dass er sich oft isoliert und im Stich gelassen fühlte. Vielleicht war es diese extreme Isoliertheit, die ihm gelegentlich geradezu den Eindruck vermittelte, hinter den Kulissen gäbe es Absichten, das Gelingen seiner Mission zu vereiteln. Völlig grundlos waren solche Befürchtungen nicht, denn es 15 Kenan, Lo Nirga ha-Raaw, 110. 16 Dazu Kenan, ebd., 158–160. 17 Dazu Kenan, ebd., 112–114, 166f.
Der öffentliche Aspekt
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bestand ja eine lebhafte Rivalität zwischen den verschiedenen jüdischen Zentren auf der Welt: Wer das Recht habe, die Ansprüche des Judentums nach dem Holocaust zu vertreten, und wer als der legitime Erbe des erbenlosen jüdischen Besitzes in Europa zu gelten habe, war durchaus umstritten. In Bezug darauf hatte Scholem seine festen Vorstellungen. Doch durch die gegenläufigen Interessen der in der amerikanischen Besatzungszone tätigen amerikanisch-jüdischen Organisationen und der palästinischen Juden, deren Vertreter er war, entstand für ihn ein sehr pessimistisches Bild bezüglich der Zukunft der Judenheit, das von der Sorge um das Schicksal der jüdischen Kulturschätze, zu deren Rettung er ausgezogen war, zusätzlich verdüstert wurde. Unter dem Druck dieser Umstände sah er sich gezwungen, von der strikten Linie der Hebräischen Universität abzuweichen und die Errichtung eines Dachverbands zu befürworten, der die Interessen sämtlicher jüdischer Zentren vertreten und nach außen hin eine einheitliche Front schaffen sollte. Ein weiteres Gefühl, das sich in Scholems Reiseberichten immer wieder artikulierte, ist das Bewusstsein, zu spät gekommen zu sein, wodurch die jüdischen Interessen erhebliche Einbuße erlitten hätten: Viele Bücher waren bereits in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt worden und somit verloren, viele andere wiederum waren unauffindbar. Ganz ähnlich erging es den zionistischen Emissären aus Palästina im Zuge ihrer Mission: Oft bekamen sie von den Überlebenden in den Lagern Vorwürfe zu hören, sie seien zu spät gekommen, das Kriegsende liege schon sieben Monate zurück. Diese Enttäuschung wirkte sich ungünstig auf das Verhältnis zwischen den Überlebenden und den zionistischen Abgesandten aus und stellte für letztere eine schwere Belastung dar.18 Für Scholem, der selbst in Palästina lebte und von der dortigen jüdischen Führung nach Europa entsandt worden war, verschärfte die Konfrontation mit den Überlebenden offenbar das Gefühl der Wort- und Hilflosigkeit, das er bereits 1943 in seinem Brief an Dinaburg (Dinur) artikuliert hatte.19 Mit Blick auf seine damals geäußerte Position war das Gefühl, zu spät gekommen zu sein, eigentlich unausweichlich. Als Zionist, der die Möglichkeit der Koexistenz von Juden und Deutschen verneinte und sich für die Erneuerung des jüdischen Volks in Palästina aussprach, empfand er das tragische Ende des europäischen Judentums besonders stark und fühlte sich dagegen machtlos. Die Einsicht, dass der Zionismus seiner eigentlichen Aufgabe von vornherein nicht gewachsen gewesen sei, weil er die Situation der Juden in Europa (notgedrungen) verkannt habe, traf Scholem 1946 angesichts der traurigen Überreste des europäischen Judentums 18 Kenan, ebd., 104f.; s.a. die Aussagen des Leiters der palästinischen Delegation, die im Auftrag der UNRRA und der Jewish Agency für die Überlebenden tätig war: Yahil, Peulot haMischlachat, 9. 19 S. o. Kapitel 4.
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Das Herz des Odysseus
aufs Neue schmerzlich. In den Trümmern, in den Augen der heimatlosen Überlebenden und auf den Seiten der herrenlos zerstreuten Bücher – überall sah Scholem die Machtlosigkeit des Zionismus illustriert. Doch gleichzeitig wusste er, dass aus diesen Überresten der physische und geistige Fortbestand der jüdischen Existenz nach der Katastrophe hervorwachsen müsse. Diese paradoxe Situation, in der Eindrücke der Zerstörung und des Wachstums, des Untergangs und der Notwendigkeit zum Weitermachen neben- und gegeneinander wirkten, war auch für Scholems persönliche Verfassung im Zuge seiner Mission charakteristisch.
c.
Der persönliche Aspekt
Im Grunde ist eine strikte Scheidung zwischen Scholems Funktion als Emissär des Jischuws in Palästina und seinem privaten Gemütszustand gar nicht möglich. Sowohl in seinem äußeren Leben als auch bei der Herausbildung seiner Persönlichkeit nahm der Zionismus eine so wichtige Funktion ein, dass diese beiden Bereiche untrennbar ineinander verwoben waren. Jedenfalls lässt sich vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten mit Sicherheit sagen, dass Scholems Europaaufenthalt im Sommer 1946 für ihn von großer persönlicher Bedeutung war und sich auch auf seine Einstellung zum Zionismus auswirkte. Der Versuch, diese persönliche Bedeutung zu ergründen, ermöglicht einen Einblick in die innere Reise Scholems in Europa; parallel zur geographischen Ortsveränderung lassen sich die Veränderungen in seinem Inneren, die durch das Erlebte bewirkt wurden, nachvollziehen. Vielleicht bietet ein solcher Versuch auch Aufschluss über den Grund, weshalb sich Scholems Gemütszustand im Verlauf der Reise zusehends verschlechterte. Zu diesem Zweck ist die Betrachtung von der Ebene der äußeren Ereignisse auf die symbolische zu verlagern; dort lässt sich aufgrund der erhaltenen persönlichen Aussagen zumindest vermuten, was diese Reise für Scholem symbolisierte. Die geraubten jüdischen Bücher, zu deren Auffindung und Heimholung Scholem ausgezogen war, waren für ihn mehr als nur ein Stück jüdischen Besitzes, das es zu restituieren galt; diese Bücher stellten die kulturelle Überlieferung des jüdischen Volkes dar und den Schlüssel zu dessen geistigem Fortbestand nach dem Holocaust. Die Frage, wem diese erbenlosen Bücher gehören sollten, ging, wie gesagt, mit der Frage zusammen, wer der wahre Vertreter des jüdischen Volkes sei und wo das Zentrum seines Fortbestands sein solle. Das Kontinuitätspotenzial für die kulturelle und geistige Existenz des jüdischen Volkes, das diese Bücher in sich bargen, verlieh ihnen während des Weltkriegs und danach hohe Bedeutung innerhalb der jüdischen Welt, so dass sich um ihren Besitz eine Rivalität der verschiedenen jüdischen Zentren untereinander ent-
Der persönliche Aspekt
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spann. Unter solchen Umständen konnten sich die Grenzen zwischen den in Europa verbliebenen jüdischen Büchern und deren weitgehend namenlosen Eigentümern verwischen, und die zu bewerkstelligende Rettung des jüdischen Raubguts geriet in Analogie zur gescheiterten Rettung ihrer jüdischen Besitzer.20 Diese Bücher konnten ohne Weiteres auch zum Symbol der Überlebenden werden – gleichzeitig Gegenstand der Hoffnung auf den Fortbestand der jüdischen Existenz und lebendiges Denkmal für die Millionen, die vernichtet worden waren. Eine solche Gleichsetzung der jüdischen Bücher mit den 1946 in Europa befindlichen jüdischen Menschen, die überlebt hatten, wurde in der Tat zu Scholems Zeit vorgenommen. Die amerikanisch-jüdische Historikerin Lucy Dawidowicz, die im Auftrag des Joint ungefähr ein halbes Jahr nach Scholem im Offenbacher Archiv-Depot Berge von Büchern ordnete, verlieh diesem Gefühl Ausdruck: The smell of death emanated from these hundreds of thousands of books and religious objects – orphaned and homeless mute survivors of their murdered owners. Like the human survivors, these inanimate remnants of a once-thriving civilization had found temporary and comfortless shelter in the land of Amalek. The sight of these massed inert objects chilled me.21
Ähnliches empfand Hugo Bergmanns Bruder Arthur beim Anblick der vielen Bücher, die er 1947 in den Räumlichkeiten liegen sah, wo über Jahrhunderte hin die Prager Beerdigungsbruderschaft die Leichname für die Beisetzung vorbereitet hatte: Beim Betreten dieser Räume befiel mich Furcht und Schrecken, denn diese schmutzigen und ungeordneten Stapel von Büchern enthüllten mir eine Handbreit von den Gräueln des Krieges.22
Für Scholem wiederum waren die Bücher nicht nur stumme Reste einer gewaltsam vernichteten Kultur, sein Verhältnis zu Büchern war seit eh und je stark emotional geprägt. Gleich nach seiner Einwanderung hatte er eine Zeit lang als Bibliothekar an der Nationalbibliothek gearbeitet, und zeit seines Lebens pflegte er seine eigene Bibliothek, die inzwischen als Scholem Collection einen Ehrenplatz in der Jerusalemer Nationalbibliothek einnimmt.23 Was also war die geistige 20 In diese Richtung zielte Cecil Roth bereits 1943, als er auf die jüdische Tradition hinwies, die die Rettung von heiligen Schriften mit dem Gebot des Freikaufs jüdischer Gefangener verknüpft (Roth, The Restitution, 257). 21 Dawidowicz, From That Place, 316. „Amalek“ ist seit biblischen Zeiten die Bezeichnung für den erbittertsten Feind des jüdischen Volkes. 22 Zit. aus dem (hebräischen) Bericht, den er nach der Rückkehr von seiner Mission der Hebräischen Universität vorlegte; abgedruckt bei Schidorsky, Gwilim nisrafim, 404. 23 Beit-Arié, Gershom Scholem as Bibliophile, 120–121. Scholem verkaufte seinen privaten Bücherbestand noch zu seinen Lebzeiten an die Nationalbibliothek. In dem am 24. Mai 1965 geschlossenen Vertrag (im Scholem-Archiv, Akte Nr. 22) verpflichtet sich die Bibliothek zu
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Das Herz des Odysseus
Realität, die sich Scholem in den Büchern offenbarte, für deren Aufspürung er nach Europa gereist war? Und was für eine persönliche innerliche Bedeutung hatten sie für ihn? Ein Hinweis darauf ist vielleicht in einem Satz zu finden, den er am 13. August 1946 schwer resigniert in sein Reisetagebuch schrieb: „Diese Mission hat mich aufgefressen und mir nichts von der inneren Erlösung verschafft, die ich mir vorgestellt hatte“.24 Darin sehe ich einen wichtigen Ansatzpunkt zum Verständnis der Motivation, die Scholem zu seiner Reise bewog. Die Beantwortung der Frage, worin die „innere Erlösung“ bestand, die er sich von dieser Fahrt erhofft hatte, gibt auch Aufschluss über den inneren Beweggrund, der ihn dazu brachte, diesen Weg weiterzugehen, bis er buchstäblich nicht mehr konnte. Das Rüstzeug des Historikers mag zwar zur Beantwortung einer solchen Frage, die eher in die Zuständigkeit des Psychologen fällt, nicht ganz ausreichen, aber ich möchte doch eine Antwort versuchen, und zwar unter Zuhilfenahme des Modells einer Reise, der üblicherweise starke Gefühlsmomente – meist religiöser Art – inhärent sind und die dem Menschen eine Lösung der materiellen Probleme seiner Gegenwart verschaffen soll, mit anderen Worten: Befreiung. Ich meine das Modell der Wallfahrt oder Pilgerreise. Um Scholems Reise nach Europa vor dem Hintergrund dieses Modells zu betrachten, soll uns die Definition der Wallfahrt durch den Anthropologen Alan Morinis dienen; dieser schreibt, der Pilger suche einen Ort auf, der für ihn ein Ideal verkörpere. Ziel der Wallfahrt sei „an intensified version of some ideal that the pilgrim values but cannot achieve at home“.25 Die besondere Situation des Offenbacher Archiv-Depots als Sammelstelle für geraubte jüdische Bücher, deren Eigentümer ermordet worden waren, verlieh diesem Ort und seinem Inhalt bei Besuchern und Personal einen besonderen Stellenwert, bisweilen geradezu den Status einer heiligen Stätte. Ein Beispiel für die starken Emotionen, die bei den dort tätigen Juden ausgelöst wurden, findet sich in einem Tagebucheintrag von Isaac Bencowitz, dem zweiten amerikanisch-jüdischen Direktor des Offenbacher Archiv-Depots: I would pick up a badly worn Talmud with hundreds of names of many generations of students and scholars. Where were they now? Or, rather, where were their ashes? In what incinerator were they destroyed? I would find myself straightening out these books and arranging them in the boxes with a personal sense of tenderness as if they had belonged to someone dear to me, someone recently deceased. […] How difficult it is to look at the
einer Zahlung von 45.000 Dollar (damals 135.000 israelische Pfund), zahlbar in monatlichen Raten von 200 Dollar (600 Pfund). Dort ist vorgesehen, dass die Bücher zu Scholems Lebzeiten bei ihm zu Hause verbleiben und erst nach seinem Tod einen eigenen Raum in der Nationalbibliothek erhalten sollten. 24 S. o. S. 222. 25 Morinis, Introduction, 4, 20.
Der persönliche Aspekt
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contents of the depot with the detachment of someone evaluating property or with the impersonal view point of scholarly evaluation26
Die riesigen Räume, vollgestopft mit Unmengen von Büchern, sowie die gleichförmige Tätigkeit des Sichtens und Verpackens, die von relativ wenig Personal vorgenommen wurde, trugen gewiss zu diesem Eindruck bei. Die oben angedeutete Verwischung der Grenze zwischen Büchern und Menschen, die sich zwischen den Mauern des Offenbacher Archiv-Depots bei vielen Besuchern und Angestellten vollzog, konnte zu Idealisierung und Verstärkung des Symbolcharakters führen. Dabei konnte der Blick des Betrachters in die Vergangenheit gehen (Symbol einer vernichteten Kultur) oder in die Zukunft (Symbol der Überlebenden und ihres Schicksals) oder in beide Richtungen gleichzeitig. Laut Morinis bewegt sich auch die Reise des Pilgers zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Der Pilger versuche, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln. Dadurch sei „all time […] collapsed into an eternal moment in which perfection overcome the incompleteness of mundane lived time“, und das sei „salvation“.27 Das Erlebnis einer solchen innerlichen Befreiung schildert Lucy Dawidowicz in ihrer Autobiographie. Gegen Ende ihrer Erinnerungen aus Offenbach vergleicht sie ein weiteres Mal Bücher und Menschen, und zwar in ihrer ganz persönlichen Wahrnehmung. Dawidowicz hatte 1938–39 am Institut für Jiddische Studien (YIVO) in Wilna gearbeitet. Nach dem Krieg ging sie auf die Suche nach jiddischen Büchern in Europa, fand im Offenbacher Archiv-Depot Bücher, die sich in der Bibliothek des Instituts in Wilna befunden hatten, und ließ sie an die New Yorker Zweigstelle des Instituts schicken. Sie resümiert ihre Empfindungen beim Abschluss dieses Projekts wie folgt: Once the YIVO library had been shipped to New York, I felt that I had laid to rest those ghosts of Vilna that had haunted me since 1939. I had realized the obsessive fantasies of rescue which had tormented me for years. I had in fact saved a few remnants of Vilna, even if they were just books, mere pieces of paper, the tatters and shards of a civilization. The sweet memories of Vilna und of the people I had known and loved were still intact in my mind. I knew that nothing more was left to me. My fevered feeling of guilt for having abandoned them had died away. I was ready now to move ahead. I was ready now to start a new life.28
Die aus New York gebürtige Lucy Dawidowicz war mit sich selbst ins Reine gekommen, nachdem sie ihre Vergangenheit – ihre durch die Bücher symbolisierten, in Wilna zurückgebliebenen Freunde – durch die Übersendung der Bücher nach New York mit ihrer Gegenwart zusammengeführt hatte. Auch wenn 26 Poste, Books Go Home, 1703; Dicker, Of Learning and Libraries, 56. 27 Morinis, Introduction, 4, 20. 28 Dawidowicz, From That Place and Time, 326.
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Das Herz des Odysseus
sie die realen Menschen nicht hatte retten können, hatte sie doch immerhin eine symbolische Rettung vollbracht. Demgegenüber war Scholems innere Reise zur Rettung der Bücher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Für ihn, der in Berlin geboren war und die formativen Jahre seiner Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht hatte, symbolisierten die Bücher auch seine eigene zerstörte Vergangenheit – die Vernichtung der Welt, in die er hineingeboren und die bis zum Zweiten Weltkrieg eines der blühendsten Zentren jüdischer Kultur in Europa gewesen war. Demnach dürften die Intensität und Hartnäckigkeit, mit der er sich bis zum Erlöschen seiner Kraft in seine Mission hineinstürzte, Ausdruck seiner privaten Trauerarbeit gewesen sein. Der Anblick der furchtbaren Verheerung, die die vertraute Landschaft seiner Vergangenheit erlitten hatte, versperrte ihm den hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft. Stattdessen stand er schreckerstarrt vor der riesigen Katastrophe, wie der „Engel der Geschichte“ seines Freundes Walter Benjamin, der sechs Jahre zuvor den Selbstmord gewählt hatte, um seinen Verfolgern nicht lebend in die Hände zu fallen.
d.
Schlusswort
Die Jahre des Holocaust markierten einen persönlichen Wendepunkt in Scholems Leben; Tendenzen, die bereits in früheren Jahren angelegt waren, vertieften sich. Dass sich von Scholem keine öffentliche Stellungnahme oder eine privat formulierte klare Position zu diesem Thema findet, ist kein Beleg dafür, dass er davon nicht beeinflusst gewesen wäre, eher im Gegenteil. Der Eindruck, den ein dermaßen extremes historisches Ereignis bei einem Menschen hinterlässt, wie weit er es verinnerlicht hat, lässt sich nicht aus seinem Schweigen darüber in der Öffentlichkeit ablesen, solche Dinge sind überhaupt kaum mit Sicherheit zu entscheiden.29 Doch die wenigen bekannten Fakten und die verschiedenen erhaltenen Zeugnisse bieten Grund zu der Annahme, dass das Geschehen des Holocaust bei Scholem an sehr intime und empfindliche Schichten rührte, und das war der Grund, weshalb er sich außer Stande fühlte, rational, systematisch und gelassen darauf einzugehen. Während des Zweiten Weltkriegs verlor er zusätzlich zu Walter Benjamin auch seinen Bruder Werner – der ihm von seinen Brüdern am nächsten gestanden hatte und im Sommer 1940 in Buchenwald ermordet worden war. Außerdem verstarb 1945 Hans Lewy aus dem PilegeschKreis, und 1946 starb seine Mutter, Betty, in Australien. Aus Scholems oben angeführtem Brief an Ben-Zion Dinur ist zu entnehmen, dass er sich nicht befugt 29 Dazu Shapira, Ha-Schoa u-Milchemet ha-Olam, 244f; Aschheim, Scholem, Arendt, Klemperer, 33f.
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oder reif dazu fühlte, direkt über die Katastrophe zu sprechen, weil ihm die dazu erforderliche historische Perspektive fehlte. Vielleicht verließ ihn dieses 1943 artikulierte Gefühl der unmittelbaren Betroffenheit im Lauf seines Lebens nie zur Gänze, und deshalb konnte er das Thema nie aus der Distanz des Historikers heraus angehen. Auch eine tiefgreifende Äußerung zum Tod seines Bruders Werner ist bis jetzt nirgends belegt, keine Analyse dessen, was in ihm vor sich ging, nicht einmal ein Ausdruck von Mitgefühl angesichts der jahrelangen Inhaftierung und schließlichen Ermordung des Bruders im Konzentrationslager; aber es wäre sicher verfehlt, daraus schließen zu wollen, dass Scholem vom tragischen Schicksal seines Bruders und dessen Familie unberührt geblieben wäre.30 Dies waren auch formative Jahre für Scholems Forschungstätigkeit. Moshe Idel sieht im Zweiten Weltkrieg einen Wendepunkt in Scholems Denken, fassbar als „extreme Ablehnung der deutsch-jüdischen Gelehrsamkeit im 19. Jahrhundert und eine Hinwendung zur Geschichte als Hauptthema sowohl des Kabbalisten als auch des Kabbala-Forschers einschließlich der Wissenschaftler des Judentums“.31 Die Jahre des Holocaust hätten bei Scholem den Glauben an das Metaphysische erschüttert, der in seinem früheren Denken noch zu beobachten gewesen sei, und eine Schwerpunktverlagerung aufs Historische ausgelöst: „Die Vernichtung der deutschen Juden hat Scholems dramatischste Wendung bewirkt: von der Suche nach metaphysischer Transzendenz zur Erforschung einer von irrationalen Mächten beherrschten dynamischen Geschichte“.32 Aufgrund der verschiedenen Zeugnisse und Quellen lassen sich zwei entscheidende Veränderungen aufzeigen, die sich bei Scholem in den Jahren des Krieges und des Holocaust vollzogen. Auf der persönlichen Ebene verstärkte sich das Gefühl der Isolation, Depression und der Mangel an Verbundenheit mit Umwelt und Mitmenschen. In ideologischer Hinsicht erfuhr sein Verhältnis zum Zionismus eine Krise, denn angesichts der historischen Entwicklung stellte sich heraus, dass der Zionismus in der Vergangenheit wie in der Gegenwart weder eine Lösung für das Problem der jüdischen Existenz im Exil anzubieten hatte noch eine sichere Perspektive für eine jüdische Existenz im eigenen Land darstellte und somit auch keine neue Gesellschaft im Sinne von Scholems zionistischer Vision schaffen konnte. Durch seine Europareise, die er im Auftrag der jüdischen Führung Palästinas antrat, um jüdische Kulturschätze aus dem Exil zu retten, war sein Zustand noch schlimmer geworden. Dort trat ihm das Ausmaß der 30 Werner Scholems Frau, Emmy, war mit den beiden Töchtern, Edith und Renée, nach England geflüchtet; nach dem Krieg lebten sie in London, wo Scholem sie besuchte; dazu ausführlich: Zadoff, Der rote Hiob. Die autobiographische Schrift Von Berlin nach Jerusalem ist dem Andenken Werner Scholems gewidmet. S. auch: Zadoff/Zadoff, From Mission to Memory. 31 Idel, Zur Funktion von Symbolen, 90. 32 Idel, ebd.; vgl. Idel, Academic Studies of Kabbalah, 107f.
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menschlichen Katastrophe vor Augen, die ihm zugleich die Tragweite der kulturellen Katastrophe deutlich machte. Sein verborgener Wunsch, diese Reise möge ihn innerlich befreien und erlösen, ihm helfen, die Eindrücke des historischen Geschehens zu überwinden und damit zu Rande zu kommen, erfüllte sich nicht. Anstatt dass er mit sich und seiner Gegenwart ins Reine kam, verschärfte die Begegnung mit Europa, insbesondere mit Deutschland im Jahr 1946, die emotionelle Bedrängnis und rieb seine Kräfte auf. Nach seiner Rückkehr schrieb er in einem Brief an Hannah Arendt, dass „diese Reise mir das Herz gebrochen hat, wenn es so etwas gibt (wie ich vermute). Jedenfalls habe ich meine Hoffnung in Europa zurückgelassen. Wo ich sie wieder finde, möchte ich auch gern wissen“.33 Das Gefühl der Resignation und Hilflosigkeit, mit dem Scholem aus Europa zurückgekehrt war, begleitete ihn noch monatelang, doch durch das historische Geschehen war eine Realität entstanden, in der man nicht passiv bleiben konnte. Die gewaltsamen Ausschreitungen zur Zeit des Auslaufens des britischen Mandats in Palästina, die Gefahr, dass der junge israelische Staat gleich bei seinen ersten Schritten in einem Meer von Blut untergehen könnte, und der Krieg, der sogleich mit der Ausrufung dieses Staates ausbrach, verlangten von der jüdischen Bevölkerung vor Ort den Einsatz all ihrer seelischen und physischen Kräfte. Die Zeit der Belagerung Jerusalems im Frühjahr 1948 verbrachte Scholem mit der Lektüre von Rosenzweigs Schriften, unterbrochen durch gelegentliche Schanzarbeiten. Mit den frisch ernannten Archäologen des Militärgebiets Jerusalem, Immanuel Ben-Dor und Benjamin Masar (Maisler), besuchte Scholem die Jerusalemer Altstadt (wo er bei der Neuordnung der Bibliothek in der DormitioBasilika behilflich war, denn diese hatte durch die Kampfhandlungen gelitten und war zu einem Stützpunkt der jüdischen Untergrundbewegung geworden), den protestantischen Friedhof auf dem Zionsberg und das Stadtviertel Jemin Mosche. Wie die meisten Bewohner der zeitweilig abgeschnittenen Stadt pflegte auch Scholem enge Kontakte mit den belagerten Jerusalemern; unter den Besuchern im Hause Scholem befand sich auch der Oberbefehlshaber der Hagana im Großraum Jerusalem, David Schaltiel. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Scholem, dass Schaltiel während seiner achtmonatigen Inhaftierung im KZ Dachau 1936 im selben Block gewohnt hatte wie Scholems Bruder Werner.34 Der bevorstehenden Errichtung des Staates Israel sah Scholem mit einiger Skepsis entgegen. In der Aufeinanderfolge von Vernichtung und Auferstehung sah er eine nicht ungefährliche Prüfung für das jüdische Volk, wodurch die jüdische Problematik mit voller Wucht zutagetreten müsse. In einem Brief an 33 Scholem an Arendt, 6. 11. 1946, in: Arendt/Scholem, Briefwechsel, 131–133. 34 Über sein Leben während des israelischen Unabhängigkeitskrieges berichtet Scholem ausführlich in: Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 91–107.
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Bergmann von Ende 1947 verleiht er seiner Sorge deutlichen Ausdruck: „Wenn die Entstehung des Judenstaates uns vergönnt sein wird, und er nicht gleich am Anfang […] untergeht, dann wird sich uns die Frage des Judentums und der jüdischen Tradition zum letzten Mal und gerade in schärfster Form stellen, und wer weiß, was geschieht und welchen Weg die Juden in ihrem Staat gehen werden. Ich lebe in der Verzweiflung und kann nur aus der Verzweiflung heraus tätig sein“.35 In einer Tagebuchaufzeichnung vom Juli 1948 rechnet er damit, dass sich „das Problem des Staats und des Judentums im neusten Stand der Dinge bald stellen“ werde.36 Jahre später rekonstruierte Fania Scholem die damaligen Befürchtungen ihres Mannes: Als der Staat errichtet wurde, hat er gesagt, dass wir dafür teuer bezahlen müssten. Zwei gewichtige Ereignisse – Holocaust und Neubelebung – von denen das Volk nacheinander heimgesucht wurde – das sei mehr als was ein Volk unbeschadet ertragen könne. Wir müssten mit einem geistigen und moralischen Niedergang des jüdischen Volkes rechnen. Wenn bei einem kranken Organismus eines seiner Glieder verletzt sei, ströme das ganze Blut dorthin; bei uns strömten alle Begabungen und Kräfte in den Bereich der Sicherheit, und das sei einer der Gründe für den geistigen Niedergang.37
Indirekt äußerte Scholem seine Sorge und Kritik gegenüber der von dem jungen Staat eingeschlagenen Richtung auch in einem 1948 auf Hebräisch veröffentlichten Aufsatz über die Geschichte des so genannten Davidssterns, der zum Symbol der israelischen Flagge gewählt worden war.38 Darin legte Scholem dar, das Hexagramm sei „kein jüdisches Symbol, und schon gar nicht ‚das Symbol des Judentums‘“, und dem Davidschild hätten die Weihe eines echten Symbols eigentlich erst jene verliehen, „die es zu einem Mal der Erniedrigung und der Schande für Millionen gemacht haben“.39 Damit wollte Scholem eine Trennwand zwischen dem nationalen Symbol und den diesem beigelegten religiösen Konnotationen errichten – d. h. er strebte für den jungen israelischen Staat die Trennung von Religion und Politik an. Außerdem rief er dem so rasch zum Sieger gewordenen Volk jene Zeit in Erinnerung, als es unterdrückt gewesen war, wodurch er vielleicht dem Hochmut entgegenwirken wollte, der sich bei den Bewohnern des neuen Staates auszubreiten begann.40 Auf paradoxe Art und Weise waren für Scholem das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Verinnerlichung der katastrophalen Dimensionen des Holocaust und die territoriale Verwirklichung
35 Gershom Scholem an Escha und Hugo Bergmann (hebr.), 15. 12. 1947, in: Scholem, Briefe II, 331. 36 Scholem, Tagebücher. Ende 1922, 100. 37 Fania Scholem, Fania Schalom mesaperet al Gershom Schalom. 38 Scholem, Das Davidschild, 75–118. 39 Ebd., 11, 53. 40 S. auch: Zadoff, Gershom Scholem, The Star of David.
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des zionistischen Traums, der sich so kurz nach der Katastrophe vollzog, ein Symbol für seine beginnende Rückorientierung nach Europa und Deutschland.
Dritter Teil: Nostalgie: Ein tiefes Heimweh (1949–1982) Dort, in der wertvollen Bibliothek des bis aufs letzte erfahrenen, witzigen Scholem sind ein Dutzend Professoren und Schriftsteller versammelt, alle sprechen deutsch, alle sprechen von Deutschland, von deutschen Erinnerungen, deutscher Literatur, ja deutscher Literaturpolitik, wie Werner Weber sagen würde, sie vernichten ein jeder irgend einen einstigen oder noch lebenden Gegner und erheben irgend einen Auserwählten in die Sterne. Es ist wie es vor 50 Jahren war, sie wissen ebensoviel wie damals, sie sind brillant und formulieren schlagend, aber etwas ganz Neues ist hinzugekommen, das sie nicht wahrhaben wollen: das Heimweh, ein tiefes Heimweh, das selbst ihre kritischen Äusserungen verklärt. Karl Burckhardt an Max Rychner, 19. 11. 19621
1 Burckhardt/Rychner, Briefe 1926–1965, 242.
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Daher – mögen alle deutschen Betschwestern in keuschem Entsetzen die Augen verdrehen, – wünsche ich in tiefster Seele, Ascona möchte einmal ein Zufluchtsort werden für Entlassene oder entwichene Strafgefangene, für verfolgte Heimatlose, für alle diejenigen, die als Opfer der bestehenden Zustände gehetzt, gemartert, steuerlos treiben, und die doch die Sehnsucht noch nicht eingebüßt haben, unter Menschen, die sie als Mitmenschen achten, menschenwürdig zu leben. Erich Mühsam 19051
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Kurz vor der Ausrufung des Staates Israel wurde Gershom Scholem fünfzig Jahre alt. Seine wissenschaftliche Karriere hatte ihn bereits zu einer der herausragenden akademischen und öffentlichen Stimmen in Palästina werden lassen. Bis zur Staatsgründung und in verstärktem Maße danach war Scholem an vielen akademischen Projekten beteiligt; seine wissenschaftliche Arbeit wurde mit fast allen Preisen und Ehrungen bedacht, die der Staat Israel zu vergeben hatte. Einen Höhepunkt der Anerkennung stellte seine Amtszeit als Präsident der Israelischen Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1968–1974 dar.2 Parallel zu seiner Tätigkeit in Israel widmete Scholem auch der akademischen Welt in den USA einiges seiner Zeit und Energie. Durch Forschungsaufenthalte an verschiedenen Universitäten, Veröffentlichungen in englischer Sprache, Vorträge und enge Beziehungen zu Kollegen in Übersee nahm er Einfluss auch auf intellektuelle Diskurse in Amerika.3 Der dritte Ort, an dem Scholem seine Tätigkeit entfaltete, war die Bundesrepublik Deutschland, gegründet im selben Jahr wie der Staat Israel. Die Jahre des 1 Erich Mühsam, Ascona (1905), in: ders., Prosaschriften I, G. Emig (Hg.), Berlin 1978, 104f. 2 Zu Scholems akademischen Erfolgen s. u. am Anfang von Kapitel 9 sowie in dem Katalog der Memorialausstellung in der Nationalbibliothek Jerusalem, Cohn/Plesser, Gershom Scholem, 46–48. 3 In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen erhielt Scholem Ehrendoktorate vom Hebrew Union College (1949) und von der Brandeis-Universität (1980). 1970 wurde er zum Ehrenmitglied der American Academy of Art and Sciences ernannt. Auch in England wurden seine Verdienste gewürdigt: 1960 erhielt er den Titel eines Forschers ehrenhalber an der Hebräischen Abteilung des University College London, und 1976 ernannte ihn die Britische Akademie zum ausländischen corresponding fellow. Die jeweiligen Urkunden befinden sich im Scholem-Archiv, Ordner 25; abgebildet sind sie im Ausstellungskatalog von Cohn/Plesser, Gershom Scholem, 49f.
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Zweiten Weltkriegs und des Holocaust hatten seiner Publikationstätigkeit in Deutschland, der er zuvor hohe Bedeutung zugemessen hatte, ein jähes Ende gesetzt. In seinem schon oben angeführten langen Brief an Walter Benjamin vom 1. August 1931 hatte Scholem noch angekündigt, er wolle mehr Deutsch schreiben, „da eben doch kein Religionshistoriker imstande ist, Hebräisch zu lesen“.4 Fast ein Jahrzehnt lang enthielt er sich dann der deutschen Sprache, aber Deutsch als Wissenschaftssprache war ihm weiterhin wichtig. Nach dem Krieg gewann Deutschland allmählich wieder Raum in seinem Denken, und er wandte sein Interesse immer mehr einem deutschsprachigen Publikum zu. Der ersten, in Kontext, in dem er nach dem Krieg seine Forschungen auf Deutsch vorstellte, bildete die Eranos-Tagung von 1949. Der Abdruck seines ersten Vortrags im Eranos-Jahrbuch symbolisierte seine Rückkehr zur deutschsprachigen intellektuellen Welt der Nachkriegszeit.
Die Bühne: Am Fuß des Monte Verità Die Geschichte der Eranos-Tagungen setzt noch vor ihrem eigentlichen Beginn im Jahre 1933 ein. Die Wurzeln jener Begegnungen, die bis heute bei Ascona am Ufer des Lago Maggiore veranstaltet werden, reichen weiter zurück, in die Vorgeschichte des Kurortes und seiner Umgebung. Dort, auf dem Mone Verità, befand sich ein Zentrum gesellschaftlicher, ideologischer und intellektueller alternativer Lebensweise.5 Während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn der Eranos-Tagungen war die Geschichte des Monte Verità in hohem Maße die einer alternativen und anti-bürgerlichen Kultur deutscher Provenienz. Die Bedeutung des Monte Verità als Zentrum alternativer und lebensreformerischer Bewegungen setzt mit dem Herbst 1900 ein, als sich eine Gruppe von sieben jungen Frauen und Männern um den holländischen Bankierssohn Henri Oedenkoven und dessen Partnerin, der Pianistin und Musikerin Ida Hofmann, auf dem Berg niederließ.6 Im Lauf der folgenden Jahre wurde der Ort zum Treffpunkt von Anhängern anti-bürgerlicher Bewegungen, die sich einer Lebensreform verschrieben hatten und sich gegen Industrialisierung und Urbanisierung aussprachen. Anfangs wurde auf dem Berg ein Sanatorium errichtet, das, neben vegetarischer Ernährung und Rohkost, auch textilfreie Luft- und Son4 Scholem, Walter Benjamin. die Geschichte einer Freundschaft, 214. 5 Der „Berg der Wahrheit“ ist eigentlich ein Hügel; sein Gipfel reicht bis 350 Meter über den Meeresspiegel und ca. 150 Meter über den Spiegel des Lago Maggiore. 6 Zur Geschichte des Monte Verità s. Conti, Abschied vom Bürgertum, 78–88; Green, Mountain of Truth; Landmann, Ascona – Monte Verità; Ries, Monte Verità, Ascona; Voswinckel, Freie Liebe und Anarchie.
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nenbäder, körperliche Arbeit sowie künstlerische und musikalische Programme für die Gäste und Patienten anbot. Nach kurzer Zeit spaltete sich die Gruppe der Gründer, und auf dem Monte Verità entstand eine zweite Naturheilstätte. Im Verlauf der folgenden zwei Jahrzehnte nahm der Berg Gäste aus nahezu allen alternativen und esoterischen Bewegungen auf, die damals in Deutschland aktiv waren: Vegetarier, Nudisten, Naturalisten, Anarchisten, Pazifisten, Vertreter des modernen Tanzes und theosophischer Vereinigungen, darunter Freimaurer (Verità Mystica Loge), Rosenkreuzler, Anthroposophen und Anhänger verschiedener psychoanalytischer Strömungen. In jenen Jahren hielten sich auf dem Berg Persönlichkeiten wie der Schriftsteller Hermann Hesse auf, der eine Zeit im Sanatorium verbrachte, um seine Alkoholkrankheit behandeln zu lassen, der jüdische Anarchist Erich Mühsam, oder zwei Vertreter aus der Künstlergruppe Der blaue Reiter. Während des Ersten Weltkriegs diente der Berg Kriegsgegnern als Zuflucht, und 1917 tagte dort der „a-nationale Kongress“, bei dem Vorträge über kulturelle und esoterische Themen gehalten wurden. So geriet der Monte Verità zum Treffpunkt verschiedener alternativen Strömungen, die dort zusammentrafen und einander beeinflussten. Die Träger des jeweiligen Gedankenguts waren in der Regel Söhne und Töchter des gehobenen deutschen Bürgertums – viele von ihnen aus jüdischen Familien –, die gegen die Lebensweise ihrer Eltern rebellierten, was sie jedoch meist nicht daran hinderte, sich von jenen ihren Aufenthalt in Ascona finanzieren zu lassen. Neben den intellektuellen und geistig orientierten Aktivitäten auf dem Berg bestand weiterhin das alternative Sanatorium, in dem Patienten Heilung für Leib und Seele suchten. Nach dem Ersten Weltkrieg gerieten Sanatorium und Hotel in wirtschaftliche Schwierigkeiten, und im Lauf der zwanziger Jahre löste sich das Zentrum auf. Ein zentrales Element der Aktivitäten auf dem Berg bestand in der Begegnung von Orient und Okzident. Die esoterischen Lehren aus dem Fernen Osten waren für fast alle auf dem Monte Verità vertretenen Bewegungen von Interesse. Als Beispiel dafür ist der Vortrag über Lao-Tse und das Dao de Jing zu nennen, den Martin Buber 1924 auf dem Monte Verità hielt. Unter den Zuhörern befand sich eine junge Witwe namens Olga Fröbe-Kapteyn, 1881 als Tochter eines holländischen Ingenieurs in London geboren. Um die Jahrhundertwende war ihre Familie nach Zürich übersiedelt, im Ersten Weltkrieg hatte Olga ihren Mann verloren. 1919 kam sie zur Erholung in das Sanatorium auf dem Monte Verità, und da ihr der Ort gefiel, kaufte ihr Vater am Ufer des Lago Maggiore für sie eine Villa mit dem Namen Casa Gabriella und stellte ihr eine Summe zur Verfügung, die ihren Unterhalt deckte. Zu jener Zeit knüpfte Olga Fröbe-Kapteyn Kontakt zu theosophischen und esoterischen Kreisen auf dem Monte Verità. Auf Bubers Vortrag hin reifte in ihr der Entschluss, ein Zentrum für religiöse und geistige Erneuerung zu gründen, das ein Ort der Begegnung von Religionen und Philosophien aus Ost und West sein sollte. Zu diesem Zweck ließ sie 1928 neben ihrem
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Wohnsitz einen Vortragssaal mit 200 Sitzplätzen bauen und ein Jahr später ein Gebäude für die Unterbringung der Gäste. In den folgenden Jahren knüpfte sie Verbindungen zu amerikanischen und deutschen Kreisen, deren Hauptanliegen die Begegnung östlicher und westlicher Kulturen war. 1930 traf sie ein erstes Mal mit Carl Gustav Jung zusammen, von dem die Eranos-Tagungen während ihrer ersten beiden Jahrzehnte stärker beeinflusst wurden als von jedem anderen.7 Zwei Jahre später suchte Fröbe-Kapteyn in Marburg den Religionswissenschaftler Rudolf Otto auf, um sich mit ihm über die Veranstaltung einer Reihe von Tagungen zu beraten, in deren Zentrum die Begegnung von Ost und West stehen sollte. Otto griff den Vorschlag begeistert auf und prägte auch den Namen, der die Tagungen von Sommer 1933 an bis heute begleitet und ihnen ihren Namen gab: Eranos.8 Der Name Eranos kommt in der griechischen Mythologie erstmals in der Odyssee vor, wo er ein Gastmahl bezeichnet, zu dem jeder der Geladenen etwas mitbringt. Im Kontext der klassischen Antike war Eranos also eine Art Picknick, eine gesellschaftliche Einrichtung mit religiöser Komponente, da die gemeinsame Mahlzeit zugleich ein Opfermahl war.9 Um die Wende des 19. Jahrhunderts wurde der Name Eranos an verschiedenen Orten in Europa von altphilologisch, aber auch und mystisch geprägten Intellektuellen wieder aufgenommen.10 Tilo Schabert hat vorgeschlagen, all diese Phänomene als Bestandteile einer „EranosBewegung“ und kulturellen Richtung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu sehen; so fügten sich die Eranos-Tagungen in Ascona in die intellektuelle Kulturlandschaft im Europa jener Zeit ein.11 Die Wurzeln dieser Tagungen liegen deshalb sowohl in einem im deutschsprachigen Europa präsenten Zeitgeist als auch in den kulturellen und geistigen Impulsen des Monte Verità selbst. Allerdings war im Sommer 1933, als die erste Tagung zum Thema Yoga und Meditation in Ost und West stattfand, nicht mehr viel übrig von dem einst sprühenden Leben, das im Lauf von gut zwanzig Jahren auf diesem Berg geherrscht hatte. Es war wohl einerseits das besondere Flair als auch die Erinnerungen an Vergangenes, die den Charakter des Ortes ausmachten und ihn zu einer Begegnungsstätte werden ließen, deren Hauptmerkmal ein von der Idee der Freiheit geprägtes soziales und politisches Denken war. 7 Dazu von Reibnitz, Der Eranos-Kreis, 426–428. 8 Hakl, Der verborgene Geist, 92; von Reibnitz, Der Eranos-Kreis, 429; Schabert, In the Fading of Divine Voices, 183. 9 Kerényi, Was bedeutet der Name Eranos; Schabert, ebd., 181. 10 Eranos nannten sich etwa eine Wiener Vereinigung zur Erforschung der antiken Klassik 1876, eine Zeitschrift für Klassische Studien in Schweden 1896, ein in Heidelberg 1904 begründeter Kreis zur Erörterung religiöser Fragen und 1924 die Festschrift für den österreichischen Dichter Hugo von Hofmannstal. 11 Schabert, In the Fading of Divine Voices, 182f.
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Der Geist von Eranos Neben der Casa Gabriella, dem Wohnsitz von Olga Fröbe-Kapteyn, steht ein kleines steinernes Denkmal mit der Aufschrift: „genio loci ignoto“. Die Stele ist dem gewidmet, was Carl Gustav Jung und der niederländische Theologe Gerardus van der Leeuw 1949 als „den unbekannten Geist von Eranos“ bezeichneten.12 Mit ihrer Errichtung sollte wohl der Geist des Ortes in Stein gehauen und symbolisiert werden. Und tatsächlich gab es wenige intellektuelle Ereignisse, bei denen der Schauplatz eine vergleichbare Rolle spielte wie bei den Eranos-Tagungen. Von 1933 bis 1988 traf hier Jahr für Jahr gegen Ende August eine illustre Gruppe in den beiden Häusern am Fuße des Monte Verità zusammen, aus deren Fenstern der Blick über das Wasser des Lago Maggiore schweift. Die Veranstaltung dauerte jeweils etwa zehn Tage und in deren Verlauf präsentierten zehn bedeutende Religionswissenschaftler ihre Beiträge: Jedem Vortrag und seinem Thema war ein ganzer Tag gewidmet; dieser begann mit einer etwa zweistündigen Vorlesung am Morgen, gefolgt von ausführlichen Gesprächen und einer gemeinsamen Mahlzeit am großen runden Tisch auf der Terrasse der Casa Gabriella. Dieser Teil der Veranstaltung, bei dem sich die Trennlinie zwischen Vortragenden und Zuhörern verwischte, stellte für viele der Teilnehmer die Höhepunkte des Tages dar. Hier bei Essen und Trinken, in gelöster, inoffizieller Atmosphäre, konnten Meinungen über die morgendliche Vorlesung ausgetauscht und Fragen von gemeinsamem Interesse diskutiert werden. So beschrieb es Adolf Portmann, einer der regelmäßigen Eranos-Teilnehmer und langjähriger Veranstalter der Tagungen: Im Schatten der großen Zeder, deren Äste sich über die Terrasse der Casa Gabriella breiten, ist den Rednern der Tagung das Mahl bereitet. Am großen runden Tisch treffen sie sich mittags und abends in buntem Wechsel während der Tagung mit einigen Gästen des Hauses. Der Blick geht über den Langensee;13 am Mittag bewegt der Wind von Italien her die Wasserfläche; der Abend vergeht in leuchtenden Farben an den Hängen des Tamaro,14 und der nun ruhige See spiegelt das letzte Licht.
Für jeden, der an den Tagungen mitgestaltet hat, sind diese Stunden am EranosTisch ein bedeutsames Glied des Ganzen. Das persönliche Gespräch vertieft den Eindruck des Vortrages durch die weiten Erfahrungen der Menschen, die sich hier treffen. Die Vielfalt der Sprachen und der Denkformen, die Schätze der Welt, die der Einzelne so verschieden nach seiner Herkunft mitbringt, das alles gibt ein
12 Dazu Bremer, The Genius Loci Ignotus, 79; ein Bild der Stele bei McGuire, Bollingen, pl. 17. 13 Der deutsche Name des Lago Maggiore. 14 So heißt der Berg auf der anderen Seite des Sees.
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Abbildung 8. Der Eranos runde Tisch, wahrscheinlich im Jahr 1947. Aufgenommen von Margarethe Fellerer
Blühen und Reifen, das die Reihe der großen Darbietungen im Vortragssaal allein nicht zu vermitteln vermöchte.15 Die hier beschriebene Atmosphäre geht gut zusammen mit dem, was mit dem Namen Eranos oben schon angedeutet wurde. Die Tagungen trugen stets den Charakter von Freizeit und Erholung, der man sich in der Umgebung der beiden Villen hingab. Der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade, ein weiterer fester Teilnehmer, charakterisierte die Treffen als eine jährliche Tanzveranstaltung mit wechselnden Teilnehmern: „L’Eranos ressemble à une danse
15 Portmann, Eranos, 9.
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qui recommence chaque année, mais toujours avec d’autres danseurs“.16 Diese Beschreibung erinnert an sommerliche Kuraufenthalte als eine feste Einrichtung des Bürgertums vor dem Zweiten Weltkrieg, während derer man sich Jahr für Jahr vor derselben Kulisse in angenehmer und feierlicher Atmosphäre zu treffen pflegte, um etwas für seine körperliche und seelische Gesundheit zu tun.17 Diese zyklische Struktur lebte in den Eranos-Tagungen wieder auf, wo vor dem Hintergrund einer atemberaubend schönen Landschaft Geistigkeit und Erholung miteinander verbunden wurden. So beschrieb Eliade die Stimmung nach seiner ersten Tagungsteilnahme im Jahr 1950 als „semimundane, semitheosophical“.18 Im Lauf der Jahre entwickelten sich die Eranos-Tagungen zu einer Art exterritorialem Bereich, in dem eigene „Sommer-Gesetze“ galten, die mit denen der Außenwelt nicht immer konform gingen. Henri Corbin, Erforscher der muslimischen Mystik, ebenfalls eine der tragenden Säulen von Eranos, sah das Geheimnis darin, dass diese Begegnungen der normalen Zeit sozusagen enthoben waren: „What we should wish to call the meaning of Eranos, which is also the entire secret of Eranos, is this: it is our present being, the time that we act personally, our way of being. This is why we are perhaps not ‚of our time‘, but are something better and greater: we are our time“.19 Corbins Beschreibung deutet an, wie stark die Eranos-Teilnehmer an der Gestaltung der Tagungen beteiligt waren und durch ihr Selbstverständnis deren Charakter bestimmten. Eranos wurde von ihnen als zeitlich wie räumlich exterritorialer Bereich wahrgenommen, der ähnlich den Veranstaltungen auf dem Monte Verità zuvor einen geschützten Raum konstituierte, eine Gegenwelt mit Bezügen zur Vergangenheit und zum Vorkriegseuropa. In dieser abgesonderten Welt konnten sie, deren Jugend im Kaiserreich und der Donaumonarchie lag, jeden Sommer in einer Art zusammentreffen, die besonders nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr existierte. Alle hier aufgeführten Umstände trugen zur Schaffung der besonderen Atmosphäre bei, die bei den Teilnehmern als auch bei den Chronisten dieses Phänomens als „der Geist von Eranos“ bekannt war.20 Das war es, was Scholem erwartete, als er im Sommer 1949 nach Ascona reiste, um dort seine erste EranosVorlesung über das Thema Kabbala und Mythos zu halten.
16 Eliade, Les danseurs passent, 60 („Eranos gleicht einem Tanz, der jedes Jahr von neuem beginnt, aber immer mit anderen Tänzern“). Auch Fröbe-Kapteyn vergleicht die Tagungen mit einer Bühnenveranstaltung (Vorwort, 5f.); s.a. Schabert, Introduction, 17 Anm. 13. 17 Mirjam Zadoff schildert in ihrem Buch das Ambiente der tschechischen Kurorte Karlsbad, Marienbad und Franzensbad mit besonderer Berücksichtigung der jüdischen Kurgäste: Zadoff, Nächstes Jahr in Marienbad, bes. 26–31; zur Verbindung von Sommerfrische und Festlichkeit bei den Eranos-Tagungen s. Schabert, Introduction, 10f. 18 Eliade, Journal, 112. 19 Corbin, The Time, XIX. 20 So etwa in der Überschrift des Buches von Hakl, Der verborgene Geist.
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Scholems jahrzehntelange Verbindung mit Eranos hatte nicht erst mit seiner eigenen Teilnahme an den Tagungen begonnen, sondern schon ein paar Jahre zuvor. Im Frühsommer 1946, während seiner offiziellen Mission in Europa, war er zum ersten Mal mit Carl Gustav Jung zusammengetroffen. Dieser Umstand ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Zum einen, weil Jung die Eranos-Tagungen in den ersten Jahren von Scholems Teilnahme entscheidend prägte, zum anderen, da jener in jüngeren Jahren ein Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung gewesen war. Für Scholem stellten Jungs Lehre und Persönlichkeit eine Herausforderung dar, mit der er sich auseinandersetzen musste, um sich ein Urteil über die übrigen Teilnehmer wie auch seine Mitwirkung an den Eranos-Tagungen bilden zu können. Scholem hatte Jung damals durch Vermittlung des Zürcher Jungianers Siegmund Hurwitz getroffen.21 Die Begegnung war für ihn ambivalent gewesen, vor allem im Hinblick auf Jungs unmittelbare Vergangenheit. Trotzdem ließ Scholem, zurück in Jerusalem, Jung ein Exemplar der 1946 erschienenen zweiten Auflage seines Buches Major Trends in Jewish Mysticism zukommen lassen. Jung bedankte sich über Hurwitz bei Scholem und bat um seine Anschrift, um sich mit der Zusendung eines eigenen Buches zu revanchieren.22 Vermutlich stand Jung hinter Olga Fröbe-Kapteyns Brief von Anfang Mai mit der Einladung, bei der nächsten Tagung im August 1947 einen Vortrag zu halten. Das Thema, Der Mensch, sei von Jung bereits festgesetzt worden, schrieb sie, und schloss den offiziellen Einladungsbrief mit der persönlichen Bemerkung: „Wir würden uns ungemein freuen, wenn Sie sich zur Mitwirkung entschliessen könnten. Ich glaube, Sie würden Ihrerseits auch viel von der Tagung haben, speziell durch die tägliche Begegnung mit anderen Rednern“.23 In seinem Antwortschreiben erklärte Scholem sich bereit, zu kommen, jedoch vereitelten Finanzierungsschwierigkeiten seine Teilnahme: Die Veranstalter übernahmen die Reisekosten der Vortragenden nur von der Schweizer Grenze an, und Scholem konnte die teure Reise von Palästina nach Europa nicht aus eigener Tasche bezahlen. Jedenfalls bat er Frau Fröbe-Kapteyn, ihm für die Tagung im Sommer 1948 erneut eine Einladung zu schicken.24 Ein Einladungsschreiben für Sommer 1948, datiert auf den 10. September 1947, befindet sich im Scholem-Archiv, allerdings ohne jegliche Erwiderung von Scholem.25 Aus einem Parallel-Schreiben an Hurwitz geht hervor, dass Scholem im Sommer 1948 nicht nur aus finanziellen Gründen 21 22 23 24 25
Dazu oben, Kapitel 5. Hurwitz an Scholem, 28. 4. 1947, GSA, Korrespondenz mit Hurwitz. Fröbe-Kapteyn an Scholem, 2. 5. 1947, GSA, Korrespondenz mit Fröbe-Kapteyn. Scholem an Fröbe-Kapteyn, 22. 5. 1947, ebd. Fröbe-Kapteyn an Scholem, 10. September 1947, GSA, ebd.
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zögerte, nach Europa zu reisen, sondern auch wegen der politischen Umstände dieses Jahrs, insbesondere der Gründung des Staates Israel und des bewaffneten Konflikts mit den arabischen Nachbarstaaten.26 Im Sommer 1949 kam die Sache schließlich zustande: Auf der Rückreise von einem längeren Aufenthalt in den USA machte Scholem zusammen mit seiner Frau in Ascona Station und hielt dort seinen ersten Eranos-Vortrag.27 Die Tagung von 1949 trug den Titel Der Mensch und die mythische Welt, und Scholem sprach über Kabbala und Mythos.28 Von da an fand sich Scholem drei Jahrzehnte lang jeden Sommer am Monte Verità ein. Nach Jungs Tod Anfang Juni 1961 wurde Scholem von dessen letzter Sekretärin, Aniela Jaffé, aufgefordert, darüber zu berichten, wie und warum er sich zur Teilnahme an den Eranos-Tagungen bereitgefunden habe, obwohl er um Jungs nationalsozialistische Vergangenheit wusste. Jaffé druckte einen Teil von Scholems Antwortschreiben vom 7. Mai 1963 in ihrem Buch ab, und zwar am Ende des Kapitels über Jungs Affinität zur nationalsozialistischen Ideologie.29 Darin führte Scholem seine Einwilligung auf ein Gespräch mit Leo Baeck zurück, dem er im Sommer 1947 seine Bedenken über eine mögliche Teilnahme an der EranosTagung vorgelegt habe. Baeck habe ihm zugeredet, die Einladung anzunehmen, indem er davon erzählte, wie Jung ihn nach seiner Entlassung aus Theresienstadt in Zürich aufgesucht habe, obwohl er sich diesem Besuch habe entziehen wollen. Zwischen Jung und Baeck habe damals „eine zweistündige, zum Teil überaus lebhafte Auseinandersetzung“ stattgefunden, worüber Scholem an Aniela Jaffé schreibt: Jung hatte sich mit Berufung auf die besonderen Verhältnisse in Deutschland verteidigt, zugleich aber ihm [Baeck] gestanden: ‚Jawohl, ich bin ausgerutscht‘, was die Stellung zu den Nazis und seine Erwartung, dass vielleicht hier etwas Großes aufbräche, beträfe. Diesen Satz, ich bin ausgerutscht, den mir Baeck mehrfach wiederholte, habe ich in lebhaftester Erinnerung. Baeck sagte, sie hätten in diesem Gespräch alles, was zwischen ihnen stand, geklärt und wären wieder versöhnt voneinander geschieden. Auf Grund dieser Erklärung von Baeck habe ich dann auch die Einladung zum Eranos angenommen, als sie 1949 ein zweites Mal kam.30
Die Frage, wie weit die Eranos-Tagungen von der Persönlichkeit und Ideologie des umstrittenen C.G. Jung bestimmt waren, lässt sich hier nicht ausführlich behandeln. Die These von Jungs starker Dominanz ist noch nicht hinreichend 26 Scholem an Hurwitz, 24. 10. 1947, in: Scholem, Briefe I, 330. 27 Scholem an Fröbe-Kapteyn, 7. 10. 1948, GSA, Korrespondenz mit Fröbe-Kapteyn. In den USA hielt Scholem seine Vorlesungsreihe über den Chassidismus, die er wegen seiner EuropaReise 1946 nicht hatte halten können; vgl. oben, Kapitel 5. 28 Seine Vorlesung wurde auf Deutsch im Eranos-Jahrbuch gedruckt, dann auch in: Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 117–158. 29 Jaffé, Aus Leben und Werkstatt, 103f.; vollständig abgedruckt in: Scholem, Briefe II, 94f. 30 Jaffé, ebd.; Scholem, Briefe II, 95; vgl. Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism, 329–335.
