Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen. Teil 5 Für das sechste und siebente Schuljahr: Im Anschluß an die elfte Auflage des Lesebuches für höhere Mädchenschulen [Reprint 2020 ed.] 9783111627922, 9783111249674


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German Pages 561 [564] Year 1911

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Table of contents :
Vorwort
Erste Abteilung: Gedichte
Zweite Abteilung: Prosa
148 - 213
214 - 261
Erläuterungen
Lebensabriß der Verfasser und Nachweis der Quellen
Inhalt I
Inhalt II
Anfangsworte der Gedichte
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Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen. Teil 5 Für das sechste und siebente Schuljahr: Im Anschluß an die elfte Auflage des Lesebuches für höhere Mädchenschulen [Reprint 2020 ed.]
 9783111627922, 9783111249674

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Deutsches Lesebuch von

Karl Hessel.

Ausgabe für Mädchenschulen mit neunjährigem Lehrgang. Anter Mitwirkung von

Christian Afer. Fünfter Teil. Für da- sechste und siebente Schuljahr. Im Anschluß an die elfte Auflage de- Lesebuche- für höhere Mädchenschulen.

Bonn 1911.

A. MarcuS und E. Weber- Verlag.

Vorwort. Der vorliegende 5. Teil ist für das 6. und 7. Schul­ jahr bestimmt (4. und 3. Klasse der Mädchenmittelschule). Man findet darin im wesentlichen die Stoffe des 5. und 6. Teils des Hesselschen Lesebuches für höhere Mädchen­ schulen. Um der Handlichkeit des Bandes willen bliebvieles für unsern Zweck Entbehrliche fort, einiges wieder haben wir, den Mittelschul-Bestimmungcn entsprechend, neu ausgenommen. Unsere Hauptsorge war, die Stoffe aus Geschichte, Erdkunde und Naturkunde genau den Lehrplänen für Mittelschulen gemäß auszuwählen. Die Vereinigung zweier Jahrgänge in einem Band macht es möglich, daß auch diejenigen Mädchenschulen mit neunjährigem Lehrgang,, die sich enger an den Lehrplan für höhere Mädchenschulen änschließen, für jede der beiden Klassen geeignete Stoffe finden; die Verteilung der Lcsestücke auf die beiden Jahr­ gänge ist dann Sache des besonderen Lehrplanes der einzel­ nen Schulen. Gegen die Vereinigung des Lesestoffes zweier Klassen in einen Band hat man wohl das Bedenken geäußert, bteKinder läsen für sich viele Stoffe vorweg. Aber genau dasselbe geschieht auch, wenn ein Buch nur für ein Jahr in den Händen der Kinder bleibt. Zudem, ist das denn ein Unglück? Nach unserer Ansicht ist es vielmehr ein besonderer Vorzug eines Lesebuches, wenn die Kinder aus eigenem Antrieb darin lesen. Die Schule soll doch das Kind zum selbständigen Lesen führen. Laßt sie doch, wenn sie wollen, ein und dasselbe Stück recht oft lesen, laßt sie möglichst viele Gedichte sür sich auswendig lernen, dann

IV

Borwort.

wirken diese Sachen um so dauernder auf ihr Sprachge­ fühl und ihre Sprachfertigkeit. Das Lesestück braucht in­ haltlich nicht notwendig Neues zu bieten, wenn es in der deutschen Stunde durchgenommen wird, denn nicht das Stoffliche als solches macht den Wert eines Kunstwerkes, sondern lediglich die Form, in die dieser Stoff gegossen ist. Auch in diesem Teil Haien wir, um auf die Wichtig­ keit der Sprechtakte aufmerksam zu machen, zwei Stücke mit Bezeichnung dieser Sprechtakte absetzen lassen, und zwar Nr. 153: Bäßler, Der Sängerkrieg auf der Wart­ burg und Nr. 170: Goethe, Müßiggänger in Neapel. (Näheres in meinem Artikel „Vortrag, mündlicher, und seine Pflege im Schulunterricht", in Reins Encyklopädi­ schem Handbuch der Pädagogik, in Sonderabdruck durch den Verlag dieses Lesebuches zu beziehen. K. H.)

Koblenz, Elberfeld, im April 1911. Dr. Karl Hessel,

Direktor der Hildaschule. Christian Ufer, Rektor der südstädtischen Mädchenmittelschule.

Erste Abteilung:

Gedichte. Ernst Moritz Arndt. 1. Deutscher Trost. 1. Deutsches Her-, verzage nicht. Tu, was dein Gewissen spricht. Dieser Strahl des Himmelslichts: Tue recht und fürchte nichts!

2. Baue nicht auf bunten Schein! Lug und Trug ist dir -u fein. Schlecht gerät dir List und Kunst, Feinheit wird dir eitel Dunst. 3. Doch die Treue ehrenfest Und die Liebe, die nicht läßt, Einfalt, Demut, Redlichkeit Stehn dir wohl, du Sohn vom Teut.

4. Wohl steht dir das grade Wort, Wohl der Speer, der grade bohrt, Wohl das Schwert, das offen ficht

Und von vorn die Brust durchsticht. 6. Deutsche Freiheit, deutscher Gott, Deutscher Glaube ohne Spott, Deutsches Herz und deutscher Stahl Sind vier Helden allzumal. 6. Diese stehn wie Felsenburg, Diese fechten alles durch, Hisstl und Ufer, Lesebuch 6.

M. 1

2

Lrndt.

Diese halten tapfer aus In Gefahr und Todesbraus.

7. Drum, o Herz, verzage nicht. Tu, was dein Gewissen spricht: Redlich folge seiner Spur! Redlich hält es seinen Schwur.

2. Was ist de- Deutsche« Vaterland? 1. Was ist des Deutschen Vaterland? Jst's Preußenland? ist's Schwabenland? Jst's, wo am Rhein die Rebe blüht? Jst's, wo am Belt die Möwe zieht? „O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein."

2. Was ist des Deutschen Vaterland? Jst'S Baierland? ist's Steierland? Jst's, wo des Marsen Rind sich streckt? Jst's, wo der Märker Eisen reckt? „O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein."

3. Was ist des Deutschen Vaterland? Jst's Pvmmerland? Westsalenland? Jst's, wo der Sand der Dünen weht? Jst's, wo die Donau brausend geht? „O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein."

4. Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne mir das große Landl Jst's Land der Schweizer? ist's Tirol? „Das Land und Volk gefiel mir wohl; Doch nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein." 5. WaS ist des Deutschen Vaterland? So nenne mir da- große Land!

Arndt.

Gewiß, es ist das Österreich, An Ehren und an Siegen reich? „O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein."

6. Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne endlich mir das Land! „So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt. Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne dein!

7. Das ist des Deutschen Vaterland, Wo Eide schwört der Druck der Hand, Wo Treue hell vom Auge blitzt Und Liebe warm im Herzen sitzt — Tas soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne dein!

6. Das ganze Deutschland soll es sein! O Gott vom Himmel, sieh darein Und gib uns rechten deutschen Mut, Daß wir es lieben treu und gut! Das soll es sein! Tas ganze Deutschland soll es sein!"

3. DeS Schissers Traum. 1. Es heult der Sturm, die Woge schäumt, Und durch die Wolken fahren Blitze; Der alte Schiffer nickt und träumt Gar ruhig auf dem nassen Sitze: Wie wild um ihn die Woge schlägt. Wie auf und ab das Schifflein schaukelt. Ein Traum, der süße Bilder trägt. Umspielt sein Haupt und scherzt und gaukelt.

2. Ein EUand hebt er hell und schön Mit reichen Fluren aus den Wogen,

3

4

Arndt.

Baumbach.

Ein wundervolles Lenzgetön, Aus Blütenhainen kommt's geflogen — Der Alte ruft: „Hier legt ans Land! Hier in die Bucht, den stillen Hafen! O, kommst du endlich, Friedensstrand? Wie will ich süß nach Stürmen schlafen!" 3. Da schießt aus schwarzer Nacht ein Strahl, Ein glühnder Gottespfeil, von oben. Der Schiffer und das Schiff zumal. Mit Mann und Maus, sie sind zerstoben. Die wllde Woge treibt »um Strand, Treibt Trümmer und Leichen treu zum Hafen — Glückseliger Träumer! du hast Land, Nun kannst du süß nach Stürmen schlafen!

Rudolf Baumbach. 4. Das lange Band. Dem günstgen Leser Gluck und Heil! In Frankfurt hielt ein Krämer feil Und -ries den Leuten seinen Tand: Gewirkte Borten, Schnur und Band, 5 Leibgürtel, Nesteln, Litzen, Schuhriemen, Schnallen, Spitzen. Da trat zum Meister mit der Elle Herein ein fahrender Geselle Und sprach zu ihm: „Für mein Barett 10 Ich gern ein seiden Bändlein hätt. Damit der Wind, der draußen fegt. Mein Käpplein nicht von dannen trägt." „Gut," sprach der Krämer zu dem Kunden, „Ein solches Band ist bald gefunden. 15 Hier ist das beste, was ich hab; Ich schneid Euch eine Elle ab.

Baumbach.

Der Preis ist eine Kleinigkeit, Ein Heller nur, weil Ihr es seid." „Ei, Meister," sprach der fremde Wicht, 20 „Die eine Elle langt wohl nicht. Was kostet's, wenn Ihr mir das Band Von einem Ohr zum andern spannt?" Darob der Krämer weidlich lachte: ,Lst Euer Kopf so ungeschlachte? 25 Wohlan, gebt mir der Heller zwei. So meß ich Euch, wie todt es sei. Das Band von Ohr zu Ohr, Doch zahlet mir zuvor."

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Da wars der fremde Vogel frisch Zwei Heller auf den Ladentisch. Das Band ergriff er drauf behende. Hielt sich ans rechte Ohr das Ende, Tät listig mit den Augen zwinken Und sprach: „Nun meßt mir bis zum linken." Der Krämer lüpfte das Barett; Das Ohr er gern gesunden hätt. Da aber ward dem Meister llar. Daß selbes abgeschnitten war. „Ei," rief er, „Freund, wie kann ich messen? Du hast das linke Ohr vergessen." Da lachte hell der Gauch und sprach: „Lauft nur und meßt dem Ohre nach. Zu Erfurt war's im Sachsenland, Da schnitt mir's ab des Henkers Hand; Dort findet Jhr's am Galgen hangen. Meßt zu, ob Eure Bändlein langen."

Den Krämer faßte jäher Schrecken. Er sprach: „Gesell, du willst mich necken. Wie konnt ich wissen denn zuvor, 50 Wie weit es ist zu deinem Ohr?

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Baum-ach.

Brentano.

Ich wähnte dir es angewachsen Und nicht am Galgenholz in Sachsen. Wir wollen friedlich uns vergleichen; Laß dir ein gutes Zehrgeld reichen 65 Und halt dein ander Ohr recht fest. Daß du es nicht in Frankfurt läßt." Da sprach der Strolch: „Es ist mir leid. Doch will ich's tun, weil Ihr es seid. Obwohl ich mir's zum Schaden tue." — 60 Da griff der Krämer in die Truhe Und tät den Schelm entlohnen Mit einer Sonnenkrvnen.

Klemens Brentano. S. Die Gottesmauer. 1. Drauß bei Schleswig vor der Pforte Wohnen armer Leute viel, 'Ach, des Feindes wilder Horde Werden sie das erste Ziel. Waffenstillstand ist gekündet, Dänen ziehen ab zur Nacht. Russen, Schweden sind verbündet, Brechen her mit wilder Macht. Drauß bei Schleswig weit vor allen Steht ein Häuslein ausgesetzt.

2. Drauß bei Schleswig in der Hütte Singt ein frommes Mütterlein: „Herr, in deinen Schoß ich schütte Alle meine Angst und Pein." Doch ihr Enkel, ohn Vertrauen, Zwanzigjährig, neuster Zeit,

Brentano.

Will nicht auf den Herren bauen. Meint, der liebe Gott wohnt weit. Drauß bei Schleswig in der Hütte Singt ein frommes Mütterlein. 3. „Eine Mauer um uns baue!" Singt das fromme Mütterlein, „Daß dem Feinde vor uns graue. Hüll in deine Burg uns ein !" „Mutter", spricht der Weltgesinnte, „Eine Mauer uns ums Haus Kriegt unmöglich so geschwinde Euer lieber Gott heraus." „Eine Mauer um uns baue!" Singt das fromme Mütterlein. 4. „Enkel, fest ist mein Verttauen: Wenn's dem lieben Gott gefällt. Kann er uns die Mauer bauen; Was er will, ist wohl bestellt." Trommeln romdidom rings prasseln. Die Trompeten schmettern drein, Rosse wiehern, Wagen rasseln, Ach, nun bricht der Feind herein. „Eine Mauer um uns baue!" Singt das fromme Mütterlein.

5. Rings in alle Hütten brechen Schweb und Russe mit Geschrei, Lärmen, fluchen, drängen, zechen. Doch dies Haus ziehn sie vorbei. I!nd der Enkel spricht in Sorgen: „Mutter, uns verrät das Lied!" Aber sieh, das Heer vom Morgen Bis zur Nacht vorüberzieht. „Eine Mauer um uns baue!" Singt das fromme Mütterlein.

7

8

Brentano.

6. Und am Abend tobt der Winter, An das Fenster stürmt der Nord. „Schließt den Laden, liebe Kinder!" Spricht die Alte und singt fort. Aber mit den Flocken fliegen Bier Kvsakenpulke an, Rings in allen Hütten liegen Sechzig, auch wohl achtzig Mann. „Eine Mauer um uns baue!" Singt das fromme Mütterlein. 7. Bange Nacht voll Kriegsgetöse! Wie es wiehert, brüllet, schwirrt! Kantschuhiebe, Kolbenstöße! Weh! des Nachbarn Fenster flirrt. „Hurra! stupai! boschka! kurwa! Schnaps und Branntwein! Rum und rack!" Schreit und flucht und plackt die Turba, Erst am Morgen zieht der Pack. „Eine Mauer um uns baue!" Singt das fromme Mütterlein.

8. „Eine Mauer um uns baue!" Singt sie fort die ganze Nacht; Morgens wird es still: „O, schaue, EnkÄ, was der Nachbar macht!" Auf nach innen geht die Türe, Nimmer käm er sonst hinaus; Daß er Gottes Allmacht spüre. Lag der Schnee wohl mannshoch drauß. „Eine Mauer um uns baue!" Sang das fromme Mütterlein. 9. „Ja, der Herr kann Mauern bauen, Liebe, fromme Mutter, komm, Gottes Mauer anzuschauen!" Rief der Enkel und ward fromm.

Brentano.

Bürger.

Achtzehnhundertvierzehn war es. Als der Herr die Mauer baut. In der fünften Nacht des Jahres. Selig, wer dem Herrn vertraut! „Eine Mauer um uns baue!" Sang das fromme Mütterlein.

Gottfried August Bürger. V. DaS Lied vom vraven Mann. 1. Wie Wer Den

Hoch klingt das Lied vom braven Mann, Orgelton und GK>ckenklang. hohen Muts sich rühmen kann. lohnt nicht Gold, den lohnt Gesang. Gottlob, daß ich singen und preisen kann. Zu singen und preisen den braven Mann.

2. Und Die Wie

Der Tauwind kam vom Mittagsmeer schnob durch Welschland trüb und feucht. Wolken flogen vor ihm her. wann der Wolf die Herde scheucht. Er fegte die Felder, zerbrach den Forst; Auf Seen und Strömen das Grundeis borst.

3. Der Das Des

Am Hochgebirge schmolz der Schnee: Sturz von tausend Wassern scholl; Wiesental begrub ein See; Landes Heerstrom wuchs und schwoll; Hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis Und rollten gewaltige Felsen Eis.

4. Aus Lag Und

Auf Pfeilern und auf Bogen schwer. Quaderstein von unten auf. eine Brücke drüberher. mitten stand ein Häuschen drauf. Hier wohnte der Zöllner mit Weib und Kind: O Zöllner, o Zöllner, entfleuch geschwind!

9

Bürger.

10

5. Es dröhnt' und dröhnte dumpf heran; Laut heulten Sturm und Wog ums Haus. Der Zöllner sprang zum Dach hinan Und blickt' in den Tumult hinaus. „Barmherziger Himmel, erbarme dich! Verloren! verloren! wer rettet mich?" 6. Die Schollen rollten Schuß auf Schuß; Bon beiden Ufern hier und dort, Von beiden Ufern riß der Fluß Die Pfeiler samt den Bogen fort. Der bebende Zöllner mit Weib und Kind. Er heulte noch lauter als Strom und Wmo. 7. Die Schollen rollten Stoß auf Stoß, An beiden Enden, hier und dort. Zerborsten und zertrümmert, schoß Ein Pfeiler nach dem andern fort. Bald nahte der Mitte der Umsturz sich. „Barmherziger Himmel, erbarme dich!" 8. Hoch auf dem fernen Ufer stand Ein Schwarm von Gaffern, groß und klein. Und jeder schrie und rang die Hand, Doch mochte niemand Retter sein. Der bebende Zöllner mit Weib und Kind Durchheulte nach Rettung den Strom und Wind. 9. Rasch galoppiert' ein Graf hervor, Auf hohem Roß ein edler Graf. Was hielt des Grafen Hand empor? Ein Beutel war es, voll und straff. . „Zweihundert Pistolen sind zugesagt Dem, welcher die Rettung der Armen wagt!" 10. Und immer Und immer lauter Und immer tiefer O Retter, Retter,

höher schwoll die Flut, schnob der Wind, sank der Mut. komm geschwind!

Bürger.

11

Stets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und brach; Laut krachten und stürzten die Bogen nach. 11. „Halloh! halloh! frisch auf, gewagt!" Hoch hielt der Graf den Preis empor. Ein jeder hört's, doch jeder zagt; Ans Tausenden tritt keiner vor. Vergebens durchheulte mit Weib und Kind Der Zöllner nach Rettung den Strom und Wind.

12. Sieh, schlecht und recht ein Bauersmann Am Wanderstabe schritt daher. Mit grobem Kittel angetan. An Wuchs und Antlitz hoch und hehr. Er hörte den Grafen, vernahm fein Wort Und schaute das nahe Verderben dort. 13. Und kühn in Gottes Namen sprang Er in den nächsten Fischerkahn; Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang Kam der Erretter glücklich an; Doch wehe! der Nachen war allzu Nein, Der Retter von allen zugleich zu sein. 14. Und dreimal zwang er seinen Kahn, Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang, Und dreimal kam er glücklich an. Bis ihm die Rettung ganz gelang. Kaum kamen die letzten in sichern Port, So rollte das letzte Getrümmer fort.

15. „Hier," rief der Graf, „mein wackrer Freund, Hier ist dein Preis! komm her, nimm hin!" Sag an, war das nicht brav gemeint? Bei Gott! der Graf trug hohen Sinn. Doch höher und himmlischer, wahrlich! schlug Das Herz, das der Bauer im Kittel trug. 16. „Mein Leben ist für Gold nicht feil. Arm bin ick zwar, dock eß ich satt.

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Bürger.

Chamifso.

Dem Zöllner werd Euer Gold zuteil. Der Hab und Gut verloren hat!" So rief er mit herzlichem Biederton Und wandte den Rücken und ging davon.

Adelbert von Chamisso. 7. Die alte Waschfrau. 1. Du siehst geschäftig bei dem Linnen Die Alte dort in weißem Haar, Die rüstigste der Wäscherinnen Im sechsundsiebenzigsten Jahr. So hat sie stets mit saurem Schweiß Ihr Brot in Ehr und Zucht gegessen Und ausgefüllt mit treuem Fleiß Den Kreis, den Gott ihr zugemesscn. 2. Sie hat in ihren jungen Tagen Geliebt, gehofft und sich vermählt; Sie hat des Weibes Los getragen. Die Sorgen haben nicht gefehlt; Sie hat den kranken Mann gepflegt; Sie hat drei Kinder ihm geboren; Sie hat ihn in das Grab gelegt Und Glaub und Hoffnung nicht verloren. 3. Sie Sie Der

Da galt's, die Kinder zu ernähren; griff es an mit heiterm Mut, zog sie auf in Zucht und Ehren; Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut. Zu suchen ihren Unterhalt, Entließ sie segnend ihre Lieben, So stand sie nun allein und alt, Ihr war ihr heitrer Mut geblieben.

4. Sie hat gespart und hat gesonnen Und Flachs gekauft und nachts gewacht.

Lhamisfo.

13

Den Flachs zu feinem Garn gesponnen, DaS Garn dem Weber hingebracht; Der hat's gewebt zu Leinewand; Die Schere brauchte sie, die Nadel Und nähte sich mit eigner Hand Ihr Sterbehemde sonder Tadel.

5. Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schätzt es, Berwahrt's im Schrein am Ehrenplatz; ES ist ihr Erstes und ihr Letztes, Ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz. Sie legt es an, des Herren Wort Am Sonntag früh sich einzuprägen; Dann legt sie's wohlgefällig fort. Bis sie darin zur Ruh sie legen. 6. Und ich, an meinem Abend, wollte, Ich hätte, diesem Weibe gleich. Erfüllt, was ich erfüllen sollte In meinen Grenzen und Bereich: Ich wollt, ich hätte so gewußt Am Kelch des Lebens mich zu laben Und könnt am Ende gleiche Lust An meinem Sterbehemde haben.

8. DaS Riesenspielzeug. 1. Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt. Die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand; Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer: Du fragest nach den Riesen? du findest sie nicht mehr. 2. Einst kam das Riesenfräulein aus jener Burg hervor, Ergirg sich sonder Wartung und spielend vor dem Tor Und stieg hinab den Abhang bis in das Tal hinein. Neugierig, zu erkunden, wie's unten möchte sein.

3. Mit wen'gen raschen Schritten durchkreuzte sie den Wald, Erreichte gegen Haslach das Land der Menschen bald,

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Ehamifso.

Und Städte dort und Dörfer und das bestellte Feld Erschienen ihren Augen gar eine fremde Welt.

4. Wie jetzt zu ihren Füßen sie spähend niederschaut. Bemerkt sie einen Bauer, der seinen Acker baut; Es kriecht das Heine Wesen einher so sonderbar. Es glitzert in der Sonne der Pflug so blank und Nar.

5. „Ei, artig Spielding!" ruft sie,

„das nehm ich mit nach Haus!" Sie knieet nieder, spreitet behend ihr Tuchlein aus Und feget mit den Händen, was da sich alles regt. Zu Haufen in das Tüchlein, das sie zusammen schlägt, 6. Und eilt mit freudgen Sprüngen — man weiß, wie Kinder sind — Zur Burg hinan und suchet den Vater auf geschwind: „Ei, Vater, lieber Vater, ein Spielding wunderschön; So allerliebstes sah ich noch nie auf unsern Höhn." 7. Der Alte saß am Tische und trank den kühlen Wein, Er schaut sie an behaglich, er fragt das Töchterlein: „Was Zappeliges bringst du in deinem Tuch herbei? Du hüpfest ja vor Freuden; laß sehen, was es sei!"

8. Sie spreitet aus das Tüchlein und fängt behutsam en, Den Bauer aufzustellen, den Pflug und das Gespann; Wie alles auf dem Tische sie zierlich aufgebaut. So Hatscht sie in die Hände und springt und jubelt laut. 9. Der Alte wird gar ernsthaft und wiegt sein Haupt und spricht: „Was hast du angerichtet? Das ist kein Spielzeug nicht! Wo du es hergenommen, da trag es wieder hin! Der Bauer ist kein Spielzeug: was kommt dir in den Sinn? 10. Sollst gleich und ohne Murren erfüllen mein Gebot! Denn wäre nicht der Bmrer, so hättest du kein Brot: Es sprießt der Stamm der Riesen aus Bauernmark hervor. Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!"

£ Thamisso.

Deinhardstein.

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11. Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt. Die bähe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand; Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer: Und fragst du nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.

Joseph Ludwig Franz Deinhardstein. 9. Gesang des Vogels über dem Wald. 1. Durch die blaue Lust, über Grab und Kluft Und der Menschen ängstlich Bewegen, Mst dem Flügelschlag Aus der Nacht zum Tag Flieg ich froh der Sonne entgegen. 2. Schwebe -in und her. In dem blauen Meer Mir zu kühlen die luftigen Schwingen, Und am Berg, im Tal Und am Wasserfall Laß ich lustig mein Liedchen erklingen. 3. Wo die Wolke saust. Wo der Waldstrom braust. Kann ich auf, kann ich nieder schweben;

So mit einemmal Aus der Höh ins Tal:

Was ist das ein herrliches Leben!

4. Wie ist mir so wohl. Wie so liebevoll. Wenn die Tannen recht ferne mir winken! Ach! und welche Lust Für die Glut der Brust, Den unendlichen Segen zu trinken! 5. Durch die freie Lust, Über Grab und Kluft,

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Deinhardstein.

Eichendorff.

Über euer ängstlich Bewegen,

Mit dem Flügelschlag Aus der Nacht zum Tag Flieg ich froh der Sonne entgegen.

Joseph Freiherr von Eichendorff. 10. «eiseliev. 1. Durch Feld und Buchenhallen, Bald singend, bald fröhlich still. Recht lustig sei vor allen, Wer's Reisen wählen will!

2. Die Da Die

Wenn's kaum im Osten glühte. Welt noch still und weit. weht recht durchs Gemüte schöne Blütenzest!

3. Die Lerch als Morgenbote Sich in die Lüste schwingt. Eine frische Reisenote Durch Wald und Herz erklingt. 4. O Lust, vom Berg zu schauen West über Wald und Strom, Hoch über sich den blauen, Tiefklaren Himmclsdom!

5. Bom Berge Vöglein fliegen Und Wolken so geschwind, Gedanken überfliegen Die Vögel und den Wind. 6. Die Wolken ziehn hernieder. Das Vöglein senkt sich gleich: Gedanken gehn und Lieder

Fort bis ins Himmelreich.

Eichendorff.

17

Fechner»

11. Stimmen der Nacht. 1. Weit tiefe, bleiche, stille Felder — O, wie mich das freut, über alle, alle Täler, Wälder Die prächtige Einsamkeit! 2. über Ein Und

Aus der Stadt nur schlagen die Glocken die Wipfel herein. Reh hebt den Kopf erschrocken schlummert gleich wieder ein.

3. Der Wald aber rühret die Wipfel Im Schlaf von der Felsenwand, Denn der Herr geht über die Gipfel Und segnet das stille Land.

12. Winternacht. 1. Verschneit liegt rings die ganze Welt, Ich hab nichts, was mich freuet. Verlassen steht der Baum im Feld, Hat längst sein Laub verstreuet.

2. Der Wind nur geht bei stiller Nacht Und rüttelt an dem Baume, Da rührt er seine Wipfel sacht Und redet wie im Traume.

3. Er träumt von künftger Frühlingszeit, Von Grün und Quellenrauschen, Wo er im neuen Blütenkleid Zu Gottes Lob wird rauschen.

Gustav Theodor Fechner (Mises). 13. Rätsel. 1. Ein Häuslein ist es, wohlbekannt. Aus lauter Fenstern seine Wand; Doch der drin wohnet, erst erwacht, Hessel und Ufer. Lesebuch S.

M.2

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Fechner. Wenn rings umher ist finstre Nacht; Sieht durch die Fenster dann sich um. Geht mit dem Häuslein selbst herum.

2.

Wer mögen die Keinen Leutlein wohl sein Mit dickem Kopf und dickem Bein, Doch einem Leib, ach! fadendünn; In den größten Köpfen ist nichts drin. Auch fußlos siehst du einzelne stehn. Doch wenn sie hintereinander gehn. Bekommt gleich Füße das ganze Heer, Je rascher sie laufen, desto mehr. 3. Die Ersten sind ein Untertan, Die Letzte ist ein Untertan, Das Ganze ist ein Untertan, Der von dem letzten Untertan Wird unter den ersten Untertan Ganz untertänigst getan.

4. Ein Kopf und ein Bein Ist alles, was mein; Der Kopf hat keine Mütze, Das Bein hat eine Spitze,

ö. Die beiden Ersten beschmutzen die Sachen, Die Dritte dient, sie rein zu machen; HgS Ganze ist schön weiß und rot Und trägt doch in sich Gift und Tod. 6.

Ich bin ein erquickliches Sauerbrönnlein, Gefaßt in ein zierliches goldnes Tönnlein, Entsprungen im fernen Südenland, Doch hin an alle Orte versandt.

Fechner. Fischer.

19

7.

Ich habe ein Loch und mache ein, Loch, Und ich laufe durch das, was ich machte, auch noch: Doch kaum bin ich durch, so stopft im Nu Ein Stück meiner langen Schleppe es zu. 8.

Zuerst ein fest verschlossen Päcklein, Dann grünes Jäcklein, rotes Röcklein, Zuletzt von Steinen voll ein Säcklein. 9.

Das erste Paar freut sich am Flug; Das zweite Paar freut sich am Pflug; Das Ganze ist des ersten Fluch. 10.

Die Erste für den, der hoch hinaus will, Der höher hinauf als das höchste Haus will.

Die Andre für den, der fleißig sein will; Das Ganze für den, der tief hinein will.

11.

12.

Sagt, wie das stimmt: Die Erste schwimmt. Die Andre läuft. Da- Ganze steift.

Die erste Silbe frißt. Die andre Silbe ißt. Die dritte wird gefressen. Das Ganze wird gegessen.

Wilhelm Fischer. 14. KleobiS und Biton. 1. Zum Herafeste soll zu Wagen, Vom starken Zweigespann getragen,

Der Göttin hehre Priesterin Von Hause ziehn zum Tempel hin;

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(• Fischer. Doch fern im Felde sind die Stiere Und nicht zum heiligen Dienst bereit. Kein Aug erblickt die säumigen Tiere, Das Fest beginnt — cs drängt die Zeit.

2. Da treten, in der Jugend Schöne, Der Gottgeweihten fromme Söhne Zum Joche hin mit starker Hand Und ziehn die Mutter unverwandt: So fährt sie durch die Sonnenauen Hin zu des Tempels Schattenraum; Beim Anblick des Gespannes trauen Die Griechen ihren Augen kaum.

3. Und alle, die zum Feste kamen. Erfahren bald der Söhne Namen, Und Kleobis und Bitons Ruhm Erschallet um das Heiligtum; Wie schlägt ihr Herz beim Jubelschalle! Es rühmen — keiner bleibt zurück — Der Söhne Kraft die Männer alle. Die Mütter all der Mutter Glück. 4. Sie aber stehet vor dem Bilde Der Göttin, die so reich und milde. Und fleht aus ihrer tiefsten Brust, Die überquillt voll seliger Lust: „Wenn je an deinem hohen Feste Mein Flehn vor dich gekommen ist. Gib meinen Söhnen, was das Beste — Du weißt es — für den Menschen ist!"

5. Da ward ein Zeichen klar gegeben. Der Tod sei besser, denn das Leben: Die Söhne opfern noch voll Dank Und laben sich an Speis und Trank; Dann strecken sie die schönen Glieder, Die müden, nach dem heißen Lauf Im Tempel selbst zum Schlummer nieder Und — stehen nimmer wieder auf.

Freiligrath.

Ferdinand Freiligrath. 15. An- dem schlesische« Gebirge. 1. „Nun werden grün die Brombeerhecken: Hier schon ein Brüchen, welch ein Fest! Die Amsel sucht sich dürre Stecken, Und auch der Buchfink baut sein Nest. Der Schnee ist überall gewichen. Die Koppe nur sieht weist ins Tal; Ich habe mich von Haus geschlichen. Hier ist der Ort — ich wag's einmal: Rübezahl! 2. Hört er's? ich seh ihm dreist entgegen! Er ist nicht bös; auf diesen Block Will ich mein Leinwandpäckchen legen — Es ist ein richtges, volles Schock! Und fein! ja, dafür kann ich stehen! Kein bestres wird gewebt im Tal — Er läßt sich immer noch nicht sehen; Drum frischen Mutes noch einmal:

Rübezahl! 3. Kein Laut — ich bin ins Holz gegangen, Dast er uns hilft in unsrer Not. O, meiner Mutter blasse Wangen — Im ganzen Haus kein Stückchen Brot! Der Vater schritt zu Markt mit Fluchen — Fand er doch Käufer nur einmal! Ich will's mit Rübezahl versuchen — Wo bleibt er nur? zum drittenmal: Rübezahl! 4. Er half so vielen schon vorzeiten, Grostmutter hat mir's oft erzählt; Ja, er ist gut den armen Leuten, Die unverschuldet Elend quält.

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Freiligrath.

So bin ich froh denn hergelaufen Mit meiner richtgen Ellenzahl: Ich will nicht betteln, will verkaufen? O, daß er käme! — Rübezahl! Rübezahl! 5. Wenn dieses Päckchen ihin gefiele, Vielleicht gar bät er mehr sich aus; Das wär mir recht, ach, gar zu viele Gleich schöne liegen noch zu Haus! Die nähm er alle bis zum letzten. Ach, fiel auf dies doch seine Wahl! Da löst ich ein selbst die versetzten — Das wär ein Jubel! Rübezahl! Rübezahl! 6. Dann trät ich froh ins kleine Zimmer Und riefe: Vater, Geld genug! Dann flucht' er nicht, dann sagt' er nimmer: Ich web euch nur ein Hungertuch! Dann lächelte die Mutter wieder Und tischt' uns auf ein reichlich Mahl; Dann jauchzten meine kleinen Brüder — O, käm, o, käm er! Rübezahl! Rübezahl!"

7. So ries der dreizehnjährge Knabe; So stand und rief er, matt und bleich. Umsonst! nur dann und wann ein Rabe Flog durch des Gnomen altes Reich. So stand und paßt' er Stund auf Stunde, Bis daß es dunkel ward im Tal Und er halblaut mit zuckendem Munde Ausrief durch Tränen noch einmal: „Rübezahl!" 8. Dann ließ er still das buschge Fleckchen Und zitterte und sagte: „Hu!"

FreWgrath.

Und schritt mit seinem Leinwandpäckchen Dem Jammer seiner Heimat zu. Ost ruht er aus auf moosgen Steinen, Matt von der Bürde, die er trug. Ich glaub, sein Vater webt dem Kleinen Zum Hunger- bald ein Leichentuch. Rübezahl!

16. Die Auswanderer. 1. Ich kann den Blick nicht von euch wenden; Ich mutz euch anschaun immerdar: Wie reicht ihr mit geschäftgen Händen Dem Schiffer eure Habe dar! 2. Ihr Männer, die ihr von dem Nacken Die Körbe langt, mit Brot besHvert, Das ihr aus deutschem Korn gebacken. Geröstet habt auf deutschem Herd; 3. Ihr Wie Auf

Und ihr, im Schmuck der langen Zöpfe, Schwarzwaldmädchen braun und schlank. sorgsam stellt ihr Krüg' und Töpfe der Schaluppe grüne Bank!

4. Das sind dieselben Töpf' und Krüge, Ost an der Heimat Born gefüllt! Wenn am Missouri alles schwiege. Sie malten euch der Heimat Bild: 5. Des Dorfes steingefastte Quelle, Zu der ihr schöpfend euch gebückt. Des Herdes traute Feuerstelle, Das Wandgesims, das sie geschmückt.

6. Bald zieren sie im fernen Westen Des leichten Bretterhauses Wand; Bald reicht sie müden, braunen Gästen, Voll stischen Trunkes, eure Hand.

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Frriligrath.

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7. Es trinkt daraus der Tschcrokese, Ermattet, von der Jagd bestaubt; Nicht mehr von deutscher Rebenlese Tragt ihr sie heim, mit Grün belaubt.

8. Das Der Im

O, sprecht! warum zogt ihr von dannen? Neckartal hat Wein und Korn; Schwarzwald steht voll finstrer Tannen, Spessart klingt des Älplers Horn.

9. Euch Nach Nach

Wie wird es in-den fremden Wäldern nach der Heimatberge Grün, Deutschlands gelben Weizenfeldern, seinen Rcbenhügeln zieh«!

10. Wie wird das Bild der alten Tage Durch eure Träume glänzend wehn! Gleich einer stillen, frommen Sage Wird es euch vor der Seele stehn. 11. Der Bootsmann winkt — zieht hin in Frieden: Gott schütz euch, Mann und Weib und Greis! Sei Freude eurer Brust beschieden Und euer» Feldern Reis und Mais!

17. Die Tanne. I. 1. Auf des Berges höchster Spitze Steht die Tanne, schlank und grün. Durch der Felswand tiefste Ritze Läßt sie ihre Wurzeln ziehn; 2. Nach den höchsten Wolkenbällen Läßt sie ihre Wipfel schweifen. Als ob sie die vogelschnellen Mit den Armen wollte greifen.

3. Ja, der Wolken vielgestaltge Streifen, flatternd und zerrissen.

Freiligrath.

Sind der Edeltann gewaltge, Regenschwangre Nadelkissen.

4. Tief in ihren Wurzelknollen, In den faserigen, braunen. Winzig klein und reich an tollen Launen, wohnen die Alraunen,

5. Die des Berges Grund befahren. Ohne Eimer, ohne Leitern, Und in seinen wunderbaren Schachten die Metalle läutern.

6. Wirr läßt sie hinunterhangen Ihre Wurzeln ins Gewölbe; Diamanten sieht sie prangen Und des Goldes Glut, die gelbe. 7. Aber oben mit den dunkeln Ästen sieht sie schönres Leben: Sieht durch Laub die Sonne funkeln Und belauscht des Geistes Weben,

8. Der in diesen stillen Bergen Regiment und Ordnung hält Und mit seinen klugen Zwergen Alles leitet und bestellt; 9. Ost zur Zeit der Sonnenwenden Nächtlich ihr vorübersaust. Eine Wildschur um die Lenden, Eine Kiefer in der Faust. 10. Sie vernimmt mit leisen Ohren, Wie die Vögel sich besprechen; Keine Silbe geht verloren Des Gemurmels in den Bächen.

11. Offen liegt vor ihr der stille Haushalt da der wilden Tiere. Welcher Friede, welche Fülle In dem schattigen Reviere!

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Freiligrath.

12. Menschen fern; nur Rotwildstapfen Auf dem moosbewachsnen Boden! O, wohl magst du deine Zapfen Freudig schütteln in die Loden!

13. O, wohl magst du gelben Harzes Dustge Tropfen niedersprengen Und dein straffes, grünlich schwarzes Haar mit Morgentau behängen! 14. O, wohl magst du lieblich wehen! O, wohl magst du trotzig rauschen! Einsam auf des Berges Höhen Stark und immergrün zu stehen — Tanne, könnt ich mit dir tauschen!

1. Inmitten der Fregatte Hebt sich der starke Mast, Mit Segel, Flagg und Matte, Ihn beugt der Jahre Last, 2. Der schaumbedeckten Welle Klagt zürnend er sein Leid: „Was hilft mir nun dies helle. Dies weiße Segelkleid?

5. Ich habe die See befahren, Meerkön'ge sah ich thronen; Mit schwarzen und blonden Haaren Sah ich die Stationen.

6. Isländisch Moos im Norden Grüßt ich auf Felsenspalten; Mit Palmen auf südlichen Borden Hab Zwiesprach ich gehalten.

3. Was helfen mir die Fahnen, Tie schwanken Leiterstricke? Ein starkes innres Mahnen Zieht mich zum Forst zurücke.

7. Doch nach dem Heimatberge Zieht mich ein starker Zug, Wo ich ins Reich der Zwerge Die haarigen Wurzeln schlug.

4. In meinen jungen Jahren Hat nnin mich umgehauen; Das Meer sollt ich befahren Und fremde Länder schauen.

8. O, stilles Leben im Walde! O, grüne Einsamkeit! O, blumenreiche Halde! Wie weit seid ihr, wie weit!"

(Seibel.

Emanuel Geibel. 18. Hoffnung. 1. Und dräut der Winter noch so sehr Mit trotzigen Gebärden, Und streut er Eis und Schnee umher. Es muß doch Frühling werden. 2. Und drängen die Nebel noch so dicht Sich vor den Blick der Sonne, Sie wecket doch mit ihrem Licht Einmal die Welt zur Wonne. 3. Blast nur, ihr Stürme, blast mit Macht! Mir soll darob nicht bangen: Auf leisen Sohlen über Nacht Kommt doch der Lenz gegangen.

4. Da wacht die Erde grünend auf, Weiß nicht, wie ihr geschehen. Und lacht in den sonnigen Himmel hinauf Und möchte vor Lust vergehen. 5. Und Und Als

Sie flicht sich blühende Kränze ins Haar schmückt sich mit Rosen und Ähren läßt die Brünnlein rieseln klar. wären es Freudenzähren.

6. Drum still! und wie es frieren mag, O Herz, gib dich zufrieden! Es ist ein großer Maientag Der ganzen Welt beschieden.

7. Und wenn dir oft auch bangt und graul. Als sei die Höll auf Erden, Nur unverzagt auf Gott vertraut! Es muß doch Frühling werden.

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1V. Der Mai ist gekommen. 1. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus. Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen $u. Haus; Wie die Wolken wandern am himmlischen Zelt, So steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt.

2. Herr Wer weiß, Es gibt so Es gibt so

Vater, Frau Mutter, daß Gott euch behüt! wo in der Ferne mein Glück mir noch blüht! manche Straße, da nimmer ich niarschiert. manchen Wein, den ich nimmer noch probiert.

3. Frisch auf drum, frisch auf im hellen Sonnenstrahl! Wohl über die Berge, wohl durch das tiefe Tal! Die Quellen erklingm, die Bäume rauschen all, Mein Herz ist wie 'ne Lerche und stimmet ein mit Schall.

4. Und abends im Städtlein da kehr ich durstig ein: Herr Wirt, Herr Wirt, eine Kanne blanken Wein! Ergreife die Fiedel, du lustger Spielmann du, Bon meinem Schatz das Liebel sing ich dazu.

6. Und find ich keine Herberg, so lieg ich zu Nacht Wohl unter blauem Himmel, die Sterne halten Wacht; Im Winde die Linde, die rauscht mich ein gemach. Es küsset in der Früh das Morgenrot mich wach. 6. O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust! Da wehet Gottes Odem so frisch in die Brust! Da singet und jauchzet das Herz zum Himmelszelt: Wie bist du doch so schön, o, du weite, weite Welt!

20. Morgenwanderirng. 1. Wer recht in Freuden wandern will. Der geh der Sonn entgegen; Da ist der Wald so kirchenstill, Kein Lüftchen mag sich regen; Noch sind nicht die Lerchen wach. Nur im hohen Gras der Bach Singt leise den Morgensegen.

Seibel.

2. Die ganze Welt ist wie ein Buch, Darin uns ausgeschrieben In bunten Zeilen manch ein Spruch, Wie Gott uns treu geblieben; Wald und Blumen nah und fern Und der Helle Morgenstern Sind Zeugen von seinem Lieben. 3. Da zieht die Andacht wie ein Hauch Durch alle Sinnen leise. Da pocht ans Herz die Liebe auch In ihrer stillen Weise, Pocht und pocht, bis sich's erschließt Und die Lippe überfließt Bon lautem, jubelndem Preise.

4. Und plötzlich läßt die Nachtigall Im Busch ihr Lied erNingen, In Berg und Tal erwacht der Schall Und will sich auswärts schwingen; Und der Morgenröte Schein Stimmt in lichter Glut mit ein: Laßt uns dem Herrn lobsingen!

21. Aus dem Walde. 1. Mit dem alten Förster heut Bin ich durch den Wald gegangen, Während hell im Festgeläut Aus dem Dorf die Glocken klangen. 2. Golden floß ins Laub der Tag, Böglein sangen Gottes Ehre, Fast, als ob der ganze Hag Wüßte, daß es Sonntag wäre.

3. Und wir kamen ins Revier, Wo, umrauscht von alten Bäumen, Junge Stämmlein sonder Zier Sproßten auf besonnten Räumen.

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Seibel.

4. Feierlich der Alte sprach: „Siehst du über unsern Wegen Hochgewölbt das grüne Dach? Das ist unsrer Ahnen Segen.

5. Denn es gilt ein ewig Recht, Wo die hohen Wipfel rauschen, Bon -Geschlechte zu Geschlecht Geht im Wald ein heilig Tauschen:

6. Was uns Not ist, uns zum Heil Ward's gegründet von den Vätern; Aber das ist unser Teil, Daß wir gründen für die Spätern.

7. Drum im Forst auf meinem Stand Ist mir's oft, als 65t ich linde Meinem Ahnherrn diese Hand, Jene meinem Kindeskinde. 8. Und sobald ich Pflanzen will, Pocht das Herz mit, daß ich's merke, Und ein frommes Sprüchlein still Muß ich beten zu dem Werke: 9. Schütz euch Gott, ihr Reiser schwank! Mögen unter euren Kronen, Rauscht ihr einst den Wald entlang, Gottesfurcht und Freiheit nwhnen! 10. Und ihr Enkel, still erfreut Mögt ihr dann mein Segnen ahnen, Wie's mit frommem Dank mich heut An die Bäter will gemahnen." 11. Wie verstummend im Gebet, Schwieg der Mann, der tiefergraute. Klaren Auges, ein Prophet, Welcher vorwärts, rückwärts schaute.

Seibel. 12. Segnend auf die Stämmlein rings Sah ich dann die Händ ihn breiten; Aber in den Wipfeln ging's. Wie ein Gruß ans alten Zeiten.

22. Lübeck. 1. Wie steigst, o Lübeck, du herauf In alter Pracht vor meinen Sinnen, An des beflaggten Stromes Lauf, Mit stolzen Türmen, schartgen Zinnen! Dort war's, wo deiner Erker Zahl Der Hansa Boten wartend zählten. Dort, wo die Väter hoch im Saal Ein Haupt für leere Kronen wählten. 2. Denn eine Fürstin standest du. Der Markt war dein und dein die Wege, Du führtest reich dem Süden zu, Was nur gedieh in Nordens Pflege. Es bot dir Norweg seinen Zoll, Der Schwede bog sein Haupt, der Däne, Wenn deine Schiffe segelvoll Borüberflohn, des Meeres Schwäne.

23. Böllers Nachtgesang. 1. Die lichten Sterne funkeln Hernieder kalt und stumm; Von Waffen klirrt's im Dunkeln, Der Tod schleicht draußen um. Schweb hoch hinauf, mein Geigenklang! Durchbrich die Nacht mit klarem Sang! Du weißt den Spuk von dannen Zu bannen.

2. Wohl finster ist die Stunde, Doch hell sind Mut und Schwert,

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Seibel.

In meines Herzens Grunde Steht aller Freuden Herd. O Lebenslust, wie reich du blühst! O Heldenblut, wie kühn du glühst! Wie gleicht der Sonn im Scheiden Ihr beiden.

3. Ich denke hoher Ehren, Sturmlustger Jugendzeit, Da wir mit scharfen Speeren Hinjauchzten in den Streit. Hei! Schildgekrach im Sachsenkrieg! Auf unsern Bannern saß der Sieg, Als wir die ersten Narben Erwarben. 4. Mein grünes Heimatleben, Wie tauchst du mir empor! Des Schwarzwalds Wipfel weben Herüber an mein Ohr; So säuselt's in der Rebenflur, So braust der Rhein, darauf ich fuhr Mit meinem Lieb zu zweien Im Maien.

5. O Minne! wundersüße. Du Rosenhag in Blust, Ich grüße dich, ich grüße. Dich heut aus tiefster Brust! Du roter Mund, gedenk ich dein. Es macht mich stark wie firner Wein, Das sollen Heunenwunden Bekunden. 6. Ihr Kön'ge, sonder Zagen Schlaft sanft, ich halte Wacht; Ein Glanz aus alten Tagen Erleuchtet mir die Nacht.

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Seibel.

Und kommt die Früh im Mutgen Kleid: Gott grüß dich, grimmer Schwerterstreit! Dann magst dn, Tod, zum Reigen Uns geigen!

24. Gudruns Klage. 1. Nun geht in grauer Frühe Der scharfe Märzenwind, Und meiner Qual und Mühe Ein neuer Tag beginnt. Ich wall hinab zum Strande, Durch Reif und Dornen hin. Zu waschen die Gewände Der grimmen Königin. 2. Das Meer ist tief und -erbe, Doch tiefer ist die Pein, Bon Freud und Heimatserbe Allzeit geschieden sein; Doch herber ist's, zu dienen In fremder Mägde Schar, Und hat mir einst geschienen Die güldne Kron im Haar.

3. Mir ward kein guter Morgen. Seit ich dem Feind verfiel; Mein Speis und Trank sind Sorgen, Und Kummer mein Gespiel. Doch berg ich meine Tränen In stolzer Einsamkeit; Am Strand den wilden Schwänen Allein fing ich mein Lied.

4. Kein Dräuen soll mir beugen Den hochgemuten Sinn! Ausduldend will ich zeugen. Von welchem Stamm ich bin. Hessel und Ufer. Lesebuch 5.

M. 3

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Geibel.

Und so sie hold gebaren. Wie Spinnweb acht ich's nur; Ich will getreu bewahren Mein Herz und meinen Schwur.

5. O Ortwin, trauter Bruder, O Herwig, Buhle wert. Was rauscht nicht euer Ruder, Was Hingt nicht euer Schwert? Umsonst zur Meereswüste Hinspäh ich jede Stund; Doch naht sich dieser Küste Kein Wimpel, das mir kund. 6. Ich weiß es: nicht vergessen Habt ihr der armen Maid; Doch ist nur kurz gemessen Dem steten Gram die Zeit. Wohl kommt ihr einst, zu sühnen. Zu retten, ach! zu spät. Wenn schon der Sand der Dünen Um meinen Hügel weht. 7. Es dröhnt mit dumpfem Schlage Die Brandung in mein Wort; Der Sturm zerreißt die Klage Und trägt beschwingt sie fort. O, möcht er brausend schweben Und geben euch Bericht: Wohl laß ich hier das Leben, Die Treue laß ich nicht!

28. Friedrich Rotbart. 1. Tief im Schoße des Khffhäusers Bei der Ampel rotem Schein Sitzt der alte Kaiser Friedrich An dem Tisch von Marmorstein.

Seibel.

2. Ihn Doch Liegt

Ihn umwallt der Purpurmantel, umfängt der Rüstung Pracht, auf seinen Augenwimpern des Schlafes tiefe Nacht.

3. Borgesunken ruht das Antlitz, Drin sich Ernst und Milde paart; Durch den Marmortisch gewachsen Ist sein langer, goldner Bart.

4. Rings wie ehrne Bilder stehen Seine Ritter um ihn her, Harnischglänzend, schwertumgürtet. Aber tief im Schlaf, wie er. 5. Heinrich auch, der Osterdinger, Ist in ihrer stummen Schar, Mit den liederreichen Lippen, Mit dem blondgelockten Haar. 6. Seine Harfe ruht dem Sänger In der Linken ohne Klang; Doch auf seiner hohen Stirne Schläft ein künftiger Gesang.

7. Alles schweigt, nur hin und wieder Fällt ein Tropfen vom Gestein: Bis der große Morgen plötzlich Bricht mit Feuersglut herein; 8. Bis der Adler stolzen Fluges Um des Berges Gipfel zieht, Daß vor seines Fittichs Rauschen Dort der Rabenschwarm entflieht. 9. Aber dann wie ferner Donner Rollt es durch den Berg herauf, Und der Kaiser greift zum Schwerte, Und die Ritter wachen auf. 10. Laut in seinen Angeln dröhnend Tut sich auf das ehrne Tor;

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Seibel,

«eilest

Barbarossa mit den Seinen Steigt im Wasfenschmuck empor. 11. Auf dem Helm trägt er die Krone Und den Sieg in seiner Hand; Schwerter blitzen, Harfen klingen. Wo er schreitet durch das Land. 12. Und dem alten Kaiser beugen Sich die Völker allzugleich. Und aufs neu zu Aachen gründet Er das hellge deutsche Reich.

Christian Fürchtegott Gellert. 26. Die Ehre Gottes aus der Natur. 1. Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort. Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere; Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort! 2. Wer Sie Und

Wer trägt der Himmel unzählbare Sterne? führt die Sonn aus ihrem Zelt? kömmt und leuchtet und lacht uns von ferne läuft den Weg, gleich als ein Held.

3. Bernimm's, und siehe die Wunder der Werke, Die die Natur dir aufgestellt! Verkündigt Weisheit und Ordnung und Stärke Dir nicht den Herrn, den Herrn der Welt? 4. Kannst du der Wesen unzählbare Heere, Den kleinsten Staub füUlos beschaun? Durch wen ist alles? O, gib ihm die Ehre! Mir, ruft der Herr, sollst du vertraun.

6. Mein ist die Kraft, mein ist Himmel und Erde, An meinen Werken kennst du mich. Ich bin's und werde sein, der ich sein werde. Dein Eott und Vater ewiglich.

6. Ich bin dein Schöpfer, bin Weisheit und Güte, Ein Gott der Ordnung und dein Hell; Ich bin's! Mich liebe von ganzem Gemüte Und nimm an meiner Gnade teil!

Ludwig Giesebrecht. 27. Der Lotse. 1. „Siehst du die Brigg dort auf den Wellen? Sie steuert falsch, sie treibt herein Und muß am Borgebirg zerschellen. Lenkt sie nicht augenblicklich ein.

2. Ich muß hinaus, daß ich sie leite!" „Gehst du ins offne Wasser vor. So legt dein Boot sich auf die Seite Und richtet nimmer sich empor." 3. „Allein ich sinke nicht vergebens, Wen» sie mein letzter Ruf belehrt; Ein ganzes Schiff voll jungen Lebens Ist wohl ein altes Leben wert. 4. Gib mir das Sprachrohr! Schifflein, ellel Es ist die letzte, höchste Not!" — Bor fliegendem Sturme gleich dem Pfeile Hin durch die Scheren eilt das Boot. 5. Jetzt schießt es aus dem Klippenrande. .Links müßt ihr steuern!" hallt ein Schrei. Kieloben treibt das Boot zu Lande, Und sicher fährt die Brigg vorbei.

Johann Wolfgang Goethe. 28. Legende vom Hufeisen. Als noch, verkannt und sehr gering, Unser Herr auf der Erde ging Und viele Jünger sich zu ihm fanden.

Die sehr selten sein Wort verstanden.

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Goethe.

5 Liebt' er sich gar über die Maßen, Seinen Hof zu halten auf der Straßen, Weil unter des Himmels Angesicht Man immer besser und freier spricht. Er ließ sie da die höchsten Lehren 10 Aus seinem Heilgen Munde hören; Besonders durch Gleichnis und Exempel Macht' er einen jeden Markt zum Tempel.

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So schlendert' er in Geistesruh Mit ihnen einst einem Städtchen zu, Sah etwas Minsen auf der Straß, Das ein zerbrochen Hufeisen was. Er sagte zu Sankt Peter drauf: „Heb doch einmal das Hufeisen auf!" Sankt Peter war nicht aufgeräumt, Er hatte soeben im Gehen geträumt: So was vom Regiment der Welt, Was einem jeden wohlgefällt. Denn im Kopf hat das keine Schranken; Das waren so seine liebsten Gedanken. Nun war der Fund ihm viel zu Nein, Hätte müssen Kron und Zepter sein; Aber wie sollt er seinen Rücken Nach einem halben Hufeisen bücken? Er also sich zur Seite kehrt Und tut, als hätt er's nicht gehört.

Der Herr, nach seiner Langmut, drauf Hebt selber das Hufeisen auf Und tut auch Wetter nicht dergleichen.

Als sie nun bald die Stadt erreichen, 35 Geht er vor eines Schmiedes Tür, Nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür. Und als sie über den Markt nun gehen. Sieht er daselbst schöne Kirschen stehen. Kauft ihrer, so wenig oder so viel.

Goethe.

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40 Als man für einen Dreier geben will. Die er sodann nach seiner Art Ruhig im Ärmel aufbewahrt.

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Nun ging's zum andern Tor hinaus. Durch Wies und Felder ohne Haus, Auch war der Weg von Bäumen bloß; Die Sonne schien, die Hitz war groß. So daß man viel an solcher Stätt Für einen Trunk Wasser gegeben hätt. Der Herr geht immer voraus vor allen, Läßt unversehens eine Kirsche fallen. Sankt Peter war gleich dahinter her. Als wenn es ein goldner Apfel wär: Das Beerlein schmeckte seinem Gaum. Der Herr, nach einem kleinen Raum, Ein ander Kirschlein zur Erde schickt. Wonach Sankt Peter schnell sich bückt. So läßt der Herr ihn seinen Rücken Gar vielmal nach den Kirschen bücken. Das dauert eine ganze Zeit, Dann sprach der Herr mit Heiterkeit: „Tätst du zur rechten Zeit dich regen, Hättst du's bequemer haben mögen. Wer geringe Ding wenig acht. Sich um geringere Mühe macht."

29. Heideröslein. 1. Sah ein Knab ein Rös­ lein stehn, Röslein auf der Heiden, War so jung und morgenschön. Lief er schnell, es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden!

2. Knabe sprach: Ich breche dich, Röslein auf der Heiden! Röslein sprach: Ich steche dich, Dast du ewig denkst an mich, Und ich will's nicht leiden! Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden!

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Goethe.

3. Und der wilde Knabe brach 's Röslein auf der Heiden; RöSlein wehrte sich und stach. Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt es eben leiden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden!

30. Die Frösche. Ein grober Teich war zugefroren; Die Fröschlein, in der Tiefe verloren. Durften nicht ferner quaken noch springen. Versprachen sich aber, im halben Traum, 5 Fänden sie nur da oben Raum, Wie Nachtigallen wollten sie singen. Der Tauwind kam, das Eis zerschmolz. Nun ruderten sie und landeten stolz Und saßen am Ufer weit und breit 10 Und quakten wie vor alter Zeit.

81. Schweizerlied. 1. Ufm bergli bin i gesesse, Hä de vögle zugeschaut; Haut gesunge, hänt gesprunge, Hanta nestli gebaut. 2. In ä garte bin i gestände, Hä de imbli zugeschaut; Hänt gebrmnmet, hänt gesummet, Hänt zell! gebaut. 3. Uf d’ wiese bin i gange, Lugs i summervögle ä; Hänt gesoge, hänt gefloge, Gar z’ schön hänt's getan.

Goethe.

4. Und Wie Und

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Und da kommt nn der Hansel, da zeig i em froh. sie’s mache, und mer lache mache's an so.

32, Der Zauberlehrling. 1. „Hat der alte Hexen­ meister Sich doch einmal wegbegebm! Und nun sollen seine Geister Auch nach meinem Willen leben. Seine Wort' und Werke Merkt ich und den Brauch, Und mit Geistesstärke Tu ich Wunder auch. Walle! walle Manche Strecke, Daß, zum Zwecke, Wasser fließe Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße! 2. Und nun komm, du alter Besen, Nimm die schlechten Lumpen­

hüllen ! Bist schon lange Knecht gewesen; Nun erfülle meinen Willen! Auf zwei Beinen stehe. Oben sei ein Kopf! Eile nun und gehe Mit dem Wassertopf! Walle! walle Manche Strecke, Daß, zum Zwecke,

Wasser fließe Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße!

3. Seht, er läuft zum Ufer nieder; Wahrlich! ist schon an dem Flusse, Und mit Blitzesschnelle wieder Ist er hier mit raschem Gusse. Schon zum rweitenmale! Wie das Becken schwillt! Wie sich jede Schale Boll mit Wasser füllt! Stehe! stehe! Denn wir haben Deiner Gaben Bollgemessen! — Ach, ich merk es! wehe! wehe! Hab ich doch das Wort ver­ gessen! 4. Ach, das Wort, worauf am Ende Er das wird, was er gewesen. Ach, er läuft und bringt behende! Wärst du doch der alte Besen! Immer neue Güsse Bringt er schnell herein. Ach! und hundert Flüsse Stürzen auf mich ein.

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Nein, nicht länger Kann ich's lassen; Will ihn fassen. Das ist Tücke! Ach! nun wird mir immer bänger! Welche Miene!, welche Blicke!

5. O, du Ausgeburt der Hülle! Soll das ganze Haus ersaufen? Seh ich über jede Schwelle Doch schon Wasserströme laufen. Ein verruchter Besen, Der nicht hören will! Stock, der du gewesen. Steh doch wieder still! Willst am Ende Gar nicht lassen? Will dich fassen. Will dich halten Und das alte Holz behende Mit dem scharfen Beile spalten!

6. Seht, da kommt er schleppend wieder! Wie ich mich nur auf dich werfe, Gleich, o Kobold, liegst du nieder; Krachend trifft die glatte Schärfe. Wahrlich! brav getroffen!

Seht, er ist entzwei! Und nun kann ich hoffen. Und ich atme frei. Wehe! wehe! Beide Teile Stehn in Eile Schon als Knechte Völlig fertig in die Höhe! Helft mir, ach! ihr hohen Mächte!

7. Und sie laufen! naß und nässer Wird's im Saal und auf den Stufen. Welch entsetzliches Gewässer! Herr und Meister! hör mich rufen! — Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist grob: Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los." „In die Ecke, Besen! Besen! Seid's gewesen. Denn als Geister Ruft euch nur zu seinem Zwecke Erst hervor der alte Meister."

33. Der getreue Eckart. 1. „O, wären wir wefter! o, wär ich zu Haus! Sie kommen, da kommt schon der nächtliche Graus; Sie sind's, die unholdigen Schwestern. Sie streifen heran, und sie finden uns hier, Sie trinken das mühsam geholte, das Bier, Und lassen nur leer uns die Krüge."

Goethe.

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2. So sprechen die Kinder und drücken sich schnell; Da zeigt sich vor ihnen ein alter Gesell: „Nur stille, Kind! Kinderlein, stille! Die Hulden, sie kommen von durstiger Jagd, Und laßt ihr sie trinken, wie's jeder behagt. Dann sind sie euch hold, die Unholden."

3. Gesagt — so geschehn! und da naht sich der Graus Und siehet so grau und so schattenhaft aus. Doch schlürft es und schlampst es aufs beste. Das Bier ist verschwunden, die Krüge sind leer; Nun saust es und braust es, das wütige Heer, Ins weite Gctal und Gebirge. 4. Die Kindcrlein ängstlich gen Hause so schnell! Gesellt sich zu ihnen der stomme Gesell: „Ihr Püppchen, nur seid mir nicht traurig!" „Wir kriegen nun Schelten und Streich bis aufs Blut." „Nein, keineswegs, alles geht herrlich und gut. Nur schweiget und horchet wie Mäuslein!

6. Und der es euch anrät, und der es befiehlt. Er ist es, der gern mit den Kindelein spielt, Der aste Getreue, der Eckart. Vom Wundermann hat man euch immer erzählt. Nur hat die Bestätigung jedem gefehlt. Die habt ihr nun köstlich in Händen." 6. Sie kommen nach Hause, sie setzen den Krug Ein jedes den Eltern bescheiden genug Und harren der Schläg und der Schelten. Doch siehe, man kostet: „Ein herrliches Bier!" Man trintt in die Runde schon dreimal und vier, Und noch nimmt der Krug nicht ein Ende.

7. Das Wunder, es dauert zum morgenden Tag; Doch staget, wer immer zu fragen vermag: „Wie ist's mit den Krügen ergangen?"

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Goethe.

Die Mäuslein, sie lächeln, im stillen ersetzt; Sie stammeln und stottern und schwatzen zuletzt. Und gleich sind vertrocknet die Krüge. 8. Und wenn euch, ihr Kinder, mit treuem Gesicht Ein Bater, ein Lehrer, ein Aldermann spricht. So horchet und folget ihm pünktlich! Und liegt auch das Zünglein in peinlicher Hut, Verplaudern ist schädlich, verschweige» ist gut; Dann füllt sich das Bier in den Krügen.

34. Der Sänger. 1. „Was hör ich draußen vor dem Tor, Was auf der Brücke schallen? Laß den Gesang vor unserm Ohr Im Saale wiederhallen!" Der König sprach's, der Page lief; Der Knabe kam, der König rief: ,Laßt mir herein den Alten!" 2. „Begrüßet seid mir, edle Herrn, Gegrüßt ihr, schöne Damen! Welch reicher Himmel! Stern bei Stern! Wer kennet ihre Namen? Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit Schließt, Augen, euch! hier ist nicht Zeit, Sich staunend zu ergötzen."

3. Der Sänger drückt' die Augen ein Und schlug in vollen Tönen; Die Ritter schauten mutig drein Und in den Schoß die Schönen. Der König, dem das Lied gefiel. Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel, Eine goldne Kette reichen. 4. „Die goldne Kette gib mir nicht. Die Kette gib den Rittern,

Goethe.

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Bor deren kühnem Angesicht Der Feinde Lanzen splittern! Gib sie dem Kanzler, den du hast. Und laß ihn noch die goldne Last Zu andern Lasten tragen! 5. Ich singe, wie der Bogel singt. Der in den Zweigen wohnet; . Das Lied, das aus der Kehle dringt. Ist Lohn, der reichlich lohnet. Doch, darf ich bitten, bitt ich eins: Laß mir den besten Becher Weins In purem Golde reichen!" 6. Er setzt' ihn an, er trank ihn aus: „O, Trank voll süßer Labe! O, wohl dem hochbeglückten Haus, Wo das ist kleine Gabe! Ergeht's euch wohl, so denkt an mich Und danket Gott so warm, als ich

Für diesen Trunk euch danke."

35. Erlkönig. 1. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Baler mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. 2. „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?" „Siehst, Datei, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?" „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif."

3. „Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand."

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Goethe.

Greif.

4. „Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht. Was Erlenkönig mir leise verspricht?" „Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind! In dürren Blättern säuselt der Wind." 5. „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein." 6. „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort?" „Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau."

7. „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." „Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan!" 8. Dem Vater grauset's, er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot.

Martin Greif. 86. An Deutschland (1870). 1. Sei gegrüßt, du Heldenwiege, Land der Milde, Land der Kraft! Stets erringe neue Siege, So im Frieden, so im Kriege, Durch den Geist, der in dir schasst!

2. Ehre deinem greisen Helden, Den das Reich zur Macht gekürt. Der, gestärkt vom Herrn der Welten, Treu mit Treue zu vergelten. Hohen Sinns das Zepter führt!

47

Greif.

3. Deine Fürsten, wohlberaten. Ruhn im Schirme seiner Hand, Und sie segnen seine Taten, Wenn sie über reiche Saaten Schauen in ihr glücklich Land. 4. Wohl ergeh es deinen Stämmen, Die ihr freies Feld bebaun. Von der Alpen wilden Kämmm Zu der Marschen letzten Dämmen, Gott mit allen deutschen Gaun!

5. Er behüte deine Masten, Die auf schwanker Woge gehn. Wo die fernsten Schiffe rasten. Einzutauschen fremde Lasten, Laß auch deine Wimpel wehn! 6. Ruhm bedecke deine Heere, Deiner Marken trutzgen Wall! Hort des Friedens, Hort der Ehre, Durch die Länder, durch die Meere Gehe deines Namens Schall!

• 37. Der fromme Hirtenknabe. 1. In einem Kirchlein knieet Ein Hirte alle Früh, Indes ihm droben ziehet Die Herde auf der Flüh.

2. Und während er zu beten Enteilt ins tiefe Tal, Ist für ihn hingetreten Ein Fremdling jedesmal. 3. An« Der Die

Der fromme Altar sorglos lichte Hirt am einsame Herde

Hirtenknabe kniet. Stabe hüt.

48

Greif.

38. Das Streitholz. 1. Hier Noch Und

Hier ist der Kam- der Klage, ist der Römer Grund, lebt im Volk die Sage geht von Mund zu Mund,

2. Daß hier einst ward gerungen In einer langen Schlacht, Bevor sie ward bezwungen. Der Fremden stolze Macht. 3. Von manchem Totenraine

Ist noch die Spur zu schaun. Auch webt vom Götterhaine Noch im Gehölz ein Graun. 5. Des Spechtes schallend Hämmern Gleich Streichen dringt ans Ohr, Der Strom in feuchtem Dämmern Rauscht manchmal wild empor. 5. Die Die Zur

Sonst herrscht geheimes Schweigen Ufer auf und ab, — alten Helden steigen Nacht aus ihrem Grab.

39. Der Königsstuhl zu Rhense. (18. Januar 1871.)

1. Bist du dahin geschwommen Auf mondbeglänztem Rhein? Sahst du die Schlösser kommen Und schwinden im Abendschein? 2. Sahst du wohl aufgerichtet Den Königsstuhl so hehr. Daran vorbeigeflüchtet Der Wellen viel ins Meer? 3. Daran vorbeigeflogen Viel Traumesherrlichkeit,

Greif.

Groth.

49

Daran vorbeigezogen Die Helden mancher Zeit? 4. Sahst du das Banner wehen. Das lang uns fehlet schon? Sahst du die Fürsten stehen. Geschart um einen Thron? 6. Sahst du's auch droben blitzen Als wie von Schwert und Schild Und mit der Krone sitzen Ein thronend Kaiserbild? 6. Wohl — jüngst bin ich gefahren Vorbei dem" hehreir Sitz Und sah sich alle scharen Um einer Krone Blitz. 7. Wohl sah ich's droben leuchten Bon blankem Schild und Schwert, Die Männer ringsum däuchten Mir kühn und ehrenwert.

8. Ich sah sie einem lauschen. Das muß der Kaiser sein — Es floß in stolzem Rauschen Vorüber der deutsche Rhein.

Klaus Groth.

40. Matten Hfts. 1. Lütt Matten de häs, De mäk sik en späß, He w6r bi’t studßrn, Dat danzen to lern Und danz ganz allen Op de achtersten b6n. Hessel und Ufer, Lesebuch 6.

2. Kem Reinke de voß Und dach: „Das en kost!“ Un seggt: „Lüttje Matten, So flink oppe padden? Un danzst hier allein Oppe achtersten b6n? M.4

3. Kumm, lat uns tosam! Ik kann as de dam! De krei, de sp61t fttel, Denn gelt dat canditel, Denn gelt dat mal schon Op de achtersten den!"

4. Lütt Matten gev pöt, De voß hüt em döt Un sett sik in schatten, Verspfe de lütt Matten: De krei, de krüg en Vun de achtersten den.

Friedrich Güll. 41. Frühling. (In oberbairischer Mundart.)

1. Da schnü is zerschlicha, Und brocha is 's eis, Scho blüh is da" himmi, Und’s gwölk is wie silba so weiß.

2. Die lercherln im acker, Die schwalberln im haus, Und die veigerln im garten: Ich kenn mt vor freud nimm! aus!

42. Rätsel. 1. Im Hof und im Haus, Vom Holz und vom Stein, Nur immer heraus Und nimmer hinein! 2. Sag einmal: wie heißt das Pferd? Keinen Heller ist es wert. Auf dem Felde in großen Haufen Hüpft's und springt's, doch kann's nicht laufen.

3. Es tritt mich manche Stunde Des Müßiggängers Fuß,

LI

Süll. Und doch heil ich die Wunde

Von Stoß und Hieb und Schuß,

4. Auf Mit Und Hört

runden Füßen steht sie. sechzehn Beinen geht sie.

wenn sie blitzig wird und schreit. man sie zwanzig Stunden weit.

5. Wer es hat, dem macht es Sorgen, Wer's nicht hat, entbehrt es schwer, Hat er's nicht, so muß er's borgen. Hat er's, gibt er's wieder her.

6; Mit Mit Mit Mit

Feuer mach ich viele wund. Wasser viele auch gesund. Feuer mach ich bleich und tot. Wasser frisch und lebensrot.

7. Heute muß er stützen. Morgen muß er schützen, übermorgen strafen. Wer kennt diesen Sklaven?

8. Wer ist der mit dem Spatzenfrack? Hat keinen Pfennig Geld im Sack, Hat keine Strümps und keine Schuh, Heißt Philipp. Nun, wen meinst wohl du?

9. Der Hat Und Nur

arme Tropf einen Hut und feinen Kopf hat dazu einen Fuß und keinen Schuh. 4*

Güll.

62

Hebel.

10.

Grüne Federn auf dem Hut Und ein weiß und rotes Kleid,

Alles steht ihr hübsch und gut. Braucht sonst weiter lein Geschmeid. 11.

Ich hüpf hervor aus flinker Hand Von einer Wand zur andern Wand Und spring bis an die Decke. Doch hüpf und spring ich noch so toll. Gleich lieg ich wieder, wenn ich soll. Ganz ruhig in der Ecke.

12. Ein Schütze ohne Büchse, Ohne Pulver, ohne Schrot, Schiebt 26 Füchse Und schießt sie doch nicht tot. Er schiebt sie alle Tage, Dab es nur so blitzt und kracht; Wie heibt der Schütz, das sage. Und sag auch, wie er's macht.

Johann Peter Hebel. 43. DaS Habermus. Also dar HabermuS wir fertig; kommt, Kinder, und esset! Betet:

„Aller Augen" — und gebt mir ordentlich Achtung,

Daß nicht eines am rußigen Topf den Ärmel sich schwarz macht.

Esset denn, gesegn eS euch Gott; und wachst und gedeihet! 6 Sehet, die Haberkörnchen, die hat der Later gesäet

Zwischen die Furchen mit fleißiger Hand

und geegget im

Frühjahr.

53

Hebel. Wer, daß es da-wuchs und reif geworden, dafür kann Euer Bater nicht, das tut der Vater im Himmel.

Denkt euch nur, ihr Kinder, es schläft im mehligen Körnchen 10 Klein und zart ei» Keimchen, nicht rührt, nicht regt ZS darin sich.

Nein, eS schläft und sagt kein Wort und ißt nicht und trinkt nicht. BiS in den Furchen eS liegt da draußen im lockeren Boden, Wer dort in den Furche» — es ist so feucht und so warm drin —

Wacht es.heimlich.auf

aus seinem verschwiegenen Schlafe,

15 Streckt die Gliederchen aus und saugt am saftigen Körnchen, Just wie ein Mutterkind, es fehlt nur, daß eS nicht weinet.

Mit der Zeit wird's größer und heimlich schöner und stärker.

Schlüpft aus seinen Windeln und streckt sein Würrelche» nieder Tief hinab in den Grund und sucht und findet die Nahrung.