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geklärt, und so gibt es einstweilen fundierte Argumente dafür und dagegen. Zweifellos war Jung die treibende Kraft hinter den Eranos-Tagungen während der ersten Jahre, und er übte großen Einfluss auf Olga Fröbe-Kapteyn aus, die ihre privaten Räumlichkeiten sowie finanzielle Mittel für die Tagungen zur Verfügung stellte und sowohl das Thema als auch die Vortragenden auswählte.31 Allerdings hielt Jung im Sommer 1951, zwei Jahre nach Scholems erstem Auftritt in Ascona, seine letzte Eranos-Vorlesung und war 1952 zum letzten Mal unter den Zuhörern. Während jener Tagung, von der noch ausführlicher die Rede sein wird, verließ er den Vortrag von Herbert Read im Zorn und äußerte sich unzufrieden über den von Karl Löwith.32 Von da an bis zu seinem Tod 1961 kam Jung nicht mehr zu den Eranos-Tagungen, weder als Vortragender noch als Zuhörer. Ein Jahr nach ihm starb auch Olga Fröbe-Kapteyn, und die Leitung der Tagungen ging an Adolf Portmann über. Scholem hatte nie eine Eranos-Vorlesung von Jung gehört, und Jung hatte nicht mehr als drei Gelegenheiten gehabt, Scholem vortragen zu hören.33 Dieser Befund widerlegt William McGuires Annahme, zwischen den beiden habe eine intellektuelle Freundschaft bestanden.34 Außerdem geht aus einem bei McGuire zitierten Brief von Fröbe-Kapteyn hervor, dass Jung ausdrücklich nicht als prägende Figur der Tagungen erscheinen wollte.35 Das alles stellt die Vermutung, Jung habe die Eranos-Tagungen dominiert und nach Gutdünken bestimmt, doch zumindest in Frage. Zu einem sicheren Ergebnis führt die sorgfältige Betrachtung der Quellen und der einschlägigen Untersuchungen: Die Eranos-Tagungen waren ein mannigfaltiges kulturelles Ereignis, dessen Charakter im Lauf der Jahre zahlreiche Veränderungen erfuhr. Außerdem vermitteln die erhalten gebliebenen Dokumente nicht den Eindruck, als seien die Eranos-Teilnehmer eine einheitliche Gruppe gewesen, vielmehr bestanden mancherlei politische, intellektuelle und persönliche Beziehungsgefüge, an denen unterschiedliche Kreise und Individuen beteiligt waren. Diese Vielfalt darauf zu reduzieren, Eranos sei die Tagung der
31 Schabert, From Olga Froebe-Kaptyen, 1f.; Portmann, Vom Sinn und Auftrag, 8. 32 Zu Jungs Einwänden gegen den Vortrag von Löwith s. Scholem, Tagebücher 1952, GSA, 41, sowie im Folgenden; zu seinem spektakulären Verlassen des Vortrags von Herbert Read über Picasso s. McGuire, Bollingen, 147; Hakl, Der verborgene Geist, 293f. 33 Im Sommer 1951 war Scholem nicht in Ascona. Bisher wurde nur ein Beleg dafür gefunden, dass Jung Scholems Vorlesung 1950 hörte, allerdings nicht im Vortragssaal: Mircea Eliade notierte in seinem Tagebuch vom 20. 8. 1950: „Today I see Jung. He is in a chaise longue on the terrace, listening through the open window to Scholem’s lecture“ (Eliade, Journal I, 113). 34 McGuire, Bollingen, 153. Auch der Umstand, dass der Ordner über die Jung-Korrespondenz im Scholem-Archiv nur einen einzigen Brief enthält, spricht für eine eher lose Beziehung. Allerdings schätzte Scholem Jung und sah in ihm, wie in Freud, eine große und einzigartige Persönlichkeit; so jedenfalls lässt sich aus der zweiten Hälfte seines erwähnten Antwortschreibens an Aniela Jaffé vermuten (Scholem, Briefe II, 95). 35 McGuire, Bollingen, 147f.
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Jungianer gewesen,36 wird der Komplexität der Treffen nicht gerecht. Die Vertreter der Jungianer waren dort eine, vielleicht sogar zentrale Gruppe, aber keineswegs die einzige. Im Vorwort zur Druckausgabe seines Tagebuchs schrieb Eliade: Jung was the „spiritus rector“ of Eranos, but one cannot say that the lectures constituted a Jungian group. Most of them were only superficially acquainted with the problems of modern psychology. But from the group there emerged what can be called „the spirit of Eranos“, one of the most creative cultural experiences of the modern Western world.37
Ein Blick auf die Liste der Eranos-Teilnehmer über die Jahrzehnte hinweg verstärkt den Eindruck, dass es sich um eine heterogene Gesellschaft handelte, der viele ausgesprochene Individualisten angehörten: der klassische Philologe und Mythologie-Forscher Karl Kerényi, der evangelische Theologe Carl Benz, der israelische Jungianer Erich Neumann, der holländische Theologe und GnosisForscher Gilles Quispel, der deutsche Physiker Max Knoll, der Schweizer Biologe Adolf Portmann, der protestantische Theologe Paul Tillich, der amerikanische Sinologe Hellmut Wilhelm, der chinesische Daoismus-Forscher Chung-yuan Chang, der japanische Fachmann für Zen-Buddhismus Daisetz Teitaro Suzuki und der jüdische Anthropologe Paul Radin, dessen Studien zu den amerikanischen Eingeborenen von Jung und dessen Lehre beeinflusst waren, und viele andere mehr.38 Außerdem wurden jedes Jahr Gäste als Zuhörer und Teilnehmer am gesellschaftlichen Teil der Tagung eingeladen. Diese Gruppe umfasste jeweils fünfzig bis hundert Personen, unter ihnen Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle und Mediziner. Dieses heterogene Publikum, das sicher nicht ausschließlich aus Jungianern bestand, trug ebenfalls zur Atmosphäre bei, ist aber schriftlich kaum nachweisbar. Meines Erachtens dürfte es nahezu unmöglich sein, einen politischen oder theologischen Begriff zu finden, unter den sich die gesamte Teilnehmerschaft von Eranos subsumieren ließe. Der einzige einheitliche Rahmen, in den sich die festen Tagungsteilnehmer einfügten, war das Eranos-Jahrbuch, in dem, stets mit einem Vorwort von Fröbe-Kapteyn oder Portmann eingeleitet, die Vorträge im Anschluss veröffentlicht wurden. Diese Jahrbücher, eine Wegmarke in der Geschichte der Religionswissenschaft im 20. Jahrhundert, erschienen im Rhein-Verlag bei dem schweizerisch-jüdischen Verleger Daniel Brody. 36 Dan, Gershom Schalom, Chawurat Eranos, 265; an anderer Stelle erklärt Dan sogar, Eranos sei „das Allerheiligste der Jungianer“ gewesen (283). 37 Eliade, No Souvernirs, XII. 38 Hier handelt es sich um eine Anzahl von Persönlichkeiten, die während der fünfziger und sechziger Jahre an mehr als einer Eranos-Tagung teilnahmen; viele andere trugen jeweils nur ein einziges Mal vor, was wiederum die Heterogenität der Teilnehmerschaft erhöhte. Insgesamt waren in den Jahren 1933 bis 1989 nicht weniger als 149 Vortragende an den Tagungen aktiv beteiligt. Eine vollständige Liste findet sich bei Barone et al. (Hg.), Pioniere, Poeten, Professoren, 255–257.
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Auch die Betrachtung dessen, was man als den „inneren Kreis“ von Eranos bezeichnen könnte, weckt Zweifel an der jungianischen Dominanz. Ende 1960 schickte Adolf Portmann einen Brief an Scholem und an fünf andere feste Teilnehmer der Eranos-Tagungen: den Islamkundler Henri Corbin, den Religionswissenschaftler Mircea Eliade, den britischen Kunstgeschichtler Herbert Read, den Sinologen Hellmut Wilhelm und den Musikwissenschaftler Victor Zuckerkandl. Offensichtlich war es der Tod des Psychologen Erich Neumann – er hatte während der zehn Jahre davor regelmäßig den Eröffnungsvortrag gehalten –,39 der die inzwischen ältere Olga Fröbe-Kapteyn veranlasste, an die Zukunft der Tagungen zu denken. Und so forderte Portmann die Angeschriebenen auf, einem inneren Eranos-Kreis beizutreten, der über das Schicksal der Tagungen entscheiden solle, wenn Fröbe-Kapteyn abtreten werde: Zu diesem Zeitpunkt soll die hier angeregte Verbindung zu einem innersten „EranosKreis“, einem eigentlichen „Kern von Eranos“, die Möglichkeit schaffen, dass die treuesten Mitarbeiter und Gestalter der Tagung sich in aller Freiheit für ein Weiterbestehen oder über das Aufhören von „Eranos“ entscheiden können.40
Leider hat sich bis jetzt im Scholem-Archiv keinerlei Hinweis auf eine Antwort Scholems auf diesen Brief gefunden. Dass Scholem dem innersten Kreis von Eranos zugerechnet wurde, spricht für das hohe Ansehen, das er dort genoss. Außerdem ist aus der Zusammensetzung des designierten Nachfolge-Gremiums – Ende 1960, ein Jahr vor Jungs und zwei Jahre vor Fröbe-Kapteyns Tod – zu ersehen, dass Jungs Einfluss auf die Eranos-Teilnehmer damals nicht überwältigend gewesen sein kann. Aus der Studie von Steven Wasserstrom, die sich neben Scholem mit zwei weiteren Mitgliedern dieses innersten Kreises beschäftigt, nämlich mit Eliade und Corbin, geht hervor, dass diese beiden zwar in einer gewissen Beziehung zu Jung und seiner Lehre gestanden hatten, was besonders in dem für ihre Arbeit charakteristischen phänomenologischen Zugriff sichtbar wird, dass sie aber durchaus nicht als Jungianer gelten können.41 Und von den drei übrigen ist nur Herbert Read der Jung-Schule zuzurechnen, zumal er die englische Ausgabe von Jungs Schriften ediert hat. Die Erwähnung dieses Briefes von 1960 war ein chronologischer Vorgriff, um deutlich zu machen, dass Eranos kein geschlossener Zirkel war und dass von einem übermäßigen Einfluss Jungs in den Jahren, als Scholem an den Tagungen teilzunehmen begann, nicht die Rede sein kann. Im Verlauf eben dieser Jahre veränderte sich der Personenkreis, der 39 Dazu Scholem, Nachruf auf Erich Neumann, in: Das neue Israel 13, 1960; im Nachruf selbst schreibt Scholem der Gattung entsprechend nur Rühmendes über den Verstorbenen. Erst in dem hebräischen Interview von Herbst 1974 meldete er Bedenken gegenüber Neumanns Jungianismus an: Scholem, Es gibt ein Geheimnis in der Welt, 84f. 40 Adolf Portmann an Gershom Scholem u. a., 29. 12. 1960, GSA Korrespondenz mit Portmann. 41 Wasserstrom, Religion after Religion, 186f.
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die Tagungen zu besuchen pflegte, und das war auch auf Scholem zurückzuführen. Als Scholem 1949 von seiner ersten Eranos-Vorlesung zurückkehrte – noch bevor er wusste, was für eine zentrale Rolle diese Veranstaltung in seinem Leben und er bei ihrer Gestaltung spielen sollte – berichtete er Alexander Altmann von seinen Erlebnissen in Ascona, insbesondere von der gesellschaftlichen Seite der Tagung: Die Zeit, die wir in der Schweiz zugebracht haben, war wunderbar, wir haben es sehr genossen. Die Tagung in Ascona war interessant, wenn auch nicht gerade aufregend. Mein Vortrag ist offenbar gut angekommen, nach Eindruck und Echo zu urteilen, aber es ist ja nicht schwer, mit diesem Thema [d.i. Kabbala] anzukommen, das für Juden und heutzutage sogar für Nicht-Juden viel Provozierendes hat, besonders wenn man aus Israel kommt und als Jude spricht, und zwar ausschließlich als Jude. Kerényi war da, in meinen Augen ein besonderer Mensch in seiner ganzen Art, eine anziehende und eigenartige Mischung von tiefschürfender Wissenschaft, ausgezeichneter Intuition und hervorstechender Phantastik, alles zusammen. Ich werde bestürmt, nächstes Jahr wiederzukommen, und wenn ich das Geld zur Deckung der Reisekosten auftreiben kann, würde ich das auch gerne tun, denn es lohnt sich, fremde Leute zu treffen, die der Religionswissenschaft nahestehen. Dieses Mal habe ich drei, vier Menschen kennengelernt, deren Bekanntschaft allein die Reise nach Eranos wert war.42
Der positive Ton, mit dem Scholem über diesen seinen ersten Eranos-Besuch berichtet, blieb über die vielen folgenden Jahre hin erhalten. Im Verlauf der nächsten dreißig Jahre hielt er 21 Eranos-Vorlesungen, und an einigen weiteren Tagungen nahm er als Zuhörer teil. Von seinen Forschungs- und Interessensgebieten her passte Scholem gut zu Eranos; auch in die freie intellektuelle Atmosphäre, wo Individualismus und denkerische Originalität in der Gemeinschaft der Teilnehmer gefördert wurden, fügte er sich bestens ein. Dabei hatte er sich all die Jahre über mit der Problematik seiner Teilnahme an den Tagungen und seiner regelmäßigen Besuche in Ascona auseinanderzusetzen, und zwar in zwei Richtungen: Nach außen hin, denn vor allem in Israel galt Eranos als eine Veranstaltung der Jung-Schule; Scholem musste sich dort vor der öffentlichen Meinung dafür rechtfertigen, dass er zu Männern wie Jung und Eliade, die dem Nationalsozialismus bzw. dem Faschismus nahegestanden hatten, so enge Beziehungen unterhielt. Und nach innen, da Scholems Teilnahme an diesen Tagungen seine Rückkehr nach Europa nach dem Holocaust markierte; die EranosTagungen waren für ihn das Entréebillet in die deutschsprechende intellektuelle Welt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die widersprüchlichen Empfindungen, von denen diese Rückkehr begleitet war, sollen im Folgenden erörtert werden. Während die Außenperspektive in späteren Abschnitten behandelt wird, geht es 42 Scholem an Altmann (original hebr.), 16. 11. 1949, GSA, Korrespondenz mit Altmann.
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hier zunächst um den inneren Konflikt, in den Scholem durch seine Teilnahme an der Eranos-Tagung von 1952 geriet.
c.
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Die Tagung vom Sommer 1952 Scholems Besuch in Ascona 1952 war sein einziger Aufenthalt, den er in seinem Tagebuch dokumentiert hat. Dadurch ist es möglich, die Einzelheiten dieser Tagung genauer zu rekonstruieren und einen Eindruck davon zu gewinnen, wie Scholem sie erlebte. Abgesehen davon war das Jahr 1952 für Eranos in mancher Hinsicht bedeutsam: Es handelte sich um die zwanzigste Tagung seit der Gründung, und die letzte, bei der C. G. Jung zugegen war. Zugleich markiert dieses Jahr den Beginn der Ablösung von Olga Fröbe-Kapteyn und damit die Möglichkeit eines Neubeginns.43 Für Scholem war es seine dritte Eranos-Teilnahme, und man darf wohl annehmen, dass er sich dort inzwischen wissenschaftlich wie gesellschaftlich recht sicher und wohl fühlte; die festen Teilnehmer waren ihm schon bekannt, und er war relativ gut integriert. Im Unterschied zu den beiden vorigen Malen kam er 1952 allein, ohne seine Frau Fania. In diesem Jahr ging es um das Thema Mensch und Energie, und sein Vortrag trug den Titel Zur Entwicklungsgeschichte der kabbalistischen Konzeption der Schechina.44 Wie man sich vorstellen kann, waren sorgfältige Vorbereitungen erforderlich, um die allsommerliche Tagung in Ascona zu einem Höhepunkt werden zu lassen. Einige der Vortragenden, zwischen denen sich allmählich freundschaftliche Beziehungen entspannen, hielten auch während des übrigen Jahres Kontakt und verabredeten sich jeweils für den kommenden Sommer. So schrieb Scholem etwa im März an den Erforscher der griechischen Mythologie Karl Kerényi, der in Ponte Brolla bei Ascona wohnte: Die Aussicht auf das Wiedersehen mit Ihrer Frau und Ihnen, wie mit so manchen andern Freunden, macht mir jetzt schon Vergnügen. Hoffentlich kommt nichts Hinderndes dazwischen, und Sie treten nicht etwa grade dann eine Weltreise an! Ich biete gegen einen Kaffee in Ponte Brolla einen Bericht über die neue Mythologie im Staat Israel an! Fragen Sie Ihre Frau, wie sie dazu denkt. (Leider kann ich nur allein kommen!)45 43 Hakl, Der verborgene Geist, gibt dem Kapitel, das die Jahre 1951–1953 behandelt (285–304) die Überschrift: „Olga Fröbe und C. G. Jung – Abschied von Eranos“; er berichtet auch von einem beträchtlichen Anstieg der Teilnehmerzahl in diesen Jahren. 44 Auf Deutsch wurde der Vortrag zuerst im Band 21 der Eranos-Jahrbücher gedruckt (45–108), und später in: Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 135–191. 45 Scholem an Kerényi, 31. 3. 1952, GSA, Korrespondenz mit Kerényi.
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Da Kerényi bei Eintreffen dieses Briefes sich beruflich außerhalb der Schweiz aufhielt, beantwortete seine Frau Magda Scholems Brief und legte die Daten für einen Besuch in Ascona fest, denn in jenem Jahr hielt Kerényi keinen EranosVortrag. Scholems Angebot eines Zusammentreffens nahm sie mit Vergnügen an: Ein Kaffee in Ponte Brolla gegen einen Bericht, über was er immer lauten mag, ist ein allzu unproportioniertes Geschäft, alle Vorteile auf unserer Seite belassend, aber eine dankbare und freudige Aufnahme Ihrer menschlich-geistigen Ausstrahlung wird da versuchen müssen, den Ausgleich zu verschaffen.46
1952 war Scholems Besuch in Europa mit zusätzlichen Aufgaben und Verpflichtungen verbunden. Die ersten Tage nach seiner Ankunft in Zürich verbrachte er – außer mit Besuchen bei Freunden – mit Gesprächen und Verhandlungen in seiner Eigenschaft als stellvertretender Vorsitzender der Jewish Cultural Reconstruction Corporation (JCR), der Dach-Organisation für Rückerstattung des von den Nationalsozialisten geraubten jüdischen Eigentums. Am 10. August hatte er ein Treffen mit zwei seiner Kollegen in der JCR, mit deren Vorsitzenden Salo W. Baron und der Generalsekretärin Hannah Arendt, mit der er an den beiden folgenden Tagen zusammenkam. „Die Beziehung zu H[annah] ist sehr herzlich“, notierte er in seinem Tagebuch, „über das, was uns trennt, wird nicht gesprochen. Wir bemühen uns beide, es dem anderen leichter zu machen.“ Beide führten lange Gespräche und besuchten gemeinsame Bekannte; am Abend gingen sie zusammen in den Zirkus: „Seit 30 Jahren war ich in keinem Zirkus mehr, es hat mir solchen Spaß gemacht! Wir waren vergnügt wie Kinder“, schrieb Scholem.47 Am folgenden Tag, dem 11. August, lud Arendt Scholem zum Abendessen in einem bekannten Zürcher Lokal ein, das Kurt Blumenfeld ihr empfohlen hatte, danach reiste sie allein weiter.48 Die folgenden Tage verbrachte Scholem in Klosters zusammen mit Salman Schocken und dessen Frau; dort konnte er sich erholen und auf seinen Vortrag vorbereiten. Am späten Nachmittag des 18. August fuhr er mit dem Zug nach Ascona und stieß bereits unterwegs auf Personen, die als Zuhörer an der Tagung teilnehmen würden: „In der Bahn traf ich eine ‚Studentin‘ von mir. Sie redete mich an, weil sie mich vor drei Jahren hier gehört hatte; eine Frau Hégi, Fachfrau für – Fledermäuse! Wir haben uns nett unterhalten“. Gleich nach seiner Ankunft saß Scholem zwei Stunden mit Gilles Quispel und dessen Frau zusammen, danach traf er Olga Fröbe-Kapteyn zu einem persönlichen Gespräch. Sobald er aus dem Auto stieg, stieß er am Eingang des Hotels auf den Verleger Daniel Brody und auf dessen Frau; Scholem begleitete sie auf ihrem Heimweg. Zurück im Hotel traf er das Ehepaar Kerényi, die 46 Magda Kerényi an Gershom Scholem, 30. 5. 1952, ebd. 47 Scholem, Tagebücher 1952 (hebr.), GSA, 49–50. 48 Ebd., 48f. Die Empfehlung des Lokals ist brieflich belegt: Blumenfeld an Arendt, 29. 7. 1952, in: Arendt/Blumenfeld, [I]n keinem Besitz verwurzelt, 59–61.
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gekommen waren, um ihn zu sehen: „Große Freude! Wir saßen noch zwei Stunden, bis kurz vor Mitternacht“. Die Intensität der Begegnungen mit Freunden und Bekannten hielt auch an den folgenden Tagen an. Den nächsten Nachmittag verbrachte Scholem wieder mit Karl Kerényi; „ein hochanständiger Goj“, notierte Scholem, „versteht nichts von dem, was in der Geschichte passiert“. Zu Abend aß er mit Portmann, danach saß er bis spätnachts mit Kerényis und Brodys zusammen: „Ich schilderte ihnen, was und wie wir in Israel essen“, notierte er. Am 20. August 1952 begann die Eranos-Tagung dieses Sommers. Scholems Vortrag war der erste, und seine Ausführungen über den Begriff der Schechina beeindruckten das Publikum. „Offenbar ein großer Erfolg“, schrieb er, „es war zum Bersten voll, man hörte gespannt zu.“ Unter den Zuhörern befand sich auch der führende Zionist Nahum Goldmann mit seiner Frau; mit ihnen unterhielt sich Scholem im Anschluss an seinen Vortrag über die deutschen Reparationszahlungen und die israelischen Forderungen. Bei dieser Gelegenheit wurde verabredet, dass Scholem zwei Wochen später in Paris zu einem Gespräch über dieses Thema mit Mosche Scharet hinzugezogen werden sollte. Nach einer Stunde Diskussion mit dreißig seiner Hörer konnte er sich wieder seinen Freunden und Bekannten zuwenden: Henri Corbin, Erich von Kahler, Max Knoll, Löwith ( jeweils mit ihren Ehefrauen), und natürlich Kerényis. „Ich bin ganz heiser vom vielen Sprechen“, notierte er.49 Die folgenden Tage verbrachte Scholem mit der Teilnahme an den übrigen Vorträgen, mit Essen, Trinken und Unterhaltungen am runden Tisch unter der Zeder. Eines der wichtigeren Gespräche in diesem Zusammenhang war das mit Daniel Brody, dem Besitzer des Rhein-Verlags in Zürich. Brody stammte aus Ungarn und hatte einen Verlag in München betrieben, bis er vor den Nationalsozialisten fliehen musste, zunächst nach Holland, später nach Mexiko. Nach dem Krieg war er nach Europa zurückgekehrt und hatte sich in Zürich niedergelassen, wo er wieder Bücher verlegte und außerdem guten Kontakt zu Olga Fröbe-Kapteyn und dem Eranos-Kreis unterhielt.50 In Brodys Verlag sollte die erste deutsche Auflage von Scholems Buch Major Trends in Jewish Mysticism erscheinen: „mit Brody gesessen, wir sprachen über das Erscheinen meines Buches auf deutsch. Ob etwas dabei herauskommt?? Er wollte sich das Buch ansehen, und ich habe ihm mein Exemplar gegeben“.51 Diese Begegnung sollte sich als höchst bedeutsam für Scholems akademische Karriere in Deutschland nach dem Krieg erweisen. Fünf Jahre danach erschien bei Brody die deutsche 49 Scholem, ebd. 44–46. 50 Zur Geschichte von Daniel Brody und seinem Verlag s. Bertold Hack, Der Verleger Daniel Brody und seine Familie; ders., Verlagsbibliographie des Rhein-Verlages 1920–1972. 51 Scholem, Tagebücher 1952 (hebr.), GSA, 40.
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Abbildung 9. Während der Eranos-Tagung in Ascona, August 1952. Von links nach rechts: Gilles Quispel, unbekannter Mann, Mircea Eliade, Stella und Henri Corbin und Gershom Scholem. Aufgenommen von Felix Thom
Version von Scholems Buch über die Jüdische Mystik, 1960 dann eine erste Sammlung seiner Eranos-Vorlesungen, 1962 eine zweite.52 Bis zu Scholems Wechsel zum Suhrkamp-Verlag Anfang der sechziger Jahre erschienen fast alle seiner deutschen Schriften im Rhein-Verlag, was insofern nahelag, als auch die Eranos-Jahrbücher, worin die Vorträge der jeweiligen Tagung gedruckt wurden, dort verlegt wurden. Die fachliche und gesellschaftliche Bedeutung, die die Eranos-Tagungen für Scholem hatten, ist unbestreitbar, er genoss die angenehme Atmosphäre in Ascona und fühlte sich dort sehr wohl, aber doch nicht voll integriert. Am 25. August, nach Karl Löwiths Vortrag Die Dynamik der Geschichte und der Historismus, den Scholem sehr gut fand, schrieb er in sein Tagebuch: Jung voller Empörung über das ‚abstrakte Geschwätz‘ lief nach der ersten Stunde fort. Gespräch mit Jane Untermeyer und Erich von Kahler. Dann mit Corbin u. Frau – sehr nett alles. Ich fühle mich sehr wohl, aber es bedrückt mich, wie fremd unsere Belange von hier aus scheinen. Keiner sieht es auch nur. Meine Wirkung hier beruht mehr auf meinem Berlinertum als auf dem Gegenteil, würde ich sagen.53 52 Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 1957; Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 1960; Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 1962. 53 Scholem, Tagebücher 1952 (hebr.), GSA, 41.
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Hier artikuliert Scholem in Bezug auf seine Zugehörigkeit zum Eranos-Kreis ein ambivalentes Gefühl. Die Welt, aus der er kam (das Gegenstück zu seinem „Berlinertum“), war für sein Umfeld in Ascona fremd, ein Umstand, den er als angenehm und beunruhigend zugleich empfand. Dass er von außerhalb in eine Welt eintrat, die von europäischer Kultur tief geprägt war, und dass er die Kluft zwischen diesen Welten wahrnahm, schuf für ihn eine Distanz zu den übrigen Tagungsteilnehmern. Besonders irritierte ihn, dass es anscheinend niemandem auffiel, dass er Israeli war. In Ascona wurde er als Deutscher wahrgenommen und akzeptiert. Dass man ihn in Ascona als Gast nicht aus Jerusalem, sondern aus Berlin sah, war ihm jedoch unbehaglich. Verstärkt wurde dieses Gefühl dadurch, dass er sich in dieser Umgebung eigentlich recht wohl und geborgen fühlte. Oder anders gesagt: In dem exterritorialen Raum von Eranos wurde der grundlegende physische und seelische Wandel, den er in seiner Jugend vollzogen hatte, nämlich der Austausch seiner deutschen Wurzeln gegen jüdisch-zionistische, anscheinend überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, was bei ihm gemischte Gefühle auslöste. Während seines Eranos-Aufenthalts im Sommer 1952 reflektierte er dieses Gefühl der Ambivalenz zum ersten Mal in seinem Tagebuch, wie die folgende Aufzeichnung vom 26. August, zwei Tage vor dem Ende der Tagung, belegt: Ich glaube nicht, daß ich nächstes Jahr (Thema ‚Adam we’adama‘ [Mensch und Erde]!!!) herkommen werde, trotz der Andeutung, man würde wohl via Bollingen alles zahlen. Ich muß mich ein wenig zurückhalten. Trotz und wegen des sichtbaren Erfolges. Frau F[röbe-Kapteyn] sagte zu Portmann bei ihrer Vorbesprechung: ich möchte den Scholem nächstes Jahr sehr gern haben, da weiß man doch, worauf man sich [verlassen] kann (sie sagte: was man hat). Ist das nur von mir aus so 100 %, wie es von ihr aus positiv gemeint war? Etmeha.54
Bei der folgenden Eranos-Tagung, im Sommer 1953, hielt Scholem – sicher nicht zufällig – den Vortrag Die Vorstellung vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen.55
Identifizierung und Distanz: Henri Corbin Im Sommer 1979 hatte Scholem seinen letzten Auftritt in Eranos, er hielt keinen Vortrag, sondern eine improvisierte Rede anstelle von Adolf Portmann. Jahrelang hatte Portmann die Schlussworte am Ende der zehntägigen Tagung gesprochen; dieses Mal zwang ihn jedoch ein Schwächeanfall, seine Rede abzu54 Scholem, Tagebücher 1952 (hebr.), GSA, 39. Die talmudische Wendung etmeha bedeutet ungefähr „das ist mir fraglich“. 55 Gedruckt im Eranos-Jahrbuch sowie in: Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 209–260.
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brechen; daraufhin erhob sich Scholem aus dem Publikum und übernahm das Wort. Portmann und Scholem waren damals die beiden dienstältesten EranosTeilnehmer, was für Scholem natürlich eine Gelegenheit zur Rückschau auf die drei Jahrzehnte war, die er an den Tagungen mitgewirkt hatte. Neben rühmenden Äußerungen über Portmann und dessen Verdienste um die geistige und organisatorische Seite der Veranstaltung sprach Scholem auch einen problematischen Punkt an: Es gibt eine Schwierigkeit, die für alle Eranos-Teilnehmer und wohl auch für viele, wenn nicht alle Redner gilt: nämlich die Schwierigkeit, in der Spannung zwischen der Distanz zum Gegenstand und der Identifikation mit ihm sprechen zu müssen. Für Olga Fröbe war fast entscheidend, daß sie Redner suchte, die sich mit ihrem Gegenstand identifizierten. Sie wollte ergriffene Redner, keine Professoren, obwohl sie alle Professoren hießen. Es war sozusagen ein bißchen Schwindel dabei. Die Identifizierung, die Olga Fröbe veranlaßte, uns auszuwählen, beruhte vielleicht – nicht selten – auf einem Irrtum; denn viele von uns – ich muß mich selber dazu zählen – sprachen gerade aus der Spannung zwischen diesen beiden Polen, also auch aus jener Distanz, die erst wissenschaftliche Erkenntnis ermöglicht. Tatsächlich bin ich der Meinung, daß jemand, der sich mit seinem Gegenstand völlig identifiziert, ein gewisses wissenschaftliches Maß verliert, ohne das es Forschung nicht gibt. Ein Gelehrter ist kein Priester; es ist ein Irrtum, danach zu streben, aus einem Gelehrten einen Priester zu machen. Aber die Spannung zwischen Distanz und Identifikation, die uns allen in Eranos so lebendig wurde, war es, die beispielsweise meine Tätigkeit an diesen Tagungen in vielen Jahren durchaus bestimmte.56
An diesen Ausführungen Scholems entzündet sich die Frage nach seinem eigenen Verhältnis zum Gegenstand seiner Forschung. In dieser Sache werden zwei konträre Positionen vertreten: Die eine sucht hinter Scholems wissenschaftlichem Schaffen persönliche, politische und theologische Gründe, die andere will das Ideologische und das Akademische bei Scholem sorgfältig trennen.57 Aufschluss darüber, wie er selbst sich zu den Inhalten seiner eigenen wissenschaftlichen Untersuchungen verhielt, bietet seine Freundschaft mit Henri Corbin, seinerseits Erforscher der islamischen Mystik.58 Von der Art, wie Scholem Cor56 Scholem, Identifizierung und Distanz, 465f. 57 Dazu ausführlich bei Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism, 301 mit Verweisen in den Anmerkungen. 58 Auf der einen Seite steht Steven Wasserstrom, der in Scholems wissenschaftlichem Wirken eine neue, säkulare Religion (oder, wie er es nennt, „eine Religion nach der Religion“) sieht, auf der anderen Seite Joseph Dan, der diesen Ansatz strikt ablehnt. In Anbetracht der bisher herausgearbeiteten Vielfalt des Eranos-Kreises besteht die Schwäche von Wasserstroms Ansatz hauptsächlich darin, dass er drei von Herkunft, Denk- und Arbeitsweise so verschiedene Religionswissenschaftler wie Scholem, Eliade und Corbin in dieselben Kategorien zu pressen versucht – in diesem Punkt würde ich Joseph Dan zustimmen, dass Wasserstrom Scholem nicht gerecht wird. Allerdings ist gegen Dan derselbe Vorwurf zu erheben: Seine Erklärungsversuche, weshalb Scholem an den Eranos-Tagungen – einer jungianischen Veranstaltung in seinen Augen – teilnahm, haben etwas Apologetisches: An einer Stelle be-
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bins Verhältnis zu dessen Forschungsgegenstand beschreibt, lassen sich wohl Rückschlüsse auf ihn selbst ziehen, zumal er sich Corbin besonders nahe fühlte. Das geht aus dem Brief hervor, den er – selbst schon hochbetagt – an dessen Witwe schrieb, als er von Corbins Tod erfahren hatte. Darin heißt es u. a. For me he was not only a friend and a fellow but a man who devoted a life to understand, to penetrate as a scholar a world as near to the one which I had devoted my own as anybody I could imagine. We were in the truest sense honest and possibly the first scholarly excavators in the world of esoterical imagination such as Islamic and Jewish gnose [d.i. Gnosis]. Of all the speakers at Eranos it was he to whom I felt the greatest affinity. He alone had that kind of inner sympathy that enabled him to light up the dark and difficult ways of the mystical world which I considered essential to do really important and at the same time scholarly work in these spheres. His passing away means to me the loss of a spiritual brother.59
Wenn Scholem hier Einfühlungsvermögen („inner sympathy“) für die Aufklärungesoterik dunkler Vorstellungswelten fordert, dann gilt das doch offenbar auch für seine eigenen wissenschaftlichen Bemühungen. Und in der Tat bringt Scholem in seiner spontanen Eranos-Rede von 1979 Corbin als Beispiel für die Spannung zwischen Identifikation und Distanz des Forschers gegenüber seinem Gegenstand. Die im Beileidsschreiben des Vorjahres gezogene Analogie zwischen ihm selbst und Corbin darf hier wohl vorausgesetzt werden: Wir hörten Redner wie Corbin, der aus einem unerhörten Gefühl des Eindringens, der Fast-Identifikation und gleichwohl der Distanz eines tief wissenschaftlichen Geistes heraus sprach, der nicht als Vertreter einer bestimmten Sache erschien, sondern als Betrachter, als Mensch, der aus Kontemplation und der distanzierenden Erkenntnis wirkte, die ohne diese Distanz gar nicht möglich wäre.60
Corbins „Fast-Identifikation“ mit seinem Forschungsgegenstand, die laut Scholem mit wissenschaftlicher Distanz zusammenging, hatte auch eine religiöse Dimension, die er seinen näheren Freunden im Eranos-Kreis, zu denen auch Scholem gehörte, nicht verhehlte. Ein Beleg für die Bedeutung des Religiösen in Corbins wissenschaftlicher Tätigkeit ist in einem Brief zu finden, den dieser im Februar 1978, kurz vor seinem Tod, an seinen Kollegen David L. Miller schrieb,
zeichnet er Scholems Eranos-Teilnahme als „wunden Punkt“ in dessen Geschichte (Dan, Gershom Schalom ve–Limmudej ha-Kabbala, 213, Anm. 38). Daraufhin befleißigt er sich, das hervorzuheben, was Scholem von seinen Eranos-Kollegen trennt; und zu diesem Zweck stützt er sich auf Wasserstroms einseitige Darstellung Corbins und dessen unfundierte Behauptung, Corbin habe faschistische Neigungen gehegt; vgl. Dan, Gershom Schalom, Chawurat Eranos, 271f. Wasserstroms Darstellung von Corbin ist seit Erscheinen seines Buches mehrfach kritisiert worden, s. Versluis, Religion after Religion; Subtelny, History and Religion. 59 Gershom Scholem an Stella Corbin, 26. 10. 1978, in: Scholem, Briefe III, 193. 60 Scholem, Identifizierung und Distanz, 466.
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nachdem er dessen unlängst erschienenes Buch The New Polytheism – Rebirth of the Gods and Goddesses gelesen hatte: I believe our researches open the way, of necessity, to angelology (that of a Proclus, that of the Kabbala) which will be reborn with increasing potency. The Angel is the Face that our God takes for us, and each of us finds his God only when he recognizes that Face. The service which we can render others is to help them encounter that Face about which they will be able to say: Talem eum vidi qualem capere potui („I am able to grasp such as I have seen“). […] But let us understand clearly that for yet some time we shall be few in number and that we shall have to take refuge behind a veil of a certain esotericism.61
Was Corbin hier an Miller schreibt, weist eine gewisse Affinität zu Scholems „religiösem Anarchismus“ auf: persönlicher Glaube an Gott und dessen Offenbarung bei gleichzeitiger Leugnung einer allgemein verbindlichen religiösen Autorität.62 Allerdings kommt bei Corbin ein Moment hinzu, worin sich seine Auffassung von der Scholems unterscheidet, nämlich die Aufgabe, die er dem Religionswissenschaftler zuerkennt; an diesem Punkt besteht keine volle Übereinstimmung zwischen Scholems und Corbins Haltung. Den Unterschied zwischen dem Forscher und dem Geistlichen (dem „Historiker“ und dem „Priester“) hat Scholem in seiner Eranos-Rede von 1979 klar herausgestellt. Auf Analogien zwischen dem Forscher und dem Mystiker verweist er in seinen Zehn unhistorischen Sätzen über Kabbala, erschienen 1958 in der Festschrift zu Daniel Brodys 75. Geburtstag.63 Zur Brody-Festschrift steuerte Scholem einen Beitrag bei, den er unter normalen Umständen nicht hätte drucken lassen,64 nämlich zehn Aphorismen mit Gedanken über seinen Forschungsgegenstand und zwar aus persönlicher Perspektive, nicht aus wissenschaftlicher Distanz: Die Philologie einer mystischen Disziplin wie der Kabbala hat etwas Ironisches an sich. Sie beschäftigt sich mit einem Nebelschleier, der als Geschichte der mystischen Tradition das Korpus, den Raum der Sache selbst umhängt, ein Nebel freilich, der aus ihr selber dringt.
Bleibt in ihm, dem Philologen sichtbar, etwas vom Gesetz der Sache selbst oder verschwindet gerade das Wesentliche in dieser Projektion des Historischen? Die Ungewißheit in der Beantwortung dieser Frage gehört zur Natur der philologischen Fragestellung selbst, und so behält die Hoffnung, von der diese Arbeit lebt, etwas Ironisches, das von ihr nicht abgelöst werden kann. Aber liegt solch Element der Ironie nicht vielmehr schon im Gegenstand dieser Kabbala selber, und nicht nur in ihrer Geschichte? 61 Corbin, A Letter by Henri Corbin, 4. Das französische Original dieses Briefs ist publiziert bei Toussaint, Survivances, 172–175. Den Hinweis auf diesen Brief verdanke ich Tilo Schabert. 62 Vgl. oben, Kapitel 3. 63 Wiederabgedruckt in: Scholem, Judaica 3, 264–271. 64 So im Brief vom 31. 3. 1960 an Joseph Weiss, in: Scholem/Weiss, Chalifat Michtawim, 214.
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Der Kabbalist behauptet, es gäbe eine Tradition über die Wahrheit, die tradierbar sei. Eine ironische Behauptung, da ja die Wahrheit, um die es hier geht, alles anderes ist als tradierbar. Sie kann erkannt werden, und gerade das an ihr, was überlieferbar ist, enthält sie nicht mehr. Echte Tradition bleibt verborgen; erst die verfallende Tradition verfällt auf einen Gegenstand und wird im Verfall erst in ihrer Größe sichtbar.65
Hier artikuliert Scholem einen Gedanken, der bereits in dem Schreiben an Salman Schocken von 1937 angelegt ist, sowie in dem Widmungsgedicht an Hans Jonas zur ersten Auflage von Major Trends in Jewish Mysticism,66 nämlich die Frage, ob die Einstellung eines Wissenschaftlers zu seinem Forschungsgegenstand eine religiöse Bedeutung habe. Die von Scholem aufgezeigte Ironie betrifft den Kabbalisten wie den Forscher, denn sie ist der Kabbala inhärent: Der Versuch, das Unsagbare in Worte zu fassen, oder, anders gesagt, der Versuch, etwas mitzuteilen, was nicht mitteilbar, sondern nur persönlich erlebbar ist und deshalb viel von seiner Kraft einbüßt, wenn man versucht, es aus dem Bereich des Verborgenen auf dem Weg menschlicher Kommunikation in den Bereich des Offenbaren zu übertragen. Die Ironie besteht natürlich darin, dass sowohl der Historiker als auch der Kabbalist in einer Überlieferung stehen, die, um ihren Zweck zu erreichen und ihre Kontinuität zu wahren, auf Kommunikation angewiesen ist. Diese Spannung sei der gemeinsame Nenner zwischen Historiker und Kabbalist, was sie zu parallelen Figuren macht, wenn auch von Wesen und Bestimmung her verschieden. Das Paradoxe in dem Versuch, das Unfassbare zu fassen, ohne sich völlig mit dem Gegenstand zu identifizieren, das Unsagbare zu sagen, und das gar ohne die für wissenschaftliche Kommunikation erforderliche Distanz, ist laut Scholem das Spannungsmoment, durch das wissenschaftliches Erkennen und Gestalten erst möglich wird; diese Einsicht äußerte er bei verschiedenen Anlässen, am stärksten in seiner letzten Eranos-Rede im Sommer 1979. Das ist genau die von Corbin in seinem Brief an Miller angesprochene Spannung zwischen der Suche des Forschers nach dem Antlitz seines eigenen Gottes und der Markierung des persönlichen Weges für Andere, ohne das dabei empfundene Erlebnis selbst weitergeben zu können. Allerdings ist hier auch auf einen wichtigen Unterschied zwischen Scholem und Corbin hinzuweisen. Obwohl beide sich in ihrem geistigen Bemühen auf der Achse sahen, an deren einem Ende der Historiker steht und am anderen der Mystiker, so war doch Scholem dem Historiker näher, Corbin dagegen eher dem mystischen Erleben und dem Propheten. Beiden gemeinsam war das Wissen um das Spannungsmoment in der 65 Scholem, Judaica 3, 264; dieses Motiv ist in den Zehn Sätzen auch sonst noch angesprochen, etwa im dritten oder auch im neunten, aber nirgends so direkt und eingehend wie im ersten. 66 Zu dem Brief an Schocken s. o. Kap. 3; zu dem Widmungsgedicht an Hans Jonas s. Scholem, The Fullness of Time, 108–111. Beide Quellen samt einer frühen Version des Beitrags zur Brody-Festschrift bei Schäfer, Philologie der Kabbalah; ferner Shedletzky, Auf der Suche, 43f.
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Notwendigkeit und dem Wunsch, mitzuteilen, was nicht mitteilbar ist. Vielleicht kann man sogar sagen, dass sich bei beiden in der Einsicht, wonach das Schöpferische, sei es im Bereich der Wissenschaft oder in dem des religiösen Erlebens, aus diesem Paradox hervorgeht, das Esoterische manifestiert, vielleicht sogar bei den Eranos-Tagungen überhaupt.67 Praktisch bedeutet das, wie Corbin an Miller, ebenfalls regelmäßiger Eranos-Teilnehmer, schreibt, „dass wir eine Zeitlang nur wenige sein werden und hinter dem Schleier einer gewissen Esoterik Zuflucht suchen müssen“.68 Der esoterische Charakter von Scholems Zehn unhistorische Sätze über Kabbala wurde dadurch erhöht, dass er sie selbst jahrelang nicht bekannt machte.69 Dazu bemerkt Joseph Dan: „Scholem selbst behandelte diesen Beitrag als etwas Esoterisches: Er verteilte, anders als sonst, keine Sonderdrucke an Schüler und Freunde, sprach auch nicht öffentlich über den Inhalt. Er machte es sich zur Regel, nur denjenigen einen Sonderdruck davon zu geben, die von sich aus darauf gestoßen waren“.70 Allerdings würde ich noch weiter gehen als Dan, der meint, Scholem habe anscheinend Bedenken gehabt, diese Themen selbst seinem engeren Schülerkreis anzuvertrauen. Ich sehe hier nicht nur Bedenken, sondern geradezu Esoterisierung, wobei ihm wohl der Schalk im Nacken saß;71 Scholem schuf hier einen esoterischen Text, was eigentlich gar nicht zu ihm passte, und enthüllte darin die in seiner Arbeitsweise wirksamen Kräfte. Eine davon ist die Spannung zwischen Identifikation und Distanz, von der Scholems wissenschaftliche Tätigkeit die ganzen Jahre über begleitet war. Scholems Raum dafür war die Gemeinschaft von Eranos unter Freunden wie Corbin, die seine Empfindungen teilten, auch wenn sie auf der Achse zwischen Forscher und Mystiker an anderer Stelle stehen mochten. Aber was war das für eine Achse, die Scholem, Corbin, Eliade und etliche weitere Eranos-Teilnehmer gemein hatten? In wissenschaftlicher Terminologie ausgedrückt könnte man sie als den phänomenologischen Zugang zur Religionsgeschichte bezeichnen. Während die Religionsphänomenologie für Corbins Forschungen grundlegend war,72 stützte sich Scholem nicht durchgängig auf diese. Moshe Idel hat vorgeschlagen, in Scholem infolge seiner Teilnahme an den
67 Gespräch mit Tilo Schabert, 15. 10. 2009. 68 S. o., Corbin, A Letter by Henri Corbin, 4. 69 S.a. Gershom Scholem an Joseph Weiss, 31. März 1960, in Scholem/Weiss, Chalifat Michtawim, 214; Schäfer, Die Philologie der Kabbalah, 22–24. 70 Dan, Min ha-Semel el ha-Mesumal, 363. 71 In der Fortsetzung des Briefes an Weiss bezeichnet Scholem seine Zehn Sätze als „einen metaphysischen Streich, bewirkt durch das Funkeln der Venus-Schale in meinem Herzen“, Scholem/Weiss, ebd. 72 Vgl. etwa Corbin, Between Andalusia and Iran, bes. 3f.
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Eranos-Tagungen den „Begründer der Phänomenologie der Kabbala“ zu sehen.73 In der Tat räumte Scholem bei seinen Untersuchungen der jüdischen Religion der Phänomenologie beträchtlichen Raum ein, allerdings immer als methodische Ergänzung zur historisch-philologischen Methode; Scholems Studien waren stets fest in den Quellen verankert. Die Schweizer Zeitschrift DU widmete im April 1955 den Eranos-Tagungen ein ganzes Heft. Etliche Tagungsteilnehmer hatten kürzere Texte beigesteuert, manche eher zur persönlichen, andere eher zur wissenschaftlichen Seite der Tagungen. Scholems Beitrag trägt den Titel Betrachtungen eines Kabbala-Forschers und schließt mit den Worten: Aber die Bemühung um das Verständnis dessen, was hier im Innersten des Judentums sich abgespielt hat, kann nicht auf Klarheit der Sicht und auf historische Kritik verzichten. Denn auch Symbole sind gewachsen und von historischer Erfahrung gesättigt. Ihr Verständnis erfordert ebensosehr „phänomenologische“ Bereitschaft zur Sicht von Ganzheiten wie Fähigkeit zur historischen Analyse. Beide ergänzen und durchdringen sich und versprechen in solcher Vereinigung unendlich fruchtbare Resultate. Im Kreis der Forscher, die sich in den Eranos-Tagungen zusammengefunden haben, ist viel im Sinne dieser Vereinigung beider Haltungen getan und gearbeitet worden, und so ist auch die Kabbala-Forschung, die in unserer Generation mit Ernst eingesetzt hat, hier in einem guten Sinne „nach Hause gekommen“, auch wo sie nur Gast aus Jerusalem ist.74
Daraus geht hervor, dass die Spannung zwischen Identifikation und Distanz nicht nur in Scholems Verhältnis zu seinem Forschungsgegenstand bestand, sondern auch in seiner bloßen Anwesenheit in Eranos, als Heimkehrer und gleichzeitig Außenstehender.
d. Kritik von Außen Carl Gustav Jung Zu Scholems innerer Ambivalenz in Hinblick darauf, dass er an den EranosTagungen teilnahm, kam noch eine Komplikation von außen hinzu, nämlich aus seiner israelischen Umgebung und aus der jüdischen Welt überhaupt. Der Stein des Anstoßes war, wie schon erwähnt, Jungs mutmaßlicher Einfluss auf die Tagungen. Die obigen Ausführungen haben die Annahme, die Tagungen seien über die Jahre ihres Bestehens durch Jung und dessen Lehre dominiert gewesen, allerdings in Frage gestellt; vielmehr hat sich ergeben, dass die personale Zu73 Idel, Kabbalah: new perspectives, 11. Joseph Dan (Gershom Scholem and the Mystical Dimension, 1) hat als Überschrift für einen von drei Bänden einer Scholem-Biographie vorgeschlagen: „Scholem als Phänomenologe“. 74 Scholem, Betrachtungen eines Kabbala-Forschers, 66.
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sammensetzung des Eranos-Kreises viel zu reich und komplex war, als dass man ihn als einen „jungianischen Zirkel“ bezeichnen könnte. Die Behauptung, die Tagungen stünden völlig unter Jungs Kontrolle, kam hauptsächlich aus der jüdischen Welt, wo auch Scholems Teilnahme an den Veranstaltungen kritisiert wurde. An diese feindselige Einstellung erinnert Moshe Idel, Eranos-Teilnehmer in einem späteren Stadium: „The unfortunately strong rightist affinities and affiliations of Jung and Eliade before the Second World War created in Israel a negative reaction against their scholarship, and by extension, a reticence towards Eranos“.75 Wie Scholem sich mit dem Vorwurf auseinandersetzte, er sei der Einladung eines ehemaligen Anhängers der Nationalsozialisten gefolgt und das wenige Jahre nach dem Holocaust, wurde schon oben skizziert. Aus demselben Grund sah er sich genötigt, seine Einstellung nicht nur zu Jung persönlich, sondern auch zu dessen Theorien darzulegen. Akut wurde diese Frage 1952, als Jung sein Buch Antwort auf Hiob veröffentlichte, das durchaus antisemitische Untertöne enthält.76 Scholem hatte es gleich nach Erscheinen gelesen und seine antisemitischen Elemente ohne weiteres wahrgenommen, wie seine TagebuchAufzeichnung vom 18. Mai 1952 bezeugt: „Lektüre des starke Affektreaktionen auslösenden Buches von Jung ‚Antwort auf Hiob‘, das mir Schocken geliehen hat. So schreibt ein Mensch, der gnostische Anschauung mit Schweizer Bauernantisemitismus verbinden kann!“77 In Anbetracht der oben getroffenen Feststellung brauchte das für Scholem aber kein Grund zu sein, nicht nach Ascona zu reisen: Die Tagungen waren so offen und vielfältig, dass die Teilnahme daran keine engere Begegnung mit Jung nach sich zog, zumal das Jahr, in dem Scholem diese Äußerung niederschrieb, gleichzeitig das letzte war, in dem Jung überhaupt anwesend war.78 Wogegen Scholem seine Beteiligung an Eranos nach außen hin verteidigen musste, war das Bild, das man sich in Israel davon gemacht hatte; dieses ist bei Idel, der die Eranos-Tagungen in einen engen Zusammenhang mit Jung und dessen Lehren stellt, zu ersehen. Sein schärfster und bedeutendster Kritiker, der dessen Forschungen aufgrund seiner Teilnahme an den Eranos-Tagungen als Ausgeburt jungianischer Psychologie verunglimpfte, war der israelische Literaturkritiker Baruch Kurzweil, der sich in einem beträchtlichen Teil seiner Beiträge gegen Scholem und dessen 75 Barone et al. (Hg.), Pioniere, Poeten, Professoren, 215. 76 Jungs Buch und Scholems Reaktion darauf behandelt Joseph Dan in seinem Beitrag: Dan, Gershom Schalom, Chawurat Eranos, 272–275. 77 Scholem, Tagebücher 8. 12. 1949, GSA, 44; eine ausführlichere, allerdings gemäßigte Reaktion im Brief vom 11. 2. 1973 an Siegmund Hurwitz, in: Briefe III, 54f. Zu Jungs antisemitischen Tendenzen im Kontext seiner psychologischen Lehren s. Gilman, Psychoanalysis and AntiSemitism. 78 Mircea Eliade erinnert sich, dass Scholem bei der Eranos-Tagung von 1952 Kritik an Jungs Buch geäußert habe: Eliade, Autobiography, 162.
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Arbeit wandte.79 Im Zuge seiner Ausfälle gegen Scholem, die über Jahre hin in der Kulturbeilage der hebräischen Tageszeitung Haaretz erschienen, veröffentlichte Kurzweil im Herbst 1967 einen Artikel, in dem er darlegte, worin seiner Auffassung nach der gemeinsame geistige Nenner zwischen Scholem und Eranos bestehe. Kurzweil behauptete, die von Scholem betriebene säkulare KabbalaForschung, die sich den Mythos ohne Glauben an Gott, d. h. ohne eine absolute Moral, auf ihre Fahnen geschrieben habe, sei das Sprungbrett für eine nihilistische Theologie, die faschistische Züge trage und die Besonderheit des Judentums aufhebe: Die völlige Andersheit des jüdischen Gottes wird bei Jung ganz und gar aufgehoben, seine Lehre ermöglicht eine Theologie ohne Gott, eine nihilistische Theologie. Ja noch mehr: Jung hat auch die Forderung nach einer absoluten Moral abgeschüttelt. Der seiner Lehre zugrundeliegende tiefe Nihilismus, […] der Nihilismus eines modernen Mythos-Verehrers, machte ihn eine Zeitlang auch zum Anhänger des Nationalsozialismus! […] Mir scheint, in Jungs Schatten hat die Wissenschaft des Judentums die letzte Station ihrer abenteuerlichen Fahrt erreicht. Etwas Schlimmeres konnte ihr nicht widerfahren.80
Die von Kurzweil erhobene Beschuldigung, Scholems Historiographie – die Kurzweil als eine säkulare begriff – sei im Grunde faschistischen Charakters und passe deshalb sehr gut in einen Kreis, der von einem ehemaligen Nationalsozialisten geleitet werde, war nicht ganz originell. Ähnliche Vorwürfe hatte knapp eine Generation zuvor bereits der italienisch-jüdische Forscher Isaiah Sonne gegen Scholem erhoben, und zwar in einer Kontroverse, die er 1943 mit ihm führte – auf dem Höhepunkt des Holocaust, offenbar auch unter dem Eindruck des dadurch in der jüdischen Welt ausgelösten Schocks –, also noch bevor Scholems Eranos-Teilnahme überhaupt zur Debatte stand.81 Auf Kurzweils Angriffe reagierte Scholem nicht direkt,82 aber sie ließen ihn sicher nicht unberührt und veranlassten ihn wohl, seine Einstellung zu Jungs Lehren zu erläutern. So erklärte Scholem etwa in einem hebräischen Interview aus dem Herbst 1974 seine Vorbehalte gegenüber Jungs Terminologie: Bei meiner Beschäftigung mit der Geschichte der Kabbala und der kabbalistischen Welt erschien mir der Gebrauch des psychoanalytischen Vokabulars dafür wenig produktiv, weder in der Freudschen noch in der Jungschen Version. Obwohl es anscheinend eine Nähe zu der Jungschen Terminologie hätte geben müssen, weil er der religiösen Begrifflichkeit nahesteht, habe ich es vermieden, mit diesen Begriffen zu arbeiten. Über einen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren habe ich Vorträge bei den Eranos-Tagungen 79 Zur Kontroverse Kurzweil–Scholem s. Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism; Myers, The Scholem– Kurzweil Debate. 80 Kurzweil, be-Maawak al erkej ha-Jahadut, 233f; vgl. Zadoff, ebd. 335f. 81 Gershom Scholem an Joseph Weiss (hebr.), 4. 12. 1960, in: Scholem/Weiss, Briefwechsel, 244f. 82 Zu indirekten Reaktionen s. Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism, 340–360.
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gehalten, deren Initiatoren unter nicht unerheblichem Jungschen Einfluß standen. Aber in meinen Vorträgen dort habe ich mich bewußt jeglicher Anwendung von Begriffen aus der Jungschen Psychopathologie oder Psychoanalyse enthalten. Der Gebrauch dieser Kategorien erschien mir wenig fruchtbar. Im besonderen enthielt ich mich jeglicher Anwendung der Lehre von den Archetypen, den Urbildern des Unbewussten.83
Scholems Äußerungen überraschen angesichts der Tatsache, dass er in verschiedenen seiner Studien – insbesondere in den gedruckten Eranos-Vorträgen – eben doch jungianisches Vokabular verwendet, zum Beispiel den Terminus Archetyp mit seinen Konnotationen.84 Sein Rückgriff auf Jungsche Lehren ist zwar, gemessen am Umfang seines wissenschaftlichen Schaffens, unerheblich, aber dass er bestimmte Jungsche Termini benutzt, dies aber bei anderer Gelegenheit leugnet, lässt doch auf eine gewisse Unsicherheit in dieser Angelegenheit schließen. Einerseits ist nachvollziehbar, dass Scholem von anderen Lehren, die im Umkreis von Eranos im Schwange waren, beeinflusst war; doch macht ihn die sporadische Verwendung von Begriffen Jungs noch nicht zu dessen Anhänger. Andererseits kann man nicht sagen, dass Scholem Jungs Terminologie überhaupt nicht gebraucht oder sich nicht mit ihr auseinandergesetzt hätte.85 Wie dem auch sei, wichtig ist hier die Beobachtung, dass Scholems extreme Distanzierung von Jungs Lehre etwas Apologetisches aufwies, und damit auf die Irritation reagierte, 83 Scholem, Es gibt ein Geheimnis in der Welt, 83f.; vgl. auch seine Äußerungen in dem (englischen) Brief an Edna Aizenberg vom 22. 6. 1980, in: Scholem, Briefe III, 206. 84 Noch bevor er Jung begegnet war, bezeichnet Scholem Sabbatai Zwi im Zustand manischer Erleuchtung als „the living archetype of the paradox of the holy sinner“ (Scholem, Major Trends, 1. englische Ausgabe von 1941, 293). Weitere Beispiele für die Verwendung dieses Terminus durch Scholem bei Wasserstrom, Religion after Religion, 189. Ein gutes Beispiel für Scholems Auseinandersetzung mit Jungs Lehre findet sich in der gedruckten Version seines ersten Eranos-Vortrags von 1949 mit dem Titel „Kabbala und Mythos“. Dort spricht Scholem von einer möglichen Beziehung zwischen der Gnosis der ersten nachchristlichen Jahrhunderte und der Kabbala des 12. Jahrhunderts und meint: „Freilich ließe sich manches auch dafür sagen, daß es sich hier nicht nur um historische Berührung, sondern um psychologische und strukturale Parallelentwicklungen handelt, die im 12. und 13. Jahrhundert ohnehin eher zu begreifen wären als die direkte historische Berührung. […] So liegt denn hier nicht ein Entweder-Oder zwischen historischer und psychologischer Ursprungserklärung der Kabbala vor, sondern ein Sowohl-Als auch“ (Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 131). Im Zusammenhang mit den zehn göttlichen Sphären spricht Scholem von den „zehn archetypischen Zahlen“; die Sephiroth selbst nennt er meistens „Urbilder“ oder „Urkategorien“, aber einmal erwähnt er auch „die Welt der Sephiroth, der sich entfaltenden göttlichen Einheit, die die Archetypen allen Seins in sich beschließt“ (ebd., 135). Ein weiteres, direkteres Beispiel findet sich in seinem Aufsatz über den Zaddik (in: Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 83–134, basierend auf der Eranos-Vorlesung von 1958); dort bezeichnet Scholem die Höhlen als Wohnstätten der Gerechten in Form einer Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, als „ein überaus merkwürdiges Mythenmotiv, in dem wirklich etwas Archetypisches im Jungschen Sinne hochkommt“ (S. 286, Anm. 52 zu S. 109f.). 85 Idel, Ascensions on High, 226.
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die seine Teilnahme an den Eranos-Tagungen in der jüdischen Welt auslöste.86 Neben dieser Notwendigkeit ist auch der Umstand zu sehen, dass Scholem Jungs Nähe zur nationalsozialistischen Bewegung nie vertuscht oder geleugnet hat, auch wenn er Zweifel darüber anmeldete, wie tief diese Nähe gegangen sei. So reagierte er etwa auf Steiners diesbezügliche Kritik in einem Brief an den jungianischen Psychoanalytiker James Kirsch: Ich bin zwar überzeugt, dass Jung kein „fulfledged“ Nazi war, und die Lektüre seiner Briefe hat mir das gewiss bewiesen, ich bin aber nicht imstande zu leugnen, dass er „links“ zum Nazitum hatte und Thesen verteidigt hat, zu einer Zeit und an einem Ort, wo sie doppelt und dreifach unheilvoll gewirkt haben, die weit über das hinausgingen, was er nach seinen eigenen Theorien hätte verantworten können. […] Und gewiss war ich, als ich die Entscheidung zu treffen hatte, ob ich zu den Eranos Tagungen gehen sollte – das war 1947 – [mir] des bitteren Problems dieser Beziehungen zwischen Jung und den Nazis sehr bewusst.87
Jungs Einfluss auf Scholem hatte somit zwei sich in gewisser Hinsicht ausschließende Aspekte, einen positiven, sich an ihn anlehnenden, und einen negativen, sich von ihm abgrenzenden. Für Ersteres spricht, dass Scholem sporadisch – vor allem in seinen gedruckten Eranos-Vorlesungen – Jungsche Kategorien und Modelle zur Klärung religionswissenschaftlicher Phänomene heranzieht. Die negative, auf Distanz bedachte und bedeutsamere Dimension liegt in Scholems strikter Zurückweisung jeglicher Art von Zusammenhang zwischen seiner eigenen Forschung und Jungs Theorien. Scholems Teilnahme an den Eranos-Tagungen war stets von einer gewissen Notwendigkeit begleitet, sie vor der israelischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen, indem er seine intellektuelle Distanz gegenüber den Jungianern bei Eranos betonte; mit anderen Worten: Scholems regelmäßige Anwesenheit in Ascona verlangte von ihm eine Distanzierung von der jungianischen Psychologie. Die Vorbehalte dagegen beruhten überwiegend auf der Ablehnung von Jungs nationalsozialistischer Vergangenheit 86 Als Äußerung solcher Irritation ist etwa die Ankündigung der englischen Ausgabe von Sabbatai Zwi durch George Steiner zu sehen, wo dieser u. a. schreibt: „And though Scholem is fully cognizant of the links between Jung and Nazism, the annual study groups of Jungians who meet under the title Eranos have provided him with one of his spiritual bases. It is here that the range of his interests in magic, theosophy, symbolism, the logic of ecstasy seems most seriously represented“ (Steiner, Inner Lights, 158). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine briefliche Äußerung von Adorno an Horkheimer vom 29. 8. 1954 im Anschluss an seinen Besuch in Ascona (Scholem hielt in jenem Sommer keinen Vortrag, war aber offenbar anwesend): „In Ascona tobte Eranos, mit Tillich, Scholem, Kerenyi, Szilasi e tutti quanti, meist ungarische Juden, die vor einem Forum von Antisemiten Opfertänze aufführten. Selbst der See ist über die Ufer getreten, nicht ohne daß Scholem mystische Zusammenhänge angedeutet hätte. Aber wir haben all das nur von der Ferne miterlebt“ (Adorno/Horkheimer, Briefwechsel IV, 286). 87 Gershom Scholem an James Kirsch, 8. 11. 1973, in: Scholem, Briefe III, 87f.
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und noch virulentem Antisemitismus, was für Scholem Jungs physische Nähe im Sommer 1952 und die seiner Anhänger in späteren Jahren erträglich machte. Aus diesem Grund pflegte Scholem nach außen hin Jungs Hinneigung zum Nationalsozialismus als eine Art „Ausrutscher“ darzustellen, als eine Episode, die zwar nicht wegzudiskutieren, aber in Anbetracht von Jungs Distanzierung von seiner Vergangenheit, die er gegenüber Leo Baeck zum Ausdruck gebracht hatte, nicht unverzeihlich war. Über Jungs antisemitische Tendenzen, die er bei der Lektüre von dessen 1952 erschienenem Buch wahrgenommen hatte, schrieb er dagegen nur privat an seinen Freund, den Zahnarzt und Jungianer Siegmund Hurwitz in Zürich. Scholems komplexes Verhältnis zu Jung und dessen Lehre erhellt aus einem hebräischen Brief an Israel Cohn, der nach Scholems Einstellung zu Jung gefragt hatte: Über meine Beziehungen zu Jung habe ich nicht geschrieben, weil ich ihm nicht ganz folgen konnte. Seine Grundbegriffe habe ich nicht verwendet, weil ich nicht überzeugt war, dass sie hieb- und stichfest sind. Was seine Beziehung zu den Nationalsozialisten betrifft […] ich glaube nicht, dass seine Aufsätze aus den Jahren 33–34 sich verteidigen lassen, aber ich bin sicher, dass er kein Nazi war, wie manche seiner Kritiker behauptet haben. Zur Zeit sitze ich über den beiden Büchern von Jung über die Alchemie und die psychologische Deutung ihrer Symbole, auf die ich das deutsche Sprichwort anwenden möchte: „viel zu schön, um wahr zu sein“.88
Mircea Eliade Jung war nicht der einzige Eranos-Teilnehmer, dessen Verbindung mit Scholem in verschiedenen israelischen Kreisen Anstoß erregte; dies hing mit Scholems komplexer Beziehung zu Eranos zusammen. Ein weiteres Beispiel ist sein Verhältnis zu dem rumänischen Geisteswissenschaftler Mircea Eliade. Ihn hatte Scholem bei seinem zweiten Eranos-Aufenthalt im Sommer 1950 kennengelernt. Für Eliade war dies das erste Mal, dass er an den Eranos-Tagungen teilnahm, und er führte Tagebuch über seine Eindrücke. Die Bekanntschaft mit Scholem nimmt in seinen Aufzeichnungen recht großen Raum ein. Aus ihnen geht hervor, dass Eliade Scholem und dessen Arbeiten bereits kannte, bevor sie einander persönlich begegneten; Scholem äußerte sich erstaunt, dass der Rumäne alle seine Bücher gelesen hatte. Vom ersten Augenblick an wirkte Scholems Erscheinung auf Eliade positiv. Am 20. August 1950 schrieb er in sein Tagebuch: „A very pleasant face, with large ears that stand out from his head. He 88 Gershom Scholem an Israel Cohen (hebr.), 7. 3. 1977, abgedruckt in: Yediot Genazim, Nr. 104– 105, Bd. 8, Jg. 14 (Mai–Juni 1983), 344; Vgl. auch Scholem an Edna Aizenberg, 22. 6. 1980, in: Scholem, Briefe III, 206.
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speaks broken English with a delightful accent“.89 Auch Scholems Vortrag über das Thema „Tradition und Neuschöpfung im Ritus der Kabbalisten“ machte großen Eindruck auf ihn.90 In seinen Memoiren schrieb er später darüber: The next day Professor Scholem lectured; he fascinated me from the moment I met him on the evening of my arrival. I had long admired his scholarship and perspicacity, but that evening what impressed me were his gifts as a storyteller and his genius for asking only essential questions.91
In dem darauffolgenden Jahrzehnt wurde auch Eliade zum festen Eranos-Teilnehmer, er gehörte sogar zum so genannten innersten Kreis, der über die Weiterführung der Tagungen nach Fröbe-Kapteyns Tod beschließen sollte. Im Lauf der Zeit entspann sich eine fachliche und persönliche Freundschaft zwischen den beiden, deren Höhepunkt Scholems Beitrag zur 1969 erschienenen Festschrift für Eliade markierte.92 Doch genau an dieser Stelle setzte das Zerwürfnis zwischen ihnen ein. Im Frühjahr 1972 erschien im ersten Heft der hebräischen Zeitschrift Toladot, das der Geschichte der Juden in Rumänien gewidmet war, ein Aufsatz des rumänisch-israelischen Historikers Theodor Lavi. Lavi kritisierte die Teilnahme Scholems an der Festschrift für Eliade drei Jahre zuvor scharf. Eliade habe zwischen den Weltkriegen in Rumänien der Eisernen Garde angehört, einer extrem antisemitischen Organisation, deren mörderische Tätigkeit in unsere Geschichte eingeprägt ist mit dem Blut zehntausender jüdischer Opfer in Rumänien. […] Mircea Eliade hat der verbrecherischen Tätigkeit der Organisation den philosophischen Hintergrund verliehen. Er war zweifellos die führende geistige Autorität seiner Generation, und gerade deshalb war sein Beitritt zu den Reihen der ‚Eisernen Garde‘ von entscheidender Bedeutung.
Demnach sei Scholems intellektueller Kontakt zu Eliade moralisch nicht zu vertreten, zumal dieser an seinen Anschauungen von damals weiterhin festhalte: Prof. Gershom Scholem kann sein Handeln durch Ignorieren von Eliades Vergangenheit nicht rechtfertigen. Vor einigen Jahren machte er sogar Anstalten, Eliade zu einer Vorlesungsreihe an die Hebräische Universität einzuladen. Schon damals wurde ihm die politische Biographie des Professors aus Chicago zur Kenntnis gebracht, aber Prof. Scholem meinte offenbar, das seien Jugendsünden und somit verzeihlich. Doch auch heutzutage ist Eliade weit davon entfernt, sich im Elfenbeinturm der Gelehrsamkeit einzuschließen. Er beteiligt sich an Veröffentlichungen im selben Sinne, die durch Angehörige der Eisernen Garde in deren Exil herausgebracht werden.93 89 90 91 92 93
Eliade, Journal I, 111. Abgedruckt in: Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 159–208. Eliade, Autobiography, 146f. Scholem, On Sin and Punishment. Lavi, Tik Mircea Eliade, 13.
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Als Beleg dafür, dass Eliade dieser zwielichtigen politischen Vereinigung angehört habe, zitierte Lavy aus dem noch unveröffentlichten Tagebuch des rumänisch-jüdischen Schriftstellers Iosif Hechter, bekannt unter seinem Pseudonym Mihail Sebastian, der zu jener Zeit mit Eliade gut bekannt gewesen war.94 Auf diese Anschuldigung reagierte Scholem auf zwei Ebenen: Zum einen schrieb er einen Brief an Lavy, in dem er Zweifel an dessen Ausführungen anmeldete und darauf hinwies, dass weder in Lavys Aufsatz noch in den zitierten Tagebuch-Ausschnitten antisemitisches Handeln Eliades erwähnt sei;95 zum anderen schickte er am selben Tag ein Exemplar der Zeitschrift an Eliade und fügte einen Brief hinzu, in dem er freundschaftlich, aber nachdrücklich um Aufklärung des Sachverhalts bat. Zunächst referiert er die von Lavy vorgebrachten Vorwürfe und schildert die Verlegenheit, in die er selbst dadurch gekommen sei. Dann schreibt er: You will understand that I am most concerned about these things, and I would like you to react to these accusations, to state your attitude at those times and, if necessary, your reasons for changing your mind. In those long years I have known you I have no reason whatsoever to believe you to have been an anti-Semite, and even more so an anti-Semitic leader. I consider you a sincere and upright man whom I regard with great respect. Therefore, it is only natural to ask you to tell me, and through me those concerned, the mere truth. If there is anything to be said on this score, let it be said, and let the atmosphere of general or specific accusations be cleared up. Of all your writings prior to 1940 I know only your scholarly work in the field on Indology and History of Religion. When we first met I regarded you as a close colleague and later even as a friend to whom I could speak unreservedly. I hope this openness of mind and human relations can continue. I think, however, that we must answer this attack which, no doubt, will be given wide publicity in Israel, where untold thousands of Romanian Jews have bitter memories of „The Iron Guards“ and its activities.96
Aus Scholems gleichzeitig vorsichtiger und entschiedener Ausdrucksweise ist zu entnehmen, dass er den Empfänger dieses Schreibens schätzt und dass ihm die Sache sehr am Herzen liegt. Einerseits stellt er sich gegenüber dem Kritiker auf Eliades Seite, andererseits fordert er unter Hinweis auf die Offenheit ihres Umgangs eine klare Antwort: Er will die Wahrheit wissen. Er gibt zu verstehen, dass ein Geständnis samt Erklärung von Reue – was Jung etwa vorgelegt hatte – ihm helfen würde, den bitteren Geschmack des Verdachts loszuwerden. Die öffent-
94 Inzwischen ist das Tagebuch vollständig veröffentlicht und in etliche Sprachen übersetzt worden. Für die deutsche Ausgabe s. Sebastian, Voller Entsetzen aber nicht verzweifelt. 95 Eine deutsche Übersetzung dieses Briefentwurfs vom 6. 6. 1972 ist im 3. Band der ScholemBriefausgabe (Scholem, Briefe III, 278, Anm. 2) enthalten; das Original habe ich im GSA nicht finden können. 96 Gershom Scholem an Mircea Eliade, 6. 6. 1972, in: Scholem, Briefe III, 30.
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Eranos
liche Meinung in Israel war für Scholem insofern besonders wichtig, als ein Besuch Eliades in Israel geplant war. Nach kurzer Zeit erhielt er einen langen, ausführlichen Brief von Eliade, in dem dieser die Vorwürfe, die in dem Zeitschriftenartikel gegen ihn erhobenen worden waren, zurückweist.97 Daraufhin lud Scholem Lavy zum Gespräch ein und konfrontierte ihn mit den von Eliade vorgebrachten Argumenten; dieser beharrte jedoch auf seinem Standpunkt: In Rumänien sei damals allgemein bekannt gewesen, dass Eliade Mitglied der Eisernen Garde war, und niemand habe dieser angehören können, ohne sich zum Antisemitismus zu bekennen. Außerdem habe sich Eliade vor einem Geständnis gedrückt und auch keine Reue geäußert, denn er unterhalte immer noch enge Beziehungen zu Schriftstellern aus dem Lager der Eisernen Garde. Scholem schrieb eigenhändig ein Protokoll dieses Treffens nieder, was von der hohen Bedeutung zeugt, die er der Sache beimaß. Als Resultat des Gesprächs mit Lavy notierte Scholem: „Die Sache ist weiterhin unentschieden. Er [d.i. Lavy] konnte nichts an konkreten Handlungen, auch keine literarische Aktivität von seiner Seite beweisen, die antisemitisch war, obwohl ich ihn um Angaben bat, was genau er getan habe“.98 Demnach hatten Lavys Anschuldigungen Scholem nicht ganz überzeugt; andererseits bereiteten Eliades ausweichende Erklärungen ihm Unbehagen, was wohl der Grund dafür war, dass er dessen Brief nicht beantwortete. Eliade wiederum fühlte sich durch Scholems Schweigen verunsichert, zumal Corbin und andere Kollegen ihm Andeutungen machten, Scholem habe sich durch die Erklärungen in seinem Brief nicht völlig überzeugen lassen.99 Im März 1973 schrieb Eliade ein weiteres Mal an Scholem: Er habe erfahren, dass Scholem Zweifel in Bezug auf seine Vergangenheit hege. In diesem Brief wiederholte Eliade kurz alle Punkte aus seinem ausführlichen Schreiben, darunter die nachdrückliche Versicherung: „Je n’ai jamais été antisémite“.100 In seiner Antwort darauf äußerte Scholem seine Freude auf Eliades geplanten Besuch in Israel; das sei eine günstige Gelegenheit für eine persönliche Verständigung über die bisher nur brieflich angesprochenen Dinge, „which are, as I feel, in need of a friendly and open minded discussion and elucidation“.101 Scholem schilderte, wie peinlich es für ihn gewesen sei, auf die von Lavy in dem 97 Mircea Eliade an Gershom Scholem (französisch), 25. 6. 1972, ebd., 279–281. 98 Das zweiseitige hebräische Protokoll vom 18. 6. 1972 befindet sich im GSA, Korrespondenz mit Eliade; darin auch das separate Blatt, auf dem sich Scholem anscheinend die Fragen notiert hatte, die er Lavi bei jenem Gespräch stellen wollte. 99 Im GSA, Korrespondenz mit Eliade, liegt ein Brief von Eliade an Burton Feldman vom 22. 1. 1973, in dem er bedauert, von Scholem keine Antwort erhalten zu haben: „Je n’ai reçu aucune réponse, et son saillance m’a fait beaucoup de peine – nous sommes amis depuis presque 20 ans“. 100 Mircea Eliade an Gershom Scholem, 10. 3. 1973, in: Scholem, Briefe III, 316f. 101 Scholem an Eliade, 29. 3. 1973, GSA, Korrespondenz mit Eliade.
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Gespräch vorgebrachten Vorwürfe nichts erwidern zu können. Diese Verlegenheit sei der Grund für sein bisheriges Schweigen gewesen: „I did not know what to tell you, especially since you had not been specific about the Jewish point which interested me most“. Er hätte gern eine fundierte Zurückweisung von Lavys Behauptungen veröffentlicht, habe dies aber nicht getan, da Eliade ihm keine stichhaltigen Informationen übermittelt habe. Scholems Schlussbemerkung in diesem Brief betrachtete Eliade vermutlich als Falle: „I have the same personal feeling for you as before, and I would welcome the occasion of a visit of you here. Perhaps there would be an occasion for you to meet Dr. Lavi and have a frank discussion with him“, denn in seinem Antwortschreiben bedauerte Eliade, krankheitshalber seine Reise verschieben und seinen Israel-Besuch absagen zu müssen. Dabei versicherte er, wie gern er nach Jerusalem gekommen wäre, um dort das „bedauerliche Missverständnis“ („malheureux malentendu“) aufzuklären.102 Eliades ausweichende Antworten trugen nicht zu Scholems Beruhigung bei; zusätzlich gesteigert wurden seine Befürchtungen durch einen Brief, den er von Mihail Sebastians Bruder erhielt, worin dieser die Richtigkeit der gegen Eliade erhobenen Vorwürfe bestätigte.103 Scholems Erwiderung an Sebastian ist charakteristisch für seine Art, an Dinge heranzugehen: Obwohl die Behauptung, Eliade sei – zumindest in der Vergangenheit – Faschist und Antisemit gewesen, inzwischen von verschiedenen Seiten zu vernehmen war und Eliades Antworten nicht sonderlich überzeugend klangen, wollte er nicht eindeutig Stellung beziehen, solange ihm kein konkretes Beweismaterial vorlag. Seinen Brief an Sebastian schloss er mit den Worten: „But I found nobody who was ready to produce any tangible proof in answering Eliade’s challenge to do so from among the hundreds of articles which, according to Eliade’s own statement, he had published at that time. I am of course utterly unqualified to judge in these matters“.104 Aus den bisher angeführten Äußerungen ist zu ersehen, wie Scholem zwischen der Notwendigkeit, seine Verbindung mit Eliade zu verteidigen, und seinem Wunsch, die Wahrheit über die Vergangenheit seines Freundes und Kollegen zu erfahren, hin und her gerissen war. Während er nach außen hin Loyalität mit dem Angegriffenen demonstrierte, indem er konkrete Beweise verlangte, wird aus seinen Briefen an Eliade deutlich, wie sein Misstrauen zunahm, obwohl er dieses hinter Freundschaftsbekundungen verbarg. Dass die Entfremdung zwischen den beiden zunahm, wird auch dadurch bestätigt, dass dies der letzte Brief von Eliade an Scholem war, der in dessen Archiv aufbewahrt ist.
102 Eliade an Scholem (französisch), 28. 4. 1973, ebd. 103 André Sebastian an Gershom Scholem, März 1973, GSA, Korrespondenz mit Sebastian. 104 Gershom Scholem an André Sebastian, 3. 6. 1973, GSA, Korrespondenz Sebastian.
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Eranos
Scholems Abbruch seines brieflichen Kontakts zu Eliade heißt nicht unbedingt, dass die Sache damit für ihn erledigt war. 1978 übermittelte ihm sein Kollege Zwi Werblowsky einen Brief von dem ostdeutschen Religionswissenschaftler Kurt Rudolph, über den Scholem Erkundigungen über Eliades Vergangenheit eingezogen hatte. Rudolph berichtete Werblowsky, wie schwierig es sei, unter dem kommunistischen Regime an einschlägige Materialien in den Bibliotheken und Archiven von Bukarest heranzukommen.105 Ende 1979 wandte sich der amerikanische Religionswissenschaftler Seymour Cain an Scholem mit der Bitte, ihn bei seinen Bemühungen zu unterstützen, mehr über Eliades Vergangenheit zu erfahren. Da es Cain um Eliades Gedankengut ging, bemühte er sich, Informationen von israelischer Seite einzuholen, die die gegen ihn erhobenen Vorwürfe betrafen. Nachdem es ihm nicht gelungen war, etwas Konkretes über Eliades Tätigkeit in die Hand zu bekommen, schrieb er einen Brief an Scholem, dem er während seines Israel-Aufenthalts begegnet war; darin nimmt er Eliade gegen die Anschuldigungen in Schutz, indem er zu bedenken gibt, dass hier eine Art Hexenjagd vorliege, wie sie während der fünfziger Jahre in den USA gegen Kommunisten geübt worden sei.106 Darauf erwiderte Scholem: You are certainly right in saying that there is to this very day no precise documentation of any antisemitic activity on the part of young Eliade, but I must confess that there is an uneasy feeling which is partly based on the evasive nature of Eliade’s own writings, especially the published diary from his first years in Paris, which I have read. […] You say that you dislike the technique of ‚Guilt by association‘ practiced on Eliade. You may be right, but the case of the leading circle around the Iron Cross [sic] is indeed a problem which could be solved only by detailed knowledge about the persons concerned and their activities. In this respect, one cannot say that Eliade who is a very vocal man, has been particularly responsive.107
Hier ist zu spüren, wie Scholems Misstrauen gegenüber Eliade bis Ende der siebziger Jahre offenbar zugenommen hatte. Dass Eliade während der ganzen sechs Jahre, seit der Verdacht aufgekommen war, es nicht geschafft hatte, etwas vorzubringen, das die Vorwürfe überzeugend widerlegt hätte, verstärkte Scholems Zweifel trotz der Hochachtung, die er gegenüber Eliade empfand. In den zwei folgenden Jahren, bis zu seinem Tod, blieb Scholem in Verbindung mit Cain und ließ sich von ihm jedes Detail mitteilen, das dieser über Eliades Vergan-
105 Kurt Rudolph an Zwi Werblowsky, 20. 2. 1978, GSA, Korrespondenz Eliade. 106 Seymour Cain an Gershom Scholem, 29. 8. 1979, GSA, Korrespondenz mit Cain. Auch in seinem Aufsatz über Eliades Vergangenheit verweist Cain auf diese Analogie: Cain, Mircea Eliade, 31; zu Cains Begegnung mit Scholem in Jerusalem und dem Gespräch über Eliade s. ebd., 29. 107 Gershom Scholem an Seymour Cain, 8. 10. 1979, GSA, Korrespondenz mit Cain.
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genheit aufspüren konnte, und doch blieb das Rätsel für ihn letztlich ungelöst.108 Selbst heute noch, nachdem die Bukarester Bibliotheken und Archive zugänglich sind und die einschlägigen Dokumente eingesehen werden können, ist das Zeugnis von Mihail Sebastian eine der wichtigsten Quellen für die Beantwortung der Frage, in welchem Maße Eliade an den Taten der Eisernen Garde beteiligt war. Eine abschließende Antwort fehlt aber noch immer.109 Scholems Beziehung zu Eliade und zu Jung illustriert, wie sehr er zwischen zwei Positionen stand: dem Wunsch, dem Eranos-Kreis anzugehören, und der Notwendigkeit, seine Teilnahme an ihm vor der israelischen Öffentlichkeit und gegen die kritischen Stimmen zu rechtfertigen. Allerdings unterscheiden sich der Fall Jung und die Affäre Eliade durchaus: Scholems Bekanntschaft mit Jung war oberflächlich und entbehrte jeglicher persönlichen Komponente. Daher fühlte sich Scholem von den Attacken auf seine angebliche Beziehung zu Jung nicht eigentlich betroffen und wich auf die akademische Frage nach seiner etwaigen Beeinflussung durch Jungs Theorien aus, die er in Abrede stellte. Eliade dagegen empfand Scholem als Kollegen und Freund, daher war er von der Kritik an dieser Beziehung weitaus mehr. Die Frage nach Eliades etwaiger faschistischer und antisemitischer Vergangenheit war für Scholem viel beunruhigender als Jungs Affinität zum Nationalsozialismus; das lag unter anderem wohl auch an dem Nebelschleier, von dem die Affäre Eliade umhüllt blieb, und an Eliades ausweichenden Antworten in Bezug auf seine Vergangenheit in Rumänien. Dies empfand Scholem als wunden Punkt, zumal sich zwischen ihm und Eliade ein auf persönlicher wie intellektueller Ebene intimes freundschaftliches Verhältnis gebildet hatte.110 In dem Verhältnis zu diesen beiden Persönlichkeiten zeigt sich jedenfalls das Ambivalente an Scholems Zugehörigkeit zum Eranos-Kreis, wobei die Attraktivität der Tagungen für ihn die problematischen Momente überwog. Der Versuch, zu verstehen, worin die Anziehungskraft von Eranos für Scholem bestand, dürfte Aufschluss geben über die Bedeutung dieser jährlichen Tagungen für die Geschichte seines Lebens wie auch für die Geschichte seiner Beziehung zu Deutschland in den Jahren nach dem Holocaust.
108 Diese Briefe von Cain befinden sich im GSA, Korrespondenz Cain. Die Resultate seiner Recherchen veröffentlichte Cain ein Jahrzehnt später: Cain, Mircea Eliade. 109 Zu den verschiedenen Positionen in Bezug auf Eliades Vergangenheit s. Rennie, Reconstructing Eliade, 143–177; Wasserstrom, Religion after Religion, 306, Anm. 11; Müller, Der frühe Mircea Eliade, 65–103; ferner Volovici, Nationalist Ideology. 110 Zu der durch Eranos bewirkten gegenseitigen Beeinflussung von Eliade und Scholem s. Idel, Ascensions on High, 223–228.
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Eranos
e. Die Bedeutung von Eranos Während der drei Jahrzehnte, die Scholem an Eranos mitwirkte, hielt er dort 21 Vorträge, an einigen Tagungen nahm er indes als Zuhörer teil. Eranos wurde zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens in intellektueller, akademischer und gesellschaftlicher Hinsicht – trotz der wiederkehrenden Kritik an seiner Teilnahme. So stellt sich die Frage: Was für eine Bedeutung also hatte Eranos für Scholem, und welchen Stellenwert nahmen die Tagungen in seinem Leben ein? In seiner hebräischsprachigen Studie über Scholem und den Eranos-Kreis nennt Joseph Dan die Krise, in der sich die jüdische Welt infolge des Holocaust befand, sowie die schwierige politische Situation des jungen Staates Israel, die die Möglichkeiten akademischer Forschung erheblich eingeschränkte, als den Hauptgrund, weshalb sich Scholem 1949 dem Eranos-Kreis anschloss. Außerdem, so vermutet Dan, dürfte die Verwendung der deutschen Sprache im akademischen Kontext für Scholem etwas Verlockendes gehabt haben, zumal er in dieser Sprache ein Jahrzehnt lang nichts veröffentlicht hatte. Insofern stellt Dan Scholems Mitwirkung am Eranos-Kreis als eine Art Notlösung dar: „Scholem reiste nicht nach Ascona, weil er diesen Ort und diesen Kreis unter vielen anderen Möglichkeiten gewählt hätte. Zu jener Zeit gab es so gut wie keine Alternative für ihn“.111 Die von Joseph Dan angeführten Gründe für Scholems Teilnahme an den Eranos-Tagungen leuchten mir ein, aber seiner negativen Schlussfolgerung stimme ich nicht zu. Meines Erachtens wusste Scholem ganz genau, weshalb er nach Ascona fuhr, und es waren positive Beweggründe, die ihn leiteten. Jerusalem lag damals zwar unleugbar an der Peripherie des akademischen Schaffens, und die Hebräische Universität war nicht nur von der internationalen Forschung abgeschnitten, sondern nach dem Unabhängigkeitskrieg auch physisch von ihrer eigenen Bibliothek auf dem Skopusberg, zu dem die jordanische Armee nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg keinen Zugang gewährte. Doch Scholem hätte, wäre es seine Absicht gewesen, eine ausgezeichnete Alternative zur Schweiz gehabt, nämlich die akademische Welt der USA. Sein erster Besuch in Ascona erfolgte auf der Rückreise aus den USA. Dort hatte er 1938 und 1949 zwei Vorlesungsreihen gehalten, aus denen sein großes Werk über die jüdische Mystik entstanden war. Die wissenschaftliche Tätigkeit in den USA und seine Rezeption dort hätten ihm früher oder später einen Wirkungskreis verschafft, der hinter dem der Eranos-Tagungen nicht zurückgestanden hätte.112 Scholems bewusste Entscheidung für Ascona deutet darauf hin, dass diese Tagungen für sein Leben 111 Dan, Gershom Schalom, Chawurat Eranos, 278f, 283. 112 Im Lauf seines Lebens widmete Scholem einen Teil seiner intellektuellen Energie der Lehre und der Forschung in den USA. Gastprofessuren hatte er an akademischen Institutionen wie dem Hebrew Union College in Cincinnati, der Brandeis University, dem Jüdisch-Theologischen Seminar in New York, der Universität zu Princeton u. a.m.
e. Die Bedeutung von Eranos
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einen besonderen Stellenwert hatten. Auch die mit Eranos verbundene Rückkehr zur deutschen Sprache spielte verständlicherweise eine wichtige Rolle, und repräsentierte seine Rückkehr zur deutschen Kultur.
Abbildung 10. Scholem trägt bei der Eranos-Tagung vor. Ohne Datum
Außerdem empfand Scholem die Schweiz als neutrales Territorium, wo er die Ergebnisse seiner Forschungen in seiner Muttersprache vor einem Publikum vortragen konnte, das seiner Herkunftskultur angehörte – und das jeweils volle zwei Stunden lang.113 Die große Zahl von einschlägig gebildeten und interessierten Zuhörern bei den Tagungen sowie die Beliebtheit der Eranos-Jahrbücher bei Religionswissenschaftlern bildeten für ihn eine geeignete Plattform und gewissermaßen eine Zwischenstation auf dem Weg zurück ins Nachkriegsdeutschland; schließlich knüpfte er in Eranos nicht wenige Beziehungen zu Kollegen und Freunden, mit denen er viel gemeinsam hatte. Aber der Hauptwert, den Eranos für Scholem hatte, war vielleicht ein nostalgischer. In ihrer Studie über Nostalgie legt die Soziologin Janelle Wilson die verschiedenen Aspekte dieses komplexen menschlichen Gefühls auseinander. So zeigt sie etwa, dass Nostalgie etwas mit Freizeitbeschäftigung (leisure) zu tun hat, sowie mit Kommunikation von Einzelpersonen oder Gruppen untereinander. Nostalgie sei die Sehnsucht nach einem Ort oder einer Zeit, wo Menschen ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität finden, dass sie in ihrer Wirklichkeit ver-
113 Diesen großzügigen zeitlichen Rahmen hob Scholem in seiner abschließenden Eranos-Rede von 1979 besonders hervor: Scholem, Identifizierung und Distanz, 463f.
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Eranos
missen.114 Eines der Charakteristika von Nostalgie bestehe darin, dass sie die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und so das Kontinuum schafft, das für die Konstituierung einer persönlichen oder kollektiven Identität erforderlich sei. Dieses Bedürfnis entstehe häufig in Zeiten, in denen diese Kontinuität gefährdet sei, etwa dann, wenn es der Gegenwart an Sicherheit mangelt – meistens infolge eines existenzbedrohenden traumatischen Erlebnisses. So schreibt der Soziologe Fred Davis in seiner Soziologie der Nostalgie: (1) The nostalgic evocation of some past state of affairs always occurs in the context of present fears, discontents, anxieties, or uncertainties, even though they may not be in the forefront of awareness, and (2) it is these emotions and cognitive states that pose the threat of identity discontinuity (existentially, the panic fear of the „wolf of insignificance“) that nostalgia seeks, by marshaling our psychological resources for continuity, to abort or, at the very least, deflect.115
Die durch die Nostalgie geschaffene „Kontinuität der Identität“, die im Zentrum der Untersuchungen von Davis und Wilson steht, bezeichnet im Grunde die Fähigkeit des Nostalgikers, eine empathische Beziehung zu einem früheren Ich herzustellen, das aus irgendeinem Grund in der Gegenwart nicht mehr zugänglich ist; dadurch entstehe in der Biographie des Nostalgikers ein kohärentes Identitätskontinuum von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft.116 Nach dem hier skizzierten Überblick über das Spektrum dessen, was zur Nostalgie gehört, lassen sich in den Eranos-Tagungen nach dem Zweiten Weltkrieg starke nostalgische Züge erkennen. Die zyklische Wiederkehr von Sommerfrische, Schaffung von Freiraum, der Rahmen für ein akademisches Ereignis verbunden mit Freizeit, Erholung und Kommunikation der Teilnehmer untereinander sowie die Begegnung an einem Ort, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg als Zentrum alternativer geistiger Tendenzen fungierte – all diese Komponenten waren weitgehend auf die Vergangenheit ausgerichtet – die Zeit des Kaiserreichs in Mitteleuropa. Insofern entsprechen sie Wilsons Definition von Nostalgie als „longing for a utopia, projected backwards in time“.117 Für Scholem war der nostalgische Aspekt von Eranos von größter Wichtigkeit. Der Schock, den er durch den Holocaust und auf seiner Reise zur Rettung geraubten jüdischen Kulturguts erlitten hatte, daneben die Gründung des Staates Israel – all dies war zweifellos dazu angetan, sein Gefühl der Sicherheit in der Realität rings um ihn zu erschüttern; auch sein Verständnis von Bedeutung und Funktion des Zionismus stand nicht mehr in Einklang mit der Wirklichkeit. Mit Hilfe von 114 115 116 117
Wilson, Nostalgia, 21–37. Davis, Yearning for Yesterday, 34f. Davis, ebd., 35. Wilson, ebd., 37.
e. Die Bedeutung von Eranos
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Eranos konnte er den Bruch seiner Identität kitten und deren Kontinuität sichern, und zwar, indem er Empathie entwickelte für einen wichtigen Teil seines Lebens, der nach seiner Übersiedlung ins Land Israel verdunkelt worden und infolge des Holocaust verloren gegangen war: die deutschsprachige Kultur, wie er sie kannte, und zwar vor den gravierenden Veränderungen, die sie unter dem nationalsozialistischen Regime erfahren hatte.118 Den Schock über die Degeneration der deutschen Sprache und die Rückkehr zu ihr schildert Scholem viele Jahre später – 1974 – beim Empfang des Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste: 1946 wurde ich mit dem Sonderauftrag, dem Schicksal der jüdischen Bibliotheken nachzuforschen, über die noch verbliebenen Bestände Bericht zu erstatten und Vorschläge über die Verfügung über sie zu machen, nach Deutschland geschickt. Ich kann Ihnen schwer den Schock beschreiben, den ich in der Konfrontation mit der deutschen Sprache jener Jahre erfuhr. Diese Sprache hatte etwas Medusenhaftes, Lähmendes an sich, das die Begebnisse jener Jahre auf unfaßbare Weise in sich aufgenommen hatte. Daß ich dann dennoch, von 1949 an, wieder in größerem Umfange deutsch geschrieben habe, hatte etwas mit jenem Schock zu tun, aber auch mit den Reden, die ich seitdem auf den Eranostagungen in Ascona gehalten habe. Ich hatte dort Anlaß, Dinge, über die ich dreißig Jahre lang gearbeitet hatte, in eine Synthese zu bringen, ohne die Momente der historischen Kritik und der philosophischen Reflexion zu opfern. In der Atmosphäre jener Tagungen schien es mir möglich, mich wieder auf adäquate Weise auf Deutsch mitzuteilen, ohne der Provokation, die aus jenem Schock stammte, zu erliegen.119
Die Eranos-Tagungen bildeten für Scholem in den fünfziger Jahren ein Bindeglied im Kontinuum seiner Lebensgeschichte – ein Durchgangsstadium in chronologischer wie in geographischer Hinsicht. Chronologisch betrachtet erneuerten die Eranos-Tagungen Scholems direkte Verbindung zur eigenen Vergangenheit, zur deutschen Kultur und Sprache, die ihm verlorengegangen waren. Geographisch betrachtet war der Schweizer Kurort Ascona ein geschütztes Interim, ein Raum, wo Deutsch gesprochen wurde, der aber nicht im direkten Zusammenhang mit dem Holocaust stand. Außerdem hatte Scholem bereits eine Beziehung zu diesem Umfeld aufgebaut: In der Schweiz war er mehrmals mit seiner Familie in den Ferien gewesen, dorthin war er geflüchtet, nachdem er gegen Ende des Ersten Weltkriegs vom deutschen Wehrdienst freigestellt worden war, und dort hatte er eine wichtige Phase seines Lebens im Austausch mit seinem Jugendfreund Walter Benjamin verbracht. In der Schweiz also schuf Scholem die Voraussetzung dafür, neben Israel und USA auch wieder in Deutschland tätig zu werden – dem Ort seiner Kindheit und Jugend, mit dem er auch nach seiner Auswanderung in engem Kontakt gestanden hatte. Die Ver118 Zu den Veränderungen der deutschen Sprache während des „Dritten Reichs“ vgl. Klemperer, LTI. 119 Scholem, Mein Weg zur Kabbala.
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Eranos
bindung mit Deutschland war in den Jahren des Zweiten Weltkriegs abgerissen, aber ihre Wiederaufnahme lag Scholem am Herzen, zumal angesichts der geringen Aussicht, seine zionistischen Ideale im Land Israel verwirklichen zu können. Symbolisch betrachtet projizierte Scholem in der nostalgischen Atmosphäre von Eranos seine eigene Utopie aus der kollektiven Zukunft in seine private Vergangenheit.
8.
Zwischen Israel und Deutschland Einmal, vor Jahren, vernahm ich aus Scholems Mund eine provokative Äußerung: Nach Hitler bestehe zwischen jedem Deutschen und jedem Juden notgedrungen eine Art von Intimität, mit der jeder so oder anders umgehen könne, die sich aber nicht aus der Welt schaffen lasse. Amos Oz (1998)1
a.
Eichmann in Jerusalem
Ein Briefwechsel Adolf Eichmanns Festnahme durch israelische Geheimagenten in Argentinien und der öffentliche Prozess, der von April bis Dezember 1961 in Jerusalem gegen ihn geführt wurde, haben in der jüdischen Welt eine neue Grundlage für die Erinnerung an den Holocaust und die Realisierung seiner Bedeutung geschaffen.2 Ein integraler Bestandteil dieses Vorgangs war der Sturm der Entrüstung, den Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen ausgelöst hatte. Dieses beruhte auf ihrer Prozessberichterstattung als Korrespondentin für das amerikanische Magazin The New Yorker.3 Die Serie von Berichten und das 1963 erschienene Buch hatten ein gewaltiges Echo und zogen besonders in jüdisch-intellektuellen Kreisen in den USA und in Israel Reaktionen von bislang unbekannter Schärfe nach sich.4 Richard Cohen sieht die Bedeutung dieses Buches für seine Zeitgenossen darin, dass es den Anlass gab für „an unparalleled public airing of historical issues relating the Holocaust. For the first time since the war, laymen, journalists, intellectuals, jurists, social scientists, and historians – of both Jewish and non-Jewish extraction – placed the events of the 1 Oz, Chawerim scheli mi-Germanja, 213. 2 Zum Prozess s. Yablonka, Israel vs. Adolf Eichmann; vgl. auch Moshe Zimmermanns Feststellung, wonach der Holocaust bis zum Eichmann-Prozess 1961 „eher von Verdrängung aus der kollektiven Erinnerung“ bestimmt gewesen sei (Zimmermann, Israels Umgang mit dem Holocaust, 391). 3 Arendt, Eichmann in Jerusalem, 1963. Die erste deutsche Version des Buches erschien 1964. 4 Die „Arendt-Kontroverse“ wurde in der Forschung bereits aus den verschiedensten Perspektiven behandelt, s. besonders den umfassenden Artikel Cohen, Breaking the Code.
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Zwischen Israel und Deutschland
Holocaust in central focus.“5 Die Kritiken am Buch argumentierten zumeist in dieselbe Richtung, und Arendts Gegner – fast ausschließlich Juden – nahmen an ähnlichen Punkten Anstoß. Moniert wurde hauptsächlich Arendts Stil, ihr Urteil über das Verhalten der jüdischen Führung während des Holocaust und nicht zuletzt ihre Darstellung Eichmanns als Beleg für das, was sie als die „Banalität des Bösen“ bezeichnete. Eben dies sind auch die zentralen Punkte in Scholems bekanntem Brief an Arendt, in dem er scharfe Kritik an ihrem Buch und an den Beweggründen ihres Schreibens übt. Sein Schreiben vom 23. Juni 1963 und Arendts Antwort vom 20. Juli gehören zu den wichtigsten Dokumenten dieser Kontroverse, zum einen aufgrund von Scholems Argumenten, zum anderen weil Arendts Antwort eine ihrer nur wenigen direkten Reaktionen auf die von allen Seiten gegen sie erhobenen Anschuldigungen darstellt.6 In seinem Brief konstatiert Scholem, Arendts Buch befasse sich mit zwei zentralen Problemen: mit dem Verhalten der Juden im Verlauf des Holocaust und mit der Frage nach Eichmanns Schuld und Verantwortung für sein Handeln. Arendt hatte die von den Nationalsozialisten ernannte jüdische Führung, die „Judenräte“, als aktiven Faktor im Vernichtungsprozess dargestellt; hätten diese nicht mit den Nationalsozialisten kollaboriert, wären erheblich weniger Juden ermordet worden. Ihr Urteil, mit dem sie viele gegen sich aufbrachte, lautete: „Diese Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes ist für Juden zweifellos das dunkelste Kapitel in der ganzen dunklen Geschichte“.7 Eichmann dagegen erscheint in ihrer Darstellung als passive Figur und grauer Bürokrat, der nicht in der Lage gewesen sei, selbstständig zu denken. Aufgrund ihres Eindrucks von Eichmanns Persönlichkeit prägte sie den Begriff von der „Banalität des Bösen“, der ebenfalls im Zentrum der Kritik gegen sie stand. Über weite Strecken seines Briefes hin setzt sich Scholem mit Arendts Auffassung von der Verantwortung der jüdischen Führung für das Ausmaß der Vernichtung auseinander, wobei seine Kritik sich darauf beruft, dass „[diese Auseinandersetzung] in unserer Generation im Sinne eines historischen Urteils [nicht] wird geführt werden können. Uns fehlt die echte Distanz, die zugleich 5 Cohen, A Generation’s Response, 256; s. auch Cohen, Breaking the Code, 30, 41. 6 Veröffentlicht wurden die Briefe zunächst im Mitteilungsblatt der aus Mitteleuropa eingewanderten Juden (Olej Merkas Europa): Ein Briefwechsel über Hannah Arendts Buch zwischen Prof. Gershom Gerhard Scholem und Hannah Arendt, in: MB – Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa 33, 16. 8. 1963, 2–4. Arendt hatte die Veröffentlichung an die Bedingung geknüpft, dass beide Briefe nebeneinander abgedruckt würden. Ein halbes Jahr später erschien der Briefwechsel in englischer Übersetzung in einer britischen Zeitschrift: Scholem/Arendt, „Eichmann in Jerusalem“. An Exchange of Letters. Beide Briefe sowie drei Begleitbriefe erschienen im deutschen Original in: Scholem, Briefe II, 95–111; Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 428–465. 7 Arendt, Eichmann in Jerusalem, 153.
Eichmann in Jerusalem
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Besonnenheit verbürgen würde, und sie muss uns fehlen.“8 Scholems zentraler Vorwurf richtet sich dabei nicht so sehr gegen den Inhalt ihres Buches, sondern eher gegen dessen Form und Schärfe, die seiner Meinung nach jegliches Mitgefühl mit den Opfern vermissen ließen. Gerade dies, meinte er, offenbare einiges von Arendts innerer Welt und den Beweggründen ihrer Publikation. Diese Sicht ihres Buches veranlasste Scholem zu folgenden in der „Arendt-Kontroverse“ häufig zitierten Äußerungen: [Ich] muss Ihnen sagen, was in dieser Sache zwischen uns steht. Es ist der herzlose, ja oft geradezu hämische Ton, in dem diese, uns im wirklichen Zentrum unseres Lebens angehende Sache, bei Ihnen abgehandelt wird. Es gibt in der jüdischen Sprache etwas durchaus nicht zu Definierendes und völlig Konkretes, was die Juden Ahabath Israel nennen – Liebe zu den Juden. Davon ist bei Ihnen, liebe Hannah, wie bei so manchen Intellektuellen, die aus der deutschen Linken hervorgegangen sind, nichts zu merken. Eine Auseinandersetzung wie die Ihre erforderte, wenn ich mich so ausdrücken darf, die altmodischste Art der sachlichen und gründlichen Behandlung, gerade wo so tiefe Emotionen im Spiele sein müssen und heraufgerufen werden, wie in diesem Fall in der Ermordung eines Drittels unseres Volkes – und ich betrachte Sie durchaus als Angehörige dieses Volkes und als nichts anderes. Mit dem Stil der Leichtherzigkeit, ich meine das englische flippancy, den Sie nur allzu oft in Ihrem Buche dafür aufbringen, habe ich keine Sympathie. Er ist auf unvorstellbare Weise der Sache, über die Sie sprechen, unangemessen.9
Mit der kategorischen Selbstsicherheit ihres anmaßenden Urteils über das Verhalten von Juden unter extremen Umständen, die sie selbst nie erlebt habe, versündige sie sich nicht nur an dem Thema, sondern lasse auch ein Mindestmaß an ethnisch begründeter Solidarität vermissen, das er von ihr als Jüdin erwartet hätte. Der Vorwurf mangelnder Ahavat Jisrael10 ist der erste Punkt, auf den Arendt in ihrer Antwort an Scholem eingeht. Seiner Forderung nach „Liebe zu den Juden“ stellt sie die Solidarität auf persönlicher und menschlicher Grundlage gegenüber: Sie haben vollkommen recht, daß ich eine solche „Liebe“ nicht habe, und dies aus zwei Gründen: Erstens habe ich nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv ‚geliebt‘, weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder was es sonst so noch gibt. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig.11 Zweitens wäre mir diese Liebe zu den
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Scholems Brief an Arendt, in: Scholem, Briefe II, 96; Arendt/Scholem, Briefwechsel, 429. Ebd., 96f; ebd., 429f. Ahavat Jisrael – Liebe zum jüdischen Volk und Solidarität mit seinem Schicksal. In der englischen Übersetzung klingt diese Stelle etwas anders: „I indeed love only my friends and the only kind of love I know of and believe in is the love of persons“ (Scholem/Arendt, „Eichmann in Jerusalem“. An Exchange of Letters, 54).
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Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt. Ich liebe nicht mich selbst und nicht dasjenige, wovon ich selbst weiß, daß es irgendwie zu meiner Substanz gehört.12
Im Lauf ihres Briefes wiederholt Arendt mehrmals, dass Scholem ihr Buch und dessen Absicht missverstanden habe.13 Dieses Beispiel veranschaulicht, auf welch unterschiedlichen Ebenen die beiden argumentierten, und darin liegt meines Erachtens der Grund für ihre Unfähigkeit, einander zu verstehen. Scholems Argumente sind emotional und ethnisch fundiert, und deshalb weigert er sich, über den Holocaust als historisches Ereignis zu urteilen: Wer diese schwierige Situation nicht erlebt habe, könne sich kein Urteil darüber erlauben. Arendt dagegen argumentiert rational und erlaubt sich folglich auch, ein so emotionsbefrachtetes historisches Ereignis unter „sterilen“ Laborbedingungen und rein logisch zu analysieren.14 Ein weiteres Beispiel für ihr wechselseitiges Unverständnis liegt in dem Begriff Ahavat Jisrael, der von Arendt nicht so verstanden wird, wie Scholem ihn meinte. Sie verengt diesen nicht klar umrissenen Begriff, den er in seinem Brief wohl bewusst nicht erläuterte, auf die Ebene ethnischer Zugehörigkeit. Dadurch entgeht ihr die Vielschichtigkeit des Begriffes, die für Scholems Wahl dieses Terminus ausschlaggebend gewesen sein dürfte.15 Die These von David Suchoff und Steven Aschheim, der Grund für die scharfe Polemik und die tiefgreifenden Unterschiede in dieser Frage lägen in der großen Nähe der beiden zueinander, leuchtet mir sehr ein.16 Schon auf den ersten Blick fallen mehrere Ähnlichkeiten ins Auge, so z. B. der gemeinsame deutsch-jüdische Hintergrund, die große Nähe und Wertschätzung für ihren gemeinsamen Freund Walter Benjamin17 und die Auflehnung gegen die jüdisch-bourgeoise Welt ihrer Jugend; zudem, wie ich zeigen werde, ihre zeitweilige Beteiligung an der zionistischen Bewegung, die auf Werten beruhte, die beiden gleichermaßen wichtig waren, ihre Enttäuschung über die Entwicklung des Zionismus und ihre zunehmend kritische Haltung diesem gegenüber. In Bezug auf ihre öffentliche, intellektuelle Tätigkeit hat Suchoff nicht Unrecht, wenn er schreibt, Scholem und Arendt „created new models for the transmission of tradition and the relation between ethnic culture and political action“.18 Doch hinter diesen – überwiegend 12 Scholem, Briefe II, 101; Arendt/Scholem, Briefwechsel, 439–440. 13 Z. B. Arendt/Scholem, ebd., 440; Scholem, ebd. 102 oder am Ende ihres Briefes, wo Arendt schreibt, der Wandel in ihrem Verständnis des Begriffes des Bösen sei das einzige in ihrem Buch, was Scholem richtig verstanden habe: Arendt/Scholem, ebd. 444; Scholem, ebd. 14 Dazu: Diner, Hannah Arendt Reconsidered, 155; ders., Hannah Arendt, 184. 15 Mosès, Das Recht zu urteilen, 81–82. 16 Suchoff, Gershom Scholem, 57–59; Aschheim, Scholem, Arendt, Klemperer, 65–67. 17 Beide hatten sich erstmals in einem Kreis von Benjamins Freunden und Bekannten kennengelernt und trafen sich auch 1938 bei Scholems Besuch in Paris zusammen mit Arendts zweitem Mann, Heinrich Blücher; dazu: Scholem, Walter Benjamin, 239, 265. 18 Suchoff, Gershom Scholem, 58.
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äußerlichen – Ähnlichkeiten stecken tiefe Unterschiede in ihrer Auffassung vom Wesen der jüdischen Tradition, die es zu bewahren und weiterzugeben gelte: zunächst in der unterschiedlichen Einstellung zur hebräischen Sprache. Anders als Scholem, für den der hebräischen Sprache zentrale Bedeutung zukam, sah er in ihr doch die treibende Kraft der jüdischen Existenz sowie des zionistischen Wirkens, stand Arendt dem Hebräischen indifferent gegenüber und räumte ihm auch in den Jahren ihrer zionistischen Aktivitäten keine zentrale Stellung ein. Ein zweiter Unterschied, der tief in der jeweiligen Persönlichkeit verankert ist, lag in der unterschiedlichen geographischen Verortung der beiden: Während sich Scholem als Jude vom Orient und von Palästina angezogen fühlte, äußerte Arendt bei verschiedenen Gelegenheiten heftige Vorbehalte und sogar Abscheu gegenüber einem Typus von Juden, den sie als „Ostjuden“ bezeichnete – mochte es sich um Juden aus Osteuropa handeln oder um Juden orientalischer Herkunft, die vor dem Prozessgebäude in Jerusalem Wache standen.19 Dieser Typ des „Ostjuden“ entfremde das Judentum seinem wirklichen Ursprung, der doch in der westeuropäischen Kultur liege.20 Dan Diner hat im Zusammenhang mit der Arendt-Scholem-Kontroverse gezeigt, dass im Gegensatz zu einem Nationalitätsbegriff, der auf ethnischer Grundlage basiere und z. B. bei den „Ostjuden“ und auch bei Scholem zu finden sei, Arendt hingegen einen vertritt, der in der westlichen Kultur und im Prozess der Emanzipation verankert sei.21 Anders als Scholem erwog Arendt niemals, nicht einmal in den Jahren ihrer zionistischen Tätigkeit, nach Palästina auszuwandern, und so emigrierte sie nach Hitlers Machtübernahme nach Paris.22 Obwohl der kulturelle Hintergrund und die Lebensläufe der beiden Ähnlichkeiten aufweisen, waren Arendt und Scholem in ihrem Wesen grundverschieden, bisweilen sogar gegensätzlich. Das machte in ihrer Auseinandersetzung jede Verständigung unmöglich und führte unvermeidlich zu ständig wiederkehrenden Missverständnissen. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass die beiden nicht in einem freundschaftlichen Verhältnis gestanden, einander nicht geachtet oder beeinflusst hätten. In der Dialektik zwischen Nähe und Ferne, zwischen Ähnlichkeit und Anderssein hielten sich Scholem und Arendt gegenseitig den Spiegel vor. „Para19 Ein Beispiel dafür s. Arendts Bericht über ihren ersten Eindruck vom Eichmann-Prozess in einem Brief an Karl Jaspers vom 13. April 1961, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel, 472. 20 Im Gegensatz zu der seit der Jahrhundertwende verbreiteten romantischen Sicht des Orients und der Tendenz, den eigentlichen Ursprung der Juden im Orient anzunehmen, betont Arendt die zentrale Bedeutung des Abendlands und Europas für das Judentum. Palästina sieht Arendt als integralen geographischen, historischen und kulturellen Bestandteil Europas; s. Arendt, Der Zionismus aus heutiger Sicht, 171–172. 21 Diner, Hannah Arendt, 155–156. 22 Bernstein, Hannah Arendt and the Jewish Question, 102.
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doxically“, schreibt Aschheim über ihr Verhältnis, „their negative personal evaluations of each other also looked like mirror images“.23 Was ihre Empfindlichkeit und die Heftigkeit ihrer Reaktion steigerte, war gerade das Bewusstsein der Ähnlichkeit. Scholems Gefühl, Arendt vielleicht ähnlicher zu sein, als er wollte, weckte in ihm den Drang, immer wieder zu betonen, worin er sich von ihr unterschied. Die Gegenüberstellung mit Arendt half Scholem, nach dem Holocaust seine eigene Identität und Zugehörigkeit zur jüdischen Welt genauer zu bestimmen, was umgekehrt auch für Hannah Arendt zutreffen mag.
Gegenüber dem Zionismus: Fragen der Zugehörigkeit Ein weiterer Vorwurf, den Scholem gegen Ende seines Briefes an Arendt richtet, lautet, ihre Darstellung Adolf Eichmanns spreche dem Zionismus Hohn.24 Offenbar waren es die grundverschiedenen Einstellungen der beiden Kontrahenten zum Zionismus, vor deren Hintergrund ihre heftigen Diskrepanzen in der Eichmann-Affäre zu verstehen sind.25 Dass Arendts Buch – ein Bericht über die Aburteilung eines nationalsozialistischen Kriegsverbrechers durch eine politische Körperschaft, die sich als Repräsentantin aller Juden auf der Welt verstand – den Holocaust und die Gründung des Staates Israel als historische Ereignisse in einen kausalen Zusammenhang gestellt hatte, erklärt die starken Emotionen auf beiden Seiten, zumal diese konstitutiven Ereignisse noch nicht allzu weit zurück lagen. Um den Hintergrund der Arendt-Scholem-Kontroverse zum Thema Eichmann besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf eine frühere Kontroverse, die mit der von 1963 formal wie inhaltlich erstaunliche Ähnlichkeit aufweist: Den Briefwechsel der beiden nach der Veröffentlichung von Arendts Essay Zionism Reconsidered, der Ende 1945 in den Vereinigten Staaten erschien. Dieser Essay, weitgehend eine Zusammenfassung ihrer Einstellung zum Zionismus, enthält derart scharfe und kritische Äußerungen gegen die zionistische Politik, dass der Herausgeber des amerikanisch-jüdischen Magazins Commentary zunächst eine
23 Aschheim, Scholem, Arendt, Klemperer, 66. 24 Scholem kaprizierte sich dabei vor allem auf Arendts Behauptung, die Lektüre von Herzls Judenstaat „converted Eichmann promptly and forever to Zionism“ (Arendt, Eichmann in Jerusalem, 36). Arendt meinte in ihrem Antwortbrief, Scholem habe sie missverstanden: das sei ironisch gemeint gewesen (Arendt an Scholem, 20. 7. 1963, in: Scholem, Briefe II, 102; Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 439–440). Zum Problematischen dieser Äußerung von Arendt s. Mosès, Das Recht zu Urteilen, 84f. 25 Moshe Zimmermann schlägt vor, Arendts Verhältnis zum Zionismus als „a key to understand her work in general“ zu sehen (Zimmermann, Hannah Arendt, the Early „post Zionist“, 181).
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Veröffentlichung abgelehnt hatte.26 Nachdem der Artikel dann doch erschienen war, schickte Arendt ein Exemplar an Scholem, der mit einem langen, äußerst heftigen Brief reagierte.27 Scholems Einwände gegen Arendts Essay ähneln im Tenor sehr denen gegen ihr späteres Buch. Er artikulierte in beiden Briefen die Enttäuschung und Bitterkeit, die er beim Lesen von Arendts Text empfunden hatte; in beiden Fällen äußerte er sich emotional; in beiden Fällen vermutete er den Grund für Arendts Argumentation in ihrer Zugehörigkeit zu linken Kreisen,28 und seine Kritik richtete sich jeweils speziell gegen Arendts Ton, den er als spöttisch, verächtlich und überheblich gegenüber dem Zionismus und dem Judentum wahrnahm. In seinen beiden Briefen kreist Scholems Kritik um Arendts Theorien über die bewusste und unbewusste Unterstützung der Ziele der antisemitischen Regime – an erster Stelle des Nationalsozialismus – seitens der zionistischen wie auch der nicht-zionistischen Führung. Entsprechende Andeutungen finden sich bereits in Arendts früherem Essay; in ihrem Buch formulierte sie diese Ansicht dann expliziter: Die jüdische Führung und deren Ideologie hätten einen gewissen, wenn auch passiven Anteil am Ausmaß der Vernichtung der europäischen Juden gehabt. Herzls politischer Zionismus, so argumentiert sie 1946, habe den Antisemitismus als einen durchaus positiven Faktor betrachtet, da er das jüdische Volk enger zusammenrücken ließ, und sei bereit gewesen, mit den Antisemiten zu verhandeln. Dies habe zu einer großen Verwirrung geführt, indem die Juden nicht länger zwischen Freund und Feind zu unterscheiden vermochten, was ihren eigentlichen Feind noch gefährlicher gemacht habe.29 Weiter schreibt sie, der zionistische Ansatz Weizmanns, der in der Besiedelung Palästinas die Antwort auf den Antisemitismus sehe, habe sich in dem Moment als lächerlich erwiesen, als Rommels Truppen aus Nordafrika Palästina direkt bedrohten. Den fatalen Irrtum der Zionisten sah Arendt in der Hoffnung, Palästina möge der Ort sein, an dem die Juden Zuflucht vor dem Antisemitismus finden könnten und wo ihre Feinde dann auf wundersame Weise zu Freunden würden, doch: 26 Seine Ablehnung, den bereits 1944 verfassten Essay zu veröffentlichen, begründete der Herausgeber mit „too many anti-semitic implications“; s. dazu Bernstein, Hannah Arendt and the Jewish Question, bes. 104–118. Veröffentlicht wurde Arendts Essay Zionism Reconsidered 1945 in: The Menorah Journal, auf Deutsch zugänglich in: Arendt, Der Zionismus aus heutiger Sicht. 27 Scholem an Arendt, 28. 1. 1946, in: Scholem, Briefe I, 309–314; Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 91–105. 28 Den Essay bezeichnete Scholem ausdrücklich als „eine muntere Neuauflage kommunistischer Kritik“ (in seinem Brief vom 28. 1. 1946, s. vorige Anm.), und zu dem Buch schrieb er, die darin geäußerten Ansichten seien charakteristisch für viele Intellektuelle aus der deutschen Linken. Arendt wies diese Unterstellung in ihren jeweiligen Antwortbriefen zurück. 29 Arendt, Der Zionismus aus heutiger Sicht, 161f.