20 Ja, und die Neugier sticht's; gar gern auch möcht eS erfahren,

Wie'S denn da oben wohl wefter ist. Ganz heimlich und furchtsam Guckt eS rum Bode» heraus — der tausend! das will ihm

gefallen! — Unser lieber Herrgott der schickt ein Engelchen nieder:

„Bring ihm ein Tröpfchen Tau und sag ihm fteundlich

Willkommen!" 25 Und eS trinkt, und eS schmeckt ihm so wohl, und es streckt sich

behaglich. Derweil kämmt sich die Sonne, und sauber gekämmt und ge­ waschen

Kommt mit dem Strickzeug sie hervor aus den Bergen gegangen.

Wandelt ihren Weg

hoch an der himmlischen Landstrab,

Strickt und sieht herab,

30 Nach den Kindern sieht.

gleichwie eine freundliche Mutter Sie lacht dem Keimchen entgegen.

Und das tut ihm so wohl bis tief an die Wurzeln herunter.

„Solche schöne Frau

und doch so

gütig und freundlich!"

Mer was strickt sie denn nur? Gewölk aus himmlischen Düsten. Da! schon tröpfelt's, ein Spritzerchen kommt, darauf regnet eS

35 Keimchen

trinkt sich satt.

tüchtig; Darauf weht ein Lüstchen und

trocknet's. Und eS sagt: „Jetzt kriech ich auch nie mehr unter den Boden,

Nein, um keinen Preis! Da bleib ich, geh'S, wie es gehn mag!" Esset, Kinder, gesegn es euch Gott, und wachst und gedeihet!

Hebel.

54 Schwere Zeiten warten

aufs Keimchen, Wollen an Wollen

40 Stehn am Himmel Tag und Nacht, und die Sonne versteckt sich. Auf den Bergen fchneit es, und weiter nach unten zu hagelt's.

und wimmert mein Keimchen,

Hu l huhu 1 wie klappert doch jetzt

Und der Boden ist zu, und es hat gar kümmerlich Nahrung.

,Lst denn die Sonne tot," so Nagt eS, „daß sie nicht da ist? 45 Oder fürchtet auch sie vor der Kälte sich? Wär ich geblieben.

Wo ich sonst war, still

und Nein im mehlige» Körnchen,

Und daheim im Boden, es war so feucht und so warm drin!"

Seht ihr, Kinder, so geht's! ihr werdet noch auch so sprechen. Wenn aus dem HauS ihr kommt

und unter den fremden Gesichtern

50 Schaffen müßt und euch Plagen

und Zeug und Brot euch verdienen:

„Wär ich daheim beim Mütterchen doch und hinter dem Ofen!" Tröst euch Gott! Auch das hat ein End, einmal wird es besser.

Wie'- dem Keimchen auch

erging.

Am heiteren Maitag

Weht eS so lau, und die Sonne, sie steigt so kräftig vom Berg auf

55 Und sieht nach, was das Keimchen macht, und gibt ihm ein Schwätzchen; Ja, da ist ihm wohl,

und es weiß sich vor Lust nicht zu lassen.

Und schon' prangen die Wiesen

mit Gras und farbigen

Blumen, Und schon duftet die Kirschenblüt,

und eS grünet der

Pflaumbaumr

Und schon schießt in die Höh

der Roggen und Weizen und

Gerste, 60 Und mein Haberchen sagt:

„Da bleib ich gewiß nicht da­ hinten !"

Nein, eS spreitet die Blätterchen aus — wer hat sie gewoben? Und jetzt schießt der Halm — wer treibt durch Röhren

an Röhren BiS in die saftige Spitze hinauf aus den Wurzeln das Wasser? Endlich, da schlüpft ein Ährchen heraus

und schwankt in

den Lüsten — 65 Sag mir doch ein Mensch,

wer hat an seidene Fäden

Hier ei» Knöspchen gehängt und dort mit künstlichen Händen?

Nu, die Engel, wer sonst? sie wandeln zwischen den Furchen

es

Hebel.

Auf und ab von Halm »u Halm, und schaffen so emsig: Jetzt hängt Blüt an Blüt am »arten, schwankenden Ährchen,

70 Und mein Haber steht, so steht ein Bräutchen im Kirchstuhl.

und wachsen im Stillen,

Jetzt sind »arte Körner darin

allmählich, was er will werden.

Und mein Haber, er merkt

Käfer kommen und Fliege», sie machen ihm ihre Visiten,

Sehen zu, was er macht, und singen: Eia popeia!

75 Und das Johanniswürmchen, ei ja! kommt mit dem Laternchen wenn die Fliegen schon

Nachts um neun auf Abendbesuch,

schlafen.

Eßt, ihr Kinder, gesegn es euch Gott,

und wachst und

gedeihet! Seitdem hat man geheut

»ach Pfingsten und Kirschen gepflücket.

Seitdem hat man Pflaumen

gelesen hinter dem Garten,

80 Seitdem haben sie Roggen geschnitten und Weizen und Gerste,

Und die armen Kinder,

die haben gelesen die Ähren

Barfuß »wischen den Stoppeln;

geholfen hat ihnen daS Mäuschen.

Drauf ist auch der Haber gebleicht.

Hat ix geschwankt und gesagt:

Boll mehliger Körner

„Jetzt wird mir'S allmählich verleidet,

85 Um ist meine Zeit, ich merk'S; waS tu ich allein da

und »wischen den lieben Rat-

Zwischen den Stoppelrüben

toffeln?" Draus ist die Mutter hinaus und Euphrosinchen und Evchen. An den Fingern fror'S einen schon

des Morgen» und Abend».

Endlich brachten wir ihn, und in der staMgen Scheuer 90 Ward er gedroschen von früh um -wei

bi» abend» um vier«.

Draus ist de» Müllers Esel gekommen und hat ihn zur Mühle Abgeholt und wiedergebracht,

Und mit fetter Milch

»ermahlen in Körnchen,

von der jungen, fleckigen Blässe

Hat in dem Topf ihn die Mutter gekocht. — Gelt, Kinder, 95 Wischet die Löffel ab und bet eins:

das schmeckte! Danket dem Herren!

Und jetzt geht in die Schul, da hängt am Gesimse die Tasche. Fall mir keins, gebt acht,

und lernt hübsch, was man euch

aufgibt!

Wenn au» der Schul ihr kommt, da gibt e» gebackene Pflaumen.

44. Das Spinnlein. 1. Nei, lueget doch das spinnli ä, Wie’a zarti fade zwirne chä! Bäs gvatter, meinsch, chäsch’s au ne so? De wirsch mess, traui, hübe Id, Es macht's so subtil und so nett» I wott nit, aß i’s z*hasple hatt.

2. Wo het’s di ftni rlste g’nö, Bi wellem meister hechle 16? Meinsch, wemme ’s wußt, wol mengi frau Sie wär so gscheit und holt! au! Jez lueg mer, wie’s st füeßli setzt Und d’ermel streikt und d’finger netzt

3. Es zieht e lange fäden Üs, Es spinnt e bruck ans ndchbers hüs, Es baut e landstrdß in der lüft, Morn hangt si scho voll morgeduft, Es baut e fueßweg nebe drä, ’s isch, aß es 6ne düre chä. 4. Es spinnt und wandlet uf und ab, Potz tausig, im galopp und trab! — Jez g6fs ringsum, was beseh, was gisch! Siehsch, wie ne ringli worden isch! Jez schießt es zarti faden t, Wird’s öbbe solle gwöbe st? 6. Es isch verstünt, es haltet still, Es weiß nit recht, wo ’s äne will, ’s göt Wäger z'ruck, i sieh’s em ä; ’s mueß naumis rechts vergesse hä. Zw6r denkt es: „Sell pressiert jo nit, I halt mi nummeri uf dermit.“

6. Es spinnt und webt und bet kei rast So glichlig, me verluegt si fast.

Hebel.

44. Das Spinnlein. (Übeaeetxung von Eohtenneyer.)

1. Seht doch einmal das Spinnlein an, Wie’s zarte Fäden zwirnen kann! Gelt, Base, das verstehst du nicht! Ich sag es dreist dir ins Gesicht. Es macht's so niedlich und so nett, Möcht nicht, daß ich’s zu haspeln hätt. 2. Wo nahm’s den Flachs so zart und fein? Bei wem mag er gehechelt sein? Gar manche Frau, das glaube mir, Ging auch dahin, wenn man’s erfuhr. Jetzt sieh mir, wie’s sein Füßchen setzt» Den Ärmel streift, die Finger netzt 3. Jetzt zieht’s den langen Faden aus, Spinnt eine Brück an Nachbars Haus, Baut eine Landstraß in die Luft Die morgen hängt voll Morgenduft, Baut einen Fußweg neben dran, Daß hier und da es wandeln kann. 4. Es spinnt und wandelt auf und ab, Potz tausend, im Galopp und Trab! Jetzt geht’s ringsum — wo an, wo aus? Nun bildet sich ein Ringlein draus; Jetzt schießt es zarte Fäden ein: Sollt’s etwa gar gewoben sein?

5. Jetzt ist’s erstaunt, jetzt hält es still Und weiß nicht recht, wohin es will; Es geht zurück, man sieht’s ihm an, Was Wichtges fehlt ihm noch daran. Doch denkt’s: „Es hat damit nicht Eil, Lohnt nicht, daß ich dabei verweil.“

6. Es spinnt und webt und hat nicht Rast, Allüberall, man staunet fast.

57

Und ’s pfärers Christoph het no gseit, ’s seig jede fade zennne gleit. Es mueß ein gtiti äuge hä, Wer’s zälen und erchenne chä.

7. Jez putzt es sini hähdli ab, Es stdt und haut der faden ab. Jetzt sitzt es in si sommerhüs Und luegt die lange strdßen äs. Es seit: „Me baut si halber z’töd, Doch freut’s ein au, wenn ’s hüsli- stöt.“ 8. In freie lüfte wogt’s und schwankt’s, Und an der liebe sunne hangt’s; Si schtnt ipr frei durch d’beinli där, Und ’s isch em w61. In seid und flür Sieht ’s mückli tanze jung und feiß; ’s denkt binem selber: „Hätti eis!“ 9. 0 tierli, wie hesch mi verzückt! Wie bisch so chlei und doch so gschickt! Wer het di au di Sache glärt? Denkwol, der, wonis alli nert, Mit milde bänden alle git, Bis z’frtden! er vergißt di nit.

10. Do chunnt e fliege, nei, wie dumm! Sie rennt em schier gar 's hüsli um, Sie schreit und winslet wä und ach! Du arme chetzer hesch di sach! Hesch kein! äuge bi der g’hä? Was gön di tisi Sachen ä? 11. Lueg, ’s spinnli merkt’s enandernd, Es zuckt und springt und het si schd. Es denkt: „I ha viel arbet ghä, Jez mueß i au ne brötis hä!“ I sag’s jo, der wo alli git, Wenn’s zit isch, er vergißt ein nit.

Des Pfarrers Hans sagt obendrein, Zehnfach soll jeder Faden sein; Doch glaub ich’s nicht; denn sagt mir an, Wes Aug es sehn und zählen kann!

7. Jetzt putzt es seine Händchen ab, Steht still und haut den Faden ab. Jetzt sitzt’s in seinem Sommerhaus, Schaut auf die lange Straß hinaus; Es spricht: „Man baut sich halb zu Tod; Doch steht das Haus, ist all die Not.“ 8. Es wogt und schwankt in freier Luft, Im Sonnenstrahl, im weichen Duft, Und jeder Strahl umspielt es frei — Dem, Spinnlein ist so wohl dabei. Es sieht dem Tanz der Mücklein zu Und denkt sich: „Käm doch eins herzu!“ 9. 0 Tierlein, hast mein Herz entzückt; So klein und dennoch so geschickt ! Wer hat dich solche Kunst gelehrt? Ich denk: Er, der uns alle nährt, Der mild und gnädig alle liebt Und, glaubt’s, auch dir dein Teilchen gibt. 10. Sieh da die Fliege! Nein, wie dumm! Sie rennt ihm fast das Häuschen um. Nun fleht und schreit sie Weh und Ach! Ja, Ketzerin, du treibst’s darnach! Mit offnen Augen muß man sehn Und nie in fremde Grenzen gehn.

11. Schau nur! das Spinnlein merkt’s geschwind, Es zuckt, es springt — hat’s wie der Wind Und denkt: „Ich hatte Müh und Not, Nun schmeckt mir auch mein Abendbrot.“ Drum sag ich ja: Zur rechten Frist Sorgt Gott, der keinen je vergißt

60

Hebel.

45. Sommerlied. 1. Blaue Berge! Bon den Bergen strömt das Leben: Reine Luft für Mensch und Vieh, Wasserbrünnlein spat und früh Müssen uns die Berge geben.

2. Frische Matten! Grüner Klee und Dolden schießen; An der Schwele schlank und fein Glänzt der Tau wie Edelstein, Und die klaren Bächlein fließen. 3. Schlanke Bäume! Muntrer Bögel Melodeien Tönen im belaubten Reis, Singen laut des Schöpfers Preis; Kirsche, Birn und Pflaum gedeihen. 4. Grüne Saaten! Aus dem -arten Blatt enthüllt sich Halm und Ähre, schwanket schön. Wenn die milden Lüste wehn. Und das Körnlein wächst und füllt sich.

5. An dem Himmel Strahlt die Sonn im Brautgeschmeide; Weiße Wölklcin steigen auf, Ziehn dahin int stillen Lauf: Gottes Schäflein gehn zur Weide. 6. Herzensfrieden, Woll ihn Gott uns allen geben! O, dann ist die Erde schön. In den Gründen, auf den Höhn Wacht und singt ein frohes Leben.

7. Schwarze Wetter überziehn bett Himmelsbogen,

fcebel.

Und der Vogel singt nicht mehr. Winde brausen hin und her. Und die wilden Wasser wogen.

8., Rote Blitze Zucken hin und zucken wieder, Leuchten über Wald und Flur, Bange harrt die Kreatur; Donnerschläge stürzen nieder. 9. Gut Gewissen, Wer es hat, und wer's bewachet. In den Blitz vom Weltgericht Schaut er und erbebet nicht. Wenn der Grund der Erde krachet.

46. Der Winter. In- Hochdeutsche übertragen von Robert Reinick.

1. Wer hat die Baumwoll oben feil? Sie schütten schott ein redlich Teil Ins Feld herunter Und aufs Haus. Es schneit doch auch, es ist ein Graus; Noch hängen ganze Säcke voll Am Himmel da, ich merk es wohl!

2. Und wo ein Mann von weitem lauft. Hat von der Baumwoll er gekauft. Er trägt sie auf den Achseln schon Und auf dem Hut und läuft davon. Was läufst du so, du närrscher Wicht? Gestohlen hast du sie doch nicht? 3. Und Gärten ab und Gärten auf Hat jeder Pfahl sein Käppel auf; Sie stehn wie Herren rings umher.

Denkt jeder wunder was er wär; Der Nußbaum auch macht's ihnen nach Und auch das Schloß und Kirchendach.

61

62

Hebel.

4. Ja, Schnee und Schnee! Und ringsumher Man sieht nicht Straß noch Fußweg mehr. Manch Samenkörnchen klein und zart Liegt unterm Boden wohl verwahrt, Und schneit's, so lang es schneien mag. Es harrt aus seinen Ostertag.

5. Manch Schmetterling von schöner Art Liegt unterm Boden wohl verwahrt; Hat keinen Kummer, keine Klag Und harrt auf seinen Ostertag. Währt es auch lang, er kommt ja doch. Bis dahin schläft's in Frieden noch. 6. Doch wenn die Schwalb im Frühling singt. Die Sonne warm das Land durchdringt, Hei, da erwacht's in jedem Grab Und streift sein Totenhemdchen ab. Und wo sich nur ein Löchlein zeigt. Schlüpft Leben raus, so jung und leicht.

7. Da fliegt ein hungrig Spätzchen her. Ein Bissel Brot wär sein Begehr; Es sieht dich an so jämmerlich Und bittet um ein Bröckchen dich. Gelt, Bürschchen, das ist andre Zeit, Wenn's Korn in alle Furchen streut! 8. Bist Ja, Sie Sie Und

Da hast! Gib andern auch was her. hungrig, komm hübsch wieder her! wahr ist, was das Sprüchlein spricht: säen nicht, sie ernten nicht, haben keinen Pflug, kein Joch, Gott im Himmel nährt sie doch.

Seine.

Heinrich Heine. 47. velsazer. 1. Die Mitternacht zog näher schon; In stummer Ruh lag Babylon. 2. Nur oben in des Königs Schloß, Da flackert's, da lärmt des Königs Troß. 3. Dort oben in dem Königssaal Belsazer hielt sein Königsmahl. 4. Die Knechte saßen in schimmernden Reihn Und leerten die Becher mit funkelndem Wein. 6. Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht'; So klang es dem störrigen Könige recht.

6. Des Königs Wangen leuchten Glut; Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.

7. Und blindlings reißt der Mut ihn fort. Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort. 8. Und er brüstet sich frech und lästert wild; Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt. 9. Der König rief mit stolzem Blick; Der Diener eilt' und kehrt' zurück10. Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt, Das war aus dem Tempel Jehovahs geraubt. 11. Und der König griff mit frevler Hand Einm heiligen Becher, gefüllt bis zum Rand.

12. Und er leert ihn hastig bis auf den Grund Und rufet laut mit schäumendem Mund: 13. „Jehovah, dir künd ich auf ewig Hohn! — Ich bin der König von Babylon!" 14. Doch kaum das grause Wort verllang. Dem König ward's heimlich im Busen bang. 16. Das gellende Lachen verstummte zumal; Es wurde leichenstill im Saal.

64

Heine.

16. Und sieh! und sieh! an weißer Wand, Da kam's hervor, wie Menschenhand, 17. Und schrieb und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.

18. Der König stieren Blicks da saß. Mit schlotternden Knieen und totenblaß. 19. Die Knechtenschar saß kalt durchgraut

Und saß gar still, gab keinen Laut. 20. Die Magier kamen, doch keiner verstand

Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.

21. Belsazer ward aber in selbiger Nacht Bon seinen Knechten umgebracht.

48. Auf dem Hardenberge. 1. Steiget auf, ihr alten Träume!

Offne dich, du Herzenstor!

Liederwonne, Wehmutstränen Ströme» wunderbar hervor.

2. Durch die Tannen will ich schweifen. Wo die muntre Quelle springt. Wo die stolzen Hirsche wandeln. Wo die liebe Drossel singt.

3. Auf die Berge will ich steigen.

Auf die schroffen Felsenhöhn, Wo die grauen Schloßruinen

In dem Morgenlichte stehn. 4. Droben setz ich still mich nieder Und gedenke alter Zeit, Alter, blühender Geschlechter

Und versunkner Herrlichkeit.

6. Gras bedeckt jetzt den Turnierplatz, Wo gekämpst der stolze Mann,

Der die Besten überwunden Und des Kampfes Preis gewann.

65

Heine.

6. Efeu rankt an dem Ballone, Wo die schöne Dame stand. Die den stolzen Überwinder Mit den Augen überwand. 7. Ach! den Sieger und die Siegrin Hat besiegt des Todes Hand — Jener dürre Sensenritter Streckt nns alle in den Sand.

49. Schelm von Bergen. 1. Im Schloß zu Düsseldorf am Rhein Wird Mummenschanz gehalten; Da flimmern die Kerzen, da rauscht die Musik, Da tanzen die bunten Gestalten. 2. Sie Ihr Gar

Da tanzt die schöne Herzogin, lacht laut auf beständig; Tänzer ist ein schlanker Fant, höfisch und behendig.

3. Er trägt eine Maske von schwarzem Samt, Daraus gar freudig blicket Ein Auge, wie ein blanker Dolch, Halb aus der Scheide gezücket.

4. Es jubelt die Fastnachtsgeckenschar, Wenn jene vorüberwalzen. Der Drickes und die Marizzebill Grüßen mit Schnarren und Schnalzen. 5. Der Bis Und

Und die Trompeten schmettern drein. närrische Brummbaß brummet. endlich der Tanz ein Ende nimmt die Musik verstummet.

6. „Durchlauchtigste Frau, gebt Urlaub mir. Ich muß nach Hause gehen —" Hessel und Ufer, Lesebuch 6.

M.5

66

Heine.

Die Herzogin lacht: „Sdj laß dich nicht fort. Bevor ich dein Antlitz gesehen." 7. „Durchlauchtigste Frau, gebt Urlaub mir. Mein Anblick bringt Schrecken und Granen" — Die Herzogin lacht: ,Lch fürchte mich nicht. Ich will dein Antlitz schauen."

8. „Durchlauchtigste Frau, gebt Urlaub mir. Der Nacht und dem Tode gehör ich —" Die Herzogin lacht: „Ich lasse dich nicht. Dein Antlitz zu schauen begehr ich."

9. Das Sie Die

Wohl sträubt sich der Mann mit finsterm Wort, Weib nicht zähmen kunnt er; riß zuletzt ihm mit Gewalt Maske vom Antlitz herunter.

10. „Das Entsetzt die Und weichet Stürzt fort

ist der Scharfrichter von Bergen!" so schreit Menge im Saale scheusam — die Herzogin zu ihrem Gemahle.

11. Der Herzog ist klug, er tilgte die Schmach Der Gattin auf der Stelle. Er zog sein blankes Schwert und sprach: „Knie vor mir nieder, Geselle! 12. Mit diesem Schwertschlag mach ich dich Jetzt ehrlich und ritterzünftig. Und weil du ein Schelm, so nenne dich Herr Schelm von Bergen künftig!" 13. So ward der Henker ein Edelmann Und Ahnherr der Schelme von Bergen. Ein stolzes Geschlecht! es blühte am Rhein, Jetzt schläft es in steinernen Särgen.

Herder.

Johann Gottfried von Herder. S0. Erlkönigs Tochter. Herr Oluf reitet spät und weit. Zu bieten auf seine Hochzeitsleut; Da tanzen die Elfen auf grünem Land, Erlkönigs Tochter reicht ihm die Hand. 5 „Willkommen, Herr Oluf, was eilst von hier? Tritt her in den Reihen und tanz mit mir!" „Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag, Frühmorgen ist mein Hochzeittag." „Hör an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir! 10 Zwei güldne Sporen schenk ich dir; Ein Hemd von Seide so weiß und fein. Meine Mutter bleicht's mit Mondenschein." „Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag, Frühmorgen ist mein Hochzeittag." 15 „Hör an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir! Einen Haufen Goldes schenk ich dir." „Einen Haufen Goldes nähm ich wohl; Doch tanzen ich nicht darf noch soll." „Und willt, Herr Oluf, nicht tanzen mit mir, 20 Soll Seuch und Krankheit folgen dir!" Sie tät einen Schlag ihm auf sein Herz, Noch nimmer fühlt er solchen Schmerz. Sie hob ihn bleichend auf sein Pferd: „Reit heim nun zu deinem Fräulein wert!" 25 Und als er kam vor Hauses Tür, Seine Mutter zitternd stand dafür. „Hör an, mein Sohn, sag an mir gleich, Wie ist deine Farbe blaß und bleich?" „Und sollt sie nicht sein blaß und bleich? 30 Ich traf in Erlenkönigs Reich." „Hör an, mein Sohn, so lieb und traut. Was soll ich nun sagen deiner Braut?"

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Herder.

Hoffmann.

„Sagt ihr, ich sei im Wald zur Stund, Zu proben da mein Pferd und Hund." 35 Frühmorgen, und als es Tag kaum war. Da kam die Braut mit der Hochzeitsschar. Sie schenkten Met, sie schenkten Wein: „Wo ist Herr Oluf, der Bräutigam mein?" „Herr Oluf, er ritt in Wald zur Stund, 40 Er probt allda sein Pferd und Hund." Die Braut hob auf den Scharlach rot. Da lag Herr Oluf, und er war tot.

August Heinrich Hoffmann v. Fallersleben. 81. Das Lied der Deutsche«. 1. Deutschland, Deutschland über alles. Über alles in der Welt, Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält; Bon der Maas bis an die Memel, Bon der Etsch bis an den Belt — Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!

2. Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten, schönen Klang, Uns zu edler Tat begeistern Unser ganzes Leben lang — Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang! 3. Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland — Danach laßt uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand!

Hoffmann.

Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand — Blüh im Glanze dieses Glückes, Blühe, deutsches Vaterland!

82. Mei« Vaterland. 1. Treue Liebe bis zum Grabe Schwör ich dir mit Herz und Hand: Was ich bin, und was ich habe. Dank ich dir, mein Vaterland.

2. Nicht in Worten nur und Liedern Ist mein Herz zum Dank bereit. Mit der Tat will ich's erwidern Dir in Not, in Kampf und Streit.

3. In der Freude, wie im Leide Ruf ich's Freund und Feinden zu: Ewig sind vereint wir beide. Und mein Trost, mein Glück bist du. 4. Treue Liebe bis zum Grabe Schwör ich dir mit Herz und Hand: Was ich bin, und was ich habe. Dank ich dir, mein Vaterland.

53. Mein Lieven. 1. Wie könnt ich dein vergessen! ich weist, was du mir bist, Wenn auch die Welt ihr Liebstes und Bestes bald vergibt. Ich sing es hell und ruf es laut: Mein Vaterland ist meine Braut! Wie könnt ich dein vergessen! ich weist, was du mir bist.

2. Wie könnt ich dein vergessen! dein denk ich allezeit, Ich bin mit dir verbunden, mit dir in Freud und Leid. Ich will für dich im Kampfe stehn Und, soll es sein, mit dir vergehn. Wie könnt ich dein vergessen! dein denk ich allezeit.

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Hoffmann.

3. Wie könnt ich dein vergessen! ich weiß, was du mir bist. So lang ein Hauch von Liebe und Leben in mir ist. Ich suche nichts, als dich allein. Als deiner Liebe wert zu sein. Wie könnt ich dein vergessen! ich weiß, was du mir bist.

54. Abendlied. 1. Abend wird es wieder: Über Wald und Feld Säuselt Frieden nieder. Und es ruht die Welt; 2. Nur der Bach ergießet Sich am Felsen dort. Und er braust und fließet Immer, immer fort. 3. Und kein Abend bringet Frieden ihm und Ruh, Keine Glocke klinget Ihm ein Rastlied zu. 4. So in deinem Strebe» Bist, mein Herz, auch du: Gott nur kann dir geben Wahre Abendruh.

85. Geleitslied. 1. Nun zu guter Letzt Geben wir dir jetzt Auf die Wandrung das Geleite. Wandre mutig fort! Und an jedem Ort Sei dir Glück und Heil zur Seite! Wandern müssen wir auf Erden: Unter Freuden und Beschwerden Geht hinab, hinauf Unser Lebenslauf — Das ist unser Los auf Erden.

Hoffmann.

Holt«.

2. Bruder, nun ade! Scheiden tut zwar weh. Scheiden ist ein bittres Leiden. Wer es gut gemeint. Bleibt mit uns vereint. So, als gäb es gar kein Scheiden. Dieser Trost mag dich begleiten. Manche Freude dir bereiten. Wenn du bist im Glück, Denk an uns zurück. Denk an die vergangnen Zeiten!

3. Bruder, nimm die Hand Jetzt zum Unterpfand, Daß wir treu gesinnt verbleiben. Redlich sonder Wank, Fern von Neid und Zank Stets in unserm Tun und Treiben. Endlich wird's einmal geschehen, Daß auch wir uns Wiedersehen Und unS wieder freun Und den Bund erneun — Lebe wohl! auf Wiedersehen!

Karl von Holtet 56. Allßne. 1. Jedweder mensch hot seine örte, Wu a im stillen flennen kan, Do macht ma weiter kßne wörte Und tutts irscht kenem andern san: Ma git allßne aus em haus Und w.ent sich ganz allßne aus.

2. Ihch ha ann ort, wo höhe buchen Beisammen in a.r. kessel sttn.

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Holtet.

HSlty.

K6 mensch kömmt dürfe nei gekrochen, Ma sit öch kene bltmel blihn, 's fe nischte dort wie einsamköt Und ich mit meinem herzeled. 3. Und git democh de sonne ander, Do stellt sich noch a drittes ein, ’s kömmt von a grinen bochen runder Und frät: tar ich derbeine sein? Mit herzeiöd und einsamköt Vermengt sich de glicksaligköt.

Ludwig Heinrich Christoph Hölty.

87. Der alte Landman« an seinen Sohn. 1. üb immer Treu und Redlichkeit Bis an dein kühles Grab Und weiche keinen Finger breit Bon Gottes Wegen ab! Dann wirst du, wie auf grünen Aun, Durchs Pilgerleben gehn; Dann kannst du sonder Furcht und Graun Dem Tod ins Auge sehn.

2. Dann wird die Sichel und der Pflug In deiner Hand so leicht. Dann singest du beim Wasserkrug, Ms wär dir Wein gereicht. Dem Bösewicht wird alles schwer. Er tue, wa- er tu; Der Teufel treibt ihn hin und her Und läßt ihm keine Ruh. 3. Der schöne Frühling lacht ihm nicht. Ihm lacht kein Ährenfeld; Er ist auf Lug und Trug erpicht Und wünscht sich nichts als Geld.

Hölty.

Kerner.

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Der Wind int Hain, das Laub am Baum Saust ihm Entsetzen zu; Er findet nach des Lebens Raum Im Grabe keine Ruh. 4. üb immer Treu und Redlichkeit Bis an dein kühles Grab Und weiche keinen Finger breit Von Gottes Wegen ab! Dann suchen Enkel deine Gruft Und weinen Tränen drauf. Und Sommerblumen, voll von Duft, Blühn aus den Tränen auf.

Justinus Kerner. 88. Wanderlied. 1. Wohlauf, noch getrunken So treibt es den Burschen Den funkelnden Wein! Durch Wälder und Feld, Ade nun, ihr Lieben! Zu gleichen der Mutter, Geschieden muß sein. Der wandernden Welt. Ade nun, ihr Berge, 4. Da grüßen ihn Bögel, Du väterlich Haus! Bekannt überm Meer, Es treibt in die Ferne Sie flogen von Fluren Mich mächtig hinaus. Der Heimat hieher; 2. Die Sonne, sie bleibet Am Himmel nicht stehn. Es treibt sie, durch Länder Und Meere zu gehn. Die Woge nicht haftet Am einsamen Strand, Die Stürme, sie brausen Mit Macht durch das Land.

3. Der Und Ein

Mit eilenden Wolken Bogel dort zieht singt in der Ferne heimatlich Lied.

Da duften die Blumen Vertraulich um ihn. Sie trieben vom Lande Die Lüfte dahin.

5. Die Bögel, die kennen Sein väterlich Haus. Die Blumen einst pflanzt' er Der Liebe zum Strauß; Und Liebe, die folgt ihm. Sie geht ihm zur Hand: So wird ihm zur Heimat Das ferneste Land.

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Kerner.

69. Der Wanderer in der Sägemühle. 1. Dort unten in der Mühle saß ich in süßer Ruh Und sah dem Räderspiele und sah den Wassern zu. Sah zu der blanken Säge, es war mir wie ein Traum, Die bahnte lange Wege in einen Tannenbaum. 2. Die Tanne war wie lebend; in Trauermelodie, Durch alle Fasern bebend, sang diese Worte sie: ,„Du kehrst zur rechten Stunde, o Wanderer, hier ein. Du bist's, für den die Wunde mir dringt ins Herz hinein.

3. Du bist's, für den wird werden, wenn kurz gewandert du. Dies Holz — im Schoß der Erden ein Schrein zur langen Ruh." Bier Bretter sah ich fallen, mir ward's ums Herze schwer. Ein Wörtlein wollt ich lallen, da ging das Rad nicht mehr.

60. Erbarmen. Wohl vor dem Fenster im Bauer Sitzt ein Vöglein im Regenschauer, Hinaus tat's das Mägdlein im Sonnenschein, Nun stürmt's, und sie holt es erbarmend herein. Hand Gottes! bet ich in Trauer — Längst stürmt's um mich, fehlt mir der Sonne Schein, Hand Gottes! hol mich erbarmend herein!

61. Kaiser Rudolfs Ritt »nm Grabe. 1. Auf der Burg zu Germersheim, Stark am Geist, am Leibe schwach. Sitzt der greise Kaiser Rudolf, Spielend das gewohnte Schach.

2. Und er spricht: „Ihr guten Meister Ärzte, sagt mir ohne Zagen: Wann aus dem zerbrochnen Leib Wird der Geist zu Gott getragen?"

Serner.

3. Und die Meister sprechen: „Herr! Wohl noch heut erscheint die Stunde." Freundlich lächelnd spricht der Greis: „Meister, Dank für diese Kunde!" — 4. „Auf nach Speier! auf nach Speier l" Ruft er, als das Spiel geendet, „Wo so mancher deutsche Held Liegt begraben, sei's vollendet!

5. Blast die Hörner! bringt das Rost, Das mich ost zur Schlacht getragen!" Zaudernd stehn die Diener all. Doch er rüst: „Folgt ohne Zagen!" 6. Und das Schlachtrob wird gebracht. „Nicht zum Kampf, zum ewgen Frieden," Spricht er, „trage, treuer Freund. Jetzt den Herrn, den lebensmüden!" 7. Weinend steht der Diener Schar, Als der Greis auf hohem Rosse, Rechts und links ein Kapellan, Zieht, halb Leich, aus seinem Schlosse.

8. Trauernd neigt des Schlosses Lind Bor ihm ihre Äste nieder, Vögel, die in ihrer Hut, Singen. wehmutsvolle Lieder. 9. Mancher eilt des Wegs daher. Der gehört die bange Sage, Sieht des Helden sterbend Bild Und bricht aus in laute Klage. 10. Aber nur von Himmelslust Spricht der Geist mit jenen zweien; Lächelnd blickt sein Angesicht, Als ritt er zur Lust im Maien.

11. Von dem hohen Dom zu Speier Hört man dumpf die Glocken schallen;

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Lerner.

Ritter, Bürger, -arte Fraun Weinend ihm entgegen wallen. 12. In den hohen Kaisersaal Ist er rasch noch «ingetreten; Sitzend dort auf goldnem Stuhl Hört man für das Volk ihn beten.

13. „Reichet mir den Heilgen Leib!" Spricht er dann mit bleichem Munde; Drauf verjüngt sich sein Gesicht Hm die mitternächtge Stunde. 14. Da auf einmal wird der Saal Hell von überirdschem Lichte, Und entschlummert sitzt der Held, Himmelsruh im Angesichte.

15. Glocken dürfen's nicht verkünden, Boten nicht zur Leiche bieten; Alle Herzen längs des Rheins Fühlen, daß der Held verschieden. 16. Nach dem Dome strömt das Volk, Schwarz, unzähligen Gewimmels; Der empfing des Helden Leib, Seinen Geist der Dom des Himmels.

62* Zwei Särge. 1. Zwei Särge einsam stehen In des alten Domes Hut, König Ottmar liegt in dem einen. In dem andern der Sänger ruht. 2. Hoch Ihm Und

Der König saß einst mächtig auf der Väter Thron, liegt das Schwert in der Rechten, auf dem Haupte die Kron.

3. .Doch neben dem stolzen König, Da liegt der Sänger traut.

Lerner.

Kinkel.

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Man noch in seinen Händen Die fromme Harfe schaut.

4. Die Burgen rings zerfallen, Schlachtruf tönt durch das Land, Das ©djtoett, das regt sich nimmer Da in des Königs Hand.

5. Blüten und milde Lüfte Wehen das Tal entlang — Des Sängers Harfe tönet In ewigem Gesang.

Gottfried Kinkel. 63. Sctvio. 1. Schau dort den Mann! Er kommt gegangen. Die Toga lässig umgehangen; Das ist der große Scipio, Dem sich Karthago gab verloren, Bor dem von Roms geborstnen Toren Des Barkas grauser Enkel floh.

2. Es ist der Weg zum Kapitale, Den er mit ruhmbeschwingter Sohle Als Triumphator einst erstieg. Er geht mit ernster Römersitte Auch heut hinauf in festem Schritte, Als führt er eine Schar zum Sieg. 3. Und dennoch durft er heute zagen! Mag jedes Haupt er überragen.

Die Mißgunst haßt sein großes Tun. Er ist verklagt als Landverräter, Und vor dem Hof der greisen Väter Erhebt die Klage der Tribun: 4. „Wir haben Gold dir reich gesendet; Es ward auf diesen Krieg verschwendet

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Kinkel.

Des Volkes Schweiß und letzte Kraft. Dir haben wir uns überlassen; Du hast zerstreut des Silbers Massen: Wohlan, so gib uns Rechenschaft!

5. Stolz gibst du reiche Pracht zu schauen; Rings an den Bergen, auf den Auen Wird OL und Korn und Wein dir reif. Wer mag dem Zweifel da gebieten? Und drum im Namen der Quiriten Verklag ich dich aus Unterschleis!" 6. Da hebt sich Scipio vom Sitze, Es bleiben seines Auges Blitze Mitleidig auf dem Kläger ruhn. Auf schlägt er eine Bücherrolle, Und mild, als wüßt er nichts vom Grolle, Beginnt er seine Rede nun: 7. „Leicht wär's, ihr Väter, mir zu rechten! Ich schrieb im Feld in heißen Nächten Dies Rechnungsbuch mit eigner Hand. Von meinem Quästor untersiegelt. Des Lippe jetzt der Tod verriegelt, Jst's meiner Ehre gültig Pfand.

8. Und weil mich die Erinnrung freute. So hielt ich's aufbewahrt bis heute; Nun aber, dünkt mich's, ist's genug. Zu fragen nach Beweis und Pfande, Es wäre mir und euch zur Schande — Dies meine Antwort: kommt zum Spruch!"

9. Er schweigt und reißt das Buch in Fetzen Und wirft es zu des Hofs Entsetzen Aufs Kohlenbecken Stück für Stück, Dann schürt bedachtsam er die Flammen, Bis es zu Asche fiel zusammen. Und geht zu seinem Sitz zurück.

Kinkel. Klopstock.

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10. Still ward's, dann jauchzt es in der Runde: »Frei, frei von Schuld!" aus jedem Munde; Der Kläger bebt in banger Scham. Doch in dem wllden Beisallrufen Neigt sich der Held und geht die Stufen Hinab so ruhig, wie er kam.

64. Ei« geistlich Abeudtted. 1. Es ist so still geworden, verrauscht des Abends Wehn, Nun hört man aller Orten der Engel Füße gehn; Rings in die Tale senket sich Finsternis mit Macht — Wirf ab, Herz, was dich kränket, und was dir bange macht! 2. Es ruht die Welt im Schweigen, ihr Tosen ist vorbei, Stumnl ihrer Freude Neigen und stumm ihr Schmerzens­ schrei. Hat Rosen sie geschenket, hat Dornen sie gebracht — Wirf ab, Herz, was dich kränket, und was dir bange macht!

3. Und hast du heut gefehlet, o, schaue nicht zurück: Empfinde dich beseelet von freier Gnade Glück! Auch des Verirrten denket der Hirt auf hoher Wacht — Wirf ab, Herz, was dich kränket, und was dir bange macht! 4. Nun stehn im Himmelskreise die Stern in Majestät; In gleichem, festem Gleise der goldne Wagen geht. Und gleich den Sternen lenket er deinen Weg durch Nacht — Wirf ab, Herz, was dich kränket, und was dir bange macht!

Friedrich Gottlieb Klopstock. 65. Herma«« und Thusnelda. 1. „Ha! dort kommt er, mit Schweiß, mit Römerblute, Mit dem Staube der Schlacht bedeckt! so schön war Hermann niemals! So hat's ihm Nie von dem Auge geflammt!

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Klopstock.

Aopisch.

2. Komm! ich bebe vor Lust! reich mir den Adler Und das triefende Schwert! komm, atm' und ruh hier Aus in meiner Umarmung Von der zu schrecklichen Schlacht!

3. Ruh hier, daß ich den Schweiß der Stirn abtrockne Und der Wange das Blut! Wie glüht die Wange! Hermann! Hermann! so hat dich Niemals Thusnelda geliebt!

4. Selbst nicht, da du zuerst im Eichenschatten Mit dem bräunlichen Arm mich wilder faßtest! Fliehend blieb ich und sah dir Schon die Unsterblichkeit an, 5. Die nun dein ist! Erzählt's in allen Hainen, Daß Augustus nun bang mit seinen Göttern Nektar trinket! daß Hermann, Hermann unsterblicher ist!" 6. „Warum lockst du mein Haar? Liegt nicht der stumme. Tote Vater vor uns? O, hätt Augustus Seine Heere geführt: er Läge noch blutiger dal"

7. ,Laß dein sinkendes Haar mich, Hermann, heben. Daß es über dem Kranz in Locken drohe! Siegmar ist bei den Göttern! Folg du, und wein ihm nicht nach!"

August Kopisch. 66. Die Heinzelmännchen. 1. Wie war zu Köln es doch vordem Mit Heinzelmännchen so bequem! Denn war man faul — man legte sich Hin auf die Bank und pflegte sich: Da kamen bei Nacht, Ehe man's gedacht.

Kopisch.

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Die Männlein und fchwärmtm Und klappten und lärmten Und rupften und zupften Und hüpften und trabten Und putzten und schabten — Und eh ein Faulpelz noch erwacht. War all sein Tagewerk bereits gemacht. 2. Die Zimmerleute streckten sich Hin auf die Spän und reckten sich; Indessen kam die Geisterschar Und sah, was da zu zimmern war. Nahm Meißel und Beil Und die Säg in Eil; Sie sägten und stachen Und hieben und brachen. Berappten und kappten. Visierten wie Falken Und setzten die Balken — Eh sich's der Zimmermann versah. Klapp! stand das ganze Haus schon fertig da!

3. Beim Bäckermeister war nicht Not, Die Heinzelmännchen backten Brot. Die faulen Burschen legten sich. Die Heinzelmännchen regten sich Und ächzten daher Mft den Säcken schwer — Und kneteten tüchtig Und wogen es richtig Und hoben und schoben Und fegten und backten Und klopften und hackten. Die Burschen schnarchten noch im Chor: Da rückte schon das Brot — das neue, vor. 4. Beim Fleischer ging es just so zu: Gesell und Bursche lag in Ruh; Hessel und Ufer, Lesebuch S. M. 6

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Kopisch.

Indessen kamen die Männlein her Und hackten das Schwein die Kreuz und Quer. Das ging so geschwind. Wie die Mühl im Wind! Die klappten mit Beilen, Die schnitzten an Speilen, Die spülten, die wühlten Und mengten und mischten Und stopften und wischten. Tat der Gesell die Augen auf: Wapp! hing die Wurst da schon im Ausverkauf! 6. Der Am Die

Beim Schenken war es so: es trank Küfer, bis er niedersank; hohlen Fasse schlief er ein. Männlein sorgten um den Wein Und schwefelten fein Alle Fässer ein Und rollten und hoben Mit Winden und Kloben Und schwenken und senkten Und gossen und panschten Und mengten und manschten. Und eh der Küfer noch erwacht. War schon der Wein geschönt und fein gemacht!

6. Einst hatt' ein Schneider große Pein: Der Staatsrock sollte fertig fein; Warf hin das Zeug und legte sich Hin auf das Ohr und pflegte sich Da schlüpften sie frisch In den Schneidertisch Und schnitten und rückten Und nähten und stickten Und faßten und paßten Und strichen und guckten Und zupften und ruckten;

Kopisch.

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Und eh mein Schneiderlein erwacht. War Bürgermeisters Rock bereits gemacht! 7. Neugierig war des Schneiders Weib Und macht sich diesen Zeitvertreib: Streut Erbsen hin die andre Nacht. Die Heinzelmännchen kommen sacht; Eins sähret nun aus. Schlägt hin im Haus, Die gleiten von Stufen Und plumpen in Kufen, Die fallen mit Schallen, Die lärmen und schreien Und vermaleveien! Sie springt hinunter auf den Schall Mit Licht: husch husch, husch husch! — ver­ schwinden all! 8. O weh! nun sind sie alle fort. Und keines ist mehr hier am Ort! Man kann nicht , mehr wie sonsten ruhn. Man muß nun alles selber tun! Ein jeder muß fein Selbst fleißig sein Und kratzen und schaben Und rennen und traben Und schniegeln und bügely Und klopfen und hacken Und kochen und backen. Ach, daß es noch wie damals wär! Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her.

67. Puck. 1. Der lange sprach zum kurzen Knecht: „Laß sein den Puck, es geht dir schlecht! Wan muß den Puck nicht necken. Sonst kommt er, dich zu zecken."

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topisch. Der Kurz« sprach: „Und kommt er auch. Ich lasse nicht von meinem Brauch; Denn ich will eben Nur lustig leben. Was ist der Puck? Ein Teufelsspuk!" 2. Der Lange sprach: „Ich weiß nicht was. Doch trägt ins Haus er $out und Gras Und putzt die Pferd' im Stalle, Kocht, backt und fegt die Halle. Er holt das Wasser aus dem Born Und flickt den Zaun mit manchem Dorn, Hackt Holz für alle Mit Poch und Schalle, Macht reich den Herrn, Man hat ihn gern."

3. Der Kurze sprach: „Das wußt ich längst. Daß du an deinem Puck so hängst. Da sieh ihn, deinen Feinen! Er bammelt mit den Beinen Dort aus der Luk: ich schleich ins Haus . Paff! stößt er zu der Luk ihn aus: Kopfüber fliegt er. Und plauz! da liegt er Mit Nipp! Napp! Nopf! Ms alter Topf. 4. Da lachen alle, die es sehn; Doch ach! wie wird's dem Knechte gehn? Er fürcht sich selbst vor Strafen, Legt sich zum Langen schlafen. Nun währt's nicht lang, so kommt der Puck Zu ihm und gibt ihm einen Ruck, Packt ihn am Beine:' „Du liegst nicht feine!

»opisch.

SS

Ich richte euch: Sv liegt ihr gleich!" — „Aul"

6. Er deckt ihn- sauber wieder zu Und läßt ihn eine Weil in Ruh. Er liegt und schnarcht bequemlich; Da kommt der Puck vernehmlich. Sieht nach und sagt: „Nun fehlt's am Kovf!" Da zieht er ihn heraus am Schopf. — „Au!" Nun guckt er drunten: Da fehlt es unten; Er zieht am Bein Und legt ihn fein. — „Au!" 6. Da guckt er wieder oben nach Und zieht ihn wieder 'rauf gemach. — „Au!" „Ich kann dir's nicht erlassen. Du mußt zum Langen passen!" Nun sieht er unten: „Willst du wohl? Ich seh den Fleck schon wieder hohl: Du liegst nicht seine. Komm her am Beine!" — „Au!" „Nun fehlt's am Kopf! Komm her am Schopf!" — „Au!"

7. „Hier Fuß Herl" — „Au!" — „Hier Kopf!" „Au, au!" Er zwickt den Armen braun und blau. Da kräht der Hahn, aus ist der Kummer, Der Knecht verfällt in tiefen Schlummer. Doch morgens er mit Schrecken sah: Quer überm Brunnen liegt er da Und ruft mit Beben Fürs arme Leben: „Verzeih mir, Puck! Laß ab vom Spuk!"

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Aopisch.

68, Tomte t Garden. (Dänische Sage).

Veit Rik führt Korn in den Hof hinein. Da keucht klein Tomte hinterdrein. Der Tomte i Garden ist klein wie ein Kind Und trägt mit Müh einen Haliil im Wind,

5 Er hat ein rot Käppchen und freundlich Gesicht Und sagt: Verschmäh doch mein Hälmchen nicht! — Veit Rik aber lenkt in die Scheuer und spricht: Was hilft mir ein Hälmchen, du kröplicher Wicht? Geh hin, wo du willst, das wär mir genehm. 10 Das wär eine Hilfe, wenn die Art käm! Der Tomte i Garden blieb nicht stehn. Man sah ihn zu Rikeburs Nachbar gehn:

Dem bracht er die Ähre, der nahm sie gern. Da brachte ihm Tomte noch mehr von fern;

15 Der Tomte i Garden schleppt Nacht und Tag, Bis voll des Nachbars Scheuer lag; Er liest auch die Körnchen am Wege verstreut, Womit er die Hühner des Hofes erfreut;

Holt Moos und verstopft die Ritzen int Stein, 20 Läßt kein kalt Lüftchen ins Haus hinein;

Die Hölzchen und Zweiglein liest er auf Und zündet damit das Feuer auf;

Er wäscht die Kindlein und kämmt ihr Haar, Es glänzt wie die lichte Sonne so klar; 25 Er duldet kein Fleckchen, er scheuert die Bank, Er putzt auch das Vieh, das wird so blank. Sein Näpfchen Milch und ein Stück grau Tuch, Das war ihm zum ganzen Lohn genug.

Und alles geht wohl, und alles gedeiht, 30 Beit Rik, der sieht es am Ende mit Neid;

Kopisch. Liliencron.

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In Rikes Haus war's. kalt, nicht warm, Veit Rik hieß nun gar bald Veit Arm. Er hatte den Tomte i Garden verschmäht, Durch den eS gut im Hause steht.

69. Der Mäuseturm. 1. Am Mäuseturm um Mitternacht Des Bischoss Hatto Geist erwacht: Er flieht um di« Zinnen im Höllenschein Und glühende Mäuslein hinter ihm drein!

2. Der Hungrigen hast du, Hatto, gelacht. Die Scheuer Gottes zur Hölle gemacht; Drum ward jedes Hörnlein im Speicher dein Verkehrt in ein nagendes Mäuselein. 3. Du flohst auf den Rhein in den Jnselturm, Doch hinter dir rauschte der Mäusesturm; Du schlossest den Turm mit eherner Tür, Sie nagten den Stein und drangen Herfür. 4. Sie fraßen die Speise, die Lagerstatt, Sie fraßen den Tisch dir und wurden nicht satt. Sie fraßen dich selber zu aller Graus Und nagten den Namen dein überall aus.

6. Fern rudern die Schiffer um Mitternacht, Wenn schwirrend dein irrender Geist erwacht: Er flieht um die Zinnen im Höllcnschein Und glühende Mäuslein hinter ihm drein.

Detlev von Liliencron. 70. Die Musik kommt. 1. Klingling, bumbum und tschingdada. Zieht im Triumph der Perserschah? Und um die Ecke brausend bricht's Wie Tubaton des Weltgerichts, Voran der Schellenträger.

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Lilienoeon.

2. Brumbrum, das große Bombardon, Der Beckenschlag, das Helikon, Die Piccolo, der Zinkenist, Die Türkentrommel, der Flötist, Und dann der Herre Hauptmann. 3. Der Hauptmann naht mit stolzem Sinn, Die Schuppenketten unterm Kinn, Die Schärpe schnürt den schlanken Leib, Beim Zeus! das ist kein Zeitvertreib, Und dann die Herren Leutnants. 4. Zwei Leutnants, rosenrot und braun. Die Fahne schützen sie als Zaun, Die Fahne kommt, den Hut nimm ab, Der sind wir treu bis an das Grab! Und dann die Grenadiere. 5. Der Grenadier im strammen Tritt, In Schritt und Tritt und Tritt und Schritt, Das stampft und dröhnt und llappt und flirrt, Laternenglas und Fenster klirrt. Und dann die Heinen Mädchen. 6. Die Mädchen alle, Kopf an Kopf, Das Auge blau und blond der Zopf, Aus Tür und Tor und Hof und Haus Schaut Mine, Trine, Stine aus. Vorbei ist die Musike. 7. Klingling, tschingtsching und Paukenkrach, Noch aus der Ferne tönt es schwach. Ganz leise bumbumbumbum tsching. Zog da ein bunter Schmetterling, Tschingtsching, bum, um die Ecke?

71. rod in Uhren. 1. Im Weizenfeld, in Korn und Mohn, Liegt ein Soldat, unaufgefunden. Zwei Tage schon, zwei Nächte schon. Mit schwereu Wunden, unverbunden.

Liliencron.

Lingg.

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2. Durstüberquält und fieberwüd, Im Todeskampf den Kopf erhoben. Ein letzter Traum, ein letztes Bild, Sein brechend Auge schlägt nach oben.

3. Die Sense rauscht im Ährenfeld, Er sieht sein Dorf im Arbeitsfrieden, Ade, ade, du Heimatwelt — — — Und beugt sein Haupt und ist verschieden.

Hermann Lingg. 72. Feieravend. 1. Feierabend! alle Glocken Läuten Friede, Ruh und Rast — Kerzen funkeln, und es locken Bolle Kannen schon den Gast. 2. In der Werkstatt schweigt das Hämmern, Und der Meister im Gemach Sinnt bei letztem Tagesdämmern Froh getaner Arbeit nach. 3. Nur den Schiffer drauß im Hafen Weckt nach tagclangcr Ruh Guter Fahrwind. Statt zu schlafen. Eilt er fernen Ländern zu.

73. Die weiße Weihnachtsrose. 1. Wenn über Wege tiefbeschneit Der Schlitten lustig rennt, Im Spätjahr in der Dämmerzeit, Die Wochen im Advent, Wenn aus dem Schnee das junge Reh Sich Kräuter sucht und Moose, Blüht unverdorrt im Frost noch fort Die weiße Weihnachtsrose.

so

Lingg.

2. Kein Blümchen sonst auf weiter Flur; In ihrem Dornenkleid Nur sie, die niedre Distel nur. Trotz allem Winterleid; Das macht, sie will erwarten still. Bis sich die Sonne wendet. Damit sie weiß, daß Schnee und Eis Auch diesmal wieder endet.

3. Doch ist's geschehn, nimmt fühlbar kaum Der Nächte Dunkel ab. Dann sinkt mit einem Hoffnungstraum Auch sie zurück ins Grab. Nun schläft sie gern; sie hat von fern Des Frühlings Gruß vernommen. Und o wie bald wird glanzumwallt Er sie zu wecken kommen.

74. Heerbannlied. 1. Ernst ist mein Sinn und schlicht und recht. Mein Bart ist gleich dem Flachse. In Dün und Wald blüht mein Geschlecht, Daß übers Meer es wachse. — Ich bin der Sachse. 2. Mein Bart ist rot, der Berg mein Schloß, Mir blüht des Liedes Gabe; Die Sturmfahn schwing ich; Schwert und Roß, Sie gehn mit mir zu Grabe. — Ich bin der Schwabe.

3. Mein Mark ist stark, ist Löwenmark, Kein andrer Stamm ist freier; Kommt her! kein Teufel ist so stark, Und schlägt ein Herz getreuer? — Ich bin der Baier. 4. Ein blanker Stahl ist meine Brust, Doch fröhlich mein Gedanke,

Am Reigen hab ich meine Lust Und einem firnen Tranke. — Ich bin der Franke.

5. Nach Süd, Ost, West, Nord stehn wir vier Zum Schutz der deutschen Eiche, Und rauscht Sankt Michaels Panier, Sind unsre Schwerterstreiche Ein Hort dein Reiche.

6. Die Feinde schicken wir nach Haus, Bedeckt mit Blut und Schrammen; Und kommt die Hölle selbst zum Strauß, Wir lachen ihrer Flammen Und stehn zusammen.

Jakob Löwenberg. 75. Huf der Straßenbahn. In Hitz und Frost, in Staub und Regen, Jedwedem Wetter die Stirn entgegen. Die Hand an der Kurbel, das Auge gespannt. So steht der Führer auf seinem Stand.

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So steht er von früh bis abends spät. Das schwatzt um ihn, das kommt und geht, Das stößt und drängt sich, das scherzt und lacht Bis in die tiefe Mitternacht.

Starr blickt er hinab in der Straße Gewühl, 10 Er steht auf Posten, er kennt nur ein Ziel, Wie's um ihn auch hastet und wirrt und flieht: Daß nur kein Unglück, kein Unglück geschieht! Nur einmal da draußen, da kann es geschehn, Wo grün an der Straße die Bäume noch stehn, 15 Da bricht ein Lächeln die starre Ruh, Vom Wegrand blickt fröhlich sein Weib ihm zu.

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Lvwenberg. Maßmann. Meyer. Sein Junge springt flink an die Bordertür Und bringt ihm ein Brot und bringt ihm ein Bier, Fährt jubelnd mit zur Endstation: 20 Das ist des Tages reichster Lohn. — Sei jedem, wie und wo er auch fährt. Solch eine Strecke Weges beschert!

Hans Ferdinand Maßmann. 76. Gelübde. 1. Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand Dir, Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland! 2. Mein Herz ist entglommen, dir treu zugcwandt. Du Land der Frein und Frommen, du herrlich Hermannsland! 3. Will halten und gläuben an Gott fromm und frei! Will, Vaterland, dir bleiben auf ewig fest und treu! 4. Ach, Gott, tu erheben mein jung Herzensblut Zu frischem, freudigem Leben, zu freiem, frommem Mut!

6. Laß Kraft mich erwerben in Herz und in Hand, Zu leben und zu sterben fürs heilge Vaterland!.

Konrad Ferdinand Meyer. 77. La- weiße Spitzche«. 1. Ein blendendes Spitzchen blickt über den Wald, Das ruft mich, das zieht mich, das tut mir Gewalt:

2. „Was schaffst du noch unten im Menschengewühl Hier oben ist's einsam! Hier oben ist's kühl! 3. Der See mir zu Füßen hat heut sich enteist, Er kräuselt sich, flutet, er wandert, er reist,

4. Die Moosbank des Felsens ist dir schon bereit, Bon ihr ist's zum ewigen Schnee nicht mehr weit!"

Meyer.



5. Das Spitzchen, es ruft mich, sobald ich erwacht. Am Mittag, am Abend, im Traum noch der Nacht. 6. So komm ich denn morgen! Nun laß mich in Ruh! Erst schließ ich die Bücher, die Schreine noch zu! 7. Leis wandelt in Lüsten ein Herdengeläut: „Laß offen die Truhen! Komm lieber noch heut."

78. Ich Würd es hören. 1. Auf Ich Der

Läg dort ich unterm Firneschein hoher Alp begraben. schliefe mitten im Juchhein wilden Hirtenknaben.

2. Wo sonst ich lag im süßen Tag, Läg ich in dunkeln Decken, Der Laue Krach und dumpfer Schlag, Er würde mich nicht wecken. 3. Und käme schwarzer Sturm gerauscht Und schüttelte die Tannen, Er führe, von mir unbelaufcht, Vorüber und von dannen. 4. Ich Und Das

Doch klänge sanfter Glockenchor, ließe wohl mich stören lauscht' ein Weilchen gern empor. Herdgeläut zu hören.

79. KonradinS Knappe. 1. „Auf diesem kurzen Bergesrasen hier. Nur wen'ge Monde find es, zechten wir. Er und das Edelvolk, in hohem Raunt — Und drüben war Italien wie ein Traum. 2. In diesem Passe lagen wir gestreckt. Der ©taufe hat mich minniglich geneckt: Nicht blöde, Hans! Sprich! Was begehrst du gleich? Ich geb es dir in meinem Königreich!

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Sieget. Mörike.

3. Dann klomm die Fahrt an Wänden schwarz und kahl Wo ich der Mutter Gottes mich empfahl. Noch eh ich Amen sagte, glitt mein Tier — Der Staufen und die Sinne schwanden mir. 4. Dann lag ich im Hospize fieberbang, Wo ich verzweifelnd mit den Mönchen rang, Ich focht und schrie: dem jungen Staufen nach! Hie Napoli! Bis ich zusammenbrach.

5. Jetzt schlepp ich jeden Tag mich hier empor, Wo ich den Staufen aus dem Blick verlor. Genesen ist der Leib, die Seele schmerzt,. Denn all mein Erdenglück hab ich verscherzt. 6. Und zög ich heut, ich käme doch zu spät, Schon krönte sich die junge Majestät, Das Edelblut empfing den Ritterschlag, Ich aber fluche meinem Unglückstag." —

7. Ein Knechtlein kommt bergüber. „Gib Bescheid! Der Staufenknabe thront in Herrlichkeit?" — „Ja, Herr. Er litt gemach den Todesstreich Und thront getröstet nun im Himmelreich." —

Eduard Mörike. 80. Zum neue« Jahr. 1. Wie heimlicherweise Ein Engelein leise Mit rosigen Füßen Die Erde Betritt, So nahte der Morgen. Jauchzt ihm, ihr Frommen, Ein heilig Willkommen, Ein heilig Willkommen! Herz, jauchze du mit!

Mörike.

2. In ihm sei's begonnen. Der Monde und Sonnen An blauen Gezelten Des Himmels bewegt. Du, Vater, du rate! Lenke du und wende! Herr, dir in die Hände Sei Anfang und Ende, Sei alles gelegt!

81. Wanderlied. Entfloh» sind wir der Stadt Gedränge, Wie anders leuchtet hier der Tag! Wie Hingt in unsre Lustgesänge Lerchensang 5 Hier und Wachtelschlag! Nun wandern wir und lassen gerne Herrn Griesgram zu Haus: Ein frischer Blick dringt in die Ferne Nur immer hinaus! 10 Wir wandern, bis der späte Abend taut. Wir rasten, bis der Morgen wieder graut.

Man lagert sich am Schattenquelle, Wo erst das muntre Reh geruht; Aus hohler Hand trinkt sich der helle 15 Kühle Trank Wohl noch eins so gut. Nun wandern wir und lassen gerne Herrn Griesgram zu Haus: Ein frischer Blick dringt in die Ferne 20 Nur immer hinaus!

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Mosen.

Möser.

Julius Mosen. 82. Heinrich der Löwe. 1. Im Dom zu Braunschweig Der alte Welfe aus, sruhet Heinrich der Löwe ruhet Nach manchem harten Strauß. 2. Es liegt auf Heinrichs Grabe, Gleichwie auf einem Schild, Ein treuer Totenwächter, DeS Löwen ehrnes Bild.

Zieht mit ihm wie sein Schalter Auf jedem Tritt und Schritt. 6. Doch als des Herzogs Auge In Todesnöten brach. Der Löwe still und traurig Bei seinem Freunde lag.

7. Vergebens fing den Löwen Man in den Käfig ein. 3. Der Löwe konnt nicht weichen Er brach die Eisenstäbe, Bon seines Herzogs Seit, Beim Herren mußt er sein! Von ihm, der aus den Krallen 8. Beim Herzog ruht der Löwe, Des Lindwurms ihn befreit. Hält jeden andern fern. 4. Sie zogen miteinander Durch Syriens öden Sand, Sie zogen miteinander Nach Braunschweig in das Land.

5. Wo auch der Welfe wandelt. Der Löwe ziehet mit.

Doch nach drei Tagen fand ma Tot ihn beim toten Herrn. 9. Drum mit des Herzogs Nan Geht stolz Jahrhundert laug Der Löwe wie beim Leben Noch immer seinen Gang.

Albert Möser. 83. Wallenstein vor Stralsund. 1. Mit Hörnergetön in blitzender Wehr Bor Stralsunds Wälle zog Friedlands Heer, Ringsum längst zwang er die Länder ins Joch, Nur Stralsund trotzte, das mächtige, noch; Doch eh noch Kartaunen erdröhnten im Feld, Entbot er zu sich die Ratsherrn ins Zelt, Die traten gefaßt vor sein Angesicht Und zitterten nicht. 2. Der Friedland sprach: „Ihr Herren vom Rat, Dem Trotz nun entsagt, bevor es zu spat!

Möser.

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Nach Recht und Gesetz ist mein dieses Land, So will es der Kaiser, Herr Ferdinand; Drum fügt euch und tut, was der Mächtge gebeut! Bon Gegenwehr laßt und ergebt euch noch heut!" Drauf sprachen die Ratsherrn, getreu der Pflicht: „Das tun wir nicht!" 3. Das Wort, es weckte gar herben Verdruß Dem böhmischen Generalissimus, Doch zwang er sich noch und sprach: „Wohlan, Geehrt stets hab ich den tapferen Mann; Drum sei euch gelassen der Freiheit Glück, Zahlt ihr mir Geldes ein tüchtiges Stück!" Die Ratsherrn entgegneten ernst mit Gewicht: „Das haben wir nicht!" 4. Da hob sich aufs höchste Friedlands Groll, An seinen Schläfen die Ader schwoll. Er ballte die Faust, und mit grimmigem Mut Warf er zur Erde den Feldherrnhut, Er nannte die Bürger verruchte Gesellen, Schurken, Verräter und schnöde Rebellen; Drauf sprachen die Ratsherrn gelassen und schlicht: „Das sind wir nicht!"

5. Sie schieden hinweg, auf nahm sie das Tor, Der Friedland indessen, der rasende, schwor: „Und hing es mit Ketten am Himmelszelt, Stralsund, das hohe, trotzige, fällt!" Viel Kugeln verschob er in grimmigem Haß, Bestürmte die Stadt ohne Unterlaß, Er wollte sie strafen mit blutgem Gericht Und nahm sie nicht!

Hessel und Ufer, Lesebuch ö.

M.7

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Wilhelm Müller.

Wilhelm Müller. 84. Kinderluft. 1. Nun feget aus den alten Staub Und macht die Laube blank. Laßt ja kein schwarzes Winterlaub Mir liegen auf der Bank! 2. Die erste weiße Blüte flog Mir heut ins Angesicht. Willkommen, Lenz! ich lebe noch Und weiß von Leide nicht. 3. Und schaue hell, wie du, hinein In Gottes schöne Welt Und möcht ein kleiner Bube sein Und kollern durch das Feld. 4. O, seht! da plätschern schon am See Die lieben Kindelein Und ziehn die Hemdchen in die Höh Und wollen gern hinein.

6. Wie lockt der warme Sonnenschein, Der auf -em Spiegel ruht! Da ist kein Fuß zu weich, zu klein. Er probt, wie's Wasser tut.

6. Ich sitz und seh dem Spiele zu Und spiel im Herzen auch. Du lieber Len», ein Kind bist du Und übest Kinderbrauch. 7. Wie viel du hast, du weißt es kaum Und schüttest alles aus. Nehmt, Kinder, nehmt! es ist kein Traum, Es kommt aus Gottes Haus.

8. Und wenn du nun ganz fertig bist. Hast keine Blume mehr.

SS

Wilhelm Müller.

Dann gehst du wieder ohne Frist, Kein Abschied wird dir schwer,

9. Und rufst dem Bruder Sommer zu: „Bringst du die Früchte her? Was ich versprach, das halte du! Ei, ei, dein Korb ist schwer!"

8S. Da- Frühlingsmahl. 1. Wer hat die weißen Tücher gebreitet über das Land, Die weißen, duftenden Tücher mit ihrem grünen Rand? 2. Und hat darüber gezogen das hohe, blaue Zelt, Darunter den bunten Teppich gelagert über das Feld? 3. Er ist es selber gewesen, der gute, reiche Wirt Des Himmels und der Erden, der nimmer ärmer wird, 4. Er hat gedeckt die Tische in seinem weiten Saal Und ruft, lvas lebet und webet, zum großen Frühlingsmahl.

6. Wie strömt's aus allen Blüten herab von Strauch und Baum! Und jede Blüt ein Becher voll süßer Düfte Schaum! 6. Hört ihr des Wirtes Stimme: „Heran, was kriecht und fliegt. Was geht und steht auf Erden, was unter den Wogen sich wiegt!

7. Und du, mein Himmelspilger, hier trinke trunken dich Und sinke selig nieder aufs Knie und denk an mich!"

86. Der kleine Hhdriot. Ich war ein kleiner Knabe, stand fest kaum auf dem Bei«, Da nahm mich schon mein Vater mit in das Meer hinein Und lehrte leicht mich schwimmen an seiner sichern Hand Und in die Fluten tauchen bis nieder auf den Sand; 5 Ein Silberstückchen warf er dreimal ins Meer hinab. Und dreimal mußt ich's holen, eh er's zum Lohn mir gab.

T

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Wilhelm Müller.

Wolfgang Müller.

Dann reicht er mir ein Ruder, hieb in ein Boot mich gehn. Er selber blieb zur Seite mir unverdrossen stehn. Wies mir, wie man die Woge mit scharfem Schlage bricht, 10 Wie man die Wirbel meidet und mit der Brandung ficht.

Und von dem kleinen Kahne ging's flugs ins große Schiff, Es trieben uns die Stürme um manches Felsenriff; Ich saß auf hohem Maste, schaut über Meer und Land: Es schwebten Berg und Türme vorüber mit dem Strand. 15 Der Vater hieß mich merken auf jedes Bogels Flug, Auf aller Winde Wehen, auf aller Wolken Zug; Und bogen dann die Stürme den Mast bis in die Flut, Und spritzten dann die Wogen hoch über meinen Hut, Da sah der Vater prüfend mir in das Angesicht — 20 Ich saß in meinem Korbe und rüttelte mich nicht — Da sprach er, und die Wange ward ihm wie Blut so rot: „Glück zu auf deinem Maste, du kleiner Hydriot!" Und heute gab der Vater ein Schwert mir in die Hand Und weihte mich zum Kämpfer für Gott und Vaterland. 25 Er maß mich mit den Blicken vom Kopf bis zu den Zehn, Mir war's, als tät sein Auge hinab ins Herz mir sehn; Ich hielt mein Schwert gen Himmel und schaut ihn sicher an Und deuchte mich zur Stunde nicht schlechter als ein Mann. Da sprach er, und die Wange ward ihm wie Blut so rot: 30 „Glück zu mit deinem Schwerte, du Heiner Hydriot!"

Wolfgang MUller von Königswinter. 87. Schwert imd Pflug. 1. Einst war ein Graf, so geht die Mär, Der fühlte, daß er sterbe; Die beiden Söhne rief er her, Zu teilen Hab und Erbe.

Wolfgang Müller.

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2. Nach einem Pflug, nach einem Schwert Rief da der alte Degen, Das brachten ihm die Söhne wert; Da gab er seinen Segen: 3. „Mein ältster Sohn, mein stärkster Sproß, Du sollst das Schwert behalten. Die Berge mit dem stolzen Schloß Und aller Ehren walten. 4. Doch dir, nicht minder liebes Kind, Dir sei der Pflug gegeben, Im Tal, wo stille Hütten sind. Dort magst du friedlich leben."

5. So starb der lebensmüde Greis, Als er sein Gut vergeben; Die Söhne hielten das Geheiß Treu durch ihr ganzes Leben. 6. Dem Was Was

Doch sprecht, was ward denn aus dem Stahl, Schlosse und dem Krieger? ward denn aus dem stillen Tal, aus dem schwachen Pflüger?

7. Euch Der Das

O, fragt nicht nach der Sage Ziel! künden rings die Gauen: Berg ist wüst, das Schloß zerfiel. Schwert ist längst zerhauen.

8. Doch liegt das Tal voll Herrlichkeit Im lichten Sonnenschimmer, Da wächst und reift es weit und breit: Man ehrt den Pflug noch immer.

88. Der Mönch von Heistervach. 1. Ein junger Mönch im Kloster Heisterbach Lustwandelt an des Gartens fernstem Ort; Der Ewigkeit sinnt still und tief er nach Und forscht dabei in Gottes heilgem Wort.

Wolfgang Müller.

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2. Er liest, was Petrus, der Apostel, sprach: „Dem Herren ist ein Tag wie tausend Jahr, Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag!" Doch wie er sinnt, es wird ihm nimmer klar. 3. Und Was um Erst wie Gemahnt

er verliert sich zweifelnd in deu Wald: ihn vorgeht, hört und sieht er nicht: die fromme Besperglocke schallt. es ihn der ernsten Klosterpflicht.

4. Im Lauf erreichet er den Garten schnell: Ein Unbekannter öffnet ihm das Tor. Er stutzt — doch sieh, schon glänzt die Kirche hell, Und draus ertönt der Brüder heilger Chor.

5. Nach seinem Stuhle eilend tritt er ein, Doch, wunderbar! ein andrer sitzet dort: Er überblickt der Mönche lange Reihn: Nur Unbekannte findet er am Ort. 6. Der Staunende wird angestaunt ringsum. Man fragt nach Namen, fragt nach dem Begehr; Er sagt's, da murmelt man durchs Heiligtum: Dreihundert Jahre hieß so niemand mehr.

7. Der letzte dieses Namens, tönt es dann, Er war ein Zweifler und verschwand im Wald, Man gab den Namen keinem inehr fortan. Er hört das Wort, es überläuft ihn kalt.

8. Er nennet nun den Abt und nennt das Jahr; Man nimmt das alte Klosterbuch zur Hand, Da wird ein großes Gotteswunder klar; Er ist's, der drei Jahrhunderte verschwand. 9. Ha, welche Lösung! plötzlich graut sein Haar, Er sinkt dahin und ist dem Tod geweiht. Und sterbend mahnt er seiner Brüder Schar: „Gott ist erhaben über Ort und Zeit.

Wolfgang Müller.

Münchhausen.

103

10. Was er verhüllt, macht nur ein Wunder klar, Drum grübelt nicht, denkt meinem Schicksal nach! Ich weiß: ihm ist ein Tag wie tausend Jahr, Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag."

Börries Freiherr von Münchhausen. 89. Hunnenzug. 1. Finsterer Himmel, pfeifender Wind, Wildöde Heide, der Regen rinnt, Bon fern ein Schein wie ein brennendes Dorf, Mattdüsterer Glanz auf den Lachen im Torf. 2. Da plötzlich ein stampfendes dumpfes Geröll, Wie drohenden Wetters steigender Groll, Und lauter und lauter erdröhnt die 'Erde Vom stürmischen Nahn einer wilden Herde.

3. Ein Hunnenschwarm mit jaulendem Ruf! Dumpf donnert und poltert der Rosse Huf, Es erbebt die Heide, der Schlamm spritzt auf An den dolchbehangenen Sattelknauf.

4. Hell Das Die

Ein köcherumrauschter, gewaltiger Schwarm, Kirren die Spangen an Sattel und Arm, Haupt geneigt auf die struppige Mähne, braune Faust an gespannter Sehne, —

5. Durch den rauschenden Regen wild gellt ihr Schrei, Immer mehr, immer neue jagen herbei Von der Heimatlosen unzählbaren Schar, Der der Sattel Wiege und Sterbebett war. 6. Da endlich die letzten vom Völkerheer, — Zerstampft und zertreten die Heide umher. Ein letztes Wiehern im Winde, — als Spur Auf dem schwarzen Schlamme ein Riemen nur. —

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Münchhausen.

PfarriuS.

7. Finsterer Himmel, pfeifender Wind, Wildöde Heide, der Regen rinnt, Bon fern ein Schein wie ein brennendes Dorf, Und düsterer Glanz auf den Lachen im Torf.

Gustav Pfarrius. 90. Der Trunk a«S dem Stiefel. 1. Da droben saßen sie allzumal Und zechten im alten Rittersaal; Die Fackeln glänzten herab vom Stein Und schimmerten weit in die Nacht hinein.

2. Ließ Wer Dem

Es sprach der Rheingraf: „Ein Kurier jüngst mir diesen Stiefel hier; ihn mit einem Zug wird leeren. soll Dorf Hüffelsheim gehören!"

3. Und lachend goß er mit eigner Hand Voll Wein den Stiefel bis an den Rand Und hub ihn mitten wohl in den Kreis: „Wohlan, ihr Herren, ihr kennt den Preis!"

4. Und Und Zog

Johann von Sponheim hielt sich in Ruh wünschte dem Nachbarn Glück dazu. dieser, Meinhart war's von Dhaun, scheu zusammen die dunkeln Braun.

5. Und Und Sah

Verlegen den Bart sich Flörsheim strich. Kunz von Stromberg schüttelte sich. selbst der mutige Burgkaplan den Koloß mit Schrecken an.

6. Doch Boos von Waldeck rief von fern: „Mir her das Schlückchen! zum Wohl, ihr Herrn!" Und schwenkte den Stiefel und trank ihn leer Und warf sich zurück in den Sessel schwer.

PsarriuS. Platen.

105

7. Und sprach: „Herr Rheingraf, ließ der Kurier Nicht auch seinen andern Stiefel hier? Wasmaßen in einer zweiten Wette Auch Roxheim gerne verdienet hätte."

8. Des lachten sie alle und priesen den Boos Und schätzten ihn glücklich als bodenlos; Doch Hüffelsheim mit Maus und Mann Gehörte dem Ritter Boos fortan.

August Graf von Platen-Hallermünde. 91, DaS Grab im Busento. 1. Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder, Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder.

2. Und den Fluß hinan, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Goten, Die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten. 3. Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben. Während noch die Jugendlocken seine Schulter blond um­ gaben. 4. Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette; Um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.

6. In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde, Senkten tief hinein den Leichnam, mit der Rüstung, auf dem Pferde, 6. Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe, Daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Helden­ grabe.

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Platen.

Reuter.

7. Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß her­ beigezogen: Mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen. 8. Und es sang ein Chor von Männern: „Schlaf in deinen Heldenehren! Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je das Grab versehren!" 9. Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Goten­ heere. — Wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere!

92. Der Pilgrim vor St. Just. 1. Nacht ist's, und Stürme sausen für und für. Hispanische Mönche, schließt mir auf die Tür! 2. Laßt hier mich ruhn, bis Glockenton mich weckt. Der zunr Gebet euch in die Kirche schreckt!

3. Bereitet mir, was euer Haus vermag: Ein Ordenskleid und einen Sarkophag! 4. Gönnt mir die kleine Zelle, weiht mich ein! Mehr als die Hälfte dieser Welt war mein.

5. Das Haupt, das nun der Schere sich bequenlt. Mit mancher Krone ward's bediademt. 6. Die Schulter, die der Kutte nun sich bückt. Hat kaiserlicher Hermelin geschmückt. 7. Nun bin ich,6or dem Tod den Toten gleich Und fall in Trümmer, wie das alte Reich.

Fritz Reuter. 93. Meister Snut's Abschied von seinem Sohn. Den annern Dag steiht Meister Snut In sine Smäd. — Wo halt hei ut! Wo haut hei up bat Isen in! De Funken flogen vör Gewalt Em gläugnig in't Gesicht herin.

Reuter.

Dat zischt un brus't, bat kloppt un klung! De ganz oll Smäd, de sus't un knallt; „So, nu man tau! Treck düller. Jung!" — De Püster-Jung', de treckt un treckt. Bet hei vör Hitt de Tung' ntreckt, Un blöst ut Näs' un pust ut Nüster Noch düller, als sin eigen Püster. Den Meister is hüt nicks tau Dank, Sin Red' is barsch, sin Stirn is krus; Dünn kümmt den Gorentun entlang Jehann un Mudder ut dat Hus'. Jehann, den Bündel upgesackt, Den nigen Haut in Waßdauk packt, Swung sinen knirkern Stock herüm, As wenn hüt up de ganze Jrd' Kein Smädgesell so lustig wir. Doch üm dat Hart ward em so stimm. Em was seindag' noch nich as hüt: Ach Gott, de Welt, de was so wid! Fünn hei sik dorin woll taurecht? Hei hadd tau Hus' woll bliwen müggt.

De Ollsch, de gung an sine Sid, De Hand up sine Schuller leggt. De blage Schört vör bat Gesicht: „Jehanning, wander nich tau wid, Jk heww meindag' süß keine Rauh, Gah nich ut Meckelnborg herut. Für di is 't grot naug, Jehann Snut; Un nimmst du 't Strelitzsch noch dortau — Herr Je! Wo wullst du denn noch hen? Un schriw uns ok mal denn un wenn." Un drückt de Schört sik an dat Og' Un rohrt en Stück, doch binnen flog Dat Hart so stolz, as ’t slagen kann, Dat sei so'n staatschen Jungen tog. So kamen s' nah de Smäd heran. —

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Reuter.

Oll Snut haut up bot Isen in, Dat zischt un sus't, bat klingt un knallt. De Püster-Jung' treckt vör Gewalt, De Püster pust, all wat hei künn. „Ach, Baber," seggt be Ollsch. — „Na, Baber," seggt be Jung'. — De Oll, be smäb't, bat knallt un klung — „Hei is nu hir. . — „Jk bün nu hir. . ." Oll Snut grippt mit be Tang in't Fü'r — Witt gläuht bat Isen linkelang. De Börslag Nimpert pinke — Pank, Bautz! füllt be grote Hamer bal, Un noch einmal, un noch einmal! As wenn so'n Ost füllt ut 'ne Bäuk; Un ’t Isen winb't fit winbelweik, Un Füer spritzt un Funken stöwen. — „Na, Baber, willst kein Antwurt gewen?" — „Ja, Bader, wull abjüs nu seggen." De Oll warb weg den Hamer leggen Un bleibt fit um: „Is bat Manier? So kümmst bu in’ne Smäb herin?

Wer, meinst bu, bat ik für bi bün? Hest bu den Bündel up den Nacken, Denn möst bi an ben Meister wen'n, Dat Baberseggen hett en En'n; Denn beit ’t mit tni »auf Hufschmibtsch' snacken." Jehann gung stilling ut be Smäd. Wo schot bi Badern sine Red' Dat Blaub em gläugnig in't Gesicht, Dat ’t as sin Baders Isen lücht't! Hei kämm taurügg un stunn nu bor. Den blanken Haut up't gele Hör, Stiw as en Pal, grab as 'ne Ell, Un kek nich rechtsch un linksch un frög: „Mit Gunst, baß ich 'rein schreiten mög'? Gott ehr' bas Hanbwerk, Meister unb Gesell." —

Reuter.

„Süh so, mitt Sähn, süh so is ’t recht!

Dat hett noch keinen Schaden Kröcht. Du willst »aus Hufschmidtsch* in de Welt, Un ik, ik heww ok nicks dorgegen. Obschonst »aus Seehahnsch' sihr gefüllt. Un wat uns' Landslüd' sünd, de plegen »Auf Kurnpansch' in de Welt tau teihn. — Na, dat kümmt allens äwerein, . De Hauptsak is, lihr wat, Jehann, Un lumm taurügg as Jhrenmann! Makt 't Handwark di ok buten swart, Holl rein de Hand un rein dat Hart; Is ’t Mark tau En'n un dod dat Fü'r, Denn rnak di sauber, glatt un schir; Dat is ok bin'n kein rendlich Mann, De nich sauber geiht, wenn hei ’t hewwen kann. Drei Johr, dat is 'ne lange Tid, Wenn ein sei vör sik liggen süht; Drei Johr, dat is 'ne körte Spann, Wenn ein sei süht von achter an; Sei sünd tau lang, ürn s' tau beritten; Sei sünd tau kort, ürn uttaulihren. Reis' nich ümher, as blinne Hess', Un sinnst du wat, denn kik irst tau; Wat up de Strat liggt, up den Meß, Dat nimm nich up, dat lat in Rauh! Gedanken gläuh in Helle Ess', Doch sünd sei rein von Slack un Slir, Denn fat bin Mark mit Tangen an — Holl wiß, holl wiß, mtn Sähn Jehann, Un srnäd bin Mark in frischen Fü'r! Un hest du dörch de Welt di flogen, Un hett di ’t buten nich gefoll'n. Denn kannst bi mi mal Umschau holl'n

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Reuter.

Rosegger.

litt kannst nah Arbeit wedder fragen. Süh so, min Sähn! Un nu adjü! litt denk an Muddern un an mi! Utt nu, min Sähn, herun den Haut!" Un leggt de Hand em up den Kopp: „Noch büst du gaud, nu bliw ok gaud!" Un langt den Hamer ut de Eck: „So, nu man tau! Nu, Jung', nu treck!" Jehann utt Mudder gähn herut. „Treck düster. Jung'!" seggt Meister Snut Un swcißt un smäd't, de Funken flogen Em in't Gesicht un in de Ogen, Dat hei sei, wenn ’t de Jung' nich süht, Sik ut de Ogen wischen müßt. „Na," seggt hei, „orndlich narschen is ’t; Wo dumm un dämlich spritzt dat hüt!" —

Peter Rosegger. 94. Mei weißes lamperl (steirische Mundart).

Mi gfreuts, daß t a lamperl hon! Des hot a weißes pölzl on Und äugla wia da lanxintau; Und won t recht tiaf einischau, 5 ’s is gspoaßi ä, kimts mir in sinn: Ei, schod, doß t kä lamperl bin. ’s is nit zwegn, daß i hupfn kant Mit ondern aasn wisngrund! ’s is nit, daß t a pölzl hätt 10 Fürn winta, won der olmwind göt; I möcht nur sein sa guat und frö, As wia mei weißes lamperl dö!

Peter Joseph Rottmann. 95. Die Marktschuhe. 0, hätt dat doch de pestelenz, Dat schuhminsch 16 von Permeaens!

Eich hatt mr vor de märdesmärt Nein balze geld sesannn gespart 5 Un käse bei em, vor se danze, Mer schuh dervor — recht schöne ganze. Die harr eich nörest ähmol än, Do war äch sehnn käh aühl meh drän: ün vorerbläd, quad6r un kabbe 10 Körzheiligklän un lauter labbe. Eich dächt: nau wärt! — det johr dernö War äch mei schuhminsch wierer d6 Und hatt sei schuhe, so wie immer, L6 leie uff der erd stimmet. 15 Do sär eich: hehl hdt der’t gehört? Wat höt der meich so ängefört? Und aärem dann alt rund eraus, So sah et mit de schuhe aus. Doruff fung nau dat schuhminsch än 20 ün hot alt helle lach geschlän Un sät: mei liewes kind, dö schäre Hast dau dr kinne leicht erspäre: Hast dau die schuh nit ängedön, Dau hast se kinne ewig hön. 25 Die sin gemach, vor se verkäse, Un nit, vor drin stimm se läse.

112

Rückert.

Friedrich Rückert. 96. Des fremden Kindes Heilger Christ. 1. Es läuft ein fremdes Kind Am Abend vor Weihnachten Durch eine Stadt geschwind, Die Lichter zu betrachten, Die angezündet sind.

7. Es klopft an Tür und Tor, An Fenster und an Laden; Doch niemand tritt hervor. Das Kindlein einzuladen; Sie haben drin kein Ohr.

2. Es steht vor jedem Haus Und sieht die Hellen Räume, Die drinnen schaun heraus, Die lampenvollen Bäume; Weh wird's ihm überaus.

8. Eiil jeder Vater lenkt Den Sinn auf seine Kinder; Die Mutter sie beschenkt. Denkt sonst nichts mehr noch minder; Ans Kindlein niemand denkt.

3. Das Kindlein weint und spricht: „Ein jedes Kind hat heute Ein Bäumchen und ein Licht Und hat dran seine Freude, Nur bloß ich armes nicht.

9. „O, lieber, Heilger Christ! Nicht Mutter und nicht Vater Hab ich, wenn du's nicht bist; O, sei du mein Berater, Weil man mich hier vergißt!"

10. Das Kindlein reibt die Hand, Sie ist vom Frost erstarret; Es kriecht in sein Gewand Und in dem Gäßlein harret. Den Blick hinausgewandt. 5. Läßt mich denn niemand ein 11. Da kommt nrit einem Licht Und gönntmir auch einFleckchen? Durchs Gäßlein hergewallet In all den Häuserreihn Im weißen Kleide schlicht Ist denn für mich kein Eckchen, Ein ander Kind; — wie schallet Und wär es noch so klein? 6. Läßt mich denn niemand Es lieblich, da es spricht: 4. An der Geschwister Hand, Als ich daheim gesessen, Hat es mir auch gebrannt; Doch hier bin ich vergessen In diesem fremden Land.

ein? Ich will ja selbst nichts haben; Ich will ja nur am Schein Der fremden Weihnachtsgaben Mich laben ganz allein."

12. „Ich bin der heilge Christ, War auch ein Kind vordessen. Wie du ein Kindlein bist; Ich will dich nicht vergessen, Wenn alles dich vergißt.

Rückert. 13. Ich bin mit meinem Wort Bei allen gleichermaßen: Ich biete meinen Hort So gut hier auf den Straßen, Wie in den Ziinmern dort. 14. Ich will dir deinen Baum, Fremd Kind, hier lassen schim­ mern Auf diesem offnen Raum, So schön, daß die in Zimmern So schön sein sollen kaum." 15. Da deutet mit der Hand Christkindlein auf zum Himmel, Und droben leuchtend stand Ein Baum voll Sterngewimmel Vielästig ausgespannt.

16. So fern und doch so nah. Wie funkelten die Kerzen! Wie ward dem Kindlein da, Dem fremden, still zu Herzen, Das seinen Christbaum sah! 17. Es war ihm, wie ein Traum; Da langten hergebogen Englein herab vom Baum Zum Kindlein, das sie zogen Hinauf zum lichten Raum. 18. Das fremde Kindlein ist Zur Heimat nun gekehret. Bei seinem Heilgen Christ, Und was hier wird bescheret. Es dorten leicht vergißt.

97. Chidher. Chidher, der ewig junge, sprach: fuhr an einer Stadt vorbei. Mann im Garten Früchte brach; fragte, seit wann die Stadt hier sei. Er sprach und pflückte die Früchte fort: „Die Stadt steht ewig an diesem Ort Und wird so stehen ewig fort." Und aber nach fünfhundert Jahren Kam ich desselbigen Wegs gefahren. 2. Da fand ich keine Spur der Stadt; Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei, Die Herde weidete Laub und Blatt. Ich fragte: Wie lang ist die Stadt vorbei? Er sprach und blies auf dem Rohre fort: „Das eine wächst, und das andere dorrt; Das ist mein ewiger Weideort." Und aber nach fünfhundert Jahren Kam ich desselbigen Wegs gefahren, »esset uud User, Lesebuch b. M. 8

1. Ich Ein Ich

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Rückert.

3. Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug, Ei» Schiffer warf die Netze frei; Und als er ruhte vom schweren Zug, Fragt ich, seit wann das Meer hier sei. Er sprach und lachte meinem Wort: „So lang als schäumen die Wellen dort. Fischt man und fischt man in diesem Port." Und aber nach fünfhundert Jahren Kam ich desselbigen Wegs gefahren. 4. Da fand ich einen waldigen Raum Und einen Mann in der Siedelei, Er fällte mit der Axt den Baum; Ich fragte, wie alt der Wald hier sei. • Er sprach: „Der Wald ist ein ewiger Hort; Schon ewig wohn ich an diesem Ort, Und ewig wachsen die Bäume hier fort." Und aber nach fünfhundert Jahren Kam ich desselbigen Wegs gefahren. 5. Da fand ich eine Stadt, und laut Erschallte der Markt vom Volksgeschrei. Ich fragte: Seit wann ist die Stadt erbaut? Wohin ist Wald und Meer und Schalmei? Sie schrieen und hörten nicht mein Wort: „So ging es ewig an diesem Ort Und wird so gehen ewig fort." Und aber nach fünfhundert Jahren Will ich desselbigen Weges fahren!

98. «bendlied. 1. Ich stand auf Berges Halde, als heim die Sonne ging. Und sah, wie überm Walde des Abends Goldnetz hing. 2. Des Himmels Wolken tauten der Erde Frieden zu. Bei Abendglockenlauten ging die Natur zur Ruh.

3. Ich sprach:O Herz, empfinde der Schöpfung Stille nun. Und schick mit jedem Kinde der Flur dich auch zu ruhn!

Rückert.

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4. Die Blumen alle schließen die Augen allgemach, Und alle Wellen fließen besänftiget im Bach.

5. Nun hat der müde Sylphe sich unters Blatt gesetzt. Und die Libell am Schilfe entschlummert taubenetzt.

6. Es ward dem goldnen Käfer zur Wieg ein Rosenblatt; Die Herde mit dem Schäfer sucht ihre Lagerstatt. 7. Die Lerche sucht aus Lüften ihr feuchtes Nest im Klee Und in des Waldes Schlüften ihr Lager Hirsch und Reh.

8. Wer sein ein Hüttchen nennet, ruht nun darin sich aus; Und wen die Fremde trennet, den trägt ein Traum nach Haus. 9. Mich fasset ein Verlangen, daß ich zu dieser Frist Hinauf nicht kann gelangen, wo meine Heimat ist.

99. Aus der Weisheit des Brahmanen. 1. Auszug um Auszug. Bon einem König wird erzählt, daß im Palast Er hatte sich gehäuft die größte Bücherlast. Und zog der König aus, so zogen auf den Pfaden Hundert und ein Kamel mit Büchern nach beladen. 5 Da ward er doch gewahr am Ende, daß ihm sei Beschwerlich auf der Fahrt die große Bücherei, Und ließ zu besserer Bequemlichkeit beim Reisen Auszüge machen von hundert und einem Weisen. Von diesen ward gemacht ein Auszug, den beim Zug 10 Des Königes gemach ein starkes Maultier trug. Doch noch bequemer wollt er haben seine Sachen, Und aus dem Auszug ließ er einen Auszug machen. Ein artges Büchlein ward nun aus der Maulticrbürde, Das auf der Reise selbst der König trug mit Würde. 15 Doch immer noch zu sehr belästigte das ihn. Des Auszugs Auszug ließ er aus noch einmal ziehn. Da zogen sie ihm aus dem ausgezogenen Buch Den Kern zusammen kurz in einen einigen Spruch, Den faßt er ins Gemüt und konnt ihn leicht behalten, 20 Um seines Heils danach und seines Reichs zu walten. 8'

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Rückert.

Ob ihm dies Heil gelang? Wenn er's nicht ganz voll­ bracht. So war's nur, weil er selbst -en Auszug nicht gemacht. Das aber ist gewiß, daß aus dem Bücherwust Du machen für dein Heil solch einen Auszug mußt.

2. Sechs Wörter.

Sechs Wörter nehmen mich in Anspruch jeden Tag : Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag. Ich soll ist das Gesetz, von Gott ins Herz geschrieben, Das Ziel, nach welchem ich bin von mir selbst getrieben. 6 Ich muß, das ist die Schrank, in welcher mich die Welt Bon einer, die Natur von andrer Seite hält. Ich kann, das ist das Maß der mir verliehnen Kraft Der Tat, der Fertigkeit, der Kunst und Wissenschaft. Ich will, die höchste Kron ist dieses, die mich schmückt, 10 Der Freiheit Siegel, das mein Geist sich aufgedrückt. Ich darf, das ist zugleich die Inschrift bei dem Siegel, Beim aufgetanen Tor der Freiheit auch ein Riegel. Ich mag, das endlich ist, was zwischen allen schwimmt. Ein Unbestimmtes, das der Augenblick bestimmt. 15 Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag, Die sechse nehmen mich in Anspruch jeden Tag. Nur wenn dn stets mich lehrst, weiß ich, was jeden Tag Ich soll, ich muß, ich kann, ich will, ich darf, ich mag.

100, Rätsel. 1. Was bewegt man, um Fische zu fangen Und in die Stube zu gelangen? 2. Korn wird in ihnen rein gemacht. Und eines gibt mit ihnen acht. Doch wer mft ihnen Wasser schöpft. Der hat Erstaunliches vollbracht.

Rückert.

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3.

Eine nennt im Garten sich. Wie am Himmel die vielen. Nickt und neigt sich, wenn mit ihr Die gleichgcnannten spielen.

4.

Sie trägt ein bittres Laub, Sie trägt viel süße Kräuter, Aus ihr geht, unter ihr Die Kuh mit vollem Euter. 6. In geschickter Künstlerhand Macht er schöne, bunte Sachen; Als ein ungeschickter Mensch Läßt er alles mit sich machen.

6.

Man läßt ihn sprechen, man läßt ihn stechen, ES ist ein Vogel und ein Gebrechen. 7.

Aw Haupt ist's ohne Hut, am Fuß ist's ohne Schuhe, Besonders ist es gut am Geld in deiner Truhe.

8. Das Gebirg hat einen, wo hindurch ich muß. Und mein Pferd geht seinen mit geduldigem Fuß.

9. Es ist der Name einer Frucht, Die zwar denr Gaumen wohl behagt. Doch wo sie sich dem Ohr vereint.

Da wird darüber nur geklagt; Und wer sich die gefallen läßt. Der ist das, was der Name sagt.

Rückert. Sallet.

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IQ Es geht ein unvernünftiges Geschöpf, Geführt von kundger Hand, auf glatten Flächen Und sein gespaltner Huf drückt Spuren ein, Worüber Denker sich den Kopf zerbrechen; Und wenn's auf seinem Gange durstig wird. Tränkt man dazwischen es an trüben Bächen.

11. Wenn's in einer Schale ist, sind's der Teile zweie; Wenn's auf einem Haufen liegt, sind es zwölf und dreie.

Friedrich von Sallet. 101. Ein harmloses Rätsel. 1. Die Und Was

Wie heißt der Mann, den alle lieben. guten Deutschen doch zumeist. der doch nie etwas betrieben. irgend groß und tüchtig heißt?

2. Schlafmütze nennt sich seine-Krone, Und fragt ihr, was er sinnt und tut. Er blinzt und lächelt nur zum Lohne, Wenn jeder stets wie alle tut. 3. Und willst du fassen ihn beim Kragen, Gleich über dich fällt alles her. Du wirst gescholten und geschlagen. Denn alle lieben ihn zu sehr.

4. Ein Kerl, so lappig und so schmächtig, So gänzlich ohne Witz und Mark, Und dennoch herrscht er fast allmächtig. Wer ihn besiegt, ist löwenstark. 5. O, läg er lieber doch zerschlagen. Zerquetscht auf einer Eisenbahn! „Wie heißt er denn?" ich will's euch sagen: „Es ist der alte Schlendrian!"

Scheffel.

Schenlendorf.

Joseph Viktor von Scheffel. 102. Ausfahrt. 1. Berggipfel erglühen, Waldwipsel erblühen, Vom Lenzhauch geschwellt; Zugvogel mit Singen Erhebt seine Schwingen, Ich fahr in die Welt.

2. Mir ist zum Geleite In lichtgoldnem Kleide Frau Sonne bestellt; Sie wirst meinen Schatten Auf blumige Matten, Ich fahr in die Welt. 3. Mein Hutschmuck die Rose, Mein Lager im Moose, Der Himmel mein Zelt: Mag lauern und trauern. Wer will, hinter Mauern, Ich fahr in die Welt!

Max von Schenkendorf. 103. Muttersprache. 1. Muttersprache, Mutterlaut! Wie so wonnesam, so traut! Erstes Wort, das mir erschallet, Süßes, erstes Liebeswort,

Erster Ton, den ich gelastet, Klingest ewig in mir fort.

2. Ach, wie trüb ist meinem Sinn, Wenn ich in der Fremde bin. Wenn ich fremde Zungen üben.

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Schenkendorf.

Fremde Worte brauchen muß, Die ich nimmermehr kann lieben. Die nicht klingen als ein Gruß!

3. Sprache, schön und wunderbar, Ach, wie klingest du so klar! Will noch tiefer mich vertiefen In den Reichtum, in die Pracht; Ist mir's doch, als ob mich riefen Väter aus des Grabes Nacht.

4. Klinge, klinge fort und fort, Heldensprache, Liebeswort! Steig empor aus tiefen Grüften, Längst verschollnes, altes Lied! Leb aufs neu in Heilgen Schriften, Daß dir jedes Herz erglüht! 6. überall weht Gottes Hauch, Heilig ist wohl mancher Brauch; Aber soll ich beten, danken, Geb ich meine Liebe kund. Meine seligsten Gedanken: Sprech ich, wie der Mutter Mund.

104, Vaterland. 1. Im Vaterland, im Vaterland Hat jeder seinen rechten Stand Und rechten Grund gefunden. Da stehe fest und halte drauf! Und flöhest du im schnellen Lauf, Es hätt dich doch gebunden.

2. Ich ziehe nimmer weit hinaus. Ich bin daheim in meinem Haus, Im schönen deutschen Lande. Im ganzen wetten Vaterland Ist alles traut mir und bekannt In jedem frommen Stande:

Schenkendorf.

Schiller.

3. Die hohen Kunden alter Zeit, Die Tage, die uns jüngst erfreut. Das schöne, freie Leben; Auch manches Schloß und manche Stadt. Die deutsche Kunst erbauet hat. Wo Pätergeister schweben. 4. Ihr Hügel, wo die Trauben blühn, Ihr Felder, wo sich Schnitter mühn. Sollt auf den Enkel kommen. Ihr Kirchen, hoch und kühn und zart. Erdacht nach alter deutscher Art, Euch lieben alle Frommen.

6. Zum Eichenwald, zum Eichenwald, Wo Gott in hohen Wipfeln wallt. Möcht ich wohl täglich wandern. Du frommes, kühnes, deutsches Wort, Du bist der rechte Schild und Hort Zur Scheidung von den andern. 6. Das ist das deutsche Vaterland, Da, Jüngling, Jungfrau, sei dein Stand. Da führe du dein Leben! Da will ich stehn, ein grüner Baum, Will träumen manchen selgen Traum Und nach dem Himmel streben.

Friedrich Schiller. 106. Hektors Abschied. Andromache. 1. Will sich Hektor ewig von mir wenden, Wo Achill mit den unnahbar» Händen Dem Patroklus schrecklich Opfer bringt? Wer wird künftig deinen Kleinen lehren Speere werfen und die Götter ehren, Wenn der finstre Orkus dich verschlingt?

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Schiller. Hektor. 2. Teures Weib, gebiete deinen Tränen! Nach der Feldschlacht ist mein feurig Sehnen, Diese Arme schützen Pergamus. Kämpfend für den Hellgen Herd der Götter Fall ich, und des Vaterlandes Retter Steig ich nieder zu dem stygschen Fluß. Andromache. 3. Nimmer lausch ich deiner Waffen Schalle, Müßig liegt dein Eisen in der Halle, Priams großer Heldenstamm verdirbt. Du wirst hingehn, wo kein Tag mehr scheinet. Der Cocytus durch die Wüsten weinet, Deine Liebe in dem Lethe stirbt.

Hektor. 4. All mein Sehnen will ich, all mein Denken In des Lethe stillen Strom versenken, Aber meine Liebe nicht. Horch! der Wilde tobt schon an den Mauern,

Gürte mir das Schwert um, laß das Trauern! Hektors Liebe stirbt int Lethe nicht.

106» Der Ring des PoltzkrateS. 1. Er stand auf seines Daches Zinnen, Er schaute mit vergnügten Sinnen Auf das beherrschte Samos hin. „Dies'alles ist mir untertänig," Begann er zu Ägyptens König, „Gestehe, daß ich glücklich bin!" 2. „Du hast der Götter Gunst erfahren: Die vormals deinesgleichen waren, Sie zwingt jetzt deines Zepters Macht. Doch einer lebt noch, sie zu rächen: Dich kann mein Mund nicht glücklich sprechen. Solang des Feindes Auge wacht."

Schiller.

3. Und eh der König noch geendet. Da stellt sich, von Milet gesendet. Ein Bote den: Tyrannen dar: ,Zaß, Herr, des Opfers Düfte steigen. Und mit des Lorbeers muntern Zweigen Bekränze dir dein festlich Haar: 4. Getroffen sank dein Feind vom Speere! Mich sendet mit der frohen Märe Dein treuer Feldherr Polydor" — Und nimmt aus einem schwarzen Becken, Noch blutig, zu der beiden Schrecken, Ein wohlbekanntes Haupt hervor.

6. Der König tritt zurück mit Grauen. „Doch warn ich dich, dem Glück zu trauen," Versetzt er mit besorgtem Blick. „Bedenk, auf ungetreuen Wellen — Wie leicht kann sie der Sturm zerschellen — Schwimmt deiner Flotte zweifelnd Glück." 6. Und eh er noch das Wort gesprochen. Hat ihn der Jubel unterbrochen. Der von der Reede jauchzend schallt. Mit fremden Schätzen reich beladen. Kehrt zu den heinrischen Gestaden Der Schiffe mastenreicher Wald.

7. Der königliche Gast erstaunet: „Dein Glück ist heute gut gelaunet. Doch fürchte seinen Unbestand. Der Kreter waffenkundge Scharen Bedräuen dich mit Kriegsgefahren: Schon nahe sind sie diesem Strand."

8. Und eh ihn» noch das Wort entfallen. Da sieht man's von den Schiffen wallen. Und tausend Stimmen rufen: „Sieg! Von Feindesnot sind wir befreiet.

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Schiller.

Die Kreter hat der Sturm zerstreuet. Vorbei, geendet ist der Krieg!"

9. Das hört der Gastfreund mit Entsetzen. „Fürwahr, ich must dich glücklich schätzen; Doch," spricht er, „zittr ich für dein Heil; Mir grauet vor der Götter Neide; Des Lebens ungemischte Freude Ward keinem Irdischen zuteil.

10. Auch mir ist alles wohl geraten. Bei allen meinen Herrschertaten Begleitet mich des Himmels Huld; Doch hatt ich einen teuren Erben, Den nahm mir Gott, ich sah ihn sterben. Dem Glück bezahlt' ich meine Schuld. 11. Drum, willst du dich vor Leid bewahren. So flehe zu den Unsichtbaren, Dast sie zum Glück den Schmerz verleih». Noch keinen sah ich fröhlich enden. Auf den mit immer vollen Händen Die Götter ihre Gaben streun. 12. Und wenn's die Götter nicht gewähren, So acht auf eines Freundes Lehren, Und rufe selbst das Unglück her, Und was von allen deinen Schätzen Dein Hexz am höchsten mag ergötzen. Das nimm und wirf's in dieses Meer!"

13. Und jener spricht, von Furcht beweget: „Bon allem, was die Insel heget. Ist dieser Ring mein höchstes Gut. Ihn will ich den Erinnen weihen. Ob sie mein Glück mir dann verzeihen!" Und wirst das Kleinod in die Flut. 14. Und bei des nächsten Morgens Lichte, Da tritt mit stöhlichem Gesichte'

Schill«. Ein Fischer vor den Fürsten hin: „Herr, diesen Fisch hab ich gefangen. Wie keiner noch ins Netz gegangen; Dir zum Geschenke bring ich ihn."

15. Und als der Koch den Fisch zerteilet. Kommt er bestürzt herbeigeeilet Und ruft mit hocherstauntem Blick: „Sieh, Herr, den Ring, den du getragen. Ihn fand ich in des Fisches Magen; O, ohne Grenzen ist dein Glück!" 16. Hier wendet sich der Gast mit Grausen: „So kann ich hier nicht ferner Haufen, Mein Freund kannst du nicht weiter fein. Die Götter wollen dein Verderben: Fort eil ich, nicht mit dir zu sterben." Und sprach's und schiffte schnell sich ein.

107. Rätsel. 1. Es steht ein grob, geräumig Haus Auf unsichtbaren Säulen; Es mibt's und geht's kein Wandrer aus. Und keiner darf drin weilen. 5 Nach einem unbegriffnen Plan Ist es mit Kunst gezimmert; Es steckt sich selbst die Lampe an. Die es mit Pracht durchschimmert. Es hat ein Dach, kristallenrcin, 10 Bon einem einzgen Edelstein; Doch noch kein Auge schaute Den Meister, der cs baute.

2. Zwei Eimer sieht man ab und auf In einen Brunnen steigen.

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Schiller.

Und schwebt der eine voll herauf. Muß sich der andre neigen. 6 Sie wandern rastlos hin und her. Abwechselnd voll und wieder leer. Und bringst du diesen an den Mund, Hängt jener in dem tiefsten Grund; Nie können sie mit ihren Gaben 10 In gleichem Augenblick dich laben. 3.

1. Kennst du das Bild auf zartem Grunde? Es gibt sich selber Licht und Glanz. Ein andres ist's zu jeder Stunde, Und immer ist es frisch und ganz.

2. Im engsten Raum ist's ansgeführet, Der kleinste Rahmen faßt es ein; Doch alle Größe, die dich rühret. Kennst du durch dieses Bild allein. 3. Und kannst du den Kristall mir nennen? Ihm gleicht an Wert kein Edelstein; Er leuchtet, ohne je zu brennen, Das ganze Weltall saugt er ein; 4. Der Himmel selbst ist abgemalet In seinem wundervollen Ring, Und doch ist, was er von sich strahlet. Noch schöner, als was er empfing. 4.

Ich wohne in einem steinernen Haus, Da lieg ich verborgen und schlafe; Doch ich trete hervor, ich eile heraus. Gefordert mit eiserner Waffe. Erst bin ich unscheinbar und schwach und klein. Mich kann dein Atem bezwingen,

Schiller.

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Ein Regentropfen schon saugt mich ein; Doch mir wachsen im Siege die Schwingen. Wenn die mächtige Schwester sich zu mir gesellt. Erwachs ich zum furchtbar» Gebieter der Welt, ö.

1. Ein Vogel ist es, und an Schnelle Buhlt es mit eines Adlers Flug; Ein Fisch ist's und zerteilt die Welle, Die noch kein größres Untier trug; 2. Ein Elefant ist's, welcher Türme Auf seinem schweren Rücken trägt; Der Spinnen kriechendem Gewürme Gleicht es, wenn es die Füße regt; 3. Und hat es fest sich eingebissen Mit seinem spitzgen Eiscnzahn, So steht's gleichwie auf festen Füßen Und trotzt dem wütenden Orkan.

108. Der Alpenjäger. 1 „Willst du nicht das Lämmlein hüten? Länmlein ist so fromm und sanft. Nährt sich von des Grases Blüten, Spielend an des Baches Ranft." „Mutter, Mutter, laß mich gehen Jagen nach des Berges Höhen!"

2. „Willst du nicht die Herde locken Mit des Hornes munterm Klang? Lieblich tönt der Schall der Glocken In des Waldes Lustgesang." „Mutter, Mutter, laß mich gehen Schweifen auf den wilden Höhen!"

3. „Willst du nicht der Blümlein warten. Die im Beete freundlich stehn?

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Schiller.

Draußen ladet dich kein Garten, Wild ist's auf den wilden Höhn!" .Laß die Blümlein, laß sie blühen! Mutter, Mutter, laß mich ziehen!" 4. Und der Knabe ging zu jagen, Und es treibt und reißt ihn fort. Rastlos fort mit blindem Wagen An des Berges finstern Ort; Bor ihm her mit Windesschnelle Flieht die zitternde Gazelle.

5. Auf der Felsen nackte Rippen Klettert sie mit leichtem Schwung, Durch den Riß geborstner Klippen Trägt sie der gewagte Sprung; Aber hinter ihr verwogen Folgt er mit dem Todesbogen.

6. Jetzo auf den schroffen Zinken Hängt sie, auf dem höchsten Grat, Wo die Felsen jäh versinken Und verschwunden ist der Pfad — Unter sich die steile Höhe, Hinter sich des Feindes Nähe.

7. Mit des Jammers stummen Blicken Fleht sie zu dem harten Mann, Fleht umsonst, denn loszudrücken Legt er schon den Bogen an; Plötzlich aus der Felsenspalte Tritt der Geist, der Bergesalte. 8. Und mit seinen Götterhänden Schützt er das gequälte Tier. „Mußt du Tod und Jammer senden," Ruft er, „bis herauf zu mir? Raum für alle hat die Erde: Was verfolgst du meine Herde?"

109* verglich. 1. Am Abgrund leitet der schwindlichte Steg, Er führt zwischen Leben und Sterben; Es sperren die Riesen den einsamen Weg Und drohen dir ewig Verderben; Und willst du die schlafende Löwin nicht wecken. So wandle still durch die Straße der Schrecken.

2. Es schwebt eine Brücke, hoch über den Rand Der furchtbaren Tiefe gebogen. Sie ward nicht erbauet von Menschenhand,

Es hätte sich's keiner verwogen; Der Strom braust unter ihr spat und früh, Speit ewig hinauf und zertrümmert sie nie.

3. Es öffnet sich schwarz ein schauriges Tor, Du glaubst dich im Reiche der Schatte», Da tut sich ein lachend Gelände hervor. Wo der Herbst und der Frühling sich gatten; Aus des Lebens Mühen und ewiger Qual Möcht ich fliehen in dieses glückselige Tal. 4. Bier Ströme brausen hinab in das Feld, Ihr Quell, der ist ewig verborgen ; Sie fließen nach allen vier Straßen der Welt, Nach Abend, Nord, Mittag und Morgen, Und wie die Mutter sie rauschend geboren. Fort fliehn sie und bleiben sich ewig verloren. 5. Zwei Zinken ragen ins Blaue der Lust, Hoch über der Menschen Geschlechter, Drauf tanzen, umschleiert mit goldenem Duft, Die Wolken, die himmlischen Töchter. Sie halten dort oben den einsamen Reihn, Da stellt sich kein Zeuge, kein irdischer, ein.

6. Es sitzt die Königin hoch und Nar Auf unvergänglichem Throne, Hessel und Ufer. Lesebuchs.

M. 9

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Schiller.

Die Stirn umkränzt sie sich wunderbar Mit diamantener Krone; Drauf schießt die Sonne die Pfeile von Licht, Sie vergolden sie nur und erwärmen sie nicht.

110. Der Graf vo« Habsburg. 1. Zu Aachen in seiner Kaiserpracht, Im altertümlichen Saale, Saß König Rudolfs -eilige Macht Beim festlichen Krönungsmahle. Die Speisen trüg der Pfalzgraf des Rheins, Es schenkte der Böhme des perlenden Weins, Und alle die Wähler, die sieben. Wie der Sterne Chor um die Sonne sich stellt. Umstanden geschäftig den Herrscher der Welt, Die Würde des Amtes zu üben.

2. Und rings erfüllte den hohen Balkon Das Volk in freudgem Gedränge; Laut mischte sich in der Posaunen Ton Das jauchzende Rufen der Menge. Denn geendigt nach langem, verderblichem Streit War die kaiserlose, die schreckliche Zeit, Und ein Richter war wieder auf Erden, Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer, Nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr, Des Mächtigen Beute zu werden. 3. Und der Kaiser ergreift den goldnen Pokal Und spricht mit zufriedenen Blicken: „Wohl glänzet das Fest, wohl pranget das Mahl, Mein königlich Herz zu entzücken; Doch den Sänger vermiß ich, den Bringer der Lust, Der mit süßem Klang mir bewege die Brust Und mit göttlich erhabenen Lehren. So hab ich's gehalten von Jugend an. Und was ich als Ritter gepflegt und getan, Nicht will ich's als Kaiser entbehren."

131

Schiller.

4. Und sieh! in der Fürsten umgebenden Kreis Trat der Sänger im langen Talare. Ihm glänzte die Locke silberweiß. Gebleicht von der Fülle der Jahre. „Süßer Wohllaut schläft in der Saiten Gold; Der Sänger singt von der Minne Sold, Er -reiset das Höchste, das Beste, Was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt. Doch sage, was ist des Kaisers wert. An seinem herrlichsten Festes

5. „Nicht gebieten werd ich dem Sänger," spricht Der Herrscher mit lächelndem Munde; „Er steht in des größeren Herren Pflicht, Er gehorcht der gebietenden Stunde: Wie in den Lüften der Sturmwind saust. Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust, Wie der Quell aus verborgenen Tiefen, So des Sängers Lied aus dem Innern schallt Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt, Die im Herzen wunderbar schliefen." 6. Und der Sänger rasch in die Saiten fällt Und beginnt sie mächtig zu schlagen: „Aufs Weidwerk hinaus ritt ein edler Held, Den flüchtigen Gemsbock zu jagen. Ihm folgte der Knapp mit dem Jägergeschoß, Und als er auf seinem stattlichen Roß In eine Au kommt geritten, Ein Glöcklein hört er erklingen fern: Ein Priester war's mit dem Leib des Herrn; Boran kam der Meßner geschritten.

7. Und der Graf zur Erde sich neiget hin. Das Haupt mit Demut entblößet. Zu verehren mit gläubigem Christensinn, Was alle Menschen erlöset. Ein Bächlein aber rauschte durchs Feld, Bon des Gießbachs reißenden Fluten geschwellt, 9*

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Schiller. Das hemmte der Wanderer Tritte, Und beiseit legt jener das Sakrament, Bon den Füßen zieht er die Schuhe behend. Damit er das Bächlein durchschritte. 8. Was schaffst du? redet der Graf ihn an. Der ihn verwundert betrachtet. Herr, ich walle zu einem sterbenden Mann, Der nach der Himmelskost schmachtet. Und da ich mich nahe des Baches Steg, Da hat ihn der strömende Gießbach hinweg Im Strudel der Wellen gerissen. Drum daß dem Lechzenden werde sein Heil, So will ich das Wässerlein jetzt in Eil Durchwaten mit nackenden Füßen.

9. Da setzt ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd Und reicht ihm die prächtigen Zäume, Daß er labe den Kranken, der sein begehrt. Und die heilige Pflicht nicht versäume. Und er selber auf seines Knappen Tier Vergnüget noch weiter des Jagens Begier; Der andre die Reise vollführet. Und am nächsten Morgen, mit dankendem Blick, Da bringt er dem Grafen sein Roß zurück, Bescheiden am Zügel geführet. 10. Nicht wolle das Gott, rief mit Demutssinn Der Gras, daß zum Sttetten und Jagen Das Roß ich beschritte fürderhin, Das meinen Schöpfer getragen! Und magst du's nicht haben zu eignem Gewinst, So bleib eS gewidmet dem göttlichen Dienst! Denn ich hab es dem ja gegeben, Bon dem ich Ehre und irdisches Gut Zu Lehen trage und Leib und Blut Und Seele und Atem und Leben. 11. So mög auch Gott, der allmächtige Hort, Der das Flehen der Schwachen erhöret.

Zn Ehren Euch bringen hier und dort. So wie Ihr jetzt ihn geehret. Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt Durch ritterlich Walten im Schweizerland; Euch blühen sechs liebliche Töchter. So mögen sie, rief er begeistert aus. Sechs Kronen Euch bringen in Euer Haus Und glänzen die spätsten Geschlechter!" 12. Und mit sinnendem Haupt saß der Kaiser da. Als dächt er vergangener Zeiten; Jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah. Da ergreift ihn der Worte Bedeuten; Die Züge des Priesters erkennt er schnell Und verbirgt der Tränen stürzenden Quell In des Mantels purpurnen Falten.

Und alles blickte den Kaiser an Und erkannte den Grafen, der das getan. Und verehrte das göttliche Walten.

Max Schneckenburger. 111. Die Wacht am Rhein. 1. Es braust ein Ruf wie Donnerhall, Wie Schwertgeklirr und Wogenprall: „Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! Wer will des Stromes Hüter sein?"-------„Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Fest steht und treu die Wacht am Rhein!" 2. Durch hunderttausend zuckt es schnell. Und aller Augen blitzen hell. Der deutsche Jüngling, fromm und stark. Beschirmt die heilge Landesmark: „Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Fest steht und treu die Wacht am Rhein!"

IM

Schneckenburger.

Schwab.

3. Auf blickt er in des Himmels Blaun, Wo tote Helden niederschaun. Und schwört mit stolzer Kampfeslust: „Du, Rhein, bleibst deutsch, wie meine Brust. Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Fest steht und treu die Wacht am Rhein! 4. Und ob mein Herz im Tode bricht. Wirst du doch drum ein Welscher nicht: Reich, wie an Wasser deine Flut, Ist Deutschland ja an Heldenblut. Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Fest steht und treu die Wacht am Rhein! 6. Solang ein Tröpfchen Blut noch glüht, Noch eine Faust den Degen zieht Und noch ein Arm die Büchse spannt. Betritt kein Welscher deinen Strand. Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Fest steht und treu die Wacht am Rhein!" 6. Der Schwur erschallt, die Woge rinnt. Die Fahnen flattern in dem Wind. „Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! Wir alle wollen Hüter sein! Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Fest steht und treu die Wacht am Rhein!"

Gustav Schwab. 112. Das Gewitter. 1. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind In dumpfer Stube beisammen sind; Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt, Großmutter spinnet, Urahne gebückt Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl — Wie wehen die Lüfte so schwül!

Schwad.

2. Wie Wie Wie

185

Das Kind spricht: „Morgen ist's Feiertag, will ich spielen im grünen Hag, will ich springen durch Tal und Höhn, will ich pflücken viel Blumen schön: Dem Anger, dem bin ich hold!"

Hört ihr's, wie der Donner grollt? 3. Die Mutter spricht: „Morgen ist's Feiertag, Da halten wir alle fröhlich Gelag; Ich selber, ich rüste mein Feicrkleid: Das Leben, es hat auch Lust nach Leid, Dann scheint die Sonne wie Gold!" Hört ihr's, wie der Donner groltt?

4. Großmutter spricht: „Morgen ist's Feiertag, Großmutter hat keinen Feiertag: Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid, Das Leben ist Sorg und viel Arbett; Wohl dem, der tat, was er sollt!" Hört ihr's, wie der Donner grollt?

5. Urahne spricht: „Morgen ist's Feiertag, Am liebsten morgen ich sterben mag: Ich kann nicht singen und scherzen mehr, Ich kann nicht sorgen und schassen schwer, Was tu ich noch auf der Welt?" Seht ihr, wie der Blitz dort fällt? 6. Sie hören's nicht, sie sehen's nicht. Es flammet die Stube, wie lauter Licht: Urahne, Großmutter, Mutter und Kind Bom Strahl miteinander getnrffen sind, Bier Leben endet ein Schlag — Und morgen ist's Feiertag.

136

Stmrock.

Stöber.

Karl Simrock. 113. Warnung vor dem Rhein. 1. An den Mein Sohn, Da geht dir Da blüht dir

Rhein, an den Rhein, zieh nicht an den Rhein, ich rate dir gut: das Leben zu lieblich ein. zu freudig der Mut!

2. Siehst die Mädchen so frank und die Männer so frei. Als wär es ein adlig Geschlecht, Gleich bist du mit glühender Seele dabei: So dünkt es dich billig und recht.

3. Und zu Schiffe, wie grüßen die Burgen so schön Und die Stadt mit dem ewigen Dom! In den Bergen, wie Nimmst du zu schwindelnden Höhn Und blickst hinab in den Strom!

4. Und im Strome, da tauchet die Nix aus dem Grund, Und hast du ihr Lächeln gesehn. Und grüßt dich die Lurlei mit bleichem Mund, Mein Sohn, so ist es geschehn: 5. Dich bezaubert der Laut, dich betört der Schein, Entzücken faßt dich und Graus. Nun singst du nur immer: am Rhein, am Rhein! Und kehrst nicht wieder nach Haus.

Adolf Stöber. 114. DaS Grab im neuen Münster zu Würzburg. 1. Im Lorenzgarten liegt ei» Stein An einer kühlen Stelle, Da schwirren die Vöglein aus und ein Und pfeifen und singen helle.

2. Es ist ein alter Leichenstein, Bon Trauerweiden beschattet,

Stöber.

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Darunter liegt im engen Schrein Ein Sängerherr bestattet. 3. Die Vöglein waren seine Lust, Er hörte gern ihr Singen Und HÜpste selber in der Brust, Wie muntre Vöglein springen.

4. Der Sänger lauschte, mit Acht und Müh Der Lerche Ton zu lernen: Auch schallt sein Lied wie Morgenfrüh Aus himmelblauen Fernen. 5. Er lernte von der Nachtigall Das innigliche Kosen; Drum singt er ost mit süßem Schall Bon Minnelust und Rosen. 6. Auch liebt' er, wie die Vögelein, Ein Wanderleben führen Und Gärten und Felder aus und ein Die Flügel frisch zu rühren. 7. Und Bis Auf

So streift' er über den Wiesengrund über die Bergesgipfel, er ein warmes Nestchen fund einem stolzen Wipfel.

8. An Vögel mahnt des Sängers Nam, Ein Vöglein saß im Schilde, Und als es nun zu sterben kam, Bedacht er sie gar milde:

9. Und Und Für

„Vier Löcher höhlt in meinen Stein senkt darin vier Tröglein, schüttet Wasser und Körner ein meine lieben Vöglein!"

10. Und was er bat im letzten Drang, Willfahret ward ihm eilig. Die Klosterbrüder hielten lang Des Sängers Willen heilig.

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Stöber.

Gras zu Stolberg.

11. Herr Walther von der Bogelweid Ist unser Meister geheißen; Noch fliegen Vögel aus Wald und Heid Und singen frische Weisen.

Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. 115. Lied eines deutsche« Knabe«. 1. Mein Arm wird stark und groß mein Mut: Gib, Vater, mir ein Schwert! Verachte nicht mein junges Blut; Ich bin der Väter wert.

2. Ich finde fürder keine Ruh Im weichen Knabenstand; Ich stürb, o Vater, stolz wie du. Den Tod fürs Vaterland! 3. Schon früh in meiner Kindheit war Mein täglich Spiel der Krieg; Im Bette träumt ich nur Gefahr Und Wunden nur und Sieg. 4. Aus Noch Dem

Mein Feldgeschrei erweckte mich mancher Türkenschlacht; jüngst ein Faustschlag, welchen ich Bassa zugedacht.

5. Auf Und, Das

Da neulich unsrer Krieger Schar dieser Straße zog wie ein Bogel, der Husar Haus vorüberflog,

6. Da gaffte starr und freute sich Der Knaben froher Schwarm; Ich aber, Vater, härmte mich Und prüfte meinen Arm.

Gras zu Stolberg.

Stoltze.

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7. Mein Arm ist stark und groß mein Mut: Gib, Vater, mir ein Schwert! Verachte nicht mein junges Blut; Ich bin der Väter wert.

Friedrich Stoltze. 116. Weihnacht-lied. 1. Und zögst du tausend Meilen weit In alle Welt hinaus. Und kommt die liebe Weihnachtszeit, Du wolltst, du wärst zu Haus! Die Nachtigall, so süß sie singt. Weckt Sehnsucht nicht so sehr. Als wenn das Weihnachtsglöckchen klingt Bon deiner Heimat her. 2. Da fällt dir mit dem Tannenbaum Und mit dem Lichterschein Der ganze schöne, goldne Traum Von deiner Kindheit ein. Es wird dir so erinnrungsmild. Die Tränen kommen schier, Und manches liebe Menschenbild Tritt vor die Seele dir.

3. Und mancher, der dir teuer war Und Gutes dir erzeigt. Der schläft nun auch schon manches Jahr: Die Erde sei ihm leicht! Und wem du in der Heimat bist In Liebe zugetan, Dem stecktest du zum Heilgen Christ Gern auch ein Lämpchen an. 4. Und bist geschieden du in Groll, Heut tut dir's doppelt leid

Und denkst nach Haus wohl wehmutsvoll: Das macht die Weihnachtszeit! Denn bittrer ist die Fremde nicht Ms in der Weihnachtslust, Wo du, ein unbekannt Gesicht, Beiseite treten mußt. 5. Drum, zögst du tausend Meilen weit In alle Welt hinaus. Und kommt die liebe Weihnachtszeit, Du wolltst, du wärst zu Haus! Die Nachtigall, so süß sie singt. Weckt Sehnsucht nicht so sehr. Ms wenn das Weihnachtsglöcklein Uingt Von deiner Heimat her. 117. Frankfurt.

1. Es is kä stadt uff der weite weit, Die so mer wie mei Frankfort gefällt, Un es will mer nit in mei kopp enei: Wie kann nor e mensch net von Frankfort sei? 2. Un wärsch e engel un sonnekalb, B fremder is immer von außerhalb; Der beste mensch is e ärgernis, Wann er net ach von Frankfort is.

3. Was is Die hawwes Un hawwes Daß se net 4. Die Die Die

des Offebach vor e stadt! ganz in der näh gehatt, verhaßt von äbeginn, ach von Frankfort sin.

Die Bockemer hawwe weiter geblickt, hawwe mit uns zusairmegerickt, Bememer awwer warn ach net dumm, gäwe sogar e milljön dadrum.

Moritz Graf von Strachwitz. 118. Hie «elf. 1. Fürwahr, ihr Langobarden, das war ein schwerer Tritt, Den Friedrich Barbarossa durch Mailands Bresche ritt! Licht war das Roß des Kaisers, ein Schimmel von Geburt, Das war mit welschem Blut gescheckt bis über den Sattelgurt. 2. Es saß der Hohenstaufe in Stahl von Fuß zu Kops, Er stemmte wider die Hüfte den schweren Schwertesknopf, Das Haupt zurückgeworfen, die Lippe kniff sich schlimm. Sein Bart stob all zu berge, und jedes Haar war Grimm. 3. Wie lägest du, o Mailand, du, sonst so hoch und frei, Zertreten im blutigen Staube, du Perle der Lombardei! Der Schutt im Winde wirbelte, wo Säulen geragt unlängst. Und über dem Marmor stampfte der schwerhufige Friesen­ hengst. 4. Und Stille über den Trümmern und Stille in dem Troß, Da zügelte der Mcher sein kaiserliches Roß. Und tiefer ward die Stille, denn alles stand zur Stell, Quer auf des Siegers Wege lag ein sterbender Rebell.

5. Der bäumte sich gewaltig mit halbem Leib hochauf Und sah mit unauslöschlichem, tödlichem Grimm herauf! Er wimmerte nicht: Erbarmen! Er winselte nicht: Gott -elf! Er knirschte unter dem Helme vor sein trotziges: Hie Welf! 6. Das packte den Vertilger, wie fest er sich geglaubt. Ihm schlug ein schwarzer Gedanke die schweren Flügel ums Haupt: Er sah an südlichem Meere ein dunkelrot Schaffst, Drauf kniete der letzte Staufe das letzte Mal vor Gott.

Trojan.

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Johannes Trojan. 119. Heidekraut. 1. In dem dufigen Nadelwalde, Hügelab dem Meere zu. Keine ist auf Heid und Halde Zierlicher gebaut als du.

2. Zwar dem Pflug mit zähen Ästchen Wehrst du kühn sein hartes Recht; Schützend doch um manches Nestchen Breitest du dein Zweiggeflecht. 3. Über Wies Und

Heißer Erntetag erglühte goldgeschmückten Aun, und Garten stand in Blüte, noch lag die Heide braun.

4. Plötzlich mit unzählgen Äuglein Blickst du in die Welt hinaus. Und ein jedes schlanke Zweiglein Wird zum allerliebste» Strauß. 6. Plötzlich auf der stillen Weite Regt sich summender Verkehr; Bielgeschäftge Arbeitsleute, Zieh« die Bienchen hin und her. 6. Welch ein Wald, ein dichtverzweigter. Für der kleinen Elfen Schar! Königskerz, ein goldner Leuchter, Ragt darüber' stolz und klar.

7. Welch ein Teppich, schön gewoben Von dem schimmernd roten Kraut! Welch ein Beet dem, der von oben Auf der Erde Garten schaut!

Trojan.

120. Aiervohiren. 1. Unten, wo die Käfer spielen. Kann sich einer wohlig fühlen! Oben, wo die Bögel fliegen. Ist gewiß noch mehr Vergnügen. Mills versuchen! 2. Hier an dieser Laube Sprossen Klimm ich aufwärts keck entschlossen. Schmiegsam, biegsam, schlank gestaltet. Bretterchen, ich bitt euch, haltet! Denn sonst fall ich.

3. Spinnlein, nicht an meine Ranke Knüpf dein Netz! Ich gleit und schwanke. Wind! was zerrst du mich! was ziehst du Mich zurück? dir trotzend — siehst du — Bin ich oben. 4. O, wie weit die Welt! Tief unter Mir erblüht es bunt und bunter. Schon mit Blumen, wie Korallen Leuchtend rot, hoch über allen Blühend prang ich.

5. übers Dach der Laube nickend Wie ein Schlänglein, um mich blickend. Hier- und dorthin suchend neig ich Mich sehnsüchtig; ach! wie steig ich Weiter aufwärts? 6. Hier und dort kein Halt zu finden! Nichts zu fassen, zu umwinden! Lerche, froh im Blauen schwebend Über mir, sprich, Auskunft gebend: Wie geht's weiter?

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Trojan.

121. Maßliebchen. 1. Dort, wo dein Aug die Trift erblickt. Wo Dolde schwankt und Rispe nickt. Der Storch, ernst schreitend, oft sich bückt, Siehst bii sie blühn: Biel tausend sind rotweiß gestickt Ins samtne Grün.

2. Sie sitzen da so niedlich, wie Dorfkinder, die am Sonntag früh Zum Kirchgang find geputzt mit Müh. Sie warten still. Ob Sonnenschein, ob Regen sie Beglücken will. 3. Früh, wenn der junge Tag erglüht. Weckt sie vom Schlaf ^der Lerche Lied,

Die jubelnd auf sie niedersieht Hoch aus dem Blau. Froh schauern sie, ganz übersprüht Bon klarem Tau. 4. Doch wenn der Tag die Flur verläßt, Der müde Bogel sucht sein Nest, Kvrnblum und Mohn sich wiegt im WeL: Dann senkt zur Ruh Sein Köpfchen jedes und schließt fest Die Augen zu.

6. Biel andre küßt das Sonnenlicht, Die stolzer blühn, doch holder nicht, Die so bescheiden, die so schlicht Im Grünen stehn: Was rührend uns zum Herzen spricht, Macht sie so schön.

Trojan.

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122. Herbst. 1. Rot wird das Laub am wilden Wein, Die Lust geht schon so herbstlich kühl; Das Eichhorn-sagt: »Letzt fahr ich ein; Schon lose sitzt die Nuß am Stiel."

2. Dem Sperling geht's nicht schlecht, er speist Den ganzen Tag, bald hier, bald dort. Er sagt: „Die Schwalb ist schon verreist. Gut, daß sie fort! gut, daß sie fort!" 3. Im Garten um den Rosenstrauch, Da klingt ganz anders das Gered. Ein Blümchen spricht: „Meist ihr'- nicht auch? Es wird so trüb, so still und öd.

4. Das Bienchen flog doch sonst so flink Bei uns umher — wo ist es nun? Weiß eine- was vom Schmetterling? Der hatt sonst hier so viel zu tim." 6. Ein zweites sagt: „Eh man's gedacht. Kommt schon die Nacht und weilt so lang. Wie lieblich war doch einst die Nacht!

Nun ist sie gar unheimlich bang. 6. Bis Ach, Ms

Wie muß man warten morgens früh.

daß die Sonn guckt übern Zaun; und ganz anders wärmte sie. sie noch gern uns mochte schaun."

7. Ein drittes drauf: „Mir sintt der Mut, Der Morgentau, der ist so kalt! Die Spinne sagt: Es wird noch gut! Ach, wenn's nur würd! und würd's nur bald! 8. Nur einmal noch so, wie es war. Nur ein paar sonnge Tage noch. 's wird nicht mehr viel — ich seh es Kar! Und leben, leben möcht man doch!" unk Uf«t, Seftbuch 6.

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Uhland.

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Ludwig Uhland. 128. DaS Schloß am Meer. 1. „Hast du das Schloß gesehen. Das hohe Schloß am Meer? Golden und rosig wehen Die Wolken drüber her. 2. Es möchte sich niederneigen In die spiegelklare Flut: Es möchte streben und steigen In der Wendwolken Glut." 3. Das Und Und

„Wohl hab ich es gesehen. hohe Schloß am Meer, den Mond darüber stehen. Nebel weit umher."

4. „Der Wind und des Meeres Wallen, Gaben sie frischen Klang? Vernahmst du aus hohen Hallen Saiten und Festgesang?"

6. „Die Winde, die Wogen alle Lagen in tiefer Ruh; Einem Klagelied aus der Halle Hört ich mit Tränen zu."

6. „Sahst du oben gehen Den König und sein Gemahl, Der roten Mäntel Wehen, Der goldnen Kronen Strahl?

7. Führten sie nicht mit Wonne Eine schöne Jungfrau dar. Herrlich wie eine Sonne, Strahlend im goldnen Haar?"

8. „Wohl sah ich die Eltern beide. Ohne der Kronen Licht, Im schwarzen Trauerkleide; Die Jungfrau sah ich nicht."

Uhland.

124. Klein Roland. 1. Frau Bertha saß in der Felsenkluft, Sie klagt' ihr bittres Los. Klein Roland spielt' in freier Luft, Des Klage war nicht groß. „O König Karl, mein Bruder hehr! O, daß ich floh von dir! Uni Liebe ließ ich Pracht und Ehr, Nun zürnst du schrecklich mir. 2. O Milon, mein Gemahl so süß! Die Flut verschlang mir dich. Die ich um Liebe alles ließ. Nun läßt die Liebe mich. Klein Roland, du mein teures Kind, Nun Ehr und Liebe mir. Klein Roland, komm herein geschwind! Mein Trost kommt all von dir. 3. Klein Roland, geh zur Stadt hinab. Zu bitten um Speis und Trank, Und wer dir gibt eine kleine Gab, Dem wünsche Gottes Dank!" Der König Karl zur Tafel saß Im goldnen Rittersaal, Die Diener liefen ohn Unterlaß Mit Schüssel und Pokal.

4. Von Flöten, Saitenspiel, Gesang Ward jedes Herz erfreut. Doch reichte nicht der Helle Klang Zu Berthas Einsamkeit. Und draußen in des Hofes Kreis, Da saßen der Bettler viel. Die labten sich an Trank und Speis Mehr, als am Saitenspiel. 5. Der König schaut in ihr Gedräng Wohl durch die offne Tür,

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Uhland.

Da drückt sich durch die dichte Meuii Ein feiner Knab Herfür. Des Knaben Kleid ist wunderbar, Bierfarb zusammengestückt; Doch weilt er nicht bei der Bettlerschar, Herauf zum Saal er blickt. 6. Herein zum Saal Nein Roland tritt. Als war's sein eigen Haus. Er hebt eine Schüssel von Tisches Mitt Und trägt sie stumm hinaus. Der König denN: „Was muß ich sehn? Das ist ein sondrer Brauch." Doch weil er's ruhig läßt geschehn. So lassen's die andern auch. 7. Es stund nur an eine Heine Weil, Klein Roland kehrt in den Saal; Er tritt zum König hin mit Eil Und faßt seinen Goldpokal. „Heida! halt an, du kecker Wicht!" Der König ruft es laut. Klein Roland läßt den Becher nicht. Zum König auf er schaut.

8. Der König erst gar finster sah. Doch lachen mußt er bald: „Du trittst in die goldne Halle da. Wie in den grünen Wald. Du nimmst die Schüssel von Königs Tisch, Wie man Äpfel bricht vom Baum; Du holst wie aus dem Bronnen frisch Meines roten Weines Schaum." 9. „Die Bäurin schöpft aus dem Bronnen frisch, Die bricht die Äpfel vom Baum; Meiner Mutter ziemet Wildbret und Fisch, Ihr roten Weines Schaum."

Uhland.

,Lst deine Mutter so edle Dam, Wie du berühmst, mein Kind, So hat sie wohl ein Schloß lustsanr Und stattlich Hofgesind? 10. Sag an, wer ist denn ihr Truchseß? Sag an, wer ist ihr Schenk?" „Meine rechte Hand ist ihr Truchseß, Meine linke, die ist ihr Schenk." „Sag an, wer sind die Wächter treu?" — „Mein Augen blau allstund." „Sag an, wer ist ihr Sänger srei?" — „Der ist mein roter Mund."

11. „Die Dam hat wackre Diener, traun! Doch liebt sie sondre Livrei, Wie Regenbogen anzuschaun. Mit Farben mancherlei." „Ich hab bezwungen der Knaben acht, Bon jedem Viertel der Stadt, Die haben mir als Zins gebracht Vielfältig Tuch zur Wat."

12. „Die Dame hat, nach meinem Sinn, Den besten Diener der Welt. Sie ist wohl Bettlerkönigin, Die offne Tafel hält? So edle Dame darf nicht fern Von meinem Hofe sein. Wohlauf, drei Damen! auf, drei Herrn! Führt sie zu mir herein!" 13. Klein Roland trägt den Becher flink Hinaus zum Prunkgemach; Drei Damen, auf des Königs Wink, Drei Ritter folgen nach. Es stund nur an eine Keine Weil, Der König schaut in die Fern,

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Uhland. Da kehren schon zurück mit Eil Die Damen und die Herrn. 14. Der König ruft mit einem Mal: „Hilf Himmel! seh ich recht? Ich hab verspottet im offnen Saal Mein eigenes Geschlecht. Hilf Himmel! Schwester Bertha, bleich, Im grauen Pilgergewand? Hilf Himmel! in meinem Prunksaal reich. Den Bettelstab in der Hand?" 15. Frau Bertha fällt zu Füßen ihm. Das bleiche Frauenbild. Da regt sich plötzlich der alte Grimm, Er blickt sie an so wild. Frau Bertha senkt die Augen schnell. Kein Wort zu reden sich traut. Klein Roland hebt die Augen hell. Den Ohm begrüßt er laut.

16. Da spricht der König in mildem Ton: „Steh auf, du Schwester mein! Um diesen deinen lieben Sohu Soll dir verziehen sein." Frau Bertha hebt sich freudenvoll: „Lieb Bruder mein, wohlan! Klein Roland dir vergelten soll. Was du mir Guts getan. 17. Soll werden, seinem König gleich. Ein hohes Heldenbild; Soll führen die Färb von manchem Reich In seinem Banner und Schild, Soll greifen in manches Königs Tisch Mit seiner freien Hand; Soll bringen zu Heil und Ehre frisch Sein seufzend Mutterland."

Uhland.

125. «oland Schildträger. 1. Der König Karl saß einst zu Tisch Zu Aachen mit den Fürsten. Man stellte Wildbret auf und Fisch Und ließ auch keinen dürsten. Biel Goldgeschirr von klarem Schein, Manch roten, grünen Edelstein Sah man im Saale leuchten.

2. Da sprach Herr Karl, der starke Held : „Was soll der eitle Schimmer? Das beste Kleinod dieser Welt, Das fehlet uns noch immer; Dies Kleinod, hell wie Sonnenschein, Ein Riese trägt's im Schilde sein Tief im Ardennerwalde." 3. Graf Richard, Erzbischof Turpin, Herr Haimon, Naims von Baiern, Milon von Anglant, Graf Garin, Die wollten da nicht feiern; Sie haben Stahlgewand begehrt Und hießen satteln ihre Pferd', Zu reiten nach dem Riesen. 4. Jung Roland, Sohn des Milon, sprach: „Lieb Vater, hört! ich bitte: Vermeint Ihr mich zu jung und schwach, Daß ich mit Riesen stritte, Doch bin ich nicht zu winzig mehr. Euch nachzutragen Euern Speer Samt Eurem guten Schilde."

5. Die sechs Genossen ritten bald Vereint nach den Ardennen; Doch als sie kamen in den Wald, Da täten sie sich trennen.

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Roland ritt Hinterm Vater her; Wie wohl ihm war, des Helden Speer, Des Helden Schlld zu tragen! 6. Bei Sonnenschein und Mondenlicht Streiften die kühnen Degen; Doch fanden sie den Riesen nicht In Felsen noch Gehegen. Zur Mittagsstund am vierten Tag

Der Herzog Milon schlafen lag In einer Eiche Schatten.

7. Roland sah in der Ferne bald Ein Blitzen und ein Leuchten, Davon die Strahlen in dem Wald Die Hirsch und Reh aufscheuchten; Er sah, es kam von einem Schild, Den trug ein Riese groß und wild. Vom Berge niedersteigend. 8. Roland gedacht im Herzen sein: „Was ist das für ein Schrecken? Soll ich den lieben Vater mein Im besten Schlaf erwecken? Es wachet ja sein gutes Pferd, Es wacht sein Speer, sein Schild und Schwert, Es wacht Roland, der junge." 9. Roland das Schwert zur Seite band, Hetrn Milons starkes Waffen; Die Lanze nahm er in die Hand Und tät den Schild aufraffen; Herrn Milons Roß bestieg er dann Und ritt erst sachte durch den Tann, Den Vater nicht zu wecken.

10. Und als er kam zur Felsenwand, Da sprach der Ries' mit Lachen:

Uhland.

„WaS will doch dieser kleine Fant Auf solchem Stoffe machen? Sein Schwert ist zwier so lang als er, Bom Stoffe zieht ihn schier der Speer, Der Schild will ihn erdrücken." 11. Jung Roland ries: „Wohlauf zum Streit! Dich reuet noch dein Necken. Hab ich die Tartsche lang und breit. Kann sie mich besser decken; Ein kleiner Mann, ein großes Pferd, Ein kurzer Arm, ein langes Schwert, Muß eins dem andern helfen."

12. Der Riese mit der Stange schlug, Auslangend in die Weite; Jung Stoland schwenkte schnell genug Sein Roß noch auf die Seite. Die Lanz er auf den Riesen schwang; Doch von dem Wunderschilde sprang Auf Roland sie zurücke. 13. Jung Roland nahm in großer Hast Das Schwert in beide Hände, Der Riese nach dem seinen faßt, Er war zu unbehende. Mit flinkem Hiebe schlug Stoland Ihm unterm Schild die linke Hand, Daß Hand und Schild entrollten. 14. Dem Riesen schwand der Mut dahin. Wie ihm der Schild entrissen; Das Kleinod, das ihm Kraft verliehn, Mußt er mit Schmerzen missen. Zwar lies er gleich dem Schilde nach. Doch Stoland in das Knie ihn stach. Daß er zu Boden stürzte.

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15. Roland ihn bei den Haaren griff. Hieb ihm das Haupt herunter. Ein großer Strom von Blute lies Ins tiefe Tal hinunter; Und aus des Toten Schild hernach Roland das lichte Kleinod brach Und freute sich am Glanze. 16. Dann barg er's unterm Kleide gut Und ging zu einem Quelle: Da wusch er sich von Staub und Blut Gewand und Waffen helle. Zurücke ritt der jung Roland Dahin, wo er den Vater fand Noch schlafend bei der Eiche.

17. Er legt' sich an des Vaters Seit, Vom Schlafe selbst bezwungen, Bis in der kühlen Abendzeit Herr Milon aufgesprungen: „Wach auf, wach auf, mein Sohn Roland! Nimm Schild und Lanze schnell zur Hand, Daß wir den Riesen suchen!" 18. Sie stiegen auf und eilten sehr. Zu schweifen in der Wilde. Roland ritt hinterm Vater her Mit dessen Speer und Schilde. Sie kamen bald zu jener Stätt, Wo Roland jüngst gestritten hätt; Der Riese lag im Blute.

19. Roland kaum seinen Augen glaubt'. Als nicht mehr war zu schauen Die linke Hand, dazu das Haupt, So er ihm abgehauen. Nicht mehr des Riesen Schwert und Speer, Auch nicht sein Schild und Harnisch mehr. Nur Rumpf und blutge Glieder.

Uhland. 20. Milon besah den großen Rumpf: „Was ist das für 'ne Leiche? Man sieht noch am zerhaunen Stumpf, Wie mächtig war die Eiche. Das ist der Riese. Frag ich mehr? Verschlafen hab ich Sieg und Ehr, Drum muß ich ewig trauern." 21. Zu Aachen vor dem Schlosse stund Der König Karl gar bange: „Sind meine Helden wohl gesund? Sie weilen allzulange. Doch seh ich recht, auf Königswort, So reitet Herzog Haimon dort. Des Riesen Haupt am Speere." 22. Herr Haimon ritt in trübem Mut, Und mit gesenktem Spieße Legt' er das Haupt, besprengt mit Blut, Dem König vor die Füße: „Ich fand den Kopf im wilden Hag, Und fünfzig Schritte weiter lag Des Riesen Rumpf am Boden." 23. Bald auch der Erzbischof Turpin Den Riesenhandschuh brachte. Die ungefüge Hand noch drin; Er zog sie aus und lachte: „Das ist ein schön Reliquienstück; Ich bring es aus dem Wald zurück, Fand es schon zugehauen."

24. Der Herzog Naims von Baierland Kam mit des Riesen Stange: „Schaut an, was ich im Walde fand! Ein Waffen stark und lange. Wohl schwitz ich von dem schweren Druck; Hei, bairisch Bier, ein guter Schluck Sollt mir gar köstlich munden!"

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25. Graf Richard kam zu Fuß daher. Ging neben seinem Pferde; Das trug des Riesen schwere Wehr, Den Harnisch samt dem Schwerte: „Wer suchen will im wilden Tann, Manch Waffenstück noch finden kann. Ist mir zu viel gewesen." 26. Der Graf Garin tät ferne schon Den Schild des Riesen schwingen. „Der hat den Schild, des ist die Kron, Der wird das Kleinod bringen!" „Den Schild hab ich, ihr lieben Herrn k Das Kleinod hätt ich gar zu gern. Doch das ist ausgebrochen."

27. Zuletzt tät man Herrn Milon sehn. Der nach dem Schlosse lenkte; Er ließ das Rößlein langsam gehn, Das Haupt er traurig senkte. Roland ritt hinterm Vater her Und trug ihm seinen starken Speer Zusamt dem festen Schilde. 28. Doch wie sie kamen vor das Schloß Und zu den Herrn geritten, Machb er von Vaters Schilde los Die Zierat' in der Mitten; Das Riesenkleinod setzt' er ein, Das gab so wunderklaren Schein, Ms wie die liebe Sonne. 29. Und als nun diese helle Glut Im Schilde Milons brannte, Da rief der König frohgemut: „Heil, Milon von Anglante! Der hat den Riesen übermannt. Ihm abgeschlagen Haupt und Hand, Das Kleinod ihm entrissen."

Wonb.

30. Herr Milon hatte sich gewandt. Sah staunmd all die Helle: „Roland, sag an, du junger Fant! Wer gab dir das. Gesellet „Um Gott, Herr Vater, zürnt mir nicht. Daß ich erschlug den groben Wicht, Derweil Ihr eben schliefet!"