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Dieser Hoffnung, die sich – wenn Ideologien nicht für manche Leute stärker wären als Realitäten – mittlerweile zerschlagen haben müßte, liegt jene alte Mentalität versklavter Völker, liegt der Glaube zugrunde, es lohnte sich nicht, den Kampf zu erwidern, und wenn man überleben wollte, müsse man ausweichen und flüchten. Wie tief diese Überzeugung verankert ist, ließ sich während der ersten Jahre des Krieges beobachten, als die zionistische Organisation nur durch den Druck von Juden in der ganzen Welt veranlaßt werden konnte, eine jüdische Armee zu verlangen – und das war in einem Krieg gegen Hitler in der Tat die einzig bedeutende Frage. […] Daß eine frühzeitige, eindeutige und nachweisbare Beteiligung von Juden als Juden an diesem Krieg eine entscheidende Möglichkeit gewesen wäre, das antisemitische Gerede zu verhindern, das bereits vor dem Sieg die Juden als dessen Schmarotzer darstellte, ging ihnen anscheinend niemals ein.30
Da die jüdische Bevölkerung Palästinas, der Jischuw, dermaßen mit sich selbst beschäftigt gewesen sei, habe sie sich von den Juden der übrigen Welt abgeschottet und mit den verschiedenen imperialistischen Mächten gemeinsame Sache gemacht – sei es mit dem Osmanischen Reich, das zu dieser Zeit den Völkermord an den Armeniern beging,31 oder mit den Briten, die ihre eigenen Interessen in der Region verfolgten. Denn die Führung des Jischuw habe in erster Linie ein Zentrum für die jüdische Elite errichten wollen, das um der Zukunft der jüdischen Gemeinschaft willen für sein eigenes Überleben und nicht für die vielen Juden der restlichen Welt sorgen sollte. Entsprechend habe sich die zionistische Führung nur um die Rettung von Juden bemüht, die ihr weltanschaulich genehm waren: Die Zionisten behaupteten gewöhnlich, ‚nur der Rest werde zurückkehren‘, die besten, nur diejenigen, die es verdienten, gerettet zu werden; machen wir uns also zur Elite des jüdischen Volkes, und wir werden schließlich die einzigen überlebenden Juden sein; das einzige, worauf es ankommt, ist unser Überleben; soll die Wohltätigkeit sich der drückenden Not der Massen annehmen, uns kümmert das nicht; uns geht es um die Zukunft einer Nation, nicht um das Schicksal von Einzelnen.32
Die Zionisten hätten insofern versagt, als sie sich weiterhin nur auf sich selbst konzentrierten und keine Eigeninitiative ergriffen, keine eigene jüdischen Armee errichteten oder sich den „revolutionären Kräfte Europas“ anschlossen.33 Vielmehr hätten sie bei ihren beschränkten und sehr selektiven Rettungsversuchen gegenüber den Nationalsozialisten immer wieder nach dem exiljüdischen Ver30 Ebd., 164. 31 Ebd., 167. 32 Ebd., 165. Dieses Argument wiederholte Arendt in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess: Arendt, Eichmann in Jerusalem, 90f. 33 Bernstein (Hannah Arendt and the Jewish Question, 112) weist darauf hin, dass Arendt nirgends in ihrem Brief erklärt, wer diese „revolutionären Kräfte Europas“ seien. Vielleicht schloss Scholem unter anderem aus dieser Ungenauigkeit, dass Arendts Argumente kommunistische Propaganda seien, was sie vehement von sich wies.
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haltensmuster der Fürsprache (schtadlanut bzw. „shtadlonus“, wie sie schreibt) gehandelt.34 Aufgrund der Untätigkeit der zionistischen Organisation in Palästina und ihrer Abkapselung von den Juden außerhalb des Landes sei die Leitung der jüdischen Bewohnerschaft des Landes indirekt für das Ausmaß des Mordens mitverantwortlich, denn sie habe den europäischen Juden im Holocaust nicht geholfen. So zumindest verstand es Scholem, worauf er folgendermaßen reagierte: Ich glaube, daß die Erfahrung inzwischen bewiesen hat, daß jeder von uns in der gleichen Lage hätte handeln müssen, wie die zionistische Organisation gehandelt hat, und das einzige, was zu bedauern wäre, ist, daß in einer verworfenen Welt nicht mehr und nachdrücklicher Gebrauch von dieser Möglichkeit gemacht worden ist, Juden aus den Händen des Faschismus rechtzeitig herauszubringen. Sie sollten wissen – und wenn Sie es nicht wissen, sollte es Ihnen mit großem Nachdruck gesagt werden – daß wir im Kriege bereit waren, Juden von der Gestapo loszukaufen und daß dafür gutes und hartes Geld des Joint und der Zionisten gleichermaßen in erheblichen Mengen nach Deutschland geflossen ist, und daß die Menschen, die diese heikle Unternehmung betrieben haben, keine Verräter am jüdischen Volke waren, zu denen Sie sie nach Ihrer Logik stempeln müßten, sondern Menschen, die ihre Pflicht erfüllt haben. Ich möchte wissen, ob wir das Leben Walter Benjamins, falls es davon abgehangen hätte, nicht durch solche Transaktionen hätten retten dürfen! Ich muß sagen, daß ich Ihnen mehr Verständnis für eine dialektische Situation zugetraut habe und daß Ihre naive Entrüstung mir ebenso sehr fehl am Platze in der Sache selber als in einer Diskussion über die Meriten des Zionismus an sich scheint.35
Mit diesen Worten positioniert sich Scholem eindeutig innerhalb des jüdischpolitischen Spektrums: Indem er die Haltung des Jischuw in der Wir-Form vorträgt und dessen Handeln während des Krieges unmissverständlich rechtfertigt, tritt er Arendt als Vertreter des Jischuw gegenüber und verteidigt die Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, gegen ihre Angriffe. Auf ihre ironische Kommentierung des erwähnten Ausspruchs von Weizmann, die Antwort auf den Antisemitismus sei die Besiedelung des Landes Israel, erwidert Scholem, er und Arendt hätten nun keine gemeinsame Diskussionsbasis mehr.36 Scholems und Arendts unterschiedliches Verständnis der politischen Situation, in der sie sich befunden hatten, ist insofern wichtig, als es auch ihr persönliches Verhältnis zueinander bestimmte sowie das Bild, das sich Scholem in den folgenden Jahren von Arendt bis zum Abbruch ihrer Beziehung in Folge der 34 Arendt, Der Zionismus aus heutiger Sicht, 168, 173. 35 Scholem an Arendt, 28. 1. 1946, in: Scholem, Briefe I, 312; Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 96. 36 Arendt, ebd., 181. Scholem schrieb an Arendt (28. 1. 1946, in: Scholem, Briefe I, 312; Arendt/ Scholem, Der Briefwechsel, 95): „Dieser Paragraph auf S. 181 [der englischen Version, auf Deutsch: 164] hat mich mehr als alles andere an Ihrem Aufsatz in Rage gebracht, denn er zeigt, daß wir nicht mehr auf der gleichen Ebene argumentieren“.
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Kontroverse um Eichmann in Jerusalem machte. Arendts Essay markierte einen Wendepunkt ihrer bisherigen Beziehung, denn damit hatte sich Arendt in Scholems Augen erstmals völlig außerhalb seiner Welt gestellt, obwohl sie weiterhin vieles gemeinsam hatten. Gegenüber diesem „wir“ – d. h. der Führung des zionistischen Jischuw, der Scholem selbst doch eigentlich recht kritisch gegenüberstand – wird Arendt als nicht zugehörig ausgeschlossen. Auch Scholems späterer Vorwurf ihres Mangels an Empathie und menschlicher Solidarität mit dem jüdischen Kollektiv klingt bereits in diesem Brief an, wenn er Walter Benjamin als Beispiel eines Juden anführt, der einer Rettung würdig gewesen wäre. Dieses Beispiel appelliert an Arendts Gefühl, visiert jedoch unbewusst etwas an, was sie erst in ihrer Erwiderung von 1963 artikulierte: Sie sei nicht imstande, „das jüdische Volk“ zu lieben, sondern nur ihre Freunde. Scholem macht in diesem früheren Brief kein Hehl aus seiner Überraschung und Enttäuschung über Arendt, die er erst fünf Jahre zuvor als „wunderbare Frau und ausgezeichnete Zionistin“37 bezeichnete und bei der er nun „einen großen Anti-Palästina-Komplex“ diagnostiziert.38 Auch Arendt erklärt sich enttäuscht, weil sie Anderes von ihm erwartet habe: [I]ch habe immer Ihre Stellung als Jude politisch zu verstehen geglaubt und vor Ihrem Entschluss, mit einer politischen Realität in Palaestina ernst zu machen grossen Respekt gehabt. Es ist mir ehrlich gesagt nie im Traum eingefallen, anzunehmen, dass Sie deshalb eine zionistische „Weltanschauung“ hätten, schon deshalb, weil ich eigentlich hoffte, dass Sie gar keine hätten.39
Die Enttäuschung über einander ist nur vor dem Hintergrund der Einsicht der Beiden zu verstehen, dass ihre politische und praktische Weltauffassung durchaus eine gemeinsame Grundlage hatte. Diese Annahme bestätigt sich im Hinblick auf Arendts ideologische Nähe zum Gedankengut des Brit-Schalom-Kreises,40 etwa der Kritik am politischen Zionismus und am Verhalten der zionistischen Führung, die sich auf die imperialistischen Großmächte verlassen habe. Kritik in dieser Richtung hatte auch Scholem in den ersten Jahren nach seiner Ankunft in Palästina geäußert.41 Beiden gemeinsam war auch die Sorge um das Schicksal des jüdischen Jischuw in Palästina, wie aus Arendts Antwort auf Scholems Kritik im Jahr 1946 hervorgeht: Ihr Essay sei aus einer „nahezu panischen Angst um Palästina“ her37 Scholem an Schalom Spiegel, 14. 7. 1941, in: Scholem, Briefe I, 435. 38 Scholem an Arendt, 28. 1. 1946, in: Scholem, Briefe I, 312; Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 96; vgl. auch Aschheims Einführung in den von ihm herausgegebenen Band Hannah Arendt in Jerusalem, 9f. 39 Arendt an Scholem, 21. 4. 1946, in: Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 107f. 40 Ausführlicher zu Scholem und Brit Schalom, s. o. Kapitel 2. 41 S. dazu Munteanu Eddon, Gershom Scholem, Hannah Arendt; Zadoff, Zion’s self-engulfing light.
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vorgegangen.42 In der Tat sympathisierte Arendt mit der politischen Linie von Brit Schalom, was sich in ihrer Unterstützung von Jehuda Leib Magnes und der von ihm 1942 gegründeten Ichud-Vereinigung äußerte, und zwar zu einer späteren Zeit als Scholems Engagement in diesem Kreis. Ihre Annäherung an den Zionismus begann erst 1933, zu einer Zeit, als Brit Schalom bereits nicht mehr bestand. Die Tatsache, dass Scholem sich trotz einer gewissen Nähe zu Magnes und dessen Ideen 1942 dem Ichud nicht anschloss, könnte ein Hinweis darauf sein, dass er sich inzwischen von der politischen Linie distanzierte, die er bis zur Auflösung von Brit Schalom mit Hitlers Machtübernahme unterstützt hatte.43 Die Vernichtung der europäischen Juden veränderte Scholems Sicht darüber, welche Aufgabe der Zionismus und das Land Israel zu erfüllen hätten, was den Abstand zu Arendts Positionen noch vergrößerte. Angesichts der drastisch veränderten Umstände erschien ihm nun eine politische Lösung der Judenfrage unerlässlich. Tatsächlich wurde Arendt durch die Diskussion ihrer Neueinschätzung des Zionismus nach dem Holocaust für Scholem zu einer ambivalenten und ungemein wichtigen Figur, zu der er sowohl Nähe als auch Distanz empfand. In den folgenden Jahren vertrat Arendt eine Haltung, die der von Scholem sowohl entgegengesetzt als auch mit ihr übereinstimmte, was ihm seine eigene Stellung in der jüdischen intellektuellen Welt verdeutlichte; damit half sie ihm vielleicht mehr als jeder Andere bei der Klärung seiner Zugehörigkeit zum zionistischen Kollektiv. Dabei ist jedes Zugehörigkeitsgefühl naturgemäß relativ: Um eine bestimmte Gruppe zu definieren, müssen andere Individuen oder Gruppen als „anders“ ausgegrenzt werden; diesen gegenüber kann ein Einzelner sich als zugehörig bezeichnen, besonders wenn eine Krise in seiner Beziehung zur Gruppe vorausgegangen ist. Meines Erachtens stellte Arendt für Scholem einen solchen „anderen“ dar, außerhalb der Gruppen stehend, denen er sich zurechnete. Indem er Arendt trotz aller Ähnlichkeiten gerade über ihr Anderssein definierte, konnte er gegenüber ihren Positionen und gegenüber der Welt, die sie für ihn repräsentierte, Teile seiner zionistischen und seiner jüdischen Identität konsolidieren. Das half ihm wiederum, mit seinen Krisen und inneren Zweifeln in Bezug auf den Weg des Zionismus zurechtzukommen.44 Ein Beispiel dafür findet sich am Ende des Briefs von 1946, mit dem er auf Arendts Essay reagierte; dort spricht er ausdrücklich von seiner eigenen Position angesichts ihrer Äußerungen über die Situation und die Zukunft des Zionismus im Land Israel:
42 Arendt an Scholem, 21. 4. 1946, in: Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 108. Daraufhin will Bernstein (Hannah Arendt’s Zionism, 198) Arendt „any deep spiritual or emotional attachment to Zionism“ absprechen. 43 Zu Scholems Einstellung zu Magnes und zum Ichud, s. Heller, Mi-Brit Schalom le–Ichud, 389– 391. 44 Zu Scholems Haltung gegenüber dem Holocaust s. o., Kap. 7.
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Ich hätte nie geglaubt, daß es mir leichter sein würde, mich mit Ben Gurion zu verständigen als mit Ihnen! Nach Ihrem Aufsatz kann ich darüber keine Zweifel mehr hegen. Ich halte Ben Gurions politische Linie für ein Unglück, aber immer noch für ein edleres und sogar kleineres als das, was uns bevorsteht, wenn wir Ihnen folgen.45
Arendt gegenüber, die für ihn nun außerhalb seiner Bezugsgruppe steht, identifiziert sich Scholem mit David ben Gurion, den er als „seiner“ Gruppe zugehörig definiert, obwohl er doch eigentlich dessen entschiedener Gegner war. Seine Gegnerschaft zur Hauptströmung des Zionismus und seine herbe Enttäuschung über dessen Weg hatte Scholem in seinem Aufsatz Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum artikuliert. Diesen hatte er etwa zur selben Zeit geschrieben wie Arendt ihren Essay: Ende 1944, als das Ende des Krieges abzusehen war und man schon einiges über das Ausmaß der Judenvernichtung wusste. Dabei empfand er seinen durchaus scharfen Antagonismus als innerzionistische und deshalb legitime Kritik. Arendts Kritik dagegen betrachtete er als von außen kommend und lehnte sie folglich von vornherein ab, obwohl nicht wenige ihrer Kritikpunkte sich mit den seinen deckten.46 Die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Scholem und Arendt bei gleichzeitig bestehender Ähnlichkeit und großer geistiger Nähe zueinander traten auch in ihrer persönlichen Beziehung zutage. Der Disput zwischen den beiden erscheint aus den verschiedenen Dokumenten wie ein intellektueller „Maskentanz“, den jeder mit der Widerspiegelung seines eigenen Bildes beim Andern vollzieht, mit der „anderen Seite“ seiner selbst. Im Verlauf dieses schwer fassbaren dialektischen Tanzes – innerhalb dessen es nicht an gegenseitigen Provokationen fehlte – sind hie und da Augenblicke großer, aufrichtiger Nähe zu spüren, die jeweils rasch von Momenten abgelöst werden, in denen sich die Tanzpartner wieder die Masken von Distanz und Fremdheit überstülpen. Vielleicht war das Überstülpen der Maske hier notwendig, um das Gefühl der Nähe in den Griff zu bekommen und stattdessen die Fremdheit zwischen sich zu stellen, die politischen Ursprungs war. Arendt empfand diese Tendenz in ihrem Verhältnis zu Scholem und klagte darüber in einem Brief an Kurt Blumenfeld: Daß ich mich mit Scholem nicht verständigen kann, zumal im Beisein von Fanja, ist doch nur natürlich. Oder??? Ich kann dies nationalistische Gerede, das ja noch nicht
45 Scholem an Arendt, 28. 1. 1946, in: Scholem, Briefe I, 314; Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 99. 46 Ein wichtiger Punkt in ihrer beider Kritik des Zionismus ist, dass dieser sich nicht von seinem Exildenken weiterentwickelt habe; in Scholems Worten: „Wir traten als Rebellen an, als Nachfolger finden wir uns wieder.“ (Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum, in: Scholem, Judaica 6, 49).
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einmal sonderlich ernst gemeint ist und nur der sehr verständlichen Angst entspringt, nun einmal nicht vertragen.47
Arendts Eindruck, dass Scholems ihr gegenüber geäußerte nationalistische Einstellung48 nicht seine wirklichen Ansichten wiedergibt, hat meines Erachtens mit dem Wesen dieses „Tanzes“ zu tun. Tatsächlich spürt man trotz der Angriffe Scholems zugleich auch die große Hochachtung, die er für sie empfindet, und diese ist mindestens so ehrlich wie seine Kritik. So berichtet Scholem in einer Tagebuch-Aufzeichnung vom 3. August 1963 über ein langes Gespräch mit dem englischen Philosophen Isaiah Berlin. Unter anderem seien sie auf Arendts Buch zu sprechen gekommen und Berlin habe erklärt, er habe keine Rezension darüber geschrieben, er weigere sich sogar, es zu lesen, da es sich dabei um einen „obvious case of Jewish self-hatred“ handle. Scholem widersprach seinem Kollegen und fügte in seinem Tagebuch in Klammern hinzu: „Ich glaube nicht, daß das das Zentrum der Sache trifft – Herzenskälte ja – Selbsthaß nein“.49 In der Fortsetzung des Gesprächs legte er Berlin seine Meinung über Arendt dar und scheint sie dabei geradezu verteidigt oder zumindest versucht zu haben, das scharfe Urteil gegen sie zu mildern: Ich sagte, daß ich H[annah] A[rendt] für hochbegabt halte und jedenfalls für emotionell eine anständiger als den wahrhaft niederträchtigen Prof. [Bruno] Bettelheim,50 den ich nun freilich für das non plus ultra an jüdisch assimilatorischer Lumperei halte. An dem gemessen ist H[annah] ein Stück Zadeket [eine Gerechte]. Er wollte die Briefe lesen, die wir gewechselt [haben], und sehen, ob sie nicht für [den] Encounter geeignet seien, wo sie ein großes Publikum erreichen würden.51
Dass Scholem gegenüber einem ihrer Gegner Verständnis für Arendt zeigte und für sie Partei ergriff, deutet auf die Nähe hin, die er zu ihr empfand, obwohl er sie scharf kritisiert hatte. Gleichzeitig, wohl durch Vermittlung von Berlin, gelangte die englische Übersetzung des Briefwechsels an die Zeitschrift Encounter, wo47 Arendt an Kurt Blumenfeld, 28. 11. 1955, in: Arendt/Blumenfeld, In keinem Besitz verwurzelt, 135. 48 In seinem Brief von 1946 schrieb Scholem an sie (Scholem an Arendt, 28. 7. 1946, in: Scholem, Briefe I, 310; Arendt/Scholem: Der Briefwechsel, 93): „Ich bin Nationalist und völlig unberührt von angeblich progressiven Deklamationen gegen eine Anschauung, die man mir seit meiner frühesten Jugend als überwunden immer wieder darstellt.“ 49 Scholem, Tagebücher 3. August – 19. August 1963, GSA, file 265, folder 27, S. 1. 50 Bruno Bettelheim (1903–1990) war ein umstrittener amerikanischer Psychologe. In Wien geboren, emigrierte er 1939, nach achtmonatiger Inhaftierung in Konzentrationslagern in Deutschland, in die USA. 1960 veröffentlichte er ein Buch über das Verhalten der Gefangenen in Konzentrationslagern. In dieser Untersuchung betont Bettelheim die „jüdische Passivität“ und die in seinen Augen für Juden typische „Ghettomentalität“. Bettelheim war einer der wenigen jüdischen Intellektuellen, die Arendts Buch unterstützten, da sich ihre Argumente mit seinen deckten. Zu Arendt und Bettelheim, s. Cohen: Breaking the Code, 54. 51 Scholem, ebd., 2–3.
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durch er weit verbreitet wurde, obwohl sich Arendt zunächst dagegen gesträubt hatte.52 Auch für Arendt war Scholem ein Spiegelbild ihrer selbst, verkörperte gleichzeitig aber auch alles, was sie am zeitgenössischen Zionismus auszusetzen hatte, nämlich die Selbstzufriedenheit, die sich auf den Begriff des ethnischen Kollektivs gründe, dabei jedoch über das Exiljudentum und über andere Völker erhebe (Arendt war mit einem Nicht-Juden verheiratet), und die zionistische Grundüberzeugung, der Staat Israel sei der eigentliche Repräsentant des Judentums und deshalb auch der Mittelpunkt der Welt.53 Es gibt wohl kein besseres Beispiel dafür als die vielzitierte Stelle aus einem Brief an Kurt Blumenfeld, in dem sie ihren Eindruck von Scholem während seines Besuchs 1957 in den USA beschreibt: Er ist sehr intelligent, aber nicht eigentlich klug. Außerdem so mit sich selbst beschäftigt, daß er keine Augen (und nicht nur keine Ohren) hat. Im Grunde meint er: Der Mittelpunkt der Welt ist Israel; der Mittelpunkt Israels ist Jerusalem; der Mittelpunkt Jerusalems ist die Universität; der Mittelpunkt der Universität Scholem. Wobei das Schlimmste ist, daß er ernsthaft meint, daß die Welt einen Mittelpunkt habe. Das gerade hat sie Gott sei Dank nicht!54
Bernhard Wasserstein hat unlängst gezeigt, wie leicht Arendts humoristische Äußerung über Scholem auch auf sie selbst anwendbar ist: On Arendt itself it might with no less truth be said that she saw the Jews as the centre of history, the German Jews as the Centre of Jewry, the stateless, exiled refugees as the centre of German Jewry, and herself as the queen bee among those intellectual émigrés.55
Die Beziehung zwischen Arendt und Scholem lässt sich demnach unter dem Zeichen der Dialektik von Nähe und Distanz betrachten. Aufgrund des Briefwechsels ist zu vermuten, dass Arendt Scholem – neben den oben erwähnten Faktoren – in ihrer ehrlichen Sorge um das Schicksal der Juden in Palästina und im Staat Israel nahekam, während von seiner Seite her eine große Nähe in ihrer beider Kritik an der zuerst von der Führung des jüdischen Jischuw und dann vom Staat Israel verfolgten zionistischen Politik bestand. Ein weiteres markantes Merkmal ihrer Beziehung, und das obwohl oder gerade weil Scholem Arendt 52 Vgl. Arendt an Scholem, 14. 9. 1963, in: Scholem, Briefe II, 109; Arendt/Scholem, Der Briefwechsel, 457–458; Arendt an Karl Jaspers, 20. 10. 1963, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel, 559. 53 In ihrem Artikel von 1946 Der Zionismus aus heutiger Sicht, 164, argumentierte Arendt, dass die Zionisten sich „vom Schicksal der Juden in der ganzen Welt abkapselten“, indem sie Palästina als die Zukunft des jüdischen Lebens betrachteten. 54 Arendt an Kurt Blumenfeld, 9. 1. 1957, in: Arendt/Blumenfeld, [I]n keinem Besitz verwurzelt, 174f. 55 Wasserstein, Blame the Victim, 13.
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„Herzlosigkeit“ zum Vorwurf machte, ist deren Emotionalität, die Phasen von Nähe und Distanz wechseln ließ. Diese dialektische Beziehung dauerte an, bis die verbindenden, gemeinsamen Elemente den auseinandertreibenden Momenten, die sich in Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess und Scholems scharfer Kritik daran äußerten, nicht mehr gewachsen waren. Die Kontroverse Arendt– Scholem, die in den beiden eben analysierten Briefwechseln sichtbar wurde, gründet sich auf die Vernichtung der Juden Europas sowie die Art und Weise, wie jeder der beiden die Welt im Schatten der Katastrophe verstand und wie der jeweils andere diese Bruchstelle in der Geschichte der Judenheit und der Menschheit deutete.
Gegenüber dem Holocaust: Blick in die Zukunft Was Scholem und Arendt trennte, war ihre unterschiedliche Sicht des Holocaust und dessen, wie sich der Zionismus unter dem Eindruck der Katastrophe entwickelte. Der Holocaust hatte bereits ihre Diskussion von 1946 überschattet; 1963 stand er dann im Mittelpunkt der Kontroverse um Eichmann in Jerusalem, die zum Abbruch ihrer Beziehung führte. Scholems und Arendts unterschiedliches Verständnis des Holocaust lässt sich auch anhand eines anderen Aspekts darstellen: Sowohl Scholem als auch Arendt engagierten sich direkt nach dem Krieg für die Rückführung geraubten jüdischen Kulturguts; beide unternahmen zu diesem Zweck im Rahmen der Jewish Cultural Reconstruction lange Reisen durch ganz Deutschland und veröffentlichten anschließend ihre Eindrücke.56 Ein Vergleich ihrer Berichte über die Situation im befreiten Deutschland kurz nach dem Krieg demonstriert geradezu beispielhaft die Unterschiede zwischen den beiden: Während Scholem sich ausschließlich (und durchaus nicht immer wohlwollend) auf die Situation der jüdischen Displaced Persons konzentrierte, schilderte Arendt die „Auswirkungen von zwölf Jahren totaler Herrschaft auf das deutsche Volk“,57 ohne die zu jener Zeit in Deutschland lebenden Juden auch nur zu erwähnen. Diese unterschiedliche Beschreibung der Situation im Nachkriegsdeutschland ist weitgehend auch für die Positionen der beiden in der Kontroverse um Eichmann in Jerusalem charakteristisch. Während Arendts Einstellung zum Holocaust sie, wie Dan Diner gezeigt hat, dem kollektiven Erleben der Deutschen 56 Scholem veröffentlichte einen Bericht über den derzeitigen Zustand der Juden in Deutschland: ha-Jehudim be-Germania ka-Jom, und einen über die geraubten Bücher: li-Scheelat haSifrijot ha-schedudot, in: Haaretz, (Auszüge daraus sind in: Scholem, Briefe I, 472–478 auf deutsch zugänglich); s.a. oben, Kapitel 5. Arendts Essay erschien in deutscher Übersetzung: Arendt, Besuch in Deutschland. 57 Young-Bruehl, Hannah Arendt, 344.
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näherbrachte,58 stellte sich Scholem durch seine Kritik auf die Seite derjenigen, die Arendts Buch kritisierten, darunter auch andere deutschstämmige Juden. Diese Gruppe argumentierte durch und durch einheitlich, so dass Arendt zu einem bestimmten Zeitpunkt den Eindruck bekam, es handle sich um eine organisierte Kampagne gegen sie. Nach Ansicht von Richard Cohen lag Arendt mit diesem Gefühl gar nicht so falsch: Their past experience as Jews of German extraction was the formative factor in their almost uniform response. This lent their critiques an image of organized response, but, in effect, it was their individual appropriation of and profound attachment to a collective past memory that provoked the similarity. Their perception was anchored in their German-Jewish past, and few turned to issues outside of this purview.59
Der rationalen und universalistischen Position von Arendts Buch, die aus ihrem Gefühl der Zugehörigkeit zur deutschen intellektuellen Welt herrührte, stellte Scholem (wie andere aus Deutschland stammende Juden) einen emotional begründeten, partikularistischen jüdischen Standpunkt entgegen, der in hohem Maße sein persönliches, biographisch fundiertes Verhältnis zum Holocaust wiedergab. Mit Cohens Worten: The response of Jews from Germany sheds light on a characteristic attitude of individuals who have undergone a major trauma and whose identity has become deeply intertwined with that experience. They deny the outsider’s ability to penetrate authentically into their experience, perceiving that only someone who has experienced a similar event can reach the depths of true understanding.60
Arendts Buch rührte also bei den Juden überhaupt und insbesondere bei Scholem an einen wunden Punkt, was die Bezugsgruppe betraf. Deshalb war seine Reaktion so scharf und nachhaltig. Doch wäre die Annahme verfehlt, dass für Arendt das Berichten über den Eichmann-Prozess keine emotionale Auseinandersetzung mit dem Holocaust impliziert hätte. Elisabeth Young-Bruehl weist in ihrem Buch auf das Sendungsbewusstsein hin, das hinter Arendts Wunsch gestanden habe, beim Prozess gegen Eichmann anwesend zu sein; ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, sei für sie eine „cura posterior“ gewesen.61 Versucht man vor dem Hintergrund ihres Buches aufzudecken, was ihre Beweggründe waren, so darf man wohl annehmen, dass es der Versuch war, über die Ereignisse distanziert und rational zu berichten; so bekam sie die Dinge in den Griff und konnte ihre Bindung zu Deutschland und zur deutschen Kultur bei58 Diner, Hannah Arendt Reconsidered, 182. 59 Cohen, A Generation’s Response, 260. Cohen räumt der Behandlung dieser Gruppe neben anderen großen Raum ein; ebd. sowie in: Cohen, Breaking the Code, 46–55. 60 Cohen, A Generation’s Response, 261. 61 Young-Bruehl, Hannah Arendt, 390 (lateinisch: „cura posterior“, spätere Sorge, also nachrangiges Bedürfnis).
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behalten. Die von Arendt gefundene Lösung bestand darin, die Schuld am Geschehenen zwischen Tätern und Opfern aufzuteilen, indem sie Eichmanns Person entdämonisierte und einen Teil der Schuld und Verantwortung auf die Juden selbst abwälzte. So könnten Juden und Deutsche gemeinsam die Last der Schuld tragen, was für sie zur Grundlage einer künftigen Beziehung werden sollte.62 Auch Scholem gelangte im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu der Erkenntnis, die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, zwischen Juden und Deutschen seien zu erneuern. Doch für ihn – anders als für Arendt – war der Holocaust ein weiterhin lebendiges, schmerzhaftes Geschehen, das er weder distanziert noch selbstkritisch zu betrachten vermochte. Trotzdem bildete der Abgrund, den die Ereignisse des Holocaust zwischen den beiden Völkern aufgerissen hatten, paradoxerweise auch für Scholem die Grundlage für eine Wiederaufnahme der Beziehungen, die nach anderen, neuen Regeln verlaufen sollte. Ein Beispiel dafür ist vielleicht in Scholems Einwänden gegen die Vollstreckung der Todesstrafe an Eichmann zu sehen, die er 1962 in der hebräischen Zeitschrift Ammot vorbrachte.63 In diesem kurzen Artikel stellte Scholem beide Völker als Opfer dar: „The Jewish people, whose millions were murdered, and the German people, who became a nation of murderers when it allowed the Nazi doctrine to gain power over it.“ Da es sich um eine Schuld handle, die auf einem ganzen Volk laste, erwecke die Hinrichtung eines einzelnen Menschen, so zentral er auch gewesen sein möge, die irrige Vorstellung eines Endes, als sei dieses Kapitel damit abgeschlossen. In Deutschland könne dadurch das Gefühl aufkommen, das Unsühnbare sei in gewissem Maße gesühnt worden, und dies widerspreche dem jüdischen wie dem allgemeinmenschlichen Interesse: As Jews and as human beings we have no interest in such a phony „finis“. It was an easy, slight ending in two senses: it was slight both as to significance and judgement. This hanging was an anticlimax, the satyr play after a tragedy such as had not been seen before. One fears that instead of opening up a reckoning and leaving it open for the next generation, we have foreclosed it. What superficially seems severity of judgement is in reality its mitigation, a mitigation in no way to our interest. It is to our interest that the 62 Interessant ist in diesem Kontext zu lesen, was Arendt 1946 an Jaspers über Schuld und die Differenzierung von „Opfer“ und „Täter“ im NS-Kontext schrieb (17. 8. 1946, in: Arendt/ Jaspers: Briefwechsel, 90: „Mit einer Schuld, die jenseits des Verbrechens steht, und einer Unschuld, die jenseits der Güte oder der Tugend liegt, kann man menschlich-politisch überhaupt nichts anfangen. Dies ist der Abgrund, der sich vor uns schon 1933 öffnete […] und in den wir schließlich hineingeraten sind. Wie wir aus ihm wieder herauskommen sollen, weiß ich nicht.“ 63 Englische Übersetzung in: Scholem, On Jews and Judaism in Crisis, 298–300. Hier ist zu betonen, dass Arendt im Gegensatz zu Scholem aus juristischen und moralischen Gründen Eichmanns Hinrichtung forderte. S. ihren Brief an Scholem vom 20. 7. 1963, in: Briefe II, 104; Arendt/Scholem, Briefwechsel, 443f.
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great historical and moral question, the question probing the depths which this trial has forced all to face – how could this happen? – that this question should retain all its weight, all its stark nakedness, all its horror. The hangman who had to execute Eichmann’s sentence added nothing to the situation, but he took away a great deal. As I have said before, he introduced the misplaced suggestion that this marked „the end of the story“.64
Scholem sah, genau wie Arendt, eine Gemeinsamkeit zwischen Aggressor und Opfer, und er sah die Notwendigkeit, die Beziehung zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volk gerade nach der Katastrophe, an der beide beteiligt gewesen waren, wieder anzuknüpfen. In dieser Hinsicht ging Arendts Buch in dieselbe Richtung wie Scholems Aufruf zur Selbstkritik. Deshalb fühlte sich Scholem durch Arendts für ihn unerwartete Identifizierung mit der deutschen Seite und der Kritik an der jüdischen Seite so tief verletzt. Doch über diese persönliche Kränkung hinaus, die ihr Buch – vor allem dessen Ton – ihm bereitet hatte, stand da ein Paradox, das ihn sein Leben lang begleitet hat: Seine Auffassung des Holocaust als eines historischen Ereignisses, dessen Geschichte zu erforschen sei, gleichzeitig aber auch als eines menschlichen Mysteriums, das nur in Symbolen zu erfassen sei, dessen wesenhafte Tiefe jedoch unauslotbar bleibe. Nathan Rotenstreich schrieb nach Scholems Tod, das Symbol, wie Scholem es verstand, wolle etwas ausdrücken, was der menschlichen Vernunft wesenhaft unzugänglich sei: „The Symbol thus serves as a sort of bridge between man and the universe, even as the individual realizes that it does not comprehend the mystery, either of his own existence or of that of the universe beyond.“65
b.
Das deutsch-jüdische Gespräch
Vor dem Holocaust Im Herbst des Jahres 1962 fand sich im Briefkasten der Abarbanel Straße 28, Jerusalem, ein Schreiben aus Darmstadt. Der Absender war Manfred Schlösser, Herausgeber der Schriftenreihe Agora, der Scholem aufforderte, die Festschrift zum 90. Geburtstag der deutsch-jüdischen Dichterin Margarete Susman um einen Beitrag zu bereichern. Das geplante Buch sollte zunächst natürlich die Dichterin und ihr Werk wieder in Erinnerung bringen; von Bedeutung war aber ebenso Folgendes, wie Schlosser betonte: „Darüber hinaus aber scheint es mir
64 Scholem, On Jews and Judaism in Crisis, 299f. 65 Rotenstreich, Gershom Scholem’s Conception of Jewish Nationalism, 118.
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auch ein wichtiges Band zur Besinnung auf eine unzerstörbare geistige Symbiose des deutsch-jüdischen Geisteslebens zu sein“.66 Margarete Susman war 1872 in Hamburg als Tochter jüdischer Eltern geboren worden. Ihre intellektuelle Prägung erfuhr sie unter anderem in München und Berlin. Dort lernte sie den George-Kreis kennen und studierte bei dem bekannten jüdischen Soziologen Georg Simmel. Später näherte sie sich dem von Franz Rosenzweig gegründeten Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main an. Sie unterhielt Kontakte zu Personen des jüdischen öffentlichen Lebens wie Martin Buber und Gustav Landauer; in ihren Schriften betonte sie ihre Verbundenheit mit dem Judentum sowie mit der deutschen Kultur und hob die Nähe zwischen Christentum und Judentum hervor. Als sie 1933 gezwungen war, Deutschland zu verlassen, siedelte sie in die Schweiz über, wo sie bis zu ihrem Tod Anfang 1966 blieb.67 Das erste Mal waren Scholem und Susman einander 1946 in Zürich begegnet. Sein Eindruck von ihr war zwiespältig: Einerseits fühlte er sich zu ihr hingezogen; in seinem Tagebuch bezeichnete er den Kontakt mit ihr als angenehm; andererseits war ihm ihre Haltung gegenüber dem Christentum nicht recht geheuer: Mit Margarete Susman – das Gespräch war für mich erhebend und lehrreich. Ich hatte nicht gewusst und stellte nun zu meiner Überraschung fest, dass sie nur aus Gründen des guten Tons nicht konvertiert ist – das hat ja keinen Wert mehr – aber anscheinend glaubt sie doch – an Jesus. Jedenfalls trennt sie nur eine Handbreit vom Christentum der Evangelien. So sagte sie mir. Andererseits musste sie zugeben, dass sie das Judentum, das sie hatte verlassen wollen, gar nicht recht kannte, und vielleicht war das der Grund, weshalb sie es nicht verlassen hat! Unser Gespräch gewann an Tiefe, denn ich sagte mir, dass hier nur metaphysische „Riesenschritte“ am Platze seien. Am Ende war ich bedrückt, aber sie merkte es nicht – soweit habe ich es in der diplomatischen Kunst schon gebracht.68
Was Scholem störte, war der Umstand, dass Margarete Susman in ihrer Jugend beinahe zum Christentum übergetreten wäre,69 sowie ihre tiefe gefühlsmäßige Verbundenheit mit dieser Religion, die sie in ihrem soeben erschienenen Buch Hiob zum Ausdruck gebracht hatte.70 Offenbar war es ihm gelungen, seine Be66 Schlösser an Scholem, 22. 9. 1962, im GSA, Briefwechsel Schlösser. 67 Ausführlich zu Susmans Leben s. Nordmann, Der Dialog ist Bruch und Beginn; Malagoli, Margarete Susman und das deutsch-jüdische Gespräch; vgl. auch ihre Autobiographie von 1964: Susman, Ich habe viele Leben gelebt. 68 Tagebuch-Aufzeichnung vom 1. 6. 1946, im Original Hebräisch, in: Mi-Nessiotaj be-Schlichut be-Eropa, 19. 69 Damals war sie mit einem Nicht-Juden verlobt, dessen Familie drängte darauf, sie solle sich taufen lassen. Was Susman in ihrer 1964 veröffentlichten Autobiographie über diesen Abschnitt ihres Lebens berichtet, stimmt mit Scholems Tagebuch-Eintragung überein; s. Susman, Ich habe viele Leben gelebt, 70f. 70 Susman, Margarete, Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, Zürich 1946.
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stürzung zu verbergen, denn Susman berichtet über eben diese Begegnung mit Scholem: Nicht lange nachdem Das Buch Hiob fertig war, erhielt ich eines Tages den Besuch eines mir Unbekannten, der für vieles in meinem Leben entscheidend wurde. Ein sehr großer, schlanker Mann trat herein, mit dunklen Augen von solcher Güte, daß sie mich an die meines verstorbenen Vetters erinnerten, der ein Abgrund von Güte gewesen war. Es war Gershom Scholem. Die nun folgenden Stunden waren so schön, weil ich unendlich viel von ihm zu lernen hatte. Mein Buch Hiob wollte ich ihm verschweigen, aber er wußte darum und ließ mir keine Ruhe, bis ich es ihm zu schicken versprach.71
Susman ließ Scholem ein Exemplar von Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, sobald es erschienen war, zukommen, worauf er bald mit einem Brief antwortete. Darin stellte er nicht nur fest, dass ihm das Buch zu Herzen gegangen sei, sondern äußerte auch unmissverständliche Kritik am zweiten Kapitel, in dem die Verfasserin versucht, die Welt des Judentums mit dem christlichen Europa (insbesondere mit Deutschland) in Einklang zu bringen: „Für meine Begriffe ist die metaphysische Balance zwischen diesen Welten, um die Sie sich bemühen, nicht, niemals und nirgendwo zu halten“.72 Als Gegengabe schickte Scholem Susman ein Exemplar der neuen Ausgabe seines Buchs über die jüdische Mystik. Während der folgenden anderthalb Jahrzehnte blieb der Kontakt bestehen, und Scholem sandte der Dichterin von Zeit zu Zeit Veröffentlichungen aus seiner Feder. Dabei dürfte sein Vorbehalt von 1946 zwischen ihnen in der Schwebe geblieben sein, doch mit der Aufforderung zur Teilnahme an der Festschrift wurde er wieder akut. Der Keil, den Scholem im Lauf seines Lebens zwischen Christentum und Judentum getrieben hatte, indem er sich und alles, was ihm lieb und wert war, als jüdisch oder dem Judentum zugehörig betrachtete,73 war das genaue Gegenteil von Margarete Susmans Bemühen, die beiden Welten in ihrem Leben und Werk harmonisch zu verbinden. Vielleicht war es dieser Gegensatz, auf den sich Scholems ursprüngliche Weigerung, an der Festschrift mitzuwirken, gründete. Das Anliegen des geplanten Bandes, wie Schlösser es formuliert hatte, dürfte ebenfalls zu Scholems Ablehnung beigetragen haben: „Besinnung auf eine unzerstörbare geistige Symbiose des deutsch-jüdischen Geisteslebens“ – das war für ihn ein rotes Tuch. Doch ließ sich Scholem durch Schlössers inständiges Bitten erweichen und steuerte schließlich ein offenes Schreiben bei, worin er das Bestehen einer „deutsch-jüdischen Symbiose“ vor 1933 energisch leugnete.74 71 Susman, Ich habe viele Leben gelebt, 161. 72 Scholem an Margarete Susman, 6. 11. 1946, in: DLA, Susman Nachlass. In ihren Memoiren geht Susman auf diese Kritik ein; s. ebd., 162. 73 Dazu ausführlich: Schäfer, Gershom Scholem und das Christentum. 74 Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch, erstmals gedruckt in der Festschrift für Margarete Susman 1964, dann wieder in: Scholem, Judaica 2, 7–11. Zum Begriff der „deutsch-
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Dieses offene Schreiben, datiert vom 18. Dezember 1962, entfachte eine lebhafte Debatte zwischen Scholem und Schlösser, die zunächst im privaten Briefwechsel geführt wurde, dann auch im Bulletin des Leo Baeck Instituts.75 Scholem hatte sich sehr dezidiert geäußert: „Ich bestreite, daß es ein solches deutschjüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat“.76 Der von Schlösser vorausgesetzte Dialog zwischen Juden und Deutschen sei nie in Gang gekommen, weil die deutsche Seite auf die diesbezüglichen Bemühungen der jüdischen nicht eingegangen sei. Die Juden hätten verzweifelte Anstrengungen unternommen, mit ihrer deutschen Umwelt in ein Gespräch einzutreten, seien aber durchwegs auf taube Ohren gestoßen: Die angeblich unzerstörbare geistige Gemeinsamkeit des deutschen Wesens mit dem jüdischen Wesen hat, solange diese beiden Wesen realiter miteinander gewohnt haben, immer nur vom Chorus der jüdischen Stimmen her bestanden und war, auf der Ebene historischer Realität, niemals etwas anderes als eine Fiktion, eine Fiktion, von der Sie mir erlauben werden zu sagen, daß sie zu hoch bezahlt worden ist. Die Deutschen hat diese Fiktion ausweislich einer nur allzu reichen Dokumentation, meistens ergrimmt und bestenfalls gerührt.
Worin der zu hohe Preis bestand, den die Juden für die Fiktion eines Dialogs mit den Deutschen bezahlt hätten, erläutert Scholem in seiner Replik: Ich habe keinen Zweifel daran gelassen, gleich zu Beginn meines Briefes, daß für das Nichtzustandekommen dieses Gesprächs als eines historischen Phänomens, meiner Überzeugung nach, zu einem wichtigen Teil die Liquidation der jüdischen Substanz durch die Juden selber verantwortlich zu machen ist. Diese Liquidation hat gewiß tiefe und weitreichende Gründe, die nur zum Teil bisher zur Sprache gebracht worden sind, aber der dialektische Zusammenhang zwischen dieser Liquidation und dem Schicksal der Juden in Deutschland im Guten und Bösen scheint mir evident.77
jüdischen Symbiose“ s. Islar, Zum Problem der Symbiose; Zimmermann, Die deutschen Juden 1914–1945, 84–89; Voigts, Die deutsch-jüdische Symbiose, bes. 250–253. Zu Scholems Rolle in diesem Zusammenhang und zu der – hier nicht zu erörternden – Frage, ob eine solche Symbiose vor dem Zweiten Weltkrieg bestanden hat oder nicht, s. Voigts, Das Machtwort; Weidner, Gershom Scholem, 40–45. Es fällt auf, dass die von beiden vorausgesetzte Dichotomie zwischen „Deutschen“ einerseits und „Juden“ andererseits ihren Ursprung in der historischen Auseinandersetzung hat. Heutzutage würde man zwischen „deutscher“ und „jüdischer“ Kultur in der Weimarer Republik nicht mehr eine so scharfe Trennlinie ziehen; dazu etwa Zimmermann, Deutsche gegen Deutsche, 19–21. 75 Die Debatte umfasst zunächst das Offene Schreiben von Scholem in der Festschrift Susman, die Erwiderungen von Schlösser und von Rudolf Kallner und Scholems Replik im Bulletin des Leo Baeck Instituts von 1965. Scholems Aufsätze wurden wieder gedruckt in: Scholem, Judaica 2, 7–11 (im Folgenden daraus zitiert). 76 Scholem, Judaica 2, 7; Hervorhebung im Original. 77 Ebd., 10, 16f.
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Scholem konstatiert hier eine logische Abfolge: Zwischen der Liquidation des jüdischen Kontinuums, der jüdischen Überlieferung durch die deutschen Juden und ihrem Schicksal, d. h. ihrer physischen Liquidation, sieht er einen Zusammenhang, wenn auch nicht unbedingt einen direkten. Von Scholem kommt eine solche Äußerung unerwartet, zumal er seinerzeit von Hannah Arendt vorgetragene analoge Argumente scharf zurückgewiesen hatte: In ihrem Aufsatz von 1946 hatte sie gemeint, die äußerliche Ähnlichkeit zwischen den erklärten Zielen der zionistischen Bewegung und den Tendenzen der Antisemiten in Deutschland habe für die deutschen Juden die Fronten verwirrt; in ihrem Buch über den Eichmann-Prozess hatte sie sich zu der Behauptung verstiegen, für vieles, was im Holocaust über sie hereingebrochen war, seien die Juden selbst verantwortlich.78 Dass Scholem hier eine Linie vertritt, die er bei Hannah Arendt für inakzeptabel erklärt hatte, macht wiederum deutlich, wie erheblich die Diskrepanz zwischen ihrer und seiner Position nach seinem Empfinden war; die Entfremdung ging so tief, dass er ihre Kritik, die der seinen nahestand, für illegitim erklärte, weil sie von ihr kam. Jedenfalls betrachten hier Arendt wie Scholem die Vergangenheit eindeutig aus einer Post-Holocaust-Perspektive; ihre Sicht des Früheren ist determiniert durch die späteren Folgen. Doch zum Abschluss seines Offenen Schreibens lässt Scholem eine winzige Möglichkeit für künftige Entwicklungen offen: Es ist wahr: daß jüdische Produktivität sich hier verströmt hat, wird jetzt von den Deutschen wahrgenommen, wo alles vorbei ist. Ich wäre der letzte zu leugnen, daß darin etwas Echtes – Ergreifendes und Bedrückendes in einem – liegt. Aber das ändert nichts mehr an der Tatsache, daß mit den Toten kein Gespräch mehr möglich ist, und von einer „Unzerstörbarkeit dieses Gespräches“ zu sprechen, scheint mir Blasphemie.79
Was Margarete Susman betrifft, so richtete Scholem seine Kritik ausdrücklich nicht gegen sie, sondern gegen den Herausgeber ihrer Festschrift. Daher ist das Offene Schreiben nur an Manfred Schlösser adressiert, Margarete Susman kommt darin überhaupt nicht vor. Auch in seinen privaten Briefen, die er nach Erscheinen der Festschrift bis zu ihrem Tod 1966 an sie versandte, bezeichnet er immer nur Schlösser als einen Vertreter jener Deutschen nach dem Kriege, die zu romantischer Verklärung der jüdischen Existenz in Deutschland vor dem Krieg neigten.80 Dabei wusste Scholem sehr wohl, wie nahe Margarete Susman vor dem 78 Ausführlicher dazu im vorigen Teilkapitel. Eine ähnliche Argumentationsrichtung ist auch in Scholems Beitrag über die Wissenschaft des Judentums von 1944 zu beobachten (in: Scholem, Judaica 6). 79 In: Judaica 2, 11. 80 So schreibt er etwa am 31. 1. 1965 in seiner Erwiderung auf ihren Dankbrief für seinen Beitrag zu ihrer Festschrift: „Zu den schrecklichsten Dingen, die einem im jetzigen Deutschland begegnen, gehört die grausliche Art, in der, nachdem man die Juden umgebracht hat, es nun mit frommem Augenaufschlag und heuchlerischer Liberalität vermieden wird, die Juden als
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Krieg eben solchen jüdischen Kreisen gestanden hatte, deren Verhalten er sowohl in seinem „Offenen Schreiben“ als auch in seinem Aufsatz als unheilvoll bezeichnet hatte, nämlich dem jüdischen Soziologen Georg Simmel und Stefan George, dessen Kreis einige markante jüdische Anhänger umfasste.81 Im Grunde wurde Scholems dezidierte Äußerung zu diesem Thema nicht nur durch die Art der Formulierung ausgelöst, in der er zur Teilnahme an der Susman-Festschrift aufgefordert worden war, sondern in nicht geringerem Maße durch Margarete Susman selbst – als Vermittlerin zwischen der jüdischen und der christlichdeutschen Welt, wie er sie sah. Diese Schriftstellerin und die von ihr vertretene Sicht der jüdischen Vorkriegsgesellschaft in Deutschland veranlasste Scholem, mit der deutschen Judenheit am Vorabend ihrer gewaltsamen Liquidation scharf ins Gericht zu gehen, zumal sie ihm aus seiner eigenen Jugend nur allzu bekannt war. Wie in den vorangehenden Kapiteln dargelegt, standen Gerhard Scholems Jugendjahre unter dem Zeichen der Auflehnung wider das assimilatorische jüdische Bürgertum und der moralischen Verpflichtung zu einer separaten kulturjüdischen Existenz im Land Israel. Doch nirgends in seinen Schriften aus jüngeren Jahren, bis hin zu jenem „Offenen Brief“ an Manfred Schlösser, hatte Scholem dieses Thema ausdrücklich und systematisch erörtert. Von da an und weiter ist allerdings unverkennbar, wie ihn die Sache beschäftigte; bei mindestens zwei weiteren Gelegenheiten ist Scholem ausführlicher auf die Frage nach etwaigen Beziehungen zwischen Juden und Deutschen in der Vorkriegszeit eingegangen. Das erste Mal bald nach der erwähnten Kontroverse um das deutschjüdische Gespräch, und zwar bei dem Vortrag vor der Vollversammlung des jüdischen Weltkongresses im August 1966 in Brüssel;82 das zweite Mal war ein gutes Jahrzehnt danach, anlässlich eines Vortrags in den USA.83 In seiner Rede vor dem jüdischen Weltkongress 1966 – einem von vier Vorträgen zum Thema Deutsche und Juden – erweiterte Scholem seine in dem Schreiben an Schlösser dargelegte Position, indem er auf verschiedene Stadien der Geschichte der Juden in Deutschland einging.84 Ein Satz der inzwischen
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Juden zu bezeichnen, weil man, wie der Schwindel geht, sich damit ja auf die Stufe der Rassentheoretiker stellen würde“ (Scholem, Briefe II, 123). Vgl. Susman, Ich habe viele Leben gelebt, 47–66. Zu Scholems negativer Einstellung zu Simmel s. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 72f, 83; zu Scholems Urteil über den George-Kreis s. o., Kapitel 2. In: Scholem, Judaica 2, 20–46. Scholem, On the Social Psychology of the Jews in Germany; Weiteres dazu unten. Die übrigen Redner waren der deutsche Historiker Golo Mann, der jüdische Historiker Salo W. Baron und der deutsche Theologe und Politiker Eugen Gerstenmaier, ein Gegner des NSRegimes, der 1944 wegen seiner Mitwirkung an dem Attentat auf Hitler festgenommen worden war. Die einführenden Worte sprach Nahum Goldmann, den Schluss bildete eine
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verstorbenen Margarete Susman aus dem Jahre 1935, in dem sie in Anbetracht der schweren Zeiten zu jüdischer Selbstverleugnung aufruft, wird dort als abschreckendes Beispiel angeführt für eine „Perversion, in der christliche Ideen, die wir abgelehnt haben, solange wir atmen konnten, uns nun als angebliche jüdische Forderungen unserer größten Männer entgegentraten“. Im Schlussabschnitt seiner Rede fasst Scholem die Möglichkeit künftiger Beziehungen zwischen Juden und Deutschen ins Auge und stellt dafür klare Bedingungen: Fruchtbare Beziehungen zwischen Juden und Deutschen, in denen eine bedeutende und ebensosehr eine die Sprache lähmende grauenhafte Vergangenheit aufbewahrt und neu verarbeitet sein sollen, sie müssen, wenn anders sie noch einmal aktuell werden können, im Verborgenen vorbereitet werden. In solchem neuen Wirken liegt die einzige Garantie, daß die öffentlichen Beziehungen unserer Völker nicht von gefälschten Losungen und Forderungen vergiftet werden. Zu einem neuen Verständnis bedarf es, wo Liebe nicht mehr aufgebracht werden kann, anderer Ingredienzen: der Distanz und des Respektes, der Offenheit und Aufgeschlossenheit und, am meisten, des reinen Willens.85
Scholems Blick entstammte unverkennbar der Holocaust-Erfahrung, er projizierte das bittere Ende der deutschen Judenheit auf die Anfänge ihrer Geschichte und auf deren gesamten Verlauf, d. h. Scholem beurteilte die deutsch-jüdische Geschichte a posteriori von ihrem tragischen Ausgang her.86 Doch neben dieser deterministisch-negativen Betrachtungsweise der Vergangenheit sind auch Anzeichen für eine künftige Erneuerung der Beziehungen zwischen Juden und Deutschen nach der Katastrophe wahrzunehmen, einschließlich persönlicher Bereitschaft, am Bau von Brücken zwischen den Völkern mitzuarbeiten. Vielleicht darf man sogar vermuten, dass gerade das Nicht-mehr-Bestehen des deutschen Judentums für Scholem eine Möglichkeit des künftigen Dialogs eröffnete.
Nach dem Holocaust In zwei verschiedenen Phasen seines Lebens hat Scholem in Abrede gestellt, dass zwischen Juden und Deutschen in Deutschland eine fruchtbare Beziehung zustandekommen könne. Die erste Phase fiel, wie gesagt, auf die Zeit vor dem Holocaust, besonders auf seine jüngeren Jahre; die zweite Phase setzte unmittelbar nach dem Holocaust ein, als er 1946 auf seiner Reise durch Deutschland den jüdischen Überlebenden begegnete, die in Durchgangslagern an verschieGrußbotschaft von Karl Jaspers. Sämtliche Vorträge erschienen 1967 bei Suhrkamp unter dem Titel Deutsche und Juden. 85 Scholem, Judaica 2, 43, 46. 86 Dazu Voigts, Das Machtwort, 210.
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denen Orten der amerikanisch besetzten Zone hausten. Die Eindrücke und Gespräche von dieser Reise kondensierten sich in dem Schluss, das deutsche Judentum sei unwiederbringlich verloren, was ihn zu einer negativen Einstellung gegenüber den dort verbleibenden Juden führte.87 Überraschend mag anmuten, dass Scholem im selben Zeitraum einen versöhnlichen Ton gegenüber Deutschland anschlug, als er während seines Aufenthalts dort versuchte, die älteste Handschrift des babylonischen Talmud aus der Bayerischen Staatsbibliothek an die Hebräische Universität überführen zu lassen. In seinem bereits erwähnten Schreiben an die Universitätsleitung bezeichnet er dies von deutscher Seite als „a symbolic act towards the Jewish people and as a first step toward bridging the awful abyss that has been created between the two peoples“.88 Diese frühe Äußerung darüber, die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen so kurz nach dem Holocaust fortzusetzen oder zu erneuern, war kein Lapsus, vielmehr bildete sie einen wichtigen Bestandteil jener Haltung, die Scholem im Angesicht des Holocaust zu Deutschland und den Deutschen einnahm. Eine der ersten öffentlichen Debatten über etwaige kulturelle Kontakte zwischen Juden und Deutschen vollzog sich kurz vor der gewichtigen Kontroverse um die Wiedergutmachungsverhandlungen mit Deutschland seit 1952.89 Während dieser Zeit artikulierten sich in der jungen israelischen Gesellschaft wutund hasserfüllte Gefühle gegenüber Deutschland und Deutschen überhaupt, begleitet von Racheaufrufen. Die offizielle Deutschlandpolitik des Staates Israel in den ersten Jahren seines Bestehens war davon geprägt, direkte Kontakte zwischen den beiden Staaten sowie zwischen Juden und Deutschen prinzipiell abzulehnen, zumal auf deutschem Boden.90 In dieser Situation erhielt Martin Buber 1951 den Goethe-Preis der Universität Hamburg.91 Dass Buber, der 1938 nach jahrelange zionistische Engagement im nationalsozialistischen Deutschland ins Land Israel gekommen war, diesen Preis annahm, entfachte eine lebhafte öffentliche Debatte und scharfe Kritik in der israelischen Tagespresse. Daraufhin entschloss sich Buber, nicht zur Preisverleihung nach Hamburg zu reisen und das Geld zwei israelischen Zeitschriften zukommen zu lassen.92 In Erwiderung auf eine der Invektiven in der israelischen Presse, in denen sowohl die Verleiher als auch der Empfänger des Preises angegriffen worden waren, schrieb Scholem 87 Scholem, ha-Jehudim be-Germania ka-Jom. 88 Scholem an die Hebräische Universität, 29. 7. 1946, in: Scholem, Briefe I, 320. 89 Zu diesem Kapitel in der Geschichte des Staates Israel s. u.a. Segev, Die siebte Million, 427– 506; Weitz, Introduction. Scholem selbst nahm dazu nicht Stellung, weder öffentlich noch privat, auch nicht in seinen bisher aufgefundenen Briefen. 90 Dazu Barzel, Dignity, Hatred and Memory, 247–251. 91 Martin Buber an Bruno Snell, 22. 12. 1951, in: Buber, Briefwechsel III, 298. 92 Dazu Friedman, Encounter on the Narrow Ridge, 324f. Angaben zur Veröffentlichung eines Teils der verbalen Attacken auf Buber bei Segev, Die siebte Million, 506, Anm. 30.