126. Die versunkene Krone. 1. Da droben auf dem Hügel, Da steht ein kleines Haus; Man sieht von seiner Schwelle Ins schöne Land hinaus. Dort sitzt ein freier Bauer Am Abend auf der Bank, Er dengelt seine Sense Und singt dem Himmel Dank. 2. Da drunten in dem Grunde, Da dämmert längst der Teich. Es liegt in ihm versunken Eine Krone stolz und reich; Sie läßt zunacht wohl spielen Karfunkel und Saphir; Sie liegt seit grauen Jahren, Und niemand sucht nach ihr.

127. Die sterbenden Helden. 1. Der Dänen Schwerter drängen Schwedens Heer Zum wilden Meer, Die Wagen klirren fern, es blinkt der Stahl Im Mondenstrahl, Da liegen, sterbend, auf dem Leichenfeld Der schöne Sven und lös, der graue Held.

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Sven. 2. „O Vater! daß mich in der Jugend Kraft Die Norne rafft! Nun schlichtet nimmer meine Mutter mir Der Locken Zier; Vergeblich spähet meine Sängerin Vom hohen Turm in alle Ferne hin."

Ulf. 3. „Sie werden jammern, in der Nächte Graun Im Traum uns schaun. Doch sei getrost! bald bricht der bittre Schmerz Ihr treues Herz; Dann reicht die Buhle dir bei Odins Mahl, Die goldgelockte, lächelnd den Pokal." Sven. 4. „Begonnen hab ich einen Festgesang Zum Saitenklang. Von Königen und Helden grauer Zeit In Lieb und Streit. Verlassen hängt die Harfe nun, und bang Erweckt der Winde Wehen ihren Klang."

Ulf.

5. „Es glänzet hoch und hehr im Sonnenstrahl Allvaters Saal, Die Sterne wandeln unter ihm, es ziehn Die ©türme hin. Dort tafeln mit den Vätern wir in Ruh, Erhebe dann dein Lied und end es du!" Sven. 6. „O Vater! daß mich in der Jugend Kraft Die Norne rafft! Noch leuchtet keiner hohen Taten Blld Auf meinem Schild; Zwölf Richter thronen hoch und schauerlich. Die werten nicht des Heldenmahles mich."

U-land.

Ulf. 7. „Wohl wieget eines viele Taten auf — Sie achten drauf — Das ist um deines Vaterlandes Not Der Heldentod. Sieh hin! die Feinde fliehen. Blick hinan! Ter Himmel glänzt, daUn ist unsre Bahn!"

128. Der blinde König. 1. Was steht der nordschen Fechter Schar Hoch auf des Meeres Bord? Was will in seinem grauen Haar Der blinde König dort? Er ruft, in bittrem Harme Auf seinen Stab gelehnt. Daß überm Meeresarme Das Eiland widertönt:

2. „Gib, Räuber, aus dem Felsverlies Die Tochter mir zurück! Ihr Harfenspiel, ihr Lied so süß War meines Alters Glück. Bom Tanz auf grünem Strande Hast du sie weggeraubt. Dir ist es ewig Schande, Mir beugt's das graue Haupt." 3. Da tritt aus seiner Kluft hervor Der Räuber groß und wild. Er schwingt sein Hünenschwert empor Und schlägt an seinen Schild: „Du hast ja viele Wächter, Warum denn litten's die? Dir dient so mancher Fechter, Und keiner kämpft um sie?"

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Ubland.

MO

4. Noch stehn die Fechter alle stumm. Tritt kemer aus den Reihn, Der blinde König kehrt sich um: „Bin ich dann ganz allein?" Da faßt des Vaters Rechte Sein junger Sohn so warm:' „Vergönn mir's, daß ich fechte! Wohl fühl ich Kraft im Arm."

6. „O Sohn! der Feind ist riesenstark. Ihm hielt noch keiner stand. Und doch! in dir ist edles Mark, Ich fühl's am Druck der Hand. Nimm hier die alte Klinge! Sie ist der Skalden Dreis, Und fällst du, so verschlinge Die Flut mich armen Greis!" 6. Der Der Und Bis Der Und Und

Und horch! es schäumet, und es rauscht Nachen übers Meer; blinde König steht und lauscht. alles schweigt umher. drüben sich erhoben Schild' und Schwerter Schall Kampfgeschrei und Toben dumpfer Widerhall.

7. Da ruft der Greis so freudig bang: „Sagt an, was ihr erschaut! Mein Schwert, ich kenn's am guten Klang, Es gab so scharfen Laut." „Der Räuber ist gefallen. Er hat den blutgen Lohn. Heil dir, du Held vor allen. Du starker Königssohn!"

8. Und wieder wird es still umher. Der König steht und lauscht:

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Uhland.

„Was hör ich kommen übers Meer? Cs rudert, und es rauscht." „Sie kommen angefahren. Dein Sohn mit Schwert und Schild, In sonnenhellen Haaren Dein Töchterlein Gunild."

9. „Willkommen!" ruft vom hohen Stein Der blinde Greis hinab, „Nun wird mein Alter wonnig sein Und ehrenvoll mein Grab. Du legst mir, Sohn, zur Seite Das Schwert von gutem Klang, Gunilde, du befreite. Singst mir den Grabgesang!"

129. König Karls Meerfahrt. 1. Der König Karl fuhr über Meer Mit seinen zwölf Genossen, Zum Heilgen Lande steuert er Und ward vom Sturm verstoßen. Da sprach der kühne Held Roland: „Ich kann wohl fechten und schirmen; Doch hält mir diese Kunst nicht stand Bor Wellen und vor Stürmen."

2. Dann sprach Herr Holger aus Dänemark: Ich kann die Harfe schlagen; Was hilft mir das, wenn also stark Die Wind' und Wellen jagen?" Herr Oliver war auch nicht froh. Er sah auf seine Wehre: „Es ist mir um mich selbst nicht so. Wie um die Altekläre." 3. Dann sprach der schlimme Ganelon, Er sprach es nur verstohlen: befrei und Ufer, Lesebuch 6.

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Uhland.

„Wär ich mit guter Art davon. Möcht euch der Teufel holen!" Erzbischof Turpin seufzte sehr: „Wir sind die Gottesstreiter; Somm, liebster Heiland, über das Meer Und führ uns gnädig weiter!"

4. Graf Richard Ohnefurcht hub an: „Ihr Geister aus der Hölle, Ich hab euch manchen Dienst getan. Jetzt helft mir von der Stelle!" Herr Naimes diesen Ausspruch tat: „Schon vielen riet ich heuer. Doch süßes Wasser und guter Rat Sind oft zu Schiffe teuer." 5. Da sprach der graue Herr Riol: „Ich bin ein alter Degen Und möchte meinen Leichnam wohl Dereinst ins Trockne legen." Es war Herr Gui, ein Ritter fein, Der fing wohl an zu singen: „Ich wollt, ich wär ein Vögelein, Wollt mich zu Liebchen schwingen!" 6. Da sprach der edle Graf Garein: „Gott helf uns aus der Schwere! Ich trink viel lieber den roten Wein, Als Wasser in dem Meere." Herr Lambert sprach, ein Jüngling frisch: „Gott woll uns nicht vergessen! Äß lieber selbst 'nen guten Fisch, Als daß mich Fische fressen."

7. Da sprach Herr Gottfried lobesan: „Ich laß mir's halt gefallen. Man richtet mir nicht anders an, Als meinen Brüdern allen."

163

Uhland.

Der Der Er Bis

König Karl am Steuer saß; hat kein Wort gesprochen, lenkt das Schiff mit festem Maß, sich der Sturm gebrochen.

130» Graf Richard Ohnefurcht. Graf Richard von der Normandie Erschrak in seinem Leben nie. Er schweifte Nacht wie Tag umher. Manchem Gespenst begegnet' er; 5 Doch hat ihm nie was Graun gemacht. Bei Tage noch um Mitternacht. Weil er so viel bei Nacht tät reiten, So ging die Sage bei den Leuten, Er säh in tiefer Nacht so licht, 10 Als mancher wohl am Tage nicht.

Er pflegte, wenn er schweift' im Land, So oft er wo ein Münster fand, Wenn's • offen war, hineinzutreten. Wo nicht, doch außerhalb zu beten. 15 So traf er in der Nacht einmal Ein Münster an im öden Tal; Da ging er fern von seinen Leuten, Nachdenklich, ließ sie fürbaß reiten. Sein Pferd er an die Pforte band, 20 Im Innern einen Leichnam fand.

Er ging vorbei hart an der Bahre Und kniete nieder am Altare, Warf auf 'nen Stuhl die Handschuh eilig. Den Boden küßt' er, der ihm heilig. 25

Noch hatt' er nicht gebetet lange. Da rührte hinter ihm im Gange Der Leichnam sich auf dem Gestelle; Der Graf sah um und rief: „Geselle,

II'

Uhland.

161

Du seist ein Guter oder Schlimmer, 30 Leg dich aufs Ohr und rühr dich nimmer!" Dann erst er sein Gebet beschloß (Weiß nicht, ob's Nein war oder groß). Sprach dann, sich segnend: „Herr, mein Seel Zu deinen Händen ich empfehl." Sein Schwert er faßt' und wollte gehen; Da sah er das Gespenst aufstehen. Sich drohend ihm entgegenrecken, Die Arme in die Weite strecken, Als wollt es mit Gewalt ihn fassen 40 Und nicht mehr aus der Kirche lassen.

35

Richard besann sich kurze Weile, Er schlug das Haupt ihm in zwei Teile; Ich weiß nicht, ob es wehgeschrien. Doch müßt's den Grasen lassen ziehn. 45 Er fand fein Pferd am rechten Orte. Schon ist er aus der Kirchenpforte, Als er der Handschuh erst gedenkt; Er läßt sie nicht, zurück er lenkt. Hat sie vom Stuhle weggenommen. 50 Wohl mancher wär nicht wieder kommen.

131. Taillefer. 1. Normanneuherzog Wilhelm sprach einmal: „Wer singet in meinem Hof und in meinem Saal? Wer singet vom Morgen bis in die späte Nacht So lieblich, daß mir das Herz im Leibe lacht?" 2. Das ist der Taillefer, der so gerne singt, Im Hofe, wann er das Rad am Brunnen schwingt, Im Saale, wann er das Feuer schüret und facht. Wann er abends sich legt, und wann er morgens erwacht.

3. Der Herzog sprach: „Ich hab einen guten Knecht, Den Taillefer, der dienet mir fromm und recht.

Uhland.

165

Er treibt mein Rad und schüret mein Feuer gut Und singet so hell, das höhet mir den Mut." 4. Da sprach der Taillefer: „Und wär ich frei. Viel besser wollt ich dienen und singen dabei. Wie wollt ich dienen dem Herzog hoch zu Pferd! Wie wollt ich singen und klingen mit Schild und mit Schwert!" 5. Nicht lange, so ritt der Taillefer ins Gefild Auf einem hohen Pferde, mit Schwert und mit Schild. DeS Herzogs Schwester schaute vom Turm ins Feld; Sie sprach: „Dort reitet, bei Gott, ein stattlicher Held." 6. Und als er ritt vorüber an Fräuleins Turm, Da sang er bald wie ein Lüstlein, bald wie ein Sturm. Sie sprach: „Der singet, das ist eine herrliche Lust! Es zütert der Turm, und es zittert mein Herz in der Brust."

7. Der Herzog Wilhelm fuhr wohl über das Meer, Er fuhr nach Engelland mit gewaltigem Heer. Er sprang vom Schisst, da fiel er auf die Hand: „Hei!" rief er, „ich faß und ergreife dich, Engelland!" 8. Als nun das Normannenheer zum Sturme schritt. Der edle Taillefer vor den Herzog ritt: „Manch Jährlein hab ich gesungen und Feuer geschürt. Manch Jährlein gesungen und Schwett und Lanze gerührt. 9. Und hab ich Euch gedient und gesungen zu Dank, Zuerst als ein Knecht und dann als ein Ritter stank: So laßt mich das entgelten am heutigen Tag, Vergönnt mir auf die Feinde den ersten Schlag!" 10. Der Taillefer ritt vor allem Normannenheer Auf einem hohen Pstrde, mit Schwert und mit Speer; Er sang so herrlich, das klang über Hastingsfeld, Von Roland sang er und manchem frommen Held. 11. Und als das Rolandslied wie ein Sturm erscholl. Da wallet« manch Panier, manch Herze schwoll, Da brannten Ritter und Mannen von hohem Mut; Der Taillefer sang und schürte das Feuer gut.

Uhland.

166

12. Dann sprengt' er hinein und führte den ersten Stoß, Davon ein englischer Ritter zur Erde schoß; Dann schwang er das Schwert und führte den ersten Schlag, Davon ein englischer Ritter am Boden lag. 13. Normannen sahen's, die harrten nicht allzulang. Sie brachen herein mit Geschrei und mit Schilderklang. Hei! sausende Pfeile, klirrender Schwerterschlag! Bis Harald fiel und sein trotziges Heer erlag. 14. Herr Wilhelm steckte sein Banner aufs blutige Feld, Inmitten der Toten spannt' er sein Gezelt, Da saß er am Mahle, den goldnen Pokal in der Hand, Auf dem Haupte die Königskrone von Engelland: 15. „Mein tapfrer Taillefer! komm, trink mir Bescheid! Du hast mir viel gesungen in Lieb und in Leid; Doch heut im Hastingsfelde dein Sang und dein Klang Der tönet mir in den Ohren mein Lebenlang."

132. Die Bätergruft. 1. Zur Ein Und

Es ging wohl über die Heide alten Kapell empor Greis im Waffengeschmeide trat in den dunkeln Chor.

2. Die Särge seiner Ahnen Standen die Hall entlang. Aus der Tiefe tät ihn mahnen Ein wunderbarer Gesang.

3. „Wohl hab ich euer Grüßen, Ihr Heldengeister, gehört. Eure Reihe soll ich schließen? Heil mir! ich bin es wert!" 4. Es stand an kühler Stätte Ein Sarg noch ungefüllt; Den nahm er zum Ruhebette, Zum Pfühle nahm er den Schild.

Uhland.

5. Die Hände tät er falten Aufs Schwert und schlummert ein. Die Geisterlaute verhallten. Da möcht es gar stille sein.

133. Der schwarze Ritter. 1. Pfingsten war, das Fest der Freude, Das da feiern Wald und Heide. Hub der König an zu sprechen: „Auch aus den Hallen Der alten Hofburg allen Soll ein reicher Frühling brechen!"

2. Trommeln und Drommeten schallen. Rote Fahnen festlich wallen. Sah der König vom Balköne; In Lanzenspielen Die Ritter alle fielen Bor des Königs starkem Sohne. 3. Aber vor des Kampfes Gitter Ritt zuletzt ein schwarzer Ritter. .Herr! wie ist Eur Nam und Zeichen?" „Würd ich es sagen, Ihr möchtet zittern und zagen; Bin ein Fürst von großen Reichen." 4. Als er in die Bahn gezogen, Dunkel ward des Himmels Bogen, Und das Schloß begann zu beben. Beim ersten Stoße Der Jüngling sank vom Rosse, Konnte kaum sich wieder heben.

5. Pfeif und Geige ruft zu Tänzen, Fackeln durch die Säle glänzen; Wankt ein großer Schatten drinnen.

167

168

Uhland.

Er tät mit Sitten Des Königs Tochter bitten. Tät den Tanz mit ihr beginnen. 6. Tanzt im schwarzen Kleid von Eisen, Tanzet schauerliche Weisen, Schlingt sich kalt um ihre Glieder. Bon Brust und Haaren Entfallen ihr die klaren Blümlein welk zur Erde nieder.

7. Und zur reichen Tafel kamen Alle Ritter, alle Damen. Zwischen Sohn und Tochter innen Mit bangem Mute Der alte König ruhte, Sah sie an mit stillem Sinnen. 8. Bleich die Kinder beide schienen; Bot der Gast den Becher ihnen: „Goldner Wein macht euch genesen." Die Kinder tranken. Sie täten höflich danken: „Kühl ist dieser Trunk gewesen." 9. An des Vaters Brust sich schlangen Sohn und Tochter; ihre Wangen Täten völlig sich entfärben. Wohin der graue. Erschrockne Vater schaue. Sieht er eins der Kinder sterben. 10. „Weh! die holden Kinder beide Nahmst du hin in Jugendfreude; Nimm auch mich, den Freudelosen!" Da sprach der Grimme Mit hohler, dumpfer Stimme: „Greis, im Frühling brech ich Rosen."

Uhland.

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134. Des Säugers Fluch. 1. Es stand in alten Zeiten ein Schloß, so hoch und hehr. Weit glänzt es über die Lande bis an das blaue Meer, Und rings von dustgen Gärten ein blütenreicher Kranz, Drin sprangen frische Brunnen in Regenbogenglanz.

2. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich. Er saß auf seinem Throne so finster und so bleich; Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut, Und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut. 3. Einst zog nach diesem Schlosse ein edles Sängerpaar, Der ein in goldnen Locken, der andre grau von Haar; Der Alte mit der Harfe, der saß auf schmuckem Roß, Es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß.

4. Der Alte sprach zum Jungen: „Nun sei bereit, mein Sohn ? Denk unsrer tiefsten Lieder, stimm an den vollsten Ton, Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz l Es gilt uns heut, zu rühren des Königs steinern Herz." 6. Und Der Die

Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal, aus dem Throne sitzen der König und sein Gemahl; König, furchtbar prächtig, wie blutger Nordlichtschein. Königin, süß und milde, als blickte Vollmond drein.

6. Da schlug der Greis die Saiten, er schlug sie wundervoll. Daß reicher, immer reicher der Klang zum Ohre schwoll; Dann strömte himmlisch helle des Jünglings Stimme vor. Des Alten Sang dazwischen, wie dumpfer Geisterchor.

7. Sie singen von Lenz Und Liebe, von seiger, goldner Zeit, Bon Freiheit, Männerwürde, von Treu und Heiligkeit, Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt. Sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt. 8. Die Höflingsschar im Kreise verlernet jeden Spott, Des Königs trotzge Krieger, sie beugen sich vor Gott. Die Königin, zerflossen in Wehmut und in Lust, Sie wirst den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust.

170

Uhland.

9. »Ihr habt mein Volk verführet; verlockt ihr nun mein

Weib?" Der König schreit es wütend, er bebt am ganzen Leib, Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust

Draus statt der goldnen Lieder

durchdringt, ein Blutstrahl hoch auf­ springt.

ist all der Hörer Schwarm. Der Jüngling hat verröchelt in seines Meisters Arm; Ter schlägt um ihn den Mantel und setzt ihn auf das Roß, Er bindt ihn aufrecht feste, verläßt mit ihm das Schloß. 10. Und wie vom Sturm zerstoben

11. Doch vor dem hohen Tore, da hält der Sängergreis, Da faßt er seine Harfe, sie, aller Harfen Preis; An einer Marmorsäule, da hat er sie zerschellt. Dann ruft er, daß es schaurig durch Schloß und Gärten gellt:

12. „Weh euch, ihr stolzen Hallen! nie töne süßer Klang Durch eure Räume wieder, nie Saite, noch Gesang, Nein, Seufzer nur und Stöhnen und scheuer Sklavenschritt, Bis euch zu Schutt und Moder der Rachegeist zertritt! 13. Weh euch, ihr duftgen Gärten im holden Maienlicht! Euch zeig ich dieses Toten entstelltes Angesicht, Daß ihr darob verdorret, daß jeder Quell versiegt. Daß ihr in künftgen Tagen versteint, verödet liegt. 14. Weh dir, verruchter Mörder, du Fluch des Sängertumsl Umsonst sei all dein Ringen nach Kränzen blutgen Ruhms! Dein Name sei vergessen, in ewge Nacht getaucht. Sei, wie ein letztes Röcheln, in leere Luft verhaucht!"

15. Ter Alte hat's gerufen, der Himmel hat's gehört. Die Mauern liegen nieder, die Hallen sind zerstört; Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht; Auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.

Uhland.

171

16. Und rings statt duftger Gärten ein ödes Heideland: Kein Baum verstreuet Schatten, kein Quell durchdringt den Sand, Des Königs Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch; Versunken und vergessen! Das ist des Sängers Fluch.

ISS. Die Kaiserwahl.

5

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20

Der fromme Kaiser Heinrich war gestorben. Des sächsischen Geschlechtes letzter Zweig, Das glorreich ein Jahrhundert lang geherrscht. Als nun die Botschaft in das Reich erging, Da fuhr ein reger Geist in alles Volk, Ein neu Weltalter schien heraufzuziehn; Da lebte jeder längst entschlafne Wunsch Und jede längst erloschne Hoffnung auf. Kein Wunder jetzo, wenn ein deutscher Mann, Dem sonst so Hohes nie zu Hirne stieg. Sich, heimlich forschend, mit den Blicken maß. Kann's doch nach deutschem Rechte wohl geschehn, Daß, wer dem Kaiser heut den Bügel hält. Sich morgen selber in den Sattel schwingt! Jetzt dachten unsre freien Männer nicht An Hub- und Haingericht und Markgeding, Wo man um Esch und Holzteil Sprache hält. Nein, stattlich ausgerüstet, zogen sie Aus allen Gauen, einzeln und geschart, Ins Maienfeld hinab zur Kaiserwahl.

Am schönen Rheinstrom, zwischen Worms und Mainz, Wo unabsehbar sich die ebne Flur Auf beiden Ufern breitet, sammelte Der Andrang sich; die Mauern einer Stadt 25 Vermochten nicht, das deutsche Volk zu fassen. Am rechten Ufer spannten ihr Gezelt Die Sachsen samt der slavschen Nachbarschaft, Die Bayern, die Ostfranken und die Schwaben;

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Am linken lagerten die rheinischen Franken, 30 Die Ober- und die Nieder-Lothringer. So war das Mark von Deutschland hier gedrängt. Und mitten in dem Lager jeden Volks Erhub sich stolz das herzogliche Zelt. Da war ein Grüßen und ein Händeschlag, 35 Ein Austausch, ein lebendiger Verkehr! Und jeder Stamm verschieden an Gesicht, An Wuchs und Haltung, Mundart, Sitte, Tracht, An Pferden, Rüstung, Waffenfertigkeit, Und alle doch ein großes Brüdervolk, 40 Zu gleichem Zwecke festlich hier vereint! Was jeder im besondern erst beriet Im hüllenden Gezelt und im Gebüsch Der Jnselbuchten, mählich war's gereift Zum allgemeinen, offenen Beschluß. 45 Aus vielen wurden wenige gewählt. Und aus den wenigen erkor man zween, Allbeide Franken, fürstlichen Geschlechts, Erzeugt von Brüdern, Namensbrüder selbst, Kunrade, längst mit gleichem Ruhm genannt. Da standen nun auf eines Hügels Saum, Im Kreis der Fürsten, sichtbar allem Volk, Die beiden Männer, die aus freier Wahl Das deutsche Volk des Thrones wert erkannt Vor allen, die der deutsche Boden nährt, 55 Von allen würdigen die würdigsten. Und so einander selbst an Würde gleich. Daß fürder nicht die Wahl zu schreiten schien. Und daß die Wage ruht' im Gleichgewicht. 50

Da standen sie, das hohe Haupt geneigt, 60 Den Blick gesenkt, die Wange schamcrglüht. Von stolzer Demut überwältiget. Ein königlicher Anblick war's, ob dem Die Träne rollt' in manchen Mannes Bart.

UHIand.

173

Und wie nun harrend all die Menge stand Und sich des Volkes Brausen so gelegt. 65 Daß man des Rheines stillen Zug vernahm — Denn niemand wagt' es, diesen oder den Zu küren mit dem Hellen Rus der Wahl, Um nicht am andern Unrecht zu begehn. 70 Noch aufzuregen Eifersucht und Zwist: — Da sah man plötzlich, wie die beiden Herrn Einander herzlich faßten bei der Hand Und sich begegneten im Bruderkuß. Da ward es Nar, sie hegten keinen Neid, 75 Und jeder stand dem andern gern zurück. Der Erzbischof von Mainz erhub sich jetzt: „Weil doch," so rief er, „einer es muß sein. So sei's der ältre!" Freudig stimmten bei Gesamte Fürsten und am freudigsten 80 Der jüngre Kunrad. Donnergleich erscholl, Ost wiederholt, des Volkes Beifallsruf. Als der Gewählte drauf sich niederließ, Ergriff er seines edeln Vetters Hand Und zog ihn zu sich auf den Königssitz. 85 Und in den Ring der Fürsten trat sofort Die fromme Kaiserwitwe Kunigund. Glückwünschend reichte sie dem neuen König Die treu bewahrten Reichskleinode dar. Zum Festzug aber scharten sich die Rechn:

90 Voran der König, folgend mit Gesang Die Geistlichen und Laien; so viel Preis Erscholl zum Himmel nie an einem Tag. Wär Kaiser Karl gestiegen aus der Gruft, Nicht freudiger hätt ihn die Welt begrüßt. 95 So wallten sie den Strom entlang nach Mainz, Woselbst der König im erhabnen Dom Der Salbung heilge Weihe nun empfing.

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Uhland. Wen seines Volkes Ruf so hoch gestellt. Dem fehle nicht die Kräftigung von Gott!

100 Und als er wieder aus dem Tempel trat. Erschien er herrlicher als kaum zuvor, Und seine Schulter ragt' ob allem Volk.

136. Der Überfall im Wildbad. 1. In schönen Sommertagen, wann lau die Lüfte wehn. Die Wälder lustig grünen, die Gärten blühend stehn. Da ritt aus Stuttgarts Toren ein Held von stolzer Art, Graf Eberhard der ■ Greiner, der alte Rauschebart.

2. Mit wenig Edelknechten zieht er ins Land hinaus, Er trägt nicht Helm noch Panzer, nicht geht's auf blutgen Strauß, Ins Wildbad will er reiten, wo heiß ein Quell entspringt. Der Sieche heilt und kräftigt, der Greise wieder jüngt. 3. Zu Hirsau bei dem Abte, da kehrt der Ritter ein Und trinkt bei Orgelschalle den kühlen Klosterwein. Dann geht's durch Tannenwälder, ins grüne Tal gesprengt.

Wo durch ihr Felsenbette

die Enz sich rauschend drängt.

4. Zu Wildbad an dem Markte, da steht ein stattlich Haus, Es hängt daran zum Zeichen ein blanker Spieß heraus. Dort steigt der Graf vom Rosse, dort hält er gute Rast, Den Quell besucht er täglich, der ritterliche Gast. 6. Wann er sich dann entlleidet und wenig ausgeruht Und sein Gebet gesprochen, so steigt er in die Flut; Er setzt sich stets zur Stelle, wo aus dem Fclsenspalt Am heißesten und vollsten der edle Sprudel wallt. 6. Ein angeschoßner Eber, der sich die Wunde wusch, Verriet Voreinst den Jägern den Quell in Kluft und Busch; Nun ist's dem alten Recken ein lieber Zeitvertreib, Zu waschen und zu strecken den narbenvollen Lech.

*) Graf Eberhard von Württemberg, genannt der Greiner, auch der Rauschebart (f 1392), und dessen Sohn Ulrich (f 1388), sind im Chor der Stiftskirche in Stuttgart beigesetzt (Anmerkung des Dichter-).

Uhland.

175

7. Da kommt einstmals gesprungen sein jüngster Edelknab; „Herr Graf! es zieht ein Haufe das obre Tal herab. Sie tragen schwere Kolben, der Hauptmann führt im Schild Ein Röslein rot von Golde und einen Eber wild." 8. „Mein Sohn! das sind die Schlegler, die schlagen kräftig drein. Gib mir den Leibrock, Junge! das ist der Eberstein. Ich kenne wohl den Eber, er hat so grimmen Zorn, Ich kenne wohl die Rose, sie führt so scharfen Dorn."

9. Da kommt ein armer Hirte in atemlosem Lauf: „Herr Graf! es zieht 'ne Rotte das untre Tal herauf. Der Hauptmann führt drei Beile, sein Rüstzeug glänzt und Lleißt, Daß mir's wie Wetterleuchten noch in den Augen beißt." 10. „Das ist der Wunnensteiner, der gleißend Wolf genannt. Gib mir den Mantel, Knabe! der Glanz ist mir bekannt. Er bringt mir wenig Wonne, die Beile hauen gut. Bind mir das Schwert zur Seite! der Wolf, der lechzt nach Blut. 11. Ein Mägdlein mag man schrecken, das sich im Bade schmiegt. Das ist ein lustig Necken, das niemand Schaden fügt; Wird aber überfallen ein alter Kriegesheld, Dann gilt's, wenn nicht sein Leben, doch schweres Lösegeld." 12. Da spricht der arme Hirte: „Des mag noch werden Rat, Ich weiß geheime Wege, die noch kein Mensch betrat. Kein Roß mag sie ersteigen, nur Geißen klettern dort. Wollt Ihr sogleich mir folgen, ich bring Euch sicher fort."

13. Sie klimmen durch das Dickicht den steilsten Berg hinan Mit seinem guten Schwerte haut oft der Graf sich Bahn. Wie herb das Fliehen schmecke, noch hatt er's nie vermerkt, Biel lieber möcht er fechten, das Bad hat ihn gestärkt. 14. In heißer Mittagsstunde bergunter und bergauf; Schon muß der Graf sich lehnen auf seines Schwertes Knauf.

174

Uhland. Vogl.

Darob erbarmt's den Hirten des alten, hohen Herrn, Er nimmt ihn auf den Rücken: „Ich tu's von Herzen gern." 16. Da denkt der alte Greiner: „Es tut doch wahrlich gut, So sänstlich sein getragen von einem treuen Blut. In Fährden und in Nöten zeigt erst das Volk sich echt, Drum soll man nie zertreten sein altes, gutes Recht." 16. Als drauf der Graf gerettet zu Stuttgart sitzt im Saal, Heißt er 'ne Münze prägen als ein Gedächtnismal. Er gibt dem treuen Hirten manch blankes Stück davon, Auch manchem Herrn von Schlegel verehrt er eins zum Hohn.

17. Dann schickt er tüchtge Maurer ins Wildbad allsofort. Die sollen Mauern führen rings um den offnen Ort, Damit in künstgen Sommern sich jeder greise Mann, Bon Feinden ungefährdet, im Bade jüngen kann.

Johann Nepomuk Vogl. 137. Das Erkennen. 1. Ein Wanderbursch, mit dem Stab in der Hand, Kommt wieder heim aus dem fremden Land. Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt; Bon wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?

2. So tritt er ins Städtchen durchs alte Tor, Am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor. Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund, Ost hatte der Becher die beiden vereint. 3. Doch sie- — Freund Zollmann erkennt ihn nicht. Zu sehr hat die Sonn ihm verbrannt das Gesicht. Und weiter wandert nach kurzem Gruß Der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.

4. Da schaut aus dem Fenster sein Schätze! fromm : „Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!"

«vgl.

Volkslieder.

177

Doch sieh — auch das Mägdlein erkennt ihn nicht. Die Sonn hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.

6. Und weiter geht er die Straß entlang. Ein TrLnlein hängt ihm an der braunen Wang. Da wankt von dem Kirchsteig sein Mütterchen her, „Gott grüß Euch!" so spricht er und sonst nichts mehr. 6. Doch sieh — das Mütterchen schluchzet voll Lust: „Mein Sohn!" — und sinkt an des Burschen Brust. Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt. Das Mutteraug hat ihn doch gleich erkannt.

Volkslieder. 138. Der Schneider in der Hölle. 1. Es wollt ein Schneider wandern Des Montags in der Früh; Begegnet ihm der Teufel, Hat weder Strümps noch Schuh: „He, he, du Schneidergesell! Du mußt mit mir in die Höll! Du mußt uns Teufel Neiden, Es geh dir, wie es wöll!"

2. Als der Schneider in die Höll 'neinkam. Nahm er sein Ellenstab Und schlug den Teufeln den Buckel voll. Die Hölle auf und ab: „He, he, du Schneidergesell! Du mußt wieder aus der Höll! Wir brauchen keines Messen, Es geh dir, wie es wöll!" 3. Und als der Schneider geniessen hatt'. Nahm er seine lange Scher Und stutzt den Teufeln die Schwänze ab, Sie hupften hin und her. Hessel und User, Lesebuchs.

M. 12

178

«ollsNeder.

„He, he, du Schneidergesell! Du mußt wieder aus der Höll! Wir brauchen keines Stutzen, Es geh dir, wie es wöll!"

4. Drauf nahm er's Bügeleisen 'raus Und stellt es in das Feur Und bügelt den Teufeln die Falten aus. Sie schrien ganz ungeheur: „He, he, du'Schneidergesell! Du mußt wieder aus der Höll! Wir brauchen keines Bügeln, Es geh dir, wie es wöll!"

5. Drauf nahm er Nadel und Fingerhut Und fängt zu nähen an Und näht den Teufeln die Nase zu. Wie fest er immer kann: „He, he, du Schneidergesell! Du mußt wieder aus der Höll! Wir könn' ja nicht mehr schnaufen! Es geh dir, wie es wöll!" 6. Drauf fanget er das Schneiden an. So gut er's immer kennt, Und hat den Teufeln mit Gewalt Die Ohrlappen aufgetrennt: „He, he, du Schneidergesell! Du mußt wieder aus der Höll! Wir brauchen keines Schneiden, Es geh dir, wie es wöll!"

7. Nach dem so kommt der Luzifer Und schreit: „Das ist ein Graus, Kein Teufel hat kein Schwänzlein mehr. Jagt ihn zur Höll hinaus! He, he, du Schneidergesell! Du mußt wieder aus der Höll!

Volkslieder.

Wir brauchen keine Kleider, Es geh dir, wie es wöll!"

8. Drauf hat der Schneider aufgepackt. Und war ihm erst recht wohl; Er hupft und springet unverzagt. Lacht sich den Buckel voll; Sprang eilends aus der Höll Und blieb ein Schneidergesell. Drum holt der Teufel kein Schneider mehr. Und geh es, wie es Wöll!

139. Nachtwüchterliev. 1. Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen: Unsre Glock hat zehn geschlagen. Zehn Gebote setzt Gott ein; Ach, laßt uns gehorsam sein! 2. Menschcnwachen wird nichts nützen, Gott muß wachen, Gott muß schützen. Herr, durch deine Huld und Macht Gib uns eine gute Nacht!

3. Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen: Unsre Glock hat elf geschlagen. Nur elf Jünger blieben treu; Gib, daß gar kein Abfall sei!

4. Hört, ihr Herrn, uttb laßt euch sagen: Unsre Glock hat zwölf geschlagem Zwölf, das ist das Ziel der Zeit; Mensch, bedenk die Ewigkeit! 5. Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen: Unsre Glock hat eins geschlagen. Eins ist Not; du treuer Gott, Gib uns einen felgen Tod!

6. Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen: Unsre Glock hat zwei geschlagen.

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180

Volkslieder.

Zwei Weg hat der Mensch für sich: Herr, den schmälen führe mich! 7. Hört, ihr Herrn, und laßt euch sage»: Unsre Glock hat drei geschlagen. Drei ist eins, was göttlich heißt, Vater, Sohn und heilger Geist. 8. Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen: Unsre Glock hat vier geschlagen. Vierfach ist das Ackerfeld: Mensch, wie ist dein Herz bestellt?

9. Auf! ermuntert eure Sinnen, Denn es weicht die Nacht von hinnen. Danket Gott, der uns die Nacht Hat so väterlich bewacht!

140. Martinsgans. 1. Was haben doch die Gänse getan, Daß so viel müssen's Leben lan? Die Gäns mit ihrem Datiern — Da da, da da, da da — Mit ihrem Geschrei und Schnattern — Da da, da da, da da — Sant Martin han verraten, Da da, da da, da da, Darumb tut man sie braten — Da da, da da! 2. Jst's wahr, daß sie verraten Han Sant Martin, den heiligen Mann? Die Gäns mit ihrem Datiern — usw.

3. So müssen's mit dem Leben zwar Den Zehent geben alle Jahr, Die Gäns mit ihrem Datiern — usw. 4. Bei süßem Most und kühlem Wein Vertreibt man ihn das Datiern fein; Die Gäns mit ihrem Datiern — usw.

6. So lasset uns all ingemein Bei braten Gänsen fröhlich sein! Die Gäus mit ihrem Datier» Da da, da da, da da — Mit ihrem Geschrei und Schnattern — Da da, da da, da da — Sant Martin Han verraten. Da da, da da, da da, Darumb tut man sie braten — Da da, da da!

141. Erntelied. 1. Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, Hat Gewalt vom höchsten Gott, Heut wetzt er das Messer, Es schneid' schon viel besser. Bald wird er drein schneiden. Wir müssen 's nur leiden. Hüte dich, schöns Blümelein! 2. Was heut noch grün und frisch dasteht. Wird morgen schon hinweggemäht: Die edlen Narzissen, Die Zierden der Wiesen, Die schön Hyazinten, Die türkischen Binden. Hüte dich, schöns Blümelein!

3. Viel hundert tausend ungezählt. Was nur unter die Sichel fällt Ihr Rosen, ihr Lilien, Euch wird er austilgen. Auch die Kaiserkronen Wird er nicht verschonen. Hüte dich, schöns Blümelein! 4. Das Himmelfarbe Ehrenpreis, Die Tulipanen gelb und weiß.

Volkslieder.

182

Die silbernen Glocken, Die goldenen Flocken, Sinkt alles zur Erden. Was wird daraus werden? Hüte dich, schöns Blümelein!

5. Ihr hübsch Lavendel, Rosmarin, Ihr vielfärbige Röselein, Ihr stolze Schwertlilien: Ihr krause Basilien, Ihr zarte Violen, Man wird euch bald holen. Hüte dich, schöns Blümelein! 6. Trotz, Tod! komm her, ich fürcht dich nit. Trotz! eil daher in einem Schnitt. Werd ich nur verletzet, So werd ich versetzet In den himmlischen Garten, Auf den alle wir warten. Freu dich, du schönes Blümelein!

142. Schlachtgesang. Kein seliger Tod ist in der Welt, Als wer fürm Feind erschlagen Auf grüner Heid, int freien Feld Darf nicht hörn groß Wehklagen. Im engen Bett, da einer allein Muß an den Todesreihen, Hie aber findt er Gsellschaft fein. Fülln mit, wie die Kräuter int Maien.

Ich sag ohn Spott: Kein seliger Tod Ist in der Welt, Als so man fällt Auf grüner Heid Ohn Klag und Leid! Mit Trommelnklang

Und Pfeifengsang Wird man begraben. Davon man tut haben Unsterblichen Ruhm. Mancher Held frumm Hat zugesetzt Leib und Blute Dem Vaterland zu gute.

143. Drei Röslein. (Schwäbisch).

1. Jetzt gang i ans brunnele, trink aber net, Do such i Inei herztausige schätz, findn aber net. 2. Do laß i mei äugele um und um gehn, Do siehn i mei herztausige schätz beim e andre stehn. 3. Und beim e andre stehn sehn, ach, das tut weh! Jetz bhut di Gott, herztausiger schätz, dih besieh ich nemme meh — 4. Jetz kauf i mer dinten und fedr und papier Und schreib mei herztausige schätz ein abschiedsbrief. 5. Jetz leg i mi nieder aufs heu und aufs stroh, Do falla drei rösele mir in den schoß. 6. Und diese drei rösele sen roserot: Jetz weiß i net» lebt mei schätz, oder ist er tot.

Wilhelm Wackernagel. 144. Geduld bringt Rosen. 1. Es ist Geduld ein rauher Strauch, Boll Dornen aller Enden, Und wer ihm naht, der merkt das auch An Füßen und an Händen. 2. Und dennoch sag ich: laß die Müh Dich nimmermehr verdrießen, Sei's auch mit Tränen, spät und früh Ihn treulich zu begießen. 3. Urplötzlich wird er über Nacht Dein Mühen dir belohnen. Wenn über all den Dornen lacht Ein Strauß von Rosenkronen.

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ZirbeS.

Peter Zirbes. 145. Der Dreizehnte. 1. Es hatte Karl der Große mit starker Hand Das Friesenvolk bezwungen im eigenen Land. Sie sollten zu ihm schwören und taten's nicht; Da saß der stolze Kaiser gar strenge zu Gericht: 2. Zwölf Richter aus dem Volke, im Zorne schwer Hieß sie der Kaiser sehen ins hohe Meer. Dem Boot gab er kein Ruder, kein Tau noch Mast, Auf daß beim ersten Sturme Verderben es erfaßt. 3. Da flehten sie zum Himmel: „O Herr der Welt, Nur dir sei unsre Sache anheimgestellt: Den Dreizehnten uns sende in unsrer Not, Wenn uns in Meereswogen ein frühes Grab bedroht!" 4. Und wie die Helden fahren in ihren Tod, Da hüpfen alle Wellen im Abendrot, Als hätte sich geöffnet des Himmels Tor, Und Silberfischlein schnellen aus goldner Flut empor.

6. Es schlägt noch einmal freier der Helden Herz! Es netzen sich die Augen, doch nicht vor Schmerz. Der Freihett treu zu sterben, o, welche Lust! Sie sinken voll Entzücken einander an die Brust. 6. Und sieh! wer sitzt am Steuer, welch Heldenbild, Im Blicke heiliges Feuer, und doch so mild! Ums -ehre Haupt ihm strahlet ein lichter Schein. Doch jeder meint, es müsse von ihnen einer sein. 7. Es floß ihm von der Lippe das Wort so süß. Als er gesetzeskundig sie unterwies. Froh lauschten ihre Herzen der Rede Lauf, AuS jedem seiner Worte ein neues Licht ging auf.

8. Solch keinen wohl im Volke fänd ihre Wahl! Schon kor ihn stfll zum König der Richter Zahl — Da, unsichtbar gelenket, schwebt leicht gewandt .Das Fahrzeug längs den Klippen ans feste, sichre Land.

9. Doch als sie ausgestiegen, sind's zwölfe nur, Ter Dreizehnte verschwunden ohn alle Spur: Er war's, der einst beim Sturme im Schifflein schlief. Als ihn die Schar der Jünger verzagt um Hilfe rief. 10. Er lenkt auch unser Schifflein durch Sturm und Nacht Des bangen Erdenlebens, wenn's blitzt und kracht. Und wer in Kampf und Nöten ihm fest vertraut, Im Hafen seiner Liebe die ewge Heimat schaut.

V erschiedenes.

146. Jan und Griet. (Kölnische Mundart).

1. Zo Köln em ahlen Kümpchenshof Wunt ens nä boersmann, Da hat en mäd, de nannt sich Griet, Nä knäch, dä nannt sich Jan. 2. Dat Griet, dat wehr en freche mäd, Grat we von milch und blöt, Dä Jan, dat wehr nä starke bdrsch, Dem Griet vun häzen göd. 3. Ens säht hä: „Sag,“ esu säht hä! „Sag, Griet, ben ich der räch? Nemm mich zom mann, do bes en mäd, Un ich, ich ben nä knäch.“ 4. Do säht it: „Jan, du bes nä knäch Und ich en schöne mäd: Ich well nä däftgen halfen han Med ös un köh un päd.“ 5. Un als dä Jan da kall gehöt, Do trock hä en dä kreg, Schlog immer düchtig en dä feind, Hols wennen mänchen sög.

6. We Widder hä no Köllen körn, Soß hä op stolzen pad, Dä Jan dä wör no feldmarschall, Dä große Jan vun Wat. 7. We widder en de poz hä kom, Soß en der poz dat Griet, It sos vor enem appelkrom, Wo it kruschteien briet. 8. Un als dä Jan dat Griet dät sin, Lät stell sing päd hä stonn Un größten it un sät zo im: „Griet! wer et hät gedonn!“ 9. Un als dat Griet dä Jan dät sin, •Su blänkig usgeroß, Do größt it in un sät zo im: „Jo! wär et hät gewoß!“ 10. Ehr kölsche mädchen, merk üch dat, Un sit mer nit so friet, Gar mäncher hät et leid gedonn, Dat lert vum Jan und Griet.

147. Do hockts un hot e Hietche uff. (Pfälzer Mundart).

1. Do hockts un hot e hietche uff! So krit mer als emol ens druff, Wammer wo druff bestöt, Was emol gar nit sich gehört. Do neilich hot mersch 8ns erklärt, Woher mer das so set. 2. Kreiznach in de französche zeit Hot ärig viel gelitt, ihr leit: Do käm de Oscherö, Die heiser hot er ängesteckt, Hot deiwelsströch als ausgeheckt, Besonnersch iwer Nöh.

3. Geschoß werd, hin an her gelost Un fufzig zalascht wein gesoff, Vielleicht noch ebbes me. De stadtrat hot bei däg un nacht De stadt ihr w61 un we bedacht, GewSniglich ihr we. 4. Uff Smol kam mei Oscherd Ganz frech zum burjemSschder jo, SSt: „Männche, no, wie stets? Bis morje mittag um halb drei Schaff hunnert ochse uns ebei, Jetz mach mer ke gedSz!“ '5. Do hocke dann die stadtrat all. Die herzcher in die schuh gefall, Mit goldgestickte reck, Un hinne bambele die zepp, Die hitcher wackle uff de kepp, All gucke in Sn eck. 6. Un vor de burjemSschder dann Stellt sich e mächdig dicke mann, De metzjermeschder Trumm. „Schafft mir die Ochsen nur herbei, Woher, ist mir ganz einerlei, Sonst bringen wir Euch um!“

7. De Trumm set: „Ei, wie mit ere walz Is plattgedemmert jo die Paiz, Get selwer norz enuff! Jo, krecht ich ochse, wär ich froh: Die Snzge ochse hocke dS Un hawwe hietcher uff!“

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Arndt.

Zweite Abteilung:

Prosa. Ernst Moritz Arndt.

148. Hinaus in Selb und Wald. Hinaus in Feld und Wald, in Tal und Gebirge, ihr deutschen Jünglinge! Und erfrischet und erquicket euch Leib und Seele an dem ewigen, geheimnisvollen und Wun­ dersamen Gegenspiegel eures Gemütes und des Himmels! Darum hinaus, wann die Wissenschaft euch austrocknen, wann das Leben mit seinen Mühen und Arbeiten und Sorgen euch zerreißen will, hinaus ins Freie und in die liebe weite Gotteswelt! Und blaset dort den Unmut und die Dumpfheit von euch, und saugt frischen Atem und Trieb des Lebens und der Liebe ein! Was dem bloß natür­ lich und in natürlichsten Verhältnissen lebenden Menschen schon wie von selbst wird und erblüht, das muß der künst­ lich und oft in zu künstlichen Verhältnissen lebende Mensch durch Erkenntnis suchen: er muß leben lernen. Denn halb ist das Leben, dem die Natur fehlt, und muß zuletzt not­ wendig in Mattigkeit und Dürftigkeit oder in Starrheit und Sprödigkeit vergehen. Aber doch am meisten, ihr Jünglinge, haltet das fest, was der Stolz des deutschen Lebens ist: die unvergängliche Idee, welche ihre erhabensten Träume immer wahr macht denen, die mit voller reiner Liebe an sie glauben und nicht ablassen zu glauben. Es kommt nicht auf das Stür­ men und Sausen an; auf das Klingen mit Tönen und Prunken mit Worten; in dem Stillsten ist das Festeste und in dem Demütigen das Klarste. So in Stille und

Arndt. Aukfeld.

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Demut, in Hoffnung und Glauben, im frommen deutschen Ernst bekennet die Zeit und pfleget sie, nähret den Funken, den sie euch wie einen zarten Keim überliefert bis zur vollen Flamme des Ruhms und des Glücks!

Adolf Ausfeld. 149. Aus der Sage vo« -roßen König Alexander. 1. Alexander bei den Amazonen. Die Amazonen wohnten in der Nähe des kaspischen Meeres in einem Lande, das fast ringsum von einem brei­ ten, tiefen Strome umflossen war und nur auf einer Seite einen schmalen Zugang hatte. Ein Heer von 170000 Wei­ bern schützte das Gebiet. Kein Mann durfte sich dort auf­ halten, sondern ihre Männer wohnten jenseits des Flusses und mußten die Herden der Frauen auf die Weide treiben. Nur einmal jährlich, bei einem dreißigtägigen Opserfeste, kamen ihre Weiber zu ihnen hinüber. Wollte eine Frau länger bei ihrem Manne bleiben, so konnte ihr die Königin auf ein Jahr Urlaub gewähren. Die Kinder wurden von den Männern aufgezogen. Die Knaben behielten sie, die Mädchen mußten sie, wenn sie sieben Jahre alt waren, auf die Insel zu den Frauen bringen. Griffen Feinde das Land an, so rückten hunderttausend Frauen zu Pferde ihnen entgegen, die übrigen blieben zum Schutze der Insel zurück. Die Männer folgten dem Heere als Troß. Die im Kampfe gefallenen Frauen wurden hoch geehrt, und ihre Hinterbliebenen erhielten vom Volke große Geschenke. Diesen tapfern Kriegerinnen sandte Alexander die Bot­ schaft, er wolle ihr Land besuchen, und sie sollten ihm entgegenkommen, da er freundlich gegen sie gesinnt sei. Sie aber glaubten ihre Freiheit bedroht und schrieben ihm: „Die Führerinnen der Amazonen senden König Alexan-

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«usfeld.

der ihren Gruß. Ehe du zu uns kommst, warnen wir dich, damit du nicht rühmlos umkehren mußt. Besiegen wir unsere Feinde, so ist das für sie eine ewige Schande, besiegen sie aber uns, so haben sie keinen Ruhm davon, da wir Weiber sind. Hüte dich, Alexander, daß es dir nicht so ergehe. Kommst du, so wirst du unser Kriegslager an der Grenze finden." Als Alexander den Brief gelesen, lachte er und ant­ wortete ihnen: „König Alexander grüßt die Amazonen. Ich habe nicht drei Erdteile unterworfen, um vor einem Völkchen von Weibern umzukehren. Wollt ihr Land, Frei­ heit und Leben verlieren, so lagert euch feindlich an der Grenze, wollt ihr aber verständig sein, so besucht mich freundschaftlich mit euern Männern. Ich werde euch dann ungekränkt entlassen. Wollt ihr Reiterinnen zu meinem Heer stellen, so soll jede monatlich ein Goldstück als Sold und alles, was sie braucht, erhalten. Nun beratet euch wohl und schreibet mir dann wieder." Da wurdest! die Amazonen anderen Sinnes, luden ihn in ihr Land ein, schickten ihm hundert edle Pferde, fünf­ hundert Reiterinnen und einen Tribut von hundert Pfund Gold und versprachen, dem Helden, dem so viele Völker gehorchten, auch willig und untertan zu sein.

2. Alexander bei den indischen Weisen. Von der Königstadt des Porus zog Alexander weiter zum Land der Gymnosophisten, der indischen Weisen, die ohne Kleider, ohne Häuser, ohne Habe friedlich in den Wäl­ dern lebten. Als diese erfuhren, daß Alexander herannahe, sandten sie ihm die Botschaft: „Wenn du kommst, um uns zu bekriegen, so wirst du keinen Nutzen davon haben, denn das einzige, was wir besitzen, ist unsere Weisheit, und die kann uns niemand wegnehmen." Alexander erwiderte, er komme nicht in feindlicher Absicht. Er fand ihr Land reich an vielerlei Fruchtbäumen und Weinstöcken, die von

«usfeld.

IM

herrlichen Trauben strotzten. Ein schöner Fluß mit durch­ sichtigem Wasser strömte hindurch. Alexander begrüßte die Weisen und prüfte sie durch mancherlei Fragen. Zuletzt fragte er: „Habt ihr auch einen König?" — „Wir haben einen Führer und Lehrer, den weisen Dandamis." Alexander wünschte, diesen kennen zu lernen, und sie geleiteten ihn zu einem Manne, der am Boden auf einem Blätterhaufen lag und Feigen aß. Als ihn Alexander grüßte, erwiderte er kurz den Gruß, ohne sich zu erheben. Alexander fragte ihn, ob sein Volk wirklich gar nichts be­ sitze. Er erwiderte: „Wir besitzen viel: Erde, Licht, Sonne, Mond und Sterne, Luft, Wasser und Fruchtbäume. Hungert uns, so gehen wir zu den schattigen Bäumen und essen ihre Früchte. Dürstet uns, so gehen wir zum Fluß und erquicken uns an seinem Wasser. Wollen wir uns an einem Schauspiel ergötzen, so blicken wir zum Himmel und bewundern den Reigen der Sterne und das Leuchten des Mondes und der Sonne." Alexander fand Gefallen an den Männern und sprach: „Verlangt von mir, was ihr wollt, und ich will es euch gewähren." Da riefen alle: „Gib uns Unsterblichkeit!" Alexander antwortete: „Das kann ich nicht, denn ich bin selbst sterblich." — „Wenn du sterblich bist, warum machst du dir so viel mit Kriegen und Schlachten zu schaffen? Müßtest du nicht, wenn du auch die ganze Welt gewönnest, mit deinem Tod das alles an andere abtreten?" Darauf er­ widerte Alexander: „So hat mich die Vorsehung ge­ schaffen, daß mich mein Herz zu kriegerischen Taten treibt. Mich hat sie so gewollt, wie ich bin, euch, wie ihr seid, und wir beide sind ihrem Gebote unterworfen. Wären alle Menschen von der gleichen Art, so wäre die Welt träge und leblos, das Meer würde nicht befahren, das Land nicht bebaut, und die Menschheit stürbe aus." Alexander ließ dann den Weisen große Geschenke über­ reichen, Gold, Gewänder, Wein und OL Dandamis aber

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AuSfeld.

lachte und sprach: „Meinst du wohl, daß sich die Vögel freuen würden, wenn du ihnen Gold und Kleider schenktest, und daß sie deshalb schöner sängen? Ebensowenig können wir dergleichen gebrauchen. Damit es aber nicht scheint, als verachten wir dich, so will ich das Ol von dir anneh­ men." Darauf ließ Dandamis ein Feuer anzünden und schüttete vor Alexanders Auge das Ol hinein.

3. Alexander bei den Blumenmädchen. Als die Mazedonier viele Tagereisen durch Indien gezogen waren, kamen sie zu einem großen Wald, aus dem Harfen- und Zitherspiel und süße Lieder zu ihnen herüberklangen. Mächtige Bäume verbreiteten dichten Schatten, darunter wuchsen schöne Blumen; helle Brunnen sprudelten dort und rieselten aus dem Walde hervor auf eine grüne Aue. Alexander und die Seinen stiegen als­ bald von den Rossen und gingen in den Wald, um zu sehen, woher der liebliche Gesang käme. Da fanden sie wunderschöne Jungfrauen, mehr als hunderttausend, die spielten und sprangen im Walde und sangen dazu so herr­ lich, daß nie jemand so süße Töne vernommen hat. Da vergaß ein jeder Gefahr und Not und jegliches Herzeleid, und alle meinten für ihr Leben Freude und Glück genug zu haben, wenn sie ewig an diesem Orte weilen dürften. Sie fragten die Mädchen, woher sie in den Wald gekom­ men seien. Da ward ihnen wunderbare Kunde. Wenn der Winter ging und die Erde zu grünen begann, dann ent­ sprangen in dem Walde edle Blumen von seltsamer Größe, weiß und rot mit mächtigen runden Knospen. Wenn sich die Knospen öffneten, so kamen daraus liebliche Mädchen hervor, weiß und rot, wie die Blumen selbst, und schöner als alle Weiber der Welt. Sie hatten menschlichen Ver­ stand und gingen und sprachen wie Menschen. Die schönsten Kleider, rot wie Rosen und weiß wie Schnee, waren ihnen an den Leib gewachsen. Wagte sich aber eine aus dem

Ausfeld.

Baßler.

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Schatten heraus in die Sonnenglut, so mußte sie eines jähen Todes sterben. Da schlugen die Mazedonier ihr Gezelt in dem Wald auf und freuten sich der Mädchen, die mit den Vöglein um die Wette sangen. Sie vermählten sich mit den Hol­ den und hatten mehr Wonne, als sie je im Leben fanden, seit sie geboren waren, und gedachten sich nie von ihren Liebsten zu trennen. Aber nur drei Monate und zwölf Tage dauerte ihr Glück. Als der Winter kam und die Blumen welkten, da starben mit ihnen die süßen Bräute sämtlich dahin. Das Laub fiel von den Bäumen, die Brunnen hörten auf zu fließen, und in unendlicher Trauer und Sehnsucht schied Alexanders Volk von der verödeten Stätte.

Ferdinand Bäßler. 150. Der getreue Eckart. Zu Eisleben und im ganzen Land Mansfeld ist vor Zeiten alle Jahr auf den Fastnacht-Donnerstag das wü­ tende Heer vorübergezogen, und die Leute sind zusammen­ gelaufen und haben darauf gewartet, nicht anders, als sollte ein großer, mächtiger Kaiser oder König vorüberziehn; da man denn in der Luft einen reisigen Haufen zu Fuß und zu Roß gesehen: einer hat geritten auf einem Pferd mit zween Füßen; der andre ist auf einem Rad gebunden gelegen, und das Rad ist von selbst umgelaufen; der dritte Hat einen Schenkel über die Achsel genommen und ist gleich sehr ge­ laufen; ein anderer hat keinen Kopf gehabt. Aber vor dem ganzen Haufen her ist ein alter Mann gegangen mit einem weißen Stab, der hat sich selbst den treuen Eckart geheißen, der hat die Leute heißen aus dem Weg weichen, hat auch etliche heißen heim gehen, sie würden sonst Schaden nehmen. Daher ist das Sprichwort: „Der treue Eckart warnet jeder­ mann." Hessel uitb Ufer, Lesebuch s.

M.13

IM

Baßler.

In einem thüringischen Dorfe, Schwarza genannt, zog einstens am Weihnachtsfeste die Frau Hulda oder Holla mit ihrem wütenden Heere vorüber, und der treue Eckart ging vor ihm her, die Leute zu warnen. Da hat es sich getroffen, daß just zwei Knaben, welche aus dem nächsten Dorfe Bier geholt hatten, dem Gespensterzuge begegneten. Als diese die Schatten ansichtig wurden, versteckten sie sich in einen Winkel, aber einige Unholdinnen eilten ihnen nach, nahmen die Kannen und schlürften mit großer Begierde das Bier aus. Als nun alles hinweg und vorbei war, kamen die Knaben aus ihrem Versteck wieder hervor, waren aber sehr bekümmert, was sie zu Hause vorwenden sollten, weil sie kein Bier mitbrächten. Indem sie nun also bei sich ratschlagten, trat der treue Eckart herbei und sagte: „Das riet euch Gott, daß ihr das Bier freiwillig hergegeben und kein Wörtchen darwider geredet habt, sonst hätten euch die Unholdinnen die Hälse umgedreht. Geht nun flugs heim und seid getrost, aber sagt keinem Menschen etwas von der Geschichte, so werden eure Kannen immer voll Bier sein und wird ihnen nie gebrechen." Dies taten die Knaben, und es geschah, wie ihnen der Alte gesagt hatte. Die Kannen waren voll Bier, und soviel man auch davon trank, sie wurden niemals leer. Drei Tage nahmen sie das Wort in acht; endlich aber konnten sie's nicht länger bergen, sondern erzählten aus Vorwitz ihren Eltern den Verlauf der Sache: da war es aus, und die Krüglein versiegten.

151. Rübezahl wird ein Esel. Einst reiste ein Glaser über das Gebirge und wurde über die schwere Last des Glases, die er auf dem Rücken trug, müde, schaute sich daher um, wo er sich wohl hinsetzen könnte. Der ihn beobachtende Rübezahl vermerkte dies kaum, als er sich in einen runden Klotz verwandelte. Diesen traf der Glaser nicht lange hernach am Wege liegend an und ging mit frohem Mute hin, um sich aus ihn zu setzen. Doch die Freude dauerte nicht lange; denn kaum hatte er einige Zeit gesessen, so wälzte sich

Wer.

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der Klotz so geschwinde unter ihm fort, daß der arme Glaser mitsamt seinem Glase zu Boden schlug und es in tausend Stücke zerschellte. Der betrübte Mann erhob sich von der Erde, blickte um sich, aber sah keinen Klotz, auf dem er vorhin gesessen hatte. Da fing er an bitterlich zu weinen und beseufzte mit herzlichen Klagen seinen erlittenen Verlust, doch wandelte er seine Straße fort. Da geseltte sich Rübezahl in Gestalt eines Reisenden zu ihm und fragte, was er doch so weine, und wor­ über er Leid trage. Der Glaser erzählte ihm den ganzen Her­ gang, wie er auf einem Blocke, um sich auszuruhen, ge­ sessen; dieser habe sich schnell mtt ihm umgedreht, sein ganzer Glasvorrat, wohl acht Taler an Wert, sei zerbrochen, und der Klotz sei verschwunden. Er wisse nun nicht, wie er sich er­ holen und seinen Schaden zu gutem Ende bringen solle. Der mitleidige Berggeist tröstete ihn, sagte ihm, wer er sei, und daß er ihm den Possen gespielt habe; er solle aber nur gutes Mutes sein, denn sein Schaden solle ihm vergütet werden. Flugs verwandelte sich Rübezahl in einen Esel und gab dem Glaser Befehl, ihn in einer am Fuße des Berges liegen­ den Mühle zu verkaufen, mit dem Gelde aber sich schnell davonzumachen. Der Glaser bestieg den verwandelten Berg­ geist sogleich und ritt ihn vom Gebirge hinunter zu der Mühle, wo er ihn dem Müller zeigte und für zehn Taler seil­ bot. Dieser erstand ihn für neun Taler, und der Glaser nahm das Geld und machte sich ohne Säumen davon. Das er­ kaufte Tier ward in den Stall geführt, und der Knecht legte ihm Heu vor; aber der Esel tat seinen Mund auf und sprach: ,Lch fresse kein Heu, sondern lauter Gebratenes und Ge­ backenes." Dem Knecht sträubte sich das Haar, er eilte zu seinem Herrn und verkündete ihm die neue Märe. Als aber her Müller selbst in den Stall kam, fand er nichts, denn der

Esel war verschwunden. Der Müller beklagte den bösen Handel; aber es war ihm recht geschehen, da er viele arme Leute bettogen hatte. So rächte Rübezahl geschehene Unbill. 13*

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BStzler.

152. Die Schöppenstedter verschreibe« ei« Ge­ witter. In einem Sommer hatte es mal gar lange nicht in Schöppenstedt geregnet, sodaß den Bürgern bange wurde, die Ernte möchte mißraten, und sie beschlossen daher, nach Braun­ schweig zu schicken, um sich ein Gewitter zu verschreiben, denn dort wüßte man ja Rat für alles. Zu dem Ende schickten sie eine alte Frau ab; diese kam auch glücklich in Braunschweig an, und nachdem sie das Anliegen der Schöppenstedter richtig angebracht, erhielt sie von den Braunschweigern, die ihre Leute kannten, eine Schachtel, in welcher, wie sie ihr sagten, das Ge­ witter wäre. In dieser Schachtel, welche ziemlich groß war, be­ fand sich ein ganzer Bienenschwarm; und als sie nun mit der­ selben nach Schöppenstedt zurückging, fingen die Bienen, da es sehr heiß war, in der Schachtel gewaltig an zu summen, und der Frau wurde angst und bange, denn sie hatte oft genug gehört, daß das Gewitter auch zuweilen cinschlage, und sie fürchtete jetzt, daß es auf einmal losbrechen und sie erschlagen könnte. Als sie daher auf die Höhe vor der Stadt kam, öffnete sie die Schachtel ein wenig, um dem Gewitter, dem es, wie sie dachte, drinnen zu heiß sei, etwas Lust zu machen; denn sie meinte: „Es wird ja wohl für Schöppenstedt genug übrig­ bleiben, wir sind ja dicht vor." Aber kaum hatte sie den Deckel etwas gehoben, da flog der ganze Schwarm heraus und zurück nach Braunschweig. Sie sprang zwar mit gleichen Füßen hinterdrein, unablässig rufend: „Gewitter, Gewitter! hier­ her nach Groß-Schöppenstedt!" aber das Gewitter flog fort und kam nicht wieder.

153. Der Sängertrieg auf der Wartburg. Am Hofe des edeln Landgrafen Hermann | und seiner Gemahlin Sophia | auf Schloß Wartburg | stellten im Jahre 1207 | sechs meisterliche Minnesänger | ein Wettsingen an. Die Namen dieser Meister waren: Walther von der Vogel­ weide, Wolfram von Eschenbach, Reinmar von Zweier, Biterolf, Heinrich, genannt der tugendhafte Schreiber, und

BäUer.

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Heinrich von Ofterdingen. Sie hatten aber untereinan­ der bedungen, wer im Streit des Singens unterliege, der solle sterben durch des Henkers Hand. Sie sangen aber alle ihrem edeln Wirte, Hermann, dem Landgrafen von Thüringen und Hessen, zu Ehren, verglichen ihn dem hellen Tage I und erhoben ihn über alle Fürsten. Nur Heinrich von Ofterdingen | -ries Leopolden, den Herzog von Öster­ reich, noch höher | und stellte ihn der Sonne gleich. Dar­ über wurden die andern, die ihn ohnehin | aus Neid | am Thüringer Hofe nicht gern sahen, gegen ihn erbittert; und da sie alle sich wider ihn vereinten, mußte er trotz seiner hohen Kunst | den Gegnern endlich unterliegen. Diese rie­ fen nun Stempfel, den Henker, der sollte Heinrichen an einen Baum knüpfen. Der geängstete Sänger | floh in die Gemächer der Landgräfin | und barg sich vor den Verfol­ gern unter ihren Mantel. Da mußten sie von ihm ab­ stehen; und er dingte mit ihnen, daß sie ihm ein Jahr Frist gäben, er wolle von dannen reisen | gen Ungarn und Siebenbürgen | und Meister Klingsor holen, der solle urteln und richten | und ihren Streit entscheiden. Dieser näm­ lich | galt für den berühmtesten deutschen Minnesänger jener Zeit I und war zugleich ein großer Zauberer. Auf die Fürsprache der Fürstin | wurde Heinrichen diese Frist | von seinen Gegnern bewilligt, und so machte er sich auf | und kam erst zum Herzog von Österreich, seinem geliebten Herrn, uyr derentwillen er sich in diese tödliche Gefahr gebracht hatte; und von da | ging er mit Briefen des Herzogs | gen Siebenbürgen zu Klingsor, dem er die Ursache seiner Fahrt erzählte | und seine Lieder vorsang. Der Meister war mit diesen Proben seiner Kunst wohl zufrieden | und versprach, mit ihm nach Thüringen zu ziehen | und den Streit zu schlichten. Doch hielt er sei­ nen Gast | unter allerlei Kurzweil | fast ein ganzes Jahr hin, und die bewilligte Frist | lief ihrem Ende zu. Weil aber Klingsor | noch immer keine Anstalt zur Reise machte, wurde Heinrich bange | und sprach: „Meister, ich fürchte.

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Bäßler.

Ihr lasset mich im Stich, und ich muß allein und traurig meine Straße ziehn | und werde zur bestimmten Zeit | die Wartburg nicht wieder erreichen; dann bin ich ehren­ los | und darf zeitlebens nimmermehr nach Thüringen." Klingsor sagte lächelnd: „Sei unbesorgt! wir haben starke Pferde und einen leichten Wagen | und wollen den Weg kürzlich gefahren haben." Als es Abend geworden, gab er ihm einen Trank ein,

davon er augenblicklich in tiefen Schlummer sank, legte ihn auf eine lederne Decke | und sich daneben | und befahl seinen Geistern, daß sie ihn schnell nach Eisenach im Thü­ ringer Lande tragen | und daselbst im besten Wirtshaus niedersetzen sollten. Die Geister taten, wie ihnen befohlen war, und brachten noch in selbiger Nacht | den Meister mit seinem Gefährten gen Eisenach | in den Hellegrafen­ hof, der zu Eisenach am St. Georgentor liegt, zur linken Hand, wenn man aus der Stadt geht. Als nun der Tag anbrach, erwachte Heinrich; er hörte die Glocken zur Frühmesse läuten | und sprach verwun­ dert: „Mir ist, als hätt ich diese Glocken schon mehr ge­ hört, und deucht mich, daß ich zu Eisenach wäre." Der Meister sprach: „Dir träumt wohl!" Aber Heinrich stand auf I und trat ans Fenster, da merkte er, daß er wirklich zu Thüringen wäre. „Gottlob!" rief er, „daß wir hier sind, das ist das Helgrevenhaus, und hier sehe ich St. Jürgentor | und die Leute, die davor stehn | und über Feld gehn wollen." Sobald die Ankunst der beiden Gäste | denen auf der Wartburg kund wurde, befahl der Landgraf, sie ehrlich zu empfahen. Klingsor behielt seine Herberge | in Helle­ grafenhof zu Eisenach; und als er des Abends | im Garten seines Wirts saß | und viele ehrbare Leute aus des Wrsten Hofe | und ein Teil der Bürger aus der Stadt bei ihm saßen | und tranken den Abendtrank, da baten sie ihn, daß er ihnen etwas Neues sagen wollte, wie er denn immer dergleichen wußte, und darum so war man

Bäßler.

Becker.

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gern bei ihm. Da stund er vor ihnen auf | und sah das Gestirne mit Fleiß eine Weile an | und sprach darauf: „Ich will euch neue und fröhliche Mär sagen: heint, in dieser Nacht, wird meinem Herrn, dem Könige Andreas von Ungarn, eine Tochter geboren; die wird schön, tugend­ reich und heilig | und dem Sohne eures Herrn, des Land­ grafen, vermählt werden." Wie die Kunde hiervon | vor den Landgrafen Hermann und seine Gemahlin kam, freu­ ten sie sich dieser Weissagung überaus | und entboten den weisen Meister | aufs neue zu sich auf die Wartburg | und an den fürstlichen Tisch. Nach dem Mahle | begab man sich in das Ritterhaus, wo die Sänger | zur Austragung ihres Wettstreites | sich versammelt hatten. Klingsor machte Heinrich von Ofterdingen ledig | und versöhnte die Sän­ ger miteinander; und nachdem er alles gut und wohl aus­ gerichtet, nahm er Urlaub vom Landgrafen | und fuhr, mit Geschenken reich belohnt, samt seinen Knechten in der Decke wieder weg, wie und woher er gekommen war.

Karl Friedrich Becker. 154. Der Tod des Sokrates. sSokrates, der tiefe Denker und unvergleichliche Leh­ rer und Erzieher der Jünglinge, wirkte in Athen, begeistert verehrt von allen, die das Glück hatten, seinen Umgang zu genießen. Hatte doch das Orakel in Delphi auf die Frage, wer der weiseste Grieche sei, geantwortet: „Weise ist Sophokles, weiser Euripides, aber aller Menschen weisester ist Sokrates!" Durch sein Sittenrichteramt machte er sich aller­ dings bei vielen verhaßt, doch blieb er bis an sein siebenzig­ stes Jahr von aller Verfolgung frei. Aber nach der Schreckenszeit der dreißig Tyrannen Nagten ihn seine Feinde an, er leugne die Götter und verderbe die Jugend. Wohl verteidigte er sich glänzend vor dem großen Volksgerichte von 559 Richtern, dennoch wurde durch eine Mehrheit von

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Becker.

drei schwarzen Steinen das Todesurteil über ihn ausge­ sprochen.! Das Urteil würde gleich am folgenden Tage vollstreckt worden sein, wäre nicht zufällig gerade den Tag zuvor die heilige Prozession nach Delos abgegangen, während deren Abwesenheit keine Hinrichtung in Athen geschehen durfte. Noch hielten widrige Winde das Schiff diesmal länger als gewöhnlich auf, und dies verschaffte den Schülern des Sokrates das schmerzlich süße Vergnügen, ihren Lehrer noch dreißig Tage behalten zu können. Sie besuchten ihn wäh­ rend dieser Zeit täglich im Gefängnisse. Dem Apollodoros, dessen Schmerz am ausgelassensten war, und der einmal verzweifelnd ausrief: „Nein, so unschuldig sterben zu müssen!" entgegnete er lächelnd: „Möchtest du etwa lieber, daß ich schuldig wäre?" Den Tag vor seinem Tode entdeckte ihm Kriton schüchtern, er habe eine Summe Geldes zusammengebracht, die Wächter zu bestechen, daß sie die nächste Nacht die Tür offen ließen. „O Kriton," antwortete ihm Sokrates, „in welches Land könnte ich wohl dem Tode entrinnen?" Kriton meinte, er sei es doch seinen Kindern schuldig, den Verfügungen einer ungerechten Justiz zuvor zu kommen: aber Sokrates bewies ihm, daß keine Ungerechtigkeit uns berechtigen könne, den Gesetzen des Vaterlandes ungehor­ sam zu sein. Und so verließ ihn denn am Abend weh­ mütig die treue Schar, mit der Abrede, morgen früher als gewöhnlich wieder zu kommen. Sie fanden diesmal die Gcrichtsdiener bei ihm, welche seine Ketten löseten und ihm ankündigten, daß er vor Sonnenuntergang den Giftbecher trinken müsse. Auch seine Frau Xanthippe war da und trug das jüngste Kind auf ihren Armen. Ihres Wehklagens müde, ließ Sokrates sie durch den Kriton hinwegführen. Dann setzte er sich auf ein Ruhebette, zog das Schienbein an sich und rieb sich die Stelle an demselben, wo die.Kette ihn wund gedrückt hatte, wobei er ein Gespräch über die nahen Grenzen des

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Schmerzes und der Lust anknüpfte. Dann ward die Un­ sterblichkeit der Seele besprochen. So unterhielten sie sich den ganzen Tag, wehmütig froh, denn die immer geschäftige Laune des Lehrers ließ sie nie zur vollen Betrachtung ihres Schmerzes kommen. Gegen Abend verließ er sie, um sich zu baden, damit er, wie er sagte, den Weibern das Geschäft ersparte, die Leiche zu waschen. Jetzt kam die Frau mit den drei Söhnen noch einmal; er nahm kurzen Abschied von ihnen und kehrte dann zu den Freunden zurück. Die Sonne neigte sich zum Untergange. Da trat der Diener der Elfe herein, die den Gefängnissen Vorständen, und kündigte ihm an, daß es nun Zeit sei. „Du wirst mir wohl nicht fluchen," sagte er, „wie die andern tun, denn ich tue ja nur, was die Obern befehlen. Ich habe dich als den besten Mann kennen gelernt, der je hierher gekommen ist. Lebe wohl und ver­ suche die Notwendigkeit so leicht als möglich zu ertragen!" Weinend ging er hinaus. „Wie brav der Mensch ist," sagte Sokrates. „Auch während der ganzen 'Zeit hat er sich so bewiesen, wenn er mich besuchte. Aber geht doch und holt den Trank, wenn er schon eingerieben ist." Die Freunde baten ihn, noch zu warten; aber er hielt es für kindisch, jetzt noch mit dem Leben zu geizen. „Wie muß ich's machen?" fragte er den, welcher den Schierlingssaft brachte. „Du mußt trinken und dann umhergehen, bis eine Schwere in deine Glieder kommt. Hierauf legst du dich nieder." Er nahm den Becher mit voller Heiterkeit und ohne eine Miene zu verändern, vielmehr mit feinem gewöhnlichen durchdringenden Blick den Menschen ansehend, setzte er ihn an den Mund. „Den Göttern zu spenden ist wohl nicht erlaubt?" fragte er noch. Man sagte ihm, es werde nur so viel eingerieben, als zum Trinken not­ wendig sei. „Gut," erwiderte er, „so wollen wir wenigstens beten, daß der Übergang dorthin glücklich von statten gehe." Bei diesen Worten leerte er, fest anhaltend, den Becher.