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einen Brief an die Redaktion der israelischen Tageszeitung Haaretz, worin er die Stadt Hamburg in Schutz nahm. Scholem meinte – wie Bubers Gegner auch – Buber hätte den Preis ablehnen sollen, „solange der Abgrund zwischen uns und ihnen klafft“. Die Beziehung zum „deutschen Kollektiv“ sei zwar problematisch, aber die Intentionen der Individuen, die Buber den Preis zuerkannten, seien nicht von vornherein zu disqualifizieren, denn sie zielten möglicherweise darauf, „den tragischen Zirkel von Schuld, Scham und unaufhörlicher Klage zu durchbrechen“: Ich glaube, dass die israelische Seite unter den gegenwärtigen Umständen verpflichtet ist, sich jeglicher Kontaktaufnahme zu Deutschen zu enthalten, zumal wenn diese nicht nur im eigenen Namen sprechen, sondern im Namen einer deutschen Öffentlichkeit. Wer immer von uns in jüdischer Mission nach Deutschland reiste – mich selbst eingeschlossen – hat vor diesem schweren Problem gestanden. Einzelpersonen mögen in Ordnung sein, hie und da gab es auch solche, die als Gerechte zu bezeichnen waren, aber die deutsche Öffentlichkeit dieser Generation ist nicht in Ordnung. Sollen wir aber solchen Einzelnen ins Gesicht spucken, wenn eine ganze Öffentlichkeit hinter ihnen steht, um nicht zu sagen: ihre Integrität ausnützt? Von einem deutschen Kollektiv einen Preis anzunehmen, kommt nicht in Frage, denn darin sind zwangsläufig eine große Zahl von Personen inbegriffen, die der Preisempfänger nicht kennt und deren Hände mit dem Blut unseres Volkes befleckt sind. Aber man darf doch fragen, ob deshalb die vielleicht lauteren Absichten der Preisverleiher zurückzuweisen sind.93
Scholem lehnte also Verbindungen mit den Deutschen als Volk und „Kollektiv“ ab, doch schloss er trotzdem den Kontakt und die Verständigung mit Einzelnen nicht grundsätzlich aus, solange deren Verhalten unter dem nationalsozialistischen Regime und deren akzeptable Einstellung einer Nachprüfung standhielten. Ein Beispiel dafür ist sein Schreiben an den deutschen Schriftsteller Rudolf Hagelstange, der sich durch einen Aufsatz von Scholem in der Neuen Schweizer Rundschau zu einer öffentlichen Stellungnahme veranlasst gesehen hatte.94 In einer Ansprache am 24. Januar 1952 hatte dieser sich vorbehaltlos zur Schuld der Deutschen an den Geschehnissen während des Holocaust bekannt und dazu aufgerufen, auf eben dieser Grundlage die Verständigung zwischen Deutschen und Juden zu erneuern, und zwar nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen Individuen. In seiner Erwiderung versichert Scholem dem deutschen Autor zunächst, „daß mich Ihre Rede über das, was das deutsche Volk und der deutsche Einzelne für die Bereinigung der durch die Judenmorde geschaffenen Lage tun könnten, tief ergriffen hat“. Das Schmerzliche und Katastrophale, das zwischen Deutschen und Juden vorgefallen ist, deutet Scholem nur kurz an, indem er von der „bedrückenden Atmosphäre“ spricht, die bereits 1923, als er 93 In: Scholem, Devarim be-Go, 121–122. 94 Hagelstange, Sühne und Ehre (März 1952).
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nach Palästina auswanderte, in Deutschland geherrscht habe. Im Folgenden schreibt er, dass er bei seinen Deutschland-Reisen unmittelbar nach dem Weltkrieg „einige der bittersten Momente meines Lebens“ durchgemacht habe, und richtet dann das Wort an Hagelstange persönlich: Stimmen wie die Ihre habe ich nur sehr, sehr selten vernommen (verlogene, süßliche Heucheleien desto mehr), und das ist es wohl, warum mich die Ihre so beweglich anspricht. Ich glaube, Sie werden verstehen, wie schwer es für Juden ist, besonders aus der Ferne, im Chorus der oft verworren zu uns dringenden deutschen Stimmen dies herauszuhören. Umso mehr erheischt ein Wort wie das Ihre die Versicherung, daß es auch hier vernehmbar ist. Es ist vielleicht wenig, in Ihrem Sinn, wenn ich sage: vernehmbar, aber es wäre vermessen, schon von Antwort zu sprechen. Und doch verstehe ich, daß solche Antwort, wenn schon nicht fällig, so doch für Ihr Anliegen dringlich wäre, sofern es die Erneuerung eines Gesprächs visiert, das zwischen Deutschen und Juden so verhängnisvoll abgerissen ist. Auf dem Boden des Gefühls kann es in dieser Generation nicht mehr aufgenommen werden. Ich gehöre zu denen, die glauben, daß eine den Ereignissen voll ins Gesicht blickenden Rationalität, die nichts verwischt und nichts beschönt, eine Restitution des uns Gemeinsamen, Fragwürdigen gelingen kann, die dem lebendigen Gefühl (aus dem Versöhnung, wenigstens unter Menschen, quillt) in dieser Zeit versagt sein muß. In diesem Sinn fühle ich mich von Ihrem Anruf an Ihr eigenes Volk mitangesprochen und mitbetroffen.95
Wie wichtig dieser Brief für Scholem war, geht daraus hervor, dass er ihn als einzigen nachträglich in sein Tagebuch übernommen hat.96 Scholem betrachtete Hagelstange als den Sprecher einer Minderheit in Deutschland; das dürfte der Grund gewesen sein, weshalb er dessen Position zu stärken suchte, indem er ihm seine Hochachtung aussprach. Hier stellt Scholem dem Gefühl, auf das sich die Erneuerung des Gesprächs zwischen Vertretern der beiden Völker nicht stützen könne, eine rationale Betrachtung des Geschehenen entgegen. Wenige Jahre später waren es dann „wissenschaftliche Erkenntnis und historische Einsicht“, die ihm als Grundlage für einen neuerlichen Dialog zwischen Juden und Deutschen geeignet schienen. Im Dezember 1952 wurde Scholem von der Deutschen Universitätszeitung um einen Beitrag gebeten. In seiner Antwort würdigt Scholem die Arbeit der Herausgeber und spricht sie als diejenige neue Generation an, die auf eine andere Zukunft für ihr Volk hinarbeite. Trotzdem lehnt er ihre Bitte mit dem Hinweis ab, dass allzu viele Akademiker an deutschen Bildungseinrichtungen es vorzögen, ihre eigene Vergangenheit während der nationalsozialistischen Herrschaft zu vergessen und unbequeme Fragen und Fakten abzuwimmeln. Diese verbreitete Haltung mache zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedes Gespräch unmöglich. Scholems Ablehnung war jedoch nicht endgültig, denn er schließt mit den 95 Scholem an Rudolf Hagelstange, 22. 6. 1952, in: Scholem, Briefe II, 32. 96 Scholem, Tagebücher. 8.12.49, GSA, Akte 265/25, 47–49.
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Worten: „Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß es Ihnen vergönnt sein möge, die Atmosphäre mitzuschaffen, in der redliche Worte wieder wirken können, und in der ein Jude zu einer anonymen Gruppe ihm unbekannter Deutscher wieder sprechen kann, ohne ihre Biographien zu kontemplieren“. Dieser Brief Scholems wurde in einem der folgenden Hefte der Zeitschrift abgedruckt.97 Keine sofortige Zusammenarbeit, dafür aber Worte des Verständnisses und der Ermutigung – das war Scholems Devise, um die Beziehungen zu Deutschen und Deutschland in den folgenden Jahren allmählich wiederaufzunehmen. Anfangs versicherte er einzelne Deutsche, deren Vergangenheit ihm untadelig erschien, seiner Hochachtung, wohingegen er den direkten Kontakt zu Personen vermied, von deren nationalsozialistischer Vergangenheit er wusste bzw. erfuhr.98 Vielleicht war das der Grund, weshalb Scholem in den folgenden Jahren nicht vor einem größeren Publikum in Deutschland auftrat. Ein Wandel der Haltung Scholems setzte 1957 ein. Im Juli dieses Jahres sprach er dreimal im Rahmen der Loeb Lectures, einer Vorlesungsreihe zur jüdischen Kultur an der philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt. Scholems Vorträge, angeregt von Theodor Adorno und Max Horkheimer, handelten von der Geschichte der Kabbala in Safed im 16. Jahrhundert.99 Im selben Jahr erschien in Zürich die erste deutsche Auflage von Scholems ursprünglich in englischer Sprache publiziertem Buch Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Das Buch erschien zwar in der Schweiz – bei Daniel Brody im Rhein-Verlag –, aber Scholem schickte einige grundsätzliche Bemerkungen voran, wie er sich das Verhältnis von Juden und Deutschen in Gegenwart und Zukunft vorstellte: Zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk ist in den Jahren der Katastrophe und Vernichtung ein Abgrund entstanden, über dessen im vollen Sinn des Wortes blutigen Ernst sich hinwegtäuschen zu wollen vergeblich wäre. Wenn dies Buch erst jetzt auf deutsch erscheint, so hängt das mit diesem Stand der Dinge zusammen. Ob es wissenschaftlicher Erkenntnis und historischer Einsicht vergönnt sein mag, etwas für die Überbrückung dieses Abgrundes zu tun, ist schwer zu ermessen. Dennoch glaube ich, daß eine tiefergreifende Diskussion bedeutender Phänomene der jüdischen Geschichte und Religion, wie sie in dem vorliegenden Buch versucht worden ist, auch
97 Scholem, Ein Brief aus Israel, in: Deutsche Universitätszeitung VII 23–24 vom 22. 12. 1952, 11; wieder abgedruckt in: Scholem, Briefe II, 28f. 98 Ein Beispiel dafür ist der evangelische Kirchenhistoriker Ernst W. Benz (1907–1978), ein fester Teilnehmer an den Eranos-Tagungen; bei seinem Besuch in Ascona 1952 hatte Scholem mit ihm sprechen wollen, sagte das Treffen jedoch ab, als Karl Löwith ihm mitteilte, Benz sei Mitglied der SA gewesen. S. Scholem, Tagebücher 1952, GSA, 36. 99 Vgl. Adorno an Horkheimer, 30. 5. 1956, in: Adorno/Horkheimer, Briefwechsel, 356. In seiner Antwort auf die Einladung (Scholem an Horkheimer, 4. 6. 1956, GSA, Korrespondenz Horkheimer) schreibt Scholem unter anderem: „Es wird mich sehr freuen, wenn diese Vorlesungen ihren Zweck erfüllen, ein besseres Verständnis für die Welt des Judentums bei den Hörern zu erwecken.“ S.a. Adorno, Scholem spricht.
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gerade in dieser Situation von Wichtigkeit werden kann. Ein jüdischer Autor kann von sich aus gewiß nicht viel tun, um diese Situation zu ändern, aber er kann Materialien und Instrumente liefern, ja vielleicht auch Einsichten, die bei einer wieder möglich werdenden Aussprache belangvoll werden könnten.100
Hier hat sich das rationale Element, dem bereits in dem Schreiben an Rudolf Hagelstange Mittlerfunktion zugedacht war, deutlicher artikuliert. Die Tendenz einer schrittweisen Annäherung an Deutschland durch das Medium seiner wissenschaftlichen Forschungen hat Scholem in den folgenden Jahren weiterverfolgt. 1959 verfasste er eine kurze Einleitung zu einer in München erscheinenden deutschen Studie über den Chassidismus,101 1960 erschien in Zürich der erste Band seiner Eranos-Vorlesungen,102 im selben Jahr hielt er auf dem internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Marburg einen Vortrag über Die krypto-jüdische Sekte der Dönme (Sabbatianer) in der Türkei,103 und 1962 kam im Berliner Verlag Walter de Gruyter eine erweiterte Fassung seines Buches über die Anfänge der Kabbala heraus. Ebenfalls 1962 erschien der zweite Band seiner Eranos-Vorlesungen in Zürich.104 Eines der wichtigsten Jahre für die Geschichte von Scholems Beziehungen zu Deutschland dürfte 1963 gewesen sein: Damals wurde ihm zum ersten Mal eine Gastprofessur an der Universität Heidelberg angeboten – doch lehnte er wegen der nationalsozialistischen Vergangenheit einiger Fakultätsmitglieder ab;105 im selben Jahr traten die Meinungsverschiedenheiten mit Hannah Arendt über deren Verständnis der deutsch-jüdischen Beziehungen während des Holocaust zutage; und zur selben Zeit erging Manfred Schlössers Aufforderung zur Mitarbeit an der Festschrift für Margarete Susman, wodurch Scholem sich herausgefordert fühlte, das Bestehen eines deutsch-jüdischen Dialogs vor dem Holo100 101 102 103 104 105
Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, VII. Georg Langer, Neun Tore: das Geheimnis der Chassidim, München 1959, 9f. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Numen 7 (1960), 93–122. Scholem, Ursprung und Anfänge der Kabbala; ders., Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Die Einladung wurde von dem deutschen Historiker Werner Conze ausgesprochen; zu dessen nationalsozialistischem Hintergrund, von dem Scholem offenbar nichts wusste, s. Dunkhase, Werner Conze, sowie Lausecker, Das Konstrukt „Bevölkerung“. Zu Scholems Ablehnung der Einladung vgl. Scholem an Werner Conze, 6. 8. 1963, in: Briefe II, 105. In einer Tagebuch-Aufzeichnung vom 3. 8. 1963 (Scholem, Tagebücher: 3. August 1963, GSA, S. 8) schrieb Scholem dazu: „Allein die Nachbarschaft Kuhns, der mein nächster Fachkollege [wäre], muß mich verhindern, das ernstlich zu erwägen“; der Neutestamentler Karl Georg Kuhn, seit 1932 Mitglied der NSDAP, war seit 1954 Professor in Heidelberg (ausführlicher dazu bei Theißen, Neutestamentliche Wissenschaft, 15–149). Im Brief an Conze erwähnte Scholem Kuhns nationalsozialistische Vergangenheit nur andeutungsweise. Ausdrücklich sprach er davon 1960, als er von einer Zusammenarbeit des Leo-Baeck-Instituts mit judaistischen Forschungsstätten in Deutschland abriet: Scholem an Schalom Adler-Rudel, 25. 1. 1960, in: Scholem, Briefe II, 53.
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caust überhaupt in Frage zu stellen. Nicht weniger bedeutsam für Scholems Beziehung zu Deutschland war das Erscheinen des ersten Bandes seiner Judaica bei Suhrkamp in Frankfurt, ebenfalls 1963. Die Publikation enthielt acht Aufsätze für ein breiteres Publikum, und weitere fünf solcher Bände sollten folgen. Diese Veröffentlichung markierte den Beginn von Scholems jahrelanger enger Zusammenarbeit mit Siegfried Unseld, dem Leiter von Suhrkamp, die im folgenden Kapitel näher beleuchtet werden soll. Demnach lässt sich wohl sagen, dass Scholem bereits ein Jahrzehnt, bevor er in Deutschland gegen die Behauptung, es habe ein jüdisch-deutsches Gespräch gegeben, scharf polemisierte, im Grunde an der Schaffung eines solchen Dialogs mitarbeitete – zunächst auf individueller, dann auch auf institutioneller Basis. Vor dem Hintergrund der Eichmann-Kontroverse und veranlasst durch die Festschrift für Margarete Susman wandte sich Scholem energisch gegen eine romantisierende Sicht der Vergangenheit, wobei er die Geschichte der Juden in Deutschland von ihrem tragischen Ende her betrachtete. Allerdings sah er den Holocaust nicht nur als einen zwischen den beiden Völkern klaffenden Abgrund, sondern auch als den potenziellen Ausgangspunkt eines erneuten Gesprächs, bzw. – seiner These folgend, dass ein solches Gespräch eigentlich noch nie stattgefunden habe – den Beginn eines wirklichen Dialogs. Dieser Dialog müsse mit der Erforschung und Erkenntnis der jüdischen Vergangenheit beginnen. Diesen Grundsatz vertrat Scholem auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Herausgeber der Susman-Festschrift: Ich gehöre nicht zu denen, die der Wiederaufnahme solcher Beziehungen ablehnend gegenüberstehen. Um solche Wiederaufnahme in einem ernsten Sinne fruchtbar zu machen, bedarf es aber nicht nur einer Erkenntnis dessen, was ist, sondern auch dessen, was war.106
Demnach eröffnen Untersuchung und Auffassung des Vergangenen einen Weg zu künftigen Beziehungen zwischen Deutschen und Juden. Die Erforschung jüdischer Geschichte und jüdischen Lebens ermöglicht es in Scholems Augen, den Abgrund zwischen Juden und Deutschen zu überbrücken und aufs Neue gegenseitige Beziehungen zu schaffen. Wenn man Scholems Interesse an der Geschichte der Juden in Deutschland vor dem Krieg in diesem Kontext sieht, könnte man zu der paradoxen Behauptung gelangen, dass gerade seines energisches Bestreitung eines echten deutschjüdischen Gesprächs in der Vergangenheit den Schlüssel für die Schaffung eines solchen Dialogs bildete. Mit anderen Worten: Indem Scholem die Existenz dieses Gesprächs in der Vergangenheit leugnete, artikulierte er den Wunsch nach einem solchen in der Gegenwart. Es war sicher kein Zufall, dass er sowohl seine Briefe an 106 Scholem, Judaica 2, 14.
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Manfred Schlösser als auch seine übrigen Beiträge zu dieser Kontroverse wenig später zusammen mit seinem Vortrag über Juden und Deutsche in dem Band Judaica 2 drucken ließ. Er betrachtete diese drei Texte als zusammengehörig, wie er 1968 an Siegfried Unseld schrieb, als er für die Aufnahme seiner in Brüssel gehaltenen Rede in den geplanten Band plädierte: Denn an sich gibt nur das Ganze der drei betroffenen Beiträge ein Bild meiner Anschauung: der leidenschaftliche kurze Aufschrei, die Erklärung gegen die Kritiker dieses offenen Briefes, und dann die sozusagen besonnene nähere Analyse in der großen Rede. Ohne sie würde der Band unvollständig sein.107
Ungeachtet dessen, dass Scholem diese drei Beiträge als eine Einheit betrachtete, lässt deren Aufeinanderfolge eine deutliche Entwicklung in seiner öffentlichen Stellungnahme zur Frage der deutsch-jüdischen Beziehungen vor dem Holocaust erkennen. Wurde dieses Problem zunächst vor dem relativ engen Kreis von Freunden und Bekannten in der Susman-Festschrift und im Bulletin des LeoBaeck-Instituts erörtert, so sprach er 1966 schon vor einem größeren Publikum auf dem Jüdischen Weltkongress in Brüssel. Und wenig später wurden Scholems einschlägige Äußerungen auf Deutsch und auf Hebräisch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.108 Die letzte Phase seiner Auseinandersetzung mit diesem Komplex fand ausschließlich im deutschen Kontext statt. Gegen Ende des Jahres 1972 erhielt Scholem einen Brief von dem deutschen Historiker Martin Broszat, der damals das Institut für Zeitgeschichte in München leitete. Dieser lud ihn ein, im folgenden Jahr vor dem wissenschaftlichen Beitrat des Instituts über die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu sprechen. Broszat war Scholem im Hause des Historikers George Mosse begegnet, wo Scholem Erinnerungen aus seiner Jugend in Deutschland zum Besten gegeben hatte; außerdem hatte er den unlängst erschienenen Band Judaica 2 gelesen, und so reifte in ihm der Gedanke, der damaligen Vorsitzenden der Israelischen Akademie der Wissenschaften, zu einem solchen Vortrag einzuladen. Broszats Themenvorschlag lautete: „Das Judentum in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg – soziale und sozialpsychologische Schranken der deutsch-jüdischen Gemeinsamkeit“. Erläuternd schrieb Broszat: „Und ich fände es fast am besten, wenn Sie hierüber in jener Form reflektierter Erinnerung sprechen könnten, die Sie auch in Ihren Essays oft bevorzugten“.109 Nach Scholems spontaner Zusage wurde die Veranstaltung für 107 Scholem an Unseld, 5. 12. 1968, in: DLA, SUA: Suhrkamp. 108 So erschien etwa der Vortrag Juden und Deutsche 1967 in dem Band Deutsche und Juden, in dem sämtliche bei diesem Kongress gehaltenen Reden veröffentlicht wurden, 1970 in Judaica 2, außerdem wurde er bereits am 18. 10. 1966 im Hessischen Rundfunk gesendet; dazu Koßmann (Hg.), Judaica in den Hörfunkprogrammen, 39. 109 Martin Broszat an Scholem, 29. 11. 1972, im GSA, Korrespondenz Broszat.
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Freitag, den 15. März 1973, festgesetzt. Der Vortrag mit dem offiziellen Titel „Das Judentum in Deutschland: die soziale und psychologische Problematik jüdischdeutscher Beziehungen vor Hitler“ fand im Institut für Zeitgeschichte vor Vertretern der intellektuellen Elite Deutschlands statt und war ein großer Erfolg.110 Enttäuscht waren die interessierten und begeisterten Zuhörer nur darüber, dass nach dem Vortrag keine Zeit blieb, um Fragen zu stellen.111 In seinen einleitenden Worten sagte Broszat unter anderem: „Er, Gershom Scholem selbst, hat es mit seinem Lebenswerk – nach der Hitler-Katastrophe – verstanden, als Jude die Deutschen zu andächtigen Zuhörern zu machen. In solcher Wende liegt – nach alldem – wohl die beste, vielleicht die entscheidende Voraussetzung zur Ermöglichung eines wirklich partnerschaftlichen Dialogs.“112 Aus diesem Vortrag ging Scholems letzter umfassender Beitrag über die Beziehungen zwischen Juden und Deutschen vor dem Holocaust hervor, ein Aufsatz, der die Linie seines Brüsseler Vortrags über Juden und Deutsche fortsetzt, und zwar nach dem von Broszat vorgeschlagenen Muster: Einflechtung von persönlichen Eindrücken und Erinnerungen in die sachliche Themenstellung. Im April 1976 hielt Scholem in den USA Amerika anlässlich einer Tagung in St. Louis einen Vortrag, der vermutlich auf dem in München auf Deutsch gehaltenen basierte. Im Druck erschien dieser Vortrag bald darauf auf Englisch und auf Deutsch.113 In diesem Beitrag ist der emotional aufgeladene, ins Extreme tendierende Ton, der die Kontroverse aus Anlass der Susman-Festschrift mehr als zehn Jahre zuvor bestimmt hatte, einer ausgewogeneren und zurückhaltenderen Formulierung gewichen. Seine These, die für Scholems anfängliche Einstellung zu dieser Frage in den frühen sechziger Jahren charakteristisch gewesen war und der zufolge er Deutschen gegenüber die Existenz eines deutsch-jüdischen Gesprächs vor dem Holocaust prinzipiell in Abrede gestellt hatte, schwächte er allmählich ab; mit der Zeit stellte Scholem fest, dass das deutsche intellektuelle Publikum und die wachsende Bedeutung, die er gewann, für ihn von großer Attraktivität war, stärker noch als seine Zurückhaltung und seine Zweifel. Im 110 Unter den 67 Zuhörern befanden sich etwa der Direktor der Max-Planck-Gesellschaft Hellmut Becker; der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung Immanuel Birnbaum; Friedhelm Kemp, Literatur-Redakteur beim Bayrischen Rundfunk und Leiter der literarischen Sektion in der BADSK; der Rektor der Münchener Universität Nikolaus Lobkowicz; der Chefredakteur der Zeitschrift Merkur Hans Paeschke und der Leiter des SuhrkampVerlags Siegfried Unseld. Eine vollständige Liste der Teilnehmer und die offizielle Einladung zu Scholems Vortrag vom 19. 2. 1973 befinden sich im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, Akte ID 502. 111 So belegt in Birnbaums Bericht über die Veranstaltung: Juden in Deutschland vor 1933: Gershom Scholem sprach im Münchner Institut für Zeitgeschichte, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.–18. 3. 1973, 12. 112 Broszat, Einführung zum Vortrag Gershom Scholem am 15. 3. 1973, im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, Akte ID 502, 2. 113 Scholem, On the Social Psychology of the Jews in Germany.
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letztgenannten Aufsatz ist nicht mehr von Erneuerung des jüdisch-deutschen Dialogs die Rede, und die deutsche Version wurde ein Jahr vor der englischen gedruckt.114 Daraus ist wohl zu schließen, dass Scholem gegen Ende der siebziger Jahre das Bestehen eines solchen Dialogs nach dem Holocaust wahrgenommen hatte und anerkannte. Eine hebräische Version dieses Aufsatzes existiert allerdings noch nicht.
c.
Rezeptionsgeschichte
Von Zürich nach Frankfurt Am Spätnachmittag des 1. September 1952, gleich nach seiner Teilnahme an der Eranos-Tagung in Ascona, flog Scholem von Zürich nach Frankfurt am Main. In Deutschland erwartete ihn eine Menge Arbeit im Zusammenhang mit den Bemühungen der Jewish Cultural Reconstruction inc. um Rückerstattung jüdischen Raubguts sowie ein wichtiges Treffen mit Salman Schocken in Hinblick auf die Hebräische Universität. Doch zunächst verbrachte er ein paar Tage bei seinem Freund Theodor Adorno, den er gleich nach der Landung angerufen hatte. Die Bekanntschaft mit Adorno war bereits vor dem Krieg zustande gekommen, und zwar über den gemeinsamen Freund Walter Benjamin. Adorno war eine der tragenden Säulen des 1923 an der Universität Frankfurt zur Erforschung des wissenschaftlichen Marxismus gegründeten Instituts für Sozialforschung (IfS), das sich bald zur zentralen Forschungsstätte der Kritischen Theorie und zum Kern der so genannten Frankfurter Schule entwickelte. Nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht gekommen waren, übersiedelte das Institut 1934 nach New York, wo es von Max Horkheimer geleitet wurde. Nach dem Krieg wurde das Institut wieder nach Frankfurt verlegt, woraufhin auch Horkheimer und Adorno nach Deutschland zurückkehrten. Letzterer lud Scholem am Tag nach seiner Ankunft in Frankfurt zu einem Abendessen mit einigen Freunden ein. „Als ich fragte, wer genau kommen werde“, notierte Scholem in seinem Tagebuch, „verstand er natürlich nicht, dass sich meine Frage nicht auf Nazis bezog, sondern auf Horkheimer, mit dem ich nicht zusammentreffen wollte; aber er hatte von sich aus gemerkt, dass das nicht der [rechte] Mann war – sein Name war nicht unter den genannten“.115 Eingeladen waren außer Scholem der Philosoph Helmuth Plessner, dessen jüdischer Vater sich 114 Scholem, Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland, in: ders., Judaica 4, 229–261. 115 Scholem, Tagebücher 1952, GSA, 35 (original hebr.). Scholem konnte Horkheimer nicht ausstehen, s. etwa Scholem, Walter Benjamin, 211; Scholem an Benjamin, Brief vom 8. 6. 1938, in: Benjamin/Scholem, Briefwechsel, 258; s.a. Deuber-Mankowsky, Eine Art von Zutrauen, 179f.
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taufen lassen hatte, mit seiner Frau Monika sowie der deutsche Verleger Peter Suhrkamp und dessen Gattin.116 Nicht lange vor seiner Begegnung mit Suhrkamp in Adornos Haus hatte Scholem mit dem Schweizer Verleger Daniel Brody in Ascona ein grundsätzliches Abkommen getroffen, wonach Scholems Schriften im Rhein-Verlag erscheinen sollten, dessen Besitzer Brody war. Wie schon erwähnt, zeitigte diese Übereinkunft mit Brody reiche Früchte.117 Allerdings belegen das Zusammentreffen mit Suhrkamp bereits 1952, auch die von ihm verlegten Publikationen Scholems, wie stark dieser an einem Zugang zum deutschen Publikum interessiert war. Das Gründungsjahr des Suhrkamp-Verlags wird für gewöhnlich mit 1950 angegeben, dem vorausgegangen war die endgültige Abspaltung vom S. Fischer Verlag.118 Die Vorgeschichte des Suhrkamp-Verlags reicht allerdings einige Jahrzehnte zurück, was aufs Engste mit Person und Verhalten von Peter Suhrkamp während des NS-Regimes zusammenhängt. 1932 war Suhrkamp als Mitarbeiter in den 1886 von dem ungarischen Juden Samuel Fischer gegründeten Verlag eingetreten und hatte bald die Redaktion der Neuen Rundschau übertragen bekommen. 1936 mussten Fischers Erben, denen der Verlag inzwischen gehörte, aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen, woraufhin Suhrkamp die Leitung des Verlags übernahm, der 1942 zwangsweise in „Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer“ umbenannt wurde. Während des „Dritten Reichs“ verhalf Suhrkamp zahlreichen Autoren des Verlags, unter ihnen Bertolt Brecht, zur Flucht aus Deutschland und kümmerte sich gleichzeitig um Publikationserlaubnis für verfemte Schriftsteller wie Hermann Hesse. Im April 1944 wurde Suhrkamp von der Gestapo festgenommen und blieb fast ein ganzes Jahr lang inhaftiert, teils in Berlin, teils im Konzentrationslager Sachsenhausen. Völlig unerwartet wurde er im Februar 1945 freigelassen, nachdem er an einer lebensgefährlichen Lungenentzündung erkrankt war; von dieser Krankheit erholte er sich nie völlig, und sie trug mit dazu bei, dass er 1959 im Alter von nur 68 Jahren starb. Nach dem Krieg war Suhrkamp der erste deutsche Verleger, dem die amerikanische Besatzungsbehörde die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit in Berlin gestattete, und sobald die Eigentümer des Fischer-Verlags zurückkehrten, bereitete er, von Hermann Hesse ermutigt, die Gründung eines eigenen Verlags vor. Daraufhin wechselten 33 der 48 Autoren des Fischer-Verlags, unter ihnen Hesse und Brecht, zu Suhrkamp, der den Verlagssitz bald nach Frankfurt am
116 Jahre später veröffentlichte Monika Plessner humoristische Erinnerungen an einen Abend, den sie 1952 zusammen mit Scholem und den Suhrkamps bei Theodor und Gretel Adorno verbracht habe; s. Plessner, Die Argonauten, 47–55. 117 Dazu oben Kapitel 7. 118 Dazu Die Geschichte des Suhrkamp Verlags, 25.
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Main verlegte.119 Im Jahre 1952 gewann der Verlag mit Siegfried Unseld einen jungen tüchtigen Lektor, der Verkauf und Werbung entscheidend ausbaute. Der 1924 geborene Unseld, deutscher Soldat während des Weltkriegs, erlangte bald eine Schlüsselstellung und wurde im Januar 1958 sogar Mitinhaber des Verlags. Dieser Aufstieg war weitgehend dem Einfluss von Scholems Freund Hanns Wilhelm Eppelsheimer zu verdanken, der im Stockwerk über den Verlagsräumen wohnte und Suhrkamps Vertrauen genoss.120 Infolge von Suhrkamps Tod 1959 übernahm Unseld die Leitung des Verlags, dessen Weg er für die folgenden fünf Jahrzehnte bestimmen sollte.121 Vermutlich hatte Scholem Suhrkamp – oder zumindest dessen rechte Hand Friedrich Podszus – zusammen mit Adorno bereits 1950 in Frankfurt kennengelernt, als er im Anschluss an seine zweite Teilnahme an einer der EranosTagungen nach Deutschland gereist war. Im Zentrum des damaligen Gesprächs, dem der folgende Abschnitt gewidmet sein soll, hatte die Veröffentlichung eines von Adorno herausgegebenen Bandes mit Schriften von Walter Benjamin gestanden sowie eine etwaige Zusammenarbeit mit Scholem, der unter Umständen bereit sein wollte, in seinem Besitz befindliches Material für künftige Bände zur Verfügung zu stellen.122 Der direkte Briefwechsel zwischen Scholem und Suhrkamp setzt erst 1953 ein; darin geht es hauptsächlich um die Gesamtausgabe der Schriften von Walter Benjamin. Als nach Suhrkamps Tod die Leitung des Verlags an Unseld überging, wurde die Zusammenarbeit enger. 1959, kurz bevor Scholems Eranos-Vorträge als Buch erschienen123, äußerte Unseld sein Interesse daran und ließ Scholem über Adorno den Vorschlag zukommen, die Aufsatzsammlung bei Suhrkamp zu veröffentlichen. Das lehnte Scholem jedoch ab, weil er vertraglich an den Rhein-Verlag gebunden war.124 Doch zu Beginn der sechziger Jahre regte Adorno an, Scholem solle bei Suhrkamp ein Aufsatzbändchen erscheinen lassen. Durch diese Initiative kam 1963 der erste Band der JudaicaReihe zustande. Darin wurden Beiträge von Scholem wieder abgedruckt, die sich an ein breites Publikum richteten. Drei Bände erschienen noch zu Scholems
119 Die Angaben zu Suhrkamps Werdegang beruhen auf Michalzik, Unseld, 69–75 sowie auf Unseld, Vorwort, 16–21. 120 Zu Scholems Begegnung mit Eppelsheimer im Jahr 1946 s. o. Kapitel 5. 121 Dazu Michalzik, Unseld, 75–105; Die Geschichte des Suhrkamp Verlags, 37, 40. Weissberg, Über Haschisch und Kabbala, 19. 122 In dem Briefwechsel zwischen Adorno und dem Suhrkamp-Verlag ist ein solches Treffen erwähnt (Friedrich Podszus an Gretel Adorno, Brief vom 14. 11. 1950, in: Adorno/Suhrkamp/ Unseld, So müßte ich ein Engel und kein Autor sein, 88). Das ist der einzige Beleg für eine solche Begegnung. 123 Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik. 124 Dazu: Brief von Theodor Adorno an Gershom Scholem, 25. 9. 1959, GSA, Korrespondenz Adorno; Scholem an Adorno, 16. 11. 1959, in: Scholem Briefe 2, 49.
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Lebzeiten, drei weitere nach seinem Tode. Diese Reihe spielte eine erhebliche Rolle bei der Rezeption von Scholems Arbeiten durch eine deutsche Leserschaft. Während der Drucklegung des ersten Bandes kam es zu Spannungen zwischen Scholem und dem Schweizer Rhein-Verlag, bei dem bis 1963 drei Bücher von ihm erschienen waren. Im Lauf des Sommers 1962 hatte Daniel Brody, der mit Scholem befreundete Besitzer des Rhein-Verlags, den offenbar irrigen Eindruck gewonnen, Unseld wolle ihm Scholem abspenstig machen und verbreite Gerüchte, der Rhein-Verlag stehe vor dem Konkurs, wodurch Scholem ungebunden wäre, eine Annahme, die Brodys Unmut erregte. In einem kurzen Briefwechsel wurde das Missverständnis aufgeklärt und die guten Beziehungen zwischen Scholem und Brody wiederhergestellt. Im selben Jahr starb Brodys gute Freundin, Olga Fröbe-Kapteyn, die Begründerin der Eranos-Tagungen in Ascona; einige Zeit danach gab Brody seine verlegerische Tätigkeit auf.125 1966 verkaufte Brody seine Verlagsrechte – darunter die für die Veröffentlichung der Schriften von James Joyce, Hermann Broch, Adolf Portmann und Gershom Scholem – an den deutschen Südwest-Verlag, der seinen Sitz in München hatte. Als Scholem über Unseld von dieser Transaktion erfuhr, protestierte er in einem Schreiben an den Südwest-Verlag dagegen, dass die Rechte an seinen Schriften hinter seinem Rücken den Besitzer gewechselt hatten. Seine entschiedene Ablehnung begründete er folgendermaßen: „Sie werden begreifen, daß es für einen jüdischen Autor, der seine Schriften ausdrücklich einem Schweizer Verlag übergeben hat, nicht dasselbe ist, ob der Verlag seiner Bücher in der Schweiz bleibt oder in die Hände eines deutschen Verlages übergeht.“ In der Fortsetzung gibt Scholem klare Instruktionen: Ich bin nicht damit einverstanden, daß der Verlag meiner Werke ohne mein Wissen und meine ausdrückliche Genehmigung in einen deutschen Verlag übergeht und möchte annehmen, daß Sie diesen Gesichtspunkt respektieren werden. Falls die Rechte an meinen Büchern dem Suhrkamp-Verlag übertragen werden sollten, hätte ich dagegen keinerlei Einwände, dem Gesicht und der Natur dieses Verlages nach. Andernfalls rechne ich damit, daß die Rechte an meinen Büchern aus dem Rhein-Verlag an mich zurückfallen, wenn der Verlag in Hände übergeht, in denen ich mich nicht wohlfühlen könnte.126
Dieses Schreiben zeigt, welchen Wert Scholem damals der persönlichen Bekanntschaft mit Personen und Institutionen beimaß, mit denen er in Deutschland zu tun hatte. Der Umstand, dass er diesen Brief schrieb, während er sich in Frankfurt befand, zeigt, dass sein Wunsch, zu Suhrkamp überzuwechseln, mindestens ebenso groß war wie seine Abneigung gegen deutsche Verlage überhaupt. Hintergrund dieses Schreibens sind wohl auch Unselds Bemühungen, die Rechte 125 Dazu Hack, Verlagsbibliographie des Rhein-Verlages, 1173. 126 Scholem an den Südwest-Verlag, 13. 9. 1966, GSA.
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an den attraktiveren Autoren des Rhein-Verlags zu erwerben, die nun von Brody an den Südwest-Verlag übergehen sollten. Wie dem auch sei, einen Monat später wurde zur beiderseitigen Zufriedenheit ein Abkommen unterzeichnet, wonach die Rechte an den Werken von Scholem, Portmann, Broch und Joyce an Suhrkamp übergingen, was ein Gewinn für diesen Verlag war, wie in der deutschen Presse vermerkt wurde.127 Dieser offizielle Übergang markierte den Anfang einer engen Zusammenarbeit und freundschaftlichen Beziehung zwischen Scholem und dem SuhrkampVerlag mit Siegfried Unseld an dessen Spitze. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte ließ Scholem alle seine deutschsprachigen Bücher dort erscheinen, einschließlich zweier weiterer Bände der Judaica- Reihe und den beiden autobiographischen Veröffentlichungen. Unselds Beteiligung daran, Scholems Schriften der deutschen Öffentlichkeit nahe zu bringen, ist sehr hoch zu veranschlagen. Ein Beispiel dafür, wie der Verleger auf die Publikumswirkung seines Autors bedacht war, ist aus dem Titel zu ersehen, den er 1968 für die geplante Veröffentlichung von vier seiner Eranos-Vorträge vorschlug: Vier Reden über Judentum.128 Dieser deutliche Anklang an Bubers Reden über das Judentum (1916 u. ö.) sollte für den deutschen Leser Scholem in die Nähe des damals in Deutschland bekannten und verehrten Martin Buber rücken, mit dessen Chassidimus-Darstellung er sich kritisch auseinandergesetzt hatte. Scholem nahm diese Absicht natürlich wahr und meldete Bedenken an: Zum Band „Vier Reden über Judentum“. Soll das wirklich der Titel sein? Solange es humoristisch den Titel hätte „Reden über das Judentum, nicht von Buber“, wäre es schön, wenn auch unvollziehbar. Aber Vier Reden über das Judentum ist nun wirklich zu sehr dem Buberschen Titel „Drei Reden über das Judentum“ polemisch entgegengesetzt, während ja der Inhalt mit den Buberschen Reden nicht das Geringste zu tun hat. Mir fällt als Gegenvorschlag ein „Reden über einige Grundbegriffe des Judentums“, oder schlechthin, ohne „Reden“: „Über einige Grundbegriffe des Judentums“.129
Unter dem letztgenannten Titel erschien dann Scholems Buch bei Suhrkamp.130 Hieran zeigt sich, welch erheblichen Anteil Unseld an den Entscheidungen hatte, die zu Scholems günstiger Aufnahme bei der deutschen Leserschaft beitrugen. Überhaupt war der Verleger dafür bekannt, intensive, sachorientierte wie auch persönlich engagierte Beziehungen zu seinen Autoren zu pflegen. Er selbst schrieb dazu:
127 Unseld an Scholem, 19. 10. 1966, in: Unseld, Briefe, 51; Scholems Antwort vom 24. 10. 1966 in Scholem, Briefe II, 150; zum Echo in der deutschen Presse s. Suhrkamps Imperium wächst, in: Die Zeit 28. 10. 1966; vgl. Michalzik, Unseld, 134. 128 Unseld an Scholem, 5. 11. 1968, in: DLA, SUA: Suhrkamp. 129 Scholem an Unseld, 5. 12. 1968, ebd. 130 Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums.
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Da die Autoren wissen, dass es für den Verleger keine Trennung zwischen Dienst und Freizeit gibt, muß er immer und zu jeder Zeit zur Verfügung stehen; er ist dann so etwas wie literarische Hebamme, Analytiker, Geschäftsmann und Mäzen. Je enger die Kontakte des Verlegers mit den Autoren sind, um so mehr wirken diese Autoren auf den Verlag ein.131
Dass Unseld diese seine verlegerische Aufgabe – jedenfalls in Bezug auf Scholem – sehr ernst nahm, wird durch die große Zahl an Briefen belegt, die zwischen den beiden hin- und hergingen und die von persönlich wie sachlich großer Nähe zeugen.132 Diese guten Beziehungen trugen entscheidend zum Scholem-Bild in der deutschen Öffentlichkeit bei; zugleich konnte der Suhrkamp-Verlag infolge der engen Verbindung mit Scholem die Liste der bei ihm erscheinenden Titel beträchtlich erweitern. Die Besonderheit dieser Verleger-Autor-Beziehung nahm Martin Broszat bereits 1973 zum Anlass, von einer „Geschichte der ScholemRezeption in der Bundesrepublik“ zu sprechen, und zwar in seiner Einführung zu der oben erwähnten Ansprache, die Scholem im Beisein von Unseld im Münchner Institut für Zeitgeschichte hielt.133
Die Geschichte einer Freundschaft Scholems Aufnahme beim deutschen Publikum vollzog sich parallel zur Rezeption eines anderen bedeutenden jüdischen Intellektuellen, dessen Werk ebenfalls bei Suhrkamp erschien: Walter Benjamin, Scholems Freund aus der Vorkriegszeit; an der Herausgabe von dessen Schriften in Deutschland war Scholem nach dem Krieg maßgeblich beteiligt. 1966 erschienen bei Suhrkamp zwei Bände mit dem Briefwechsel zwischen Walter Benjamin und seinen Freunden, herausgegeben von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem.134 Die Veröffentlichung dieser beiden Bände stellte nicht nur eine wichtige Wegmarke für die Benjamin-Rezeption im Nachkriegsdeutschland dar, sondern auch einen Wendepunkt in der Wahrnehmung von Scholem durch das deutsche Publikum. Von Kriegsende bis 1966 waren zwar bereits sechs Bücher von Scholem auf Deutsch erschienen, aber die meisten nur in geringer Auflage, da sie für einen relativ engen akademischen Kreis bestimmt 131 Unseld, Der Autor und sein Verleger, 52f. 132 Laut Auskunft des Katalogs enthält die Akte von Scholems Korrespondenz mit dem Suhrkamp-Verlag aus den Jahren 1953–1982 (die dickste Korrespondenz-Akte im GSA) nicht weniger als 347 Briefe des Verlags an Scholem und 349 Briefe von Scholem an den Verlag. Näheres zur Beziehung zwischen Scholem und Unseld bei Weissberg, Über Haschisch und Kabbala, 25–50. 133 Broszat, Einführung, IfZ-Archiv, 2. 134 Benjamin, Briefe.
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waren.135 Wie im Folgenden dargelegt werden soll, machten die Herausgabe des Benjamin-Briefwechsels zusammen mit Adorno und die daran anschließende Polemik Scholem einem breiteren Publikum bekannt, und die lebhaften intellektuellen Diskurse der sechziger und früher siebziger Jahre machten Scholem zu einem weithin wahrgenommenen Repräsentanten jüdischen Denkens in Deutschland. Bereits 1940, wenige Wochen nachdem Scholem von Benjamins Suizid erfahren hatte, regte er bei Adorno die Drucklegung von der nachgelassenen Schriften seines Freundes an, die sich zum großen Teil in Scholems Jerusalemer Archiv befanden.136 Er betonte, wie wichtig die Herausgabe der Briefe sei, die Benjamin an Freunde und Kollegen geschrieben hatte.137 Die Korrespondenz zwischen Scholem und Adorno kreiste jahrelang um Walter Benjamin, und die gemeinsamen Bemühungen, Person und Werk des verstorbenen Freundes ein Denkmal zu setzen, bildeten einen Brennpunkt ihrer Beziehung. Die beiden hatten einander durch Walter Benjamin kennengelernt, und obwohl Scholem aufgrund Benjaminscher Äußerungen, die sich auf Adorno bezogen, zunächst skeptisch war, verliefen ihre ersten Kontakte 1938 in New York sehr positiv: Zu dem guten Geiste, der über den Begegnungen von Adorno und mir waltete, trug mehr als die Herzlichkeit der Aufnahme die nicht geringe Überraschung bei, die sein Verständnis für das fortwirkende theologische Element in Benjamin bei mir auslöste. Ich hatte einen Marxisten erwartet, der auf der Liquidierung dieser, meiner Meinung nach kostbarsten Bestände in Benjamins geistigem Haushalt insistieren würde. Stattdessen traf ich hier einen Geist, der, wenn auch unter seiner eigenen dialektischen Perspektive gesehen, sich diesen Zügen gegenüber durchaus aufgeschlossen, ja geradezu positiv verhielt.138
Was Scholems anfänglich negative Meinung über Adorno ins Positive wandte, war demnach die Feststellung, dass dessen unterschiedliche Auffassung von Benjamin dasjenige nicht aufhob, was für Scholem die Grundvoraussetzung für sein Verständnis des Freundes und dessen Lehre war. So wurde Raum für gegenseitiges Interesse und einen Dialog geschaffen. Und in der Tat war Adorno derjenige, der Scholem bei dessen Besuch am Institut für Sozialforschung, das seinen Sitz 1934 von Frankfurt nach New York verlegt hatte, am nächsten stand. Trotz erheblicher intellektueller Differenzen zwischen den beiden, in erster Linie 135 Eine Ausnahme bildete der erste Band Judaica von 1963; dieser war ein erster Versuch, Arbeiten von Scholem einem breiteren deutschen Publikum nahezubringen. 136 Scholem an Adorno, 11. 11. 1940, in: Scholem, Briefe I, 281f. Für eine Beschreibung des in Jerusalem befindlichen Benjamin-Nachlasses s. Scholems Schreiben vom 27. 3. 1942, ebd., 286f. 137 Scholem an Adorno, 27. 3. 1942, ebd., 287. 138 Scholem, Walter Benjamin, 267f.; s.a. Scholem/Benjamin, Briefwechsel, 241; Adorno/Benjamin, Briefwechsel, 323–326; Adorno, Gruß an G. Scholem, 479.
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wegen Adornos Tätigkeit am Institut für Sozialforschung mit seiner ausgesprochen marxistischen Ausrichtung, blieb ihr Einverständnis in Bezug auf die Benjamin-Deutung bestehen und bildete die Grundlage für ihre jahrelange Verständigung und Zusammenarbeit. Was Walter Benjamin angeht, so hat Adorno dessen Rezeption in Deutschland so nachhaltig beeinflusst wie kein anderer. Es ist Adornos intensiven Bemühungen um die Sammlung und Herausgabe von Benjamins Schriften zu verdanken, dass Benjamin aus einem nahezu vergessenen Intellektuellen zu einem der bedeutendsten deutschen Denker und zur Kristallisationsfigur verschiedener intellektueller Zirkel wurde.139 Seit den frühen fünfziger Jahren stand Scholem Theodor und Gretel Adorno bei der Herausgabe der zweibändigen Ausgabe von Benjamins Schriften, die 1955 bei Suhrkamp erschien, mit Rat und Tat zur Seite. Unter anderem stellte er ihnen Exemplare von Benjamins Schriften zur Verfügung, die sich in seinem Besitz befanden.140 Im Herbst 1959 teilte Adorno Scholem mit, dass im Suhrkamp-Verlag unter dessen neuem Leiter Siegfried Unseld die Herausgabe eines Bandes mit Briefen von Walter Benjamin beschlossen worden war, der 250–300 Seiten umfassen sollte; bei dieser Gelegenheit bot er Scholem die Mitherausgeberschaft an.141 Scholem ging auf diesen Vorschlag ein, und beide wandten sich zusammen an Freunde Benjamins, bei denen sie Briefe von ihm zu finden hofften.142 Die gemeinsame Arbeit an der Herausgabe von Benjamins Briefen, die in jenen Jahren nicht nur einen regen Schriftverkehr, sondern auch regelmäßige Begegnungen zur Folge hatte – jeweils vor oder nach Scholems Aufenthalten in Ascona –, führte auch zur persönlichen Annäherung zwischen Scholem und Adorno. Diese durch den gemeinsamen verstorbenen Freund gestiftete Nähe hielt durchaus auch die Spannung aus, die den erheblichen Unterschieden in Charakter und Temperament geschuldet war. Dies mag eine Szene aus den frühen sechziger Jahren illustrieren, als Adorno seinem Freund Scholem eine gute Bekannte, eine Dame der gehobenen Wiener Gesellschaft, mit vollem Namen und Titel vorstellte: „Baronin Lotte Tobisch von Labotayn“, was Scholem mit der Bemerkung quittierte: „Mensch, det ooch noch!“ Diese unerwartete Reaktion erheiterte die Dame so sehr, dass sie in spontanes Lachen ausbrach, woraufhin auch sie und Scholem Freunde wurden. Für Adorno dagegen war dieses Erlebnis ein Schock, den er zeitlebens nicht verwinden konnte; wann immer diese Episode zur Sprache kam, bemerkte er voller Entrüstung: „Wie sich der Scholem be139 Dazu: Küpper/Skrandies, Rezeptionsgeschichte, 23; Garber, Rezeption und Rettung, 124–134. 140 Benjamin, Schriften; zur Entstehung dieser beiden Bände s. die ausführliche Anmerkung der Herausgeber in: Adorno/Suhrkamp/Unseld, So müßte ich ein Engel und kein Autor sein, 85– 93. 141 Adorno an Scholem, 25. 9. 1959, im GSA, Korrespondenz Adorno. 142 Scholem an Adorno, 19. 11. 1959, in: Scholem, Briefe II, 49f.
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nommen hat! Einfach schrecklich!“143 Adorno hatte manchmal Schwierigkeiten mit Scholems bisweilen recht saloppem Umgangston und dessen Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen.144 So schrieb er an Baronin Tobisch über Scholems Teilnahme an der privaten Feier zu Adornos 65. Geburtstag: An meinem Geburtstagsabend gab Unseld eine kleine Party für mich im allerengsten Kreis. Scholem war dabei und hat sich in einer egozentrischen, taktlosen und ich muß schon sagen, geradezu widerwärtigen Weise benommen. Es gehört schon eine Engelsgeduld dazu, sich das gefallen zu lassen. Er konnte einfach nicht ertragen, daß die Feier mir galt (und ich hab, das kannst du mir glauben, nichts davon gemerkt!) und nicht ihm, und nahm das eigentlich nur zum Anlaß witzelnder Ausfälle gegen mich. Die anderen fanden es ebenso grausig. Zwei Tage danach war er bei uns, ganz sachlich und vernünftig. Aber was heißt das schließlich, wenn man immer von einem Menschen beteuert, er sei so anständig, wenn seine primären Impulse etwas so Minderes haben. Ich weine mich nur bei Dir aus; bitte sprich mit niemandem darüber, sonst gibt es in Israel gleich ein fürchterliches Geschrei.145
In seinen Erinnerungen an Scholem bezeichnet Rolf Tiedemann, AdornoSchüler und Herausgeber der vollständigen Ausgabe von Benjamins Schriften, Adorno und Scholem als einander völlig entgegengesetzt, etwa wie „Land- und Wasserbewohner“, wobei sie trotzdem zur gleichen Familie gehörten: „Adornos Enthusiasmus und Scholems Skepsis waren zwei Seiten derselben Medaille.“146 Tiedemann zufolge genoss Scholem am Institut für Sozialforschung hohes Ansehen, obwohl keiner von den Institutsmitgliedern so recht wusste, auf welchem Gebiet seine Autorität eigentlich lag.147 Seine Forschungen zur Kabbala, der Umstand, dass er der älteste und engste von Benjamins noch lebenden Freunden war, sowie Scholems selbstsicheres Auftreten machten großen Eindruck auf die Angehörigen des Instituts. Diesem Eindruck konnte sich auch der um acht Jahre jüngere Adorno nicht entziehen, was die Komplexität der beiderseitigen Beziehungen zweifellos verstärkte. Belegt sind die ambivalenten Gefühle, die Scholem bei Adorno auslöste: Als Beispiel mögen zwei getippte Blätter im Scholem-Archiv dienen, auf denen ein Traum wiedergegeben ist, den Adorno am 13. April 1962 hatte, also während der gemeinsamen Arbeit an der Herausgabe der Benjamin-Briefe. In diesem Traum sollte sich Adorno einer Geographie-Prüfung unterziehen, und zu den Prü-
143 Berichtet bei Meysels, Die Welt der Lotte Tobisch, 113. 144 Das war ein markanter Zug in Scholems Persönlichkeit, dessen er sich durchaus bewusst war. Seine Nichte, Renée Goddard, erzählte mir, dass er über sein Verhalten bei gesellschaftlichen Anlässen zu sagen pflegte: „Scholem schweigt nur, wenn er selber redet“. 145 Adorno an Tobisch, 19. 9. 1968, in: Adorno/Tobisch, Der private Briefwechsel, 242. 146 Tiedemann, Erinnerung an Scholem [2], 197f. Dort erwähnt Tiedemann auch, wie die beiden darüber stritten, ob die echte Sachertorte mit oder ohne Sahne zu servieren sei. 147 Tiedemann, ebd.; ähnlich auch Habermas, Begegnungen mit Gershom Scholem, 9.
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fungsaufgaben gehörte das Vermessen eines nicht eindeutig bestimmten Geländes: Zunächst war es das Gebiet des antiken Roms, dann das von Paris. Beim Versuch herauszufinden, was genau von ihm verlangt wurde, stellte Adorno zu seiner Freude fest, dass das Ergebnis seiner Messungen auch eine esoterische Bedeutung haben würde, nämlich einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach der Größe der Hölle. Doch nachdem er sich an die Berechnungen gemacht hatte, die ihn zur Lösung und auf den Höhepunkt des Traums führen sollten, wurde er durch die Anwesenheit eines zweiten Prüflings gestört: Es befand sich da nämlich ein zweiter Kandidat, Scholem. Dieser machte sich über mich lustig, und zwar indem er einerseits über die Leichtigkeit der Aufgabe spottete, anderseits mich darauf hinwies, daß sie Fußangeln enthalte, über die ich stolpern müßte. Mich entmutigte das keineswegs, ich dachte, er meint es nicht böse, das ist so seine Weise, aber es irritierte mich doch, und ich wachte darüber auf. Es bedurfte geraumer Zeit, bis ich einsah, daß das Ganze ein Traum gewesen war.148
Dieser Traum ist aufschlussreich für den Stellenwert, den Adorno Scholem in seinem Leben einräumte. Dass sich die beiden Blätter in Scholems Archiv befinden, lässt vermuten, dass Adorno seiner eigenen Ambivalenz vielleicht nicht allzu viel Gewicht beimaß; jedenfalls wusste er darum und ließ es auch Scholem wissen. Die gemeinsame Arbeit an der Herausgabe des Briefwechsels zog sich über sieben Jahre hin. Innerhalb dieses Zeitraums und bereits zuvor waren zwar schon etliche Schriften von Benjamin erschienen, aber das Erscheinen dieser beiden Bände bildete für die Benjamin-Rezeption in Deutschland einen deutlichen Wendepunkt. Das lag sowohl an ihrem Inhalt als auch an den politischen Umständen in Deutschland unmittelbar nach ihrem Erscheinen. Was den Inhalt betrifft, so wurde hier Benjamin zum ersten Mal nicht nur in seinem denkerischen Kontext, sondern auch in seinem gesellschaftlichen Umfeld geschildert; insofern waren diese Briefbände ein erster und wesentlicher Baustein einer Benjamin-Biographie.149 Damit in Zusammenhang stand die lebhafte Diskussion um die Darstellung und Deutung von Walter Benjamin, die durch den gedruckten Briefwechsel ausgelöst wurde. Die politisch motivierte Kritik richtete sich in erster Linie gegen Adorno als Mitherausgeber, was mit dem geistigen Klima der Studentenunruhen und der Ereignisse von 1967/68 in Deutschland zusammenhing. Auf intellektueller Ebene hatten sich linke studentische Kreise Benjamins marxistisches Denken zu eigen gemacht, was darin gipfelte, dass er zum Geschichtsphilosophen der Studentenrevolte erklärt wurde.150 Diese Hinwendung 148 Adorno, Traumprotokoll vom 13. 4. 1962, im GSA, Korrespondenz Adorno, 2; vgl. den sehr ähnlichen Bericht in: Adorno, Traumprotokolle, 76 (dort ist Scholems Name nicht genannt). 149 Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, 115. 150 Bohrer, 1968, 293.
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zu Benjamin ist sozusagen als „Vatermord“ an Adorno gedeutet worden, wurde doch dessen Benjamin-Verständnis in Grund und Boden verdammt.151 Im Anfangsstadium der Protestbewegung hatte Adorno das Vorgehen der Studenten unterstützt, wie überhaupt das Institut für Sozialforschung eine der Brutstätten gewesen war, in der die weltanschaulichen Grundlagen für die Studentenbewegung gelegt worden waren. Doch als sich Adorno von den extremen Auswüchsen und den gewaltsamen und rechtswidrigen Aktionen der Studentenschaft distanzierte, richtete sich die Aggression auch gegen ihn. Gemeinsam mit Max Horkheimer und Jürgen Habermas wurde Adorno für die marxistische Führung der Studentenbewegung zum Vertreter des Establishments und als konservativ, gar reaktionär abgestempelt, als zu feige, um aus seinen theoretischen Lehren die praktischen Konsequenzen zu ziehen.152 In diesem Zusammenhang war die Kritik an Adornos Herausgeberschaft von Benjamins Schriften, ein zentraler Bestandteil des Versuchs, ihn in Bezug auf das aktuelle Geschehen politisch und gesellschaftlich zu diskreditieren.153 Der Hauptvorwurf, der gegen die beiden Herausgeber des Benjamin-Briefwechsels erhoben wurde, lautete, die Auswahl der darin enthaltenen Briefe sei tendenziös, die Edition sei von dem bewussten Bemühen geleitet, Benjamins Nähe zum Marxismus zu vertuschen und bedeutsame Gestalten marxistischer Ausrichtung wie Bertold Brecht und seine Freundin Asja Lacis seien absichtlich ausgeblendet worden. Adorno persönlich wurde beschuldigt, bei seiner Herausgabe von Benjamins Schriften alle marxistischen Gehalte systematisch getilgt zu haben und das ihm unterstehende Benjamin-Archiv als seinen privaten Besitz zu betrachten.154 Außerdem wurde behauptet, Adorno habe zusammen mit Horkheimer bereits in den dreißiger Jahren Benjamins Beiträge in der Zeitschrift 151 Müller-Doohm, Adorno, 692, versieht die entsprechende Phase in seiner Adorno-Biographie mit der Überschrift: „Vatermord mit Galgenfrist“. 152 Demm, Die Studentenbewegung, 162, 246f.; Demm zitiert dort (247) Adornos berühmte Äußerung vom Februar 1969: „Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt; wie konnte ich ahnen, daß Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen?“ 153 Zum Benjamin-Bild in der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre s. Garber, Rezeption und Rettung, 152–161. 154 Besonders wortgewaltige Kritiker waren Hamm, Unter den Neuerern, 361, und Heissenbüttel, Vom Zeugnis, 240. Im Herbst 1967 widmete die Zeitschrift Alternative der Kritik an Adornos Benjamin-Edition ein ganzes Heft. Unter den Beiträgen dieses Heftes war ein Interview mit der Leiterin des Benjamin-Archivs in der DDR, worin die Kritik an Adornos angeblich tendenziöser Herausgabe Benjaminscher Schriften an den Beständen dieses Archivs und speziell an einzelnen Dokumenten darin festgemacht wurde; s. Heise, Der Benjamin-Nachlaß in Potsdam; vgl. auch die Vorbemerkung der Herausgeberin: Brenner, Zu diesem Heft. Eine Zusammenfassung und historische Einordnung der gesamten Polemik findet sich bei Behrmann, Kulturrevolution, 349–367. Zusammenfassendes in Bezug auf die Benjamin-Rezeption in Deutschland bei Küpper/Skrandies, Rezeptionsgeschichte, 22–25, sowie bei Garber, Rezeption und Rettung, 152–161; s.a. die Anmerkungen des Herausgebers zu Adornos Schreiben an Scholem in: Scholem, Briefe II, 309–312.
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für Sozialforschung, dem Organ des Instituts, in gesellschaftskritischer Hinsicht entschärft und zwar durch eine extreme redaktionelle Überarbeitung, mit der sich Benjamin habe abfinden müssen, weil er in jenen Jahren vom Institut für Sozialforschung wirtschaftlich abhängig gewesen sei.155 Auch Hannah Arendt, zu der Scholem 1963 infolge ihrer Äußerungen im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess den Kontakt abgebrochen hatte, fand sich unter den Kritikern wieder, wenn auch aus anderer Perspektive: In einem dreiteiligen, im Merkur veröffentlichten Aufsatz behauptete sie, die Redaktion der Briefbände sei von fremden Interessen bestimmt gewesen, nämlich von dem Bemühen, Benjamin dem Judentum (Scholem) bzw. dem dialektischen Marxismus der Frankfurter Schule (Adorno) anzunähern.156 Adorno nahm sich diese Angriffe sehr zu Herzen. In einem Brief an Scholem verlieh er seiner Verletztheit Ausdruck und bat ihn, ihn gegen die Angriffe der Kritiker zu verteidigen, insbesondere die Legitimität seiner Benjamin-Interpretation, die ihm seitens der Kritiker abgesprochen worden sei.157 In seinem ausführlichen Antwortschreiben riet Scholem Adorno, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht allzu ernst zu nehmen. Eine Verteidigungsschrift für Adornos Benjamin-Deutung zu verfassen, wie Adorno sie erbeten hatte, lehnte Scholem jedoch ab, weil deren Berechtigung über jeden Zweifel erhaben sei. Gleichzeitig erklärte Scholem auch andere, abweichende Deutungen für zulässig, selbst wenn er sie für falsch hielt.158 Bei seiner eingehenden Analyse der Vorwürfe der Kritiker gelangte Scholem zu dem Schluss, die meisten davon seien gegen Adorno gerichtet und diskutabel, obwohl sie aus einer völlig anderen Einstellung zu Benjamin hervorgegangen seien und zahlreiche Fehler und Ungenauigkeiten aufwiesen. Das begründet Scholem mit der Eigenart von Benjamins Schriften, die so komplex seien, dass sie eine autoritative, exklusive Deutung ohnehin nicht zuließen.159 Daran krankten auch alle Kritiken, die Adornos Deutung für verfehlt erklärten: Um die Wahrheit zu sagen, ist die Natur des Benjaminschen Schrifttums in seinen letzten zehn Jahren von der Art, daß meiner Überzeugung nach eine sogenannte abschließende Interpretation dieser zum Teil sehr schwebend formulierten Gedanken gar nicht möglich ist.160
Um Adorno aus der unbehaglichen Situation, in die er geraten war, herauszuhelfen, schlug Scholem eine öffentliche Debatte mit den Kritikern der Briefedi155 156 157 158 159 160
Brenner, Theodor W. Adorno als Sachwalter, 160f. Arendt, Walter Benjamin, 56, 215. Ein Teil dieses Schreibens vom 13. 1. 1968 ist in Scholem, Briefe II, 309, zugänglich. Scholem an Adorno, 8. 2. 1968, in Scholem, Briefe II, 201. Ebd.; s.a. Müller-Doohm, Adorno, 695. Scholem, ebd., 203.
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tion vor, in der diese mit allen Einwänden konfrontiert und zur detaillierten Stellungnahme gezwungen werden sollten. Um an einer solchen Debatte, die er sich sogar als Radiosendung vorstellen konnte, teilnehmen zu können, erklärte sich Scholem bereit, für ein paar Tage nach Frankfurt zu kommen, sofern seine Reise finanziert würde. Das Original dieses Briefes weist eine Randbemerkung in Adornos Handschrift auf, worin dieser sich skeptisch über die Erfolgsaussichten einer solchen Debatte äußert, die denn auch nicht stattgefunden hat.161 Wenigstens hatte Scholems Schreiben Adorno den Rücken gestärkt, so dass er seinen Kritikern gefasster entgegentreten konnte.162 Um Adorno die Sache erträglicher zu machen, suchte Scholem den Schwerpunkt der Polemik von der persönlichen auf die sachliche Ebene zu verlagern. So nahm er ihr die persönliche Spitze und machte sie zu einer an sich legitimen Debatte über verschiedene Deutungsmöglichkeiten von Benjamins Lehre. Andererseits sah er natürlich, dass doch auch eine persönliche Attacke dahinterstand, die aus den ideologischen Spannungen der Zeit herrührte. So schreibt er über Adornos Kritiker: Diese Angriffe klammern im Großen und Ganzen mich aus, an dem ihnen aus offenkundigen Gründen nichts liegt, und auf den sie keine Ressentiments haben, sondern gelten im Wesentlichen Ihnen, wobei eine wohl von lange her aufgestaute Wut und tiefes Ressentiment gegen Ihren Mangel an marxistischem Aktivismus, vielleicht aber auch gegen Ihre Stellung im deutschen Geistesleben überhaupt zum Ausdruck kommen.
Am Ende dieses Briefes, nach der Unterschrift, fügte Scholem noch einen interessanten Satz hinzu, indem er schrieb, die von den Kritikern erhobenen Vorwürfe „erinnern mich lebhaft an Kurzweils Polemiken gegen mich“.163 Dass er hier den israelischen Literaturwissenschaftler Baruch Kurzweil (1907–1972) erwähnt, ist aufschlussreich. Kurzweils Polemiken gegen Scholem waren mit den Jahren nicht nur schärfer geworden, sondern richteten sich allmählich nicht mehr nur gegen Scholems wissenschaftliche Arbeit, sondern gegen alles, was Scholem für Kurzweil in politischer, sozialer und religiöser Hinsicht repräsentierte.164 So übertrifft etwa die Scholem-Kritik, die Kurzweil 1967 veröffentlichte, an Schärfe alles, was er je geschrieben hatte. In einem dieser kritischen Beiträge geht Kurzweil auch auf den Benjamin-Briefwechsel und auf dessen Wiedergabe durch Scholem ein: „Scholems Darstellung von W. Benjamins Einstellung zum 161 162 163 164
Ebd., 204; Adornos Randbemerkung ebd. 312, Anm. 12. Müller-Doohm, Adorno, 695f. Scholem, ebd., 203, 206. Kurzweils Aufsätze gegen Scholem pflegten in den fünfziger und sechziger Jahren in der Literaturbeilage der israelischen Tageszeitung Haaretz zu erscheinen; später wurden sie gesammelt veröffentlicht: Kurzweil, Be-Maawak, 99–240. Dazu ausführlich und aus verschiedenen Blickwinkeln Zadoff, be-Arugot ha-Nihilism; Myers, The Scholem-Kurzweil Debate.
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Land Israel und zum Judentum ist überaus subjektiv, und der Versuch, Benjamin zu ‚judaisieren‘, resultiert aus Scholems Bemühen, Benjamin so zu interpretieren, als ob er G. Scholem wäre“.165 Durch Rückführung der Kritik auf die politischen Strömungen in der damaligen deutschen Studentenbewegung stellt Scholem klar, dass sie nicht gegen ihn gerichtet sein könne; seine Sonderstellung bekräftigt er durch Hinweis auf die Kritik, der er in seinem Heimatland ausgesetzt sei. Es fällt auf, dass Scholem sich bereit erklärte, für eine Konfrontation mit Adornos Kritikern nach Frankfurt zu kommen, wohingegen er Kurzweils Anwürfe stillschweigend ignorierte. Das mag daran liegen, dass Kurzweils Kritik viel breiter angelegt war; vielleicht fühlte er sich der deutschen Kritik auch deshalb eher gewachsen, weil er sich dort nur als Gast aufhielt; und vielleicht war es gerade der öffentliche Auftritt in Deutschland, was ihn lockte. Jedenfalls sah Scholem zwischen Adornos Situation in Deutschland und seiner eigenen in Israel sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten. Eine Diskussion vor großem Publikum über die Gestalt Benjamins fand zwar nicht statt, aber im Mai 1968 veranstaltete der Literaturwissenschaftler Peter Szondi in Berlin ein BenjaminSeminar, an dem auch Scholem teilnahm.166 Die durch die Veröffentlichung des Briefwechsels ausgelöste Debatte um die Deutung von Walter Benjamins Persönlichkeit und Schriften war, wie gesagt, ein Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Benjamin-Rezeption und trug erheblich zum Verständnis und zur Aktualisierung von Benjamins Denken bei, woran Adorno und Scholem entscheidend beteiligt waren. Selbst ihre Kritiker mussten einräumen, dass die Benjamin-Forschung durch die Veröffentlichung verschollener Schriften wichtige Impulse erhalten hatte.167 Während sich Adornos Aufgabe hauptsächlich auf die Herausgabe von Benjamins Schriften erstreckte, lieferte Scholem eher Mosaiksteine zu einer Biographie dieses Philosophen, zumal er einer seiner engsten und ältesten noch lebenden Freunde war. Auch nach Adornos unzeitigem Tod (er starb 1969 an einem Herzanfall) investierte Scholem weiterhin einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner intellektuellen Energie in das Andenken an Walter Benjamin, sei es durch Mithilfe bei der
165 Kurzweil, be-Maawak, 201f. In einem der Aphorismen, die Kurzweil seinen gesammelten Aufsätzen voranstellt, konstatiert er eine „fatale“ Ähnlichkeit zu Max Brods Kafka-Bild: „Beide stützen sich auf die Schriften des jeweils verstorbenen Freundes. Hier liegen zwei Belege dafür vor, wie die nationale Renaissance vom Toten lebt“ (ebd., XI). Interessanterweise ist Adornos Benjamin-Bild im selben Kontext gesehen worden: „Benjamins Hinwendung zum Marxismus werde, wenn nicht schon durch Unterdrückung und Entstellung jener Arbeiten, die dafür Zeugnis ablegen konnten, so doch gewiß durch die ‚offizielle‘ Interpretation Theodor W. Adornos bagatellisiert und verschleiert. Was Kafka durch Brod widerfuhr, geschehe Benjamin durch Adorno“ (Schütte, Eingriffe?). 166 Das Protokoll dieses Seminars vom 17. 5. 1968 befindet sich in: DLA, SUA: Suhrkamp. 167 Dazu Brenner, Theodor W. Adorno, 158; Garber, Rezeption und Rettung, 135.
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Herausgabe der Benjamin-Gesamtausgabe, die 1989 bei Suhrkamp erschien,168 sei es durch Veröffentlichung eigener Beiträge über Benjamins Leben und Denken.169 Rolf Tiedemann170 weiß zu berichten, dass die Erstellung einer umfassenden Benjamin-Biographie Scholem sehr am Herzen lag; da allzu wenig Daten zur Verfügung standen, übernahm er dieses Projekt nicht, doch war er unermüdlich mit der Zusammenstellung von Puzzleteilen zu einem authentischen Benjamin-Bild beschäftigt. Darunter sind zu nennen: Scholems Erinnerungen an Benjamin, die unversehens zum ersten Teil seiner eigenen Autobiographie wurden, der spätere Briefwechsel zwischen Benjamin und Scholem, der aus dem Ostberliner Benjamin-Archiv aufgetaucht war und den Scholem selbst noch 1980 zum Druck brachte sowie der letzte Aufsatz von Scholem, der erst nach dessen Tod erschien und den er über den Stammbaum der Familie Walter Benjamins geschrieben hatte.171 Für eine eingehendere Untersuchung von Scholems Benjamin-Interpretation ist hier nicht der Ort. Es sei nur kurz skizziert, was nach Scholems Auffassung den Schlüssel zum Verständnis Walter Benjamins darstellte. Wie schon oben angedeutet, wurde die gemeinsame Herausgabe von Benjamins Schriften durch Adorno und Scholem dadurch ermöglicht, dass die beiden sich über das Benjamins Denken zugrundeliegende jüdisch-metaphysische Fundament einig waren, obwohl sie aus der Lektüre seiner Schriften sehr unterschiedliche Schlüsse zogen. Die Überzeugung, dass Benjamin ein jüdischer Denker war sowie Esoteriker und Metaphysiker, ist der rote Faden, der sich durch Scholems BenjaminVerständnis zieht und an dem er bis ans Ende seines Lebens festhielt.172 In seinen Aufsätzen übte Scholem nicht selten Kritik an den marxistischen Interpreten, die aus ihrer säkularen Lebenshaltung heraus das jüdisch-metaphysische Element in Benjamins Schriften unterschlugen,173 an den Freunden und Kollegen, die diesem Element nicht den gebührenden Platz einräumten,174 und natürlich an allen, 168 Benjamin, Gesammelte Schriften; das Erscheinen des Gesamtwerks hat Scholem nicht mehr erlebt. 169 Scholems Aufsätze über Benjamin sind gesammelt in: Scholem, Walter Benjamin und sein Engel; vgl. auch Garber, Rezeption und Rettung, 140. 170 Tiedemann, Erinnerung an Scholem [1], 216. 171 Scholem, Walter Benjamin; Benjamin/Scholem, Briefwechsel; Scholem, Ahnen und Verwandte. Dazu kommt noch die Herausgabe und Drucklegung von Benjamins autobiographischer Schrift aus dem Nachlass, die 1970 bei Suhrkamp erschien: Benjamin, Berliner Chronik. 172 In: Scholem, Judaica 2, 193–227, hier: 200; auch in: Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, 14. 173 So z. B. Scholem, Judaica 2, 219 bzw. 29; vgl. auch jeweils im Vorwort zu: ders., Walter Benjamin, 8; ders./Benjamin, Briefwechsel, 11. 174 So etwa Scholems Kritik an der Benjamin-Interpretation von Jürgen Habermas in dem Interview mit Jörg Drews nach Erscheinen seiner Publikationen, Walter Benjamin sowie … und alles ist Kabbala, 18.
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Abbildung 11. Scholem vor dem Bild von Walter Benjamin, 1978
die Scholems Hervorhebung des Jüdischen bei Benjamin als tendenziöse Entstellung ablehnten.175 Zusammen mit Adorno zeichnete Scholem das Bild Walter Benjamins als eines zentralen jüdischen Intellektuellen in Deutschland,176 die 175 Zum Beispiel: Hartung, Der Mann, der von vielem absah. Dort wird Scholem unterstellt, als Judaist und Zionist das Jüdische bei Benjamin überbetont zu haben. In einer ausführlichen Entgegnung an Hartung vom 14. 2. 1967 (in: Scholem, Briefe II, 171–175), wies Scholem diesen Vorwurf mit den Worten zurück: „Dass Benjamin sich nicht als Deutscher fühlte, sondern als Jude, ist ja keine Interpretation von Scholem, wie es bei Ihnen scheinen könnte, sondern ein Faktum, das mir aus jahrelangem Zusammensein ebenso evident war wie es durch seine Briefe auch an andere durchaus eindeutig bewiesen ist“ (ebd., 173). 176 Im GSA befindet sich eine Gedenkrede auf Scholem, die wahrscheinlich von Siegfried Unseld stammt ([Unseld], Zum Gedenken an Gershom Scholem). Gehalten wurde sie in Frankfurt anlässlich des Kolloquiums zum 90. Geburtstag von Walter Benjamin am 1. 7.
Rezeptionsgeschichte
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daraus resultierende Benjamin-Rezeption förderte wiederum Scholems Ansehen beim deutschen Leserpublikum. Oder anders gesagt: Die breite Rezeption Scholems in Deutschland während der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ging Hand in Hand mit der von ihm initiierten und mitgetragenen Benjamin-Rezeption. Man könnte geradezu sagen, dass es weitgehend seine Freundschaft mit Walter Benjamin und seine Mitwirkung an der Herausgabe von dessen Schriften in Deutschland war, aus denen heraus sich das Interesse einer deutschen Leserschaft allmählich auch Scholem selbst und seiner Arbeit zuwandte. Am Anfang dieses Prozesses stand Scholem als Kabbala-Forscher, der nur wenigen Fachleuten bekannt war; an dessen Ende war er zu einem der bedeutendsten deutsch-jüdischen Intellektuellen seiner Zeit geworden. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass alles, was Scholem über Benjamin geschrieben hat, in Deutschland und auf Deutsch erschien, und (mit einer einzigen Ausnahme) zu Scholems Lebzeiten nicht ins Hebräische übersetzt wurde.177 Die Frage, warum Scholem sich entschloss, das Andenken an seinen Freund Walter Benjamin in Deutschland wiederaufleben zu lassen und nicht in Israel, lässt sich wohl nicht eindeutig beantworten. Ob Scholem Benjamins nomadische Gestalt als für das israelische Publikum irrelevant oder ungeeignet betrachtete? Oder lag der Grund womöglich bei Scholem selbst, für den Benjamin in das deutsche Kapitel seines Lebens gehörte, das er mit seiner Einwanderung 1923 abgeschlossen glaubte? Oder konnte Scholem paradoxerweise nur in Deutschland Benjamins tragische Gestalt in voller Schärfe und all ihrer Faszination darstellen, so wie er Benjamin empfand und sich mit ihm identifizierte? Der in Benjamins Schriften weithin vorherrschende wehmütige Rückblick auf das deutsche Kaiserreich war dem israelischen Publikum fremd; vertraut war er nur Menschen, die ihn persönlich kennengelernt hatten bzw. seinem Leben und Werk im Deutschland der Nachkriegszeit nachspürten.178 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Benjamin sich keiner Gemeinschaft zugehörig fühlte: In dem Interview, das der deutsche Literaturwissenschaftler und Journalist Jörg Drews 1976 in seiner Jerusalemer Wohnung mit ihm führte, spricht Scholem Benjamin zwar ein „starkes jüdisches Bewußtsein“ zu, aber auch „das Bewußtsein eines Menschen, der fremd ist in der Gesellschaft, in jeder 1982. Dort heißt es am Anfang: „Ohne Gershom Scholem – das ist meine persönliche Überzeugung –, ohne die Begegnung und die über ein Vierteljahrhundert dauernde Kommunikation mit ihm wäre Benjamin nicht der geworden, der er schließlich geworden ist“. 177 Die Ausnahme ist Scholems Aufsatz über Walter Benjamin aus der Neuen Rundschau von 1965, der noch im selben Jahr auf Hebräisch in der Zeitschrift Ammot erschien. Scholems Buch über Benjamin erschien erst 1987 auf Hebräisch, fünf Jahre nach Scholems Tod. Sein Briefwechsel mit Benjamin aus den Jahren 1933–1940 wurde erst 2008 auf Hebräisch veröffentlicht, nahezu drei Jahrzehnte nach Erscheinen der deutschen Ausgabe. 178 Vgl. Zadoff/Zadoff, From Mission to Memory.
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Gesellschaft. Er war […] ein Mann aus der Fremde – so wie Freud, wie Kafka Menschen waren, die in dieser Gesellschaft, in der sie lebten, fremd waren“.179
179 Ausgestrahlt in der ARD am 20. Juni 1976; Scholem, … und alles ist Kabbala, 24.
9.
Wieder in Berlin Ich merke dann: Ich liebe diesen alten Mann. Wieso? Man weiß nicht. Du jedenfalls würdest es auch tun! Hartmut von Hentig, 19811
a.
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1965 wurde Gershom Scholem im Alter von 68 Jahren emeritiert, nach vierzigjähriger Tätigkeit in Forschung und Lehre an der Hebräischen Universität. Über diesen ganzen Zeitraum hinweg war er eine der zentralen Figuren der Geisteswissenschaftlicher Fakultät, insbesondere der Jüdischen Studien. Seine Beteiligung am Aufbau der Universität sowie der Nationalbibliothek hat Spuren hinterlassen, die bis heute erkennbar sind, so etwa bei der Errichtung des Institute of Microfilmed Hebrew Manuscripts (gegr. 1950), im Institute for Hebrew Bibliography (gegr. 1959) oder im Institute of Hebrew Paleography (gegr. 1965).2 Außerdem hat er Generationen von Schülern ausgebildet, die bis vor kurzem die Hauptstützen der Judaistischen Abteilungen an der Hebräischen Universität sowie an weiteren akademischen Institutionen bildeten. Doch seine größte akademische Leistung bestand darin, „die Erforschung der Kabbala zu einer Disziplin innerhalb der Jüdischen Studien gemacht zu haben“, wie es in der Laudatio anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Hebräische Universität im Winter 1968 hieß. Von Grund auf habe er dieses Lehrgebäude fertiggestellt, selbst die Hilfsmittel entwickelt und die gesamte Bauarbeit geleistet, „vom Keller bis zum Dach.“3 Das war freilich, wie bei solchen Lobreden üblich, ein wenig übertrieben. Die zahlreichen bedeutenden Innovationen im Bereich der Kabbalaforschung seit Scholems Tod, von denen nicht alle mit seinen Voraussetzungen konform gehen, sprechen dafür, dass an diesem Gebäude noch manches zu tun ist, und fertig wird es wahrscheinlich nie werden. Andererseits ist
1 Aus einem Brief an seine Nichte, Winter 1981; zitiert in: von Hentig, Mein Leben, 573. 2 Cohn/Plesser (Hg.), Commemorative Exhibition, 46f. 3 Eilat/Rotenstreich, Ha-Senat schel ha-Universita ha-ivrit, GSA, 1.
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Wieder in Berlin
nicht zu leugnen, dass Scholem für dieses Fach die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt hat und zwar auf drei Kontinenten und in drei Sprachen. Vor und in höherem Maße nach seiner Emeritierung wurden Scholems Leistungen auf diesem Gebiet in Israel anerkannt. 1958 erhielt er den israelischen Staatspreis (den „Israel-Preis“), 1961 den Rothschild-Preis. 1968 wurde ihm, wie schon erwähnt, die Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität verliehen, ein Jahr danach die Ehrenbürgerschaft der Stadt Jerusalem, außerdem wurde er zum Ehrenmitglied des Weizmann-Instituts ernannt; 1973 verlieh ihm das Technion in Haifa den Harvey-Preis.4 Dazu kamen der Bialik-Preis für jüdische Wissenschaft 1977 und ein Ehrendoktorat der Tel Aviver Universität 1980. In den Jahren 1968–1974 amtierte Scholem als dritter Präsident der 1961 gegründeten Israelischen Akademie der Wissenschaften. Davor war er bereits Vizepräsident der Akademie gewesen, und noch früher, Ende 1958, hatte ihn Ben-Gurion zum Mitglied der Gründungskommission ernannt.5 Außer dieser Anerkennung seines jahrzehntelangen akademischen Wirkens in Israel wurden ihm seit Ende der sechziger Jahre auch in Deutschland verschiedene Preise verliehen. Im Herbst 1969, mit 72 Jahren, erhielt er den Reuchlin-Preis der Stadt Pforzheim, Geburtsort des großen Humanisten und christlichen Hebraisten; dieser Preis wird alle zwei Jahre für außerordentliche Leistungen im Bereich der Geisteswissenschaften verliehen, und die Heidelberger Akademie der Wissenschaften wählt den jeweiligen Preisträger. Daher war es Hans-Georg Gadamer, der Scholem im Vorfeld diskret anfragte, ob er bereit sei, den Reuchlin-Preis anzunehmen. Nach einigem Überlegen stimmte Scholem zu, obwohl ihm die NS-Vergangenheit eines der früheren Träger dieses Preises ein gewisses Unbehagen bereitete. Die Rückbesinnung auf Johannes Reuchlin, „dem das jüdische Volk stets ein ehrendes Andenken bewahrt hat und der sozusagen mein erster Vorgänger in Deutschland war“, ermöglichte ihm schließlich die Annahme des Preises.6 Am 10. September 1969 fand die Preisverleihung in Anwesenheit lokaler Honoratioren statt, und in den kurzen Dankesworten, die Scholem seinem Vortrag „Erforschung der Kabbala von Reuchlin bis zur Gegenwart“ voranschickte, führte er die Parallelen zwischen ihm selbst und dem Namensgeber des Preises näher aus: Wenn ich an Seelenwanderung glaubte, würde ich wohl manchmal denken können, unter den neuen Bedingungen der Forschung eine Reinkarnation Johannes Reuchlins, des ersten Erforschers des Judentums, seiner Sprache und seiner Welt, und speziell der
4 Verzeichnis sämtlicher Preise in: Cohn/Plesser, Commemorative Exhibition, 46–48. 5 Vgl. Cohn/Plesser, ebd., 47. 6 Scholem an Gadamer, 7. 7. 1969, in: Scholem, Briefe II, 220.
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Abbildung 12. Ein Schaufenster einer Buchhandlung in Pforzheim, 1969. Aufgenommen von Eva Bischop.
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Kabbala, zu sein, des Mannes, der vor fast 500 Jahren die Wissenschaft vom Judentum in Europa ins Leben gerufen hat.7
Dieser merkwürdige Satz erregte einiges Aufsehen und wurde unterschiedlich gedeutet. Moshe Idel fand darin einen Hinweis auf die zentrale Stellung, die Scholem Reuchlins Zugang zur Kabbala-Forschung eingeräumt habe, die Herausbildung von Begriffen, die wegweisend wurden und zwischen den Epochen der beiden Forscher eine Verbindung herstellten.8 Peter Schäfer dagegen beschränkt die Analogie zwischen den beiden Forschern auf die jeweilige Pionierleistung, ohne eine Beziehung zu Reuchlins christlicher Überlieferung oder zu dessen Haltung gegenüber dem Christentum anzunehmen.9 Ich sehe eine weitere mögliche Motivation hinter dieser Äußerung Scholems: Bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in Deutschland anlässlich einer Preisverleihung wollte er von der Bedeutung der Veranstaltung ablenken, indem er auf teils mystischem, teils humoristischem Weg auf seine Forschung verwies, wobei er allerdings die eigene Person bereits mit einbrachte.10 Für diese Vermutung spricht, dass sich Scholem hier ganz und gar auf die Sache beschränkte, wohingegen er bei späteren ähnlichen Gelegenheiten gern auch von seinem eigenen Leben sprach. Die historischen Hintergründe für die Verleihung des Reuchlin-Preises an Scholem kommen in der Begründung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften zur Sprache, die Gadamer als deren Präsident bei diesem Anlass verlas. Darin ist nicht nur von Scholems Beitrag zur Kabbala-Forschung die Rede, wodurch die geistige Nähe zu Reuchlin zum Ausdruck kam, sondern auch von der Symbolwirkung dieser Preis-Verleihung: Zum anderen aber ehrt die Stadt Pforzheim den klaren und überzeugten Vertreter seines Volkes, der – allen Anfechtungen durch das vom nationalsozialistischen Deutschland an den Juden begangene Verbrechen zum Trotz – die Einheit der menschlichen Kultur und der wissenschaftlichen und sittlichen Vernunft hochhält.11
Die Verleihung des Reuchlin-Preises, die Erste Auszeichnung, die Scholem in Deutschland erhalten hat,12 zeitigte nur ein lokales Presseecho.13 Doch blieb diese
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Scholem, Judaica 3, 247. Idel, Old Worlds, New Mirrors, 103. Schäfer, Gershom Scholem und das Christentum, 257f. Vgl. Campanini, A Case for Sainte-Beuve, 367. Ein Exemplar dieser Begründung befindet sich (ohne Überschrift) im GSA, Akte 26, Zitat auf S. 24. Gadamer selbst hat diese Ansprache in seiner Autobiographie abgedruckt, allerdings ohne den letzten Abschnitt, der den hier zitierten Satz enthält: Gadamer, Philosophische Lehrjahre, 191–193. 12 Ein Jahr zuvor, 1968, hatte er die Ehrendoktorwürde der Universität Zürich erhalten; sein Dankwort zu diesem Anlass erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. 5. 1968, S. 53.
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Ehrung nicht ohne Folgen. 1970 erschienen bei Suhrkamp nicht weniger als drei Bücher von Scholem, darunter der zweite Band seiner Aufsatzreihe Judaica,14 und 1972 wurde er Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Indes ist der Wendepunkt, der Scholems Eintritt ins Bewusstsein eines intellektuellen Publikums in Deutschland markiert, im Sommer 1974 anzusetzen. Gegen Ende 1973 erhielt Scholem ein Schreiben von Friedhelm Kemp, dem Direktor der Abteilung Literatur an der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, worin ihm mitgeteilt wurde, bei der letzten Sitzung sei Scholem der Akademiepreis für das Jahr 1974 zuerkannt worden. Kemp war für Scholem kein Unbekannter mehr; er befand sich unter den Zuhörern des Vortrags, den Scholem im März 1973 am Institut für Zeitgeschichte in München gehalten hatte.15 Kemp gab zu verstehen, dass er sich der Unstimmigkeit bewusst sei, die darin bestand, den Literaturpreis einem Mann zu verleihen, der in erster Linie als Wissenschaftler und nicht als Literat hervorgetreten war: „Bitte verwundern Sie sich dessen nicht: wir haben es uns seit langem zur Ansicht gemacht, daß nicht nur Verseschreiber und Romanautoren zur Literatur zählen“, schrieb er.16 Scholem zögerte nicht, den angebotenen Preis anzunehmen; in seiner Antwort nimmt er humoristisch Bezug auf die Diskrepanz zwischen dem Titel des Preises und dessen designiertem Empfänger: Ihr Brief vom 20. Dezember 1973 war eine große Überraschung für mich. Wie hätte ich auf die Vorstellung kommen können, daß ich nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung und schriftstellerischer Äußerung, die sich im Deutschen, Hebräischen und Englischen niederschlug, einen Literaturpreis einer deutschen Akademie erhalten würde! Das nenne ich Zeichen und Wunder. Da bin ich nun auf die Begründung, die doch irgendwas mit meinen in deutscher Sprache verfassten Schriften oder deren Stil zu tun haben muß, recht gespannt. Ich danke Ihnen sehr für diese Anerkennung, die ich wohl weitgehend Ihrer Kenntnis meiner Schriften zu verdanken habe, und werde den Preis, den Ihre Akademie mir zuerkennen will, annehmen – obwohl ich mich doch
13 Ein großer Artikel erschien am 11. 9. 1969 im Pforzheimer Kurier, kleinere Mitteilungen in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung (19.9.), in der Stuttgarter Zeitung (11.9.), in der Ludwigsburger Kreiszeitung und in der Schwäbischen Zeitung (12. 9.). 14 Außerdem erschienen in diesem Jahr Über einige Grundbegriffe des Judentums sowie die von Scholem aus dem Nachlass herausgegebene Berliner Chronik von Walter Benjamin. Im Oktober desselben Jahres begannen bei Unseld die Verhandlungen um die Übersetzung von Scholems Monographie über Sabbatai Zwi ins Deutsche, und zwar im Zusammenhang mit der von Zwi Werblowsky besorgten Übersetzung ins Englische, die 1973 in den USA erschien; vgl. Unseld, Chronik 1970, 307f. Der deutsche Sabbatai Zwi kam allerdings erst 1992 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp heraus. 15 Dazu oben, Kap. 8. 16 Kemp an Scholem, 20. 12. 1973, im GSA, Korrespondenz Kemp.
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besorgt fragen muß, womit ich ihn verdient habe. Aber ich erinnere mich an einen Vers bei Karl Kraus „Wir wollen überrascht sein“.17
Die Preisverleihung wurde auf den 15. Juli festgesetzt, und Scholem ließ Einladungen dazu an etliche seiner Freunde und Bekannten verschicken, unter ihnen Jörg Drews, Martin Broszat, Jürgen Habermas und Siegfried Unseld.18 Letzteren lud er auch in einem persönlichen Schreiben ein: „Der Verlag muss ja die Triumphe seines Autors, auch wenn er nur ein Rechtsaußen ist, nicht nur besingen, sondern auch mitfeiern. Dies wäre jedenfalls das früheste Datum, an dem wir uns wiedersehen können. Ich hoffe dort auch Habermasens und Jörg Drews zu treffen. Es könnte also das werden, was meine Mutter ein Juchhe nannte“.19 Abgesehen von der gesellschaftlichen Seite dieses Ereignisses war sich Scholem auch der zu erwartenden positiven Auswirkungen auf den Verkauf seiner Bücher in Deutschland bewusst. So schrieb er wenig später an Unseld: Mir ist heute Nacht eingefallen, da mir offenbar nichts Besseres einfiel, ob mein werter Verlag nicht den Münchener Literaturpreis zu einer Anheizung des Umsatzes meiner Schriften, die so ein Dornröschen-Dasein führen, benützen könnte. Oder sind die Literaturpreise so im Ansehen gesunken, daß sie keine(n) Leser(in) mehr hinter dem Ofen vor ins Sortiment locken? Dem scheint die wiederholte Beziehung auf solche Auszeichnungen Ihrer Autoren in den Halbjahrsprogrammen etc. zu widersprechen. Ich hab für München eine Rede von 15 Minuten verfaßt. Ob ich sie aber halten werde? Ich mache darin für Jean Paul und Scheerbart, die Bibel, den Sohar und Kafka Propaganda – alles keine Suhrkamp-Autoren. Wie schade.20
Der Münchner Literaturpreis fand einen weitaus größeren Niederschlag in der deutschen Presse als der Reuchlin-Preis fünf Jahre zuvor.21 In der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte Jörg Drews einen größeren Beitrag, in dem er Scholem als „jüdischen Gelehrten und deutschen Schriftsteller“ apostrophierte; in diesem Zusammenhang sprach er auch von der zahlenmäßig geringen deutschen Leserschaft von Scholems Schriften im Vergleich zum Englisch oder Französisch lesenden Publikum und äußerte die Hoffnung, der Literaturpreis möge darin „eine kleine Wendung“ bringen. Außerdem machte sich Drews gegenüber Scholem zum Sprecher des deutschen Publikums, das auf weitere Beiträge aus seiner Feder warte, insbesondere über Walter Benjamin und über weitere Ver-
17 Scholem an Kemp, 1. 1. 1974, ebd. Mit dem Satz „wir wollen überrascht sein“ endet das Gedicht von Karl Kraus „Beim Anblick einer Schwangeren“. 18 Scholem an Clemens Graf Podewils, 8. 5. 1974, im Archiv der BADSK, München. 19 Scholem an Unseld, 25. 3. 1974, in: DLA, SUA: Suhrkamp. 20 Scholem an Unseld, 8. 6. 1974, ebd. 21 Einschlägige Beiträge erschienen am 17. Juli in Die Welt und in der österreichischen Presse, einen Tag danach in der Allgemeinen Zeitung sowie im Tagesspiegel.
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treter der jüdisch-deutschen Geistesgeschichte, deren Leben unwiederbringlich dahin sei.22
Abbildung 13. Gershom Scholem bei seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Aufgenommen von Hans Piper
Auch der Vortrag, den Scholem ungeachtet seiner Unseld gegenüber geäußerten Befürchtungen dann doch halten konnte, erschien in der Süddeutschen Zeitung zusammen mit der Begründung der Jury für die Verleihung des Preises.23 In diesem Vortrag versuchte Scholem, seine Stellung „zwischen deutsch und hebräisch, deutscher und hebräischer Literatur“ zu bestimmen.24 Seine Rede war ausgesprochen autobiographischen Charakters; in ihr sind bereits die Umrisse dessen zu erkennen, was Scholem später in Von Berlin nach Jerusalem weiter ausführen würde. Aber im Unterschied zu dem autobiographischen Buch enthielt der Vortrag gegen Ende auch Betrachtungen zu späteren Jahren seines Lebens, etwa zu seiner Auseinandersetzung mit Deutschland und der deutschen Sprache nach dem Holocaust angesichts seiner Europa-Reise 1946 und seiner häufigen Teilnahme an den Eranos-Tagungen. Einen so persönlichen Rechenschaftsbericht hatte Scholem bis dahin noch nie öffentlich abgegeben; er tat dies 22 Drews, Dank an Gershom Scholem. 23 Scholem, Mein Weg zur Kabbala. 24 So im Brief an den Präsidenten der Akademie, Hans Egon Holthusen, vom 27. 6. 1974 (Archiv BADSK).
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auch später nicht mehr, weder in Deutschland noch in Israel. Und noch etwas tat Scholem an jenem Abend zum ersten Mal in der Öffentlichkeit: Er gab einem ehemaligen aktiven Nationalsozialisten die Hand – Hans Egon Holthusen, dem Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der 1933 in die SS und 1937 in die NSDAP eingetreten war. Holthusens NS-Vergangenheit war bekannt, zum einen, weil die jüdische Dichterin Mascha Kaléko sich 1959 geweigert hatte, den Fontane-Preis der (West-)Berliner Akademie der Künste anzunehmen, da Holthusen unter den Preisrichtern war,25 zum anderen, weil dieser selbst 1966 Erinnerungen aus jener Phase seines Lebens veröffentlicht hatte.26 Die Preisverleihung in München stellte, wie gesagt, den Auftakt zur darauffolgenden positiven Rezeption Scholems und seiner Schriften durch die deutsche Leserschaft dar. Im Sommer ernannte ihn die Literaturabteilung der Akademie der Künste in Berlin zum außerordentlichen Mitglied.27 In einem Brief an seinen ältesten Bruder Reinhold in Australien beschwerte sich Scholem, dass er im folgenden Jahr zur Jahressitzung dieser Akademie reisen müsse, und meinte: „[W]ahrscheinlich bin ich dort der einzige Berliner“.28 Im Herbst 1975 erschien Scholems (auto-)biographische Schrift über seine Freundschaft mit Walter Benjamin. Dieses Buch, aus dem Stücke in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung vorabgedruckt worden waren,29 wurde in den Literaturbeilagen der meisten wichtigen deutschen Zeitungen ausführlich besprochen. Rezipiert wurde das Buch vor dem Hintergrund der Ende der sechziger Jahre einsetzenden Kontroverse um die Art und Weise, wie Adorno und Scholem in ihrer Benjamin-Briefausgabe den Einfluss dieses Philosophen auf Denker der extremen Linken in der damaligen Studentenbewegung dargestellt hatten. Die Bedeutung von Scholems Erinnerungsschrift über Benjamin bestand darin, dass sie dem Verständnis des zur Symbolfigur gewordenen Philosophen ein Element hinzufügte, nämlich das biographische, wodurch Benjamin er25 Kalekos Ablehnungsschreiben sowie weitere Dokumentation bei Fischer-Defoy (Hg.), … und die Vergangenheit sitzt immer mit am Tisch, 229–232, sowie Rosenkranz, Mascha Kaléko, 172–176. 26 Holthusen, Freiwillig zur SS. Dieser Aufsatz zog eine Reaktion des jüdischen Schriftstellers Jean Améry nach sich, die zusammen mit Holthusens Erwiderung im folgenden Heft des Merkur gedruckt wurde: Améry, Fragen an Hans Egon Holthusen. Auch der Schriftsteller und Literaturkritiker Peter Hamm reagierte heftig: Bemerkungen zu einem Geständnis. Hamm wies darauf hin, dass Holthusens Eintritt in die SS keine „Jugendsünde“ gewesen sei, wie dieser es dargestellt hatte, vielmehr habe Holthusen noch 1940 nationalsozialistische Anschauungen vertreten. Von Itta Shedletzky (mündlich, 2. 11. 2010) habe ich erfahren, dass Walter Boehlich, der jahrelang als Cheflektor im Suhrkamp-Verlag arbeitete, sein Befremden darüber äußerte, dass Scholem den Preis aus Holthusens Hand entgegennahm, obwohl er von dessen Vergangenheit wusste. 27 Die Ernennungsurkunde vom 12. 8. 1975 befindet sich im GSA, Akte 25. 28 Gershom Scholem an Reinhold Scholem, 22. 4. 1976, in: Scholem, Briefe III, 131. 29 In: Süddeutsche Zeitung, 16/17. 8. 1975, 61f.
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scheine „wie er war, und nicht, wie man ihn braucht“ – so schrieb Carl Dahlhaus in der Zeit und meinte, Scholem habe ein Bild des Scheiterns der jüdischen Emanzipation in Deutschland gezeichnet.30 Scholems Buch wurde als eine erste Biographie Walter Benjamins aufgefasst oder zumindest als ein wichtiger Baustein zu einer solchen.31 Doch es war nicht nur die Gestalt des hochverehrten Walter Benjamin, die in neuem Licht erschien, etwas von diesem Licht fiel auch auf Gershom Scholem, den Mann, dessen Erinnerung die entscheidende Quelle für das neue Benjamin-Bild war, das der deutsche Leser vor Augen gestellt bekam.32 Weniger als ein Jahr danach, am 20. Juni 1976, wurde im Ersten Deutschen Fernsehen (ARD) ein 45-minütiges-Interview ausgestrahlt, das Jörg Drews mit Scholem geführt hatte. Dieses Interview war Teil einer Reihe mit dem Titel „Lebensgeschichte als Zeitgeschichte“, die vom Saarländischen Rundfunk produziert wurde. Die Sendung mit Scholem war die dritte in der Reihe; vorausgegangen waren eine über den Schriftsteller und Philosophen Manès Sperber und eine über den österreichischen Schriftsteller Friedrich Torberg, beide Juden, letzterer mit Scholem befreundet.33 Das Gespräch war bei Scholem zu Hause aufgezeichnet worden, zum Teil im Wohnzimmer mit der Bibliothek im Hintergrund, zum Teil im Arbeitszimmer mit dem Schreibtisch zwischen Interviewer und Interviewtem. Das Interview umfasste vier thematische Bereiche: Kabbala und Judentum, Walter Benjamin, Zionismus und den arabisch-israelischen Konflikt sowie Scholems Lebensgeschichte in den Jahren kurz vor und kurz nach seiner Übersiedlung nach Jerusalem.34 Für die Fernsehsendung ließ Drews zwischen den Gesprächsteilen Fotos des alten und neuen, östlichen und westlichen Jerusalem, der Wüste Juda sowie die Umschlagblätter der bereits auf Deutsch erschienenen Bücher von Scholem einblenden. In der Fernsehkritik zweier wichtiger deutscher Zeitungen erfuhr diese Sendung einen heftigen Verriss; die Kritik richtete sich allerdings nicht gegen Scholem, sondern gegen Drews. Die Frankfurter Allgemeinen Zeitung monierte, die aufnahmetechnische Qualität des Interviews liege „unter einem honorar30 Dahlhaus, Geschichte einer Freundschaft. 31 Salzinger, Hat es Walter Benjamin nie gegeben?; Puttnies, Das dritte Gesicht. 32 Diese Tendenz zeichnet sich nicht nur bei Puttnies ab, sondern auch in der negativen Besprechung, die in der Frankfurter Rundschau erschien, wo Scholem vorgeworfen wurde, er habe aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte nur eine Seite von Benjamin wahrgenommen und die Bedeutung der marxistischen Komponente in Benjamins Leben vernachlässigt: Lüdke, Von der Einbahnstraße zur Sackgasse. Die Rezension von Salzinger, Hat es Walter Benjamin nie gegeben? zielte in eine ähnliche Richtung. 33 Erhalten ist die Anfrage vom Saarländischen Rundfunk: Günter Halkenhäuser an Gershom Scholem, 22. 1. 1976, im GSA, Korrespondenz: Saarbrücken, Saarländischer Rundfunk. 34 Die Aufnahme des Interviews befindet sich im Archiv des Saarländischen Rundfunks Saarbrücken; der vollständige Text wurde 1980 gedruckt: Scholem, … und alles ist Kabbala.
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pflichtigen Niveau (die Kamera irrte meist von Scholems Elefantenohren zu dem Matterhorn seiner Nase),“ und inhaltlich sei es Drews nicht gelungen, aus den Gesprächsfragmenten ein überzeugendes Portrait von Scholem erstehen zu lassen. Als besonderen Mangel kreidete der Kritiker Drews an, dass er keine einzige Frage nach dem Verhältnis von Juden und Deutschen gestellt habe: So „verspielte er die Chance, als Vertreter einer neuen Generation sein historisches Bewußtsein an einem Mann zu überprüfen, der wie wenige andere jüdische Geschichte personifiziert.“35 Auch in der Zeit wurde die unruhige Kameraführung gerügt, außerdem nahm der Kritiker Anstoß daran, dass alle bei Suhrkamp erschienenen Bücher Scholems eingeblendet wurden. Die Besprechung stellt eine Analogie zwischen dem Interview mit Scholem und dem gleichzeitig gesendeten Fußballspiel zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei her: Die Selbstdarstellung des Gershom Scholem wurde am Ende zu einem Werbefilm für ein Verlagsunternehmen. Und damit war man schließlich denn doch wieder auf Fußballniveau angelangt: Reklame im Belgrader Stadion, Reklame im Bericht über Scholem. Bunte Bilder, planlose Abwechslung, absurde Schnitte. Die Zuschauer auf den Rängen. Die Menschen in der Altstadt von Jerusalem. Die Siegestrophäe. Scholems gesammelte Werke.36
Scholem ließ sich die Freude über die ihm zuteilgewordene Aufmerksamkeit nicht durch die Kritiken verderben. Wenige Tage nach der Fernsehsendung schrieb er an seinen Bruder Reinhold amüsiert, aber nicht unzufrieden: „Ich bin zur Zeit in Deutschland, falls Dich das interessiert, bei den nichtjüdischen Gelehrten ‚the second best after Buber‘, mach Dir bitte einen Vers darauf, je nach Geschmack.“37 Sichtbaren Ausdruck fand die Wertschätzung, derer sich Scholem neuerdings in Deutschland erfreute, anlässlich der Feier seines 80. Geburtstags am 5. Dezember 1977. Es war sicher kein Zufall, dass Scholems autobiographisches Buch Von Berlin nach Jerusalem in Deutschland ungefähr zwei Monate vor Scholems 80. Geburtstag erschien. Das zeitliche Zusammentreffen der beiden Ereignisse sorgte dafür, dass alles Rühmende, das in der deutschen Presse über den Jubilar gesagt wurde, automatisch auch sein jüngstes Buch mit einbezog.38 So bezeichnete etwa Jörg Drews das Buch als ein Geschenk, das Deutschland von Scholem zu dessen 80. Geburtstag erhalten habe.39 Aus den einschlägigen Beiträgen ist abzulesen, wie Scholems Bedeutung für die deutsche Kultur im neunten Jahrzehnt seines
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Puttnies, Ein Gespräch über Bäume. Momos [d.i. Walter Jens], Meditationen über Gott. Gershom Scholem an Reinhold Scholem, 13. 7. 1976, in: Scholem, Briefe III, 140. Zum Beispiel: Drews, Ein klarer Weg; Tavor, Auf den Schwindel nicht hereingefallen; Haas, … von den Juden als Juden sprechen; Becker, Gerhard Scholem 80 Jahre. 39 Drews, Arbeit an der jüdischen Identität, 1210.
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Lebens durch die Veröffentlichung seiner Jugenderinnerungen verstärkt wurde, denn das deutsche Publikum sah darin die Geschichte der Juden in Deutschland vor dem Holocaust exemplarisch dargestellt. Das bereits im Titel angegebene Hauptmotiv des Buches, der persönliche Entschluss eines jungen Zionisten, Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg zu verlassen und sich in Palästina niederzulassen, wurde als ein Verpflanzen der deutsch-jüdischen Vorkriegskultur aufgefasst, woraufhin Scholem samt seinem Werk zum Vertreter einer untergegangenen Welt wurde. Hellmut Becker, erster Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, bot folgende Erklärung: „Scholem hat sich von uns schon in seinem Elternhause getrennt. Aber er hat in deutscher Sprache Werke vorgelegt, die uns das Judentum vermitteln, und Von Berlin nach Jerusalem gibt den Schlüssel zu diesen Werken“.40 Auch in Jerusalem wurde Scholems Geburtstag von Freunden und Verehrern festlich begangen. Sämtliche Tageszeitungen würdigten Scholem und vor allem sein akademisches Wirken in der jeweiligen Wochenendbeilage, natürlich ohne seine Jugenderinnerungen zu erwähnen, denn die waren ja in Deutschland auf Deutsch erschienen.41 Aus Anlass des Geburtstags wurde am 4. und 5. Dezember in Jerusalem eine Tagung veranstaltet, die sich mit der messianischen Idee im Judentum beschäftigte; dort sprachen jüngere Forscher aus verschiedenen Bereichen der jüdischen Studien.42 Eine Woche später, am 12. Dezember 1977, veranstaltete die Deutsche Botschaft in Tel-Aviv einen Abend zu Scholems Ehren; Vortragssprache war durchweg Deutsch, und aus Deutschland waren drei von Scholems Freunden angereist: sein Verleger Siegfried Unseld, sein guter Freund Jürgen Habermas und Hellmut Becker.43 Zu Beginn gab der deutsche Botschafter Klaus Schütz, ehemaliger Bürgermeister von Berlin, einen Empfang. Danach begann der öffentliche Teil des Abends im Tel-Aviv Museum of Art, zu dem 500 Eintrittskarten verteilt worden waren; Becker berichtet, sie seien innerhalb von weniger als 24 Stunden vergriffen gewesen.44 Diesen Teil eröffnete Unseld mit einem Grußwort, worin er die Bedeutung von Scholems Buch als historischem Dokument jener Zeit hervorhob. Danach hielt Habermas den Hauptvortrag, der einer Analyse von Scholems Denken und Forschen gewidmet war. Abschließend sprach Becker über die Bedeutung von Scholems Arbeit für das wechselseitige 40 Becker, Gerhard Scholem 80 Jahre, 131. 41 In Yediot Achronot vom 2. 12. 1977 etwa schrieben Joseph Dan, Nathan Rotenstreich, Getzel Kressel und Moshe Hallamish. In der Kulturbeilage von Haaretz hatten sich Zwi Werblowsky, Joseph Ben-Shlomo und David Flusser zu Scholems Werk und dessen Einfluss geäußert. 42 Unter den Rednern waren Yair Zakovitch, Ithamar Gruenwald, Shalom Rosenberg, Yehuda Liebes; die (rein hebräischsprachige) Tagung trug den Titel ha-Ra’ajon ha-mechischi be-Israel (Die messianische Idee in Israel). 43 Die Einladung zu diesem Abend ist im GSA erhalten (Akte 15); vgl. auch Gerhard Schoenberner an Gershom Scholem, 9. 8. 1977, im GSA, Korrespondenz German Embassy, Tel-Aviv. 44 Becker, Gerhard Scholem 80 Jahre, 130.
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Verständnis von Juden und Deutschen.45 Nach all diesen Reden las Scholem auf Deutsch die ersten Kapitel aus Von Berlin nach Jerusalem vor. Noch Jahre später erinnert sich Habermas an Scholems Lesung und die Reaktion des Publikums darauf: „In der Konzerthalle hatte sich ein großes Publikum aus überwiegend älteren Jahrgängen versammelt. Es hatte offenbar keine Schwierigkeiten, den gestochen artikulierten Sätzen dieses Meisters der deutschen Prosa zu folgen. Mir, dem Rheinländer, fiel auf, dass bei jedem Berliner Straßennamen ein Raunen des Wiedererkennens durch den Saal ging.“46 Die zeitliche Nähe zwischen dem Erscheinen des autobiographischen Buches und der Feier des 80. Geburtstags stellte, wie gesagt, in Deutschland eine Verbindung zwischen dem alten Scholem und dessen Jugend im Vorkriegsdeutschland her. Eine wesentliche Ursache dieser Wirkung lag, wie in fast allen Berichten und Rezensionen betont wird, in Scholems Sprache: Er schrieb ein berlinerisch gefärbtes Deutsch, das von den durch den Nationalsozialismus bewirkten Veränderungen frei geblieben war. Dies alles verschaffte Scholem und seinem Buch Aufmerksamkeit seitens relativ weiter intellektueller Kreise in Deutschland. So schrieb Becker an Scholem bald nach seiner Rückkehr aus Israel: Besonders interessant ist mir, wie gut in Deutschland Ihr Buch Von Berlin nach Jerusalem in der jungen Generation ankommt. Wir haben es etwa 30 Mal verschenkt und gerade bei jüngeren Leuten mit ungeheuer starker Resonanz. Ich hoffe, daß es nicht nur an unseren Bezugskreisen liegt, sondern auch im Erfolg des Buches als Ganzes sich niederschlägt.47
Im November 1977 erhielt Scholem aus dem Literaturarchiv bei der (Ost-) Deutschen Akademie der Wissenschaften die Kopien der Briefe, die er zwischen den Jahren 1933 und 1940 an Walter Benjamin geschrieben hatte. Sie waren dort im Benjamin-Nachlass erhalten geblieben, Scholem hatte sie bereits 1966 bei einem Besuch im Zentralarchiv der DDR gesichtet. Damals hatte man ihm Kopien davon versprochen, doch es dauerte mehr als zehn Jahre, bis dieses Versprechen eingelöst wurde. Scholem freute sich sehr über diese unverhoffte Sendung; er bezeichnete sie als „das wertvollste und erfreulichste Geschenk, das ich zu meinem achtzigsten Geburtstag erhalten konnte.“ Gut zwei Jahre später, Anfang 1980, veröffentlichte Scholem diese Briefe zusammen mit Benjamins Antwortbriefen, die er bei sich aufbewahrt hatte.48 Auf diese Veröffentlichung reagierte auch die deutsche Presse, für die Scholem kein Unbekannter mehr war, 45 Unselds Rede ist nicht erhalten. Zu anderen Vorträgen s. Habermas, Die verkleidete Tora; Becker, Gershom Scholem 80 Jahre; s.a. den Bericht über jenen Abend in der FAZ: Tavor, Scholem und Habermas. 46 Habermas, Begegnungen mit Gershom Scholem, 16. 47 Becker an Scholem, 9. 1. 1978, GSA, Korrespondenz Becker. 48 S. Benjamin/Scholem, Briefwechsel 1933–1940, und das Zitat im Vorwort, ebd., 9.
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zumal im Kontext von Benjamin. In den einschlägigen Rezensionen wurde diese Briefausgabe als eine Art Korrektur des zweibändigen Benjamin-Briefwechsels empfunden, den Scholem 1966 zusammen mit Adorno herausgegeben hatte. Anerkennend wurde vermerkt, dass die Briefe in der neueren Edition ungekürzt wiedergegeben seien. Im Unterschied zur Ausgabe von 1966 trete dieses Mal auch das Ambivalente in Benjamins Beziehungen zum Institut für Sozialforschung in den dreißiger Jahren zutage, wodurch ein komplexeres und ausgewogeneres Bild entstehe.49 Auch Scholem wies darauf hin, dass diese Briefe „manche Angaben“ der Edition von 1966 „richtigstellten“; dort etwa sei der Eindruck entstanden, als ob er Benjamin zur Einwanderung nach Palästina habe bewegen wollen.50 Im Frühjahr 1980 wurde Scholem zu einem Symposion über „Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung“ an die Lessing-Akademie in Wolfenbüttel eingeladen. So sprach er dort am 5. Mai 1980 in der berühmten Herzog-AugustBibliothek aus dem 17. Jahrhundert über Die wachsende Kontroverse über den Spinozismus und ihre Folgen.51 Sein Vortrag setzte der ganzen Veranstaltung ein Glanzlicht auf, und die lokale Presse pries ihn überschwänglich: „Die Ausführungen des 83jährigen Gelehrten, temperamentvoll vorgetragen und geschliffen in der Diktion, im Aufbau bestechend klar und die wissenschaftlichen Beweise exakt zusammenführend, waren ein Meisterstück philosophischer und philologischer Denkweise“. Ein anderer Rezensent meinte: „So hatte man die – in Deutschland ganz selten gewordene – Gelegenheit, eine Rede voll strenger Wissenschaftlichkeit, detektiven Spürsinns und witziger Ironie in einem zu hören.“52 Scholem hatte gern die Gelegenheit wahrgenommen, die berühmte Bibliothek von innen zu sehen; er fand dort sogar ein Fragment einer kabbalistischen Abhandlung, dessen anderes Stück er in Jerusalem wusste.53 Ein halbes Jahr danach wurde Scholem in den wissenschaftlichen Senat der Lessing-Akademie aufgenommen, dem er bis zu seinem Tode angehörte.54 Im Sommer 1981 erhielt Scholem die höchste Ehrung, die ihm von einem deutschen Gremium zuteilwerden konnte: den Orden pour le mérite für Wis-
49 Zum Beispiel Fuld, Aversionen und heimliche Angst; Blöcker, Den Mächten der Finsternis abgerungen; Lindner, Freundschaft in finsterer Zeit; Hartung, Aus den letzten Jahren. 50 Benjamin/Scholem, ebd., 11; ferner die Ausführungen von Habermas nach dem Erscheinen des Briefwechsels zwischen Adorno und Benjamin 1994: Habermas, Das Falsche im Eigenen. 51 Gedruckt in: Scholem, Die wachsende Kontroverse. 52 Dr. Ke. in der Wolfenbütteler Zeitung (12. 5. 1980); B.H. in der Hannoverschen Allgemeinen vom (13. 5. 1980). 53 Gründer, Vorbemerkung, 11; vgl. auch: Scholem an Reinhold Scholem, 22. 6. 1980, in: Scholem, Briefe III, 207. 54 Die Aufnahme erfolgte in der Senatssitzung vom 26. 9. 1980. Das Protokoll dieser Sitzung sowie die Liste der Senatsmitglieder in den Jahren 1980–1981 befindet sich im Archiv der Akademie.