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Sedet.

Bis dahin, erzählt sein Schüler Phädon, hatten wir unsere Tränen noch gehalten; als wir ihn aber trinken sahen, bezähmten wir uns nicht mehr. Auch mir flössen wider meinen Willen stromweise die Tränen. Doch nicht ihn beweinte ich, sondern mich selbst, daß ich solchen Freund verlieren sollte. Er aber hieß uns ruhig sein und uns ermannen, denn darum habe er ja die Weiber fortge­ schickt. Und wir schämten uns und enthielten uns der Tränen. Er ging unterdessen auf und ab, und als er die Mattigkeit fühlte, legte er sich rücklings nieder und verhüllte sein Gesicht. Nach einiger Zeit befühlte ihm der, welcher das Gift gereicht hatte, die Füße, drückte sie stark und fragte ihn, ob er's fühle. „Nein," sagte der Ster­ bende. Dann ging er so prüfend aufwärts und zeigte den Umstehenden, wie er kalt und steif werde. Und er selbst fühlte sich an, und da schon der Unterleib kalt zu werden anfing, deckte er noch einmal sein Gesicht auf und sagte zum Kriton: „Wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig.*) Opfert ihn ja und versäumt es nicht!" Kriton fragte ihn, ob er ihm sonst noch etwas aufzutragen habe, aber er antwortete nicht mehr. Einige Zeit hernach deckte der Wärter ihn auf, und man fand ihn erstarrt. Kriton drückte ihm weinend Mund und Augen zu.

188. Hannibals Zug über die Alpe». Hannibal bot alle Schätze der spanischen Bergwerke und des karthagischen Handels auf, um die möglichgrößte Anzahl Truppen aus beiden Weltteilen zusammenzu­ bringen. Die in Spanien ausgehobenen sandte er nach Afrika, die Hauptstadt zu beschützen, die Afrikaner nahm er nach Spanien herüber. Eine erlesene Anzahl numidischer Reiter und eine Herde Elefanten sollten die Römer zum zweiten Male ängstigen. *) Dem Heilgott als Danlopfer für die überstandene Krankheit

de» Leben».

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Diese erwarteten eine feindliche Flotte in der See und dachten auf eine Landung in Afrika; statt dessen übet«raschte sie die ganz unglaubliche Nachricht, Hannibal sei zu Lande über die unbetretbar geglaubten Alpen in Italien herniedergestiegen und wolle sie in ihrem eigenen Lande angreifen. Das setzte alle in Bestürzung und nötigte zur Umänderung aller entworfenen Pläne. In der Tat war Hannibal mit 50 000 Mann zu Fuß, 9000 Reitern und 37 Elefanten schon im Sommer 218 von Neukarthago aufgebrochen, hatte sich mit Gewalt einen Weg durch die wilden Völkerschaften längs der spanischen Ostküste bis zu den Pyrenäen gebahnt, seinen Unterfeld­ herrn Hanno zur Deckung dieser Defileen zurückgelassen, dann die Pyrenäen überstiegen, über den Rhodanus ge­ setzt und die Alpen erstiegen; ein Zug, der ihn allein un­ sterblich machen würde, und mit dem die bewunderten Alpenfahrten unserer Tage gar nicht zu vergleichen sind. Denn man denke sich ein afrikanisches Heer, an glühende Hitze gewöhnt; ein Gefolge von Elefanten, sonst nur in Ebenen brauchbar; tausende von Pferden, die über Klippen und Eisschollen an der Hand geleitet werden mußten und oft ausgleitend ihre Führer mit sich in den Abgrund rissen; ungebahnte Wege ohne Wagenspur und durch keine Karten den Reisenden vorgezeichnet, bewohnt von wilden Horden, mit denen man unaufhörlich fechten mußte, und die den Vorteil der Ortskenntnis und unzugänglicher Hin­ terhalte hatten; eine Jahreszeit endlich — es war im November — in welcher selbst jetzt, da diese Länder ange­ baut sind, kein Wanderer die Reise wagen würde. Nach neuntägigem Klettern über die starren Alpenzacken, wobei einige tausend Menschen und der größte Teil der Last­ tiere, teils vor Hunger und Kälte, teils in feindlichen Über­ fällen umgekommen waren, erreichte das mutige Heer den Gipfel des Berges Viso, auf welchem der Po entspringt, eine der höchsten Alpenspitzen. Hier mußte ein Weg, bei­ nahe zwei Stunden lang, durch einen Fels gehauen wer-

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den. Dafür aber zeigten sich nun auch von den eisigen Wolkenhöhen herab in weiter Ferne die grünen Wilder und Wiesen des milden Italiens. Auf sie vertröstete der Feldherr seine bleichen, ausgehungerten und fast erstarrten Krieger, die er in diesen luftigen Schneegefilde» zwei Tage ausruhen ließ. Endlich erreichte man die Täler des heuti­ gen Piemont, nachdem man fünfzehn Tage mit der Über­ steigung der Alpen und fünf Monate mit dem ganzen Marsche von Neukarthago aus zugebracht hatte. Wer wie war das schöne Heer auf diesem entsetzlichen Zuge ge­ schmolzen! Nur 26 000 Mann fand Hannibal hei der Muste­ rung noch übrig. Er eilte, sie durch gallische Hilssvölker zu verstärken, deren Haß gegen die Römer ihm das Bor­ rücken durch Oberitalien sehr erleichterte.

156. Cäsars Tod. Marcus Brutus und Cajus Cassius waren ein paar republikanische Schwärmer. Beide hatten vom . Cäsar große Gunstbezeugungen erhalten, beiden hatte er als gefangenen Pompejanern in Afrika das Lehen geschenkt, beide hatte er jetzt eben zu Prätoren gemacht, und dem Brutus, den er schon als Knaben um seiner schönen Mutter willen sehr hervorgezogen, hatte er schon für das folgende Jahr das Konsulat zugedacht. Dennoch hegten beide im Herzen gegen ihn unversöhnlichen Haß. Auf den Brutus richteten auch insgeheim alle Übrigen, welche Cäsars Tod wünschten, be­ sonders Cicero, ihr Augenmerk und ihre Hoffnung. Die gleichgesinnten Gemüter fanden sich endlich im stillen zu­ sammen, verschworen sich sämtlich gegen den Diktator und wünschten nur den Brutus an ihrer Spitze zu haben, denn er war ein tapferer Feldherr, ein rechtschaffner Mann, beim Volke sehr geächtet und folglich imstande, der ver­ wegenen Tat ein ehrenvolles Ansehen zu geben. Man reizte ihn zuerst aus seinem Tiefsinn durch allerlei Zettel, die er des Morgens auf seinem Präwrstuhle fand. Auf einem stand: „Du bist nicht Brutus." Auf einem

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andern: „Brutus, schläfst du?" Auch die alte Statue des ersten Konsuls Brutus, seines Ahnherrn, der die Tarquinier vertrieben, fand man häufig mit Zetteln beliebt, z. B.: „O, daß du jetzt lebtest!" Diese Aufforderungen und Cassius

Reden rissen den jungen feurigen Abkömmling des alten Thrannenfeindes aus seinem Schlummer; er stellte sich an die Spitze der Verschwörung, und Cäsars Tod ward aus

den 15. März beschlossen. Cäsar war gewarnt und kannte den verabredeten Tag sogar, doch das Nähere wußte er nicht. Gegen Brutus hatte er besonders nicht den mindesten Argwohn. Indessen

hatte er doch ckaf dringendes Bitten seiner Gemahlin be­ schlossen, an diesem Tage nicht in den Senat zu gehen. Als ihn aber am Morgen ein Better des Brutus besuchte und ihm vorstellte, er werde den Senat beleidigen, wenn er ihn unverichteter Sache wieder auseinander gehen lasse, machte er sich doch auf den Weg. Auf der Straße steckte ihm ein warnender Freund noch ein Papier zu; er gab es aber seinem Schreiber in Verwahrung. Als er in das Versammlungshaus gekommen war, die Senatoren gegrüßt und auf dem goldenen Sessel Platz genommen hatte, stellten sich sogleich die Verschworenen um ihn her, einige dicht hinter seinem Stuhl. Jetzt trat ihn ein gewisser Tullius Cimber mit der Bitte an, seinen verbannten Bruder zu begnadigen. Cäsar weigerte sich. Die Verschworenen traten näher, als wollten sie Fürbitten für den Verwiesenen ein­ legen. Hierauf ergriff Cimber Cäsars Toga und zog sie ihm gewaltsam von der Schulter. Dies war das verababredete Zeichen, auf welches sogleich einer, Namens Casca,

von hinten den ersten Dolchstoß tat. Er traf aber statt des Halses die Schulter und verletzte ihn nicht sehr. Cäsar wandte sich rasch zu ihm, schrie: „Verfluchter Casca, was machst du?" und packte ihn am Arm. Aber indem stachen ihn die anderen in die Brust, ins Gesicht, und von allen Seiten drangen Dolche auf ihn ein. Die Mörder stachen so hitzig und so unsicher, daß sie sich untereinander selbst

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verwundeten. Einige Augenblicke verteidigte sich der Über­ fallene tapfer, als er aber, schon ganz mit Blut bedeckt, noch den Brutus auf sich eindringen sah, rief er weh­ mütig: „Auch du, mein Sohn?" verhüllte das Gesicht mit seiner Toga und sank nach dreiundzwanzig Wunden an der Bildsäule des Pompejus nieder, die nicht weit von seinem Sitze stand. Der erschrockene Senat hatte das Ende der blutigen Tat nicht abgewartet, und als Brutus sich nachher mit einer Rede an ihn wenden wollte, sand er alle Bänke leer.

157. Spiele der Römer. Selbst in den beliebtesten Nationalspielen der Römer offenbart sich derselbe Charakter der Härte, Grausamkeit und Kriegslust, den wir in ihren Handlungen kennen ge­ lernt haben. Da sah man nicht jene anständigen Leibes­ übungen, in denen sich die edelsten griechischen Jünglinge zu Olympia und Delphi rühmliche Kränze zu erwerben suchten, Übungen, die die Gesundheit befestigten, ohne ihr gefährlich zu werden, und die den Körper des Ringers ge­ wandt machten, während sie dem Zuschauer das Vergnügen schöner Stellungen gewährten. Nichts von jenen seelen­ vollen Tänzen, welche in Griechenland jedes frohe Fest verherrlichten; kein Pindar und kein Herodot versammelte Tausende von gefühlvollen oder wißbegierigen Hörern um sich her, und das Theater hat sich in Rom nie zu einem Lieblingsorte des großen Haufens erhoben. Nur Rauf- und Mordspiele wollte der blutgierige Römer sehen; wo Menschen und Tiere sich zerfleischten, da fand er seine Freude. Und was uns noch schwer zu begreifen fällt, es fehlte nie an Menschen, welche sich frei­ willig dazu hergaben, mit dem Schwerte auf Tod und Leben zu fechten. Diese Menschen hießen Gladiatoren. Sie waren natürlich aus der Hefe des Volkes, auch Sklaven und Gefangene wurden oft dazu gezwungen. Sie bekamen reichliche und nährende Kost und wurden von ordentlichen

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Fechtmeistern geübt, deren jeder zuweilen mehrere Hun­ derte in seiner Schule hatte. Sollte nun dem Volke ein großes Fechterspiel gegeben werden, welches entweder an großen Götterfesten oder bei Begräbnissen berühmter Männer geschah, oder auch wenn eine vornehme Magistratsperson ihr Amt antrat und sich dadurch bei dem Volke beliebt machen wollte, so mietete man einem Meister die Gladia­ toren paarweise, oft zu mehreren hundert Paaren ab, da­ mit sich das Volk an ihren Zweikämpfen weiden konnte. Der Schauplatz war anfänglich das Forum, welches zu diesem Behufe mit hölzernen Gerüsten umgeben ward, die man nach geendigtem Spiele wieder abriß; späterhin er­ baute man dazu eigne steinerne Amphitheater, die viele Tausend Zuschauer fassen konnten. Diese Gebäude waren länglich rund und oben offen. Der Schauplatz war in der Mitte derselben, und ringsumher erhöben sich unabsehliche Reihen von Sitzen, deren jede immer etwas höher und etwas entfernter als die andere war. Der Kampfplatz in der Mitte war mit Sand bestreut, der nach beendigtem Spiele reichlich mit Blut getränkt war. Denn jedes Fech­ terpaar mußte sich so lange herumschlagen, bis einer von beiden sich für überwunden bekannte. Matt und verblutet lag er dann im Sande, und wenn er nicht flehend eine Hand ausstreckte, gab ihm der Sieger noch zuletzt den Todes­ stoß. Gleich darauf betrat ein frisches Paar den Platz und zerhieb sich wie das erste; dann erschien wieder ein anderes, und so sah man oft über hundert Paare nacheinander fech­ ten. Und dieses mörderische Spiel ward den Römern weder schauerlich noch einförmig, sie konnten vom Morgen bis zum Abend dabei aushalten, ja sie ließen sich zu essen und zu trinken ins Amphitheater bringen, um ja nichts zu versäumen. War ein Fechter besonders geschickt im Morden, so erschallte ihm sein Bravo nicht minder allge­ mein herab, als wenn bei uns ein Sänger eine schöne Arie gesungen hat. Die Sucht nach solchen Anblicken, die nur ein Römer

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Spiele nennen konnte, wuchs bei dem blutdürstigen Volke von Jahr zu Jahr. Zuletzt wollte man nicht bloß einzelne Fechter, sondern ganze Scharen auf einmal im Kampfe gegeneinander sehen. Es traten daher gleichsam Heere im Kleinen in den Amphitheatern auf, bald als Thessalier, bald als Gallier, bald in andre kriegerische Trachten ge­ kleidet. Einige hatten in der Linken ein Netz und in der Rechten einen Dolch statt aller Bewaffnung. Jenes suchten sie dem Gegner über den Kopf zu werfen, ihn damit nieder­ zuziehen und dann unbarmherzig zu durchbohren. Seit­ dem die Römer mit den wilden Tieren der heißen Welt­ teile bekannt geworden waren, sah man gar aus den Schau­ plätzen arme Sklaven mit Löwen, Tigern und Elefanten streiten. Je unnatürlicher die Zerfleischungen waren, desto mehr ergötzte sich das Volk, Männer, Weiber und Kinder. Mehr Ähnlichkeit mit den griechischen Kampfübungeu hatten die cirzensischen Spiele, wo zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen in die Wette gerannt, das Ringen, Springen und Faustkämpfen geübt wurde.

158. Die Entdeckung Amerikas. Mit dem Ende des Julius 1492 war alles zur Ab­ reise fertig. Drei höchst mittelmäßige Schiffe, von denen die beiden kleineren nicht viel mehr als große Boote waren, machten die ganze Flotte aus. Die Mannschaft bestand aus 90 Mann, worunter einige Edelleute waren, die teils als Freiwillige, teils auf Jsabellens Befehl die Reise mit­ machen wollten. Den 3. August 1492, an einem Freitag, kurz vor dem Aufgang der Sonne, stieß die kleine Flotte vom Lande ab, in Gegenwart unzähliger Zuschauer, die die kühnen Abenteurer mit Blicken und Zurufen begleiteten. Die ersten Wochen hatte noch alles guten Mut, denn noch segelte man in bekannten Gewässern den kanarischen Inseln zu. Nur da ein Steuerruder brach, plagte sich die Furcht­ samkeit mit bösen Ahnungen. Die Inseln wurden indessen

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glücklich erreicht, und auf einer derselben legte man an, um Schiffe auszubessern. Am 6. September fuhren sie wieder ab und gerade ins Weltmeer hinein gegen Westen. Der regelmäßigste Wind, der auch bis zu Ende anhielt, begünstigte die Fahrt, und schon am folgenden Tage war alles Land aus ihren Augen verschwunden: Entsetzlicher Zustand für Menschen, die sich zum ersten Male von der ganzen lebendigen Welt abgeschnitten sahen, auf einem Ge­ zimmer von Balken und Brettern den wilden Wogen preis­ gegeben, keine Aussicht ringsumher als auf ein unge­ heueres Meer und den weiten Himmel, immer tiefer hin­ eingetrieben, ohne zu wissen wohin, und von einem Ver­ wegenen angeführt, der keine andere Kunde vom Ziel hatte, als die seine Phantasien ihm vorspiegelten! Kolumbus flößte ihnen indessen durch seine eigene Ruhe Bewunde­ rung und Vertrauen ein. Unermüdet stand der edle Mann Tag und Nacht mit Senkblei und Beobachtungsinstrumen­ ten auf dem Verdeck, schlief nur wenige Stunden und zeichnete die kleinsten Beobachtungen auf. Wo er Angst ilnd Traurigkeit bemerkte, da redete er freundlich zu uud heiterte die Murrenden mit Versprechungen auf. Es war zu bewundern, welche Herrschaft über die Gemüter ihm zu geböte stand. Aber die Angst der zagenden Seelen wuchs doch immer wieder über. Als die Schiffe in den Strich des Passatwindes kamen, schossen sie wie Pfeile dahin. Gott int Himmel, was sollte daraus werden? Am 1. Oktober hatten sie schon 770 Seemeilen durchflogen. Kolumbus gab zwar den Fragenden weit weniger an, aber das konnte sie nicht trösten. Hin und wieder stellte sich Ursache zur Hoffnung ein. Man sah unbekannte Vögel. Aber man wußte nicht, daß die Seevögel viele hundert Meilen weit fliegen können. Einmal war die See mit grünem Meer­ grase so dicht bedeckt, daß die Schiffe fast im Laufe auf­ gehalten wurden. Aber Gras und Vögel verschwanden nach einigen Tagen wieder, und die armen verlassenen Men­ schen sahen sich wieder auf dem weiten, öden Ozean allein. Hessel und User, Lesebuch 5. M. 14

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Jetzt wandelte sich in den Verzagtesten die Furcht in Bere zweiflnng. Sie stellten ihren rasenden Führer mit der größten Wut zur Rede, sie drohten ihn über Bord zu werfen, wenn er nicht umkehre. Noch einmal besänftigte er sie durch sein ruhiges, heiteres Vertrauen, er stellte sich, als wenn er mit seinen bisherigen Fortschritten sehr zufrieden sei und gewisse Hoffnungen habe, sein Ziel bald zu erreichen. Vögel erscheinen und verschwinden wieder; die Sonne geht auf und unter und wieder auf, und die Schiffe fliegen noch immer pfeilschnell nach Westen. Die Verzweiflung kennt keine Mäßigung mehr, man will Hand an Kolumbus legen. Nur der Gedanke, wer sie zurück­ führen solle, wenn er ermordet sei, hält sie noch ab. Er verlangt noch drei Tage. Sähe man dann noch kein Land, so wolle er umlenken. Das gehen sie knirschend ein. Am folgenden Tage erreichte das Senkblei schon den Grund, Rohr und ein Baumast mit roten Beeren schwammen auf sie zu, und Landvögel besuchten die Masten. Die Sonne war eben untergegangen. Noch sah man nichts, aber Kolumbus ließ die Segel einwickeln, um nicht etwa bei Nacht auf Klippen gestoßen zu werden. Zwei Stunden vor Mitternacht erblickte er ein Licht von ferne. „Land! Land!" erscholl es jetzt aus jeder Brust. Man stürzte einander in die Arme, einer schluchzte vor Freuden an des andern Brust, und Kolumbus hatte die Befriedigung, alle, die vor­ her sein Leben bedroht hatten, zu seinen Füßen zu sehen. Nach der ersten Trunkenheit des Entzückens erinnerte man sich seiner höheren Pflicht und stimmte mit innigster An­ dacht ein Tedeum an. Die ganze Nacht ward mit Aus­ rufungen der Freude und mit Lobeserhebungen gegen den Admiral hingebracht, und als der Morgen anbrach, sahen sie eine schöne grüne Insel vor sich liegen. Mit Sonnen­ aufgang bestiegen sie nun die Boote und ruderten mit Kriegsmusik, fliegenden Fahnen und anderm Gepränge dem Lande zu. Am Ufer hatte sich fast das ganze Völkchen der Einwohner versammelt, die ebenso sehr über die seltsamen

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Gäste erstaunten, als sie selber bei diesen Staunen er­ regten. Sie waren ganz nackt, von einer rötlichen Kupfersarbe. Kolumbus, in einem reichen Kleide und den bloßen Degen in der Hand, stand an der Spitze des ersten Boots, welches ans Land stieß, um der erste Europäer zu sein, der die neue Welt beträte. Ihm folgten die andern, und in dem unaussprechlichen Gefühle des glücklich geretteten Lebens nach mehr als vierzigtägiger Todesangst auf schwankenden Brettern, warfen sie sich alle nieder und küßten mit Inbrunst die sichere Erde. Das war das Dankopfer der Natur; ein anderes schrieb die Religion ihnen vor: sie errichteten ein Jesuskreuz und stammelten vor demselben ihre frommen Gebete. Hierauf nahm Kolum­ bus die Insel für den König von Spanien in Besitz, mit den Zeremonien, die die Portugiesen bei ihren Entdeckungen in Afrika zu beobachten pflegten. Die Indianer sahen das mit an und begriffen natürlich nichts davon, wie ihnen denn die ganze Erscheinung weißer Männer mit Bärten und Kleidern, einer seltsamen Sprache und noch seltsameren Manieren überhaupt etwas Unbegreifliches sein mußte. Man merkte es den Wilden ab, daß sie ihre Insel mit dem Namen Guanahani bezeichneten, und so heißt sie auch noch jetzt.

Otto von Bismarck. 159. Aus der ungarischen Steppe. (Brief an seine Gemahlin.) Szolnok, 27. Juni 1852. In den vorhandenen Atlanten wirst Du eine Karte von Ungarn finden, auf dieser einen Fluß Theiß, und wenn Du dann über Szegedin hinauf nach der Quelle suchst, einen Ort Szolnok. Der Ort liegt am Rande der ungari­ schen Steppen zwischen Donau und Theiß, welche ich mir Spaßes halber ansehen wollte. Man ließ mich nicht ohne Eskorte reisen, da die Gegend durch berittene Räuberban-

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-en, hier Betyaren genannt, unsicher gemacht wird. Nach einem komfortablen Frühstück unter dem Schatten einer schönhausischen Linde, bestieg ich einen sehr niedrigen Leiterwagen mit Strohsäcken und drei Steppenpferden da­ vor; die Ulanen luden ihre Karabiner, saßen auf, und fort ging's in sausendem Galopp. Hildebrand und ein ungarischer Lohndiener auf dem Vordersack, und ein Kut­ scher, ein dunkelbrauner Bauer mit Schnurrbart, breit­ randigem Hut, langen, speckglänzenden schwarzen Haaren, einem Hemd, das über dem Magen aushört und einen handbreiten dunkelbraunen Gurt eigener Haut sichtbar läßt, bis die weißen Hosen anfangen, von denen jedes Bein weit genug zu einem Weiberrock ist, und die bis an die Knie reichen, wo die gespornten Stiefel anfangen. Denke Dir festen Rasengrund, eben wie der Tisch, auf dem man bis an den Horizont meilenweit nichts sieht, als die hohen, kahlen Bäume der für die halbwilden Pferde und Ochsen gegrabenen Ziehbrunnen (Püttschwengel); tausende von weißgrauen Ochsen mit armlangen Hörnern, flüchtig wie Wild; von zottigen, unansehnlichen Pferden, gehütet von berittenen, halbnackten Hirten mit lanzenartigen Stöcken; unendliche Schweineherden, unter denen jederzeit ein Esel, der den Pelz (bunda) des Hirten trägt und gelegentlich ihn selbst; dann große Scharen von Trappen; Hasen, hamsterartige, Zeisel; gelegentlich an einem Weiher mit salz­ haltigem Wasser wilde Gänse, Enten, Kibitze, — waren die Gegenstände, die an uns und wir an ihnen vorüberflogen während der drei Stunden, die wir auf sieben Meilen bis Ketskemet fuhren, mit etwas Aufenthalt in einer Csarda (einsames Wirtshaus). Ketskemet ist ein Dors, dessen Straßen, wenn man keine Bewohner sieht, an das steine Ende von Schönhausen erinnern, nur hat es 45000 Ein­ wohner, ungepflasterte Straßen, niedrige, orientalisch gegen die Sonne geschlossene Häuser mit großen Viehhöfen. Ein fremder Gesandter war da eine so ungewöhnliche Erschei­ nung, und mein magyarischer Diener ließ die Exzellenz

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so rasseln, daß man mir sofort eine Ehrenwache gab, die Behörden sich meldeten und Vorspann requiriert wurde. Ich brachte den Abend mit einem liebenswürdigen Oifizierkorps zu, die darauf bestanden, daß ich auch ferner Eskorte mitnehmen müsse, und mir eine Menge Räubergeschichten erzählten. Gerade in der Gegend, nach der ich reiste, sollten die übelsten Raubnester liegen, an der Theiß, wo die Sümpfe und Wüsten ihre Ausrottung fast unmöglich machen. Sie sind vortrefflich beritten und bewaffnet, diese Betyaren, überfallen in Banden von 15 bis 20 die Reisenden und die Höfe und sind am anderen Tag 20 Meilen davon. Gegen anständige Leute sind sie höflich. Ich hatte den größten Teil meiner Barschaft bei Fürst W. gelassen, nur etwas Wäsche bei mir und hatte eigentlich einen Kitzel, diese Räuber zu Pferde, in großen Pelzen mit Doppelflinten in der Hand und Pistolen im Gurt, deren Anführer schwarze Masken tragen und zuweilen dem kleinen Landadel ange­ hören sollen, näher kennen zu lernen. Vor einigen Tagen waren mehrere Gendarmen im Gefecht mit ihnen geblieben, dafür aber zwei Räuber gefangen und in Ketskemet stand­ rechtlich erschossen worden. Dergleichen erlebt man in unseren langweiligen Gegenden gar nicht. Um die Zeit, wo Du heute morgen aufwachtest, hast Du schwerlich ge­ dacht, daß ich in dem Augenblick in Kumanien in der Gegend von Felegyhaza und Csonigrad mit Hildebrand im gestreckten Galopp über die Steppe flog, einen liebens­ würdigen sonnenverbrannten Ulanenofsizier neben mir, jeder die geladenen Pistolen im Heu vor sich liegend, und ein Kommando Ulanen, die gespannten Karabiner in der Faust, hinterher jagend. Drei schnelle Pferdchen zogen uns, die unweigerlich Rosa, Csillak (Stern) und das nebenlaufende Betyar (Vagabund) heißen, von dem Kutscher ununter­ brochen bei Namen und in bittendem Ton angeredet wer­ den, bis er den Peitschenstiel quer über den Kopf hält und mega, mega (halt an) ruft, dann verwandelt sich der Galopp in sausende Karriere. Ein sehr wohltuendes Ge-

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fühl! Die Räuber ließen sich nicht sehen; wie mir mein netter, brauner Leutnant sagte, würden sie schon vor Tages­ anbruch gewußt haben, daß ich unter Bedeckung reiste, ge­ wiß aber seien welche von ihnen unter den würdig aus­ sehenden stattlichen Bauern, die uns auf den Stationen aus den gestickten, bis zur Erde gehenden Schafpelzmänteln ohne Ärmel ernsthaft betrachteten und mit einem ehren­ festen istem adiamek (gelobt sei Gott!) begrüßten. Die Sonnenhitze war glühend den ganzen Tag, ich bin im Ge­ sicht wie ein Krebs so rot. Ich habe 18 Meilen in 12 Stunden gemacht, wobei noch 2—3 Stunden, wenn nicht mehr, auf Anspannen und Warten zu rechnen sind, da die 12 Pferde, die ich brauchte, für uns und die Bedeckung erst gefangen werden mußten. Dabei waren vielleicht ein Drittel des Weges tiefster Mahlsand und Dünen, wie bei Stolpmünde. Um 5 kam ich hier an, wo ein buntes Ge­ wühl von Ungarn, Slovaken, Walachen die Straßen (Szolnok ist ein Dorf von etwa 6000 Einwohnern, aber Eisenbahnund Dampfschiffstation an der Theiß) belebt, und mir die wildesten und verrücktesten Zigeunermelodien ins Zimmer schallen. Dazwischen singen sie durch die Nase mit weit­ aufgerissenem Munde, in kranker. Nagender Molldissonanz Geschichten von schwarzen Augen und von dem tapferen Tod eines Räubers, in Tönen, die an den Wind erinnern, wenn er im Schornstein lettische Lieder heult. Die Weiber sind im ganzen gut gewachsen, einige ausgezeichnet schön; alle haben pechschwarzes Haar, nach hinten in Zöpfe ge­ flochten, mit roten Bändern darin, die Frauen entweder lebhaft grün-rote Tücher oder rotsammetne Häubchen mit Gold auf dem Kopf, ein sehr schön gelbes seidenes Tuch um Schulter und Brust, schwarze, auch urblaue kurze Röcke und rote Safsianstiefel, die bis unter das Kleid gehen, lebhafte Farben, meist ein gelbliches Braun im Gesicht und große brennend schwarze Augen. Im ganzen gewährt so ein Trupp Weiber ein Farbenspiel, das Dir gefallen würde, jede Farbe am Anzug so energisch, wie sie sein

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kann. Ich habe nach meiner Ankunft um 5, in Erwar­ tung des Diners, in der Theiß geschwommen, Csardas tanzen sehen, bedauert, daß ich nicht zeichnen konnte, um die fabelhaften Gestalten für Dich zn Papier zu bringen, dann Paprika-Hähndel, Stürl (Fisch) und Tick gegessen, viel Ungar getrunken, geschrieben und will nun zu Bett gehn, wenn die Zigeunermusik mich schlafen läßt. Gut­ nacht. Jstem adiamek!

Wilhelm Bölsche. 160. Die Küche der Urzeit. In der uralten Tradition stehen jene beiden Bilder: der Mensch am Anfang seiner Existenz in einem schönen grünen Paradiesgarten, wo ihm die süßen Früchte in den Mund hängen, und der Mensch, hinansgejagt ins Dor­ nenfeld, in Not und Mühe sein karges Brot sich suchend, frierend und hungernd. Es ist, als hätten das achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert sich in diese Bilder ge­ teilt. Im achtzehnten träumte man den wirklichen Men­ schen der Urzeit in einem paradiesischen Naturzustand. Man dachte an jene köstlichen Südseeinseln, wo der Brot­ fruchtbaum wächst und ewiger Sommer ist. Und der gute Rousseau baute sich daraus eine selige Urinsel auf, wo eitel Tugend, Liebe und Sättigung des Leibes und der Seele herrschten. Im nüchternen neunzehnten Jahrhundert umgekehrt grub man alte Knochen, Scherben, Pfahlbaumpslöcke und Müllhaufen aus Höhlen und Sümpfen, und es erschien der Steinzeitmensch, ein armer, nackter, vertriebener Adam, der mit Höhlenbären und Mammuten kämpfte, während hinter ihm die Lawinen der Eiszeit donnerten. Mit ge­ bratenem Mammutrüssel und Döhlenbärenschinken beginnt in der Tat der nachweisbare Ur-Speisezettel der Mensch­ heit.

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An den Ostküsten der dänischen Inseln liegen allent­ halben dicht am Meer seltsame Dämme. Bis zu drei Metern werden sie hoch, bis zu sechzig manchmal breit. Kjökkenmöddinger nennt man sie im Lande. Das sind buch­ stäbliche Müllhaufen, Küchenabfallhaufen. Es ist ein un­ geheures Monument, das unsere entlegensten Altvordern sich selbst gesetzt haben, indem sie etwas sehr Schlichtes taten, das sonst nicht , mit Denkmälern gefeiert zu werden pflegt, nämlich tapfer aßen.

Der vielbewährte Brauch der Berliner Grunewaldbesucher stand bei ihnen bereits in hohen Ehren, alle Schalen, Knochen, Gräten und zerbrochenen Geschirre hübsch au» Fleck der Mahlzeit liegen zu lassen. Ort der Mahlzeit war traditionell in ungezählten Generationen die Meeresküste. Und. da niemand wehrte, so kam im Laufe der Zeiten folgerichtig zustande, was dem Grünewald auch winkt: es bildete sich rings um die Insel eine Art geologischer Kulturschicht, ein unverwüstlicher Damm von Küchenkehricht. Andersen, der liebe Dänendich­ ter, sagt so hübsch: „Vergoldung vergeht, Schweinsleder besteht". Die ganze Nation von Steinzeitmenschen, die da gearbeitet, verging endlich bis auf die letzte Spur. Aber die Kjökkenmöddinger bestehen heute noch........... Es war ein Volk jener vorgeschichtlichen Steinzeit, das hier ge­ haust und getafelt hat.

Die große wilde Eiszeit, in der ganz Dänemark unter Gletschereis begraben lag, war allerdings schon vorüber. Aber das Klima war noch wesentlich unwirtlicher als jetzt. Der wundervolle lichtgrüne Buchenkranz, der heute Däne­ marks Stolz ist, existierte noch nicht. Düstere Fichtenwäl­ der, wie sie heute wild dort nirgendwo sich finden, bedeck­ ten Land und Küste. Arm war die Kultur der Menschen im Schatten dieses Fichtenurwaldes. Wir sehen an den Resten ihrer Habe in den Müllhaufen selbst ihre Armut: rohe Messer und Werkzeuge von Feuerstein, Knochengrüst,

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verarbeitete Geweihstücke, ganz ungefüges Tongeschirr, aber keinerlei Metall und kein Anzeichen von Ackerbau. Und doch, wie es geht: ein Feinschmecker von heute, vor die Kjökkenmöddinger gestellt, möchte am Ende doch gar meinen, er stehe auf der Kehrichtkiste des Rousseau­ scheu Paradieses. In der Stadt Kopenhagen wird noch heute, wie weltbekannt, eine gar gute Tafel geführt. Aber es ist kein Gedanke mehr an die Austernverschwendung, die jene Stein- und Hornleute des Fichtenwaldes offen­ bar jahrhundertelang systematisch betrieben haben. Den ganzen Grundstock jener Mülldämme nämlich bilden Austern­ schalen. Der philanthropische Zukunftstraum war hier schon einmal Vergangenheitstatsache: Austern als Volks­

nahrung. Die Möglichkeit beweist zugleich, wie weit diese Tage zurückgehen. Denn die Auster ist heute überhaupt kein Freund der Ostsee mehr, weil sie salziges Wasser vorzieht. Als über dem dänischen Ostseestrand noch die Fichte ragte, da muß auch das Wasser dieser Ostsee noch weniger durch Zuflüsse versüßt gewesen sein, als es heute der Fall ist.

Man erinnert sich, daß während der ganzen Eiszeit die großen Flüsse, die heute in die Ostsee fließen, Oder und Weichsel, hinter der Eisbarriere nach der Elbe zu abslossen und mit dieser in die Nordsee gingen. Wie dem nun sei: die dänische Auster war damals Trumpf. Mit andern eßbaren Muscheln mag sie das eigentliche Zugericht zu allem „Konsistenteren" gebildet haben, die Kartoffel der

Urzeit, die man als selbstverständlich rechnete. Wo die Schale der Auster sich treu durch alle Jahr­ tausende erhalten hat, da ist natürlich auch der Knochen des zugehörigen Bratens liegen geblieben. Braten kannten sic schon, die Vorgeschichtler. Steppenbrände, bei denen Tiere unfreiwillig gebraten wurden, haben den Urmenschen wahrscheinlich zuerst auf den Geschmack am Bratfleisch ge­ bracht. Das schmeckte in seiner salzigen Aschenkruste köst­ lich und hielt sich sehr viel länger als frisches. In der

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Bölsche.

großen Eiszeit mit ihren furchtbaren Wintern ist dann wohl die stolze Kulturtat geschehen, daß das Feuer vom Menschen eingefangen, zur Herdflamme gezähmt wurde. Er lernte es als Funken auffangen, der aus dem zerschlagenen Feuersteine sprühte. Er lernte es beim Schaben von Holz­ mehl gewinnen — erst wollte er bloß solches Schabemehl herstellen, um die Glut, die ein Blitzstrahl oder Vulkan­ brand gegeben, zu bewahren — dann lernte er, daß beim Schaben das Holz selbst warm wurde, sich entzündete, und Prometheus war fertig. Er ist auch der größte Küchenheilige. Mit der Herdflamme begann die Kochkunst. In den Kjökkenmöddingern liegen immerzu Feuer­ stellen, geschwärztes, verkohltes Holz, Asche, angeglühte Steine, gesengte Knochen. Gedampft und gebrodelt hat es schon bei diesen Austernessern nach Herzenslust zu den Ur­ waldfichten empor. Es war Getier dieses Urwaldes, das in der Asche briet. Wie nicht zu leugnen: auch durchweg schlemmerhaft schmackhaftes Getier. Da liegen im Müllgrund Knochen des Auerochsen. Wem hat nicht einmal das Herz höher geschlagen, wenn er im „Lederstrumpf" vom köstlichen Buckel und der noch köstlichern Zunge des Büffels las, die der alte Trapper mit unnachahmlicher Kunst nach glück­ licher Jagd bereitet? Verschollene Küchenromantik der Menschheit! Die echten Lederstrümpfe haben seitdem dafür gesorgt, daß der nordamerikanische Büffel bis auf eine Heine, künstlich gehegte Herde ausgerottet ist. Und damit teilt er nur das Los jenes europäischen Wisents oder fälschlich so genannten Auerochsen, den unsere Uraltvordern sich schmecken ließen. Bon der überlebenden kleinen Wisentherde im kaiserlichen Forst von Bjelowjehsa in Rußland ist zur Not heute noch einmal ein Stück für einen zoologischen Garten durch Gnadenakt des Zaren zu haben, aber einen Wild­ brethändler für Wisentbraten gibt es längst in der ganzen Welt nicht mehr. Noch ist überliefert, wie er schmeckte: zwischen Rindfleisch und Hirsch soll er die Mitte gehalten

Bölsche.

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haben, und im alten Polen galt eingesalzener Wisent als Fürstenmahl. An gewöhnlichem Ochsenfleisch war übrigens bei den Steinzeitleuten auch kein Mangel, bloß wird es ebenfalls damals noch einen Beigeschmack von „Wild" gehabt haben. Denn ungezähmt, als wilder Forstschrecken, hauste neben dem Wisent auch noch die echte Stammform unseres heuti­ gen zahmen Rindes im Fichtenwalde: der schwarze „Ur­ stier", der heute einfach nicht mehr existiert, weil er in unsere Kulturrassen aufgegangen ist. In den dänischen Kehrichthaufen kommen, soweit bekannt, keine Küchenabfälle mehr vom Rhinozeros vor. Wer an andern Orten Europas liegen sie um so reichlicher. Mitten im Herzen Deutschlands, am Fleck, wo Schiller und Goethe gewandelt sind, in alten Kalkablagerungen der Ilm bei Weimar, steckt ein vorgeschichtlicher Müllhaufen, der auf ein jahrhunderte­ lang fortgesetztes Rhinozerosfestessen deutet. Die Nas­ hörner müssen damals im Thüringerwald so häufig gewesen sein, wie heute die Rehe. Es war nicht genau dieselbe Sorte wie heute in den warmen Ländern. Ein dicker, rot und weiß gescheckter Pelz bedeckte die Haut als Schutz­ mittel gegen die Kälte. Noch heute schmeckt dem Neger das Nashornsleisch vortrefflich, obwohl die Europäer nichts davon wissen wollen. Den Weimarern der Steinzeit aber ist es wahrscheinlich noch mehr auf die Masse, die solch ein Koloß an Nahrung für einen ganzen Stamm bot, ange­ kommen, als auf die Feinschmeckerei. Immerhin merkt man an den Knochen, die heute noch angebrannt auf der alten Feuerstätte Herumlagen, als man den Kalktuff auf­ grub, recht gut, wie die Steinzeitler sich hauptsächlich über junge Tiere hergemacht haben. Sie ließen sich zweifellos leichter fangen und schmeckten obendrein zarter. Alles in allem dürfte das Rhinozeros in Europa vom Menschen schließlich „aufgegessen" worden sein. Die Menschen mehr­ ten sich rasch und erfanden immer mehr Fallgruben, Gift­ pfeile und andere hübsche Sachen zu Gunsten ihrer Küche.

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«Asche.

Damit konnten die schwerfälligen Ungetüme nicht Schritt halten, und zu irgend einer Stunde hat die letzte deutsche Nashornkeule sang- und klanglos an irgend einem Brat­ spieß ihre Bestimmung erfüllt. Elefantenfleisch ist gröber als Ochsenflcisch. Ein Stück Vorderfuß muß vierundzwanzig Stunden gekocht werden, um zart zu werden, aber Fleisch und Bouillon sind dann gleichermaßen vortrefflich. Der Rüssel, in der Asche ge­ braten, gehört zur Feinschmeckerei. So ähnlich, denke ich, werden die Dinge also auch beim Mammut gelegen haben, das ja nur ein großer, dick mit rotem Wollpelz beneide­ ter Elefant mit toll gekrümmten Stoßzähnen war. Wo immer man in den Kjökkenmöddingern wühlt, immer stellt sich eine gewisse epikureische Wehmut ein, wie viel Gutes unserer Küche seitdem verloren gegangen ist. Da liegen die großen gelben Nagezähne des Biebers. Den kennt nun unsere deutsche Luxusküche auch schon nicht mehr, und damals war er ein Volksgericht. Es gibt noch alte Rezepte: daß er mit Seerosen sich gemästet haben müsse, nm gut zu schmecken, und ähnliche schöne Sachen. Es hat sogar sicher nicht zum wenigsten an der Ausrottung des deutschen Bibers mitgetan, daß er einen so exquisiten Bra­ ten gab. Und wer möchte nicht auch vom „Riesenalk" gekostet haben, einem großen, flugunfähigen Tauchvogel, dessen ab­ geknabberte Gerippteilchen in dem uralten Kehricht stecken. Total ausgestorben heute, steht er bloß als ausgestopfter Balg noch in einigen Museen. Zehntausend Mark zahlt man für einen Balg, sechstausend für das Ei. Ein anderer großer Vogel, den die Kjökkenmöddingerschlemmer fleißig aßen, war der Auerhahn. Gerade er ist ein Beweisstück, daß damals Dänemark noch Fichtenwald hatte, denn er ist selbst ein Schlemmer in jungen Fichtentrieben. Heute ist er vor dem Laubwald, der das Land erobert hat, längü völlig verschwunden.

Budde.

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Emil Budde. 161. Ei« Familienvater im Reiche der Fische. Zu dem Merkwürdigsten, was existiert, gehören die In­ stinkte, Einrichtungen der tierischen Seele, vermöge beten ein Tier zweckmäßige Handlungen vornimmt, die für seine übrigen geistigen Fähigkeiten oft unverhältnismäßig verwickelt sind. Sie hängen stets mit entsprechenden Einrichtungen seines Körpers zusammen, und sie bllden im Verein mit ihnen die Wunder, welche wir anstaunen. Und sie finden sich an Stellen, wo der Alltagsmensch sie nie vermuten würde. Man denkt gewöhnlich an die Fische nur als schleimige, glotzäugige Gesellen, die im Dunkel der Wassertiefe «in ungeschicktes Leben führen, hin- und herschießen, Würmer fressen und gelegentlich einen Angelhaken mit verschlucken. Der Leser wird ihnen Abbitte tun, wenn er hört, was für Künste sie treiben. In der Nähe des alten Kapernaum fließt eine Anzahl von warmen Quellen, die sich in den See von Tiberias ergießen. In dem Wasser derselben wohnt der „Familien­ vater", der so wie seine Gemahlin in Olivengrün mit blauen Streifen gelleidet ist. Wenn die Eier in eine Ver­ tiefung des sandigen Bodens oder zwischen die Binsen ge­ legt sind, geht der Papa hin, öffnet seinen Mund (unb — verschluckt sie. Aber nicht etwa um seinen Magen in einer Weise zu füllen, die allen göttlichen und mensch­ lichen Gesetzen Hohn spricht, sondern er preßt sie durch eine eigentümliche Atembewegung in die Kiemenhöhle. Hier verteilen sie sich zwischen die Blättchen, aus denen die Kiemen bestehen, und der elastische Druck der Kiemenblätt­ chen hält sie fest. In dieser, wie man denken sollte, für beide Teile nicht gerade bequemen Lage werden die Eier ausgebrütet; die Jungen schlüpfen aus, wachsen rasch und fühlen sich bald einigermaßen beengt in dieser Behausung. Dann wandern sie aus, aber nicht etwa unter den Kiemen­ deckeln hervor nach außen, sondern sie schlagen ihren neuen

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Budde.

Caspari.

Wohnsitz im Munde ihres Herrn Vaters ans. Einige wenige bleiben in der Kiemenhöhle, aber auch sie gehen nicht nach außen, sondern halten ihre Blicke auf die Mundhöhle gerichtet. In dieser lebt nun dicht gedrängt die bei weitem größte Mehrzahl der Kleinen. Sie drücken einander wie die Kerne eines Granatapfels, alle mit dem Kopfe nach der Mundöffnung gekehrt, aber keiner geht hinaus. Sie sitzen ziemlich fest an ihrem Platze; wodurch sie sich halten, ist ein Rätsel. Der alte Bursche ist vermutlich während dieser Periode so glücklich, wie nur eine Mutter sein kann; mit weitaufgesperrtem Maule steht er im Wasser; die Fülle der Brut dehnt die Mundhöhle aus, so daß die Kinnladen nicht zur Berührung gebracht werden können, seine Wan­ gen sind dick geschwollen. Und dabei gelingt es ihm, sich auch in dieser Verfassung des Kindesmordes durch Un­ willkürliche Verschluckung zu enthalten; wie er das ein­ richtet, ist unbekannt. Auch weiß man noch nicht, wann und wie er endlich die Kleinen in Freiheit setzt. Die Familienmutter ergibt sich während dessen einem leicht­ fertigen Lebenswandel, ohne sich im mindesten um die Sorgen und Freuden zu kümmern, welche ihrem getreuen Gemahl aus der Erfüllung seiner Ammenpflichten erwachsen.

Karl Heinrich Caspari. 162. DaS Alter soll man ehre«! Bei den Spartanern wurde das Alter sehr geehrt. Bei den Volksfesten, den olympischen Spielen, pflegten sich alle Stämme der Griechen einzufinden. Als schon alle Plätze besetzt waren, kam noch ein alter Mann. Derselbe ging lange umher bei Jungen und Alten, aber niemand zeigte sich be­ reit, ihm einen Platz einzuräumen. Als er an den Ort kam, wo die Spartaner saßen, standen sogleich alle jungen Leute ehrerbietig auf. Darüber entstand bei den Athenern all­ gemeines Beifallrusen. Da sagte der Alte: „Die Athener wissen, was gut ist, die Spartaner tun es."

Caspari.

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163. Die Fabel vom Magen und den Gliedern. Bor Zeiten lehnten die Bürger von Rom sich wider den Rat auf und machten einen groben Aufruhr, in Meinung, es wäre unrecht, daß sie sich's müßten lassen in ihrer Arbeit so sauer werden, und was sie mit ihren Händen verdiente», müßten sie dem Rat geben und ihn damit nach seinem Be­ lieben handeln lassen, zogen deswegen zur Stadt hinaus ans einen Berg und entschlossen sich, dem Rat nichts mehr zu geben, auch nicht mehr zu arbeiten. Da ging ein feiner, ver­ ständiger Mann, Mcncnius Agrippa genannt, zu ihnen hinaus und erzählte ihnen ein solches Gleichnis: Die Glieder des menschlichen Leibes wären einmal un­ willig geworden und hätten sich wider den Magen aufge­ lehnt; sie müßten immer arbeiten und das Ihre tun, die Füße müßten lausen, die Augen umhersehen, die Hände geschäftig sein, die Zähne müßten kauen u. s. w., und das käme alles dem Magen zum besten, der dürfte nichts tun als nur annehmen und verzehren, was sie ihm vorarbeiteten. Deswegen wären die Glieder eins geworden, es sollte keins von ihnen mehr etwas tun, die Füße sollten nicht mehr­ laufen, die Augen nicht mehr umhersehen, die Hände nicht mehr geschäftig sein, die Zähne nicht mehr kauen, damit der Magen einmal sehe und spüre, daß es nicht allein an ihm ge­ legen wäre. Als sie nun dieses etliche Tage ins Werk gesetzt, waren die Füße schwach, die Augen trüb, die Hände laß und der ganze Leib kraftlos geworden, weil der Magen keine Speise mehr konnte bereiten und sie den Gliedern mitteilcn. Da mußten sie nun ihre Unbesonnenheit erkennen und ge­ stehen, es sei nicht an dem, daß nur die Glieder dem Magen dieneten, sondern es diene auch der Magen hinwiederum ben Gliedern. Mit diesem Gleichnis brachte Agrippa die römischen Bürger zu andern Gedanken, daß sie wieder heiinkehrten und das Ihre taten.

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Eginhard.

Eginhard. 164. Karl der Große. Karl war breit und stark von Gliedern, sein Wuchs hochragend, ohne daß er das Ebenmaß überschritt — es ist festgestellt, daß er sieben seiner Füße maß — sein Schädel war rundgewölbt, die Augen ausfallend groß und lebhaft, die Nase ging etwas über das Mittelmaß hinaus, sein Haupthaar war reich, auch als es ergraut war, der Gesichtsausdruck fröhlich und heiter, so daß seine Erschei­ nung voller Hoheit und Würde war, er mochte stehen oder sitzen. Obwohl sein Nacken etwas gedrungen und dick war und der Leib etwas hervortrat, fiel das nicht auf bei dem sonstigen Ebenmaß seiner Gestalt. Er hatte festen Schritt und männliche Haltung, seine Stimme war hell und paßte eben deshalb nicht ganz zu seinem Gliederbau. Er hatte eine feste Gesundheit, nur in den letzten vier Jahren seines Lebens war er oft von Fieber geplagt und hinkte zuletzt auch auf einem Fuße. Trotzdem lebte er mehr nach seinem Gutdünken als nach dem Rat der Ärzte. Diese mochte er nicht leiden, seitdem sie ihm empfohlen hatten, statt ge­ bratenen Fleisches sich an gekochtes Fleisch zu gewöhnen. Im Reiten und Jagen übte er sich fleißig, nach der Sitte seines Volkes, denn kaum möchte man auf Erden ein Volk finden, das in diesen Künsten dem Volke der Franken gliche. Ganz besonders liebte Karl die Dämpfe, die den von Natur heißen Quellen entströmen. Durch vieles Schwimmen stärkte er seine Glieder, darin konnte es keiner ihm gleichtun. Darum baute er sich auch in Aachen eine Königsburg und wohnte daselbst in den letzten Jahren seines Lebens bis zu seinem Tode. Nicht nur seine Söhne lud er ein, mit ihm zu baden, sondern auch seine Freunde und die Edlen, manchmal sogar die ganze Schar seines Gefolges und der Leibwache, so daß oft hundert Menschen und mehr zugleich badeten.

Eginhard.

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Er Neidete sich auf heimische, also auf fränkische Art: ein Linnenhemd und linnenes Untergewand, ein Rock mit seidenem Saum und Binden um die Knöchel; die Beine umhüllten Binden und hie Füße Schuhe. Im Winter schützte er auch Brust und Schulter mit einem Mantel aus Pelz. Er trug einen Mantel aus bläulichem Stoff und war stets mit einem Schwert umgürtet, dessen Griff und Gehen! golden oder silbern war. Manchmal trug er auch ein mit Edelsteinen besetztes Schwert, aber nur bei feierlichen Gelegenheiten, so bei Anwesenheit fremder Ge­ sandten. Bei Festen trug er ein golddurchwirktes Ge­ wand und mit Edelsteinen besetzte Schuhe, dann war sein Mantel mit goldenen Spangen zusammengehalten und sein Haupt mit einem Diadem umzogen, das mit Gold und Edelsteinen geschmückt war. An gewöhnlichen Tagen unter­ schied sich seine Kleidung kaum von der gewöhnlichen Volkstracht. Im Essen und Trinken war er mäßig, zumal im Trinken, denn Trunksucht verabscheute er über die Maßen bei jedermann, wie besonders bei sich und den Seinen. Im Essen war er nicht immer enthaltsam und Nagte ost, daß Fasten ihm nur schade. Sehr selten gab er Gastge­ lage, nur bei Festen, dann aber lud er sehr viele Leute ein. Seine tägliche Mahlzeit umfaßte vier Gerichte, außer dem Braten, den seine Jäger am Spieß auftragen mußten. Bei der Tafel hörte er gern Musik oder einen Vorleser, besonders ließ er sich die Geschichten und Taten der Alten vorlesen. Im Sommer genoß er nach dem Mittagessen etwas Obst und einen Trunk, dann legte er Kleider und Schuhe ab wie zur Nachtzeit und ruhte zwei bis drei Stun­ den. Dafür aber wachte er des Nachts gewöhnlich Vier­ oder fünfmal auf und erhob sich dann auch wohl vom Lager. Seine Rede war überströmend und gewaltig, und was er wollte, konnte er klar ausdrücken. Er begnügte sich nicht damit, seine Muttersprache zu kennen, sondern verwandte »efftl unb Ufet, ßefttaS 6. M.15

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Eginhard.

Eschner.

auch viel Fleiß auf die Erlernung fremder Sprachen; lateinisch sprach er so gut wie deutsch; und griechisch ver­ stand er besser, als er es sprach. Er war so beredt, daß es manchmal schien, als ob er zu wortreich wäre. Aufs eifrigste trieb er die Wissenschaften, und die sie lehrten, überhäufte er mit Ehren. Er lernte auch die Rechenkunst, und mit viel Wißbegier erforschte er emsig den Lauf der Gestirne. Er versuchte auch zu schreiben und pflegte Tafeln und Hefte unter das Kopfkissen seines Bettes zu legen, um in wachen Augenblicken seine Hand an die Darstellung der Schriftreichen zu gewöhnen. Aber seine Mühe darin hatte keinen vollen Erfolg, weil er das Schrei­ ben zu spät angefangen hatte. Er ließ auch die uralten deutschen Lieder, worin die Taten und Kriege der alten Könige besungen waren, aus­ zeichnen, um sie der Nachwelt zu erhalten. Er begann auch eine deutsche Grammatik. Den Monaten gab er deutsche Benennungen statt der bisher üblichen lateinischen, er nannte den Januar: Wintarmanoth; den Februar: Hornung; März: Lenzimanoth; April: Ostarmanoth; Mai: Winnemanoth; Juni: Brachmanoth; Juli: Heuvimanoth; August: Aranmanoth (Ernte­ monat); September: Witumanoth (Holzmonat); Oktober: Windumanoth (Weinlesemonat); November: Herbistmanoth; Dezember: Heilagmanoth.

Max Eschner. 165. Die Papiervereitimg. Das erste Volk, das Papier gefertigt hat, waren die Ägypter. Sie haben dem Papier seinen Namen gegeben. Schon im vierten Jahrtausend vor Christi Geburt kannten sie es. Sie verwendeten dazu den Bast der Papyrusstaudc, die auch Papier-Cypergras heißt. Der Stengel dieser Staude ist ein markiger Halm, der bis zu drei Meter

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Eschner.

hoch wird. Die Staude wuchs in ungeheueren Mengen an seichten Ufern des Nils. Die Ägypter zupften die Bast­ streifen vom Stengel und breiteten sie nebeneinander aus. Auf die untere Schicht legten sie kreuzweise eine zweite Schicht dieser Streifen. Das Ganze feuchteten sie mit Nil­ wasser an, dem ein Klebstoff beigemengt war. So hafteten die Streifen zu einer Fläche zusammen, die man mit einem Tierzahne, mit Elfenbein oder einer Muschelschale glättete. Auf diesen Stoff ließ sich schreiben. Den Papyrus oder das Papier konnte man in beliebiger Länge Herstellen. Man faltete ihn aber nicht, wie wir es heutzutage mit den Papierbogett machen, sondern man rollte ihn zusam­ men wie ein Stück Tuch oder Leinwand. Die Ägypter verkauften die Papyrusrollen auch an die benachbarten Völker,, so an die Griechen und Römer. Die Griechen nannten den Papyrus „Bhblos", woraus das Wort Bibel entstanden ist; und die Römer nannten ihn „Charta"; da­ her stammt unser Wort Karte. Auch an den König von Pergamon, einem großen und reichen Bücherliebhaber, ver­ kauften sie Papyrus. Und der verbrauchte viel; denn er hatte in seiner Hauptstadt eine Bibliothek angelegt, die bereits 200000 Bücherrollen zählte. Darüber wurden, wie es heißt, die Ägypter neidisch, und sie verboten, in der Furcht, daß die Bibliothek zu Pergamon ihrer berühmten Bibliothek zu Alexandrien mit 400000 Büchern gleichkom­ men könne, die Ausfuhr von Papyrus nach Pergamon. Da die Not erfinderisch macht, soll der König dieser Stadt als Ersatz das Pergament erfunden haben. Wahrscheinlich aber hat er es nur bedeutend verbessert. Man fertigt es aus Tierhäuten. Aber auch die Ägypter gerieten in große Verlegenheit, denn die Papyruspflanzungen wurden immer kleiner, und im fünften Jahrhundert nach Christi Geburt war die Pflanze beinahe ausgerottet. Je seltener sie wurde, desto höher stieg der Preis des Papiers, und man mußte zu Versuchen mit anderen Pflanzenfasern schreiten. An­ leitung dazu hätten die Chinesen schon lange geben können, 15'

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Eschner.

wen« sie in Verkehr mit anderen Völkern gestanden hätten. Sie wußten schon etwa zwei Jahrtausende vor Christi Ge­ burt aus Baumwolle Papier herzustellev. Wer erst im Jahre 123 vor Christi Geburt lernten die Araber in der großen Handelsstadt Samarkand in der Bucharei dieses baumwollene Papier der Chinesen und dessen Herstellung kennen. Sie verbreiteten es in den Ländern am Mittel­ meere und errichteten besonders in Spanien viele Papier­ mühlen. Durch die Kreuzzüge kam die Kenntnis der Papierfabrikatton auch zu uns nach Deutschland, und in Ravensburg soll im Jahre 1270 von einem Manne namens Holbein die erste Papiermühle in unserem Vaterlande ge­ baut worden sein. Nun wächst aber doch bei uns keine Baumwolle, und das Herbeischaffen derselben aus südlichen Ländern über die Alpen war schwierig, kostspielig und zeit­ raubend. War es da ein Wunder, wenn die Deutschen andere Pflanzenfasern probeweise zu Papier verarbeiteten, bis sie dessen Herstellung aus den Fasern des Flachses und des Hanfes erfanden? Bald kam man auch dahinter, daß es nicht nötig sei, die neuen, noch nicht verwendeten Fasern zu benutzen, sondern daß man die versponnenen und verwebten und als Webstoffe unbrauchbar geworde­ nen, also alle alten Lumpen verarbeiten könnte und mit ihnen sogar ein besseres Papier erzielte. Was die wichtige Erfindung des Linnenpapiers betrifft, so kann mit Be­ stimmtheit nur gesagt werden, daß bereits 1320 eine Lin­ nenpapiermühle bei Mainz, 1347 eine bei München und 1398 eine in Nürnberg an Flußufern standen, denen bald mehrere nachfolgten. Der Betrieb dieser Mühlen blieb auf die Erzeugung von Handpapier beschränkt, bis 1799 die Papiermaschine erfunden wurde. Heute gibt es in Deutsch­ land nur noch etwa 100 Papiermühlen, dagegen etwa 1200 Papierfabriken, in denen gegen 120000 Menschen ihr Brot verdienen.

Fick.

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Wilhelm FiL ISS. Nürnberg. Nürnberg scheint auf den ersten Blick eine recht un­ günstige Lage zu haben. Der ganze Landstrich ist wenig fruchtbar, auch zieht kein großer Strom vorbei, der zur Ansiedlung hätte locken können. Um so merkwürdiger ist es, daß gerade hier eine so bedeutende Stadt entstanden ist. Eine nähere Betrachtung wird un3 das Rätsel lösen. Ein Blick auf die Karte belehrt uns, daß das Reg Nitzdecken durch seine süd-nördliche Richtung, seine geringe Tiefe und seine Bodengestaltung, die nirgends dem Ver­ kehr größere Hindernisse entgegenstellt, eine natürliche Verbindung zwischen dem Norden und Süden Deutsch­ lands darstellt. Es ist darum erklärlich, baß sich feit alter Zeit ein lebhafter Handelsverkehr in dieser Richtung hin entwickelte. Die Erzeugnisse des Nordens wurden auf diesem Wege nach dem Süden, die des Südens nach dem Norden befördert. Einen mächtigen Aufschwung nahm dieser Verkehr seit den Kreuzzügen. Italienische Kaufleute brachten die Er­ zeugnisse des Morgenlandes, kostbare Pelzstoffe, Seidenund Baumwollengewebe, Teppiche, Zucker und mancherlei Gewürze nach Italien. Von hier aus, namentlich von Venedig und Genua, wurden sie dann auf den Alpenstraßen nach Deutschland verschickt, wo Augsburg zum Hauptstapel­ platz wurde und infolgedessen mächtig emporblühte. Daß Nürnberg aber gerade an seiner jetzigen Stelle entstand und bald alle anderen Orte überflügelte, hat noch seine besondern Gründe. Dm ersten Anlaß zur Ansied­ lung gab wohl ein mächtiger Sandsteinfelsen, der hier wie eine natürliche Festung aus der sonst ebenen Gegend em­ porragt. Früh entstand hier eine Burg, die dann spä­ ter wegen ihrer bedeutsamen Lage zur Reichsfestung er­ hoben wurde. Bald bildete sich am Fuße des Burgfelsens

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Fick,

eine kleine Niederlassung. Die Kaufleute mochten hier wohl besonders gerne übernachten, da die Burg ihnen in jenen unsichern Zeiten Schutz gewährte. So ist es erklärlich, daß die Ansiedlung rasch wuchs. Handwerker fanden reich­ lich Beschäftigung, die Bevölkerung der Umgegend kam hier­ her, um fremde Erzeugnisse einzukaufen, und bald fingen auch die Bewohner des Ortes an, sich am Handel zu be­ teiligen. Nicht wenig zum Wachstum der Stadt trug auch das Grab des heiligen Sebaldus bei, das Pilger und Wallfahrer von weither herbeizog. Märkte und Messen entstanden, und der lebhafte Verkehr gab Veranlassung zu einer mannigfaltigen Industrie, deren Erzeugnisse pald nach allen Himmelsrichtungen versandt wurden. Seine größte Bedeutung hatte Nürnberg im Mittel­ alter, gleichzeitig mit Augsburg. Es war damals die erste Fabrikstadt Deutschlands, und sein Handel wurde nur von dem Augsburgs und Lübecks übertroffen. Noch größer war sein Ruhm auf dem Gebiete der Künste und Wissenschaften. Keine andere Stadt hat so viele Künstler und Gelehrte her­ vorgebracht. Zur Reformationszeit lebten hier Albrecht Dürer, der größte Maler jener Zeit, der Erzgießer Peter Vischer, der Bildhauer Adam Kraft und der als Dichter berühmte Schuhmacher Hans Sachs. In Nürnberg wur­ den die Taschenuhren erfunden und der erste Globus an­ gefertigt. Die Stadt war überaus prächtig gebaut und mit herrlichen Kunstwerken geschmückt. Die Kirchen ge­ hörten zu den schönsten Deutschlands, die freien Plätze waren mit Brunnen geziert, die Häuser zeigten in ihren Äußern prächtige Bildhauer- und Schnitzarbeiten. Mit Recht nannte man die Stadt des Reiches Schmuckkästlei«, das Auge und Ohr Deutschlands, und Luther rühmt von ihr: „Sie leuchtet in ganz Deutschland wie eine Somre unter Mond und Sternen." Bis heute hat Nürnberg wie wenige andere Städie sein mittelalterliches Gepräge bewahrt. Die Altstadt bil­ det ein schiefes Viereck. Doppelte Mauern, über die gegen

Fick,

hundert Türme emporragten, und breite ausgemauerte Gräben schlossen sie ein. Die Stadt ist jetzt weit über ihr ursprüngliches Gebiet hinausgewachsen. Größere Teile der Stadtmauer, die meisten der alten Tore und manche alte Brücke hat dem stets wachsenden Verkehr und dem Drange nach Luft und Licht weichen müssen. Doch sind der Gra­ ben, der jetzt schöne Anlagen enthält, und die wirkungs­ vollsten Teile der alten Befestigungen noch unberührt ge­ blieben. überhaupt ist man bemüht, das Altertümliche nach Möglichkeit zu erhalten und bei Ausbesserungen und Er­ neuerung der Gebäude den Altnürnberger Stil festzuhalten. Die Straßen der. Altstadt sind zum Teil krumm und wink­ lig. Die altertümlichen Häuser schauen alle mit dem Gie­ bel nach der Straße und sind häufig mit kunstvollem' Schnitzwerk verziert. Die Giebel sind außerordentlich hoch, die mit roten Ziegeln gedeckten Dächer darum sehr stell. In manchen Straßen tritt das untere Stockwerk, das meist aus Steinen gebaut ist, weit zurück. Das nächsthöhere ragt über das untere ein wenig hervor. Das folgende streckt sich noch weiter heraus. Das letzte hängt, wenn die Straße schmal ist, fast bis in die Mitte der Straße, und erst von ihm aus steigt der eigentliche Giebel empor. An vielen Häusern sieht man zierliche Erker und Erkertürmchen, und am untern Stockwerk finden sich häufig überdachte Säulen­ gänge, Lauben genannt, unter denen man vor der schlech­ ten Witterung geschützt ist. Unter den öffentlichen Ge­ bäuden zeugen einige prächtige Kirchen, darunter die Sebaldus- und die Lorenzkirche, und das Rathaus von Nürn­ bergs einstiger Größe. An der Nordseite der Stadt erhebt sich auf einem mächtigen Felsen die altersgraue Burg. Sie diente in den ältesten Zeiten zur Wohnung der deutschen Kaiser, so oft sie zu Nürnberg ihr Hoflager aufschlugen. Ein kaiser­ licher Burggraf hatte hier seinen Sitz. Er war der Ver­ treter des Kaisers in diesem Bezirk und verwaltete hier dessen Güter und Einkünfte. Zur Zeit der Hohenstaufen

23ä

Fick.

Francs.

kam das Burggrafenamt an die Familie der Zollern, und einer der Burggrafen, Friedrich VI., wurde dann später (1415) vom Kaiser Sigismund mit der Mark Branden­ burg belehnt. So steht Nürnberg auch -u dem neuen deutschen Kaiserhause in enger Beziehung.

Raoul France. 167. Der Segen des Waldes. Unermeßlich ist der Segen des Waldes für ein Land und Volk, das ihn ehrt und pflegt. An der See bindet er die Dünen, auf den Ebenen den Flugsand. Sümpfe trocknet er aus, und Heiden macht er fruchtbar. In den Bergen erhält er den Reichtum der Quellen und mildert die zer­ störende Kraft der Wolkenbrüche und Gewitterregen, die in unbewaldeten Tälern als verheerende Sturzbäche Ver­ derben über Verderben mit sich bringen. Wald ist der beste Schutzdamm gegen Hochwasser. Daß unsere Heimat ein milder, fruchtbarer Garten ist, verdanken «vir wahrlich nicht zuletzt den Bäumen und dem schwarzblauen Band der Wälder, die zunr Glück zur Staffage fast jeder deutschen Landschaft gehören. Wir können es gar nicht ermessen, welches Unglück es bedeuten würde, wenn unserem Lande dasselbe Schick­ sal widerführe, das einst Frankreich verschuldete, als es nach seiner großen Revolution fast waldlos dastand. Drei Millionen Hektar Wald ließ eine wahnwitzige Spekulanten­ schar damals fällen und schädigte damit das Land so, daß es noch heute, nach mehr denn hundert Jahren, jährlich für hundert Millionen Franken Holz vom Ausland kaufen muß und anderthalb so viel ausgab, um in den» fran­ zösischen Teil der Alpen wenigstens das Ärgste an den Strafen gutzumachen, mit denen die Natur Waldfrevel ahndet.

France.

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Auf die Sünde wider die Natur ist Todesstrafe ge­ setzt. Die Landschaft erstarrt, wo man sie ihres schönsten Schmackes freventlich beraubt. Der Süden Europas ist ein warnendes Beispiel für jene, die nicht daran glauben wollen, daß die Natur strafen kann. In den südlichen Alpen begann dieses Sühnegericht erst vor wenigen Jahr­ hunderten; die leblosen Einöden Syriens und der griechi­ schen Berge beweisen, daß oft Jahrtausende nicht mehr gutmachen können, was ein Geschlecht versüMgt hat. Die Erfahrungen an den entwaldeten Abhängen der provenzalischen Berge haben erst in den letzten Jahrzehn­ ten das Schulbeispiel geliefert, wie sich Entwaldung der Gebirge rächt. So verstehen wir, warum in Südtirol, in der Südschweiz, auf dem Apennin Gegenden von einst sprichwörtlicher Üppigkeit steinige Wüsten geworden sind. Der französische Bericht über den Zustand der Alpen der Provence, die man durch systematische Entwaldung zu­ grunde gerichtet hat,' gibt mit trocken einfachen Worte» ein erschütternd anschauliches Bild davon. Er sagt: Mau kann sich in unseren gemäßigten Gegenden gar keinen Be­ griff von diesen brennenden Bergschluchten machen, wo es nicht einmal einen Busch gibt, um einen Bogel zu schützen, wo der Reisende nur da und dort einen ausgetrockneteu Lavendelstengel findet, wo alle Quellen versiegt sind, wo ein düsteres, kaum von: Gebrumm der Insekten unter­ brochenes Schweigen herrscht. Aber da bricht plötzlich in der Schwüle ein Gewitter los; dann wälzen sich in einen» Nu in diesen geborstenen Becken von der Höhe der Berge Wassermassen herab, die verwüsten, ohne zu befeuchten, die überschwemmen, ohne zu erfrischen, und die den Boden durch ihre rasch vorübergehende Erscheinung noch öder machen, als er durch ihr Ausbleiben war. Der Mensch zieht sich notgedrungen aus diesen schauerlichen Einöden zurück, und die Ortschaften werden verlassen.

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FraneL.

168. Im Auwald der Donauinseln bei Wie». Wo glückliche Verhältnisse freie Entfaltung aller KrLfte gewährleisten, etwa im sumpfenden Auwald der Donau­ inseln oder in den ungepflegten Laubwäldern der Süd­ ostgrenzen Europas, da schafft die Natur ein farbensprühen­ des Gemälde, ein Paradies der Üppigkeit, wie sich das der gesittete Deutsche, gewöhnt, im Walde auf reinlichem Pfad unter zierlich sich wölbenden Alleen sauber abgeästeter und wohlgewachsener Bäume zu wandeln, gar nicht vorstellen kann. Das muß man gesehen haben, vielleicht in den Tagen des Nachsommers, da die höchste Pracht erreicht ist und ein brausender Gesang jauchzender Lebenslust zusammen­ klingt aus dem Zirpen und Summen, dem Singen und Schreien von Millionen jubelnder Bewohner jener Wälder, die dort so reichlich den Tisch gedeckt finden. Die nächste dieser naturwüchsigen Auen grünt schon vor den Toren Wiens, im Zuge jenes labyrinthischen Netzes von Wasserläufen, in die sich dort die gleißendgelbe Donau zerspaltet. Wer mit dem Dampfer durchfährt, sieht eigentlich nur den Saum dieser Pracht, sich eintönig wiederholend als Weidicht und ferne grüne Waldwand. Er muß schon Kenner sein, um aus dem vielgezackten, bald hoch hinauf­ greifenden, dann wieder tief hinabsinkenden Umriß dieser Wälder, der ganz an die Schattenlinie des Tropenurwaldes erinnert, zu erraten, was in ihnen und hinter ihnen steckt. Man muß in ihre Wildnis eindringen im Boote, weid­ männisch gerüstet, mit Wasserstiefeln oder Stelzen für die Altwasser und Röhrichte, mit einem scharfen Gärtnermesser zum Durchdringen im Geheck und Rankenwerk. Manche der Inseln hat noch vollständig den Urwaldcharakter, da man sie zu nichts nutzbar machen kann wegen der schweren Zugänglichkeit und der großen Entfernungen. Dort breiten vielhundertjährige Schwarzpappeln düster und phantastisch

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ihr Geäst, so gigantische Stämme, daß fünf, sechs Männer sie nicht umfassen können; dazwischen schieben sich die blumigsten Auwiesen mit Hainen der edel hellblinkevden Rüster; die Erle und Weide umsäumt die stillen Niede­ rungen und Sümpfe mit besonderen Wäldern; Eschen und Ahorne mischen sich darein mit schönzackigen Kronen; Ulmen und vor allem Rieseneichen stehen an den Ufer­ hängen, und über den Dunst der moorigen Gefilde steigen rein und lieblich weiße Stämme und das filigranzarte Laub der Birken. Die größte Mannigfaltigkeit an Baumarten ist in dem Auwald zu finden. Mit Ausnahme der ganz fehlen­ den Nadelhölzer sind fast alle 29 Laubbäume da, die der europäischen Flora zu eigen. Aber nicht darin, so fesselnd auch manch alter Wald­ könig und der Anblick dieser Buntheit der Formen ist, finde ich den Hauptreiz dieser mir aus vielen glücklichen Stunden hell in der Erinnerung leuchtenden, leider nun auch schon untergehenden Welt. Es ist der unbeschreibliche Reichtum an Unterholz, die Üppigkeit der Lianen und Büsche, das vielfarbige Feuer der Blumen und im Herbst der bunten Früchte, die ein Gesamtbild von unerreichtem malerischen Reiz schaffen. Da gibt es undurchdringliche Hecken von hoch in die Wipfel hinaufrankenden Brombeeren; der Wein wächst hier wild als Liane, und es gibt Donauinseln, wo er, mit armdicken Reben abenteuerlich von Baum zu Baum sich schlingend, wie eine Schlange am Boden kriechend, den Baumwürgern des Morgenlandes nichts nachgibt. Im Herbst siegen dann der wilde Hopfen und die Waldrebe (Clematis) über alle andern Bewerber. Festlich schmücken sie den Waldrand, Festons werfen sie von Baum zu Baum, und die grüne Wildnis ihrer schönen Blätter hüllt oft jene bis zur Unkenntlichkeit ein, auf deren Zweigen sie als Spreizklimmer emporgeklettert sind zum Licht. Und welche Pracht der Büsche im Herbst! Wilde

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Rosenhecken, manchmal ganze Bäume schimmern weithin mit Millionen orangefarbener Früchtchen, das Pfaffenhüt­ chen mischt sein Rot und Violett der Kardinalprunkgewän­ der dazu, der Perückenstrauch und die Waldreben werfen seidige, feine Schöpfchen herab. Daneben lasten schwarz­ äugige Fruchtdolden des Holunders, da schwarze Beeren, dort rote Beeren, oft der ganzen Waldesstirne entlang streichend und besungen von einer kreischenden, vor Über­ mut am reichen Tische jubilierenden und gellenden Vogel­ schar — ein Bild der höchsten Lebensfreude.