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senschaft und Künste.55 Dieser Orden war 1740 von Friedrich dem Großen als militärische Auszeichnung begründet worden; 1842 erweiterte ihn FriedrichWilhelm IV. auf Betreiben Alexander von Humboldts um eine zivile Klasse, die für besondere Leistungen im Bereich der Geistes- und Naturwissenschaften, der Medizin und der Schönen Künste verliehen werden sollte. Nach dem Sturz des Kaiserreichs 1918 wurde der Orden als freie Vereinigung weitergeführt, d. h. ohne sein militärisches Gegenstück. In der Weimarer Republik wurde dieser Zusammenschluss 1924 anerkannt; damals fanden neue Mitglieder Aufnahme, darunter der jüdische Maler Max Liebermann und die bildende Künstlerin Käthe Kollwitz. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten zur Regierungspartei wurde der Orden 1934 Adolf Hitler unterstellt, und Hermann Göring sorgte für den Ausschluss aller jüdischen oder des Kommunismus verdächtigen Mitglieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt der Orden seine Eigenständigkeit wieder, und seit 1954 fungierte der jeweilige Bundespräsident der Bundesrepublik als Protektor.56 So entstand eine Kombination des Ordens in seiner Weimarer Fassung als freier Zusammenschluss mit der ursprünglich staatlichen Stiftung seines preußischen Gründers. Dem Orden gehören sowohl deutsche als auch ausländische Mitglieder an, wobei die Zahl der Ausländer die der Inländer nicht übersteigen darf. Von den Ausländern, die im Sommer 1981 beteiligt waren, kannte Scholem etliche: etwa den jüdischen Schriftsteller Elias Canetti oder den Kunsthistoriker Ernst Gombrich. Unter den deutschen Ordensträgern war Scholem mit Gadamer bekannt, der ihm seinerzeit den Reuchlin-Preis verliehen hatte, sowie mit dem Historiker Golo Mann.57 Wie sich Heinz Maier-Leibnitz, der damalige Ordenskanzler, ein Jahr später erinnerte, hatte es mit Scholems Wahl eine besondere Bewandtnis: Als dabei zum ersten Mal der Name Scholem genannt wurde, hatten wir ein ganz merkwürdiges Erlebnis. Mehrere von uns kannten ihn, und sie alle sprachen sich für ihn aus, mit großer Überzeugung und auch durchaus beredt. Auch auf unsere Fragen wussten sie alle Antworten, aber es war, wie wenn sie mehr wussten, als sie sagen konnten. Es entstand eine fast feierliche Stimmung, und ein Hauch des Besonderen wehte durch unsere sonst recht nüchterne Versammlung. Wir hatten eigentlich vor, einen Künstler zu wählen, aber davon war angesichts des Vorschlags Scholem kaum mehr die Rede.58
55 Brief des Physikers und damaligen Ordenskanzlers Heinz Maier-Leibnitz an Gershom Scholem, 16. 6. 1981, im GSA, Ordner 25. 56 Satzung des Ordens Pour le mérite für Wissenschaft und Künste, in: GSA, Ordner 25; vgl. 150 Jahre Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste: 1842–1992, Bonn [1992], insbes. die Beiträge von Helmut Coing (7–17) und Hans Georg Zachau (51–58). 57 So laut Liste der damaligen Mitglieder, im GSA, Ordner 25. 58 Maier-Leibnitz, Für Scholem-Gedenkfeier, 2. 7. 1982; im Archiv des WIKO, Scholem-Ordner.
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Scholem begegnete seinen illustren Kollegen beim Sommertreffen des Ordens, das vom 26.–29. September 1981 in Bad-Schachen bei Lindau stattfand; bei dieser Gelegenheit wurde ihm die Mitgliedschaftsurkunde überreicht. Über dieses Ereignis berichtete Fania Scholem dem befreundeten Ehepaar Beit-Arié: Unter den 27 ausländischen Mitgliedern sind neun Juden, fast ein Minjan, wir kennen die Hälfte (die meisten!) von ihnen. Gershom ist der einzige aus Israel, was er auch sehr betont hat. Außerdem hat er gesagt, es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass man ihn aufgrund seiner Arbeiten im Bereich des Judentums in diesen exklusiven Orden aufnehmen würde.59
Bei der Tagung in Bad-Schachen stand Verschiedenes zur Debatte, darunter ein etwaiges Treffen mit Bundespräsident Karl Carstens; es ging darum, was die Ordensmitglieder dem Präsidenten bei einer solchen Begegnung anbieten könnten. Scholem, der sich lebhaft am Gespräch beteiligte, gehörte zu den Vertretern der Meinung, es sei das Beste, wenn jeder Gedanken aus seinem Forschungsbereich beitrage, woraus der Präsident dann für eine Amtstätigkeit hilfreiche Standpunkte gewinnen könne. Auf diese Weise werde die Beziehung zwischen dem Orden und der Staatsspitze gewahrt, die übrigens auch in der äußeren Form des Ordenszeichens zum Ausdruck kam, das Scholem im Juni 1982 überreicht werden sollte: Der doppelt gekrönte Namenszug Friedrichs II. umgibt, viermal wiederholt, in Kreuzform ein rundes goldenes Schild, in dessen Mitte der Preußische Adler steht. Die Ordensdevise umgibt ringförmig auf blau emailliertem Grund das Ganze, die Namenszüge mit den Kronen verbindend. Das Ordenszeichen wird an einem schwarzen, mit Silber umränderten Band um den Hals getragen.60
Scholem ließ sich offenbar weder vom Namen des preußischen Königs noch von der Kreuzform des Ordens irritieren; er beschwerte sich nur humorvoll darüber, dass dieser nicht sein Eigentum werde, sondern nach Ableben des Ordensträgers unverzüglich nach Bonn zurückgeschickt werden müsse.61 Scholem konnte nicht wissen, dass er das teure Stück nicht in die Hand bekommen würde; vielmehr wurden beim folgenden Sommertreffen des Ordens in Anwesenheit seiner Witwe Gedenkworte auf Gershom Scholem gesprochen, und einige Zeit danach bekam Fania Scholem eine Fotografie des Ordenszeichens zugeschickt, auf dem wie üblich der Name des Ordensträgers „Gershom Scholem“ prangte.62 Zur selben Zeit, als Scholem in diesen altehrwürdigen Orden aufgenommen wurde, trug man ihm auch die Teilnahme am Programm einer neu gegründeten 59 60 61 62
Scholem an Dalia und Maleachi Beit-Arié, 4. 10. 1981 (hebr.), GSA, Korrespondenz Beit-Arié. Satzung des Ordens Pour le mérite für Wissenschaft und Künste, GSA, Ordner 25. Jürgen Habermas an Noam Zadoff, 15. 8. 2010, Privatarchiv Zadoff. Rudolf König an Fania Scholem, 18. 8. 1982, GSA, Ordner 25. Die Gedenkrede hatte Carl Friedrich von Weizsäcker gehalten: Weizsäcker, Gershom Scholem und die Kabbala.
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Abbildung 14. Orden Pour le mérite für Wissenschaft und Künste. Foto: axentis.de/Georg Lopata
Institution an: dem Wissenschaftskolleg zu Berlin. Scholem nahm an und wurde in dessen erstem akademischen Jahr (1981–82) fellow, doch war es ihm nicht vergönnt, dieses Jahr zu vollenden. Trotzdem waren die wenigen Wochen, die er
b. Der erste fellow: Das Wissenschaftskolleg zu Berlin
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dort verbrachte, bedeutsam – sowohl für ihn persönlich als auch für das intellektuelle Leben Berlins.
b. Der erste fellow: Das Wissenschaftskolleg zu Berlin Das letzte Kapitel von Scholems Leben spielte auf derselben Bühne wie das erste, allerdings vor einer erheblich veränderten Kulisse. In den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Berlin noch eine geteilte Stadt, Westberlin eine Enklave innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik. Kulturell wie wissenschaftlich war Berlin alles andere als ein lebenssprühendes Zentrum. Sowohl die politische Lage als auch das durch die Studentenrevolte von 1968 entstandene Klima an den Universitäten waren für das öffentliche Ansehen der Stadt in Westdeutschland nicht gerade günstig.63 Andererseits besaß Berlin ein ungeheures Potenzial, von seiner Vergangenheit her wie auch dank seiner geopolitischen Lage, wodurch die Stadt nach einem halben Jahrhundert wieder – wenn auch in anderer Form – zu einem Brennpunkt der Begegnung von Ost und West werden sollte.64 Um seinen akademischen Ruf zu verbessern und seinem wissenschaftliches Potenzial zur Entfaltung zu verhelfen, wurde 1980 in Berlin das erste Institute for Advanced Studies in Deutschland gegründet. Benannt wurde es nach Ernst Reuter, einem aktiven Kommunisten während der Weimarer Republik, vom NS-Regime ausgestoßen und verfolgt, Bürgermeister von Berlin während der Sowjetischen Blockade der Stadt von Juni 1948 bis Mai 1949.65 Wie Peter Wapnewski, der erste Rektor des Kollegs, erläuterte, hieß es offiziell Wissenschaftskolleg zu Berlin (nicht: in Berlin), um eine gewisse Distanz zu seinem Standort zu schaffen,66 d. h. es sollte nicht von vornherein mit der Stadt gleichgesetzt werden, aber doch die Absicht signalisieren, auf deren akademisches Niveau positiv einzuwirken. Was die Initiatoren vor allem wieder ermöglichen wollten, war ein Streben nach Höchstleistungen und die Herausbildung einer akademischen Elite, was infolge der Studentenrevolte verpönt gewesen war. Zum Rektor der neuen Einrichtung wurde der Mediävist Peter Wapnewski ernannt, der 1969 wegen der Studentenunruhen von der Freien Universität nach Karlsruhe gegangen war. Als Vorbild für das Wissenschaftskolleg zu Berlin diente die Einrichtung des Institute for Advanced Study in Princeton, wohin herausragende Vertreter verschiedener Fächer jeweils für ein Jahr eingeladen werden, um wis63 Glotz et al., Dieses Haus hatte Fortune …, 34). 64 Zur Bedeutsamkeit der West-Ost-Beziehungen bei der Errichtung des Instituts s. ebd., 47. 65 Zu Reuter als Namenspatron des Berliner Instituts vgl. Frühwald, Wirkungen der Freiheit, 13– 16. 66 S. Glotz et al., ebd., 39.
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senschaftliche Kontakte zu pflegen und unter optimalen Bedingungen zu ihrem speziellen Forschungsgebiet zu arbeiten.67 Abgesehen davon, dem gegenwärtigen intellektuellen Leben Berlins positive Impulse zu vermitteln, zielte die Neugründung auch auf die Erneuerung des wissenschaftlichen Erbes der Vergangenheit: Wenigstens für ein Jahr sollten Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler, die während des Dritten Reichs hatten fliehen müssen, wieder nach Berlin gebracht werden. Dies war ein Versuch, die gewaltsame Unterbrechung des geistigen Lebens in den dreißiger und vierziger Jahren zu überbrücken und an ältere Traditionen anzuknüpfen. So hieß es ausdrücklich im Gründungsbeschluss des Berliner Abgeordnetenhauses: Aufgabe dieses Ernst-Reuter-Zentrums für internationale wissenschaftliche Begegnung soll es sein, die internationale wissenschaftliche Kommunikation zu fördern, Wissenschaftler aus allen Teilen der Welt, insbesondere Gelehrte, die durch den Nationalsozialismus zur Emigration gezwungen wurden, und ihre Schüler als Gäste nach Berlin zu bringen, durch Kontakte zwischen ausländischen Gästen und deutschen, insbesondere Berliner Wissenschaftlern, das geistige Leben Berlins zu fördern und aufzubauen.68
Das Kolleg sollte vierzig Forschern pro Jahr Raum bieten, aber für das erste Jahr wurden nur achtzehn eingeladen. Durch Hellmut Becker vermittelt, erhielt Scholem im Herbst 1980 die offizielle Aufforderung, während des akademischen Jahres 1981–82 am Wissenschaftskolleg zu Berlin mitzuarbeiten.69 Zur Freude der Initiatoren erklärte sich Scholem trotz seiner 83 Jahre bereit, sein Jerusalemer Domizil für ein Jahr zu verlassen und nach Berlin zu kommen.70 Für das erklärte Anliegen des Kollegs, die vielfältige Berliner kulturelle Tradition zu erneuern, die vor dem „Dritten Reich“ weitgehend von Juden bestimmt gewesen war, erschien Scholem als der ideale Kandidat: Er war ein Freund von Walter Benjamin gewesen, der die letzten Jahre des Kaiserreichs und den Beginn der Weimarer Republik miterlebt und Teil des Berliner Kultur-Kaleidoskops gewesen war. Er war rechtzeitig ausgewandert, so dass er nicht in die Vernichtungsmaschinerie des „Dritten Reichs“ – einer unheilvollen Zeit, deren Folgen es zu beseitigen galt – geraten war. Und nicht zuletzt war er inzwischen in Westdeutschland als Erforscher des Judentums bekannt. 67 Um regelmäßigen Kontakt der Institutsmitglieder zu gewährleisten gab es ein gemeinsames obligatorisches Mittagessen; vgl. Frühwald, Wirkungen der Freiheit, 1–5. 68 Chronik des Wissenschaftskollegs, 259; s.a. Glotz et al., Dieses Haus hatte Fortune …, 43. 69 Wapnewski an Scholem, 2. 9. 1980, im GSA, Ordner 24. Dieses erste Schreiben war unterwegs verlorengegangen, deshalb erging eine zweite Einladung am 31. 10. 1980, ebd. 70 In seinem Antwortschreiben (Scholem an Wapnewski, 19. 11. 1980, ebd.) knüpfte Scholem seine Zustimmung an die Bereitstellung einer geeigneten Wohnung für sich und seine Frau sowie an die Zahlung eines deutschen Professorengehalts; die finanzielle Forderung begründete er damit, dass er seine Jerusalemer Wohnung während seiner Abwesenheit nicht vermieten könne, denn das würde deren kostbaren Inhalt (eine Bibliothek von über 15.000 Bänden) gefährden; s.a. Scholem an Reinhard Prasser, 6. 4. 1981, GSA, ebd.
b. Der erste fellow: Das Wissenschaftskolleg zu Berlin
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Aus diesem Grund richtete Wapnewski im Sommer 1981, etwa ein Vierteljahr vor dessen Ankunft, an Scholem eine Bitte, in der die hohe Wertschätzung, die ihm die Leitung des Instituts entgegenbrachte, deutlich wurde: „Wir haben uns in unserer Vorbesprechung gedacht, daß es angemessen wäre, wenn dieses Haus sich durch sich selbst darstellte, will sagen, durch einen seiner Fellows, und zwar durch den prominentesten von allen.“ Als solcher wurde Scholem aufgefordert, den wissenschaftlichen Vortrag bei der Eröffnungsfeier zu halten. Die Wahl des Themas stehe ihm frei, allerdings dürfe er nicht länger als dreißig Minuten sprechen, „da wir die hohen Repräsentanten des Staates sehr bewußt zu Worte kommen lassen wollen, damit sie ihre Verantwortung für unser Haus bezeugen (das sind: zwei Bundesminister, ein Regierender Bürgermeister, ein Senator, und vielleicht auch der Bundespräsident).“71 Scholem stimmte zu und mischte, wie es seine Art war, Stolz und Freude über die ihm zuteilgewordene Ehre mit einer Portion Ironie: Selbstverständlich kann ich mich Ihrer Bitte nicht entziehen und werde also wunschgemäß und mit geschwollener Brust – vorausgesetzt dass ich nicht gerade Bronchitis habe, wofür ja im November die beste Chance besteht – den wissenschaftlichen Vortrag bei dieser feierlichen Eröffnung halten, wobei ich mich gebührend als Jude, Israeli, Berliner und Kabbala-Forscher den hohen Herrschaften, die vor mir zu Worten kommen wollen, vorstellen darf. Die Beschränkung auf dreißig Minuten ist ja besonders angebracht, da ja nach den fünf oder sechs vorangehenden Rednern, die Sie, wie Sie wahrscheinlich mit schwerem Gewissen sagen, „sehr bewußt zu Worte kommen lassen wollen“, wohl oder übel damit rechnen müssen, dass die Zuhörer, mit Ausnahme der Redner, inzwischen eingeschlafen sind. Ob es mir gelingen wird, das Publikum bei Laune zu halten, ist eine heikle Frage, da ich meinen Berliner Mutterwitz sowohl mit Rücksicht auf den Ernst des Themas, das ich mir aussuchen muss, als auch die Erhabenheit der Stunde, nicht besonders strapazieren darf. Ich muss da also auf allseitige Liberalität und eventuelles Gratisangebot eines Antischlafmittels rekurrieren. Am besten wäre es wahrscheinlich, das Vortragsthema gar nicht in der Einladung anzukündigen, damit die nötige Spannung geschaffen wird. Ihre ehrenvolle Aufforderung kam fast zugleich mit der Mitteilung, dass man mich zu einem ausländischen Mitglied des Ordens pour le mérite für Wissenschaften und Künste gewählt hat, was ich auch mit Dank annehmen, schweizerisch gesprochen, verdanken musste. Da kann ich also in Gegenwart des Bundespräsidenten, des regierenden Bürgermeisters und des Rektors des Instituts auch fein vorkommen.72
Am 6. Oktober 1981 trafen – nach einem vorangegangenen Erholungsaufenthalt in der Schweiz – Gershom und Fania Scholem in Berlin ein. Die alten Herrschaften sollten in Dahlem wohnen, nicht weit vom Kolleg, das in einer alten Villa
71 Wapnewski an Scholem, 6. 7. 1981, GSA, Korrespondenz Wapnewski. 72 Scholem an Wapnewski, 12. 7. 1981, im Archiv des WIKO, Scholem-Ordner; ein Auszug aus diesem Brief auch bei Wapnewski, Mit dem anderen Auge, 390f.
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im Grunewald untergebracht war.73 Inzwischen hatten sich auch die übrigen Fellows für das erste Jahr des Wissenschaftskollegs aus West- und Osteuropa, aus Amerika und aus Israel, in Berlin eingefunden.74 Am 6. November fand die feierliche Eröffnung statt, und nachdem sämtliche obligatorischen Redner vom Pult abgetreten waren, sprach Scholem über Die Stellung der Kabbala in der europäischen Geistesgeschichte.75 Als Wapnewski Scholem einführte, nahm er den frühen Wintereinbruch zum Anlass, Scholems Berliner Vergangenheit aufs Tapet zu bringen: „Sechzig Jahre ist es jetzt her, seit Gershom Scholem […] einen Berliner Winter erlebt hat.“76 Über den Eröffnungsvortrag hinaus hatte Scholem in den Wochen nach seiner Ankunft in Berlin noch alle Hände voll zu tun. Als Forschungsprojekt plante er eine Monographie in deutscher Sprache über den jüdischen mystischen Aufklärer, Freimaurer und Abenteurer Ephraim Joseph Hirschfeld, für die er jahrelang Material gesammelt hatte.77 Daneben stellte Scholem einen Teil seiner Zeit und Energie jüngeren Forschern zur Verfügung, die bei ihm Rat für ihre eigene Forschungsarbeit suchten.78 Einen Abend widmete Scholem einem Bericht über seine Berliner Kindheit und Jugend im überfüllten Vortragssaal der jüdischen Gemeinde Berlin. An einem anderen Abend (11. Oktober) beteiligte er sich an einer öffentlichen Debatte über die Juden in Preußen im Hebbel-Theater anlässlich der Eröffnung einer einschlägigen Ausstellung in der Berliner Nationalbibliothek. An diesem Podiumsgespräch nahmen auch die Historiker Saul Friedländer und Fritz Stern teil, außerdem Scholems Freund Klaus Schütz, ehemals Bürgermeister von Berlin und deutscher Botschafter in Israel.79 Doch das Interessanteste, was Scholem in diesen Wochen seines Aufenthalts in Berlin veranstaltete, war eine Arbeitsgruppe, die sich einmal in der Woche zum Studium des Sohar traf. Am 16. November 1981, zehn Tage nach der offiziellen 73 Die Scholems wohnten in Dohnestieg 2; das WIKO liegt bis heute in der Wallotstraße 19. Bis 1970 hatte diese Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende als Clubhaus für britische Offiziere gedient; 1978 war sie dem Berliner Senat übereignet worden, der sie dem Kolleg zur Verfügung stellte. 74 Sieben aus Westdeutschland, vier aus Polen, vier aus den USA (unter ihnen der aus Österreich gebürtige Philosoph Ivan Illich, der damals in Mexico wirkte), zwei aus Israel (neben Scholem der Staatswissenschaftler Yehezkel Dror von der Hebräischen Universität, ein gebürtiger Wiener), und einer aus Italien. 75 Gedruckt wurde dieser Vortrag erst nach Scholems Tod im Jahrbuch des Kollegs über das akademische Jahr 1981/82, 281–289. 76 So im Pressebericht des Tagesspiegels vom 8. 11. 1981. 77 Eine Vorstudie hatte Scholem bereits 1962 veröffentlicht: Scholem, Ein verschollener jüdischer Mystiker; s.a. Scholem an Reinhold Scholem, 31. 8. 1981, in: Scholem, Briefe III, 241. 78 Awerbuch, Scholem zum Gedenken. 79 Vgl. Rohde, Emanzipation als Illusion?, sowie Awerbuch, ebd. Unter der Ägide von Botschafter Klaus Schütz hatte die eindrucksvolle Feier von Scholems 80. Geburtstag in Tel-Aviv stattgefunden.
b. Der erste fellow: Das Wissenschaftskolleg zu Berlin
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Eröffnung des Instituts, setzten sich in einem Kollegraum sechs jüngere Wissenschaftler zusammen, um mit Scholem das Schöpfungskapitel des Sohar in der Ursprache zu lesen.80 Für die Teilnehmer an jenem Seminar war diese erste Sitzung von besonderer Bedeutung. Am Tag danach stellte Friedrich Niewöhner von der Freien Universität die Verbindung zu jenem Kurs her, den Scholem fast sechzig Jahre zuvor an Rosenzweigs Freiem Jüdischem Lehrhaus in Frankfurt am Main gehalten hatte, unmittelbar bevor er sich auf den Weg nach Palästina machte. Wie 1923, so las Scholem auch 1981 im Rahmen eines sehr kleinen Kreises kabbalistische Texte. Niewöhner betrachtete die Berliner Veranstaltung als Wiederaufnahme einer unterbrochenen Tradition und als Zusammenführung von zwei Enden, deren Verbindung mit Scholems Auswanderung abgerissen war. Dabei betonte er die Unterschiede zwischen den beiden Seminaren: Gershom Scholem, 1897 in Berlin geboren, knüpft mit seinem „Sohar“-Seminar in Berlin 1981/82 an die Tradition an, die vor zwei Generationen abgebrochen ist. Scholem will seinen Schülern 1981 aber nicht wie jenen aus dem Jahr 1923 einen „Zugang zum Jüdischen“ (Von Berlin nach Jerusalem, S. 194) ermöglichen, die Schüler sind Juden wie Nicht-Juden. Scholem will einen geistesgeschichtlich bedeutenden Text lesen und erklären, quasi öffentlich, als „Kabbalist mit dem Gehirn eines Teufels“, wie er sich im Hinblick auf die geheime Kabbala bezeichnete.81
Vermutlich hatte sich auch für Scholem mit diesem Seminar ein Kreis geschlossen, denn er insistierte darauf, es als Lesekurs durchzuführen, obwohl nur eine Handvoll Teilnehmer den Anforderungen einigermaßen gewachsen waren. Das entspricht auch der enormen Bedeutung, die Scholem seinem Aufenthalt in Berlin beimaß. Ein knappes Jahr danach, als bald nach Scholems Tod seine Autobiographie auf Hebräisch erschienen war, erinnerte sich Yoram Bronowski, der Kultur-Redakteur der hebräischen Tageszeitung Haaretz, an ein Gerücht, das ihm zu Ohren gekommen sei, wonach es dem greisen Scholem ein Bedürfnis gewesen sei, sich in Berlin aufzuhalten und durch die Stadt seiner Jugend zu schlendern, die es nicht mehr gab. Die von dieser Stadt ausgehenden Impulse und das Eintauchen in sie haben Scholem die emotional intensivsten Monate seines letzten Lebensjahrs beschert – in jenem Berlin, dem er fast sechzig Jahre zuvor auf Nimmerwiedersehen den Rücken gekehrt zu haben glaubte.82 80 Awerbuch, ebd.; Niewöhner, An einem denkwürdigen Tag (WIKO Archiv); sowohl Friedrich Niewöhner als auch Marianne Awerbuch gehörten jenem Kreis an. Der Abschnitt aus dem Sohar, den Scholem für diesen Arbeitskreis auswählte, war derselbe, den er fast fünfzig Jahre zuvor in der Kleinen Bücherei des Schocken-Verlags veröffentlicht hatte: Scholem, Die Geheimnisse der Schöpfung. 81 Niewöhner, ebd., 2f.; der Beitrag von Awerbuch, Scholem zum Gedenken, enthält Stücke aus Niewöhners unveröffentlichten Aufzeichnungen. In seiner Autobiographie äußert sich Scholem nur kurz zum Frankfurter Lehrhaus: Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 194. 82 Bronowski, Mi-Berlin le-Jeruschalaijm uwe-chasara.
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Die Veränderungen, die sich in Berlin seit seiner dortigen Jugendzeit bis hin zu seinem letzten Besuch vollzogen hatten, waren enorm – einige davon hatte Scholem bei seinen wiederholten Besuchen in der Stadt sicherlich wahrgenommen. So war etwa das Wohnviertel, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört worden, und noch 1981 lag es in der Pufferzone zwischen Ost- und Westberlin.83 Trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser extrem anderen Umstände sollte man diesen Berlin-Aufenthalt von Scholem nicht ohne Bezug auf die früheren Umstände betrachten, insbesondere die seiner Kindheit und Jugend. Über alle Veränderungen hinweg empfand Scholem wohl eine tiefe und wachsende Verbundenheit mit dieser Stadt. Das dürfte der Grund gewesen sein, weshalb er in seinen vier letzten Lebensjahren mindestens einmal pro Jahr dorthin reiste.84 In einem Brief, den er aus der Schweiz, zwei Tage vor der Weiterreise nach Berlin, an das befreundete Ehepaar Beit-Arié nach Jerusalem schickte, blickte Scholem nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die unmittelbare Zukunft: „In diesen sechs Wochen habe ich nichts Neues gemacht. Ich will zusehen, dass ich in meiner Heimatstadt Berlin etwas mache. Ich überlege, ob ich mich im Dezember zur Toralesung aufrufen lasse, zur Erinnerung an meinen ersten Aufruf zur Tora im Dezember 1911 in einer Synagoge, die nicht mehr besteht.“85 Darin äußert sich sehr deutlich Scholems Wunsch, die abgerissenen Fäden seines Lebensgewebes wieder zusammenzuknoten und durch solchen Bezug auf seine Kindheit, deren Schauplatz unwiederbringlich verloren war, ein biographisches Kontinuum herzustellen. Jedenfalls scheint sich Scholem am Wissenschaftskolleg zu Berlin sehr wohl gefühlt zu haben. Die aus dieser Zeit stammenden Primärquellen enthalten keinen Hinweis auf etwaige innere Konflikte oder Ambivalenzen in Bezug auf die Situation und den Ort. In einem Brief an seinen neunzigjährigen Bruder Reinhold in Australien berichtet Scholem: „Die Atmosphäre in dem ‚Wissenschaftskolleg‘ am Halensee ist sympathisch, im ganzen etwa 18 fellows, darunter sehr gute Köpfe, und es bilden sich gute Beziehungen zu einer ganzen Zahl davon (9 Ausländer!)“.86 Dass Scholem sich hier nicht unter die „Ausländer“ rechnet, macht deutlich, wie eng und organisch für ihn die Zugehörigkeit zu Berlin war. Eine weitere wichtige Komponente des guten Gefühls, das Scholem während seines letzten Berlin-Aufenthalts empfand, war die Liebe und Verehrung, die ihn 83 Vgl. Rebiger, Das Wesentliche, 92. 84 Liste der Besuche bei Rebiger, ebd., 91; den dort aufgezählten Besuchen ist noch ein weiterer vom Mai 1981 hinzuzufügen. 85 Fania und Gershom Scholem an Dalia und Maleachi Bet-Arié, 4. 10. 1981, GSA, Korrespondenz Bet-Arié. Scholem war am 2. 12. 1911 in der Reformsynagoge Lindenstraße 48–50 im Rahmen einer Bar Mizwa zur Toralesung aufgerufen worden (vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 41); s.a. Rebiger, Das Wesentliche, 86. 86 Gershom Scholem an Reinhold Scholem, 15. 12. 1981, in: Scholem, Briefe III, 246.
b. Der erste fellow: Das Wissenschaftskolleg zu Berlin
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von allen Seiten umgab. Ob es die Berliner jüdische Gemeinde war, die älteren Freunde und Bekannten oder die neuen Kollegen vom Wissenschaftskolleg – Scholem befand sich während dieser Wochen im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit wie nie zuvor. So begegnete man ihm als einer wissenschaftlichen Kapazität und hochgeschätzten Persönlichkeit, ein Status, der ihm sichtlich guttat. Die besondere Beziehung, die sich zwischen ihm und den jüngeren Kollegen am Institut herausbildete, zeigt auch ein Brief, den der Pädagoge Hartmut von Hentig, der Scholem während dieser Zeit besonders nahestand,87 an seine Nichte in den USA schrieb. Er beschreibt ihr eine Fotografie, die offenbar am Eröffnungsabend aufgenommen worden war: Aus den ersten Tagen des Wissenschaftskollegs gibt es eine Fotografie, die ich Dir gerne schickte, hätte ich sie nicht verschenkt. Sie drückt etwas von der fröhlichen, einschließenden Ehrerbietung aus, die wir für unseren Senior empfinden. Scholem sitzt in der Mitte auf einem thronartigen modernen Stuhl; rechts kniet Ivan Illich, links dein Onkel; wir scheinen alle drei auf einmal zu reden; jedenfalls tun es unsere Hände; alle drei sind von lebhaftem Vergnügen ergriffen! Dieses gewährt uns Scholem täglich – meist trocken-keck, manchmal melancholisch, immer streng apropos, nie herablassend.88
Die auf diesem Bild festgehaltene Konstellation veranschaulicht den Status, den der greise Kabbala-Forscher aus Jerusalem unter den jüngeren Intellektuellen in Berlin genoss. In vollem Umfang wurde Scholems überragende Bedeutung allerdings erst nach seinem Tod sichtbar, etwa dreieinhalb Monate, nachdem dieses Foto aufgenommen worden war.89 Anfang Dezember 1981 zog sich Scholem bei einem Sturz eine Oberschenkelverletzung zu. Nachdem er daraufhin eine Zeitlang bettlägerig gewesen war, flog er am 17. Dezember zusammen mit seiner Frau nach Israel. Dies war von vornherein so geplant gewesen, denn die freien Tage zwischen Weihnachten und Neujahr wollte er in Jerusalem verbringen. So kehrte Scholem nach zwei Monaten und elf Tagen am Wissenschaftskolleg nach Israel zurück. Er ließ sich ins Hadassa-Krankenhaus einweisen und blieb dort, auch nachdem sein Oberschenkel verheilt war, denn er wurde von heftigen Bauchschmerzen heimgesucht, deren Ursprung die Ärzte nicht feststellen konnten.90 Am 21. Februar 1982 um drei Uhr nachts starb Gershom Scholem in Jerusalem im Alter von 84 Jahren.
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Vgl. Scholem an Hartmut von Hentig, 29. 1. 1982, Briefe III, 251. Von Hentig, Mein Leben, 571. Auch Hellmut Becker nimmt Bezug auf dieses Foto: Becker, Wenn ein Weiser stirbt, 65. Scholem an Wapnewski, 31. 1. 1982, in: Briefe III, 252–254; Wapnewski, Mit dem anderen Auge, 391f. Siehe auch die Beschreibung in: Pörksen, Camelot in Grünewald, 79–81.
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Abbildung 15. Scholem mit Hartmut von Hentig (rechts) und Ivan Illich (links) am Eröffnungsabend des Wissenschaftskollegs zu Berlin, November 1981
c.
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Die Beerdigung fand tags darauf in Jerusalem statt. Mittags um ein Uhr wurde Scholems Leichnam auf dem Platz zwischen der Akademie der Wissenschaften und dem van Leer-Institut aufgebahrt, in seinen Gebetsmantel gehüllt, unter einem blauen Tuch mit dem Emblem der Hebräischen Universität und der israelischen Flagge. Scholems guter Freund Jürgen Habermas, der eigens aus Deutschland angereist war, berichtete anschließend von der Trauerfeier, an der viele Leute teilgenommen hätten, „vor allem die Älteren und natürlich die aus Deutschland Emigrierten, die ‚Jeckes‘“. Bei der Zeremonie, an der Habermas die „Formlosigkeit eines eher alltäglichen Vorgangs“ wahrnahm,91 sprachen Nathan Rotenstreich und der Akademie-Präsident Ephraim E. Urbach in Anwesenheit des Staatspräsidenten Yitzhak Navon. Auf Wunsch der Organisatoren von der Hebräischen Universität und der Akademie hielt Habermas bei diesem Anlass 91 Habermas, Tod in Jerusalem, 438. Die Schilderung von Scholems Beerdigung beruht auf diesem Aufsatz sowie auf den Ausführungen von Becker, Wenn ein Weiser stirbt. Habermas und Becker waren eigens nach Israel gekommen, um an der Beisetzung teilzunehmen, bei der auch Siegfried Unseld zugegen war; vgl. Habermas, Begegnungen mit Gershom Scholem, 16; Habermas an Zadoff, 15. 8. 2010, Privatarchiv Zadoff.
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keine Gedenkrede auf seinen verstorbenen Freund, und das obwohl zahlreiche Israelis im Publikum waren, die Deutsch verstanden hätten. So wurde bei Scholems Beisetzung offiziell kein Wort Deutsch gesprochen.92 Der Leichenzug ging vom Platz vor der Akademie über den Universitätscampus auf dem Skopusberg zum Friedhof im Jerusalemer Stadtteil Sanhedria. Die Grabstätte wies noch keinerlei Pflanzenwuchs auf, oder wie die hebräische Schriftstellerin Naomi Frankel es formulierte: „Die Erde unberührt, kahl, mit Steinen besät. Diese Erde gleicht dem alten Jerusalemer Felsenboden, wohin der junge KabbalaForscher 1923 gelangte und worin er 1982 begraben wird“.93 Was auf dem frischen Grab hervorstach, waren „zwei pomphafte Kränze mit grellen Schleifen“, die der deutsche Botschafter dort im Namen des deutschen Staatspräsidenten bzw. des Regierenden Bürgermeisters von Berlin niedergelegt hatte.94 Nach einiger Zeit ließ die Witwe auf dem Grab eine Stele errichten, auf der unter dem Namen mit Geburts- und Todesdatum stand: „Der Begründer der Kabbala-Forschung“, außerdem ein Bibelvers (Dan 1,17) in leicht abgewandelter Form: „Gott gab ihm Wissen und Verstand in jeglicher Buchweisheit“.95 Der massive Grabstein aus Granit, durch den Fania das Provisorium ersetzen ließ, trug außerdem noch eine Textzeile: „mit der dritten Einwanderungswelle gekommen“ (Isch ha-Alija haschlischit) – für den Kundigen ein Hinweis darauf, dass der hier Begrabene als deutscher Zionist eingewandert war. Die Nachrufe in der israelischen Presse verliehen der Hochschätzung von Scholems Persönlichkeit und wissenschaftlichem Werk angemessenen Ausdruck.96 Verstärkt wurde das öffentliche Echo noch durch das Erscheinen der hebräischen, erweiterten Fassung von Scholems Autobiographie wenige Wochen nach seinem Tod. In Deutschland war Von Berlin nach Jerusalem zu Scholems 80. Geburtstag erschienen, in Israel erschien das Buch kurz nach seinem Tod. Zum Abschluss der ersten Trauerphase, dreißig Tage nach dem Ableben, wurde an der Hebräischen Universität eine Tagung veranstaltet, bei der auserlesene Freunde und Schüler über verschiedene Aspekte von Scholems akademischem
92 [Unseld], Gershom Scholem – zum Gedenken; dieses Dokument befindet sich, ohne Angabe des Verfassers, im GSA, Ordner 34. Es handelt sich um eine Gedenkrede, die bei dem Kolloquium zum 90. Geburtstag von Walter Benjamin am 1. 7. 1982 in Frankfurt am Main gehalten wurde. Ich schließe mich der Meinung des Archivars an, der als Autor des Textes Unseld notiert hat. Ich weiß von keinem anderen, der diese Rede verfasst haben könnte, die einerseits von langjähriger Bekanntschaft mit Scholem zeugt, andererseits von eindeutiger Identifizierung mit dem Suhrkamp-Verlag (über den in der Wir-Form gesprochen wird). 93 Ihr poetischer Nachruf: Fraenkel, Gershom Schalom scheba-Lev. 94 Habermas, Tod in Jerusalem, 440. 95 Fraenkel, ebd., 6. 96 Pressestimmen zu Scholems Tod befinden sich im GSA, Ordner 33.
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Wirken sprachen.97 Doch zugleich mit den Bekundungen von Verehrung und Hochachtung setzte der – vermutlich notwendige – Prozess einer quasi-ödipalen Ablösung von der überaus dominanten Figur Scholems ein, die jahrzehntelang den Gang des akademischen Lebens in Israel, insbesondere in Jerusalem, bestimmt hatte.98 Ansätze dazu hatte Jürgen Habermas bereits am Abend nach dem Begräbnis im Hause von Yehuda Elkana wahrgenommen: „Dort hörte ich mir schweigend an, was die andere Seite, nicht ohne verhaltene Aggression, zu Scholem und zur ambivalent empfundenen Vorherrschaft der deutschen Subkultur im israelischen Bildungssystem zu sagen hatte. Ich bekam eine Ahnung von den Kontroversen, mit denen Scholem gelebt hatte.“99 Auch in Deutschland löste Scholems Tod einen Widerhall in der Presse aus, besonders in Berlin, wo sich die Freunde und die Fellows vom Wissenschaftskolleg mit dem plötzlichen Verlust auseinanderzusetzen hatten. Dort war freilich keine Spur von der Ambivalenz und von dem heraufziehenden Konflikt bemerkbar, die in der Jerusalemer akademischen Sphäre stark zu spüren gewesen waren. In den Gängen der Villa am Grunewald fehlte der Mann, von dessen Stimme und Temperament sie bis kurz zuvor erfüllt gewesen waren; an die Stelle der Person traten nun die Erinnerungen. In einem Beileidsschreiben an die Witwe verleiht Wapnewski diesem Gefühl Ausdruck: Seit uns der verehrte Gershom Scholem verlassen hat – verlassen im doppelten Sinne des Wortes –, ist er uns in besonderem Maße gegenwärtig. Sie werden diese Feststellung nicht als logischen Widerspruch verstehen wollen. Kein Tag, an dem hier in unserem Hause nicht sein Name fällt, keine Gelegenheit, bei der nicht die zuversichtliche Vermutung geäußert wird, hier hätte er, Gershom Scholem, uns ein wichtiges, klärendes, Zweifel beseitigendes oder Zweifel förderndes Wort zu sagen. Er war uns allen hier nicht nur Freund und Lehrer, sondern ein Vorbild in der strengen Weisheit und der lauteren Güte seines Denkens, Handelns und Argumentierens.100
97 Die Redner waren Ephraim Elimelech Urbach, Joseph Ben-Schlomo, Isaiah Tishby, Rivka Schatz, Maleachi Beit-Arié und Nathan Rotenstreich; die Vorträge erschienen zunächst auf Hebräisch; eine erweiterte englische Ausgabe unternahm Paul Mendes-Flohr (Hg.), Gershom Scholem. 98 Ersten schriftlichen Ausdruck fand diese Tendenz in einem Heft, das Eliezer Schweid nicht lange nach Scholems Tod veröffentlichte: Schweid, Judaism and mysticism. Einen Höhepunkt erreichte sie 1987 nach dem Erscheinen des Buches von Moshe Idel, Kabbala New Perspectives, und den akademischen Reaktionen darauf: Zadoff, Al Joseph Weiss we-Gershom Schalom, 28–31. 99 Habermas, Begegnungen mit Gershom Scholem, 16. 100 Peter Wapnewski an Fania Scholem, 2. 3. 1982, im WIKO Archiv; auszugsweise ist dieser Brief auch bei Wapnewski, Mit dem anderen Auge, 394, veröffentlicht; vgl. auch Wapnewski an Habermas, 1. 3. 1982 (ebd.): „Und er fehlt uns, wie wir täglich bemerken, dank seiner praktischen Vernunft, seines listigen Witzes, seinem souveränen und gelegentlich ganz und gar ohne Rücksicht formulierten Urteil“.
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Bald nach Erhalt der traurigen Nachricht von Scholems Tod ging Wapnewski daran, eine Gedenkveranstaltung vorzubereiten, die zugleich den Abschluss des ersten Kollegjahrs bilden sollte. Diese fand am 2. Juli 1982 in Anwesenheit der Witwe statt; Redner waren Wapnewski, Ephraim Lahav als Vertreter der Hebräischen Universität in Europa, Heinz Maier-Leibnitz als Kanzler des Ordens pour le mérite und Klaus Schütz. Zwi Werblowsky war aus Israel gekommen und hielt eine Ansprache über Scholems wissenschaftliches Werk; im Namen der Mitglieder des Wissenschaftskollegs sprach Hartmut von Hentig.101 Anwesend waren ca. 150 Personen, unter ihnen der israelische Botschafter in Deutschland, zwei Nichten von Scholem, Edith Capon und Renée Goddard (die Töchter von Werner Scholem), Hellmut Becker, Siegfried Unseld und etliche weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.102 Aus allen auf Scholem gehaltenen Reden ging hervor, was für eine zentrale Figur er für seine Freunde und Bekannten in Deutschland gewesen war. Aber was hatte seine deutschen Kollegen an diesem 84-Jährigen so fasziniert? Worin bestand die Anziehungskraft, die ihm in ihren Augen eine so bedeutende Stellung verlieh, weit über die zwei Monate und zehn Tage hinaus, die er mit ihnen am Kolleg verbracht hatte – die krönende Abschlussphase der drei Jahrzehnte, in denen Scholem nach dem Krieg wieder in Deutschland tätig gewesen war? Um den hohen Stellenwert zu begreifen, der Scholem im Land seiner Jugend zukam und der seinen vollsten Ausdruck in den Gedenkreden fand, die seine Berliner Freunde und Kollegen auf ihn hielten, sind zwei miteinander verbundene Faktoren zu berücksichtigen: Wer war Scholem für die „deutsche Seite“, und wie stellte sich das im Zusammenhang mit seinem Auftreten, mit seiner Redeweise und seinem Umgang mit Freunden und Kollegen dar? Für seine Kollegen war Scholem in erster Linie ein deutscher Jude: „Scholem war ein Weltbürger, aber vor allem war er ein vollständiger und vollkommener Repräsentant seines Volkes, seiner Geistesart und seiner Tradition“, so MaierLeibnitz bei jener Gedenkstunde in Berlin.103 Wapnewski schilderte ihn nach Jahren mit ähnlichen Worten: „Er war der Repräsentant des Schicksals der deutschen Juden (nicht der jüdischen Deutschen)“.104 Von Hentig betrachtete Scholems Aufenthalt in Berlin als „die glückliche Möglichkeit der ‚Heimkehr‘ eines Exilierten“.105 Außerdem war Scholem das, was von Hentig einen „unver101 Ein Exemplar der Einladung sowie die handschriftliche Fassung der Reden befinden sich im WIKO Archiv. Von Hentig ließ eine gekürzte Version seiner Rede zum ersten Jahrestag von Scholems Tod in der FAZ erscheinen: von Hentig, Die Welt aus den Angeln zu heben. Auch Werblowskys Rede liegt gedruckt vor: Werblowsky, Gedenkrede auf Gershom Scholem. 102 Für die vollständige Liste der Anwesenden s. WIKO Archiv, Gedenkstunde für Scholem. 103 Maier-Leibnitz, Für Scholem Gedenkfeier (WIKO Archiv). 104 Wapnewski, Mit dem anderen Auge, 385. 105 Hartmut von Hentig an Noam Zadoff, 20. 6. 2008, Privatarchiv Zadoff.
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kennbaren Berliner“ nannte.106 Das beobachteten seine deutschen Kollegen an jedem Schritt, den er tat, vor allem an jedem Wort, das er sprach oder schrieb. Die Berliner Sprechweise, in der charakteristischen Ausprägung des Stadtteils, in dem er aufgewachsen war, begleitete ihn sein Leben lang, auch nachdem das Berlin seiner Kindheit nicht mehr existierte.107 Diesen Aspekt hob Klaus Schütz in seiner Gedenkrede hervor: „Gershom Scholem sprach und schrieb ein Deutsch, wie viele von uns es nicht einmal mehr gelernt haben. Seine Sprache war […] auf höchst nachdenkliche Weise unentstellt geblieben von der deutschen Sprachentwicklung der letzten fünfzig Jahre; ‚sie steht in der Nachbarschaft der großen deutschen Gelehrtenprosa des 19. Jahrhunderts‘“.108 Seine Sprechweise und sein Humor blieben im Gedächtnis haften und wurden häufig mit der Gedankenwelt von Berlin und Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht: „Seine Worte sind noch ‚rein‘, sind gewissermaßen unbefleckt“, schrieb Wapnewski.109 So nannte Scholem etwa die in der frisch renovierten Villa untergebrachten Mitglieder des Wissenschaftskollegs die „Trockenmieter“; dieser Ausdruck war im Berlin um die Jahrhundertwende üblich, um Leute zu bezeichnen, die für ein halbes Jahr billig in frischgestrichenen Wohnungen wohnten, bis deren Wände vollends getrocknet waren, so dass sie teurer vermietet werden konnten.110 Außerdem legte Scholem selbst großen Wert auf sein Berlinertum. Ein Beispiel dafür ist etwa in seinem Verhältnis zu Walter Pagel zu sehen, einem Pathologen und Medizinhistoriker, der 1933 nach London ausgewandert war. In einem Brief an seinen Schüler Joseph Weiss meint Scholem humorvoll, die besondere Beziehung zwischen ihm und Dr. Pagel bestehe in ihrer gemeinsamen Berliner Herkunft, weshalb sie sich mit knappen Andeutungen verständigen könnten.111 Ein weiteres Beispiel für Scholems tiefe Verwurzelung im Berlinerischen hat mir seine Nichte Renée Goddard erzählt. Während sie an einem Londoner Theater als Schauspielerin tätig war, wurde dort das Stück „I am a Camera“ aufgeführt, das im Berlin der dreißiger Jahre spielt. Goddard spielte eine junge Jüdin, Natalia Landauer, und um diese als Berlinerin zu kennzeichnen, sprach Goddard die Rolle auf der Bühne, indem sie das Englisch ihres Onkels imitierte. Der Zufall wollte es, dass Scholem eine dieser Aufführungen besuchte, und am Ende soll er auf Englisch mit starkem Berliner Akzent gesagt haben: „ju 106 Von Hentig, Mein Leben, 571. 107 In: Scholem, Walter Benjamin, 17f. charakterisiert er sein eigenes Berlinerisch als „kaltschnäuzig“ und „rauhbeinig“; vgl. auch in: Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 19. 108 Schütz, Gershom Scholem, 12 (WIKO Archiv); der Satz, den Schütz zitiert, stammt von Jörg Drews, Die Kabbalisten; s.a. Wapnewski, Mit dem anderen Auge, 391. 109 Ebd., 396. 110 Fritzsche, Als Berlin zur Weltstadt wurde, 274. 111 Scholem an Weiss, 1. 1. 1962 (Hebr.), in: Scholem/Weiss, Califat Michtawim, 291; vgl. Rebiger, Das Wesentliche. Zum Verhältnis zwischen Scholem und Pagel s.a. van Heertum, The Alchemical and Kabbalistic Correspondence.
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wer si onli wan ei anderstut“ („You were the only one I understood“).112 An das Deutsche und Berlinerische in Scholems Auftreten erinnert auch Walter Boehlich, ehemals Cheflektor bei Suhrkamp: Scholem, der wie gesagt nicht länger Deutscher sein wollte, hat dennoch nicht aufhören können und wollen, auf seine Weise sehr deutsch zu wirken. Wenn einer, dann war er ein typischer deutscher Professor – der guten Art, versteht sich –, ein Berliner auch noch in Jerusalem.113
Nicht zuletzt kommt ein dritter Aspekt ins Spiel, den seine deutschen Kollegen an Scholem wahrnahmen: Er war Israeli. In der Tat gehörte er zur Gründergeneration des Staates Israel und hatte das intellektuelle und akademische Gesicht des jungen Staates wesentlich geprägt. Scholem war mit führenden israelischen Persönlichkeiten gut bekannt und gehörte viele Jahre lang der geistigen Elite des Landes an. Für seine deutschen Kollegen war er das Bindeglied, das sie mit jenem jungen Staatswesen verband, zu dem sie nicht leicht Zugang fanden: „Er war für uns ein Schlüssel nach Israel“, erinnert sich Habermas noch nach Jahren, „Israel war für uns das allerschwierigste Land“.114 Die Begegnungen mit Scholem in Deutschland, gelegentlich in Israel, waren für seine deutschen Freunde und Kollegen ein unvergessliches Erlebnis. Der Alttestamentler Rolf Rendtorff, Mitbegründer der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, hat seine Begegnung mit Scholem 1963 in Israel als höchst bedeutsam in Erinnerung. Besonders eindrucksvoll war für ihn die Einladung zum Abendessen bei Scholems, das unter dem berühmten Bild Angelus novus von Paul Klee eingenommen wurde.115 Die Verbindung dieser drei Aspekte Scholems – der deutsch-jüdische, der deutsch-berlinerische und der israelische – stellten etwas ganz Besonderes in der intellektuellen Landschaft Deutschlands dar, und entsprechend findet auch Scholems Rezeption dort nicht ihresgleichen. Man darf wohl sagen, dass kein anderer israelischer Intellektueller oder Akademiker in Deutschland auch nur annähernd so positiv aufgenommen worden ist wie er.116 Die Tatsache, dass er aus Deutschland nach Israel ausgewandert war, dort an der Renaissance des jüdischen Volkes mitgewirkt, die Disziplin der Kabbala-Forschung begründet hatte und schließlich nach Deutschland zurückgekehrt war, verlieh ihm eine Autorität, die weit über den wissenschaftlichen Bereich hinausreichte. Wenn er in den sechziger Jahren das Institut für Sozialforschung besuchte, betrachteten ihn Männer wie Adorno, Horkheimer und sogar Marcuse, der in den USA lebte, mit 112 113 114 115 116
Mündliche Mitteilung von Renée Goddard, 10. 1. 2008. Boehlich, Ein Jude aus Deutschland, 464. Habermas, Interview; s.a. Habermas, Begegnungen mit Gershom Scholem, 9. Rendtorff, Kontinuität im Widerspruch, 79. Laut Habermas war Scholem der einzige bedeutende israelische Wissenschaftler, der in jenen Jahren in Deutschland präsent gewesen sei, s. Habermans, Interview.
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Abbildung 16. Mit Jürgen Habermas (links) und Siegfried Unseld (Mitte), anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises an Habermas, Frankfurt 1980
Respekt. Rolf Tiedemann berichtet in seinen Erinnerungen, Scholem sei am IfS eine unbestrittene Autorität gewesen, „ohne daß man so recht hätte sagen können: Autorität wofür“.117 Ähnlich wie Tiedemann erinnert sich auch Haber117 Tiedemann, Erinnerung an Scholem [1], 212.
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mas, damals einer der jüngeren Mitarbeiter am IfS, mit welcher Hochachtung Scholem von seinen gleichaltrigen Kollegen behandelt wurde; bei Begegnungen im Hause Unseld mit Adorno und Ernst Bloch sei eine „unsichtbare Hierarchie“ wahrzunehmen gewesen, die Scholem umgab und die sich der junge Habermas nicht erklären konnte.118 Noch zwei bis drei Jahrzehnte danach war Scholem bei seinen Kollegen im Wissenschaftskolleg zu Berlin hoch angesehen. Auch wenn wir den Ursprung dieser seiner Autorität nicht vollends ergründen können, lassen sich doch zwei Elemente aufzeigen, die ihr vermutlich zugrunde lagen. Das eine waren seine wissenschaftlichen Verdienste – er galt als eine Kapazität nicht nur auf seinem eigentlichen Forschungsgebiet, sondern auch in vielerlei anderen Bereichen: „Alles, was er sagte, kam aus einem großen Schatz von Wissen und Erfahrungen, aus einem breiten Verständnis der Welt und aus menschlicher Tiefe, aus Sensibilität und aus menschlicher Wärme“, sagte Maier-Leibnitz bei jener Gedenkstunde in Berlin.119 Das zweite Element, aus dem Scholems Autorität herrührte, war der Umstand, dass seine deutschen Kollegen in ihm einen der jüdischen intellektuellen Remigranten sahen, die Deutschland vor dem Krieg verlassen hatten und wieder zurückgekommen waren, manche auf Dauer (Adorno, Löwith, Plessner und andere) oder als regelmäßige Besucher (Marcuse). Jürgen Habermas, der mit fast allen dieser ausgewanderten und auf diesem oder jenem Weg nach Deutschland zurückgekehrten jüdischen Soziologen und Philosophen persönlich bekannt war, erkannte eine wichtige Funktion, die diese Männer für die jüngere Generation in Deutschland einnahmen: „They were the only ones, who could relate us, the younger people, back to our old tradition after the break“. Diese Generation sei in Hinblick auf geistige Autorität verwaist gewesen, denn ihre Väter und Lehrer seien mit dem moralischen Makel behaftet gewesen, der allen anhing, die sich dem nationalsozialistischen Regime angedient oder dessen Ideologie vertreten hätten; für diese jüngere Generation von Deutschen sei die Anwesenheit der aus dem Exil zurückgekehrten jüdischen Intellektuellen die „Erlösung eines Problems“ gewesen.120 Dank ihrer Herkunft seien jene tief in der deutschen kulturellen Überlieferung verwurzelt, und dank ihrer moralischen Integrität vermochten die Rückkehrer aus dem Exil das Vakuum zu füllen, das durch die Kompromittierung ihrer deutschen Lehrer entstanden sei. So seien sie zu einem würdigen Vorbild für die Generation von Deutschen geworden, die nach dem Krieg heranwuchs und sich ihrer selbst bewusst wurde. Habermas operiert hier mit theologischen Begriffen: „Sie kamen als eine moralische Autorität, die die Gnadenmittel besaßen, um eine schuldig-gewordene Generation zu entschuldi118 Habermas, Interview; s.a. Habermas, Begegnung mit Gershom Scholem, 9. 119 Maier-Leibnitz, Für Scholem-Gedenkfeier, WIKO Archiv, 3. 120 Habermas, Interview.
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gen“.121 Auch der Soziologe Wolf Lepenies, Rektor des Wissenschaftskollegs nach Wapnewski, sprach 1996, bei der Eröffnung eines Vortrags von Elie Wiesel über Ethik und Erinnerung, über die Funktion, die Scholem für das Kolleg auf längere Sicht gehabt habe: Mit der Zusage Gershom Scholems hat das Kolleg Fortüne gehabt; ob dieses unverhoffte Glück heute, nach mehr als 15 Jahren, bereits zu einem verdienten Glück geworden ist, müssen andere entscheiden. Fest steht, daß Gershom Scholems Zusage, als Fellow ans Wissenschaftskolleg zu kommen, daß seine Präsenz und seine Arbeit in Berlin der neuen Institution einen wissenschaftsmoralischen Kredit gaben, von dem sie zehren durfte und mit dem sie wuchern konnte. Wir haben mit Gershom Scholem Glück gehabt.122
Demnach war Scholems besondere Position gegen Ende seines Lebens in Deutschland durch ein einzigartiges Zusammentreffen biographischer Aspekte zustande gekommen. Daneben ist zu bemerken, dass Scholem auch als indirektes, oder doch zumindest potenzielles Opfer des nationalsozialistischen Regimes gesehen wurde: Sein Bruder Werner war im Konzentrationslager Buchenwald umgebracht worden,123 seine Familie hatte nach Australien fliehen müssen, und sein guter Freund Walter Benjamin – der mit ihm vielleicht am meisten gleichgesetzt wurde – hatte auf der Flucht vor den Nationalsozialisten Selbstmord begangen. Darauf wird in der Unseld zugeschriebenen Rede Bezug genommen: „Und wenn wir auf jeder Seite jüdische Intelligenz bewundern und über jüdischen Witz lächeln können, so vergessen wir auf jeder Seite doch nicht, daß Deutsche diesen Mann, der das geschrieben hat, ermordet hätten, wenn er in ihre Hände gefallen wäre“.124 Dazu kommt Scholems physische Präsenz in Deutschland. In den Jahren nach dem Krieg stellte er sich seinen Kollegen zur Verfügung. Dank dieser Nähe, bedingt natürlich auch durch seinen Charakter, sahen viele seiner Bekannten in ihm vor allem einen guten Freund: „Wir lernen in Gershom Scholem ein Genie der Freundschaft kennen“, schrieb Hellmut Becker in seinem Nachruf.125 Allerdings bestand neben der Nähe auch immer eine gewisse Fremdheit, bedingt durch den zweifachen Abstand, den sie ihm gegenüber empfanden. Auf der einen Seite war es der chronologische Abstand, schließlich gehörte Scholem einer 121 Vgl. Habermas, Interview. Ähnlich äußert sich Habermas auch in dem Bericht über Scholems Beerdigung in Jerusalem: „Die Freunde in Israel waren sich in dem Empfinden einig, daß mit Scholem eine Ära zu Ende gegangen ist. Für uns stirbt mit ihm eine Generation von Lehrern, in deren Person ein Stück unkorrumpierter eigener Vergangenheit gegenwärtig war“ (Habermas, Tod in Jerusalem S. 438). 122 Lepenies, Einleitung, 3 (Hervorhebung von mir, N.Z.). 123 Zum Leben von Werner Scholem und seiner Familie s. Mirjam Zadoff, Der rote Hiob. 124 [Unseld], Gershom Scholem zum Gedenken, 4. 125 Becker, Wenn ein Weiser stirbt, 65.