169. Die Humusbildung. Wenn man ein wenig von gutem Waldhumus unter dem Mikroskop untersucht, bemerkt man, daß scheinbar tote, braunschwarze Masse reicheres Leben birgt, als uns sonst je auf Erden entgegentritt. Nur ist es in jenem Stockwerk der Feinheit und Kleinheit, das unserm unbewaffneten Auge bereits entgeht. Vor allem sehen wir, daß alle Erd­ krümelchen und verwesenden Blätter und Fasern dicht durch die mannigfaltigsten braun und schneeweiß schimmernden Pilzfäden zusammengesponnen sind. Zwischen ihnen kriecht und wogt eine Schar fremdartig kleinster Wesen: glas­ helle Schleimtropfen, die gleich durchsichtigen Schnecken alles abkriechen, zierliche, braune, wie aus Glassplittern und Sandkörnchen erbaute Gehäuse von vielfachen Formen, die einen wie ein Napf, die andern kelchförmig oder wie eine flache Töpferscheibe, die ganz aus zahllosen, feinsten, braun­ goldig glänzenden Perlchen zusammengesetzt scheint, oder welche mit glasartigen Pokalen, die aus wunderbar feinen, viereckigen, dachziegelartig übereinanderliegenden oder run­ den Kieselplättchen erbaut sind, und wieder andere Gehäuse mit langen, braunen Hörnern. Und aus all diesen vielge­ staltigen Kelchen, Näpfen, Töpfen und Schalen strecken sich zitternd und tastend lange, durchsichtige Fühler oder feine, verästelte Schleimfäden, die gierig ein Körnchen nach dem andern ergreifen und in das Innere ziehen. Zwischen diesen

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abenteuerlichen Geschöpfen, welche der Zoologe als Wur­ zelfüßler kennt und zu den einfachsten aller Lebewesen rechnet, liegen in den obersten Humusschichten goldiggrün schimmernde Kugeln, einzellige Algen; dazwischen kriechen Schleimpilze und liegt eine unzählbare Menge der verschie­ densten Fäulnis- und Bodenbakterien. Diese Pilzfäden, Wurzelfüßler, Amöben, Algen, Schleimpilze und Bakterien sind es, denen wir in letzter Hinsicht die üppig grünende Fülle unsrer Pflanzenwelt ver­ danken. Indem sie teils ununterbrochen den Boden durch­ wühlen, jedes Körnchen Erde in seine feinsten Elemente auflösen, es verdauen und in ihrem Körper organisch durch­ gestalten, oder wie Algen, Pilze und Bakterien die ein­ fachsten chemischen Stoffe in den Kreislauf ihres Lebens aufnehmen können und zu höheren Verbindungen chemisch umarbeiten, schaffen sie aus den Verwesungsprodukten erst wieder Nahrungsstoffe für die höheren Pflanzen. Der Pro­ zeß ist im allgemeinen bereits festgestellt, das Wie int einzelnen Falle ist aber noch unklar. Aus den Kreisen der Naturfreunde und noch mehr aus denen der Natur gleichgültigen hört man so oft die naive Frage: Wozu ist denn nur so nutzloses Zeug, wie Insekten oder Bak­ terien oder Schimmelpilze und Infusorien da? Tiefere Naturerkenntnis läßt solche Frage verstummen. Es ist eine erhabene und in ihren Folgen tiefreligiöse und in die unter­ sten Tiefen des Seins reichende Antwort, welche sie gibt: Alles, was da ist, ist auch notwendig. Die Humusbildung ist ein Exempel, das uns die Be­ deutung dieser Antwort so recht fühlen läßt. Kleinpflanzen und niedere Tiere teilen sich brüderlich in die Arbeit, um den Boden wieder für höheres Pflanzenleben herzurichten. Die Tiere besorgen den mechanischen, die Pflanzen den chemischen Teil dieser Arbeit; jene machen den Boden locker, krümelig und gut durchlüftet, diese bereichern ihn mit jenen chemischen Stoffen, die für die höheren Pflanzen aufnehmbar sind.

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Johann Wolfgang Goethe. 170. Müßiggänger in Sreapel. sGoethe hatte gehört, es gäbe in Neapel so viele Müßig­ gänger. Er wollte das selbst untersuchen und ging eines Tages auf die Jagd nach solchen aus. Er erzählts: Neapel, den 28. Mai 1787. Ich fing meine Beobachtung | bei früher Tageszeit an, und alle Menschen, die ich hie und da still stehen | oder ruhen fand, waren Leute, deren Beruf | es in dem Augen­ blick mit sich brachte. Die Lastträger, die an verschiedenen Plätzen | ihre privilegierten Stände haben | und nur er­ warten, bis sich jemand ihrer bedienen will; die Kalessaren, ihre Knechte und Jungen, die bei den einspännigen Kale­ schen | auf großen Plätzen stehen, ihre Pferde besorgen | und einem jeden, der sie verlangt, zu Diensten sind; Schiffer, die auf dem Molo ihre Pfeife rauchen; Fischer, die an der Sonne liegen, weil vielleicht ein ungünstiger Wind weht, der ihnen | auf das Meer auszufahren | verbietet. Ich sah auch wohl noch manche | hin und wiedergehen, doch trug meist ein jeder | ein Zeichen seiner Tätigkeit mit sich. Bon Bettlern I war keiner zn bemerken, als ganz alte, völlig unfähige und krüppelhafte Menschen. Je mehr ich mich um­ sah, je genauer ich beobachtete, desto weniger konnt ich, weder von der geringen | noch von der mittlern Klasse, weder tun Morgen | noch den größten Teil des Tages, ja von keinem Alter und Geschlecht | eigentliche Müßiggänger finden. Ich gehe in ein näheres Detail, um das, was ich be­ haupte, glaubwürdiger und anschaulicher zu machen. Die kleinsten Kinder | sind auf mancherlei Weise beschäftigt. Ein großer Teil derselben | trägt Fische zum Verkauf | von Santa Lucia in die Stadt; andere sieht man sehr oft | in der Gegend des Arsenals, oder wo sonst etwas gezimmert wird, wobei es Späne gibt, auch am Meere, welches Reiser

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und kleines Holz auswirft, beschäftigt, sogar die kleinsten Stückchen | in Körbchen aufzulesen. Kinder von einigen Jahren, die nur auf der Erde so hinkriechen, in Gesell­ schaft älterer Knaben | von fünf bis sechs Jahren, besassen sich | mit diesem kleinen Gewerbe. Sie gehen nachher | mit dem Körbchen | tiefer in die Stadt | und setzen sich mit ihren kleinen Holzportionen | gleichsam zu Markte. Der Hand­ werker, der kleine Bürger | kauft es ihnen ab, brennt es auf seinem Dreifuß zu Kohlen, um sich daran zu erwärmen, oder verbraucht es | in seiner sparsamen Küche. Andere Kinder | tragen das Wasser der Schwefel­ quellen, welches besonders im Frühjahr | sehr stark ge­ trunken wird, zum Verkauf herum. Andere | suchen einen Keinen Gewinn, indem sie Obst, gesponnenen Honig, Kuchen und Zuckerware einkaufen | und wieder als kindliche Han­ delsleute I den übrigen Kindern anbieten und verkaufen, allenfalls, nur um ihren Teil daran umsonst zu haben. Es ist wirklich artig anzusehen, wie ein solcher Junge, dessen ganzer Kram und Gerätschaft | in einem Brett und Messer besteht, eine Wassermelone | oder einen halben gebratenen Kürbis herumträgt, wie sich um ihn eine Schar Kinder versammelt,- wie er sein Brett niedersetzt | und die Frucht in kleine Stücke zu zerteilen anfängt. Die Käufer spannen sehr ernsthaft, ob sie auch | für ihr klein Stückchen Kupfer­ geld | genug erhalten sollen, und der kleine Handels­ mann I traktiert gegen die Begierigen | die Sache ebenso bedächtig, damit er ja nicht | um ein Stückchen betrogen werde. Ich bin überzeugt, daß man bei längerm Auf­ enthalten I noch manche Beispiele solches kindlichen Erwer­ bes | sammeln könnte. Eine sehr große Anzahl von Menschen, teils mittlern Alters, teils Knaben, welche meistenteils sehr schlecht ge­ kleidet sind, beschäftigen sich, das Kehricht auf Eseln aus bet. ©tobt zu bringen. Das nächste Feld um Neapel | ist nur ein Küchengarten, und es ist eine Freude, zu sehen, welche unsägliche Menge von Küchengewächsen | alle Markt-

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tage hereingeschafft wird, und wie die Industrie der Men­ schen | sogleich die überflüssigen, von der Köchin verwor­ fenen Teile | wieder in die Felder bringt, um den Zirkel der Vegetation zu beschleunigen. Bei der unglaublichen Konsumtion von Gemüse | machen wirklich die Strünke und Blätter | von Blumenkohl, Broccoli, Artischocken, Kohl, Salat, Knoblauch | einen großen Teil des neapolitanischen Kehrichts aus; diesem wird denn auch besonders nachge­ strebt. Zwei große, biegsame Körbe | hängen auf dem Rücken eines Esels | und werden nicht allein ganz voll gefüllt, son­ dern noch auf jeden | mit besonderer Kunst | ein Haufen auf­ getürmt. Kein Garten | kann ohne einen solchen Esel be­ stehen. Ein Knecht, ein Knabe, manchmal der Patron selbst, eilen des Tages | so oft als möglich nach der Stadt, die ihnen zu allen Stunden | eine reiche Schadgrube ist. Man hat mir versichert, daß ein paar solche Leute, die sich zusammentun, sich einen Esel kaufen | und einem größer« Besitzer | ein Stückchen Krautland abpachten, durch anhaltenden Fleiß | in dem glücklichen Klima, in welchem die Vegetation niemals unterbrochen wird, es bald so weit bringen, daß sie ihr Gewerbe ansehnlich erweitern. Ich würde zu weit aus -meinem Wege gihen, wenn ich hier | von der mannigfachen Krämerei sprechen wollte, welche man mit Vergnügen | in Neapel, wie in jedem an­ dern großen Orte, bemerkt; allein | ich muß doch hier von den Herumträgern sprechen, weil sie der letztern Klasse des Volks besonders angehören. Einige gehen herum | mit Fäßchen Eiswasser und Zitronen, um überall | gleich Limo­ nade machen zu können, einen Trank, den auch der Geringste nicht zu entbehren vermag; andere mit Kredenztellern, auf welchen Flaschen mit verschiedenen Liqueuren | und Spitz­ gläser, in hölzernen Ringen vor dem Fallen gesichert, stehen; andere tragen Körbe allerlei Backwerks, Näscherei, Zitronen | und anderes Obst umher; und es scheint, als wolle jeder das große Fest des Genusses, das in Neapel alle Tage gefeiert wird, mitgenießen und vermehren.

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Wie diese Art Herumträger geschäftig sind, so gibt es noch eine Menge kleine Krämer, welche gleichfalls herum­ gehen | und ohne viele Umstände auf einem Brett, in einem Schachteldeckel | ihre Kleinigkeiten | oder auf Plätzen gerade­ zu auf flacher Erde | ihren Kram ausbieten. Da ist nicht von einzelnen Waren die Rede, die man auch in größer» Läden fände, es ist der eigentliche Trödelkram: kein Stück Essen, Leder, Tuch, Leinwand, Filz usw., das nicht wie­ der als Trödelware zu Markte käme, und das nicht wieder | ■ von einem oder dem andern gekauft würde. Noch sind viele Menschen der niedern Klasse | bei Handelsleuten und Handwerkern | als Beiläufer und Handlanger beschäftigt. Der zerlumpte Mensch | ist dort noch nicht nackt; der­ jenige, der weder ein eigenes Haus hat, noch zur Miete wohnt, sondern im Sommer | unter den Überdächern | auf den Schwellen der Paläste und Kirchen, in öffentlichen Hallen die Nacht zubringt | und sich bei schlechtem Wetter | irgendwo gegen ein geringes Schlafgeld untersteckt, ist deswegen noch nicht verstoßen und elend; ein Mensch noch nicht arm, weil er nicht für den andern Tag gesorgt hat. Wenn man nur bedenkt, was das fischreiche Meer, von dessen Produkten | sich jene Menschen | gesetzmäßig einige Tage der Woche nähren müssen, für eine Masse von Nah­ rungsmitteln anbietet; wie allerlei Obst und Garten­ früchte | zu jeder Jahreszeit in Überfluß zu haben sind; wie die Gegend, worin Neapel liegt, den Namen Terra di Lavoro (nicht das Land der Arbeit, sondern das Land des Ackerbaues) sich verdient hat | und die ganze Provinz den Ehrentitel der glücklichen Gegend (Campagna felice) | schon Jahrhunderte trägt: so läßt sich wohl begreifen, wie leicht dort zu leben sein möge.

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Brüder Jakob und Wilhelm Grimm.

171. Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich. In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen. Wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens; und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk. Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradezu ins Wasser hineinrollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Äugen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, daß man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. Und wie sie so Nagte, rief ihr jemand zu: „Was hast du vor, Königstochter? — du schreist ja, daß sich ein Stein erbarmen möchte." Sie sah sich um, woher die Stimme käme; da erblickte sie einen Frosch, der seinen dicken, häßlichen Kopf aus dem Wasser streckte. „Ach, du bist's, alter Wasserpatscher," sagte sie, „ich weine über meine goldene Kugel, die tuir in den Brunnen hinabgefallen ist." — „Sei still und weine nicht," antwortete der Frosch, „ich kann wohl Rat schaffen. Aber was gibst du mir, wenn ich dein Spielwerk wieder heraufhole?" — „Was du haben willst, lieber Frosch," sagte sie, „meine Kleider, meine Perlen und Edelsteine, auch noch die goldene Krone, die ich trage." Der Frosch ant­ wortete: „Deine Kleider, deine Perlen und Edelsteine und

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deine goldene Krone, die mag ich nicht. Wer wenn du mich lieb haben willst, und ich soll dein Geselle und Spiel­ kamerad sein, an deinem Tischlein neben dir sitzen, von deinem goldenen Tellerlein essen, aus deinem Becherlein trinken, in deinem Bettlein schlafen: wenn du mir das versprichst, so will ich hinuntersteigen und dir die goldene Kugel wieder heraufholen." „Ach ja," sagte sie, „ich verspreche dir alles, was du willst, wenn du mir nur die Kugel wiederbringst." — Sie dachte aber: „Was der ein­ fältige Frosch schwätzt! — der sitzt im Wasser bei seines­ gleichen und quakt und kann keines Menschen Geselle sein." Der Frosch, als er die Zusage erhalten hatte, tauchte seinen Kopf unter, sank hinab, und über ein Weilchen kam er wieder heraufgerudert, hatte die Kugel im Maul und warf sie ins Gras. Die Königstochter war voll Freude, als sie ihr schönes Spielwerk wieder erblickte, hob es auf und sprang damit fort. „Warte, warte," rief der Frosch, „nimm mich mit, ich kann nicht so laufen wie du." Aber was half ihm, daß er sein quak, quak so laut nachschrie, als er konnte? Sie hörte nicht darauf, eilte nach Emus und hatte bald den armen Frosch vergessen, der wieder in seinen Brunnen hinabsteigen mußte. Am andern Tage, als sie mit dem König und allen Hofleuten sich zur Tafel gesetzt hatte und von ihrem golde­ nen Tellerlein aß, da kam, plitsch platsch, Plüsch platsch, etwas die Marmortreppe heraufgekrochen, und als es oben angelangt war, klopfte es an der Tür und rief: „Königs­ tochter, jüngste, mach mir auf!" Sie lief und wollte sehen, wer draußen wäre, als sie aber aufmachte, so saß der Frosch davor. Da warf sie die Tür hastig zu, setzte sich

wieder an den Tisch, und war ihr ganz angst. Der König sah wohl, daß ihr das Herz gewaltig klopfte und sprach: „Mein Kind, was fürchtest du dich? — steht etwa ein Riese vor der Tür und will dich holen?" — „Ach nein," antwortete sie, „es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch." — „Was will der Frosch von dir?" — „Ach,

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lieber Vater, als ich gestern im Wald bei dem Brunmen saß und spielte, da siel meine goldene Kugel ins Wassser. Und weil ich so weinte, hat sie der Frosch wieder hermufgeholt; und weil er es durchaus verlangte, so versprach ich ihm, er sollte mein Geselle werden; ich dachte aber nimmermehr, daß er aus seinem Wasser heraus könmte. Nun ist er draußen und will zu mir herein." Indem klopfte es zum zweitenmal und rief: „Königstochter, jüngste. Mach mir auf! Weißt du nicht, was gestern Du zu mir gesagt Bei dem kühlen Brunnenwasser? Königstochter, jüngste, Mach mir auf!” Da sagte der König: „Was du versprochen hast, das mußt du auch halten; geh nur und mach ihm auf." Sie ging und öffnete die Tür, da hüpfte der Frosch herein, ihr immer auf dem Fuße nach, bis zu ihrem Stuhl. Da saß er und rief: „Heb mich herauf zu dir." Sie zauderte, bis es endlich der König befahl. Ms der Frosch erst auf dem Stuhl war, wollte er auf den Tisch, und als er da saß, sprach er: „Nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen." Das tat sie zwar, aber man sah wohl, daß sie's nicht gerne tat. Der Frosch ließ sich's gut schmecken, aber ihr blieb säst jedes Bißlein im Halse. Endlich sprach er: „Ich habe mich satt gegessen und bin müde, nun trag mich in dein Kämmerlein und mach dein seiden Bettlein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen." Die Königstochter fing an zu weinen und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie nicht anzurühren ge­ traute, und der nun in ihrem schönen reinen Bettlein schlafen sollte. Der König aber ward zornig und sprach: „Wer dir geholfen hat, als du in der Not warst, den sollst du hernach nicht verachten." Da packte sie ihn mit zwei Fingern, trug ihn hinauf und setzte ihn in eine Ecke. Ms sie aber im Bett lag, kam er gekrochen und sprach:

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„Ich bin müde, ich will schlafen so gut wie du! — heb mich herauf, oder ich sag's deinem Vater." Da ward sie erst bitterböse, holte ihn herauf und warf ihn aus allen Kräften wider die Wand: „Nun wirst du Ruhe haben, d« garstiger Frosch." Als er aber herabfiel, da war er kein Frosch, sondern ein Königssohn mit schönen und freundlichen Augen. Der war nun nach ihres Vaters Willen ihr lieber Geselle und Gemahl. Da erzählte er ihr, er wäre von einer bösen Hexe verwünscht worden, und niemand hätte ihn aus dem Brunnen erlösen können, als sie allein, und morgen wollten sie zusammen in sein Reich gehen. Dann schliefen sie ein, und am andern Morgen, als die Sonne sie aufweckte, kam ein Wagen herangefahren mit acht weißen Pferden bespannt, die hatten weiße Straußfedern auf dem Kopf und gingen in goldenen Ketten, und hinten stand der Dimer des jungen Königs, das war der treue Heinrich. Der treue Heinrich hatte sich so betrübt, als sein Herr war in einen Frosch verwandelt worden, daß er drei eiserne Bande hatte um sein Herz legen lassen, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Der Wagen aber sollte den jungen König in sein Reich abholen; der treue Heinrich hob beide hinein, stellte sich wieder hinten auf und war voller Freude über die Erlösung. Und als sie ein Stück Wegs gefahren waren, hörte der Königssohn, daß es hinter ihm krachte, als wäre etwas zerbrochen. Da drehte er sich um und ries: „Heinrich, der Wagen bricht." — „Nein, Herr, der Wagen nicht, ES ist ein Band von meinem Herzen, DaS da lag in großen Schmerzen, AIS Ihr in dem Brunnen saßt, Als Ihr eine Fretsche wast."

Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg, und der Königssohn Meinte immer, der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glück­ lich war.

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172. Die werke Schlange. Es ist schon lange her, da lebte ein König, dessen Weisheit im ganzen Lande berühmt war. Nichts blieb ihm unbekannt, und es war, als ob ihm Nachricht von den ver­ borgensten Dingen durch die Lust zugetragen würde. Er hatte aber eine settsame Sitte: Jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, mußte ein vertrauter Diener noch eine Schüssel bringen. Sie war aber zugedeckt, und der Diener wußte selbst nicht, was darin lag, und kein Mensch wußte es, denn der König deckte sie nicht eher aus und aß nicht davon, bis er ganz allein war. Das hatte schon lange Zett gedauert, da über­ kam eines Tages den Diener, der die Schüssel wieder weg­ trug, die Neugierde, daß er nicht widerstehen konnte, son­ dern die Schüssel in seine Kammer brachte. Als er die Tür sorgfältig verschlossen hatte, hob er den Deckel auf, und da sah er, daß eine weiße Schlange darin lag. Bei ihrem An­ blick konnte er die Lust nicht zurückhalten, sie zu tosten; er schnitt ein Stückchen davon ab und steckte es in den Mund. Kaum aber hatte es seine Zunge berührt, so hörte er vor seinem Fenster ein seltsames Gewisper von seinen Stimmen. Er ging und horchte, da merkte er, daß es die Sperlinge waren, die miteinander sprachen und sich allerlei erzählten, was sie im Felde und Walde gesehen hatten. Der Genuß der Schlange hatte ihm die Fähigkeit verliehen, die Sprache der Tiere zu verstehen. Nun trug es sich zu, daß gerade an diesem Tage der Königin ihr schönster Niug fort kam und auf den vertrauten Diener, der überall Zugang hatte, der Verdacht fiel, er habe ihn gestohlen. Der König ließ ihn zu sich kommen und drohte ihm unter heftigen Scheltworten, wenn er bis morgen den Täter nicht zu nennen wüßte, so sollte er dafür ange­ sehen und gerichtet werden. Es half nichts; daß er seine Unschuld beteuerte, er ward mit keinem bessern Bescheid ent­ lassen. In seiner Unruhe und Angst ging er hinab auf den

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Hof und bedachte, wie er sich aus seiner Not helfen könne. Da saßen, die Enten an einem fließenden Wasser friedlich nebeneinander und ruhten, sie putzten sich mit ihren Schnä­ beln glatt und hielten ein vertrauliches Gespräch. Der Diener blieb stehen und hörte ihnen zu. Sie erzählten sich, wo sie heute morgen all herumgewackelt wären, und was für gute- Futter sie gefunden hätten; da sagte eine verdrießlich: „Mir liegt etwas schwer im Magen, ich habe einen Ring, der unter der Königin Fenster lag, in der Hast mit hinunter­ geschluckt." Da packte sie der Diener gleich beim Kragen, trug sie in die Küche und sprach zum' Koch? „Schlachte doch diese ab, sie ist wohlgenährt." — „Ja," sagte der Koch und wog sie in der Hand, „die hat keine Mühe gescheut, sich zu mästen und schon lange darauf gewartet, gebraten zu werden." Er schnitt ihr den Hals ab, und als sic ausgenom­ men ward, fand sich der Ring der Königin in ihrem Magen. Der Diener konnte nun leicht vor dem Könige seine Unschuld beweisen, und da dieser sein Unrecht wieder gut machen wollte, erlaubte er ihm, sich eine Gnade auszubitten, und versprach ihm die größte Ehrenstelle, die er sich an seinem Hofe wünschte. Der Diener schlug alles aus und bat nur um ein Pferd und Reisegeld, denn er hatte Lust, die Welt zu sehen und eine Weile darin hcrumzuziehen. Als seine Bitte erfüllt war, machte er sich auf oen Weg und kam eines Tages an einem Teich vorbei, wo er drei Fische bemerkte, die sich im Rohr gefangen hatten und nach Wasser schnappten. Obgleich man sagt, die Fische wären stumm, so vernahm er doch ihre Klage, daß sie so elend umkommen müßten. Weil er ein mstleidiges Herz hatte, so stieg er vom Pferde ab und setzte die drei Gefangenen wieder ins Wasser. Sie zappelten vor Freude, streckten die Köpfe heraus und riefen ihm zu: „Wir wolle» dir's gedenken und dir's vergelten, daß du uns er­ rettet hast." Er ritt weiter, und nach einem Weilchen kam e- ihm vor, als hörte er zu seinen Füßen in dem Sand eine Stimme. Er horchte und vernahm, wie ein Ameisen-

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könig klagte: „Wenn uns nur die Menschen mit den umge­ schickten Tieren vom Leib blieben! da tritt mir das dumme Pferd mit seinen schweren Hufen meine Leute olhne Barmherzigkeit nieder." Er lenkte auf einen Seitenweg kein, und der Ameisenkönig rief ihm zu: „Wir wollen dir's ge­ denken und dir's vergelten." Der Weg führte ihn in eimen Wald, und da sah er einen Rabenvater und eine Rabeninutter, die standen bei ihrem Nest und warfen ihre Junrgen heraus. „Fort mit euch, ihr Galgenschwengel!" riefen sie, „wir können euch nicht mehr satt machen, ihr seid g«oß genug und könnt euch selbst ernähren." Die armen Junrgen lagen auf der Erde, flatterten und schlugen mit ihren. Fittichen und schrieen: „Wir hilflosen Kinder, wir sollen uns sellbst ernähren und können noch nicht fliegen! was bleibt «ns übrig, als hier Hungers zu sterben?" Da stieg der gute Jüngling ab, tötete daS Pferd mit seinem Degen und über­ ließ cs den jungen Raben zum Futter. Die kamen herbeigehüpft, sättigten sich und riefen: „Wir wollen dir's ge­ denken und dir's vergelten." Er mußte jetzt seine eigenen Beine gebrauchen, und als er lange Wege gegangen war, kam er in eine große Stadt. Da war großer Lärm und Gedränge in den Straßen, und kam einer zu Pferde und machte bekannt, die Königstochter suche einen Gemahl, wer sich aber um sie bewerben wolle, der müsse eine schwere Aufgabe vollbringen, und könne er es nicht glücklich ausführen, so habe er sein Leben verwirkt. Biele hatten es schon versucht, aber vergeblich ihr Leben daran gesetzt. Der Jüngling, als er die Königstochter sah, ward er von ihrer großen Schönheit so verblendet, daß er alle Gefahr vergaß, vor den König trat und sich als Freier meldete. Alsbald ward er hinaus ans Meer geführt und vor seinen Augen ein goldener Ring hineingeworfen. Dann hieß ihn der König diesen Ring aus dem Meeresgrund wieder hervorzuholcn und fügte hinzu: „Wenn du ohne ihn wieder in die Höhe kommst, so wirst du immer aufs

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neue hinabgestürzt, bis du in den Wellen umkommst." Alle bedauerten den schönen Jüngling und ließen ihn dann ein­ sam am Meere zurück. Er stand am Ufer und überlegte, was er wohl tun sollte, da sah er auf einmal drei Fischje daherschwimmen, und es waren keine andern, als jene, welchen er das Leben gerettet hatte. Der mittelste hielt eine Muschel im Munde, die er an den Strand zu den Füßen des Jünglings hinlegte, und als dieser sie aufhob und öffnete, so lag der Goldring darin. Boll Freude brachte er ihn dem Könige und erwartete, daß er ihm den verheißenen Lohn gewähren würde. Die stolze Königstochter aber, als sie vernahm, daß er ihr nicht ebenbürtig war, verschmähte ihn und verlangte, er sollte zuvor eine zweite Aufgabe lösen. Sie ging hinab in den Garten und streute selbst zehn 'Säcke voll Hirsen ins Gras. „Die muß er morgen, ehe die Sonne hervor kommt, aufgelesen haben," sprach sie, „und darf kein Körnchen fehlen." Der Jüngling setzte sich in den Garten und dachte nach, wie es möglich wäre, die Aufgabe zu lösen, aber er konnte nichts ersinnen, saß da ganz traurig und erwartete bei An­ bruch des Morgens, zum Tode geführt zu werden. Als aber die ersten Sonnenstrahlen in den Garten fielen, so sah er die zehn Säcke alle wohl gefüllt nebeneinander stehen, und kein Körnchen fehlte darin. Der Ameisenkönig war mit seinen tausend und tausend Ameisen in der Nacht ange­ kommen, und die dankbaren Tiere hatten den Hirsen mit großer Emsigkeit gelesen und in die Säcke gesammelt. Die Königstochter kam selbst in den Garten herab und sah mit Verwunderung, daß der Jüngling vollbracht hatte, was ihm aufgegeben war. Aber sie konnte ihr stolzes Herz noch nicht bezwingen und sprach: „Hat er auch die beiden Aufgaben gelöst, so soll er doch nicht eher mein Gemahl werden, bis er mir einen Apfel vom Baume des Lebens gebracht hat." Der Jüngling wußte nicht, wo der Baum des Lebens stand, er machte sich auf und wollte immerzu gehen, so lange ihn seine Beine trügen, aber er hatte keine Hoffnung, ihn zu

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finde». Als er schon durch drei Königreiche gewandert war und abends in einen Wald kam, setzte er sich unter einen Baum und wollte schlafen, da hörte er in den Ästen ein Geräusch, und ein goldener Apfel fiel in seine Hand. Zu­ gleich flogen drei Raben zu ihm herab, setzten sich auf seine Knie und sagten: „Wir sind die drei jungen Raben, die du vom Hungertod errettet hast; als wir grob geworden waren und hörten, daß du den goldenen Apfel suchtest, so sind wir über das Meer geflogen bis an das Ende der Welt, wo der Baum des Lebens steht, und haben dir den Apfel geholt." Boll Freude machte sich der Jüngling auf den Heimweg und brachte der schönen Königstochter den goldenen Apfel, der nun keine Ausrede mehr übrig blieb. Sie teilten den Apfel des Lebens und aßen ihn zusammen; da ward ihr Herz mit Liebe zu ihm erfüllt, und sie erreichten in un­ gestörtem Glück ein hohes Alter.

173. D* brösmeli uf em tisch (Schweizerdeutsch). Der gtiggel het einisch zu sine hüendlene gseit: „Chömed weidli i d’ Stühe gd brötbrösmeli zamebicke uf em tisch; eusi frau isch üsgange gö ne visite mache. Do säge dö d’ hüendli: „Nei, nei, mer eherne nit; weißt, d’ frau balget ame mit is.“ Do seit der güggel: „Li weiß jo nüt dervö, chömed ir numme; si git is doch au nie nüt guets.“ Do sage d’ hüendli wider: „Nei, nei, 's isch üs und verbi, mer gönd nit ufe.“ Aber der güggel hat ene kei rüe glö, bis si endlich gange sind und ufe tisch und do d' brötbrösmeli zämeglase hend in aller strenge. Do chunnt justement d' frau derzue und nimmt gschwind e stecke und steubt si abe und regiert gar grüseli mit ene. Und wo si dö vor em hüs unde gsi sind, so sage dö d* hüendli zum güggel: „Gsö gsö gsö gsö gse gsö gsöst aber?“ Dö het der güggel gelachet und numme gseit: „Ha ha ha i's nit gwüßt?“ Do hend si chönne gö.

Die Brosamen auf dem Tisch. Der Gockelhahn hat einmal zu seinen Hühnerchen gesagt: „Kommt flink hinauf in die Stube, Brosamlein zu­ sammenpicken auf dem Tisch; unsere Frau ist ausge­ gangen und macht eine Visite!“ Da sagten die Hühner: „Nein, nein, wir kommen nicht; weißt du, die Frau zankt uns immer.“ Da sagte der Gockel: „Sie weiß es ja nicht, kommt nur; sie gibt uns ja auch nie nichts Gutes!“ Da sagten die Hühner wieder: „Nein, nein, es ist aus und vorbei, wir gehn nicht hinauf!“ Aber der Gockel hat ihnen keine Ruh gelassen, bis sie endlich gegangen sind und auf den Tisch gehüpft und haben da die Brosamlein zusammengelesen mit allem Eifer. Da kommt aber grade die Frau dazu und nimmt geschwind den Stock und jagt sie hinunter und schimpft gar sehr mit ihnen. Und wie sie dann wieder vor dem Haus unten gewesen sind, da haben die Hühnerchen zum Gockel gesagt: „Gse gse gse gse gse gse gsehn hastes?“ Da hat der Gockel noch gelacht dazu und hat ge­ sagt: „Ha ha hab ichs nicht gewußt?“ Da haben sie können gehen.

174. Der Grenzlauf. Einst stritten die Urner mit den Glarnern bitter um ihre Landesgrenze, beleidigten und schädigten einander täg­ lich. Da ward von den Biedermännern der Ausspruch ge­ tan: zur Tag- und Nachtgleiche solle von jedem Teil früh­ morgens, sobald der Hahn krähe, ein rüstiger, kundiger Felsgänger ausgesandt werden und jedweder nach dem jen­ seitigen Gebiete zulaufen und da, wo sich beide Männer be­ gegneten, die Grenzscheide festgesetzt bleiben, das kürzere Teil möge nun fallen diesseits oder jenseits. Die Leute wurden gewählt, und man dachte besonders darauf, einen solchen Hahn zu halten, der sich nicht verkrähe und die Morgenstunde auf das allerfrühste ansagte. Und die Urner

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Grimm.

nahmen einen Hahn, setzten ihn in einen Korb und garben ihm sparsam zu essen und zu saufen, weil sie glaubiten. Hunger und Durst werde ihn früher wecken. Dagegen die Glarner fütterten und mästeten ihren Hahn, daß er fremdig und hoffärtig den Morgen grüßen könne, und dachten da­ mit am besten zu fahren. Als nun der Herbst kam und der bestimmte Tag er­ schien, da geschah es, daß zu Altorf der schmachtende Hmhn zuerst erkrähtc, kaum wie es dämmerte, und froh brrach der Urner Felsenklimmer auf, der Marke zulaufend. Allleiu in Linttal drüben stand schon die volle Morgenröte am Himmel, die Sterne waren verblichen, und der fette Hmhn schlief noch in guter Ruh. Traurig umgab ihn die ganze Gemeinde; aber es galt die Redlichkeit, und keiner wagte cs ihn aufzuwecken; endlich schwang er die Flügel und krachte. Aber dem Glarner Läufer wird's schwer sein, dem Urner den Vorsprung wieder abzugcwinnen. Ängstlich sprang, er und schaute gegen das Scheidcck; wehe! da sah er oben am Giebel des Grats den Mann schreiten und schon bergabwärts niederkommen; aber der Glarner schwang die Fersen rmd wollte seinem Volke noch vom Lande retten so viel als mög­ lich. Und bald stießen die Männer auf einander, und der von Uri rief: „Hier ist die Grenze!" — „Nachbar," sprach bettübt der von Glarus, „sei gerecht und gib mir noch ein Stück von dem Weidland, das du errungen hast!" Doch der Urner wollte nicht; aber der Glarner ließ ihm nicht Ruh, bis er barmherzig wurde und sagte: „So viel will ich dir noch gewähren, als du, mich an deinem Hals tragend, bergan läufst." Da faßte ihn der rechtschaffene Sennhirt von Glarus und klomm noch ein Stück Felsen hinauf, und manche Tritte gelangen ihm noch; aber plötzlich versiegte ihm der Atem, und tot sank er zu Boden. Und noch heutiges Tages wird das Grenzbächlein gezeigt, bis zu welchem der einsinkende Glarner den siegreichen Urner getragen habe. In Uri war große Freude ob ihres Gewinstes: aber auch die zu Glarus

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gaben ihrem Hirten die verdiente Ehre und bewahrten seine große Treue in steter Erinnerung.

175. Der GemSjäger. Ein Gemsjäger stieg auf und kam zu dem Felsgrat, und immer weiter klimmend, als er je vorher gelangt war, stand plötzlich ein häßlicher Zwerg vor ihm, der sprach zornig: „Warum erlegst du mir lange schon meine Gemsen und lässest mir nicht meine Herde? jetzt sollst du's mit deinem Blute teuer bezahlen!" Der Jäger erbleichte und wäre bald hinabgestürzt, doch faßte er sich noch und bat den Zwerg um Verzeihung, denn er habe nicht gewußt, daß ihm diese Gemsen gehörten. Der Zwerg sprach: „Gut, aber laß dich hier nicht wieder blicken, so verheiß ich dir, daß du jeden siebenten Tag morgens früh vor deiner Hütte ein ge­ schlachtetes Gemstier hangen finden sollst; aber hüte dich mir und schone die andern!" Der Zwerg verschwand, und der Jäger ging nachdenklich heim, und die ruhige Lebensart behagte ihm wenig. Am siebenten Morgen hing eine fette Gemse in den Ästen eines Baums vor seiner Hütte, davon zehrte er ganz ver­ gnügt, und die nächste Woche ging's eben so und dauerte ein paar Monate fort. Allein zuletzt verdroß den Jäger seine Faulheit, und er wollte lieber selber Gemsen jagen, möge erfolgen, was da werde, als sich den Braten zutragen lassen. Da stieg er auf, und nicht lange, so erblickte er einen stolzen Leitbock, legte an und zielte. Und als ihm nirgends der böse Zwerg erschien, wollte er eben losdrücken, da war der Zwerg hinterher geschlichen und riß den Jäger am Knöchel des Fußes nieder, daß er zerschmettert in den Abgrund sank.

176. Der Schwanritter. Herzog Gottfried von Brabant war gestorben, ohne männliche Erben zu hinterlassen; er hatte aber in einer Urkunde gestiftet, daß sein Land der Herzogin und seiner

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Tochter verbleiben sollte. Hieran kehrte sich jedoch Gtottfrieds Bruder, der mächtige Herzog von Sachsen, weinig, sondern bemächtigte sich aller Klagen der Witwe und Wiaise unerachtet des Landes, das nach deutschem Rechte auf keeine Weiber erben könne. Die Herzogin beschloß daher, bei idem König zu Nagen; und als bald daraus Karl nach Nieiderland zog und einen Tag zu Neumagen am Rheine hallten wollte, kam sie mit ihrer Tochter dahin und begehrte Recht. Dahin war auch der Sachsen Herzog gekommen und wwllte der Klage zur Antwort stehen. Es ereignete sich aber, idatz der König durch ein Fenster schaute; da erblickte er eimen weißen Schwan, der schwamm den Rhein herdann und zog an einer silbernen Kette, die hell glänzte, ein Schiffllein nach sich; in dem Schiff aber ruhte ein schlafender Ritter; sein Schild war sein Hauptkissen, und neben ihm lagen Helm und Halsberg; der Schwan steuerte gleich einem geschickten Seemanne und brachte sein Schiff an das Gestade. Karl und der ganze Hof verwunderten sich höflich ob diesem seltsamen Ereignis; jedermann vergaß der Klage der Frauen und lief hinab dem User zu. Unterdessen war der Ritter erwacht und stieg aus der Barke; wohl und herrlich empfing ihn der König, nahm ihn selbst zur Hand und führte ihn gegen die Burg. Da sprach der junge Held zu dem Bogel: „FUeg deinen Weg, lieber Schwan! wenn ich dein wieder bedarf, will ich dir schon rufen!" Sogleich schwang sich der Schwan und fuhr mit dem Schifflein aus aller Augen weg. Jedermann schaute den fremden Gast neugierig an; Karl ging wieder ins Gestühl zu seinem Gericht und wies jenem eine Stelle unter den andern Fürsten an. Die Herzogin von Brabant, in Gegen­ wart ihrer schönen Tochter, hub nunmehr ausführlich zu klagen an, und hernach verteidigte sich auch der Herzog von Sachsen. Endlich erbot er sich zum Kampf für sein Recht, und di« Herzogin solle ihm einen Gegner stellen, das ihre zu bewähren. Da erschrak sie heftig, denn er war ein auserwählter Held, an den sich niemand wagen würde;

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vergebens ließ sie im ganzen Saale die Augen umgehen, keiner war da, der sich ihr erboten hätte. Ihre Tochter klagte laut und weinte; da erhob sich der Ritter, den der Schwan ins Land geführt hatte, und gelobte, ihr Kämpfer zu sein. Hierauf wurde sich von beiden Seiten zum Streit gerüstet, und nach einem langen und hartnäckigen Gefecht war der Sieg endlich auf Seiten des Schwanritters. Der Herzog von Sachsen verlor sein Leben, und der Herzogin Erbe wurde wieder frei und ledig. Da Zeigten sie und die Tochter dem Helden, der sie erlöst hatte, und er nahm die ihm ange­ tragene Hand der Jungfrau mit dem Beding an, daß sie nie und zu keiner Zeit fragen sollte, woher er gekommen, und welches sein Geschlecht sei, denn außerdem müsse sie ihn verlieren. Der Herzog und die Herzogin bekamen zwei Kinder, die waren wohl geraten; aber immer mehr fing es an, ihre Mutter zu drücken, daß sie gar nicht wußte, wer ihr Vater war, und endlich tat sie an ihn die verbotene Frage. Der Ritter erschrak herzlich und sprach: „Nun hast du selbst unser Glück zerbrochen und mich am längsten gesehen." Die Herzogin bereute es, aber zu spät; alle Leute fielen zu seinen Füßen und baten ihn zu bleiben. Der Held waffnete sich, und der Schwan kam mit demselben Schifflein ge­ schwommen; darauf küßte er beide Kinder, nahm Abschied von seinem Gemahl und segnete das ganze Volk; dann trat er ins Schiff, fuhr seine Straße und kehrte nimmer wieder. Der Frau ging der Kummer zu Bein und Herzen, doch zog sie fleißig ihre Kinder auf. Bon diesen stammen viel edle Geschlechter, die von Geldern sowohl als Kleve, auch die Rienecker Grafen und manche andere; alle führen den Schwan im Wappen.

177. Der Rattensänger zu Hameln. Im Jahre 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem

Grimm. er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von «allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit ihm einig und versicherten ihm einen bestimmten Lohn. Der Rattenfänger p)g demnach ein Pfeifchen heraus und pfiff. Da kamen alsobald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurück, ging er hinaus, und der ganze Haufe folgte ihm, und so führte er sie an die Weser. Dort schürzte er seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm alle die Tiere folgten und hinein­ stürzend ertranken. Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Manne unter allerlei Ausflüchten, so daß er zornig und erbittert wegging. Am 26. Juni, auf Johannis und Pauli Tag, morgens früh sieben Uhr, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers, erschrecklichen Angesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut, und ließ seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein, vom vierten Jahr an in grober Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Burgemeisters war. Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Dies hatte ein Kindermädchen gesehen, welches mit einem Kind auf dem Arm von fern nachgezogen war, darnach umkehrte und das Gerücht in die Stadt brachte. Die Eltern liefen Haufen­ weis vor alle Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu Wasser und Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen, aber alles vergeblich. Es waren im ganzen hundertunddreistig verloren. Ein Knäblein war im Hemd mitgelaufcn und kehrte um, seinen R»ck zu holen, wodurch es dem Unglück entgangen; denn als es

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Grimm.

zurückkam, waren die anderen schon in der Grube eineHügels, die noch gezeigt wird, verschwunden. Die Bürger von Hameln haben die Begebenheit in ihr Stadtbuch einzeichnen lassen. An dem Rathaus standen

folgende Zeilen: Im Jahr 1284 na Christi gebart tho Hamel worden uthgevort hundert und dreißig Kinder dasülvest gebarn, horch einen Piper uader den Köppen verlorn.

178. Der Glockenguß zu Breslau. Als die Glocke zu St. Maria Magdalena in Breslau gegossen werden sollte und alles dazu fast fertig war, ging der Gießer zuvor zum Essen, verbot aber dem Lehrjungen bei Leib und Leben, den Hahn am Schmelzkessel anzu­ rühren. Der Lehrjung aber war vorwitzig und neugierig, wie das glühende Metall doch ailssehen möge, und indem er so den Hahn bewegte und anregte, fuhr er ihm Wider Willen ganz heraus, und das Metall rann und rann in die zubereitete Form. Höchst bestürzt, weiß sich der arme Junge gar nicht zu helfen, endlich wagt er's doch und geht weinend in die Stube und bekennt seinem Meister, den er mit Gotteswillen um Verzeihung bittet. Der Meister aber wird vom Zorn ergriffen, zieht das Schwert und ersticht den Jungen auf der Stelle. Dann eilt er hinaus, will sehen, was noch vom Werk zu retten sei, und räumt nach der Verkühlung ab. Als er abgeräumt hatte, siehe! so war die ganze Glocke trefflich wohl ausgegossen und ohne Fehl; voll Freuden kehrte der Meister in die Stube zurück und sah nun erst, was Übels er getan hatte. Der Lehrjung war verblichen, der Meister wurde eingezogen und von den Richtern zum Schwert verurteilt. Jnmittelst war auch die Glocke aufgezogen worden; da bat der Glockengießer flehent­ lich, ob sie nicht Noch geläutet werden dürfte; er möchte ihre Resonanz auch wohl hören, da er sie doch zugerichtet hätte, wenn er die Ehr vor seinem letzten End von den

Hessel und User, Lesebuchs.

M. 17

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Grimmelshausen.

Herren haben könnte. Die Obrigkeit ließ ihm willfahren, und seit der Zeit wird mit dieser Glocke allen armen Sündern, wenn sie vom Rathaus herunterkommen, geläutet. Die Glocke ist so schwer, daß, wenn man fünfzig Schläge gezogen hat, sie andere fünfzig von selbst gehet.

Christoph von Grimmelshausen. 179. Plünderung. Simplicissimus wuchs in der Zeit des dreißigjährigen Krieges als ganz unwissender Bauernknabe im Spessart auf. Er konnte nur die Schafe hüten und aus der Sack­ pfeife spielen. Wie er einmal in den Wald sollte mit der Herde, ermahnte ihn sein Knan: „Bub, bis flißig, loß die Schoss nit ze wit vunananger lassen und spiel wacker uf der Sackpfiffa, daß der Wolf nit komm und Schada bau, dann he is a sölcher veirboinigter Schelm und Dieb, der Menscha und Vieha frißt, und wann bau awer farlässi bist, so will ich dir da Buckel arauma!" Da fing der Bub im Wald an auf der Sackpfeife zu spielen und ein Lied zu singen, das ihn seine „Meuder" gelehrt hatte, das fing an: Du sehr Verächter Bauernstand Bist doch der beste in dem Land, Kein Mensch dich gnugsam preisen kann, Wenn er dich nur recht siehet an.

Da ward er von einem Trupp Kürassiere umgeben, die sich in dem Wald verirrt hatten und durch die Töne herbeigelockt wurden. Er hielt sie anfangs für Wölfe. Den Reitern mußte er den Weg zu seines Knans Hof zeigen. Wie sie es dort trieben, das hat er später selbst so erzählt: „Das erste, was die Reiter taten und in den schwarz gemalten Zimmern meines Knans anfingen, war, daß sie ihre Pferde einstellten. Hernach hatte ein jeglicher seine besondere Arbeit zu verrichten, deren jede lauter Unter-

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Grimmelshausen.

gang und Verderben anreigte. Denn obzwar etliche an­ fingen zu metzgern, zu sieden und zu braten, so daß es sah, als sollte eine lustige Schmauserei gehalten werden, so waren hingegen andere, die durchstürmten das Haus von unten und oben. Andere machten von Tuch, Klei­ dungen und allerlei Hausrat große Pakete zusammen, als ob sie irgendwo einen Krempelmarkt anstellen wollten; was sie aber nicht mitzunehmen gedachten, wurde zerschlagen und zu gründe gerichtet. Etliche durchstachen Heu und Stroh mit ihren Degm, als ob sie nicht Schweine genug zu stechen gehabt hätten. Etliche schütteten die Federn aus den Betten und füllten hingegen Speck, andere dürres Fleisch und sonstiges Gerät hinein, als ob alsdann besser darauf zu schlafen wäre; andere schlugen Ofen und Fenster ein, gleichsam als hätten sie einen ewigen Sommer zu verkündigen. Kupfer- und Zinngeschirr schlugen sie zusam­ men und packten die gebogenen und verderbten Stücke ein; Bettladen, Tische, Stühle und Bänke verbrannten sie, btt doch viele Klaftern dürres Holz im Hofe lagen; Häfen und Schüsseln mußten endlich alle entzwei, entweder weil sie lieber Gebratenes aßen, oder weil sie bedacht waren, nur eine einzige Mahlzeit allda zu halten. Den Knecht legten sie gebunden auf die Erde, stellten ihm ein Sperrholz in den Mund und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstiges Mistlachenwasser in den Leib — das nannten sie einen schwedischen Trunk, der ihm aber gar nicht schmeckte, sondern in seinem Gesicht sehr wun­ derliche Mienen verursachte. Dadurch zwangen sie ihn, eine Partei anderwärts zu führen, allda sie Menschen und Lieh hinwegnahmen und in unsern Hof brachten, unter welchen mein Knan, meine Meuder und unsere Ursele auch waren. Da fing man nun erst an, die Steine von den Pistolen und hingegen statt deren die Daumen der Bauern aufzu schrauben und die armen Schehne so zu foltern, als wenn man hätte Hexen brennen wollen; maßen sie auch

17'

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einen von den gefangenen Bauern bereits in den Backofen steckten und mit Feuer hinter ihm her waren, ungeachtet er noch nichts bekannt hatte; einem andern machten sie ein Seil um den Kopf und reitelten es mit einem Bengel zusammen, so daß ihm das Blut zu Mund, Nase und Ohren heraussprang. Kurz, es hatte jeder seine eigne Er­ findung, die Bauern zu peinigen, und also auch jeder Bauer seine besondere Marter. Allein mein Knan war meinem damaligen Bedünken nach der Glücklichste, weil er mit lachendem Munde bekannte, was andere mit Schmer­ zen und jämmerlicher Wehklage sagen mußten; und solche Ehre widerfuhr ihm ohne Zweifel darum, weil er der Haus­ vater war. Sie setzten ihn nämlich zu einem Feuer, ban­ den ihn, so daß er weder Hände noch Füße regen konnte, und rieben seine Fußsohlen mit angefeuchtetem Salze, welches ihm unsere alte Geiße wieder ablecken und dadurch also kitzeln mußte, daß er vor Lachen hätte zerbersten mögen. Mir kam das so artlich und anmutig vor — weil ich meinen Knan niemals ein solches langwieriges Gelächter verführen gehört und gesehen — daß ich der Gesellschaft halber, oder weil ich's nicht besser verstand, von Herzen mitlachen mußte. In solchem Gelächter bekannte er seine Schuldigkeit und öffnete den verborgenen Schatz, welcher an Gold, Perlen und Kleinodien viel reicher war, als man hinter den Bauern hätte suchen mögen. Mitten in diesem Elende wandte ich Braten und Ivar um nichts bekümmert, weil ich noch- nicht recht verstand, wie dieses alles gemeint wäre; ich half auch nachmittags die Pferde tränken, durch welches Mittel ich zu unserer Magd im Stalle kam; sie sprach zu mir mit kränklicher Stimme: „O Bub! lauf weg, sonst werden dich die Rei­ ter mitnehmen. Guck, daß du davon kommst; du siehst wohl, wie es so übel. . ." Mehr konnte sie nicht sagen. Da machte ich gleich den Anfang, meinen unglücklichen Zustand, den ich vor Augen sah, zu betrachten und zu bedenken, wie ich mich förderlichst ausdrehen und davon

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laufen möchte. Wohin aber? Dazu war mein Verstand viel zu gering, einen Vorschlag zu tun. Doch ist es mir so weit gelungen, daß ich gegen Wend in den Wald ent­ sprungen bin und meine liebe Sackpfeife auch in diesem äußersten-Elende nicht verlassen habe. Wo nun aber weiter hinaus? sintemal mir die Wege und der Wald so wenig bekannt waren, als die Straße durch das gefronte Meer hinter Nova Zembla bis gen China hinein. Daher ver­ barg ich mich in ein dichtes Gesträuch, wo ich sowohl das Geschrei der getrillten Bauern, als den Gesang der Nach­ tigallen hören konnte. Darum legte ich mich auch ohne alle Sorge auf ein Ohr und entschlief. Als nun der Morgenstern im Osten hervorflackerte, sah ich meines Knans Haus in voller Flamme stehen, aber niemanden, der zu löschen begehrte. Ich begab mich hervor, in der Hoffnung, jemand von meinem Knan an­ zutreffen, wurde aber sogleich von fünf Reitern erblickt und angeschrieen: „Jung, komm heröfer, oder skall mi de Tüfel Halen, ick schiete dick, dat di de Dampfs thom Hals ut gaht!" Ich hingegen blieb ganz stockstill stehn und hatte das Maul offen, weil ich nicht wußte, was der Reiter wollte oder meinte, und inddm ich sie so ansah, wie eine Katze ein neues Scheunentor, sie aber wegen eines Morastes nicht zu mir kommen konnten, was sie ohne Zweifel rechtschaffen ärgerte, löste der eine seinen Kara­ biner auf mich, von welchem urplötzlichen Feuer und un­ versehenen Knall, den mir das Echo durch vielfältige Ver­ doppelung grausamer machte, ich dermaßen erschreckt ward, weil ich dergleichen niemals gehört oder gesehen hatte, daß ich alsobald zur Erde niederfiel und alle Viere von mir streckte. Ja, ich regte vor Angst keine Ader mehr, und wiewohl die Reiter ihres Wegs fortritten und mich ohne Zweifel für tot liegen ließen, so hatte ich doch den­ selben ganzen Tag das Herz nicht, mich aufzurichten, noch mich nur ein wenig hin und wieder umzusehn. Als mich aber die Nacht wieder ergriff, stand ich auf

Grimmelshausen.

und wanderte so lange im Walde fort, bis ich von ferne einen faulen Baum schimmern sah, welcher mir eine neue Furcht einjagte. Zuletzt kam mir der liebe Tag zu Hilfe, welcher den Bäumen gebot, mich in seiner Gegenwart un­ betrübt zu lassen. Aber hiermit war mir noch nichts ge­ holfen, denn mein Herz steckte voll Angst und Furcht, die Schenkel voll Müdigkeit, der leere Magen voll Hunger, der Mund -oll Durst, das Hirn voll närrischer Einbildung und die Augen voller Schlaf. Ich ging dennoch fürder, wußte aber nicht wohin; je weiter ich jedoch ging, je tietiefer ich von den Leuten hinweg in den Wald kam. Damals stand ich aus und empfand, jedoch ganz un­ vermerkt, die Wirkung des Unverstandes und der Un­ wissenheit. Wenn ein unvernünftiges Tier an meiner Stelle gewesen wäre, so hätte es besser gewußt, was es zu seiner Erhaltung hätte tun sollen, als ich. Doch war ich noch so witzig, als mich abermals die Nacht übereilte, daß ich in einen hohlen Baum kroch, meine werte, liebe Sackpfeife fleißig in acht nahm und also mein Nachtlager darin zu halten gänzlich entschlossen war."

Er hörte eine Stimme, die Gott den Herrn anrief. Da er Hoffte, er bekäme etwas, seinen Hunger zu stillen, ging er der Stimme nach und traf einen bärtigen Ein­ siedler. Dieser nahm ihn in seiner ärmlichen Hütte auf und gab ihm etwas zu essen. Der Einsiedler sang ein Lied, das er ihn später lehrte, und das also begann: „Äomm, Trost der Nacht, » Nachtigall! Laß deine Stimm mit Freudenschall Aufs lieblichste erllingen! Äomm, komm, und lob den Schöpfer dein, Well andere Vögel schlafen fein Und nicht mehr möge« fingen. Laß dein Stimmlein Laut erschallen! denn vor allen kannst du loben Gott im Himmel hoch dort oben.

Grimmelshausen.

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Obschon ist hin der Sonnenschein

Und wir im Finstern müssen sein, So können wir doch singen Bon Gottes Güt und seiner Macht, Well uns kann hindern keine Nacht, Sein Lob zu vollenbringen.

Drum dein Stimmlein Laß erschallen! denn vor allen kannst du loben Gott im Himmel hoch dort oben. Echo, der wllde Widerhall, Mll sein bei diesem Freudenschall Und lässet sich auch hören: Verweist uns alle Müdigkeit, Der wir ergeben allezeit, Lehrt uns den Schlaf betören.

Drum dein Sttmmlein Laß erschallen! denn vor allen kannst du loben Gott im Himmel hoch dort oben.

Die Sterne, so am Himmel stehn. Sich lassen -um Lob Gottes sehn

Und Ehre ihm beweisen; Die Eul auch, die nicht singen kann, Zeigt doch mit ihrem Heulen an, Daß sie Gott auch tu Preisen. Drum dein Sttmmlein Laß erschallen! denn vor allen kannst du loben

Gott im Himmel hoch dort oben. Nun her, mein liebstes Vögelein: Wir wollen nicht die fäulsten sein Und schlafend liegen bleiben; Vielmehr bis daß die Morgenröt Erfreuet diese Wälder öd, In Lob Gottes vertreiben. Laß dein Stimmlein Laut erschallen! denn vor allen kannst du loben Gott im Himmel hoch dott oben."

Er blieb lange bei dem Einsiedler, der ihm allerlei beibuchte vom Christenglauben, auch lesen und schreiben lehrt, bis er später in die Stürme des Krieges geriet und ein Soldat wurde.

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HanHakob.

Heinrich Hansjakob. 180. Der Tod des Hermesburen. Auf einer kleinen Anhöhe liegt der Hermeshof und schaut ins stille Tal hinab bis gen Zell zur Wallfahrts­ kirche. In diese war manchen Sonntag in gesunden Tagen der alte Bur gewandelt der „Mutter Gottes zulieb", und als er krank und kränker ward, hatte er seine Kinder hin­ abgesandt in die Kapelle, damit sie beteten um eine glück­ liche Sterbestund. Der Kaplan aber von Zell brachte ihm öfters die heilige Wegzehrung. Drum fürchtete der Hermesbur das Sterben nicht. Es war ein heißer Sommertag, als der Sensenmann auf dem Hermeshof anklopfte, um den Bur zu seinem Weib, das schon seit Jahren auf dem Kirchhofe von Zell ruhte, abzuholen. Die Kinder, alle erwachsen, umstanden das Sterbelager des Vaters. Drunten im Tal arbeiteten Knechte und Mägde, um die Weizenernte heimzubringen. Drüben von der Kinzig her zog ein Gewitter dem Tale zu. Schon rollte der Donner in der Ferne. „Der Himmel selbst flammt auf, wenn Fürsten ster­ ben," sagt Shakespeare, und ein deutscher Hofbauer ist auch ein Fürst. Er war es wenigstens noch zu Zeiten des alten Hermesburen. Der hörte im Sterben die Stimme des kommenden Wetters und wußte, daß die Ernte drunten lag am Fuße des Hügels. „I kann allei sterbe," hub der Alte zu seinen Kindern zu reden an, „helft ihr drunte bene Völker Garbe binde und sorgt für euer Brot zur Winters­ zit. I brauch keins meh, i wart uf de Winter drunte im Gottesacker."

Hinter dem uralten Kasten in der Sterbekammer stand eine alte lange Flinte, im Hause von jeher nur der „Brummler" genannt. Schon der Urahn des Sterbenden hatte mit dem Brummler das Neujahr und die Kirchweih ins Tal

HanSjakob.

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hinuntergeschossen. Mit ihm wollte auch der sterbende Hermesbur seinen Tod ansagen. »Legt mir den Brummler," so sprach er weiter, „geladen unters Kammersensterle und bindet ans Schloß eine Schnur. Die gebt ihr mir in die Hand." So geschah es, und alsdann redete der Alte weiter: „So, jetzt geht ihr hinab und helft Garben binden, und der Dater wartet auf den Tod. Wenn der lommt, zieh i die Schnur am Brummler. Wenn ihr den im Tal drunten hört, dann kniet nieder und betet ein Vaterunser und „Herr, gib ihm die ewige Ruh", denn euer Vater ist tot. Und jetzt behüt euch Gott! Bleibt brav, wie euer Vater und Mutter es gewesen sind." Nun gab er jedem seiner Kinder die Hand zum Ab­ schied und mahnte sie zur Eile mit den Worten: „Aber jetzt geht schnell, 's donnert schon wieder." Der Alte hatte allzeit seinen Willen, fest wie Eisen. Sein letzter Wille aber war heute wie Diamant. Die Kin­ der, immer gewohnt ihm zu folgen, gehorchten auch hier. Weinend gingen sie den Hügel hinab, und unter Tränen banden sie ihre Garben. Tränenden Auges schauten sie von Zeit zu Zeit von der Arbeit hinauf zum Hermeshof, ob sie nicht vor dem Donner des Himmels den Brummler überhört hätten. Eben war die letzte Garbe gebunden und geladen, da fuhren Blitz und Schlag übers Tal hin. Eine plötzliche Stille folgte dem Zucken und Rollen vom Himmel her — — da fällt ein Schuß vom Hof herab, der Brummler gibt das Todcssignal des Vaters. Neben den Erntewagen knien die Kinder und beten ein Vaterunser und „Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm". Dann führen sie ihre Garben den Berg hinauf ins Vater­ haus. Der Vater ist tot, da sie seine Stube betreten. Die Ernte ist daheim, und der Vater auch. — — So sterben große Menschen, und große Menschen finden sich nicht bloß auf Fürstenthronen, auf Schlachtfeldern, auf Kathedern, sie finden sich, oft weit größer, auch in

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HanSjalob.

Haushofer.

stillen Tälern, auf einsamen Gehöften. Im Volke, diesem Meere der Menschheit, da leben Adamskinder von jeder Sorte.---------

Max Haushofer. 181. DaS Klima in Tirol. Tirol hat eine große lachende Sonnenseite: die Ab­ dachung der Zentralkette nach Süden. Und dieser entgegen­ gesetzt das schattigere winterliche Nordgehäng gegen das Jnntal und weiterhin gegen die bayrische Hochebene. Wie eine Riesenmauer trennen die Alpen das rauhere Klima Deutschlands von dem milderen Himmel Italiens. Schnee­ stürme sausen um die Scharnitz *), während man im Bozener Talkessel unter blauem Sommerhimmel die Traube ein­ heimst. Und wie das ganze Land an seiner nördlichen und südlichen Abdachung die größten Gegensätze aufweist, so auch die einzelnen Täler. Jedes in ostwestlicher Rich­ tung verlaufende Tal hat seine nach Süden gekehrte sonn­ seitige Talwand und seine Schattenseite. Den Bewohnern der Sonnenseite kommt der Frühling um Wochen früher, ihr Jahr ist wärmer, und ihr Herbst weicht später dem Win­ ter, als denen, die an der Schattenwand hausen. Und auch die von Süd nach Nord verlaufenden Täler haben doch wieder ihre Biegungen, ihre Seitenschluchten und Mulden, wo nach Süden gewandte Gehänge kleine sonnseitige Winkel bilden. Man begreift, daß sich die menschliche Ansiedlung mit aller Macht nach der Sonnenseite gezogen hat. Wo freilich, tote im unteren Jnntale, die nach Süden gewand­ ten Talwände ganz steile Felsenmauern sind, während die entgegengesetzten Gehänge sanft ansteigen, da mußte man eine Ausnahme von dieser Regel machen. Wohl sind die hohen Lagen im ganzen kühler, als die tieferen. Aber die Gegensätze von warm und kält tver*) Gebirgspaß von der Isar durchflossen.

Hau-Hofer.

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den nach oben zu nicht schärfer, sondern milder. So kommt's, daß den zu höchst gelegenen Ansiedelungen nicht etwa der winterliche Frost ein besonders grimmiger Gegner ist, sondern mehr die furchtbaren Schneemassen, die sie oft wochenlang von der Taltiefe völlig abschneiden. Die dauern­ den menschlichen Wohnsitze reichen in Tirol viel höher hin­ auf als in den deutschen Mittelgebirgen. Das gilt schon für die Nordhälfte des Landes. Die südliche Hälfte aber «freut sich eines Klimas, wie es, soweit die deutsche Zunge klingt, sonst nirgends vorkommt. Die gesegnetsten Lagen des Rheingaus toerben weit übertroffen durch das Klima des Etschtales von Bozen abwärts. Während der Winter in Nordtirol ungefähr ebenso lang und so streng ist wie in Deutschland, rechnet man seine Dauer im Bozen« Ge­ biet nur nach Wochen; im unteren Sarcatale aber ist nur ein Schritt vom Spätherbste zum Vorfrühling. Der Som­ mer Nordtirols möchte wohl heißer sein als d« deutsche; ab« « kommt nicht dazu, weil die Sonne hinter den Bergrücken später aufsteigt und früher versinkt. In Süd­ tirol ist der Sommer durchaus italienisch, so daß die Be­ wohn« genötigt sind, aus dm heißen Taltiefen herauf wochenlang in die frischere Luft der Berghöhen zu fliehen. Während im Flachlande Schnee und Eis nur durch einige Winterwochen eine Rolle im Landschaftsbilde, in den klimati­ schen und wirtschaftlichen Zuständen spielen, behaupten sie diese Rolle in einem Hochgebirgslande das ganze Jahr hindurch. Bon der gesamten Grundfläche Tirols sind 4764 qkm unproduktives Land: Felsenflächen, die ent­ weder für immer mit einer dicken Last von Schnee und Eis bedeckt sind oder doch wegen ihrer hohen Lage und ihrein gänzlichen Mangel an Erdbedeckung nur Spiel- und Tummelplätze des ewigen Winters bilden. Ungefähr der sechste Teil des Landes ist nicht bloß allem Anbau un­ zugänglich, sondern geradezu eine Hochburg, von der aus Stürme, Eis- und Schneelawinen, Steinströme, Schlamm­ fluten und Wildwass« die menschlichen Ansiedelungen und

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Haushofer.

landwirtschaftlichen WerkplStze heimsuchen. Die Firn- und Eismassen, welche in meilenbreiter Ausdehnung die höchsten Kämme und Gipfel decken, nehmen einen dauernden Ein­ fluß auf die Natur des ganzen Landes und durch sie auch auf die Menschen. Der Natur der Hochtäler verleihen sie einen starren, gewalttätigen und menschenfeindlichen Hinter­ grund; den Menschen nötigen sie zu Kämpfen und Sorgen, von denen sich die Bewohner der Flach- und Hügelländer keine Vorstellung machen. Nicht als ob diese Firn- und Eismassen eine bedenkliche Abkühlung der Täler bewirkten. Es ist keine Eiskellerluft, die sie erzeugen, sondern eine wohl mitunter eisige, dabei aber kräftige und überaus reine Luft, die aus ihnen zu den menschlichen Ansiedelungen herabweht. Geradezu verwüstend wirkt die Welt des ewigen Eises nur ausnahmsweise, wenn sich unter besonderen Verhält­ nissen Eisseen bilden, die dann, wie es im Htztale und im Martelltale schon geschah, plötzlich ihre Umdämmung durchbrechen und die tiefer liegenden Talgründe verheeren. Biel gefährlicher sind die nicht perennierenden Schneemassen, die sich an steileren Gehängen lagern und, wenn sie von wärmeren Luftströmungen -erweicht werden, von ihrer Unterlage gleiten, um als Lawinen mit unwiderstehlicher, zermalmender Wucht niederzugehen. Diesen Schrecken kennt jedes Hochtal in Tirol; an allen Gebirgspfaden sieht man die hölzernen Gedenktäfelchen, die vom Tode eines Men­ schen in der eisigen zerdrückenden Umarmung einer Lawine reden. Für die Täler sind die in flimmernder Höhe über ihnen lagernden Firn- und Eismassen beständige Behälter ergiebiger Wassermassen. Da sammelt sich nicht bloß wäh­ rend des Winters, sondern auch während des Frühlings und Herbstes das kristallisierte Wasser in riesigen dicken Lagern an, um dann als Schmelzwasser niederzugehen Man muß an einem Sommertage zur Mittagszeit über einen großen Gletscher gewandert sein, um zu sehen, wie

Haushofer.

Hebel.

da meilenlange Eisfelder ans einmal in Bewegung ge­ raten, wie ihre Oberfläche zu tausend und abertausend Rinn­ salen wird, in denen das geschmolzene Eis talabwärts rieselt und gurgelt und rauscht, um am unteren Ende des Glet­ schers jene mächtigen Bäche zu'speisen, die da mit wüten­ der Kraft unter dem Eise hervorbrechen. Und je heißer der Sommer, um so reicher die Wassermenge, die er liefert. Mer nicht bloß in der wärmeren Jahreszeit schmelzen die Gletscher ab. Mitten im Winter kommen Tage, wo plötz­ lich eine warme Luftströmung die Eiswelt der Höhen zum Tauen bringt, diese Föhnwinde kennt man in Tirol, wie man sie in der Schweiz kennt. Aber während man ihre Wärme früher dadurch erklärte, daß man meinte, sie kämen aus der Sahara über das Mittelländische Meer geflogen, kennt man sie jetzt als Fallströmungen, die durch ihren Sturz aus der Höhe zu ihrem Wärmegrad kommen. An solchen Wintertagen fangen die sonst zu Kristall gefrorenen Bäche plötzlich zu sprudeln und zu schäumen an, jeder Berg wird zum riesigen Dache, von dem Tausende von Wassern niederrieseln; die Firnfelder dampfen, und die stürzenden Lawinen lassen ihren Donner vernehmen.

Johann Peter Hebel. 182. Unverhofftes Wiedersehen. In Falun in Schweden küßte vor guten fünfzig Jahren und mehr ein junger Bergmann seine junge, hübsche Braut und sagte zu ihr: „Auf Sankt Luciä wird unsere Liebe von des Priesters Hand gesegnet. Dann sind wir Mann und Weib und bauen uns ein eigenes Nestlein." — „Und Friede und Liebe soll darin wohnen!" sagte die schöne Braut mit holdem Lächeln, „denn du bist mein einziges und alles, und ohne dich möchte ich. lieber im Grabe sein, als an einem anderen Ort." Als sie aber vor St. Luciä der Pfarrer zum zweitenmal in der Kirche aufgerufen hatte: „So nun

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Hebel.

jemand Hindernis wüßte anzuzeigen, warum diese Personen nicht möchten ehelich zusammen kommen," da meldete sich der Tod. Denn als der Jüngling den andern Morgen in seiner schwarzen Bergmannskleidung an ihrem Haus vor­ beiging — der Bergmann hat sein Totenkleid immer an — da klopfte er zwar noch einmal an ihrem Fenster und sagte ihr guten Morgen, aber keinen guten Mend mehr. Er kam nimmer aus dem Bergwerk zurück, und sie säumte vergeblich selbigen Morgen ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zum Hochzeitstag, sondern als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um ihn und vergaß ihn nie. Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, und Polen wurde geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, Amerika wurde frei, und die ver­ einigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die französische Revolution und der lange Krieg fing an, und Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten, der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metall­ adern in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Berg­ leute in Falun im Jahre 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schächten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem Boden, gruben sie aus dem Schutt und Bitriolwasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war, also daß man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben oder ein wenig eingeschlafen wäre an der Arbeit. MS man ihn aber zu Tag ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Äefreundte und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafenden Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglück wissen, bis die ehemalige

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Verlobte des Bergmanns kam, der eines Tages auf die Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen, heftigen Bewegung des Gemüts erholt hatte, „es ist mein Ver­ lobter", sagte sie endlich, „um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte, und den mich Gott noch einmal sehen läßt vor meinem Ende. Acht Tage vor der Hochzeit ist er unter die Erde gegangen und nimmer heraufgekommen." Da wurden die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen, als sie sahen die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hingewelkten, kraftlosen Alters und den Bräutigam noch in seiner jugendlichen Schöne, und wie in ihrer Brust nach fünfzig Jahren die Flamme der jugend­ lichen Liebe noch einmal erwachte — aber er öffnete den Mund nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wieder­ erkennen — und wie sie ihn endlich von den Bergleuten in ihr Stüblein tragen ließ, als die einzige, die ihm an­ gehöre und ein Recht an ihn habe, bis sein Grab gerüstet sei auf dem Kirchhof. Den andern Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof und ihn die Bergleute holten, schloß sie ein Kästlein auf, legte sie ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um und begleitete ihn alsdann in ihrem Sonntagsgcwand, als wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: „Schlafe nun wohl noch einen Tag oder zehen im kühlen Hochzeitsbett und laß dir die Zeit nicht lange werden! Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag. — Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten!" sagte sie, als sie fortging und noch einmal umschaute.

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SebeL

183. Der Schneider in Pensa. Der Schneider in Pensa, was ist das für ein Männ­ lein! Sechsnndzwanzig Gesellen ans dem Brett; jahraus, jahrein für halb Rußland Arbeit genug, und doch kein Geld, aber ein froher, heiterer Sinn, ein Gemüt, treu und köstlich wie Gold, und mitten in Asien deutsches Blut rhein­ ländischer Hausfreundschaft. Hm Jahre 1812, als Rußland nimmer Straßen genug hatte für die Kriegsgefangenen an der Beresina oder in Wilna, ging eine auch durch Pensa, welches für sich schon mehr als einhundert Tagereisen weit von Lahr oder Pforz­ heim entfernt ist, und wo die beste deutsche oder englische Uhr, wer eine hat, nimmer recht geht, sondern ein paar Stunden zu spät. In Pensa ist der Sitz des ersten russischen Statthalters in Asien, wenn man von Europa aus herein­ kommt. Also wurden dort die Kriegsgefangenen abgegeben und übernommen und alsdann weiter abgeführt in das tiefe, fremde Asien hinein, wo die Christenheit ein Ende hat und niemand mehr das Vaterunser kennt, wenn's nicht einer, gleichsam als eine fremde Ware, aus Europa mit­ bringt. Also kamen eines Tages, mit Franzosen meliert, auch sechzehn rheinische Landsleute, badische Offiziere, die da­ mals unter den Fahnen Napoleons gedient hatten, über die Schlachtfelder und Brandstätten von Europa, ermattet, krank, mit erfrorenen Gliedmaßen und schlecht geheilten Wunden, ohne Geld, ohne Kleidung, ohne Trost in Pensa an Und fanden in diesem unheimlichen Land lein Ohr mehr, das sich über ihre Leiden erbarmte. Als aber einer den andern mit trostloser Miene anblickte: „Was wird aus uns werden?" oder: „Wann wird der Tod unserm Elend ein Ende machen, und wer wird den letzten begraben?" da vernahmen sie mitten durch das russische und kosakische Kauderwelsch, wie ein Evangelium vom Himmel, unver­ mutet eine Stimme: „Sind keine Deutsche da?" und es

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Hebel.

stand vor ihnen auf zwei nicht ganz gleichen Füßen eine liebe, freundliche Gestalt. Das war der Schneider von Pensa, Franz Anton Egetmeier, gebürtig aus Bretten im Neckarkreis, Großherzogtum Baden. Hat er nicht im Jahr 1779 das Handwerk gelernt in Mannheim? Hernach ging er auf die Wanderschaft nach Nürnberg, hernach ein wenig nach Petersburg hinein. Ein Pfälzer Schneider schlagt sieben bis achtmal hundert Stunden Wegs nicht hoch an, wenn's ihn inwendig treibt. In Petersburg aber ließ er sich unter ein russisches Kavallerieregiment als Regiments­ schneider engagieren und ritt mit ihnen in die fremde russische Welt hinein, wo alles anderst ist, nach Pensa, bald mit der Nadel stechend, bald mit dem Schwert. In Pensa aber, wo er sich nachher häuslich und bürgerlich niederlicß, ist er jetzt ein angesehenes Männlein. Will jemand in gaiy Asien ein sauberes Kleid nach der Mode haben, so schickt er zu dem deutschen Schneider in Pensa. Verlangt er etwas von dem Statthalter, der doch ein vornehmer Herr ist und mit dem Kaiser reden darf, so hat's ein guter Freund vom andern verlangt, und hat auf dreißig Stunden Weges ein Mensch ein Unglück oder einen Schmerz, so vertraut er sich dem Schneider in Pensa an, er findet bei ihm, was ihm fehlt, Trost, Rat, Hilfe, ein Herz und eirt Auge voll Liebe, Obdach, Tisch und Bett, nur kein Geld. Einem Gemüte, wie dieses war, das nur in Liebe und Wohltun reich ist, blühte auf den Schlachtfeldern des Jahres 1812 eine schöne Freudenernte. So oft ein Trans­ port von unglücklichen Gefangenen kam, warf er Schere und Elle weg und war der erste auf dem Platz, und: „Sind keine Deutsche da?" war seine erste Frage. Denn er hoffte von einem Tag zum andern, unter den Gefangenen Lands­ leute anzutresfen, und freute sich, wie er ihnen Gutes tun wollte, und liebte sie schon zum voraus ungesehenerweise, wie eine Frau ihr Kindlein schon liebt und ihm Brei, geben kann, ehe sie es hat. „Wenn sie nur so oder so aussähen!" dachte er, „wenn ihnen nur auch recht viel fehlt, damit ich ihnen recht viel Hessel und User, Lesebuchs.

M. 18

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Hebel.

Gutes erweisen kann!" Doch nahm er, wenn keine Deutschen da waren, auch mit Franzosen vorlieb und erleichterte ihnen, bis sie weitergeführt wurden, ihr Elend, als nach Kräften er konnte. Diesmal aber, als er mitten unter so viele geneigte Landsleute, auch Darmstädter und andere, hinein­ rief: „Sind keine Deutsche da?" — er mußte zum zweiten­ mal fragen, denn das erstemal konnten sie vor Staunen und Ungewißheit nicht antworten, sondern das süße deutsche Wort in Asien verklang in ihren Ohren wie ein Harfen­ ton; und als er hörte: „Deutsche genug!" und von jedem erfragte, woher er sei — er wäre mit Mecklenburgern oder Knrsächsen auch zufrieden gewesen — aber einer sagte: von Mannheim am Rheinstrom; als wenn der Schneider nicht vor ihm gewußt hätte, wo Mannheim liegt, der andere sagte: von Bruchsal, der dritte: von Heidelberg, der vierte: von Gochsheim; da zog es wie ein warmes, auflösendes Tanwetter durch den ganzen Schneider hindurch. „Und ich bin von Bretten," sagte das herrliche Gemüte, „Franz Anton Egetmeier von Bretten!" wie Joseph in Ägypten zu den Söhnen Israels sagte: „Ich bin Joseph, euer Bruder!" — und die Tränen der Freude, der Wehmut und heiligen Heimatliebe traten allen in die Augen, und es war schwer zu sagen, ob sie einen freudigern Fund an dem Schneider oder der Schneider an seinen Landsleuten machte, und welcher Teil am gerührtesten war. Jetzt führte der gute Mensch seine teuern Landsleute im Triumph in seine Wohnung und bewirtete sie mit einem erquicklichen Mahl, wie in der Geschwindigkeit es aufzutreiben war. Jetzt eilte er zum Statthalter und bat ihn um die Gnade, daß er seine Landsleute in Pensa behalten dürfe. „Anton," sagte der Statthalter, „wann hab ich Euch etwas abgeschlagen?" Jetzt lief er in der Stadt herum und suchte für diejenigen, welche in seinem Hause nicht Platz hatten, bei seinen Freunden und Bekannten die besten Quartiere aus. Jetzt musterte er seine Gäste, einen nach dem andern. „Herr Landsmann," sagte er zu einem, „mit Euerm Weiß-

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zeug sieht's windig aus. Ich werde Euch für ein halbes Dutzend neuer Hemden sorgen. — Ihr braucht auch ein neues Röcklein," sagte er zu einem andern. — „Euers kann noch gewendet und ausgebessert werden," zu einem dritten und so zu allen, und augenblicklich wurde zuge­ schnitten, und alle sechsundzwanzig Gesellen arbeiteten Tag und Nacht an Kleidungsstücken für seine werten rheinlän­ dischen Hausfreunde. In wenig Tagen waren alle neu oder anständig ausstaffiert. Ein guter Mensch, auch wenn er in Nöten ist, mißbraucht niemals fremde Gutmütigkeit; deswegen sagten zu ihm die rheinländischen Hausfreunde: „Herr Landsmann, verrechnet Euch nicht. Ein Kriegs­ gefangener bringt keine Münzen mit. So wissen wir auch nicht, wie wir Euch für Eure großen Auslagen werden schadlos halten können und wann." Darauf erwiderte der Schneider: „Ich finde hinlängliche Entschädigung in dem Gefühl, Ihnen helfen zu können. Benutzen Sie alles, was ich habe! Sehen Sie mein Haus und meinen Garten als den Ihrigen an!" So kurz weg und ab, wie ein Kaiser oder König spricht, wenn, eingefaßt in Würde, die Güte hervorblickt. Denn nicht nur die hohe fürstliche Geburt und Großmut, sondern auch die liebe häusliche Demut gibt, ohne es zu wissen, bisweilen den Herzen königliche Sprüche ein, Gesinnungen ohnehin. Jetzt führte er sie freudig wie ein Kind in der Stadt bei seinen Freunden herum und machte Staat mit ihnen. So sehr sie zufrieden waren, so wenig war er es. Jeden Tag erfand er neue Mittel, ihnen den unangenehmen Zu­ stand der Kriegsgefangenschaft zu erleichtern und das frenide Leben in Asien angenehm zu machen. War in der lieben Heimat ein hohes Geburts- oder Namensfest, es wurde am nämlichen Tag von den Treuen auch in Asien mit Gasdmahl, mit Vivat und Freudenfeuer gehalten, nur etwas früher, weil dort die Uhren falsch gehen. Kam eine frohe . Nachricht von dem Borrücken und dem Siege der hohen Alliierten in Deutschland an, der Schneider war der erste, 18*

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der sie wußte und seinen Kindern — er nannte sie nur noch seine Kinder — mit Freudentränen zubrachte, darum, daß sich ihre Erlösung nahte. Als einmal Geld zur Unter­ stützung der Gefangenen aus dem Vaterland ankam, war ihre erste Sorge, ihrem Wohltäter seine Auslagen zu ver­ güten. „Kinder," sagte er „verbittert mir meine Freude nicht!" — „Vater Egetmcier," sagten sie, „tut unserm Herzen nicht wehe!" Also machte er ihnen zum Schein eine kleine Rechnung, Mr, um sie nicht zu betrüben, und um das Geld wieder zu ihrem Vergnügen anzuwenden, bis die letzte Kopeke aus den Hände» war. Das gute Geld war für einen andern Gebrauch zu bestimmen, aber man kann nicht an alles denken. Denn als endlich die Stunde der Erlösung schlug, gesellte sich zur Freude ohne Maß der bittere Schmerz der Trennung und zu dem bittern Schmerz die Not. Denn es fehlte an allem, was zur Notdurft und zur Vorsorge auf eine so lange Reise in den Schrecknissen des russischen Winters und einer unwirtbaren Gegend nötig war, und ob auch auf den Mann, solange sie durch Rußland zu reisen hatten, täglich 13 Kreuzer verabreicht wurden, so reichte doch das wenige nirgends hin. Darum ging in diesen letzten Tagen der Schneider, sonst so frohen, leichten Mutes, still und nachdenklich herum, als der etwas im Sinn hat, und war wenig mehr zu Haufe. „Es geht ihm recht zu Herzen," sagten die rheinländischen Herren Hausfteunde und merften nichts. Wer auf ein­ mal kam er mit großen Freudenschritten, ja mit verklärtem Antlitz zurück: „Kinder, es ist Rat. Geld genug!" — Was war's? Die gute Seele hatte für zwettausend Rubel das Haus verkauft. „Ich will schon eine Unterkunft finden," sagte er, „wenn nur ihr ohne Leid und Mangel nach Deutschland kommt." O, du heiliges, lebendig gewordenes Sprüchlein des Evangeliums und seiner Liebe: „Verkaufe, was du -ast, und gib es denen, die es bedürftig sind, so wirst du einen Schatz im Himmel haben." Der wird einst weit oben rechts

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zu erfragen sein, wenn die Stimme gesprochen hat: „Kommt, ihr Gesegneten! ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist, ich bi» nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet, ich hin krank und gefangen gewesen, und ihr habt euch meiner angenommen." Doch der Kauf wurde, zu großem Trost für die edel» Gefangenen, wieder rückgängig gemacht. Nichts­ destoweniger brachte er auf andere Art noch einige hundert Rubel für sie zusammen und nötigte sie, was er hatte von kostbarem russischem Pelzwerk mitzunehmen, um es unter­ wegs zu verkaufen, wenn sie Geldes bedürftig wären oder einem ein Unglück widerführe. Den Abschied will der Haus­ freund nicht beschreiben. Keiner, der dabei war, vermag es. Sie schieden unter tausend Segenswünschen und Tränen des Dankes und der Liebe, und der Schneider gestand, daß diese- für ihn der schmerzlichste Tag seines Lebens sei. Die Reisenden aber sprachen unterwegs unaufhörlich und noch immer von ihrem Vater in Pensa, und als sie in Biälystok in Polen wohlbehalten ankamen und Geld an­ trafen, schickten sie ihm dankbar das vorgeschossene Reise­ geld Zurück.

Viktor Hehn. 184. Besteigung des Vesuvs. Von Resina ritten wir die sanft ansteigende, aber steinige und schlecht gangbare Straße in die Höhe, rings von Weingärten, Feigen und Fruchtgärten umgeben, welche Mauern oder Dornhecken, oft auch der Kaktus oder die Aloe von uns schieden. Mit sicherem Tritt, unbezwinglich hartnäckigem Langmut, aber unfehlbarer Klugheit schritten die Esel über zerrissenes Pflaster und steiniges Geröll auf­ wärts, oft in Schlangenwindungen den bequemsten Pfad wählend. Neben uns wuchs der Lacrimä Christi, der dem Rheinwein ähnlich ist: schon jetzt war der Blick auf den Golf und die anliegenden Landstrecken von überraschender

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Hehn.

Schönheit. Wir kamen endlich an das erste Lavafeld, nach­ dem unsere Tiere schon oft über knisternde Asche geschritten. Schlacken und Schollen, zerbröckelt, zertrümmert, gehäufelt wie eine aufgewühlte Erde; man glaubt sie mit dem Fuß in Staub zerstoßen zu können und findet ein felsenhartes Gestein. Jenseits dieses dunkeln und öden Gefildes findet man das sogenannte Haus des Eremiten, es ist nichts mehr als ein schlechtes Wirtshaus. Der Hof vor dem Hause, mit hohen Bäumen besetzt, läßt das Auge frei, es schweift über die ganze Gegend. Jenseits Misenum und Procida erscheint das äußere Meer und sein zweiter Golf, der von Gaeta, und jauchzend erkenne ich Capo Circello wieder, das herrliche Vorgebirge, die blaue Felsensphinx, deren Formen dieser ganzen Küste eigen sind, vom Kap Miseno und Capri bis Salerno hinab. Vom Eremiten reiten wir noch eine kurze Strecke durch eine Lavawildnis; dann ist der Punkt erreicht, wo wir vom Esel steigen, und das mühsame Klrmmen beginnt. Ein Strom geschmolzener Massen war hier einst über den Rand des kochenden und dampfenden Feuerkessels hinabgeslossen, dann in seinen Wellen erstarrt, zu Klumpen zersprungen, und liegt nun in rollendem, scharfkantigem Gestein wüst durcheinander, natürliche, aber oft wankende Stufen bildend. Man begreift nicht, wer so in diesem Felsenstoff gewühlt und ihn zu kleineren und größeren Brocken zerrieben. Wir sprangen von einem Block steil aufwärts zum andern, auf unsre Stöcke gestützt, von Zeit zu Zeit Atem schöpfend, oder einen Kristall, der sich in der Feuersglut gebildet, auf­ hebend; die schon bleichen Strahlen der sich zum Unter­ gang neigenden Sonne trieben uns zur Eile. Schon kam uns Schwefelgeruch entgegen, schon ward es unter unsern Füßen warm, und zwischen den Schollen stiegen Dämpfe auf. Endlich war der obere Rand erreicht, aber kaum hatten wir ihn betreten, als eine Wolke erstickenden Schwefel­ dampfes uns entgegenschlug, unsern Blick unlhüllte, unsre Schritte hemmte.

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Es war ein schwarzes, mit Steinen dünn besätes Feld, auf dem wir standen: es neigte sich dem entsetzlichen Schlunde zu, aus dem mit furchtbarer Gewalt giftige Nebel aufwogten und dann, vom Sturm getrieben, auf uns zu und über uns. fortwirbelten. Wir bedeckten , das Gesicht bis zu den Augen mit einem Tuch und näherten uns dem Abgrund. Oft glaubten wir ersticken zu müssen, oft trieb die Angst, der wir mühevoll widerstanden, zur Flucht. Drunten, am Fuß des Berges, ein reiches, lebenstrotzendes Paradies, hier die wütende, entsetzliche Hölle, eins von dem andern nur zwei kurze Stunden entfernt. Der Berg war heute ungewöhnlich in Bewegung, und wir hatten den un­ günstigsten Wind, der uns allen Dampf zutrieb: den Kessel zu umgehen war bei der eintretenden Nacht nicht möglich, auch hatte der Führer sich von uns geflüchtet und jen­ seits der Schwefelwolken eine sichere Stellung genommen: la nabbia, sagte er, sei heute zu groß. Nichts bewog chn, mit uns den Rand zu umgehen, allein durften wir es nicht unternehmen. Mit vorgehaltenen Tüchern drangen wir nochmals in die weißen Wolken vor, die wesenlos, aber totverbreitend in immer erneuten Wirbeln über das schwarze Gefilde strichen. Auf Augenblicke entblößte sich der jen­ seitige Rand des Schlundes; tiefschwarz und zackig, an seinem Bauche mit Nebeln behängt, wogte er auf und nie­ der, bis er wieder auf längere Zeit verschwand, einem riesen­ haften Ungebilde gleichend, das die Höllentiefe gekocht, dann ausgespien, dann wieder zurückgenommen. Auch seitwärts ragte ungewiß ein dunkler, hoher Felsenrand, vortretend, ins Ungeheure wachsend, dann wieder verschwindend. Die Sonne erschien wie eine bluttote Kugel, nachdem sie lang ganz verhüllt gewesen: das Bild des Meerbusens und der Küste aber, dieses wonnevolle Bild, stärkte unser bebendes Herz in den kurzen Augenblicken, wo ein Spalt der Dämpfe die schöne Erde wieder vor uns öffnete. Es war Nacht geworden, als wir schieden. Wir wandten uns jetzt seit­ wärts von dem Lavastrom und wateten durch tiefe vulkanische

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Heine.

Asche den Kegel hinab. Nichts leichter und angenehmer, als dieses Hinabsteigen: bis ins Knie einsinkend, fühlten wir bei steilem Fall dennoch keine Erschütterung, denn die Asche mäßigt mit leichtem Widerstand die Heftigkeit des Sturzes. Im schnellen Takt tanzten wir hernieder: selbst wenn der Fuß gleitet, sinkt man schmerzlos auf den Rücken und rafft sich lachend auf. Am Fuße des Kegels angelangt, bestiegen wir die unten harrenden Esel wieder, die mit sicherem Tritt durch die Nacht über die Lavablöcke setzten. Im Hause des Eremiten, wo wir uns mit Lacrimä stärk­ ten, zündeten die Treiber ihre Fackeln an, und während, ein schmaler Silberstreif, der Mond am Himmel glimmte, fielen die roten Lichtströme der vor uns gehenden Brände links und rechts phantastisch auf die wilde Wüste, die in sich zu rollen und dunkel bewegt schien, dann auf Mauern und Bäume, endlich auf die Wände der Häuser des ersehn­ ten Resina.

Heinrich Heine. 185. Erdgeister, Elfen und Rixen. 1. Erdgeister. Die Erdgeister wohnen meistens in den Bergen, und man nennt sie Wichtelmänuer, Gnomen, kleines Volk, Zwerge. Die Sage von diesen Zwergen ist analog mit der Sage von den Riesen, und sie deutet auf die Anwesenheit zweier verschiedener Stämme, die einst mehr oder minder friedlich das Land bewohnt, aber seitdem verschollen sind. Die Riesen sind auf immer verschwunden aus Deutschland. Die Zwerge aber trifft man mitunter noch in den Berg­ schachten, wo sie, gekleidet wie kleine Bergleute, die kost­ baren Metalle und Edelsteine ausgraben. Von jeher haben die Zwerge immer vollauf Gold, Silber und Diamanten besessen: denn sie konnten überall unsichtbar herumkriechen, und kein Loch war ihnen zu klein, um durchzuschlüpfen.

Heine.

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führte es nur endlich zu dem Stollen des Reichtums. Die Niesen aber blieben immer arm, und wenn man ihnen etwas geborgt hätte, würden sie Riesenschulden hinter­ lassen haben. Auch wollten sich die Riesen niemals zum Christentume bekehren. Ich schließe dies aus einer alten dänischen Ballade, wo sich die Riesen zuletzt versammeln und eine Hochzeit feiern. Die Braut verschlingt allein zum Frühstück vier Tonnen Brei, sechzehn Ochsenleiber und acht­ zehn Schweineseiten und trinkt außerdem sieben Tonnen Bier. Freilich bemerkt der Bräutigam: Ich sah noch nie eine junge Braut, die so guten Appetit gehabt hätte. Unter den Gästen befand sich der kleine Mimmering, dessen Klein­ heit einen Gegensatz zu der Gestalt dieser Riesen bildete. Und das Lied endigt mit den Worten: „Klein Mimmering war unter diesem heidnischen Volke bas einzige Christenkind." Von der Kunstfertigkeit der Zwerge ist in den alten Liedern viel rühmlich die Rede. Sie schmiedeten die besten Schwerter, aber nur die Riesen wußten mit diesen Schwer­ tern dreinzuschlagen. Waren diese Riesen wirklich von so hoher Statur? Die Furcht hat vielleicht ihrem Maße manche Elle hinzugefügt. Dergleichen hat sich schon oft ereignet. Nieetas, ein Byzantiner, der die Einnahme von Konstantinopel durch die Kreuzfahrer berichtet, gesteht ganz ernsthaft, daß einer dieser eisernen Ritter des Nordens, der alles vor sich her zu Paaren trieb, ihnen in diesem schrecklichen Augenblick fünfzig Fuß groß zu sein schien. Die Wohnungen der Zwerge waren, wie schon erwähnt, die Berge. Die kleinen Öffnungen, die man in den Felsen findet, nennt das Volk noch heutzutage Zwerglöcher. Im Harz, namentlich im Bodetale, habe ich dergleichen viele gesehen. Manche Tropfsteinbildungen, die man in den Gebirgshöhlen trifft, so wie auch manche bizarre Felsen­ spitzen nennt das Volk die Zwergenhochzeit. Es sind Zwerge, die ein böser Zauberer in Steine verwandelt, als sie eben von einer Trauung aus ihrem kleinen Kirchlein nach Hause trippelten, oder auch beim Hochzeitsmahl sich gütlich taten.

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Heine.

Die Zwerge tragen kleine Mützchen, wodurch sie sich unsichtbar machen können; man nennt sie Tarnkappen oder auch Nebelkäppchen. Ein Bauer hatte einst beim Dreschen mit dem Dreschflegel die Tarnkappe eines Zwerges herab­ geschlagen; dieser wurde sichtbar und schlüpfte schnell in eine Erdspalte. Man kann übrigens durch Beschwörungen die Zwerge sichtbar machen. Die Zwerge zeigten sich auch manchmal freiwillig den Menschen, hatten gern mit uns Umgang und waren zu­ frieden genug, wenn wir ihnen nur kein Leids zufügten. Wir aber, boshaft, wie wir noch sind, wir spielten ihnen manchen Schabernack. In Wyß Volkssagen liest man fol­ gende Geschichte: Des Sommers kam die Schar der Zwerge häufig aus den Flühen herab ins Tal und gesellte sich entweder hilfreich oder doch zuschauend zu den arbeitenden Menschen, namentlich zu den Mähdern in der Heuernte. Da setzten sie sich denn wohl vergnügt auf den langen dicken Ast eines Ahorns ins schattige Laub. Einmal aber kamen boshafte Leute und sägten bei Nacht den Ast durch, so daß er bloß noch schwach am Stamme hielt, und als die arglosen Ge­ schöpfe sich am Morgen darauf niederließen, krachte der Ast vollends entzwei, die Zwerge stürzten auf den Grund, wurden ausgelacht, erzürnten sich heftig und jammerten: O, wie ist der Himmel so hoch Und die Untreue so groß! Heut hierher und nimmermehr!

Sie sollen seit der Zeit das Land verlassen haben. Ich bezweifle, daß die Zwerge die Menschen als gute Geister betrachteten; sicherlich vermochten sie an unsern Handlungen nicht unsern göttlichen Ursprung zu erkennen. Wesen von einer andern Natur als die unsrige dürften keine gute Meinung von uns hegen, und der Teufel hält uns für die schlechtesten aller Kreaturen. . Ich habe ein­ mal in einer Dorfscheune die Faustkomödie darstellen sehn. Faust beschwört den Teufel und verlangt im Bertram»

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auf seine Unerschrockenheit, daß der Teufel ihm in der furchtbarsten Gestalt,; unter den Zügen der entsetzlichsten aller Kreaturen erscheine .. . und der gehorsame Teufel erscheint unter der Gestalt eines Menschen. Man weiß nicht recht, weshalb die Zwerge uns zu­ letzt so plötzlich verließen. Es gibt indessen noch andere Traditionen, die ebenfalls den Abzug der Zwerge unserer Necksucht und Bosheit zuschreiben. Zwischen Walkenried und Neuhof in der Grafschaft Hohenstein hatten einst die Zwerge zwei Königreiche. Ein Bewohner jener Gegend merkte einmal, daß seine Feld­ früchte alle Nächte beraubt wurden, ohne daß er den Täter entdecken konnte. Endlich ging er auf den Rat einer weisen Frau bei einbrechender Nacht an seinem Erb­ senfelde auf und ab und schlug mit einem dünnen Stab« über dasselbe in die bloße Luft hinein. Es dauerte nicht lange, so standen einige Zwerge leibhaftig vor ihm. Er hatte ihnen die unsichbtar machenden Nebelkappen abge­ schlagen. Zitternd sielen die Zwerge vor ihm nieder und bekannten, daß ihr Volk es sei, welches die Felder der Landesbewohner beraubte, wozu aber die äußerste Not sie zwänge. Die Nachricht von den eingefangenen Zwergen brachte die ganze Gegend in Bewegung. Das Zwergvolk sandte endlich Abgeordnete und bot Lösung für sich und die gefangenen Brüder und wollte dann auf immer das Land verlassen. Doch die Art des Abzugs erregte neuen Streit. Die Landeseinwohner wollten die Zwerge nicht mit ihren gesammelten und versteckten Schätzen abziehen lassen, und das Zwergvolk wollte bei seinem Abzüge nicht gesehen sein. Endlich kam man dahin überein, daß die Zwerge über eine schmale Brücke bei Neuhof ziehen, und daß jeder von ihnen in ein dorthin gestelltes Gefäß einen bestimmten Teil seines Vermögens als Abzugszoll werfen sollte, .ohne daß einer der Landesbewohner zugegen wäre. Dies geschah. Doch einige Neugierige hatten sich unter die Brücke versteckt, um den Zug der Zwerge wenigstens

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Heine.

zu hören. Und so hörten sie denn viele Stunden lang das Getrappel der kleinen Menschen: es war ihnen, als ob eine sehr große Herde Schafe über die Brücke ging.

Nach einer Variante sollte jeder abziehende Zwerg nur ein einziges Geldstück in das Faß werfen, welches man vor der Brücke hingestellt; und den andern Morgen fand man das Faß ganz gefüllt mit alten Goldmünzen. Auch soll vorher der Zwergenkönig selber in seinem roten Mäntelchen zu den Landeseinwohnern gekommen sein, um sie zu bitten, ihn und sein Volk nicht fortzujagen. Flehentlich erhob er seine Ärmchen gen Himmel und weinte die rührendsten Tränen. 2. Elfen. In den dänischen Volksliedern gibt es zwei Elfensagen, die den Charakter dieser Luftgeister am treuesten zur Anschauung bringen. Das eine Lied erzählt von dern Traumgesichte eines jungen Fants, der sich auf Elvershöh niedergelegt hatte und allmählich eingeschlummert war. Er träumt, er stände auf seinem Schwerte gestützt, während die Elfen im Kreise um ihn her tanzen und durch Lieb­ kosen und Versprechen ihn verlocken wollen, an ihrem Nei­ gen teilzunehmen. Eine von den Elfen kömmt an ihn heran und streichelt ihm die Wange und flüstert: Tanze mit uns, schöner Knabe, und das Süßeste, was nur immer dein Herz gelüstet, wollen wir dir singen!

Und da beginnt auch ein Gesang von so bezwingen­ der Liebeslust, daß der reißende Strom, dessen Wasser sonst wildbrausend dahin fließt, plötzlich still steht, und in der ruhigen Flut die Fischlein hervortauchen und vergnügt mit ihren Schwänzlein spielen. Eine andere Elfe flüstert: Tanze mit uns, schöner Knabe, und wir wollen dich Runen­ sprüche lehren, womit du den Bär und den wilden Eber besiegen kannst, sowie auch den Drachen, der das Gold hütet; sein Gold soll dir anheimfallen. Der junge Fant

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widersteht jedoch allen diesen Lockungen, und die erzürnten Jungfrauen drohen endlich, ihm den kalten Tod ins Herz zu bohren. Schon zückten sie ihre scharfen Messer, da, zum Glücke, kräht der Hahn, und der Träumer erwacht mit heiler Haut. Das andere Gedicht ist minder luftig gehalten, die Er­ scheinung der Elfen findet nicht im Traume, sondern in der Wirklichkeit statt, und ihr schauerlich anmutiges Wesen tritt uns desto schärfer entgegen. Es ist das Lied von dem Herrn Oluf, der abends spät ausreitet, um seine Hochzeitgäste zu entbieten. Der Refrain ist immer: „Aber das Tanzen geht so schnell durch den Wald." Man glaubt, unheimlich lüsterne Melodien zu hören und zwischendrein ein Kichern und Wispern, wie von mutwilligen Mädchen. Herr Oluf sieht endlich, wie vier, fünf, ja noch mehr Jungfrauen hervortanzen und Erlkönigs Tochter die Hand nach ihm ausstreckt. Sie bittet ihn zärtlichst, in den Kreis einzutreten und mit ihr zu tanzen. Der Ritter aber will nicht tanzen und sagt zu seiner Entschuldigung: Morgen ist mein Hochzeitstag! Da werden ihm nun gar ver­ führerische Geschenke angeboten, jedoch weder die Widder­ hautstiefel, die so gut am Beine sitzen würden, noch die güldenen Sporen, die man so hübsch daran schnallen kann, noch das weißseidene Hemd, das die Elfenkönigin selber mit Mondschein gebleicht hat, nicht mal die silberne Schärpe, die man ihm ebenfalls so kostbar anrühmt, nichts kann ihn bestimmen, in den Elfenreigen einzutreten und mitzu­ tanzen. Seine beständige Entschuldigung ist: Morgen ist mein Hochzeitstag. Da freilich verlieren die Elfen endlich die Geduld, sie geben ihm einen Schlag aufs Herz, wie er ihn noch nie empfunden, und heben den zu Boden ge­ sunkenen Ritter wieder auf sein Roß und sagen spöttisch: So reite denn heim zu deiner Braut. Ach! als er auf seine Burg zurückkehrte, da waren seine Wangen sehr blaß und sein Leib sehr krank, und als am Morgen früh die Braut ankam mit der Hochzeitschar, mit Sang und Klang, da

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war Herr Oluf ein stiller Mann; denn er lag tot unter dem roten Bahrtuch. „Aber das Tanzen geht hin so schnell durch den Wald."

Der Tanz ist charakteristisch bei den Luftgeistern; sie sind zu ätherischer Natur, als daß sie prosaisch gewöhn­ lichen Ganges, wie wir, über diese Erde wandeln sollten. Indessen so zart sie auch sind, so lassen doch ihre Füßchen einige Spuren zurück auf den Rasenplätzchen, wo sie ihre nächtlichen Reigen gehalten. Es sind eingedrückte Kreise, denen das Volk den Namen Elfenringe gegeben. In einem Teile Österreichs gibt es eine Sage, die mit den vorhergehenden eine gewisse Ähnlichkeit bietet, obgleich sie ursprünglich slavisch ist. Es ist die Sage von den ge­ spenstischen Tänzerinnen, die dort unter dem Namen „die Willis" bekannt sind. Die Willis sind Bräute, die vor der Hochzeit gestorben sind. Die armen jungen Geschöpfe können nicht im Grabe ruhig liegen; in ihren toten Herzen, in ihren toten Füßen blieb noch jene Tanzlust, die sie im Leben nicht befriedigen konnten, und um Mitternacht steigen sie hervor, versammeln sich truppenweis an den Heerstraßen, und wehe dem jungen Menschen, der ihnen da begegnet! Er muß mit ihnen tanzen, sie umschlingen ihn mit ungezügelter Tobsucht, und er tanzt mit ihnen ohne Ruh und Rast, bis er tot niederfällt. Geschmückt mit ihren Hochzeitkleidern, Blumenkronen und flatternde Bänder auf den Häuptern, funkelnde Ringe an den Fingern, tanzen die Willis im Mondglanz eben so wie die Elfen. Ihr Antlitz, obgleich schneeweiß, ist jugendlich schön, sie lachen so schauerlich heiter, so frevelhaft liebenswürdig, sie nicken so geheimnisvoll lüstern, so verheißend; diese toten Bacchantinnen sind unwiderstehlich. Das Volk, wenn es blühende Bräute sterben sah, konnte sich nie überreden, daß Jugend und Schönheit so jähling gänzlich der schwarzen Vernichtung anheimfallen, und leicht entstand der Glaube, daß die Braut nach dem Tode div entbehrten Freuden sucht.

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Es ist den Volkssagen eigentümlich, daß ihre furcht­ barsten Katastrophen gewöhnlich bei Hochzeitfesten aus­ brechen. Das plötzlich eintretende Schrecknis kontrastiert dann desto grausig schroffer mit der heiteren Umgebung, mit der Vorbereitung zur Freude, mit der lustigen Musik. So lange der Rand des Bechers noch nicht die Lippen berührt, kann der kostbare Trank noch immer verschüttet werden. Ein düsterer Hochzeitgast kann eintreten, den niemand gebeten hat, und den doch keiner den Mut hat fortzuweisen. Er sagt der Braut ein Wort ins Ohr, und sie erbleicht. Er gibt dem Bräutigam einen leisen Wink, und dieser folgt ihm aus dem Saale, wandelt mit ihm weit hinaus in die wehende Nacht und kehrt nimmermehr heim. Gewöhnlich ist es ein früheres Liebesversprechen, weshalb plötzlich eine kalte Geisterhand die Braut und den Bräutigam trennt. Als Herr Peter von Staufenberg beim Hochzeitmahle saß und zufällig aufwärts schaute, er­ blickte er einen kleinen weißen Fuß, der durch die Saales­ decke hcrvortrat. Er erkannte den Fuß jener Nixe, womit er früher im zärtlichsten Liebesbündnisse gestanden, und an diesem Wahrzeichen merkte er wohl, daß er durch seine Treulosigkeit das Leben verwirkt. Er schickt zum Beich­ tiger, läßt sich das Abendmahl reichen und bereitet sich zum Tode. Bon dieser Geschichte wird in deutschen Lan­ den noch viel gesagt und gesungen.

3. Nixen. Die Nixen haben die größte Ähnlichkeit mit den Elfen. Sie sind beide verlockend, anreizend und lieben den Tanz. Die Elfen tanzen auf Moorgründen, grünen Wiesen, freien Waldplätzen und am liebsten unter alten Eichen. Die Nixen tanzen bei Teichen und Flüssen; man sah sie auch wohl auf dem Wasser tanzen, den Vorabend, wenn jemand dort ertrank. Auch kommen sie oft zu den Tanzplätzen der Menschen und tanzen mit ihnen ganz wie unsereins.

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Heine.

Die weiblichen Nixen erkennt man an dem Saum ihrer weißen Kleider, der immer feucht ist. Auch wohl an dem feinen Gespinste ihrer Schleier und an der vornehmen Zierlichkeit ihres geheimnisvollen Wesens. Den männlichen Nix erkennt man daran, daß er grüne Zähne hat, die fast wie Fischgräten gebildet sind. Auch empfindet man einen innern Schauer, wenn man seine außerordentlich weiche, eiskalte Hand berührt. Gewöhnlich trägt er einen grünen Hut. Wehe dem Mädchen, das, ohne ihn zu kennen, gar zu sorglos mit ihm tanzt. Er zieht sie hinab in sein feuchtes Reich. Es liegt etwas so Geheimnisvolles in dem Treiben der Nixen. Der Mensch kann sich unter dieser Wasserdecke so viel Süßes und zugleich so viel Entsetzliches denken. Die Fische, die allein etwas davon wissen können, sind stumm. Oder schweigen sie etwa aus Klugheit? Fürchten sie grau­ same Ahndung, wenn sie die Heimlichkeiten des stillen Wasserreiches verrieten? So ein Wasserreich mit seinen wollüstigen Heimlichkeiten und verborgenen Schrecknissen mahnt an Venedig. Oder war Venedig selbst ein solches Reich, das zufällig aus der Tiefe des adriatischen Meeres zur Oberwelt heraufgetaucht mit seinen Marmorpalästen, mit seinen Staatsinquisitoren, mit seinen geheimen Ersäufungsanstalten, mit seinem bunten Maskengelächter? Wenn einst Venedig wieder in die Lagunen hinabgesunken sein mag, dann wird seine Geschichte wie ein Nixenmärchen klingen, und die Amme wird den Kindern von dem großen Wasservolk erzählen, das durch Beharrlichkeit und List sogar über das feste Land geherrscht. Das Geheimnisvolle ist der Charakter der Elfen. Beide sind vielleicht in der ursprünglichen Sage selbst nicht sehr unterschieden, und erst spätere Zeiten haben hier eine Sonderung vorgenommen. Dann gibt es auch Nixen, welche nur bis zur Hüfte menschliche Bildung tragen, unten aber in einen Fischschweif endigen, oder mit der Oberhälfte ihres Leibes als eine wunderschöne Frau und mit der

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Heine.

UnterhLlfte als eine schuppige Schlange erscheinen, wie Melusine, die Geliebte des Grafen Raimund von Poitiers. Zur Ergänzung der Sagen von Nixen und Elfen habe ich noch von den Schwanenjungfrauen zu reden. Die Sage ist hier sehr unbestimmt und mit einem altzugeheimnisvollen Dunkel umwoben. Sind sie Wassergeister? Sind sie Luft­ geister? Sind sie Zauberinnen? Manchmal kommen sic aus den Lüften als Schwäne herabgeflogen, legen ihre weiße Federhülle von sich wie ein Gewand, sind dann schöne Jungfrauen und baden sich in stillen Gewässern, über­ rascht sie dort irgend ein neugieriger Bursche, dann springen sie rasch aus dem Wasser, hüllen sich geschwind in ihre Federhaut und schwingen sich dann als Schwäne wieder empor in die Lüfte. Der vortreffliche Musäus erzählt in seinen Volksmärchen die schöne Geschichte von einem jungen Ritter, dem es gelang, eines von jenen Federgewändcrn zu stehlen; als die Jungfrauen-aus dem Bade stiegen, sich schnell in ihre Federkleider hüllten und davon flogen, blieb eine zurück, die vergebens ihr Federkleid suchte. Sic kann nicht fortfliegen, weint beträchtlich, ist wunderschön, und der schlaue Ritter heiratet sie. Sieben Jahre leben sie glücklich; aber einst in der Abwesenheit des Gemahls kramt die Frau in verborgenen Schränken und Truhen und findet dort ihr altes Federgewand; geschwind schlüpft sie hinein und fliegt davon. Die Schwanenjungfrauen halten manche für die Wal­ küren der Skandinavier. Auch von diesen haben sich be­ deutsame Spuren im Volksglauben erhalten. Sie sind weib­ liche Wesen, die mit weißen Flügeln die Luft durchschneiden, gewöhnlich am Vorabend einer Schlacht, deren Ausgang sie durch ihre geheime Entscheidung bestimmen. Sie pflegen auch den Helden auf einsamen Waldwegen zu erscheinen und ihnen den Sieg oder die Niederlage vorherzusagen. Maa liest im Prätorius: Es hat sich dermaleinst begeben, daß König Hother in Dänemark und Schweden, da er auf der Jagd in einem Hessel und User, Lesebuchs.

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Heine. Hertzberg.

Nebel von den Seinen zn weit abgeritten, zu solchen Jung­ frauen sei kommen, die haben ihn gekannt, mit Namen genennet und angesprochen. Und als er gefragt, wer sie wären, haben sie zur Antwort gegeben, sie wären die, in deren Hand der Sieg stünde im Krieg wider die Feinde, sie wären allezeit im Kriege mit und hülfen streiten, ob man sie gleich mit Augen nicht sehe; wem 7ie nun den Sieg gönneten, der schlüge und überwinde seine Feinde und behielte den Sieg und das Feld, und könnte ihm der Feind nicht schaden. Wie sie solches zu ihm geredet, sind sie bald mit ihrem Hause und Tempel vor seinen Augen verschwunden, daß der König da allein gestanden ist im weiten Felde, unter offenem Himmel. Der wesentliche Inhalt dieser Geschichte erinnert uns an die Hexen, die Shakespeare in seinem Macbeth auftreten läßt, und die in der alten Sage, welche der Dichter fast umständlich benutzt hat, weit edler als sonst wohl die Hexen geschildert werden.

Gustav Friedrich Hertzberg. 186. Aus der Geschichte Alexanders des Grobe«. 1. Alexander und sein Arzt.

Während sich die Heeresmassen des Orients den Euphrat entlang gegen Nordwesten wälzten, war Alexan­ der bald nach seinem Einmarsch in Tarsos in sehr gefähr­ licher Weise in seiner rastlosen Tätigkeit unterbrochen wor­ den. Die gewaltigen Anstrengungen der letzten Zeit, ein Bad in dem eiskalten, kristallhellen Alpenflusse Khdnos, der die Stadt Tarsos durchströmte, auch wohl der Einfluß der fieberbrütenden Luft der im Sommer und Derbst glühend heißen kilikischen Niederung, stürzten den König in eine lebensgefährliche Krankheit. Das Heer war in Ver­ zweiflung; die Mittel und mehr noch der Mut der Ärzte waren erschöpft; nur Alexanders alter treuer Leibarzt

Herbberg.

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Philippos hoffte noch, durch ein Mittel von höchst energi­ scher Wirkung den König retten zu können. Der Ruf des bewährten Arztes war groß, Alexander selbst vollkommen bereit, sich seiner Behandlung zu unterwerfen. Schon er­ wartete er den Becher, den ihm Philipp mischte: da wurde dem König ein Brief Parmenions überbracht. Der greise

Heerführer warnte seinen Herrn vor Philipp; der treu­ lose Arzt sei durch große Geschenke und Zusagen von dem Perserkönig bestochen worden, Alexander durch Gift aus dem Wege zu räumen. Der junge Held war rasch ent­ schlossen. Er kannte seit Jahren des alten Arztes treue Anhänglichkeit an seine Person; er selbst war noch nicht weder durch übermenschliches Glück noch durch schwere Er­ fahrungen innerlich verwandelt. Mit der ganzen Hoch­ herzigkeit seiner Seele, mit deck vollen Glauben an die Treue seines Dieners, ergriff er den Becher, den ihm Philipp reichte, ließ den Arzt den Brief lesen und trank dabei ohne Bedenken die Arzenei. Der treue Arzt war keinen Augenblick erschrocken oder verlegen, nur tief empört über jene schmachvolle Anschuldigung, nur um so eifriger um des Königs Pflege bemüht. Und seine treue Sorgfalt wurde belohnt; die gewagte Kur gelang vollkommen, schon nach wenigen Tagen war Alexander wieder imstande, an die Spitze seiner Krieger zu treten.

■2. Der gordische Knoten.

Auf der Akropolis von Gordion, in einem Heilig­ tum des Zeus, befand sich seit unvordenklicher Zeit ein einfacher Bauerwagen; in ganz Kleinasien galt er für den­

selben Wagen, der in dunkler Vorzeit dem Gordias ge­ hört habe. Diesem Manne, einem einfachen phrygischen Bauern, hatte, so erzählte sich das Volk, einst ein Adler, der sich auf dem Wagen niederließ, die künftige Größe seines Hauses verkündigt. Die göttliche Verkündigung hatte sich erfüllt. Gordios erlebte es noch, daß sein Sohn Midas von eben jenem Wagen herab zum Könige von 19*

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Herbberg.

Kerner.

Phrygien erhoben wurde. Der Wagen aber wurde als Weihgeschenk für den Zeus auf der Burg aufgestellt; der alte Gordios aber hatte das Joch des Wagens mit Bast von Hartriegel kunstvoll und fest an die Deichsel geschlungen. Nun ging seit Jahrhunderten bei allem Volke die Sage, einem Götterspruche zufolge sei die Herrschaft über Asien dem Sterblichen Vorbehalten, dessen Hand diesen Knoten zu lösen vermöge. Vor dieser Reliquie uralter Jahrhun­ derte also erschien jetzt Alexander. Er mußte das seltsame Gespinst lösen, und da er umsonst nach den Enden des Knotens suchte, so zog er endlich mit raschem Entschluß sein Schwert und hieb das Gewebe mitten durch. Seine Umgebung, sein Heer blickten voll Bewunderung auf ihren König. Ein schweres Gewitter, das sich in der nächsten Nacht über Gordion entlud, galt als ein Zeichen der Zu­ stimmung von feiten des Zeus, und der König konnte in seiner Freude am anderen Morgen den hilfreichen Göttern feierliche Dankopfer darbringen.

Justinus Kerner. 187. Das Märchen vom Lichte. Die Mädchen des Waldgebirgs saßen im Hirtenhause vertraulich beim Spinnrocken. Der Mond schien durch die runden Fensterscheiben und erhellte das niedere Gemach. Serpentin lag ohnweit des Glockenspiels auf einer Bank an der Wand. Das Haupt hatte er auf den Arm ge­ stützt und war in Träume versunken. Wie der Mond durch das dichte Gezweige des Nuß­ baumes vor dem Hause schien, warf er vorüberziehende Gestalten auf die Wände des Gemaches. Serpentin dachte sich in ihnen Geister, die in fliegenden Gewänden hin­ schwebten, spielende Meerfrauen, kristallhelle Blumen und Sterne. Seit seinem dritten Jahre immer in den Klüften dieser

Kemer.

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Gebirge, in der Nacht dieser Wälder lebend, hatte er noch leine freie Aussicht gesehen, noch keinen geöffneten Him­ mel, keinen Aufgang oder Niedergang der Sonne. Bücher, die er bei seinem Meister fand, hatten ihm von der größeren Welt manches erzählt, das er sich aber immer auf schwarzem Grund in den brennend hellsten Farben dachte; ja, je beschränkter und tiefer die Wild­ nis der Gebirge und Wälder war, je heller wurden die Gestalten und Flächen, die sich ihm im Geiste vor Augen stellten. Die Mädchen beim Spinnrocken erzählten nach der Reihe Märchen und Geschichten alter Zeit. Serpentin ver­ nahm keins, denn er dichtete sich jetzt gerade selbst eine wundersame Geschichte aus den vorüberschwebenden Mond­ gestalten, die ihm auch oft wie Ahnungen und Bilder aus seiner frühesten Kindheit vorkamen. Jetzt begann Sililie ihr Märchen, und die ihm liebe Stimme weckte ihn aus seinen Träumen. Sie sprach: Der Mond, der sich dort auf den schwarzen Felsen setzt, mahnt mich an das Märchen, das die Pflegemutter mir so oft erzählte, nächtlich, wenn das helle Glockenspiel im stillen Zimmer hallte. Ich nenne es „Das Märchen vom Lichte", denn es gibt mir immer die hellsten Träume. Serpentin lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, während Sililie also erzählte: Es sind wohl zweitausend Jahre oder noch länger, da hat in einem dichten Walde ein armer Hirt gelebt, der hatte sich ein brettcrnes Haus mitten im Walde erbaut, darin wohnte er mit seinem Weib und sechs Kindern; die waren alle Knaben. An dem Hause war ein Ziehbrunnen und ein Gärtlein, und wenn der Vater das Vieh hütete, so gingen die Kinder hinaus und brachten ihm zu Mittag oder zu Abend einen kühlen Trunk aus dem Brunnen oder ein Gericht aus dem Gärtlein. Dem jüngsten der Knaben riefen die Eltern

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Lerner.

nut Goldener; denn seine Haare waren wie Goldrand ob­ gleich der jüngste, so war er doch der stärkste von allen und der größte. So ost die Kinder hinausgingen, so ging Goldener mit einem Baumzweige voran, anders wollte keines gehen, denn jedes fürchtete sich, zuerst auf ein Abenteuer zu stoßen; ging aber Goldener voran, so folgten sie freudig eins hinter dem andern nach, durch das dunkelste Dickicht, und wenn auch schon der Mond über dem Gebirge stand. Eines Abends ergötzten sich die Knaben auf dem Rück­ weg vom Vater mit Spielen im Walde, und hatte sich Goldener vor allen so sehr im Spiele ereifert, daß er so hell aussah, wie das Abendrot. ,Zaßt uns zurückgehen!" sprach der ätteste, „es scheint dunkel zu werden." — „Seht da, der Mond!" sprach der zweite. Da kam es licht zwischen den dunkeln Tannen hervor, und eine Fraucngestalt wie der Mond setzte sich auf einen der moosigen Steine, spann mit einer kristallenen Spindel einen lichten Faden in die Nacht hinaus, nickte mit dem Haupte gegen Goldener und sang:

.Der weiße Fink, die goldene RoS, Die KönigSkron im MeereSschloß." Sie hätte wohl noch weiter gesungen, da brach ihr der Faden, und sie erlosch wie ein Licht. Nun war es ganz Nacht, die Kinder faßte ein Grausen, sie sprangen mit kläglichem Geschrei das eine dahin, das andere dorthin, über Felsen und Klüfte, und verlor eines das andere. Wohl viele Tage und Nächte irrte Goldener in dem dicken Wald umher, fand auch weder einen seiner Brüder, noch die Hütte seines Vaters, noch sonst die Spur eines Menschen: denn es war der Wald gar dicht verwachsen, ein Berg über den andern gestellt und eine Kluft unter die andere. Die Braunbeeren, welche überall herumrankten, stillten seinen Hunger und löschten seinen Durst, sonst wäre er gar jämmer­ lich gestorben. Endlich am dritten Tage, andere sagen gar erst am sechsten, wurde der Wald hell und immer heller, und da kam er zuletzt hinaus, auf eine schöne grüne Wiese. Da war es ihm so leicht um das Herz, und er atmtte mit »ollen

Kerner.

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Zügen die freie Luft ein. Auf derselben Wiese waren Garne ausgelegt, denn da wohnte ein Vogelsteller, der fing die Bögel, die aus dem Wald flogen, und trug sie in die Stadt zu Kaufe. „Solch ein Bursch ist mir gerade vonnöten," dachte der Vogelsteller, als er Goldener» erblickte, der auf der grünen Wiese nah an dm Gamm stand und in den weiten blauen Himmel hineinsah und sich nicht satt sehen konnte. Der Vogelsteller wollte sich einen Spaß machen, er zog seine Game, und husch! war Goldener gefangen und lag unter dem Game gar erstaunt, denn er wußte nicht, wie das geschehen war. „So fängt man die Vögel, die aus dem Walde kommen!" sprach der Vogelsteller laut lachend, „deine roten Federn sind mir eben recht. Du bist wohl ein verschlagener Fuchs; bleibe bei mir, ich lehre dich auch die Bögel fangen!" Goldmer war gleich dabei; ihm deuchte unter den Vögeln ein gar lustig Lebm, zumal er ganz die Hoffnung aufgegebm hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden. „Laß er­ proben, was du gelernt hast!" sprach der Vogelsteller nach einigen Tagen zu ihm. Goldener zog die Garne, und bei dem ersten Zuge fing er einen schneeweißen Finken. „Packe dich mit diesem weißen Finken!" schrie der Vogelsteller, „du hast es mit dem Bösen zu tun!" und so stieß er ihn gar unsanft von der Wiese, indem er den weißen Finken, den ihm Goldener gereicht hatte, unter vielen Verwünschungen mit den Füßen zertrat. Goldener konnte die Worte des Vogelstellers nicht be­ greifen; er ging getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich noch einmal vor, die Hütte seines Vaters zu suchen. Er lief Tag und Nacht über Felsmsteine und alte gefallene Baumstämme, fiel auch gar oft über die schwarzen Wurzeln, die aus dem Boden überall hervorragten. Am dritten Tage aber wurde der Wald hell und immer heller, und da kam er endlich hinaus und in einen schönen, lichten Garten, der war voll der lieblichsten Blumen, und weil Goldener so was noch nie gesehen, blieb er voll Ver­ wunderung stehen. Der Gärtner im Garten bemerkte ihn

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nicht so bald, denn Goldener stand unter den Sonnenbluuten, und seine Haare glänzten im Sonnenschein nicht anders, als so eine Blume. „Ha!" sprach der Gärtner, „solch einen Burschen hab ich gerade vonnöten," und schloß das Tor des Gartens. Goldener ließ es sich gesallen, denn ihm deuchte unter den Blumen ein gar buntes Leben, zumal er ganz die Hosfnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden. „Fort in den Wald!" sprach der Gärtner eines Morgens zu Goldener, „hol mir einen wilden Rosenstock, damit ich zahme Rosen darauf pflanze!" Goldener ging und kam mit einem Stock der schönsten goldfarbnen Rosen zurück- die waren auch nicht anders, als hätte sie der geschickteste Gold­ schmied für die Tafel eines Königs geschmiedet. „Packe dich mit diesen goldenen Rosen!" schrie der Gärtner, „du hast cs mit dem Bösen zu tun!" und so stieß er ihn gar unsanft aus dem Garten, indem er die goldenen Rosen unter vielen Verwünschungen in die Erde trat. Goldener konnte die Worte des Gärtners nicht begreifen; er ging getrost in den Wald zurück und nahm sich nochmals vor, die Hütte seines Vaters zu suchen. Er lief Tag und Nacht von Baum zu Baum, von Fels zu Fels. Am dritten Tag endlich wurde der Wald hell und immer heller, und da kam Goldener hinaus und an das blaue Meer, das lag in einer unermeßlichen Weite vor ihm. Die Sonne spiegelte sich eben in der kristallhellen Fläche, da war es wie fließendes Gold, darauf schwammen schön geschmückte Schiffe mit langen, fliegenden Wimpeln. Eine zierliche Fischerbarke stand am Ufer, in die trat Goldener und sah mit Erstaunen in die Helle hinaus. „Ein solcher Bursch ist uns gerade vonnöten," sprachen die Fischer, und husch! stießen sie vom Lande. Goldener ließ es sich ge­ fallen, denn ihm deuchte bei den Wellen ein goldenes Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, seines Vaters Hütte wiederzufinden. Die Fischer warfen ihre Netze aus und fingen nichts.

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„Laß sehen, ob du glücklicher bist!" sprach ein alter Fischer mit silbernen Haaren zu Goldener. Mit ungeschickten Händen senkte Goldener das Netz in die Tiefe, zog und fischte eine Krone von hellem Golde. „Triumph!" rief der alte Fischer und fiel Goldener zu Füßen, „ich begrüße dich als unsern König! SSor hundert Jahren versenkte der alte König, welcher keinen Erben hatte, sterbend seine Krone im Meer, und so lange, bis irgend einen Glücklichen das Schicksal bestimmt hätte, die Krone wieder aus der Tiefe zu ziehen, sollte der Thron ohne Nachfolger in Trauer gehüllt bleiben." „Heil unserem König!" riefen die Fischer und setzten Goldener die Krone auf. Die Kunde von Goldener und der wiedergcfundenen Königskrone erscholl bald von Schiff zu Schiff und über das Meer weit in das Land hinein. Da war die goldene Fläche bald mit bunten Nachen bedeckt und mit Schiffen, die mit Blumen und Laubwerk geziert waren, diese begrüßten alle mit lautem Jubel das Schiff, auf welchem König Goldener stand. Er stand, die helle Krone auf dem Haupte, am Vorderteile des Schiffes und sah ruhig der Sonne zu, wie sie im Meere erlosch.

Sililie hatte geendigt, die Uhr schlug Mitternacht, und ihre hellen Glasglocken hallten eine einfache Melodie durch das stille Gemach. Der Mond war unter den Felsen herabgesunken, und Nacht war in dem Gemache. Serpentin saß in tiefes Nachdenken versunken, und je dunkler es um ihn wurde, desto heller traten all die lichten Bilder jenes Märchens vor ihn, die helle, grüne Wiese, der Garten mit seinen lichten Blumen und das brennende Meer. Er schlich sich aus dem Hirtenhause in die Wohnung seines Meisters und legte sich zu noch helleren Träumen auf sein Lager.

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Klopp.

Onno Klopp. 188. Einfälle -er Normannen zur Zeit Karls -es Dicken. Jahr auf Jahr fielen die Normannen ein und drangen hoch hinauf in das Land. Im Jahre 881 vereinten sie sich mit den Dänen und fuhren unter ihren Königen Gottfried und Siegfried in die Mündung des Rheines. Zuerst ver­ heerten sie Utrecht, wo kein Feind sich ihnen entgegenstellte. Nur der Bischof Radbod sprach auf seiner Flucht über sie alle den Bann aus; aber er mußte zu seinem Schmerze erfahren, daß der Bann den ungläubigen Normannen durchaus gleichgültig war. Sie zogen weiter hinauf in Lothringen und Franken, plünderten Lüttich, Köln, Bonn und alle benachbarten Städte und nahmen mit sich, was zu finden war. Die kaiserliche Pfalz zu Aachen ward ein Stall für ihre Pferde, und als sie alles ausgeraubt hatten, zündeten sie Stadt und Pfalz an. Wie schnell und uner­ wartet sie ankamen, mag uns Folgendes zeigen, das zu Tongern geschah. Als in der Christnacht ein Chorknabe in der Frühmesse lesen und die Worte sagen sollte: Ge­ beut, Herr, deinen Segen! vernahm sein scharfes Ohr in der Ferne ein Geräusch, und statt zu lesen, rief er, als wüßte er selber nicht, was er täte: „Feinde, Feinde am Tor!" Der Lehrer schlug den Knaben um seiner vermeint­ lichen Unachtsamkeit willen und befahl ihm nun zu lesen; aber wiederum schrie der Knabe: „Feinde, Feinde auf der Mauer!" Wiederum ward er gestraft und ernstlich ange­ halten nun zu lesen, da rief er wieder: „Feinde, Feinde auf dem Markt!" Und plötzlich erscholl von allen Seiten das Jammergeschrei, und bald loderten die Flammen hoch auf und strahlten in die Kirche hinein. Da blieben von den Menschen wenige übrig und von den Wohnungen keine.

Kohlrausch.

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Robert Kohlrausch. 189, Deutsche Denkstätten in Italien. 1. Legnano. Legnano und Cortenuova — die größte Niederlage und der größte Sieg der Hohenstaufen in ihren Kämpfen mit der Lombardei. Kaiser Friedrich Barbarossa der über­ wundene von Legnano, Kaiser Friedrich II. der Sieger von Cortenuova. Für Italien aber bedeutet Legnano mehr als einen einzelnen Sieg. Eine erste Kraftprobe nationaler Einheit wurde an jenem Tage von den verbündeten lom­ bardischen Städten abgelegt und mit ihr die Bürgschaft für eine hoffnungsvolle Zukunft geschaffen. Legnano heißt für den Italiener gesammelte Stärke, vereinter Widerstand, Unterordnung unter den nationalen Gedanken. In dem zerrissenen, zerspaltenen, aus tausend Wunden blutenden Lande wurde jener Tag zu einer Quelle neuer Kraft. Er gab den Beweis, daß Einigkeit stark macht, und darum ist er nach Jahrhunderten bis heute unvergessen geblieben, wird als der Tag verherrlicht, an dem die „schönste, heiligste, denkwürdigste" aller italienischen Schlachten geschlagen wurde. Für uns erscheint er in trüberem Lichte, wir können aber unparteiisch den Stolz der Italiener auf ihn verstehen. Ruhen doch auch die Wurzeln unserer Macht in demselben Grunde, aus dem damals am 29. Mai des Jahres 1176 der Sieg unserer Gegner keimte. Einigkeit, Opfermut und Vaterlandsliebe hatten den Boden fruchtbar gemacht. Ihre Mutter aber war gemeinsame Not gewesen. Die Zerstörung Mailands im Jahre 1162 hatte den lombardischen Städten gezeigt, mit welcher bis zur Grausamkeit gesteigerten Ener­ gie Barbarossa sein Ziel verfolgte. Viele erstarkenden Kom­ munen, an sich eine neue Macht im politischen Leben. Italiens, hatten sich gegen den Kaiser aneinandergeschlossen. In feierlicher Zusammenkunft hatten sie den lombardischen

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Kohlrausch.

Städtebund gegründet. Statt eines Gegners fand Barba­ rossa nun deren zwei: den Papst und den Bund. Alessandria hatte ihm trotzen können, Mailand war wieder auferstanden aus Trümmern und Asche. Deutschland verweigerte nach­ drückliche und ausreichende Hilfe, Heinrich der Löwe ver­ sagte dem Kaiser seine Gefolgschaft. So fand ihn der Tag von Legnano. Zwischen dieser Stadt und dem Ticino hatten die Mailänder, zu denen die Bürger von Piacenza, Verona, Brescia, Novara, Vercelli und andern Orten gestoßen waren, ihr Lager auf­ geschlagen. Gern hätte Barbarossa die Schlacht vermieden; aber Lombarden, die auf Kundschaft ausgeschickt waren, ge­ rieten in ein Gefecht mit einer deutschen Abteilung, und ihr mußte das ganze kaiserliche Heer zu Hilfe kommen. So wurde aus dem Gefecht die Entscheidungsschlacht. Zu­ erst neigte sich der Sieg auf die Seite der Kaiserlichen, aber die von wütendem Rachedurst ganz erfüllten Mai­ länder entrissen ihn den scheinbar Triumphierenden wie­ der. Zwei furchtbare Reiterabteilungen hatten sich bei ihnen gebildet aus Männern voll Todesverachtung. Da war die Kompagnie des Carroccio, des Fahnenwagens, den sie mit ihrem Leben zu verteidigen geschworen hatte; da war die Kompagnie des Todes, die das Gelübde abgelegt hatte, zu siegen oder zu sterben. Die stürzten sich nun in rasender Wut auf den Feind, warfen die kaiserliche Standarte nieder, machten jeden Widerstand vergeblich und eroberten das kaiserliche Lager mit all seinen Schätzen. Barbarossa selbst, vom Pferde geglitten und in der Menge verschwunden, galt für gefallen. Vom Blute gefärbt, mit Leichen beladen, wälzte der Ticino seine Fluten dahin.

Die Schlacht von Legnano war eine Frühlingsschlacht. Im Mai wurde sie geschlagen und bedeutete den Früh­ ling Italiens. Mich aber führte ein heller Novembernach­ mittag zu ihrer Stätte. Aus der weiten Fläche, die ich von Mailand aus nach Nordwesten hin durchfuhr, erhoben sich einzelne Pappeln im herbstlichen Farbenglanze wie gelb-

Kohlrausch.

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leuchtende Fackeln, die für das Leichenbegängnis der Natur angezündet worden waren. An den Maulbeerbäumen, deren lange, sich kreuzende Reihen fruchtbare Rechtecke ein­ schlossen, mischte sich als ein erlöschendes Zeugnis ver­ gangenen Lebens noch erkennbares Grün in das herbstliche Gelb. Kleine Wasserflächen zu den Seiten der Bahn hiel-, ten der sterbenden Natur einen matten Spiegel vor, in dem das farbige Bild sich in wehmütig Verschwimmenden Tönen abmalte, überall war jene melancholische Buntheit, in die der Tod hineinklingt.

2. Cortenuova. Die Schlacht von Legnano war eine Frühlingsschlacht, und ich sah es im Herbste; die von Cortenuova war eine Herbstschlacht, und ich sah es im Frühling. Im zagen­ den, ersten, dem Winter noch nahe verwandten Frühling. Bon der Stadt Romano aus, die zwischen Brescia und Mailand liegt und mit dem grauen, dem Bahnhof nahen Kastell das Mittelmeer lebendig werden läßt, ging die Fahrt nach Nordosten, etwa fünf Kilometer weit. Cortenuova ist ein so stiller, kleiner, wenig bekannter Ort, daß es mich Mühe gekostet hatte, herauszufindcn, wo er überhaupt lag. Nun aber sah ich ihn vor mir. Zwischen immergrünen Bäumen ragte ein Kirchengiebel hoch, figurengeschmückt empor und blickte weithin über das flache Land. Jene Bäume zeigten so ziemlich das einzige Grün ringsum. Auf der Schattenseite lag noch an den Grabenrainen der langsam tauende Schnee, keine Blume wagte sich hervor, und nur in den Zweigen der Weiden, webte ein leiser, verheißungsvoller grüner Schein. Hinter einem weißlich­ blauen Schleier standen im Norden, halb nur erkennbar, die zur Kette gereihten Felsen der Alpen. Ihre Gipfel trugen den vollen Schneebelag des Winters; einige von den Bergen sahen aus wie große, graue Sarkophage, die mit Leichentüchern bedeckt waren. Bon solchem Hinter-

Kohlrausch.

gründe Hob sich im Frühlingslichte Cortenuova ab, wo ein­ undsechzig Jahre nach Legnano die zweite der großen Ent­ scheidungsschlachten zwischen Hohenstaufen und Lombarden geschlagen wurde. Eine furchtbare Niederlage bedeutete dieser Tag für die Lombarden. Bon vornherein war die Lage hier um­ gekehrt wie bei Legnano. Kaiser Friedrich II., Barbarossas Enkel, wünschte den entscheidenden Kampf, die Verbün­ deten suchten ihm auszuweichen. Für den Kaiser handelte sich's darum, einem unsicher» Zustand ein Ende zu machen, den sein Kanzler Peter von Binea mit den Worten gekenn­ zeichnet hat: „Unser Schifflein treibt zwischen Scylla und Charybdis, zwischen den Listen der Kardinäle und der Lom­ barden." Wenigstens nach einer Seite hin sich frei zu machen, war des Kaisers Wunsch. Dazu bot sich ihm Ge­ legenheit im November des Jahres 1237. Von bösem Derbstwetter müde, waren die Lombarden gleich den Kaiserlichen auf dem Weg in die Winterquartiere. Sie hatten in der Nähe des Flusses Oglio ein festes Lager be­ zogen und beobachteten von hier die Bewegungen der Gegner. Das falsche Gerücht vom Abmarsch der Kaiser­ lichen verlockte sie, das Lager zu verlassen, um sich dann am Morgen des 27. November plötzlich rings von Feinden umzingelt zu sehen. In der Gegend von Cortenuova stießen die beiden Heere aufeinander, von denen jedes wohl 16 bis 20000 Mann zählte. Bis zum frühen Spätherbstabend wurde unter gewaltigen Regengüssen gekämpft. Zuerst hielten die Lombarden tapfer stand und brachten sogar die Sarazenen des kaiserlichen Heeres ins Weichen. Dann aber drang der Kaiser, begleitet von seinem ritterlichen Sohn Enzio, von dem furchtbaren Ezzelino da Romano und andern Edlen, mit sieghafter Gewalt vor. Bald flohen die meisten der Feinde, nur die Reine Schar der Forti, der Starken, Schrecklichen, die den Fahnenwagen beschützten, leistete noch tolnsmütigen Wider­ stand. Auch die hereinbrechende Nacht fand sie unbesiegt.

Kohlrausch.

Lamprecht.

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Im tiefen Dunkel versuchten sie, wenigstens den Fahnen­ wagen, das heilige Feldzeichen, zu retten. Aber unbeweg­ lich stand er, tief in den aufgeweichten Boden versunken. Da zerschlugen sie den Wagen, den sie nicht mit sich führen konnten. Seine Trümmer, das goldene Kreuz von der Spitze des auf ihm errichteten Mastbaumes, das ganze Lager und sämtliches Kriegszeug fiel den Kaiserlichen in die Hände. Tausende von erschlagenen Lombarden bedeck­ ten das Schlachtfeld von Cortenuova, Tausende wurden gefangen. Den Fahnenwagen aber, die stolzeste Beute, das Palladium der besiegten Städte, ließ Kaiser Friedrich wie­ der zusammensetzen und ließ ihn bei seinem Einzug in das Winterquartier Cremona, von einem weißen Elefanten ge­ zogen, im Triumph aufführen, wobei der gefangene Podesta von Mailand, Pietro Tiepolo, mit Ketten an den Mastbaum gefesselt war. Dann ließ Friedrich den Carroccio „als Zeichen seiner Huld für die Stadt, die er ehren wollte", nach Rom bringen. Auf dem Kapitol wurde nun in einem mittleren Hofe, der das claustrum camellariae hieß, der Fahnenwagen aufgestellt, und Friedrich ließ auf das von antiken Säulen getragene Marmorgebälk des Unterbaues eine Inschrift in lateinischen Versen eingraben. Solange die Hohenstaufen herrschten, erzählte dieses Denkzeichcn dort von ihrer Macht.

Karl Lamprecht. 190. Rirvolf von Habsburg. Die dichterisch gehobene Überlieferung berichtet, daß dem Könige Rudolf auf seinem Grabesritt nach Speyer Volk aus allen Schichten, aus Städten und Dörfern ent­ gegengelaufen sei, um noch einmal sein Antlitz zu schauen. Es ist eine im höhern geschichtlichen Sinn gewiß wahrhaftige Nachricht. Rudolf war nicht bloß bei Lebzeiten be-

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Lamprecht.

liebt, well er die echt menschlichen Eigenschaften der Leut­ seligkeit besaß — seine Gestalt ist der Nation auch nach seinem Tode ein teures Vermächtnis geblieben. Er stand nicht bloß auf sich: er war, ganz abgesehen von seinen Verdiensten um das Reich, ein typischer Vertreter seiner Zeit, und darum hatte er, als Ausdruck eines Zeitalters, das Recht sortzuleben für immer. Rudolf war trotz aller Tapferkeit kein Held und trotz allen ftohen Sinns kein Heiliger mehr, wie sie unter den Heroengestalten der Ottonen und Salier gewandelt waren. Und obwohl er einen Zug jener adeligen Frohnaturen hatte, die im Sattel mehr daheim sind, als auf dem Stuhle des ratheischcnden Herrschers, die gelegentlich überfliegende Pläne entwerfen und sich wohl fühlen im fürstlichen Gepräng; so gehörte er doch nicht mehr dem stausischen Zeitalter an, das diese Naturen begünstigt hatte, und wich darum weit ab von dem ritterlichen Typus seiner letzten großen Vor­ gänger. Er war schlank und übergroß, von fleinem Kopfe, aus dessen von sorgenden Furchen durchrunzeltem Antlitz zwei kluge Augen abwartend hervorschauten, bartlos, von straffem, langwallendem, nur an den Enden gelocktem Haupthaar; er zeigte feine Finger und schmale Füße; er war der halb-großkaufmännische Rittersmann. Und so war er auch geistig zusammengesetzt; er war im Umgänge mit Angehörigen höherer Stände ein Rechner, diplomatisch wie finanziell, er war schlicht, sparsam, mäßig, im Erfolge von launigem Witz, doch selbst im Ausdrucke höchster Befriedi­ gung vorsichtig und abgewogen in seinen Empfindungen. Das hinderte ihn nicht, ein guter Kamerad auch der nied­ rigsten im Volke zu sein; ja, er liebte den Scherz des Lagers, und tat es not dreinzuhauen, so frohlockte in ihm das Blut seiner Ahnen.

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Lindenberg.

Paul Lindenberg. 191* Die Pariser Markthallen. Wenn man um die zweite, die dritte Morgenstunde von einem Turme auf das dunkel gähnende, nach allen Richtungen unermeßlich weit seine steinernen Arme aus­ breitende Häusermeer von Paris herabblicken würde, dann würde man in diesem unheimlich-finsteren, von winzigen schmalen Lichtstreifen durchzogenen Kessel eine große er­ leuchtete Fläche bemerken, um die sich immer mehr und mehr reges Leben und Treiben entfaltet, und aus welcher der Schall lärmender Arbeit empordringt — es sind die Markthallen, die verproviantiert werden für den nahen­ den Tag, die sich rüsten, die Lebensmittel aufzustapeln für die ruhende Pariser Millionenbevölkerung! Von welcher Seite wir uns auch den Hallen nähern mögen, wir geraten schon eine halbe, an manchen Stellen -gar schon eine Stunde vorher in ihren Bann; Wagen an Wagen rasselt an uns vorüber: zweirädrige Karren, flotte Gefährte, schwerfällige Plan- und Leiterwagen, kleine Esel­ fuhrwerke, und mit Hü und Hott, mit kosenden und schel­ tenden Worten, mit gellenden Pfiffen und eigentümlichem Schnalzen der Zunge treiben die Kutscher ihre oft mit klingenden Schellen behangenen Tiere an. Doch plötzlich Halt — die Wagenburg stockt lange, lange, ehe wir die Hallen erreichen, und nur im Schritt geht's von jetzt an vorwärts, denn trotz der von allen Seiten vorhandenen freien Zufuhr will es etwas heißen, Nacht für Nacht in kurzer Frist dreitausend Wagen anfahren und sich ihres Inhaltes entledigen zu lassen. Welch Gelärm, welch Getreide, welch Hin und Her und Durcheinander, welch Schreien, Rufen, Suchen, welch Auf- und Abladen, Packen, Zerren, Schleppen, welch Stampfen, Rasseln, Dröhnen, Bitten, Fluchen, Fordern, Verlangen, dazwischen das Wiehern der Pferde, das Ge»effel unb Ufer, ßefebudj 5.