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deutschen Vergangenheit an, die es längst nicht mehr gab; der andere Abstand war ein geographischer, denn Scholem war als israelischer Bürger eine zentrale Figur im akademischen und wissenschaftlichen System des Staates Israel, d. h. sein Heimatort lag letzten Endes in der Levante. Diese Fremdheit hatte für Scholems deutsche Kollegen natürlich auch etwas Anziehendes, aber gleichzeitig errichtete sie eine Trennwand zwischen ihm und ihnen, wodurch er unerreichbar schien. In seinen Gedenkworten sagte Hartmut von Hentig, die Mitglieder des Wissenschaftskollegs im ersten Jahr dürften sich eigentlich nicht als Scholems „fellows“ bezeichnen, denn sein Verhältnis zu ihnen sei ein dialektisches gewesen, er war ihnen zugleich „ein väterlich-alter Freund und ein brüderlich-junger Meister“.126 Scholems äußeres Auftreten trug, wie erwähnt, wesentlich dazu bei, wie er in Deutschland wahrgenommen wurde. Von seiner Berliner Sprechweise und dem ganz in einer alten deutschen Begriffswelt verwurzelten Humor, den er im Umgang mit anderen an den Tag legte, war schon die Rede. Diese beiden äußeren Merkmale waren ein erheblicher Bestandteil von etwas nicht genau Definierbarem, was aus fast jeder Äußerung über ihn zu vernehmen ist, das sogenannte „Scholem-Erlebnis“. Ein ähnliches Paradox steckt auch in Scholems wissenschaftlicher Arbeit, die gekennzeichnet ist durch den Widerspruch zwischen dem Versuch, etwas wissenschaftlich erfassen und vermitteln zu wollen, was aus dem persönlichen Erleben hervorgeht, aber jenseits des Kommunizierbaren liegt; entsprechend schwierig ist es, eine Analyse seiner Persönlichkeit aufgrund von Zeugnissen, wie er „erlebt“ wurde, zu versuchen. Die verschiedenen Bemerkungen über ihn bringen unisono zum Ausdruck, dass die Wahrnehmung von Scholems Präsenz und der für ihn charakteristischen Sprech- und Verhaltensweise ein integraler Bestandteil der Bekanntschaft mit ihm war. Seine physische Anwesenheit hatte mit seinem Tod zwar aufgehört, aber in den Erinnerungen seiner Freunde spiegelte sie sich lebhaft wider. Die Schwierigkeit, seine Persönlichkeit erinnernd begreifen zu wollen, ohne ihn wieder erleben zu können, tritt in dem Nachruf von Walter Boehlich zutage. Er spricht zunächst von Scholems wissenschaftlichen Leistungen und von seiner Bedeutung für Deutschland, dann fährt er fort: „Vielleicht muß man ihn erlebt haben, wie er entzückt und genußvoll sagte: ‚Er weiß es nicht! Der Scholem wird’s erklären.‘ Und dann erklärte er.“127 Auch Jörg Drews schildert dies als einen zentralen Zug von Scholems Persönlichkeit: „Die Berliner sind ein resilienter Menschenschlag“, sagte er wenige Jahre vor seinem Tod in einem Interview mit Sabine Berghahn,128 unter Verwendung eines wohl im 126 Von Hentig, Die Welt aus den Angeln zu heben. 127 Boehlich, Ein Jude aus Deutschland, 464. 128 Scholem, Die Tribüne – Holocaust.
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Preußen seiner Jugend noch gängigen Adjektivs, und so „resilient“, so nicht vereinnahmbar und widersetzlich wußte er wohl auch sich selber, den Berliner, den der Klang seiner Sprache, sogar seines Hebräisch, bis zuletzt verriet. Dafür aber vereinnahmte er selbst durch seinen kautzig-trockenen Charme (den er ziemlich gezielt einsetzen konnte) und sein Temperament seine Zuhörer.129
Die Besonderheit des „Scholem-Erlebnisses“ galt wohl für sein deutsches Umfeld insgesamt, aber das wechselseitige Verhältnis zwischen ihm und seinen deutschen Gesprächspartner wandelte sich: Die Art und Weise, in der er von seinen Bekannten aus dem Institut für Sozialforschung und aus dem Suhrkamp-Verlag erlebt wurde – von Männern wie Unseld, Habermas, Becker, Boehlich und Tiedemann – war anders als das Verhältnis, das sich in seinen letzten Lebensmonaten zu den Fellows des Berliner Wissenschaftskollegs entwickelte. Die Verbindung der erstgenannten Gruppe mit Scholem hatte zumeist in den sechziger Jahren begonnen, hatte sich langsam aus einer sachlichen Zusammenarbeit heraus zu einer Art Freundschaft entwickelt, die für diese Freunde auch mit dem Besuch auf der „anderen Seite“ von Scholems Welt, nämlich in Israel, verbunden war. Demgegenüber hatte Scholems vergleichsweise oberflächliche Bekanntschaft mit den Fellows des Wissenschaftskollegs erst im letzten Jahr seines Lebens begonnen. In der neuen Phase von Scholems Rezeption in Deutschland wurde er für eine Generation von deutschen Wissenschaftlern zum Symbol einer ganzen Generation von Vertretern des deutsch-jüdischen Geisteslebens, und als Symbolfigur wurde er vom Wissenschaftskolleg für dessen Zwecke vereinnahmt. Diese Vereinnahmung war durchaus gegenseitig – das jeweils dahinterstehende Bedürfnis wird noch thematisiert werden. Jedenfalls ist die Verschiedenheit des Scholem-Verständnisses bei den beiden durch einige Jahrzehnte geschiedenen Gruppen unübersehbar. Zwei weitere Aspekte der Scholem-Rezeption in Deutschland sind bemerkenswert; der erste hebt – mit Blick auf Scholem als Wissenschaftler – auf ihre relativ geringe Verbreitung ab, der zweite lenkt den Blick auf Scholem als in Intellektuellenkreisen weithin bekannten Schriftsteller. Die Scholem-Rezeption in Deutschland erstreckte sich nie auf ein breites Publikum; die Anerkennung, derer er sich erfreuen konnte, nahm zwar mit den Jahren ständig zu, blieb aber stets auf gewisse, relativ kleine Kreise von Intellektuellen beschränkt. Scholems Schriften und das Wissen um deren Bedeutung reichte weder zu Scholems 129 Drews, Nachwort, 161. Weitere Niederschläge des „Scholem-Erlebnisses“ bei von Hentig, Die Welt aus den Angeln zu heben; ders, Mein Leben, 570–573. So wurde Scholem zum Gegenstand zahlreicher Anekdoten, die seine Freunde, Schüler und Bekannten in Deutschland wie in Israel gern erzählten. Den hier erwähnten hinzuzufügen wären vielleicht noch die bereits genannten Aufzeichnungen von Monika Plessner, Die Argonauten, und ein Bericht von Barbara Honigmann über einen Besuch des Ehepaars Scholem in Ostberlin während der Zeit am Wissenschaftskolleg: Honigmann, Doppeltes Grab.
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Lebzeiten noch nach seinem Tod über diese Kreise hinaus, sie waren und blieben etwas Exklusives. Daher ist Scholem in Deutschland nicht zu einer weithin bekannten Persönlichkeit oder gar einer Ikone wie Walter Benjamin und heutzutage vielleicht Habermas geworden. Der zweite wichtige Punkt ist der, dass Scholem der deutschen Leserschaft immer weniger als Wissenschaftler, dafür mehr und mehr als Schriftsteller entgegentrat. Diese Tendenz zeichnet sich an den Preisen, die ihm verliehen wurden, deutlich ab: So erhielt er 1974 den Literaturpreis der Bayerischen Akademie und wurde 1975 in die Berliner Akademie der Schönen Künste aufgenommen, und auch in der Reihe „Lebensgeschichte als Zeitgeschichte“ der ARD (1976) hatte man ihm zwei Schriftsteller vorangehen lassen. Aber Scholems Einordnung als Schriftsteller verlieh ihm gleichzeitig eine weiterreichende Funktion im deutschen Geistesleben, als wenn er als Forscher auf den akademischen Bereich beschränkt geblieben wäre. Von dieser seiner Funktion sprach Siegfried Unseld in seinem Nachruf: Scholem hat seine Schriften, insbesondere alle seine Hauptwerke, in deutscher Sprache geschrieben, in einer makellosen deutschen Prosa, die ihn neben all diesem gelehrten Reichtum zu einem der großen wissenschaftlichen Schriftsteller unserer Zeit machte und die ihm seinen dauernden Einfluß auf neue Generationen sichert.130
Scholem als Schriftsteller – der alle oben erwähnten Aspekte, die biographischen wie die wissenschaftlichen, in sich vereinigt – könnte auch für künftige Generationen relevant werden. So ist seine Funktion in Deutschland als eine Art Brücke von der vergangenen zur künftigen Generation zu sehen, wobei der Abgrund dazwischen, die disqualifizierte Zwischengeneration, übersprungen wird. Diese erzieherische Funktion äußerte sich weitgehend im Gebrauch einer deutschen Sprache, deren Verwendung nicht durch die Zeitläufte beeinträchtigt, sondern im ursprünglichen Kontext erhalten geblieben war; so hatte er den Jüngeren eine gewisse Kontinuität zu bieten, was zur Wahrung des Zusammenhalts zwischen den Generationen beitrug. Für Deutschland bot Scholem durch seine Konservierung der deutschen Sprachtradition über die Generationen hinweg der jüngeren Generation wertvolle Hilfestellung bei deren Versuch, die moralische und kulturelle Degeneration zu überwinden, von der die deutsche Kultur während der dreißiger und vierziger Jahre befallen gewesen war. So wurde Scholem überraschenderweise im Herbst seines Lebens zum Schriftsteller für eine Generation des Übergangs, die auf geistige und moralische Erneuerung bedacht war. Als Schriftsteller vermochte er zu dieser Erneuerung beizutragen und hielt sie durch seine bloße Existenz aufrecht. Ähnlich wie Scholem die Bedeutung des hebräischen Schriftstellers Schmuel Josef Agnon für die Generation des nationalen Wiederaufbaus in Israel beschreibt, spielte er selbst in Deutsch130 [Unseld], Zum Gedenken an Gershom Scholem.
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land ein Vierteljahrhundert später die Rolle des Schriftstellers, „der am Kreuzweg steht und nach beiden Richtungen schaut“.131 Allerdings wäre die Annahme verfehlt, dass diese Rolle Scholem einseitig zugeteilt worden wäre. Wie im Voranstehenden schon angedeutet, unternahm er im Lauf der Jahre nicht geringe Anstrengungen, um sich in dieser intellektuellen Welt eine Position aufzubauen. Seine häufigen Reisen, die von ihm veröffentlichten Bücher und Aufsätze, die erhaltenen Preise, die Vorträge und öffentlichen Gespräche über die Geschichte seines Lebens – dies alles zeugt davon, dass er einiges an Kraft zu investieren bereit war, um in Deutschland wahrgenommen zu werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass seine letzte hebräische Monographie 1957 erschienen war, als er sechzig war und noch weitere 24 Jahre intensiven wissenschaftlichen Schaffens vor sich hatte.132 In diesem Vierteljahrhundert veröffentlichte Scholem auf Deutsch eine Monographie über die Kabbala im Mittelalter,133 sechs Aufsatzsammlungen, deren Beiträge allesamt in deutscher Sprache verfasst sind,134 gab drei Bände mit Benjamin-Briefen heraus,135 zwei Neuauflagen seines Buches über Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen,136 das Interview mit Jörg Drews, das auch im Druck erschien, und seine beiden autobiographischen Schriften.137 Auf Englisch ließ Scholem in jenem Zeitraum eine Monographie über die frühe hebräische Mystik erscheinen,138 drei Aufsatzsammlungen und die beiden autobiographischen Schriften – alle aus dem Deutschen oder Hebräischen ins Englische übersetzt.139 Auf Hebräisch sind drei Aufsatzsammlungen erschienen140 sowie die Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem in erweiterter Form. Diese kurze Aufzählung, in der vereinzelte Aufsätze nicht enthalten sind, zeigt, dass die wachsende intellektuelle 131 Scholem, Judaica 2, 92. 132 Scholem, Schabtaj Zwi (hebr. 1957). Auf Deutsch: Sabbatai Zwi. Die in späteren Jahren erschienenen Publikationen sind nur Nachschriften seiner Vorlesungen. 133 Scholem, Ursprung und Anfänge der Kabbala; dieser Band ist noch nicht ins Hebräische übersetzt. Auch die Monographie über Ephraim Joseph Hirschfeld, die Scholem während seines Aufenthalts am Wissenschaftskolleg schreiben wollte, war auf Deutsch geplant. 134 Gemeint sind drei Bände mit Eranos-Vorlesungen und die drei Bände Judaica, die zu Scholems Lebzeiten erschienen. 135 Benjamin, Briefe (1966); ders. Berliner Chronik (1970); ders./Scholem, Briefwechsel (1980). 136 Erste deutsche Ausgabe 1957, danach 1967 und 1980 (als Suhrkamp Taschenbuch). 137 Scholem, Walter Benjamin (1975); ders., Von Berlin nach Jerusalem (1977); ders., … und alles ist Kabbala (1980). 138 Scholem, Jewish Gnosticism (1965). 139 The Messianic Idea in Judaism and Other Essays on Jewish Spirituality, New York 1971; Kabbalah, Jerusalem 1974; On Jews and Judaism in Crisis. Selected Essays, New York 1976. Die autobiographischen Schriften sind von Harry Zohn übersetzt: From Berlin to Jerusalem. Memories of my Youth, 1980 und Walter Benjamin. The Story of a Friendship, New York 1981. 140 Studien über Sabbatianismus: Mechkarim u-Mekorot le-Toldot ha-Schabtaut we-Gilgulea, Jerusalem 1974; Devarim be-Go; und ein Band mit Eranos-Vorlesungen in hebräischer Übersetzung: Pirkej Jesod be-Hawant ha-Kabbala u-Smalea, 1981.
Schlusswort
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Reputation, die Scholem in Deutschland zuteilwurde, aus einem wechselseitigen Bedürfnis von Autor und Publikum hervorgegangen sein dürfte. Auf der einen Seite Scholems Wunsch nach Anerkennung, der sich in seinem Bemühen äußerte, auf Deutsch in Deutschland zu veröffentlichen, auf der anderen Seite der Wunsch Einzelner und intellektueller Zirkel in Deutschland, Scholems Persönlichkeit und Schriften näher kennenzulernen. Der Zeitraum, den das Ehepaar Scholem am Wissenschaftskolleg in Berlin verbrachte, lässt sich als deutliche Manifestation der Rückkehr Scholems in die deutsche Welt und zum deutsch-jüdischen Narrativ nach dem Krieg betrachten. Aber wenn diese letzte Reise für Scholems Rückkehr in eine vertraute Welt steht, dann steht sie ebenso für seinen Auszug aus Jerusalem: Scholem gab seinen Versuch, den zionistischen Traum zu verwirklichen, auf, denn dieser hatte sich in langen Jahren als trügerisch erwiesen. In der hebräischen Ausgabe seiner Autobiographie spielt Scholem auf die unerfüllt gebliebenen Hoffnungen seiner Jugend an und bekennt, er habe nichts mehr erhofft von dem „als Deutschjudentum bekannte[n] Amalgam“, vielmehr habe er mit der Erneuerung des Judentums in Palästina gerechnet. Auf die berechtigte Frage, ob er daran nach inzwischen sechzig Jahren immer noch festhalte, wisse er „nach allem, was geschehen ist, keine Antwort; ich hege nur eine Erwartung, doch sagte schon der Weise: ‚Hingezogene Erwartung macht das Herz krank‘ (Spr 13,12)“.141 Vielleicht war es die Suche nach einem Heilmittel für sein „krankes Herz“, die ihn dazu bewog, noch im hohen Alter die Mühe eines Wechsels vom Zentrum seines Lebens, Jerusalem, nach Berlin auf sich zu nehmen. Die bescheiden möblierte Berliner Wohnung mit den leeren Regalen, der harte Berliner Winter und der Umstand, von wesentlich jüngeren Menschen umgeben zu sein, ließen einen sensiblen Betrachter wie Hartmut von Hentig die weniger strahlende Seite von Scholems Rückkehr in die Stadt seiner Kindheit und Jugend erkennen, wodurch diese Rückkehr etwas Trauriges erhielt: Wie sehr ihn und seine Frau alles an-ging, konnte ich aus der Wirkung schließen, die ein Bild der israelischen Malerin [Anna] Ticho142 auf sie hatte, das ich bei ihnen mit Hilfe meines Preßbohrers aufgehängt habe – ein Bild, das die karge Umgebung von Jerusalem zeigte und ihre Seele so üppig nährte. Nein, leicht haben sie es hier nicht gehabt!143
Und vielleicht lag in der mühsamen Existenz des Ehepaars Scholem in dem bescheidenen Domizil an der Peripherie, im geteilten und kalten Berlin, eine tiefe 141 Vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 173. 142 Die Jerusalemer Malerin Anna Ticho war die Frau des berühmten Augenarztes Dr. Abraham Ticho. Scholem war mit dem Ehepaar Ticho seit seiner Ankunft in Jerusalem befreundet (Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 218). Anna Ticho war 1980 gestorben, ein gutes Jahr, bevor die Scholems von Jerusalem nach Berlin zogen. 143 Von Hentig, Die Welt aus den Angeln zu heben.
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Sehnsucht nach der Zeit vor allen Anfängen und Umschwüngen ihres Lebens: Der Zeit, als Berlin noch das Zentrum war und Jerusalem eine karge Landschaft an der Peripherie, als der Traum noch ein Traum war.
Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“ In Berlin wurde Scholems Judenstaat gegründet. „Jerusalem“ fungiert zwar als Zielpunkt, aber lebendig in diesem Erinnerungsbuch ist Berlin und vielleicht noch andere europäische, ultra-europäische Städte, wo der junge Scholem gelebt hat, wie Bern oder München. Aber vor und über allem – immer wieder Berlin. Und wie von selbst ersteht aus diesem Buch ein verborgenes Ringen zwischen diesen beiden Städten, ein Kampf um Scholems Seele. Nicht bewusst: Mit seinen bewussten Sinnen hatte sich Scholem Jerusalem verschrieben, seit er in ganz jungen Jahren ein Anhänger des politischen Zionismus geworden war. Aber solange er von Jerusalem träumte, war es die Stadt, nach der man sich aus dem hohen Norden sehnt, ein Jerusalem-Traum in Berlin, anders als ein solcher in Jerusalem. […] Zuletzt – wirklich, zu allerletzt – hat Berlin den Sieg über Jerusalem davongetragen. Und man kann sich nur schwer des Gerüchts erwehren, wonach es dem greisen Scholem ein Bedürfnis gewesen sei, in Berlin zu sitzen und durch die Stadt seiner Jugend zu schlendern, die es nicht mehr gab; von dieser Stadt her und auf sie hin verbrachte Scholem die emotionell intensivsten Monate seines letzten Lebensjahrs – in jenem Berlin, dem er fünfzig Jahre zuvor auf Nimmerwiedersehen den Rücken gekehrt zu haben glaubte. Und das nur um festzustellen, dass die wahre Stadt seiner Träume – sein Jerusalem – dieses abgelehnte Berlin war. Auch das eine von Scholems Revolten, die schließlich gegen ihn revoltierte. Yoram Bronowski 19821
Im Zentrum dieses Buches steht Gershom Scholems Verhältnis zu Deutschland in den sechs Jahrzehnten nach seiner Einwanderung nach Palästina. Nach außen hin gab er sich in der Regel als Zionist, als einer, der sich von der deutschen Kultur abgewandt hatte. Aber nach dem Krieg zeichnete sich allmählich eine wachsende Nähe zu Deutschland ab, was gleichzeitig eine Distanzierung zu Israel bedeutete. An die Stelle der ambivalenten Beziehung zur deutschen Geisteswelt nach dem Zweiten Weltkrieg trat mit den Jahren der Wunsch, ein Teil eben dieser Welt zu werden. Das ergänzte sich mit dem Bedürfnis bei deutschen Intellektuellen, wieder eine Verbindung zur jüdischen Vergangenheit und zum jüdischen Erbe Deutschlands aus der Zeit vor dem Holocaust anzuknüpfen. Den Höhepunkt dieser Entwicklung in Scholems Leben bildete das Erscheinen seiner autobiographischen Schrift Von Berlin nach Jerusalem, von der diese Biographie ihren Ausgang genommen hat. Die erste Auflage von Scholems autobiographischem Buch erschien 1977 in Deutschland, kurz vor seinem 80. Geburtstag; eine erweiterte hebräische Ausgabe erschien fünf Jahre später in Israel, kurz nach seinem Tod 1982. Wichtig ist dieses Buch für das Verständnis von Scholems Leben natürlich dank der Fülle von Informationen, Eindrücken und Erlebnissen, die es über eine der fruchtbarsten Epochen jüdischen Schaffens bietet. Doch ungeachtet der vielen äußerlichen 1 Bronowski, Mi-Berlin le-Jeruschalajim.
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Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“
Details und der lebendigen Darstellung muss einem aufmerksamen Leser auffallen, dass es über Scholems innere Welt kaum etwas aussagt.2 Dieser Eindruck wird durch die Herausgabe von Scholems frühen Tagebüchern noch verstärkt, denn aus diesen geht ganz deutlich hervor, dass seine aus dem Abstand von vielen Jahren geschilderten Empfindungen durchaus nicht immer damit übereinstimmen, wie er die Ereignisse empfand, als sie für ihn aktuell waren. Das Gefühl, dass hinter der demonstrativen Öffentlichkeit seiner Autobiographie eine komplexere verborgene Seite steckt, die er nicht enthüllen wollte, lässt den Leser über die ganze faszinierende Erzählung hin nicht los. Dazu kommt die Besonderheit des autobiographischen Schreibens, auf die ich noch eingehen will, als ein Vorgang, der sich auf zwei Ebenen gleichzeitig abspielt. Bei alledem erfährt man aus diesem Buch auch etwas über den späteren Scholem – in erster Linie aus der Form, wie die Dinge dargestellt werden, und vor allem aus dem, was nicht ausdrücklich erwähnt, aber zwischen den Zeilen zu lesen ist. Von Berlin nach Jerusalem war für mich der Anlass, mich Scholem biographisch zu nähern. Offen geblieben sind zwei Kernfragen für das Verständnis von Scholems Leben zwischen den beiden Polen, zwischen denen sich dieses Buch bewegt: Warum ließ Scholem die Geschichte seines Lebens im Alter von 28 Jahren enden, sobald er im Land Israel angekommen war und dort Fuß gefasst hatte? Das war eine bewusste Entscheidung, und eine Fortsetzung war von vornherein nicht geplant.3 Und warum schrieb Scholem dieses Buch auf Deutsch und veröffentlichte es zuerst in Deutschland? Mit Erscheinen des Buches in Deutschland war Scholem bereits klar, dass nicht er die Fortsetzung schreiben würde. In einem Brief an die Leiterin der Bibliothek Germania Judaica in Köln, Jutta Bohnke-Kollwitz, deutet er an, weshalb: Dass mein Buch Ihnen Freude gemacht hat, ist ja sehr schön, aber ich glaube nicht, dass eine Fortsetzung kommt. Da wird es viel zu schwierig. Es ist ja viel leichter – freilich unter den besonderen Bedingungen des Andenkens an die ermordeten Juden keineswegs leicht – kritisch über die Verhältnisse der eigenen Jugend zu schreiben, als über die schwierigen Entwicklungen im Lande Israel in den letzten fünfzig Jahren. Es gibt da genug große Kapitel, die man allerletzt einem deutschen Leserkreis vorlegen möchte. Weitermachen werde ich schon, aber kaum in der in diesem Band eingeschlagenen Richtung.4
Demnach war es der Umstand, dass sich das klare, „runde“ und einem deutschen Publikum leicht präsentierbare Bild verändert hatte, nachdem Scholem ins Land Israel übersiedelt war, was ihn daran hinderte, Erinnerungen aus späteren Jahren 2 Dazu auch Dan, Gershom Scholem, 4f. 3 S.a. Campanini, A Case for Saint-Beuve, 369. 4 Gershom Scholem an Jutta Bohnke-Kollwitz, 27. 12. 1977, in: Briefe III, 166.
Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“
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seines Lebens weiter aufzuzeichnen. Diese Veränderungen, die in den beiden ersten Teilen dieses Buches ausführlich dargestellt sind, waren der Grund für seine Enttäuschung darüber, welchen Weg der Zionismus eingeschlagen hatte und wie er umgesetzt wurde. Diese Enttäuschung besteht in der Diskrepanz zwischen einer zionistischen Utopie – wie der junge Scholem sich Zion vorgestellt hatte – und der Realität, wie sie sich in den Jahren der Konkretisierung herauskristallisierte. Freilich ist in jedem Versuch, eine Utopie in die Realität umzusetzen, die Enttäuschung von vornherein mitangelegt, denn selbst die vollkommenste Realität kann nicht so vollkommen sein wie das Traumbild. Insofern war die Enttäuschung ein notwendiger Bestandteil des durch die zionistische Ideologie in Gang gesetzten Migrationsprozesses; eine solche Erfahrung machen viele Neueinwanderer bis zum heutigen Tage. Dazu kam Scholems kultur-politische Einstellung, die der des damaligen jüdischen Gemeinwesens im Land und der des nachmaligen Staates Israel zuwiderlief, was die Distanz zwischen ihnen vergrößerte. Nach den blutigen Unruhen von 1929 war Scholem klar geworden, dass die jüdische Führung in Palästina eine andere Art von Gesellschaft errichten würde als jene, die er sich vorgestellt und erhofft hatte. Und die akute Dringlichkeit, die durch die Judenverfolgungen und den Holocaust entstanden war, gab vollends den Ausschlag für einen territorial orientierten Zionismus,5 worauf weitere Krisenmomente folgten. Der Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 war eine weitere Wegmarke in dieser Richtung; Scholem plädierte energisch gegen die Annexion der besetzten Gebiete und führte eine polemische Attacke gegen die Vertreter der Siedler-Bewegung Gusch Emunim, die er an Gefährlichkeit mit Sabbatianern verglich.6 Doch im Unterschied zu seinen jüngeren Jahren zog sich Scholem nach dem Holocaust allmählich immer mehr in seine wissenschaftliche Forschung zurück und enthielt sich jeglicher politischen Tätigkeit oder auch nur öffentlichen Stellungnahme. Wie weit er sich von der Führungsspitze des Staates Israel entfernt hatte, geht aus einer von seiner Witwe Fania überlieferten Anekdote hervor, die ausgerechnet im deutschen Kontext spielt. Als in den siebziger Jahren der israelische Ministerpräsident Jizchak Rabin dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt einen Staatsbesuch abstattete, habe letzter einen guten Eindruck machen wollen, indem er ein paar Bücher von Scholem auf den Tisch legte und versuchte, darüber ein Gespräch zu führen; aber „Rabin hatte keine Ahnung, wovon er redete“.7 Rabin war der fünfte Ministerpräsident des Staates Israel; zu allen seinen Vorgängern hatte Scholem in dieser oder jener 5 Andeutungen in diese Richtung s. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 61f. 6 Scholem, The Threat of Messianism. Vgl. auch sein Schreiben an Geula Cohen vom 15. 12. 1961, in: Briefe II, 84f. 7 Fania Scholem, Ani katavti, hu chatam, 50.
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Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“
Form Kontakt gehabt, zu einer Beziehung zu Rabin kam es jedoch nicht.8 Dieser ehemalige General war nicht nur der erste israelische Regierungschef mit militärischer Vergangenheit, sondern auch der letzte aus der Arbeiterpartei. Bei den israelischen Parlamentswahlen 1977 – dem Jahr, in dem Scholems Autobiographie auf Deutsch erschien und er seinen 80. Geburtstag feierte – wurde Menachem Begin, der Parteichef des Likkud, zum Premierminister gewählt, und der Einfluss der Rechten nahm zu. Bei diesen Wahlen soll Scholem nicht für die Arbeiterpartei, der er bis dahin nahegestanden hatte, gestimmt haben, sondern für die Splitterpartei Raz unter Führung der Bürgerrechtlerin Shulamit Aloni.9 Rolf Tiedemann erinnert sich auch, wie er fünf Jahre zuvor, im Sommer 1972 in der Nacht, als die israelischen Teilnehmer während der Olympiade in München ermordet wurden, das Ehepaar Scholem in seinem Hotelzimmer in Frankfurt aufgesucht habe; dort, vor Radio und Fernsehgerät, wo laufend Berichte über das Geschehen gesendet wurden, habe ihm Scholem sein Herz ausgeschüttet: „Rückhaltloser habe ich Scholem nie über jenes Zion sprechen gehört, das für ihn längst kein Symbol mehr war“.10 Als Tiedemann Scholem im Frühjahr 1981 wieder in Deutschland traf, schwelte eine Krise zwischen Begin und Helmut Schmidt, ausgelöst durch Äußerungen des deutschen Bundeskanzlers in Saudi-Arabien.11 Scholem habe mit einiger Bitterkeit bemerkt, dass Begins Ausfälle gegen Deutschland und die Deutschen ihm wohl zu einem Wahlsieg und damit zu einer zweiten Amtsperiode verhelfen würden. Wo seine beiden Welten vor dem Hintergrund des NahostKonflikts kollidierten, stand Scholem den in Israel überwiegend vertretenen politischen Ansichten fern. In diesem Zusammenhang sei die Rede auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gekommen. „Ich fragte, wie 8 Die engste Beziehung hatte Scholem zu David Ben-Gurion gehabt, aber auch mit dessen Nachfolgern Mosche Scharet, Levi Eschkol und Golda Meir war er gelegentlich zusammengekommen, und sie kannten ihn. Zu Scholems Beziehung zu Ben-Gurion sowie zur Beteiligung von israelischen Akademikern an politischen Diskursen s. Begegnung des Ministerpräsidenten mit Intellektuellen (1961), in: Ohana (Hg.), Meschichiut u-Mamlachtiut, 151–201. Zu Besuchen von Ben-Gurion im Hause Scholem vgl. Fania Scholem, Ani katavti, hu chatam, 50. In Scholems Tagebuch von 1952 findet sich ein Hinweis auf eine Begegnung mit Mosche Scharet in Paris, wobei es um die Wiedergutmachungsabkommen ging: Scholem, Tagebücher 1952, GSA, 44. 9 Tiedemann, Erinnerung an Scholem [1], 215. Auch mit Aloni war Scholem persönlich bekannt, vgl. Aloni, Lo jechola acheret, 75f. 10 Tiedemann, ebd. 11 Bei seinem Staatsbesuch dort hatte Schmidt öffentlich betont, welche Verantwortung Deutschland infolge des Holocaust gegenüber verschiedenen Völkern habe; dabei hatte er das palästinische Volk erwähnt, aber nicht das jüdische. Begin, damals mitten im Wahlkampf um seine zweite Amtsperiode, hatte sehr heftig reagiert und sowohl Schmidt persönlich als auch das deutsche Volk pauschal des Nationalsozialismus bezichtigt. Zu dieser Episode in den Beziehungen zwischen Israel und Deutschland s. Zimmermann, Sichron ha-Milchama wehaSchoa, 98f; Segev, Die siebte Million, 630f; Wolffson, Ewige Schuld?, 41f.
Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“
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denn nach seiner Vorstellung eine Lösung des Palästinenserproblems aussehen könne; seine Antwort kam leise und sehr müde: Heute gibt es keine Lösung mehr“.12 Diese Resignation, der Scholem wenige Monate vor seiner Reise zum Wissenschaftskolleg zu Berlin Ausdruck verlieh, war charakteristisch für seine Einstellung zu Israel in seinen letzten Lebensjahren. So ist es bei Tiedemann belegt, und ähnlich erinnerte sich Fania Scholem im Rückblick: „In seinen letzten Jahren war er ziemlich resigniert, ich glaube, er ist resigniert gestorben. Er hat gesagt, jetzt bleibe uns nur Hoffnung“.13 Um von dieser Enttäuschung nicht berichten zu müssen, ließ Scholem also für den deutschen (und fünf Jahre danach auch für den hebräischen) Leser die Geschichte seines Lebens ein paar Jahre vor dem ersten blutigen Ausbruch des Konflikts 1929 enden. Aber damit ist die Frage, warum er darüber nicht schreiben wollte, nur zum Teil beantwortet. Und die zweite Frage, weshalb er sein Buch auf Deutsch schrieb und in Deutschland veröffentlichte, stellt sich aufs Neue. In Anbetracht des Verlaufs, den Scholems Rezeption in Deutschland nahm, darf man wohl vermuten, dass es das lebhafte Interesse an seiner Lebensgeschichte im Sinne der Neuentdeckung eines verlorenen Territoriums für die deutsche Kultur war, was ihn dazu ermunterte, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Und in der Tat sprach er bereits 1964, anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes seiner Judaica bei Suhrkamp, nicht nur über das Buch, sondern auch über den Autor und dessen Geschichte.14 Im Dezember 1967 und im Januar 1969 sendete der hessische Rundfunk zwei Folgen „Gershom Scholem erzählt aus seinem Leben“, wobei beim zweiten Mal auch die Kabbala-Forschung zur Sprache kam; und 1973 hielt Scholem in München den Vortrag, der dann zu einem Aufsatz über seine persönlichen Erinnerungen im Rahmen der Geschichte der Juden in Deutschland vor 1933 wurde.15 1975 erschien sein Erinnerungsbuch Walter Benjamin: die Geschichte einer Freundschaft, ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg. Scholems bloße Existenz rief den Deutschen eine verlorene und vergessene Epoche in Erinnerung; dadurch wurde die Geschichte seines Lebens für sie interessant und relevant, was wiederum den Boden für die Veröffentlichung seines autobiographischen Buches bereitete. Ein weiterer Aspekt dieser Frage hat nur mit Scholem zu tun. Hier hängt die Antwort mit der Funktion der deutschen Sprache gegenüber der hebräischen in seiner Welt zusammen; dieses zu verschiedenen Zeiten seines Lebens wechselnde Verhältnis zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Schaffen hin, wobei die Sprache jeweils die dahinter stehende Welt repräsentiert. Im Scholem-Archiv 12 Tiedemann, ebd. 216. 13 Fania Scholem, Ani katavti, hu chatam. S. auch Shapira, Ha-kijumi weha-histori, 15. 14 E. M. D., Unter dem David-Schild: Gershom Scholem sprach in Frankfurt über Judaica, in: FAZ vom 10. 9. 1964. 15 Scholem, Die Erforschung der Kabbala; ders., Zur Sozialpsychologie der Juden.
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Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“
findet sich ein Blatt in seiner Handschrift, wo er die Rolle skizziert, die jede dieser Sprachen in seinem Leben gespielt hat. Diese Niederschrift stammt aus den sechziger Jahren. Allem Anschein nach ist sie im Zuge der Vorbereitungen zu jenem Vortrag bei Suhrkamp in Frankfurt 1964 entstanden.16 Der Text lautet: Ich bin 1923 nach Palästina gegangen, von uns damals in Übersetzung des hebräischen Terminus Das Land Israel genannt. Bis 1930 blieb ich in Kontakt mit meiner Muttersprache. Ich habe 1933 den Kontakt zu ihr verloren und die Phase der deutschen Sprache, die mit Hitler einsetzte, nicht miterlebt oder durchgemacht. So bin ich, wenn ich hin und wieder Deutsch schreibe, ein altmodischer Autor, ich schreibe noch immer das Deutsch meiner Jugend und bin dann plötzlich betroffen, wenn sich herausstellt, dass Worte, Bilder und Assoziationen, die Sinn, Würde und Zusammenhalt hatten, tabu geworden sind und nicht mehr gebraucht werden können, weil sie in der Sprache des 3. Reichs zu Tode geritten worden sind, mindestens für diese Generation (wie das Wort Anliegen).17 Aber dasselbe Erlebnis, nur von der entgegengesetzten Richtung, habe ich im Hebräischen gehabt. Die Sprache, die wir in Israel entwickelten, ist nicht mehr die Sprache, die wir vor 50 Jahren aus den alten Büchern zu lernen unternahmen, als uns von dort ein merkwürdig verführerischer Glanz (ich möchte fast sagen: der Glanz der Offenbarung) entgegenkam. Was ist inzwischen geschehen? Worin besteht der Prozess der Wiedergeburt des Hebräischen? In der Wanderung der alten Sprache – die historisch mit dem größten Ballast von religiösen Assoziationen beladene Sprache der Welt – aus dem Buch in die Sprache lallender Kinder.18
In diesem Fragment schildert Scholem sein Verhältnis zu jeder seiner beiden Sprachen, Deutsch und Hebräisch, wobei eine Analogie besteht, wenn auch die Richtung eine gegenläufige ist. Das von Scholem verwendete Deutsch sei sozusagen erstarrt, es habe die Veränderungen der Sprache infolge des NS-Regimes nicht mitgemacht,19 wohingegen Scholem im Hebräischen die jüngsten Veränderungen der Sprache aktiv miterlebt hatte. Auf Deutsch gebe es Wörter, die in seiner Jugend üblich waren, nun aber nicht mehr verwendet werden könnten, weil ihre Bedeutung während der NS-Diktatur pervertiert worden sei; oder anders gesagt: solche Wörter seien in jenen Jahren destruktiv aufgeladen worden. Auf Hebräisch dagegen gebe es Wörter, die durch jahrtausendelangen Gebrauch eine religiöse Konnotation hatten, nun aber würden sie ihrer ursprünglichen religiösen Bedeutung beraubt und damit entschärft, was sie zum Medium scheinbar harmloser Alltagskommunikation im Munde kleiner Kinder werden lasse. 16 Der Inhalt dieser Rede Scholems ist nur durch die Besprechung in der FAZ vom 10. 9. 1964 dokumentiert. Ähnlich äußerte sich Scholem auch 1974 in seiner Rede bei der Verleihung des Literaturpreises der BADSK: Mein Weg zur Kabbala. 17 Über das Wort „Anliegen“ und seine Wandlungen s. bei Sternberger et al., Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, 13–17. 18 GSA, Ordner 277/1/74. 19 Vgl. dazu Momigliano, Gershom Scholem’s Autobiography, 256.
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Analog verhält sich Scholems Erschrecken bei der Wahrnehmung des jeweiligen Sprachwandels. Aber seine Einstellung zur Art der Veränderung ist jeweils eine andere: Auf Deutsch verleiht das Altmodische seiner Sprache eine Dimension der Unschuld, deren Bedeutung symbolisch war, da die Gefahr nicht mehr bestand. Auf Hebräisch dagegen zeigte ihm sein tiefgehendes Wissen der religiösen Bedeutung hebräischer Worte die Gefahren auf, die in den kulturellen und politischen Prozessen lagen, die Israel damals erlebte.20 Eine gegenläufige Parallele besteht bei Scholem nicht nur hinsichtlich seiner beiden Sprachen, sondern auch in Bezug auf drei andere Gegenüberstellungen: Deutsch versus Hebräisch, Deutschland versus Israel, Prä-Holocaust versus PostHolocaust, wobei die Verbindung der beiden Welten, ihr Gegenüber in seinem Leben, durch sein Buch Von Berlin nach Jerusalem veranschaulicht wird. Anders gesagt: Der Verlauf von Scholems Rückkehr nach Deutschland nach dem Holocaust entspricht der Geschichte, wie er den Verlauf seines Auszugs aus Deutschland in der Zeit vor dem Nationalsozialismus schildert; und die Geschichte der Abfassung seiner Autobiographie – die sich über Jahre hinzog – läuft parallel zur Geschichte seiner Rezeption in Deutschland. Wie Scholems Ablehnung eines jüdisch-deutschen Gesprächs vor dem Holocaust gleichzeitig den Ansatz zu einem solchen Dialog nach dem Krieg bildete, so lief die Erzählung, wie er Deutschland in den zwanziger Jahren verlassen habe, parallel zu seiner positiven Aufnahme dort in den sechziger und siebziger Jahren. Man könnte noch einen Schritt weiter gehen: Das Niederschreiben dieser Erinnerungen, die Begegnung mit dem jugendlichen Zionisten Scholem auf den Seiten dieses seines Buches, eröffnete ihm moralisch und im Verlauf des Schreibens die Möglichkeit zur Rückkehr ins Land seiner Kindheit. Die Erzählung, wie er aus dem Assimilationszirkel der deutschen Juden ausgebrochen und auf welchen Wegen er zum israelischen Bürger geworden war, ermöglichte ihm das persönliche Gespräch mit der deutschen Seite, das mit wachsender Enttäuschung über die israelische Realität zunehmend notwendiger wurde. So war es paradoxerweise sein an den deutschen Leser gerichteter Bericht über seinen Auszug aus der deutschen Kultur, um die hebräische Kultur wiederzubeleben, was den Boden für seine Rückkehr nach Deutschland bereitete. Interessant ist auch die Verortung der Erinnerung an den Holocaust – das zentrale Ereignis in Scholems Leben, daher auch der Mittelpunkt dieses Buches – zwischen den beiden Polen seines Lebens in dem Zeitraum, als seine autobiographische Schrift erschien. In Deutschland begann der Holocaust seit 1979 ins historische Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit zu dringen, ausgelöst in hohem Maße durch die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie Holo20 Vgl. Scholems Beitrag zu Rosenzweigs 40. Geburtstag im Dezember 1926: Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache; s.a. ders., Von Berlin nach Jerusalem, 90f.
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Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“
caust, in der anhand der Lebensgeschichte einer einzelnen jüdischen Familie der Holocaust einer jüngeren Generation von Deutschen anschaulich gemacht wurde, wodurch das Bewusstsein der Verantwortung für das Geschehene in der Öffentlichkeit wuchs.21 Demgegenüber markierte in Israel der Regierungsantritt von Menachem Begin 1977 den Beginn einer Phase, in der die Erinnerung an den Holocaust instrumentalisiert, d. h. von der politisch rechten israelischen Regierung für ihre politischen Zwecke eingesetzt wurde.22 Gegen Angriffe von außen, vor allem aus Kreisen der deutschen Linken, nahm Scholem Israel häufig in Schutz,23 dagegen machte er im engeren Bekanntenkreis seit 1977 kein Hehl aus seiner Abneigung gegen die in Israel überhandnehmende Stimmung und aus seiner Zuwendung zu Deutschland und Berlin, die sich zu jüdischen Erinnerungsorten entwickelten. Obwohl Scholem seinen politischen Standpunkt nicht explizit macht, korrespondieren die in Scholems Autobiographie berichteten Ereignisse seiner Jugend deutlich mit dem aktuellen Geschehen der Zeit, als diese Memoiren erschienen; und aus seinen Worten über das Vergangene ist auch Enttäuschung über die Gegenwart zu spüren.24 Das Schreiben einer Autobiographie vollzieht sich auf zwei parallelen chronologischen Ebenen, in der erzählten Vergangenheit und in der Gegenwart des Erzählers; verbunden sind die beiden Ebenen durch den Verfasser der Geschichte, der gleichzeitig deren Gegenstand ist. Der greise Schreiber und der jugendliche Held der Erzählung teilen sich die Seiten des Buches. Diese eigenartige Koexistenz der beiden Personen in den unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung führt zu ihrem paradoxen Zusammentreffen auf einer Bühne, die genau zu diesem Zweck erfunden wurde. Lösbar wird das durch diese Begegnung geschaffene Paradox nur durch eine janusköpfige Erzählung, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheidet, ihnen jedoch Präsenz auf derselben Bühne ermöglicht.25 Bei einem solchen Zusammentreffen wird häufig versucht, beim Schreiber einen Konflikt beizulegen oder eine Kluft zu überbrücken – Diskrepanzen, die von Veränderungen herrühren, die sich seit der erzählten Zeit vollzogen haben.26 Der Plan des jungen Scholems, ein Zentrum jüdischen Lebens zur Peripherie zu machen und durch ein anderes, erst aufzubauendes Zentrum zu ersetzen, erwies sich als nicht durchführbar, und die zurückgelassene Heimatstadt ließ ihn gleichfalls nicht los. Was die beiden Welten des Verfassers der Autobiographie – die vergangene und die gegenwärtige – voneinander trennt, 21 Dazu Zimmermann, Sichron ha-Milchama weha-Schoa, 97. 22 Ebd.; Segev, Die siebte Million, 625–632. 23 So sprach er etwa in dem Fernsehinterview mit Jörg Drews 1976 den Juden mehr Recht auf das Land Israel zu als den Palästinensern (Scholem, … und alles ist Kabbala, 26–34). 24 S. z. B.: Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 173. 25 Vgl. Moseley, Being for Myself Alone, 10f. 26 Vgl. Mosès, Gershom Scholems Autobiographie, 4.
Nachwort: „Von Berlin nach Jerusalem“
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sind nicht nur ein erheblicher geographischer, kultureller und politischer Abstand, sondern auch die in der vorliegenden Arbeit entfalteten historischen Ereignisse, mit denen Gershom Scholem und das jüdische Volk konfrontiert waren. Vielleicht bestand für ihn der einzige Weg zur Beilegung des aus diesen Widersprüchen resultierenden Konflikts, der die Welt des Schreibers zu zerstören drohte, in einem dialektischen Hin und Her zwischen den beiden entgegengesetzten Polen – gleichzeitig Gershom und Gerhard zu heißen, Schalom und Scholem, ständig Bühne und Aufmachung zu wechseln: ein „metaphysischer Clown“ zu werden.
Abbildungen
Umschlag Gershom Scholem, im Hintergrund das Gemälde The Jester (1940–1949. Pastell, 60 × 40 cm) von Scholems Freundin, der Malerin Trude Krolik. Die Hand, die das Gemälde hält, gehört zu Fania Scholem. Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem GSA. Abb. 1 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 16. Abb. 2 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 45, Jerusalem. Foto: Alfred Bernheim. Abb. 3 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 193, 16. Abb. 4 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 56. Abb. 5 Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem, FA2 73/18. Foto: Isaac Bencowitz. Abb. 6 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 58. Abb. 7 Bundesarchiv, Bilddatenbank, 183-R77870. Abb. 8 Archiv der Stiftung Eranos. Foto: Margarethe Fellerer. Abb. 9 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 184. Foto: Felix Thom. Abb. 10 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 184. Abb. 11 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 136. Abb. 12 Stadtarchiv Pforzheim, Institut für Stadtgeschichte S1 17–1–1969–2 g. Foto: Eva Pischop. Abb. 13 Die israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 139. Foto: Hans Piper. Abb. 14 Archiv des Orden Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste. Foto: axentis.de/Georg Lopata. Abb. 15 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 167. Abb. 16 Israelische Nationalbibliothek, Jerusalem, GSA, 10, 161.
Quellen und Literatur
Archive Handschriften und Archive Abteilung an der National Library Israel, Jerusalem (NLI): – Reschimat Kitwe ha-Jad me-„Ozrot ha-Gola“, 22. 6. 1947
Shmuel Sambursky Archiv 4°1665 – Akte 95
Gershom Scholem Archiv (GSA) 4°1599
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Archive
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– Interview with Herbert Friedman, 12. 6. 1992, RG-50.030*0074: http://collections. ushmm.org/artifact/image/h00/00/h0000245.pdf – Offenbach Archival Depot: an Antithesis to Nazi Plunder, an online exhibition of the U.S. Holocaust Memorial Museum, 3. 8. 2010: http://www.ushmm.org/museum/exhibit/ online/oad/
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Privatarchiv Noam Zadoff:
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Namensregister
Abramowitz, Mayer 217–219, 220, 228 Achad Haam 31, 43, 52, 71–72, 76, 79 f., 89, 97, 142, 152 Adorno, Gretel 324 f., 330 Adorno, Theodor 278, 318, 323–325, 328– 338, 348, 353, 369, 371 Agnon, Schmuel Josef 27–31, 33–35, 37– 39, 46 f., 49, 58, 61, 116, 375 Allony, Nehemia 206, 213 Aloni, Shulamit 382 Altmann, Alexander 263 Améry, Jean 348 Arendt, Hannah 162, 199, 201, 233, 235, 246, 265, 291–308, 312, 319, 334 Assaf, Simcha 24, 164 Avni, Haim 204 f., 208 Awerbuch, Marianne 361 Baeck, Leo 182, 259, 279, 311 Baer, Yitzhak Fritz 122–124 Baron, Salo 162, 175, 227, 231, 234 f., 265, 313 Bartal, Israel 44 Becker, Hellmut 322, 351–352, 358, 363 f., 367, 372, 374 Begin, Menachem 382, 386 Ben-Dor, Immanuel 246 Ben-Gurion, David 91, 342, 382 Bencowitz, Isaac 191–193, 195, 197, 222, 224, 242 Benjamin, Dora 181 Benjamin, Walter 29, 33, 48, 67, 90, 104 f., 150, 155, 233, 244, 252, 289, 294, 300.,
323, 325, 328–340, 346, 348 f., 352 f., 358, 365, 372, 375 f. Bentwich, Norman 162, 166, 172 f. Benz, Ernst 318 Bergmann, Shmuel Hugo 23 f., 57, 68–70, 73, 112, 122, 135, 149, 166, 182 f., 233, 241, 247 Berlin, Isaiah 303 Bernstein, Philip 178, 224–227 Beit-Arié, Malachi and Dalia 67, 355, 362, 366 Bettelheim, Bruno 303 Bialik, Chaim Nachman 27, 30–35, 37–39, 43–45, 47, 58, 79, 116–118, 153, 342 Birnbaum, Emanuel 322 Bloch, Ernst 371 Blücher, Heinrich 294 Blumenfeld, Kurt 16, 56 f., 265, 302, 304 Boehlich, Walter 348, 369, 373 f. Bohnke-Kollwitz, Jütte 380 Brauer, Erich 49 Brecht, Bertolt 324, 333 Brody, Daniel 261, 265 f., 271 f., 318, 324, 326 f. Bronowski, Yoram 361 Broszat, Martin 321 f., 328, 346 Buber, Martin 27 f., 30, 32, 34 f., 48–51, 55, 57–60, 64, 72–74, 86, 94, 109 f., 112, 116 f., 122–124, 126, 135 f., 140, 163, 198–200, 234, 253, 309, 315 f., 327, 350 Burchardt, Escha 23–25, 29 f Cain, Seymour 284 f. Canetti, Elias 354
414 Capon, Edith 367 Carstens, Karl 355 Clay, Lucius 224 f., 227, 229 Conze, Werner 319 Corbin, Henri 257, 262, 266–267, 268–273, 282 Corbin, Stella 270 Dan, Joseph 67, 95, 269 f., 273, 286 Dawidowicz, Lucy 191, 226, 230, 241, 243 Dinur, Ben-Zion 46, 135–141, 157, 239, 244 Drews, Joerg 337, 339, 346, 349 f., 368, 373 f., 376, 386 Dror, Yehezkel 360 Eichmann, Adolf 160, 291–308 Elbogen, Ismar 52 Eliade, Mircea 256 f., 261–263, 267, 269, 273, 275, 279–285 Elkana, Yehuda 366 Eppelsheimer, Hanns Wilhelm 205 f., 211–214, 222, 325 Fekete, Michael 165, 169, 171, 234 Finkelstein, Louis 224 Fischer, Samuel 324 Frankel, Naomi 365 Friedländer, Shaul 360 Friedman, Herbert 223–228, 235 Friedrich-Wilhelm IV 354 Fröbe-Kapteyn, Olga 253–264, 265–266, 269, 280, 326 Gadamer, Hans Georg 342, 344, 354 George, Stefan 105–108, 309, 313 Ghandi, Mahatma 122 Glatzer, Nahum 58, 109 f. Goddard, Rene 331, 367–369 Goitein, Shlomo Dov 23 Goldmann, Nahum 51, 266, 313 Gombrich, Ernst 354 Grumach, Ernst 216 f. Guttmann, Julius 122–124, 219, 234 Habermas, Jürgen 333, 337, 346, 351–353, 364–366, 369, 370, 371 f., 374 f.
Namensregister
Hamm, Peter 333, 348 Hareuveni, Ephraim 109 Held, Hans Ludwig 29, 207, 210–212 Heller, Aaron 15 Hentig, Hartmut von 363, 364, 367 f., 373 f., 377 Herzl, Theodor 56, 71, 77 f., 142, 297 Hesse, Hermann 253, 324 Heymann, Harry 15 Hirschfeld, Ephraim Joseph 360, 376 Hofmann, Ida 252 Holthusen, Hans Egon 347 f. Horkheimer, Max 278, 318, 323, 333, 369 Humboldt, Alexander von 354 Hurwitz, Siegemund 180–182, 258 f., 279 Huss, Boaz 120 f. Idel, Moshe 245, 273–275, 344, 366 Illich, Ivan 360, 363 f. Israeli, Ben-Zion 136 Jabotinsky, Zeev 35, 80–84, 91 Jaffé, Aniela 259 f. Jaspers, Karl 198–201, 222, 295, 304, 307, 314 Jonas, Hans 99–101, 103 f., 108 f., 111– 113, 115, 201, 272 Jung, Carl Gustav 72, 74, 78, 181 f., 254 f., 258–264, 267, 274–279, 281, 285 Kahler, Erich von 106, 266 f. Kaléko, Mascha 348 Kenan, Irit 203, 237 Kemp, Friedhelm 322, 345 f. Kerényi, Karl 261, 263, 264–266, 278 Kerényi, Magda 265 Kirsch, James 278 Klatzkin, Jacob 31, 35, 51–55 Klausner, Joseph 35, 78–80, 118, 135 Klüger (Aliav), Ruth 173, 180 Knoll, Max 261, 266 Kollwitz, Kathe 354 Kraft, Werner 25 f., 78, 105, 107, 118 Kraus, Karl 346 Krauss, Werner 199
415
Namensregister
Kurzweil, Baruch 335 f.
115, 124, 147, 275 f.,
Lacis, Asja 333 Lahav, Ephraim 367 Landauer, Georg 69 Landauer, Gustav 70, 125, 309 Langer, Jirzi (Mordechai Georg) 184, 319 Laqueur, Walter 99 Lavi, Theodore 280, 282 f. Lepenies, Wolf 372 Lewy, Hans (Yohanan) 99, 102 f., 111 f., 244 Lichtheim, George 99–101, 112 f. Lieberman, Shaul 217 Liebermann, Max 354 Liebes, Yehuda 100, 351 Loewenthal, Erich 199 Löwith, Karl 260, 266 f., 318, 371 Magnes, Juda Leib 94, 122–124, 126, 135, 163–164, 171, 173 f., 177, 179, 189 f., 196–197, 201–202, 205, 222, 229–301, 390 Maier-Leibnitz, Heinz 354, 367, 371 Mann, Golo 313, 354 Marcuse, Herbert 369, 371 März, Paul 184 Masar, Benjamin 246 McGuire, William 255, 260 Mendes-Flohr, Paul 50, 122, 124, 126 Michael, Jerome 162 Miller, David 270–273 Morag, Shlomo 36 Mosse, George 70, 321 Mühsam, Erich 251, 253 Muneles, Otto 184 f. Navon, Yitzhak 364 Neumann, Erich 261 f. Niewöhner, Friedrich 34, 361 Nordau, Max 138, 142 Oedenkoven, Henri Otto, Rudolf 254
252
Pagel, Walter 368 Passmann, Charles 226 Peiss, Reuben 162, 220 f. Pflaum, Heinz (Peri, Chiram) 180 Pinson, Kopel 164, 173–175, 178, 189, 192– 196, 222, 224 Plessner, Helmuth 323, 371 Plessner, Monika 324, 374 Podszus, Friedrich 325 Polotsky, Jakob Hans 99, 101, 111 Pomrenze, Seymour 161, 178, 191 Portmann, Adolf 255 f., 260–262, 266, 268 f., 326 f. Quispel, Gill
261, 265, 267
Rabin, Yitzhak 381 f. Radin, Paul 261 Radler-Feldmann, Yehoshua (Rabbi Binyamin) 68 Ravidowicz, Simon 31 Reinhold (Rinot), Hanoch 149 Reuchlin, Johannes 342, 344, 346, 354 Reuter, Ernst 357 f. Rosenzweig, Franz 30, 35–37, 58, 62, 81, 198, 200, 246, 309 Rotenstreich, Nathan 149, 157, 308, 351, 364 Roth, Cecil 161 f., 173, 241 Rudolph, Kurt 284 Ruppin, Arthur 69 f., 85, 143 Sambursky, Shmuel 70, 99–101, 107, 109 f., 112–114 Schabert, Tilo 254 Schäfer, Peter 344 Scharet, Moshe 266, 382 Schärf, Rivka 181 f. Scharnagl, Karl 207 Schealtiel, David 246 Schlösser, Manfred 183, 188, 308–313, 321 Schmidt, Helmut 381 f. Schneider, Lambert 58 f., 63, 198–201, 222 Schocken, Salman 49, 55–65, 110 f., 120 f., 198 f., 213, 222 f., 265, 272, 275, 323 Scholem, Arthur 15, 28
416 Scholem, Betty 15, 55, 93, 102, 180, 244 Scholem, Edith, siehe: Capon Edith Scholem, Emmy 172, 245 Scholem, Escha, siehe: Burchardt, Escha Scholem, Fania 24, 66, 103 f., 158, 222 f., 236, 247, 302, 355, 359, 365 f., 381–383 Scholem, Reinhold 64, 105, 348, 350, 362 Scholem, Renatte, siehe: Goddard, Rene Scholem, Werner 172, 244 f., 246, 367, 372 Schütz, Klaus 351, 360, 367 f. Schwartz, Joseph 171, 177, 232 Schwarz, Leo 209 Schweid, Eliezer 366 Sebastian, Andre 283 Sebastian, Mihail (Hechter, Josef) 281, 283, 285 Senator, David Werner 165, 169 f., 174 f., 179, 225, 227, 232, 234, 235 Shapira, Anita 82, 88, 152 Shapira, Avraham 41, 79, 149, 157 Simchoni, Jacob Naftali 53 Simmel, Georg 309, 313 Simon, Ernst Akiva 62, 70, 122–124, 126, 198–201 Spanier, Julius 209 f. Sperber, Mannes 349 Spiegel, Shalom 154 Spinoza, Baruch 353 Spitzer, Moshe 58–63, 65, 198 f. Starr, Joshua 162, 235 Steiner, George 278 Steinschneider, Moritz 145, 211 Stern, Fritz 360 Sternberger, Dolf 199, 222, 384 Strauss, Hedi 16 Strauß, Max 28, 29
Namensregister
Suhrkamp, Peter 324–326 Susman, Margarete 181, 308–314, 319–322 Talmon, Jacob 107, 114 Ticho, Anna and Abraham 377 Tiedemann, Rolf 331, 370, 374, 382 f. Tishby, Isaiah 64, 366 Tobisch, Lotte 330 f. Torberg, Friedrich 349 Unseld, Siegfried 320–322, 325–328, 330 f., 338, 345, 346–347, 351 f., 364 f., 367, 370, 371 f., 374 f. Urbach, Ephraim Elimelech 46, 364, 366 Wapnewski, Peter 357 f., 360, 366–368 Wasserstrom, Steven 269 Weber, Alfred 199, 249 Weil, Gotthold 164, 166 Weiss, Joseph 64, 268 Weitzman, Chaim 91, 163, 223 f. Weizsäcker, Viktor 198–200, 222 Weltsch, Robert 69 f., 73, 86, 93 f., 150, 164 f., 190 Werblowsky, Zvi 284, 345, 351, 367 Wiesel, Elie 372 Wirszubsky,Chaim 64 Wise, Stephen 196 f. Wittig, Joeph 200 Yaari, Avraham 168–170, 172–175, 177 f., 182 Yatziv, Yitzhak 136 Zuckerkandl, Viktor Zunz, Leopold 145
262