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Lindenberg.

kreisch ungeölter Wagenräder, das Gackern der Hühner, Schnattern der Enten, Krähen der Hähne, plötzlich eine wilde Jagd mit Toben, Schimpfen, Lachen: ein Meister Lampe ist entsprungen und sucht mit langen Sätzen zwischen Ge­ müsehaufen und über Obstsäcke hinweg zu entwische«, bis ihn der wohlgezielte Wurf eines schweren Holzschuhes be­ täubt zu Boden streckt, hier hat sich sodann ein Pferd losgerissen und bäumt sich auf, dort nagt ein Maultier an einem Berg frischer Kohlköpfe, und zwischen dem Be­ sitzer des letzteren und dem des ersteren entsteht ein leb-haster Streit; da ist ein Wagen umgefalle«, den Weg sperrend, und zahllose emsige Hände beeilen sich, das Hin­ dernis schnell fortzuräumen, denn hier ist einer auf die Hilfe des anderen angewiesen, und trotz gegenseitiger, mit unglaublicher Zungenfertigkeit geführter Streitigkesten geht es hier meistenteils recht friedlich zu. Friedlich, aber nicht ruhig — denn der Hexensabbath schwillt mit jeder Viertelstunde an, je mehr der Zeiger der Uhr vorrückt, da um fünf Uhr alles an feinem Platz sein soll, weil dann die Auktionen beginnen. Und Hunderte von Wagen sind noch abzuladen, und neue kommen noch immer in schärfstem Tempo angerasselt, hauptsächlich Fisch­ ladungen bringend, die soeben erst auf den Bahnhöfen an­ gelangt sind; rastlos, schweißtriefend, keinen Moment der Ruhe sich gönnend, arbeiten die braven Packträger der Halle — im ganzen dreitausend — herkulische, prächtige Gestalten, mit energischen, wettergebräunten Gesichtszügen, auf dem Kopf den gewaltigen, grauweißen Filzhut, eine Sekunde mit ihren scharfen Augen die ihrer wartende Last prüfend, dann mit ihren eisernen Fäusten zufassend und sie mit einem Ruck auf die Schulter oder den Rücken werfend und an ihren Bestimmungsort bringend, wo die Inspekteure und Kommissionäre eifrig tätig sind, die Waren zu registrie­ ren und zu bezeichnen. Und, was man nicht für möglich gehalten, geschieht: die Wagenburg vermindert sich zusehends, und die Straßen

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der Hallen werden von Minute zu Minute freier; es war aber auch die höchste Zeit, denn ein neuer Strom ergießt sich in die Pavillons: hunderte und aberhunderte von Frauen, meist recht wohlgenährter Gestalt, jede von ihnen eine brennende Laterne in der Hand haltend und sich unter­ einander laut grüßend — ein Schwall von ,bon jour’a“, von »madame’a* und ,mademoiaelle’ae, , Comment 9a va’s?“ und .bien’a*, und dazwischen Klagen über das böse Wetter, die frühe Zett, die schlechten Geschäfte, ob­ wohl sie nicht so aussehen, diese braven Frauen mü ihren runden, fettglänzenden Gesichtern, als ob sie Grund zum Jammern hätten, sie, in deren um den Leib geschnallten Geldkatzen die hübschen, silbernen Fünffrankenstücke hell klimpern, sie, die Aristokratinnen der Hallen, in denen sie ihren festen Standplatz haben. Halb mttleidig, halb spöttisch sehen sie auf die Proletarierinnen der Hallen herab, die gleichzeitig mit ihnen erscheinen: alte Mütterchen, erbärm­ lich gekleidet, einen zusammenklappbaren kleinen Holz­ schemel oder auch nur eine einfach gezimmerte Fußbank unter dem Arm, immer wieder ängstlich nach der Tasche fühlend, ob auch noch die wenigen Geldstücke darin sind, und sich in Hast zu dem Beamten drängend, der, in der einen Hand den zwei, drei Meter großen Plan der Hallen haltend, für diesen Tag die „fliegenden", also nicht festen Plätze verteilt, mit der anderen die wenigen Sousstücke dafür in Empfang nehmend, von denen die Ärmsten einen guten Zinsertrag erhoffen. Neben den Verkäufern stellen sich aber auch bereits Käufer ein, welche auf den Einkauf im ganzen angewiesen sind: im Gefühl ihrer Würde nahen langsam die Küchen­ chefs der großen Hotels, zu ihnen gesellen sich die Vertreter oder auch Besitzer der Restaurants, unter der Führung von Unteroffizieren finden sich kleinere Soldatentrupps ein, einen Handkarren hinter sich ziehend, in ihren leinenen Anstaltsfleidungen erscheinen die dienenden Geister der Krankenhäuser, und dazwischen mischen sich sparsame Epi-

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ciersfrauen, die für einen umfangreichen Haushalt zu sorgen haben, Privat-Kommissionäre, die für auswärtige Besteller kaufen wollen, dann die Besitzer und Besitzerinnen der kleinen Obst- und Gemüseläden in der «Stobt, Kauf­ leute und Händler, Pensionatsinhaberinnen und Cafetiers, auch manche Privatfrauen, die sich gleich für längere Zeit verproviantieren wollen. In größeren, in kleineren Gruppen stehen alle zusammen, drängen, stoßen und schieben sich in den Gängen, plaudern und erzählen, bis sie plötzlich wie aufgeschrecktes Wild auseinanderstieben, denn dröhnend läßt eine Glocke ihre eherne Zunge erschallen: fünf Uhr ist's, die Auktionen beginnen! In schwarze Knäuel zusammengeballt stehen die Kauf­ lustigen in den einzelnen Pavillons vor den Wagenladungen der im Engros zur Versteigerung gelangenden Lebensmittel, hinter denen der Kommissionär, neben ihm ein Schreiber, seinen Platz hat, unaufhörlich den Hammer schwingend und unaufhörlich Zahlenreihen rufend, mit einer Geschwindig­ keit, einem Verschlucken vieler Silben, einem Andeuten nur der Zehner und Hunderter, daß der Nichteingeweihte kaum die Hälfte versteht. Aber sie sind eingeweiht, die Männer und Frauen, die hier in dichten Gliedern harren und mit dem einen Auge die Ware prüfen, mit dem anderen am Mund des Auktionators hängen, und wie sie ihn, so ver­ steht er sie, und ein Wimpernzucken, ein Kopstricken, ein Fingerzeichen genügt ihm zu wissen, daß der Betreffende mehr bietet, als sein Vorgänger, und die Zahlen schnarren in die Höhe, bis eine kaum sekundenlange Pause eintritt und der Hammer sofort niederfällt. So geht's stunden­ lang: hier werden ganze Fleisch-, dort Gemüse-, da Obst­ ladungen versteigert, Tonnen mit Austern und Bottiche mit Fischer; kommen an die Reche, die Butterfässer werden abgelöst von Riesenkisten mit Käse, auf die Blumen folgen die Weintrauben, Käfige mit Hunderten von Tauben machen langen Stangen Platz, an denen Dutzende von Hasen oder Kaninchen hängen, aufeinander getürmt liegen hier tote

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Rehe und da Berge von Körben mit kribbelnden und wibbelnden Hummern und Krebsen, vorsichtig werden Fässer mit Eiern herangerollt und rücksichtslos ganze Bündel mit Schinken und Würsten herübergeworfen — ein tobendes, brausendes, zuweilen ein wenig nachlassendes, dann wieder desto mehr anschwellendes Gewirr erfüllt die diesen Auktionen eingeräumten Hallen bis in ihre entlegensten Winkel und höchsten Eisenwölbungen, in denen die Gasflammen allmäh­ lich erloschen sind, denn der Tag ist längst hereingebrochen, und die Sonne flimmert über die Pavillons dahin, in welche mehr und mehr die Menschenwogen eindringen. Das ist die Stunde, wo ost das Auktionsfieber seinen höchsten Grad erreicht, denn um acht Uhr des Sommers und um neun Uhr des Winters müssen die Versteigerungen beendet sein, und was übrig bleibt, wird bis zum folgen­ den Tage zurückgelegt, wodurch es oft unscheinbar oder gar verdorben wird, und in Hast und Eile gehen daher die Reste fort; um diese Zeit tritt das größere Publikum an die Stelle der Marktfrauen, welche längst ihre Plätze ein­ genommen haben, sowie der berufsmäßigen Händler, und kann sich häufig für einen lächerlichen Preis mit Gemüse, mit Fischen, mit Fleisch versorgen, auf Tage, ja Wochen hinaus, für wenige Franken oder gar nur Sous Dutzende von Litern Kohl, Salat, Rüben, Kartoffeln erhaltend und das Fleisch dazu nicht weniger billig erlangend. Neue Käufer drängen und schieben sich heran — zu spät, zu spät, hell läutet die. Glocke, diese Uhr der Hallen, matt sinkt der Arm des Auktionators herab, müde räumen die Packträger die Überbleibsel in die Keller, die letzten Käufer zerstreuen sich mit ihrer Beute, und hinter ihnen schließen sich knarrend die hohen, eisernen Gittertüren der Hallen, die sich erst wieder nachts den neuen Zufuhren öffnen, welche für den neuen Tag den Magen von Paris zu füllen gedenken.

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Theodor Lindner. 192. Aus dem deutsche« Mittelalter. 1. Charakter der Germanen.

Tacitus erkannte, wie seltsame Widersprüche der ger­ manische Charakter in sich vereinte. Selbst im Kampfe war das bemerkbar. Dem wuchtigen Ansturm, der nicht zum sofortigen Siege führte, folgte Ermattung, selbst Zag­ heit; es galt nicht für unehrenhaft sich zurückzuziehen, wenn es noch möglich war, obgleich dann häufig ein neuer An­ griff unternommen wurde. Ein bezwungenes Volk unter­ warf sich nicht selten mit dumpfer Ergebung und Ent­ sagung, um dann plötzlich wie ein Vulkan nach seiner Ruhepause wieder loszubrechen. Die gewaltigen Leiber eigneten sich mehr zu einer plötzlichen Kraftleistung als zur Ausdauer. Daher wurde nach der kriegerischen An­ spannung die Ruhe daheim geliebt, die nicht bloßer Träg­ heit, sondern dem Bedürfnis nach Erholung entsprang. Wohin man auch blickt, überall treten bei -en Ger­ manen solche Gegensätze hervor. Die Frau stand ganz unter der Hand, der Mundschaft des Mannes, der sie sogar mit den Kindern im Falle der Not verkaufen durfte. Dennoch war die Frau die vollberechtigte Mutter der Kinder, die Walterin im Hauswesen, die Genossin des Mannes. Der Germane fühlte die besondere Veranlagung des Weibes heraus und wußte sie zu ehren; und wenn er ihm, wie Tacitus sagt, „etwas Heiliges und Borschauendes" zu­ schrieb, so ist darunter nicht allein die Gabe des Blickes in die Zukunft zu verstehen; auch die gemütvolle Zuneigung des Mannes zur trauten Gefährtin, die Zuversicht auf ihre Hingabe und ihren klugen Rat dürfen wir in dieser Schilderung erkennen. Die Frau vermochte verschiedene Sei­ ten zu entfalten, die Krimhildenatur, zärtlich und fürchter­ lich, lag in allen. Die Mutter und Gattin zog auch ge­ treulich mit hinaus in die Ferne, und wie sie sorglich die

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Wunden zu verbinden wußte, verstand sie in der Ver­ zweiflung auch solche zu schlagen. Oft genug erprobten die Feinde, wie die germanischen Frauen nicht allein zum Minnespiel, sondern auch mit den Männern ebenbürtiger Kraft zum Kampfe fähig waren. Die alten Mädchennamen zeugen deutlich von diesen ganz entgegengesetzten Eigen­ schaften, die man ihren Trägerinnen zutraute. Ähnlich war das Verhältnis zu den Unfreien und Sklaven. Der Herr ließ sich vom Zorn hinreißen, den Leibeigenen zu erschlagen, den er sonst wie ein Glied der Familie behandelte. Einer der größten Fehler der Germanen war un­ zweifelhaft ihre unerlöschliche Trunksucht, der sie auch unter heißen Himmelsstrichen nicht entsagten; aber ihre besseren Eigenschaften, ihre Leibes- und Geisteskräfte versanken nicht in den Tiefen des Bechers. Fortdauernde kriegerische Beschäftigung macht roh und unbarmherzig. Gleichwohl wurde der Germane nicht blut­ gierig, nicht Totschläger aus Lust am Morden. So sehr die kriegerischen Neigungen auch den Götterglauben durch­ drangen, blieb ihm ein tiefsinniger, poetischer Zug. Emp­ findung für die Natur, für ihr geheimnisvolles Walten und Wirken haben unsere Vorväter immer gehabt. Ihr Sein stand dem Übergewaltigen, dem Höheren offen. Der Germane schlug die Römer nieder, plünderte ihre Städte, verrichtete ihre Kultur und empfand dennoch, daß sie ihm geistig überlegen waren. Mit ehrfurchtsvoller Scheu blickte er zu Rom auf, dessen Heere er vor sich niederwarf, beugte er sich vor dem Wissen und Können der Feinde; germanische Sieger haben wohl daran gedacht, dem römischen Reiche ihre Dienste zu weihen, aber keiner wagte sich den Kaiser­ titel anzumaßen. Unbegrenzt in die Weite schweiften die germanischen Völker, die meisten waren jahrhundertelang in Bewegung; trotzdem bezeichneten sie den Sitz in der Fremde als „Elend".

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2. Karl der Große. Indem der Frankenkönig Karl seinen Beschluß, nicht eher die Waffen niederzulegen, als bis er die Sachsen zum Christentume bekehrt oder vernichtet hätte, in langwähren­ den Kriegen zur Ausführung brachte, vollzog er ein Werk von unendlicher Bedeutung. Denn die dauernde Bereini­ gung der Franken, der Sachsen und der Friesen, der Thü­ ringer und der Hessen, der Alemannen und der Bayern schuf ein Bolksgebilde, dessen Glieder allmählich über die gewaltsame Zusammenschweißung hinaus zu innerlicher Ein­ heit gediehen. Die bisher germanische Einzelstämme ge­ wesen waren, wuchsen zu Deutschen zusammen. Bis dahin waren die Sachsen mit den Franken erblich verfeindet, mit den Bayern und Schwaben außer Gemeinschaft. Dagegen standen sie in engen Beziehungen zu dem Nachbarvolke, bett Dänen, deren heidnische Götterwelt auch die ihre war, und je länger diese Verbindung dauerte, desto schwerer wurde eine Verschmelzung mit den südlichen Stämmen. Karl machte die Trennung Sachsens von den Nordgermanen zu einer endgültigen. Noch eine andre Gefahr hat er für alle Zukunft abgewehrt. Über Elbe und Saale hinaus hatten sich bereits die wendisch-slavischen Völkerschaften vor­ gedrängt. Wie leicht konnten im Laufe der Zeiten diese fremden Massen, hinter denen starker Nachschub stand, die norddeutsche Tiefebene den Sachsen abringen oder mit ihnen eine Mischung eingehen, in der die Reinheit des sächsischen Volkstums verwischt wurde. Doch auch die siegreichen Franken hatten bisher vor einem ähnlichen Schicksal ge­ standen. Schon waren die weiter nach Gallien vorgeschobenen Bestandteile ihres Volkes romanisch geworden. Verstärkte die germanisch gebliebenen Franken nicht ein gleichartiger Volksstoff, so mußten sie auf die Dauer der gleichen Um­ wandlung unterliegen. Karl hatte diese Tragweite seiner Handlungen nicht übersehen, nicht vorher erwägen können; sein Zweck war

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nur, zur Beruhigung der Grenzen sein Reich zu erweitern und den christlichen Glauben zu verbreiten. Dadurch be­ stimmte er den Deutschen, noch ehe sie zu einem Volke geworden waren, zum guten Teil Form und Inhalt ihrer dereinstigen Entwickelung. Die fränkische Verfassung wurde überall eingeführt. Doch ließ er den Stämmen ihre Volks­ rechte, für deren Aufzeichnung, soweit sie noch nicht ge­ schehen war, er Sorge trug. Der Staat sollte nicht allein auf die Waffen, sondern auch auf Bildung und Religion gegründet sein. Der Herrscher betrachtete das Christentum als bestes Erziehungs­ mittel seiner Völker und legte vornehmlichen Wert auf dessen praktische Seite zur Veredelung der Sitten. Indem er die kirchlichen Einrichtungen mit seiner weltlichen Macht schirmte und seinem Staate einen kirchlichen Zweck gab, bahnte er das Verhältnis an, welches nachher dem Mittel­ alter seinen eigentlichen Charakter verlieh: die Verquickung von Weltlichem und Geistlichem, die Vermischung von Staat und Kirche. 3. Deutscher Handel im Mittelalter.

Die hauptsächlichste Mutter des Reichtums war der Handel. Er umfaßte die ganze bekannte Welt. Der Kauf­ mann bezog aus dem Auslande Waren, die er teils in Deutschland selbst absetzte, teils wieder, namentlich nach Norden und Osten, ausführte. Ebenso holte er für die heimische Gewerbetätigkeit Rohstoffe, die er in verarbeiteter Gestalt nach innen und nach außen vertrieb. Einfuhr, Durchfuhr und Ausfuhr gaben gleichmäßig der Betrieb­ samkeit Nahrung. Süddeutschland pflegte durch die Ber­ mittelung Italiens die Beziehungen zu dem Oriente, die Hansa empfing von ihm die fremden Artikel zum Vertrieb nach Skandinavien und Rußland. Mit Italien wurden Gewürze, Ol, Südfrüchte, Weine, Metall- und Glaswaren, auch Baumwolle gegen Leinwand, Wollgewebe und Leder­ waren umgesetzt. Der Norden vertrieb allerhand Dinge,

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wie Pelzwerke, Gewebe, Waffen, Erzgußsachen, Holzschnitze­ reien und verschiffte auch Getreide und besonders Bier. Eine sehr wichtige Erwerbsquelle bot ihm die Seefischerei, die die unentbehrliche Fastenspeise, den Salz- und Trocken­ fisch und den Hering lieferte. Bis in das sechzehnte Jahrhundert stieg der Handel beständig an Umfang; die Entdeckung der neuen Seewege übte erst später ihre verderbliche Wirkung. Der gewaltige Umsatz erforderte großen Metallvvrrat, und der deutsche Bergbau war im Übermaß beschäftigt ihn zu mehren. Da er hauptsächlich Silber ausbeutete, sank dieses in früheren Zeiten bevorzugte Metall stark herunter, so daß das Geld bedeutend an Wert verlor, die Renten fielen und die Preise stiegen. Eine nicht zu beseitigende schwere Schädigung, namentlich des kleinen Verkehrs, brachte die Zerrüttung des Münzwesens, da das Prägerecht schon seit längsten Zeiten von den Königen an Fürsten und Städte ver­ gabt war. Zahllose Münzstätten wetteiferten, Geschäfte zu machen durch Verringerung des Gehalts und durch Ver­ rufung der eben erst geprägten Stücke, um an dem Schlag­ schatz zu verdienen. Wie der Münzwert sank, zeigt am deutlichsten, daß alle späteren Namen, wie Gulden, Pfennig, Heller, Kreuzer ursprünglich Geldarten von sehr viel höherem Gehalt bezeichneten. Daher begann man im vier­ zehnten Jahrhundert am Rhein Goldmünzen, die sogenannten Gulden zu prägen, um eine festere Währung zu haben; gleichzeitig kamen die schweren Silbermünzen auf. Das Geldwesen von Reichs wegen zu ordnen wurde immer wieder versucht und mißglückte stets. Trotz der gewaltigen Schwierigkeiten und vielen Ge­ fahren, denen er ausgesetzt war, warf der Handel reihen, manchmal ungeheueren Gewinn ab. Manche Firmen, wie die sprichwörtlichen Fugger, wurden Geldwelthäuser ersten

Ranges.

Sinnig.

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Franz Sinnig. ISS. Armin. Der große Kaiser Augustus wollte auch das Innere Deutschlands seinem Reiche untertänig machen und ließ deshalb den Statthaller Quintiliüs Barns mit 50000 Mann über den Rhein gehen und, an der Lippe hinauf­ ziehend, mitten im deutschen Lande seinen Aufenthalt neh­ men. Wie der Prätor am Markte zu Rom, so hielt Varus in seinem Standlager an der Lippe Gerichtssitzungen, wo die Klagen und Anliegen deutscher Männer untereinander oder mit den Fremdlingen nicht nach dem altgermanischen Gewohnheitsrechte, sondern von römischen Advokaten und Richtern in lateinischer Sprache verhandelt wurden, worauf römische Gcrichtsdiener die Urteile mit unerbittlicher Strenge vollzogen. Also sah der Deutsche, was er nie gesehen hatte, den blutigen Rücken freier Männer, er sah ihn wund­ gegeißelt durch römische Liktoren. Außerdem wurde er durch Steuern und Lieferungen bedrückt und mußte Fron­ dienste tun, während das Schwert, vormals des Mannes Schmuck und Stolz, in der Scheide rostete. Mehr und mehr ergrimmten die freien Männer über das Joch der Knechtschaft und schwuren, der Schande ein Ende zu machen. Und sie waren klug, daß sie sich mit­ einander vertrugen und dachten alle wie einer. Sie wähl­ ten sich heimlich einen Anführer. Ein Jüngling war's voll Feuermut und Kraft: Armin, Sohn des Cheruskerfürsten Sigimer; er war von schnellem Verstände, gewandten Geistes, ein Jüngling, aus dessen Antlitz und Augen geistiges Feuer leuchtete. Bisher war er der stete Begleiter der Römer gewesen und hatte sich neben dem Bürgerrechte den Rang eines römischen Ritters erworben. Dieser junge Held war es, der sein Vaterland errettete. Im Spätsommer des Jahres 9 nach Christi Geburt wurde dem Varus die Nachricht gebracht, daß ein entfern-

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Sinnig.

ter Volksstamm — die Sigambrer — sich gegen Rom er­ hoben habe. Arglos brach Darus mit seinem ganzen Deere auf, um den Aufstand zu dämpfen, begleitet von den deut­ schen Fürsten mit ihren Hilfstruppen. Der Heerzug ging, auf den Rat des Armin, der heimlich auch jenen Aufstand angezettelt hatte, mitten durch den Teutoburgerwald. An­ haltender und heftiger Regen, verbunden mit Sturm und Ungewitter, machte den Marsch mühsam und beschwerlich. Das war es, was die Deutschen erwartet hatten. Kaum war das Heer der Römer in die wegelosen Schluchten und Sümpfe des Waldes eingedrungen, da erscholl der Ruf zu Kampf und Rache von Ort zu Ort, von Gau zu Gau; die germanischen Hilfstruppen waren plötzlich im Dickicht verschwunden, der Landsturm brauste heran — und auf einmal hörten die Römer von allen Seiten den wilden Kriegsgesang der Deutschen. Erschrocken standen sie still. Aber plötzlich stürmten jene mit ihren großen Schilden und Lanzen von ihren Bergen herab und fielen über die römi­ schen Krieger her wie Löwen, so daß das Blut in Strömen floß. Drei Tage dauerte der fürchterliche Kampf. Am Abende des dritten Tages war das ganze römische Heer so gut wie vernichtet. Varus selbst stürzte sich, als er alles verloren sah, in sein Schwert. Furchtbar war die Rache, welche die Deutschen an den Frevlern gegen ihre Frei­ heit nahmen. Die Köpfe der Gefallenen wurden als Sieges­ zeichen an die Baumstämme um das Schlachtfeld geheftet; viele Gefangenen bluteten auf den Altären in den heiligen Hainen; Sachwalter und Richter starben unter Martern; sie rissen ihnen die Zunge aus mit dem höhnenden Zmuf: „Nun höre auf zu zischen, Natter!" Andere beraubte« sie der Augen, andern hieben sie die Hände ab. Mancher Römer aus ritterlichem oder senatorischem Geschlechte alterte bei einem deutschen Bauern als Knecht oder Herdenhüter. Das war ein wilder Kampf, ein entsetzliches Bluttad! Aber merke es dir! Das waren die herrlichen Tage, wo dein deutsches Vaterland gerettet wurde von seinen furcht-

Sinnig.

SönS.

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baren römischen Feinden. Im Totengrunde auf dem Römer­ felde liegen sie begraben. Herman — Arminius ist der große Held, der das Werk vollbracht hat, daß deutsches Land und deutsche Männer nicht römisch geworden sind!

Hermann Löns. 194. Haserrdämrnerirrrg. Jans Mümmelmann, der alte Heidhase, lag in seinem Lager auf dem blanken Heidberg, ließ sich die Mittags­ sonne auf den Balg scheinen und dachte nach über Leben und Tod. Sein Leben war Mühe und Angst gewesen. Aber dennoch fand er, daß sein Leben köstlich gewesen war. Auf grünen Feldern hatte sich seine Jugendzeit abgespielt; seine Jünglingsjahre hatte er im Walde verlebt; die Jahre seiner männlichen Reife verbrachte er in der Heide, nachdem ihn Feld und Wald Menschenhaß gelehrt hatten, und nur, wenn sein Herz sich nach Zärtlichkeiten sehnte, verließ er die Ode. Da lebte er, ein einsamer Weltweiser. Die Äsung war mager, aber es stand nicht, wie beim Klee im Felde und bei der üppigen Wiese im Walde, die Angst bleichwangig und schlotterbeinig immer neben ihm; in Ruhe und Frie­ den konnte er da leben/ sorglos im seinen Flugsande des Heidhügels die rheumatischen Glieder baden und dem Ge­ sänge der Heidelerchen lauschen. Mümmelmann fand heute aber doch, daß er etwas Abwechslung in seine Nahrung bringen müsse. Keine Philo­ sophie der Welt tröstete den Magen, und keine Weltweis­ heit beseitigte die Appetitlosigkeit. Beim Dorfe gab es jetzt schon junge Roggensaat. Auch brauner Kohl war da, ferner Apfelbaumrinde, etwas ganz Feines, und der Klee war schon hoch genug, an den Gräben wuchs allerlei winter­ hartes Kraut; Mümmelmann lief das Wasser hinter den gelben Zähnen zusammen. Allerdings, so ohne Gefahr ging ein Diner beim Dorfe

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nie ab. Fast immer stöberten Wasser oder Lord oder Widu oder Hektor oder ein anderer dieser scheußlichen Köter im Felde herum. Der Jagdaufseher hatte im Felde überall Tellereisen und Schwanenhälse liegen, und der Jagdpächter hielt sich immer in der Nähe des Dorfes mit seinem Schieß­ knüppel auf. Er war ein bißchen sehr dick und hatte eine trockene Leber, so daß er sich nicht gerne weit vom Kruge entfernte. Aber schließlich: was kann das schlechte Leben helfen? dachte Mümmelmann; einen Tod sterben wir Hasen ja doch nur, und besser ist es, im Dampfe dem guten Schützen sein Kompliment zu machen, als vor Altersschwäche den Schnäbeln der Krähen zum Opfer zu fallen. Und so machte er sorgfältig Toilette und rückte erst langsam, dann schneller gen Knubbendorf, wo er bei tiefer Dämmerung ankam. Es war eine gemütliche Nacht. Der Schnee war weich und trocken, die Luft windstill, die Kälte nicht zu stark und der Himmel bedeckt, so daß Jans und die anderen keine Angst zu haben brauchten vor dem alten Krischan, dem Armenhäusler und Besenbinder, der mit seinem ver­ rosteten Vorderlader bei hellen Nächten hinter dem Mist­ haufen auf die Hasen lauerte. Es gab ein langes Begrüßen und Erzählen, und so kam es, daß Jans völlig die Zeit verpaßte und erst lange nach dem ersten Hahnenschrei, als der Tag schon mit rotverschlafenem Gesicht über die Geest stieg, nach seiner Heide zurückhoppelte in Begleitung eines jungen strammen Moorhasen, Ludjen Flinkfoot, seines int letzten Herbst bei dem großen Kesseltreiben im Feuer ge­ bliebenen Freundes Sohn. Den hatte er bewogen, mitzu­ kommen; er wollte ihn erziehen und als Erben einsetzen. Als sie aber an den Heiderand kamen, da stutzten sie und machten Männchen, denn vor ihnen zappelten im Frühwinde lauter bunte Lappen. Voller Angst liefen sie zurück und scharrten sich, nachdem sie erst viele Haken ge­ schlagen und Wiedergänge gemacht hatten, in einem mächti­ gen Brombeerbusch bei den Fischteichen ihr Lager.

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Inzwischen war im Dorfe großes Leben. Dreißig Män­ ner waren gekommen, bis an die Zähne bewaffnet, schreck­ lich anznsehen in ihrem Kriegsschmuck. Sie waren in den Krug gegangen, aßen und tranken, was es gab, machten sich mit Pfeifen und Zigarren und auch sonst blauen Dunst vor, prügelten ihre Hunde, die sich bissen, kniffen alle weib­ lichen Wesen unter fünfzig Jahren die Arme braun und blau, erzählten sich mehr oder minder alte Witze und zogen dann los, die reine Winterluft mit dem Rauch ihrer Zigarren und die Morgenstille mit dem Geknarr ihrer Stim­ men erfüllend und sich freuend über den klaren, windstillen, schönen Tag, der so recht geeignet sei für den Hasenmassen­ mord. Dicht hinter dem Dorfe wurde der erste Kessel ge­ macht. Ein Waldhorn erklang, Schützen und Treiber setzten sich nach dem Mittelpunkt in Bewegung, und das Kriegs­ geschrei der rauhen Kehlen dröhnte durch den Wintermorgen. Da wurden überall graue Flecken im weißen Schnee sicht­ bar, die sich zu Pfählen verlängerten, unschlüssig hin und her hoppelten, wie besessen dahinrasten, und dann knallte es hier, blitzte es da, rauchte es dort, und ein Hase nach dem andern rückte zusammen, wurde kürzer, immer kürzer, blieb schließlich liegen, sprang noch einmal in die Höhe und lag dann ganz still. Andere schlugen im Dampf ein Rad, daß der Schnee stäubte, wieder andere liefen wie gesund weiter und fielen plötzlich um. Und immer enger wurde der Kessel, immer zerfurchter seine Schneedecke von den Spuren der Hasen und den eingeschlagenen Schroten, und hellrote Flecke und Streifen, sowie die dunkeln Patro­ nenpfropfen unterbrachen seine Farblosigkeit. Ein Leiterwagen nahm die toten Hasen auf, und es ging zum zweiten Kessel. Und als der abgetrieben war, kam der dritte an die Reihe, und dann ging es zu dem Jagdhause vor dem Moore, wo der Wirt mit seinen Töch­ tern Bohnensuppe auffüllte und Glühwein einschenkte uni> Grog. Da gab es ein großes Erzählen hin und her, so-

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daß Herr Markwart, der Häher, und Frau Eitel, die Elfster, entsetzt abstoben und es weit und breit herumbrachten, daß die Jäger wieder einmal da wären und schon hundert­ undsiebzig Hasen gemordet hätten. Mümmelmann hörte aufmerksam zu, als Frau Eitel das Herrn Luthals, dem Würger, erzählte, und er dmchte sich: „Wenn sie schon so viel haben, dann werden die Schin­ der wohl nicht mehr hierher kommen," und er. flüsterte Ludjen Flinkfoot zu: „Bleib immer hübsch still liegen, mein Junge, mag kommen, was da kommen will; wer sich wicht zeigt, wird nicht gesehen, und wer nicht gesehen wird, den trifft kein Blei." Es kam aber anders. -Wieder klang das Horn. „Schwerenot noch einmal," knurrte Jans unter seinem be­ reiften Bart her, „noch ein Kessel? Die Sonne geht ja schon in ihr Lager. Und ich glaube, die Bande kommt auf uns zu." Ein furchtbares Gebrüll erhob sich von allen Seiten, der Boden dröhnte, Schüsse knallten. Ludjen wollte weg, aber der Alte rief: „Bliw liggen, du Döskopp," denn wenn er erregt wurde, sprach er Platt, was er sich sonst als unfein abgewöhnt hatte, und dann setzte er hinzu: „Man kann nicht wissen, was passiert. Ich habe so eine Ahnung, als ob ich die Sonne nicht mehr aufgehen sehen soll. Und nun höre zu: falle ich, und du bleibst gesund, so rückst du in die Heide, bis du an den Heidberg kommst, wo die großmächtigeu Steine aufeinander liegen. Da bist du das ganze Jahr sicher; da kommt niemand hin als die dämlichen Schafe und höchstens einmal Reinke Rotvoß, der alte Schleicher; der erzählt ganz gut, aber halte ihn dir drei Schritt vom Leibe. Einem Fuchs darf man erst trauen, wenn er kalt und steif ist." Näher kam das Getrampel, dichter folgten die Schüsse, hin und her flitzten die Hasen, kobolzten von den Dämmen auf das Eis der Teiche und blieben da liegen. Auf einmal schwoll das Gebrüll noch weiter an: „De Boß, de Boß!" riefen die Treiber, und bontnt, domm, domm, domm krachte

eS. Mümmelmann hörte etwas in den Brombeeren knistern, etwas Rotes sauste über ihn fort, dann etwas Schwarz­ weißes, und dicht vor ihm schlug sich ein großer Kund den Fuchs, um de» Kopf.

„Meinen Segen hat er/ dachte der alte Hase bei aller Angst; doch im nächsten Augenblick fuhr er aus seinem Lager, denn ein zweiter Hund kam an und wollte ihn gerade fassen: „Da löppt Noch een!" schrien die Treiber» Aber Jans war nicht umsonst bei seiner Mutter, der er­ fahrenen Gelle Mümmelmann, in die Lehre gegangen. Er schlug einen Haken über den anderen und hielt sich immer dicht vor dem Hunde, so daß kein Schütze zu schießen wagte. Auf einmal aber krachte ein Schuß, die Schrote schlugen pfeifend auf das Eis, der Hund jaulte aus, und Wütende Stimmen erhoben sich. „Junger Mann, Sie haben meinen Hund totgeschossen!" brüllte ein dicker Herr.

„Ja, was kann ich dafür?" ries der dünne Student, „ich habe ihn nicht gesehen; was hat der Hund auch im Kessel herumzubiestern?" Und der Dicke schrie wieder: „Er sollte den Fuchs apportieren. Der Hund hat mich dreihundert Mark ge­ kostet." Und der Student rief: „Dreihundert Mark? Na, der Ihnen das abgeknöpft hat, der wird schön gelacht haben. Ich habe den Hund ja arbeiten sehen; hühnerrein war er, straßenrein auch, und Hasen hetzte er famos. Und wenn er auch nicht eingetragen war, ein ausgetragenes Biest war er doch, und die Rassenmerkmale hatte er innerlich, wie die Ziegen den Speck. Dreihundert Mark? Lächerlich, Sie meinen wohl Pfennige?" So ging es weiter, und keiner achtete auf Mümmel­ mann. Der machte, daß er fort kam, denn er haßte Zank und Streit. Ihm tat nur Lndjen leid, um den Jungen Hatte er bange. Es dämmerte schon, als er an den HeidHessel und User, Lesebuchs.

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rand kam, und gerade dachte er, er wollte sich um die Lappen nicht kümmern, da krachte es, und wie zwanzig Peitschenhiebe auf einmal fühlte er es in Rücken und Keu­ len. Das war der Jagdaufseher gewesen, der die Lappen aufrollen wollte. Jans fühlte, daß es mit ihm aus war. Wer er kam doch »och vom Fleck und tauchte in der Dämmerung unter. Ihm war sehr schwach zu mute, obgleich er gar keine Schmerzen hatte; nur das Laufen wurde ihm schwer und das Atmen. Er kam noch bis zu dem alten Steingrab auf dem Heidberg, und da wühlte er sich in den weichen Sand, lag ganz still und äugte nach dem Hellen Stern­ bilde, das über dem fernen Walde stand und ganz wie ein riesenhafter Hase aussah. Als der Mond über den Wald kam, da hoppelte auch Ludjen Flinkfoot heran. Er hatte, so schwer es ihm bei seiner Angst auch wurde, seines Oheims Ratschläge befolgt und war gesund davongekommen. Der gute Junge war sehr betrübt, daß er ihn totkrank fand; er rückte dicht an ihn heran und wärmte den Fiebernden. Als es vom Dorfe Mitternacht schlug, da wurden Mümmelmanns Seher groß und starr; er sah die Zu­ kunft vor sich. „Der Mensch ist auf die Erde gekommen," sprach er, „um den Bären zu töten, den Luchs und den Wolf, den Fuchs und das Wiesel, den Adler und den Habicht, den Raben und die Krähe. Alle Hasen, die in der Üppigkeit der Felder und im Wohlleben der Krautgärten die Leiber pflegen, wird er auch vernichten. Nur die Heidhasen, die stillen und genügsamen, wird er übersehen, und schließlich wird Mensch gegen Mensch sich kehren, und sie werden sich alle ermorden. Dann wird Frieden auf Erden sein. Nur die Hirsche und Rehe und die Keinen Bögel werden auf ihr leben und die Hasen, die Abkömmlinge von mir und meinem Geschlecht. Du, Ludjen, mein Schwester­ sohn, wirst den reinen Schlag fortpflanzen, und dein Ge­ schlecht wird herrschen von Aufgang bis Untergang. Der

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Luther.

Hase wird Herr der Erde sein, denn sein ist die höchste Fruchtbarkeit und das reinste Herz." Da rief der Kauz im Walde dreimal laut; „Komm mit, komm mit, komm mit zur Ruh, zur Ruh, zur Ruhuhuhu!" und Mümmelmann flüsterte: „Ich komme," seine Seher brachen. Ludjen hielt die Totenwacht bei seinem Oheim; drei Tage und drei Nächte blieb er bei ihm. Als er aber nach der vierten Nacht zurückkam zum Hünengrab, da war der Leib seines Ohm verschwunden, und Ludjen meinte, die kleinen weißen Hasen wären gekommen und hätten ihn weg­ geholt zu dem Hasen-aradiese, wo der große weiße Hase auf dem unendlichen Kleeanger sitzt. Reinke Rotvossens Vetternschaft aber wunderte sich, daß der alte dreibeinige, schwanzlose Heidfuchs, der immer so Kapperdürr war, seit einigen Tagen einen strammen Balg hatte. Er hatte seinen Freund Mümmelmann be­ stattet auf seine Art.

Martin Luther. 195. Etliche Fabel» Mops verdeutscht. 1. Vom Wolf und Lämmlein.

Ein Wolf und ein Lämmlein kamen ohngefähr beide an einen Bach zu trinken; der Wolf trank oben am Bach, das Lämmlein er südlichen Bergmauer zunächst liegen, wütet er gewöhnlich am heftigsten; denn dort brechen die warmen Luftfluten E regellosesten und gewaltigsten herein. Unruhig ziehen

Lschudi.

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die Gemsen sich auf die Nordseite des Berges oder in tiefe Felsenkessel. Kühe, Pferde, Ziegen suchen mit Mißbehagen nach frischer Luft, während der Föhn ihnen Rachen und Lunge austrocknet. Kein Vogel ist im Wald und Feld zu erblicken. Die Menschen teilen das allgemeine Unbehagen, das beengend auf Nerven und Sehnen wirkt und dem Gemüt eine lastende Bangigkeit aufdrängt. Gleichzeitig wird sorgsam das Feuer des Herdes öder Ofens gelöscht. In vielen Tälern ziehen die Feuerwachen rasch von Haus zu Haus, um sich von jenem Auslöschen zu überzeugen, da bei der Ausdörrung alles Holzwerkes durch den Wind ein einziger verwahrloster Funke großes Brandunglück stiften kann. Und doch trotzdem, daß der Föhn gefährlicher als jeder andere Wind des Gebirges ist, wird er im Früh­ ling mit Freuden begrüßt. Im ganzen Berggebiet bewirkt er enorme Schnee- und Eisschmelzungen und verändert dadurch mit einem Schlage das Bild der Landschaft. Im Grindelwaldtale schmilzt der Föhn oft in zwölf Stunden eine Schneedecke von zwei und ein viertel Fuß Dicke weg. Er ist der rechte Lenzbote und wirkt in vierundzwanzig Stunden soviel, als die Sonne in vierzehn Tagen, indem auch die alte, zähe Schneeschicht, welche die Sonne lange vergeblich beleckt, ihm nicht widersteht. Ja er ist in vielen schattigen Hochtälern geradezu die Bedingung des Früh­ lings, wie er an manchen Orten der Ebene im Herbste die Zeitigung der Traube bedingt. Würde er nicht von Zeit zu Zeit die zeugende Wärme bringen und die neu ver­ suchten Schneeansätze wegfegen, so gäbe es in manchem Hochtale keinen Sommer und kein Leben, sondern wahrschein­ lich nur stets wachsende Eisfelder. Im Uri, wo er sehr häufig und anhaltend weht, verdanken es ihm die Ein­ wohner, daß die Gletscher so wenig tief in die Bergtäler herunterreichen und die Alpen früher befahren werden können als in den meisten gleich hohen Geländen. Dabei ist der Föhn zum großen Glück der Menschen und Felder ein sehr vorsichtiger Schneeschmelzer und schützt dadurch.

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daß er durch seine Wärme eine massenhafte Verdunstung der Wasserteile unterhält, die Niederungen vor gefährlichen Überflutungen der Bergwasser. Dagegen trocknet er die Blüte des Apfelbaumes rasch aus und vertilgt die Hoff­ nung auf eine Ernte. Auch die Buche und das Heide­ korn gedeiht an Abhängen nicht, wo der Föhn häufig an­ streicht.

223. Die Hunde ans dem große« St. Bernhard. Ohne die echt christliche und aufopferungsvolle Tätig­ keit der edeln Mönche wäre der Bernhardspaß nur wenige Wochen oder Monate des Jahres gangbar. Seit dem achten Jahrhundert widmen sie sich der frommen Pflege und Ret­ tung der Reisenden; die Bewirtung derselben kostet jährlich 50000 Franken und geschieht unentgeltlich. Die festen steinernen Gebäude, in denen das Feuer des Herdes nie erlischt, können im Notfälle ein paar hundert Menschen beherbergen; ebenso ansehnlich sind die Speisevorräte des Klosters. Das Eigentümlichste ist aber der stets gehand­ habte Sicherheitsdienst, den die weltberühmten Hunde wesent­ lich unterstützen. Jeden Tag gehen zwei Knechte des Klosters über die gefährlichen Stellen des Passes, einer von der tiefsten Sennerei des Klosters hinauf ins Hospiz, ein an­ derer hinunter. Bei Unwetter oder Lawinenbrüchen wird die Zahl verdreifacht, und eine Anzahl von Geistlichen schließen sich den „Suchern" an, die von den Hunden be­ gleitet werden und mit Schaufeln, Stangen, Bahren, Son­ den und Erftischungen versehen sind. Jede verdächtige Spur wird unaufhörlich verfolgt, stets ertönen die Signale, die Hunde werden genau beobachtet. Diese sind sehr fein auf die menschliche Fährte dressiert und durchstreifen freiwillig oft Tage lang alle Wege und Schluchten des Gebirges. Finden sie einen Erstarrten, so laufen sie auf dem kürzesten Wege pfellschnell ins Kloster, bellen heftig und führen die stets bereiten Mönche dem Unglücklichen sicher zu. Treffen sie auf eine Lawine, so untersuchen sie mit der feinsten

Tschudt.

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Witterung, ob sie nicht die Spur eines Menschen entdecken, und wenn dies der Fall ist, so machen sie sich sofort daran, den Verschütteten frei zu scharren, wobei ihnen die starken Klauen und die große Körperkraft wohl zu statten kom­ men. Gelingt ihnen die Befteiung nicht, so holen sie im Hospiz Hilfe. Gewöhnlich führen sie am Hals ein Körb­ chen mit Stärkungsmüteln oder ein Fläschchen mit Wein, oft auf dem Rücken wollene Decken mit sich. Die Zahl der durch diese intelligenten Hunde Geretteten ist sehr groß und in den Annalen des Hospitiums gewissenhaft verzeich­ net. Der berühmteste Hund der Rasse war Barry, das unermüdlich tätige und treue Tier, das in seinem Leben mehr denn vierzig Menschen das Leben rettete. Sein Eifer war außerordentlich. Kündete sich auch nur von ferne Schneegestöber oder Nebel an, so hielt ihn nichts mehr im Kloster zurück. Rastlos suchend und bellend durchforschte er immer von neuem die gefahrvollsten Gegenden. Seine liebenswürdigste Tat während des zwölfjährigen Dienste­ auf dem Hospize wird folgenderweise berichtet: Er fand einst in einer eisigen Grotte ein halberstarrtes, verirrtes Kind, das schon dem zum Tode führenden Schlafe unter­ legen war. Sogleich leckte und wärmte er es mit der Zunge, bis es aufwachte; dann wußte er es durch Liebkosung zu bewegen, daß es sich auf seinen Rücken setzte und an seinem Halse sich sesthielt. So kam er mit seiner Bürde triumphierend ins Kloster. Er ist im Museum von Bern aufgestellt worden.

224. «lpenkühe. Auch dem schlechtgeschützten Vieh ist die schöne, ruhige Zeit des Alpenaufenthaltes eine überaus liebe. Man bringe nur jene große Borschelle, welche bei der Fahrt auf die Alp und bei der Rückkehr ihre weithin tönende Stimme erschallen läßt, im Frühling unter die Viehherde im Tal, so erregt dies gleich die allgemeine Aufmerksamkeit. Die Kühe sammeln sich brüllend in freudigen Sprüngen und meinen das Zeichen der Abfahrt zu vernehmen. Und wenn

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Lschudi.

diese wirklich begonnen wird, wenn die schönste Kuh mit der größten Glocke am bunten Band behangen und wohl mit einem Strauße zwischen den Hörnern geschmückt wird, wenn das Saumroß mit Käsekessel und Vorräten bepackt ist, die Melkstühle den Rindern zwischen den Hörnern sitzen, die saubern Sennen ihre Alpenlieder anstimmen und der jauchzende Jodel weit durchs Tal schallt, dann soll man den trefflichen Humor beobachten, in dem die gutmütiges, ost übermütigen Tiere sich in den Zug reihen und brüllend den Bergen zumarschieren. Im Tale zurückgehaltene Kühe folgen oft unversehens auf eigene Faust den Gefährten auf entfernte Alpen. Freilich ist es bei schönem Wetter auch für eine Kuh gar herrlich hoch im Gebirge. Das Frauenmäntelchen, Mutterkraut, der Alpenwegerich bieten dem schnobernden Tier die trefflichste und würzigste Nah­ rung. Die Sonne brennt nicht so heiß wie im Tale. Die lästigen Bremsen quälen das Rind während des Mittags­ schläfchens nicht. Die gute freie Lust schmeckt ihm auch besser als der stinkende Qualm der dumpfigen Ställe, und die stete Bewegung, die natürliche Diät, nach der es frißt, wenn es eben Lust hat und was ihm zusagt, der beliebige Verkehr mit den gehörnten Kameraden, alles dies trägt dazu bei, das Vieh munter, stisch und gesund zu erhalten, wie es denn überhaupt Tatsache ist, daß die in mancher Hinsicht so vorteilhafte Stallfütterung den Grund von einer Menge Krankheiten bildet, denen das Alpenvieh nicht an­ heimfällt. Man meint nicht mit Unrecht, das Vieh des Hoch­ gebirges sei klüger und munterer als das des Tales. Das naturgemäße Leben bildet den natürlichen Jnstintt besser aus. Das Tier, das fast ganz für sich sorgen muß, ist aufmerksamer, sorgfältiger, hat mehr Gedächtnis als das stets verpflegte. Die Alpkuh weiß jede Staude, jede Pfütze, kennt genau die bessern Grasplätze, weiß die Seit des Melkens, kennt von fern die LockÄmme des Hüters und naht ihm zutraulich; sie weiß, wann sie Salz bekommt.

Tschudi.

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wann sie zur Hütte oder zum Tränken muß. Sie spürt das Nahen des Unwetters, unterscheidet genau die Pflanzen, die ihr nicht zusagen, bewacht und beschützt ihr Junges und meidet achtsam gefährliche Stellen. Letzteres aber geht bei aller Vorsicht doch nicht immer gut ab. Der Hunger drängt oft zu den noch unberührten, fetten, aber gefähr­ lichen Rasenstellen, und indem sich die Kuh über die Ge­ röllhalde bewegt, weicht der lockere Grund, und sie beginnt bergab zu gleiten. Sowie das Tier bemerkt, daß es sich selber nicht mehr helfen kann, läßt es sich auf den Bauch nieder, schließt die Augen und ergibt sich in sein Schicksal, indem es langsam fortgleitet, bis es in den Abgrund stürzt oder von einer Baumwurzel aufgchalten wird, an der es gelassen die hilfreiche Dazwischenkunft des Sennen abwartet. Sehr ausgebildet ist namentlich bei dem schweizeri­ schen Alpenrindvieh jener Ehrgeiz, der das Recht des Stärkeren mit unerbittlicher Strenge handhabt und danach eine Rangordnung aufstellt, der sich alle fügen. Die „Heer­ kuh", welche die große Schelle oder „Trichle" trägt, ist nich^ nur die schönste, sondern auch die stärkste der Herde und nimmt bei jedem Umzug unfehlbar den ersten Platz ein, indem keine andere Kuh es wagt, ihr voranzugehen. Ihr folgen die stärksten „Häupter", gleichsam die Standesper­ sonen der Herde. Wird ein neues Stück zugekauft, so hat es unfehlbar mit jedem Gliede der Genossenschaft einen Hörnerkampf zu bestehen und nach dessen Erfolgen seine Stelle im Zuge einzunehmen. Bei gleicher Stärke setzt es oft böse, hartnäckige Zwiegefechte ab, da die Tiere stunden­ lang nicht von der Stelle weichen. Die Heerkuh leftet die weidende Herde, geht zur Hütte voran, und man hat oft bemerkt, daß sie, wenn sie ihres Ranges entsetzt und der Vorschelle beraubt wurde, in eine nicht zu besänftigende Traurigkeit verfiel und ganz krank wurde. Die festlichste Zeit für das Alpenrindvieh ist ohne Zweifel der Tag der Alpfahrt, die gewöhnlich im Mai stattfindet. An diesem Tage ertönt besonders der Kuhreihen.

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Tschudi. Wieland.

Es ist dies jener höchst eigentümliche jauchzende Gesang, Lessen ältester Text sich nur noch in einzelnen Versen vorsindet, während seine Melodie in stundenlangem Trillern, Jodeln, bald hüpfenden, bald gedehnten Tönen besteht. Etwas anderes ist der einfache Jodel, der keine Worte hat, sondern bloß in schnell wechselnden, oft in der Tiefe an­ haltenden und rasch in die Höhe steigenden, seltsamen, melodischen Tonverbindungen besteht, mit denen der Hirt die Kühe herbeilockt, seine Kameraden begrüßt, und dessen er sich als Fernsprache im Gebirge bedient.

Christoph Martin Wieland. 225. Der Streit nm des Esels Schatten. Ein gewisser Zahnarzt, Namens Struthion, von Ge­ burt und Voreltern aus Megara gebürtig, hatte sich schon seit vielen Jahren in Abdera häuslich niedergelassen; und weil er vielleicht im ganzen Lande der einzige von seiner Profession war, so erstreckte sich seine Kundschaft über einen ansehnlichen Teil des mittäglichen Thrazien. Seine ge­ wöhnliche Weise, denselben in Konttibution zu setzen, war, Laß er die Jahrmärkte aller kleinen Städte und Flecken auf mehr als dreißig Meilen in der Runde bereiste, wo er neben seinem Zahnpulver und feinen Zahntinkturen ge­ legentlich auch verschiedene Arkana wider Milzbeschwerungen, Engbrüstigkeit u. s. w. mit ziemlichen Vorteil absetzte. Er hatte zu diesem Ende eine wohlbeleibte Eselin im Stalle, welche bei solchen Gelegenheiten zugleich mit seiner eignen kurz-dicken Person und mit einem großen Qucrsack voll Arzneien und Lebensmittel beladen wurde. Nun begab sich's einstmals, da er den Jahrmarkt zu Gerania besuchen sollte, daß seine Eselin nicht imstande war, die Reise mitzumachen. Struthion mietete sich also einen an­ dern Esel bis zu dem Orte, wo er sein erstes Nachtlager neh-

Wieland.

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men wollte, und der Eigentümer begleitete ihn zu Fuße, um das lastbare Tier zu besorgen und wieder nach Hause zu reiten. Der Weg ging über eine große Heide. Es war mitten im Sommer und die Hitze des Tages sehr groß. Der Zahwarzt, dem sie unerträglich zn werden anfing, sah sich lech­ zend nach einem schattigen Platz um, wo er einen Augen­ blick absteigen und etwas frische Lust schöpfen könnte. Aber da war west und breit weder Baum noch Staude noch irgend ein andrer schattengebender Gegenstand zu sehen. Endlich, als er seinem Leibe keinen Rat wußte, machte er Halt, stieg ab und setzte sich in den Schatten des Esels. „Nu, Herr, was macht Ihr da," sagte der Eseltreiber, „was soll das?" — „Ich setze mich ein wenig in den Schatten," versetzte Struthion, „denn die Sonne prallt mir ganz unleidlich auf den Schädel." — „Nä, mein guter Herr," erwiderte der andre, „so haben wir nicht gehandest! Ich vermietete Euch den Esel, aber des Schattens wurde mit keinem Worte dabei gedacht." — „Ihr spaßt, guter Freund," sagte der Zahnarzt lachend; „der Schatten geht mit dem Esel, das versteht sich." — „Ei, beim Jason! das versteht sich nicht," rief der Eselmann ganz trotzig; „ein andres ist der Esel, ein andres ist des Esels Schatten. Ihr habt mir den Esel um so und so viel abgemietet. Hättet Ihr den Schatten auch dazu mieten wollen, so hättet Jhr's sagen müssen. Mit einem Wort, Herr, steht auf und setzt Eure Reise fort oder bezahst mir für des Esels Schatten, was billig ist!" — „Was?" schrie der Zahnarzt, „ich habe für den Esel bezahlt und soll jetzt anch noch für seinen Schat­ ten bezahlen? Nennt mich selbst einen dreifachen Esel, wenn ich das tue! Der Esel ist einmal für diesen ganzen Tag mein, und ich will mich in seinen Schatten setzen, so oft mir's beliebt, und darin sitzen bleiben, so lange mir's beliebt, darauf könnt Ihr Euch verlassen." — „Ist das im Ernste Eure Meinung?" stagte der andere mit der ganzen Kalt­ blütigkeit eines abderitischen Eseltreibers. „Im ganzen Ernste," versetzte Struthion. „So komme der Herr nur Hessel und User. Lesebuch s. M.27

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Wieland.

Willmann.

gleich stehenden Fußes wieder zurück nach Wdera vor die

Obrigkeit!" sagte jener, „da wollen wir sehen, wer von uns beiden Recht behalten wird.

Ich will sehen, wer mir den

Schatten meines Esels wider meinen Willen abtrotzen soll!" Der Zahnarzt hatte große Lust, den Eseltreiber durch die Stärke seines Armes zur Gebühr zu weisen.

Schon

ballte er seine Faust zusammen, schon hob sich sein kurzer Arm; aber als er seinen Mann genauer ins Auge faßte,

fand er für besser, den erhobenen Arm allmählich wieder

sinken zu lassen und es noch einmal mit gelinderen Vor­ stellungen zu versuchen.

Aber er verlor seinen Atem dabei.

Der ungeschlachte Mensch bestand darauf, daß er für den Schatten seines Esels bezahlt sein wollte; und da Struthion ebenso hartnäckig dabei blieb, nicht bezahlen zu wollen, so war kein anderer Weg übrig, als nach Abdera zurückzu­ kehren und die Sache bei dem Stadtrichter anhängig zu

machen.

sDer Stadtrichter, ein gutmütiger Herr, gab beiden recht, besah sich den Esel, schüttelte den Kopf und riet endlich den Parteien zu einem Vergleich. Da mischten sich zwei Advo­ katen hinein, hetzten die Streitenden gegeneinander, und es entspann sich zuletzt ein langdauernder, erbitterter Prozeß, an dem die ganze Stadt teilnahm. Ganz Abdera spaltete sich in zwei große Parteien, die einen nannten sich „Schatten", die andern aber „Esel". Ehe der Prozeß endgülttg entschieden war, wurde in einem Tumult der wirkliche Esel von der Partei der „Schatten" in lausend Stücke zerrissen. Die Streitfrage blieb ungelöst; aber die Gemüter der Abderiten beruhigten sich wieder.!

Otto Willmann. 22«. Krösus und Solo«. Krösus war ein Lyder von Geburt und Herr über alle

Völker innerhalb des Halhsflusses, der von Mittag her nach dem Nord zu sich in das schwarze Meer ergießt.

In dieser Zeit, als Sardes in hoher Blüte stand, kamen die Weisen aus Hellas dorthin und so auch Solon, ein Mann

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Willmann.

Don Athen, der den Athenern auf ihr Verlangen Gesetze gegeben hatte. Ms er ankam, nahm ihn Krösus gastlich in der KönigSburg auf, und am dritten oder vierten Tage ließ er ihn durch seine Diener in die SchatzhLuser führen und ihm alle Herrlichkeiten daselbst zeigen. Nachdem er aber alles geschaut und nach Gefallen betrachtet, fragte ihn

Krösus also: „Mein Gastfreund von Athen! Zu uns ist vielfache Kunde gekommen von dir, deiner Weishett und den weiten Reisen, die du aus Wißbegierde unternommen, und es ver­ langt mich sehr, dich zu fragen, ob du einen Menschen ge­ funden hast, der der gleichste von allen ist." So fragte er, in der Hoffnung, er werde dieser glücklichste sein. Allein Solon schmeichelte nicht, sondern redete nach der Wahrheit also: „Ja, König, den Tellus von Athen." Da wunderte sich Krösus und fragte angelegentlich: „Warum denn HLttst du den Tellus für den glücklichsten?" Und jener sprach: „Tellus lebte, als die Stadt blühetc: er hatte Söhne, die schön und gut waren, und sah Kinder von ihnen allen, die am Leben blieben. Dazu war er, nach unserer Schätzung, wohlhabend, und es nahm sein Leben ein glänzendes Ende. Denn als die Athener einst wider ihre Nachbarn zu Eleusis stritten, zog er mit aus, schlug die Feinde in die Flucht und fand den schönsten Tod. Die Athener bestatteten ihn von Gemeinde wegen an dem Orte, wo er gefallen war, und ehrten ihn höchlich." Da nun Krösus durch Svlons Bericht von Tellus hohem Glücke neugierig geworden, so fragte er, wen Solon nach jenem als den glücklichsten gesehen, denn er glaubte, wenig­ stens den zwetten Preis zu erhalten. Solon aber sprach: „Kleobis und Biton, ihres Stammes Argcier; sie hatten, was sie bedurften, und dazu eine so große Leibesstärke, daß beide Kampfpreise davontrugen. Auch wird von ihnen folgendes erzählt: Als die Argeier einst der Hera ein Fest feierten, mußte der beiden Mutter zum Tempel fahren, aber die Rinder kamen nicht zur rechten Zeit vom Felde.

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Mllmann.

Da es dringlich war, so traten die Jünglinge selber unter das Joch, zogen den Wagen mit ihrer Mutter und legten so sünfundvierzig Stadien bis zu dem Tempel zurück. So taten sie — die ganze Festversammlung war Zeuge — und es ward ihnen das schönste Lebensende zuteil. Da hat die Gottheit recht gezeigt, daß dem Menschen sterben besser ist als leben. Als nämlich die Argeier die Jünglinge um ihrer Gesinnung und die Argeierinnen die Mutter um ihrer Söhne willen priesen, da betete die Mutter in der Herzens­ freude über der Kinder Tat und deren Ruhm vor dem Götterbilde, die Göttin möge Kleobis und Biton, ihren Kindern, die ihr so hohe Ehre erwiesen, gewähren, was für die Menschen der größte Segen sei. Da- Gebet ward erhört. Als Opfer und Mahl gefeiert war, entschlummerten die Jünglinge im Heiligtume selber und standen nicht mehr auf; das war ihres Lebens Ende. Die Argeier aber er­ richteten ihnen, als den trefflichsten Männern, Bildsäulen in Delphi." Diesen also gab Solon den zweiten Preis der Glück­ seligkeit. Darüber war Krösus ungehalten und sprach: „Mein Gastfreund von Athen, so wenig also gilt dir mein eigenes Glück, daß du mich hinter Menschen ohne Amt und Herrschaft stellst?" Da sprach jener: „O Krösus, mich ftagst du um der Menschen Geschick, der ich weiß, wie eifersüchtig und un­ berechenbar die Gottheft ist? In der langen Zeit des Lebens muß man gar vieles erfahren, was man lieber nicht er­ führe, und mancherlei durchmachen. Ich nehme als des Lebens Dauer siebenzig Jahre an; aber von den vielen Tagen dieser Jahre ist keiner dem andern gleich. So ist,

o Krösus, der Mensch ein Spielball des Geschickes. Ich sehe, daß du reich bist und über viele Menschen gebietest; allein den Namen, den du verlangst, kann ich dir erst geben, wenn ich erfahren, daß du dein Leben auch glücklich beschlossen hast. Denn der Reiche ist nicht glücklicher, als wer nur sein täglich Brot hat, wenn ihm das Geschick nicht seinen

Willmann.

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Reichtum bis zum Lebensende bewahrt, und erst, wer freudig sein Leben beschließt, verdient, o König, jenen Namen. Denn es gilt bei allen Dingen, auf das Ende zu sehen, worauf sie hinauslaufen. Die Gottheit hat schon vielen das Glück vor Augen gehallen und sie dann zu tiefem Falle kommen lassen." Mll solchen Worten gewann er Krösus Gunst gar wenig, und dieser entließ ihn mit well geringerer Aufmerksamkeit, da er seine Warnung, bei jedem Dinge das Ende zu er­ warten und sich nicht an das Glück der Gegenwart zu halten, nicht als weise erkennen wollte.

227. Des Polhkrates Glück und Fall. Mll Amasis, dem Könige von Ägypten, schloß Polh­ krates, Lakes Sohn von Samos, einen Bund der Gast­ freundschaft. Dieser hatte in Samos die Verfassung ge­ stürzt und sich zum Tyrannen gemacht, und bald nahm seine Macht so zu, daß er berühmt war in ganz Ionien und dem übrigen Hellas; denn wohin er seine Feldzüge richtete, da hatte er guten Erfolg. Er besaß hundert Fünfzigruderer und tausend Bogenschützen. Seine Raubzüge aber richtete er gegen alle; auch die Freunde, sagte er, verpflichtete er sich mehr, wenn er ihnen nähme und -wicdergäbe, als wenn er ihnen überhaupt nichts nähme. So hatte er viele In­ seln und Städte des festen Landes unterworfen. Selbst die Lesbier, die mit ganzer Streitmacht den Milesiern zu Hilfe eilten, besiegte er in einer Seeschlacht und nahm sie ge­ fangen; sie mußten ihm als Gefangene den Graben her­ stellen, der um die Mauer von Samos herumläuft. Auch Amasis erfuhr von dem großen Glücke des Polh­ krates, allein cs machte ihm Kummer. Und als es sich immer noch mehrte, da schrieb er folgendes in eine Schreib­ tafel, die er nach Samos sandte: „Amasis spricht also zu Polhkrates: Es ist erfreulich zu hören, daß es einem lieben Gastfreunde wohlergehe, und doch machen mir deine überaus glücklichen Erfolge nur wenig Freude, da ich weiß, wie eifer-

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Willmann.

süchtig die Gottheit ist. Mir ist es lieber, wenn ich und die ich liebe das eine Mal glücklichen, das andere Mal minder guten Erfolg haben und so im Leben ein Wechsel eintritt, als wenn durchgehends alles gelingt. Denn noch habe ich von keinem gehört, der nicht seinen Sturz und ein trauriges Ende gesehen hätte, wenn ihm im Leben alles glücklich geraten. Darum folge mir, und tritt deinem Glücke selber in den Weg! Denke nach, was dir von deinen Gütern am meisten wert ist, und wessen Verlust dir das meiste Herzeleid machen würde, und dies wirf von dir, daß es nimmer wieder vor der Menschen Augen komme! Sollte also von nun an bei dir Erfolg und Unfall nicht abwechseln, so sichere dich auf die Art, die ich dir empfohlen!" Als Pvlykrates das gelesen und inne wurde, daß Amasis Rat gut war, sann er nach, welches Kleinod er besonders schmerzlich vermissen würde. Und er verfiel auf einen gol­ denen Siegelring mit einem Smaragd, ein Werk Theodoros, des Sohnes von Telekles von Samos; diesen Ring beschloß er preiszugeben, ließ einen Fünfzigruderer bemannen, stieg ein und befahl, auf hohe See zu gehen. Und als er weit von der Insel war, zog er den Siegelring ab und warf ihn vor den Augen der Mitfahrenden in das Meer. Dann fuhr er heim und härmte sich über den Verlust. Da geschah es am fünften oder sechsten Tage, daß ein Fischer einen großen, schönen Fisch fing und dem Pvlykrates zum Geschenke machen wollte. Er trug ihn nach dem Palaste und verlangte vorgelassen zu werden. Es ward gewährt, er überreichte jenem den Fisch und sprach: „O König, als ich den da gefangen, wollte es mir nicht in den Sinn, ihn zu Markte zu tragen, obwohl ich von meiner. Hände Erwerb lebe; sondern er schien mir deiner und deiner Herrlichkeit würdig, drum bring ich ihn dir zum Geschenke." Pvlykrates freute sich über die Worte des Mannes und erwiderte: „Daran hast du wohl getan; habe zwiefachen Dank für deine Worte und die Gabe! Du sollst auch zu Tische geladen sein!" Dem Fischer war das viele Ehre, und

Willmann.

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er ging froh nach Haus. Die Diener aber zerlegten den Fisch und fanden in seinem Leibe Polykrates Siegelring. Eilends nahmen sie ihn heraus und brachten ihn freudig ihrem Herrn mit der Kunde, wie sie ihn gefunden. Ihm aber deuchte das göttliche Schickung; er schrieb alles, was er getan und was sich begeben, in eine Schreibtafel und sandte sie nach Ägypten. Als Amasis Polykrates Brief gelesen, sah er ein, daß ein Mensch den andern nicht seinem Geschicke entreißen könnte, und daß Polykrates kein gutes Ende nehmen würde, da ihm alles zum Glücke ausschlüge und er selbst wiederbekäme, was er weggeworfen. Darum sandte er einen Boten nach Samos und löste den Bund der Gast­ freundschaft auf. Dies tat er, damit, wen» das schwere und große Unheil über Polykrates hereinbräche, aus der Teilnahme an des Gastfreundes Geschick nicht auch ihm Herzeleid erwüchse. Nach dieser Zeit begannen die Lakedämonier Krieg wider Polykrates, von den Samiern, die dieser vertrieben, dazu angestiftet; denn es hatten die Samier einstmals ihnen beigestanden wider die Messenier. Sie kamen mit großem Schiffsheere heran und belagerten Samos. Allein Poly­ krates schlug sie zurück, und nach vierzig Tagen zogen sie wieder heim nach dem Peloponnes. Das ist der erste Feld­ zug, den die Dorier von Lakcdänwn nach Asien unter­ nahmen. So ging es auch noch diesmal dem Polykrates nach Wunsch. Aber in der Zeit, als Kambhses krank war, faßte Orötes, der Statthalter von Sardes, den Plan, Polykrates zu fangen und zu verderben; denn er wußte, womit dieser umging. Polykrates ist nämlich unseres Wissens der erste von den Hellenen, der nach der Seeherrschast strebte, ausge­ nommen Minos, und wer etwa noch vor diesem Herr zur See war; im Geschlecht der Menschen aber ist Polykrates der erste, der die Herrschaft Ioniens und der Inseln er-

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Wlllmann.

strebte. Das wußte Orötes und sandte ihm folgende Bot­ schaft: „Orötes spricht zu Polhkrates also: Ich habe er­ fahren, daß du nach großen Dingen trachtest, daß aber deine Geldmittel nicht deinen Absichten entsprechen. Wenn du nun tust, wie ich sage, so wirst du dir aufhelfen und Nlich retten. König Kambyses nämlich stellt mir nach dem Leben, davon habe ich sichere Kunde. Bringst du nun mich und meine Schätze in Sicherheit, dann magst du einen Teil davon behalten, wenn mir der andere bleibt. Dann be­ kommst du Geld genug, über ganz Hellas deine Herrschaft auszudehnen." Als Polhkrates das vernahm, hatte er seine Freude daran und begab sich auf die Reise zu Orötes, trotz­ dem daß die Seher und die Freunde dringend abrieten, weil seine Tochter im Traume gesehen, ihr Vater schwebe in der Lust und werde von Zeus gebadet und von Helios gesalbt. Aber er verschmähte allen guten Rat und segelte mit vielen seiner Freunde zu Orötes ab, darunter war auch Demokedes, Kalliphons Sohn von Kroton, der geschickteste Arzt seiner Zeit, dem die Ärzte von Kroton es danken, daß sie für die ersten in Hellas gelten. Nachdem Polhkrates angelangt war, fand er ein schreck­ liches Ende, wie er es seiner Stellung und Gesinnung nach nicht verdient: Orötes brachte ihn um und hing ihn ans Kreuz. Bon seinen Begleitern entließ er die Samier und sagte ihnen, sie sollten ihm Dank wissen, daß sie ftei wären; aber die Fremden und Diener behielt er als Sklaven. Allein er entging der Strafe nicht: späterhin wurde er auf des Königs Befehl getötet, als er dessen Befehlen nicht Folge geleistet. So ging der Tochter Traum in Erfüllung; denn als Polhkrates am Kreuze hing, wurde er von Zeus gebadet, denn es regnete, und von Helios gesalbt, indem die Sonne die Säfte aus dem Körper zog. Darauf lief das große Glück des Polhkrates hinaus, wie Amasis, der König von Ägypten, vorhergesagt.

Willmann.

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228. Der A«sr«g des Lerxes. Als die Nachricht eingelaufen war, daß die Arbeit an den Brücken und am Athos vollendet wäre, rüstete sich das ganze versammelte Heer, nachdem es überwintert, mit dem Frühling von Sardes nach Abydos zu ziehen. Boran gingen die Lastträger und das Zugvieh, nach ihnen allerlei Heeresvolk ungesondert durcheinander; nachdem die Hälfte vorbei war, blieb ein Zwischenraum vor dem Könige, da­ mit jene nicht mit ihm zusammenkämen; den weiteren Zug eröffneten 1000 auserlesene persische Reiter; nach ihnen kamen 1000 auserlesene Lanzenträger, die Lanzenspitzen zur Erde gesenkt, sodann die heiligen 10 Pferde, welche die nisäischen heißen,' nach der großen Ebene Nisäon in Medien, welche gewaltige Pferde hervorbringt. Hinter diesen zehn Pferden kam der heilige Wagen des Zeus (Ormuzd), von acht weißen Pferden gezogen; der Lenker ging mit den Zügeln in der Hand nebenher, denn kein Mensch darf den Wagen besteigen. Nach diesem kam Lerxes selber auf einem Wagen mit nisäischen Pferden; neben ihm ging der Wagen­ lenker, hinter ihm wieder 1000 Lanzenträger, die besten und edelsten Perser. Diese trugen die Lanzenspitzen nach gewöhnlicher Art; nach ihnen wieder 1000 auserlesene persische Reiter und nach den Reitern 10000 Mann zu Fuße, gleichfalls auserlesene Perser; von ihnen hatten 1000 an den Lanzen am Schafte eine goldene Granate, die an­ deren eine silberne. Auf diese folgten 10000 persische Reiter; hinter ihnen war wieder ein Zwischenraum von zwei Stadien, und dann kam der übrige Haufe bunt durchein­ ander. So zog der König durch Mysien in das troische Land. Dort ließ er sich Priamos Burg zeigen und alles erzählen. Dann opferte er der Athene von Ilion 1000 Rinder, und die Magier brachten den Helden Spreng­ opfer. In der Nacht aber überfiel das Heer ein gewaltiger Schreck. Als man nach Abydos kam, wollte Terxes sein ganzes Heer übersehen und setzte sich auf einen Thron, den die

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Willmann.

Männer von Abydos ihm auf seinen Befehl aus weißem Steine gemacht hatten. Von hier übersah er, nach bcm Strande blickend, das Heer und die Flotte. Auch ein See­ gefecht ließ er veranstalten, bei welchem die Sidonier vom Volke der Phöniker siegten. Da freute sich der König über das Gefecht und über sein Heer. Und als er sah, wie der Hellespontos von Schiffen wimmelte und alle Gestade und das Feld von Abydos von Menschen erfüllt waren, da pries sich Lerxes selig; dann aber brach er in Tränen aus. Als dieses sein Oheim Artabanos bemerkte, fragte er ihn also: „O König, was du vorher tatest und was jetzt, will nicht zusammengehen; du priesest dich selig, und nun weinst du?" Er aber sprach: „Es überkam mich der Jammer, da ich bedachte, wie kurz das ganze menschliche Leben ist, da von so viele Menschen über hundert Jahre keiner mehr am Leben sein wird." Denselben Tag nun rüsteten sie sich zum Übergange, am folgenden aber erwarteten sie die Sonne, um sie auf­ gehen zu sehen, verbrannten Räucherwerk auf den Brücken und bestreuten den Weg mit Myrrhen. Und als die Sonne aufging, sprengte Terxes aus einer goldenen Schale in das Meer und betete zu Helios (Mithra), es möge ihn kein Unfall treffen und von der Eroberung Europas bis zu dessen letzten Grenzen abhalten; nach dem Gebete warf er die Schale in den Hellespontos, dazu einen goldenen Misch­ krug und ein persisches Schwert. Das kann ich nun nicht bestimmt entscheiden, ob er dies als Weihgeschenk der Sonne ins Meer versenkt, oder ob ihn die Züchtigung des Helles­ pontos gereut und er dafür das Meer beschenkt habe. Als er dieses getan, zogen sie hinüber, das Fußvolk und die ganze Reiterei auf der Brücke nach dem Pontos zu, das Zugvieh und der Troß aber auf der andern nach der Seite des Ägäischer» Meeres. Zugleich segelten auch die Schisse nach dem jenseitigen Ufer. Der Zug des Heeres aber dauerte ununterbrochen sieben Tage und sieben Nächte.

»olsf.

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Theodor Wolff. 229. Auf der Themse. Wer kann, verläßt am Festtage London und zieht irgend­ wohin in die Umgebung. Die Geschäfte sind geschlossen, und die jungen Leute benutzen den Feiertag. Überall sieht man sie mit Tennis- und Kricketschlägern lospilgern. Auf den Bahnhöfen herrscht ein Gewühl und Gewimmel, und alle Züge sind vollbesetzt. Man erblickt nur Helle, heftere, leuchtende Farben, denn die Männer tragen weiße Anzüge oder wenigstens weiße Beinkleider und weiße Strohhüte. Und die Misses haben rosa oder blaßblaue oder weiße Musse­ lin- oder Leinenkleider angetan und große, lichte Stroh­ hüte mit bunten Blumen oder Kate-Greenaway-Hüte aus Hellem plissiertem Seidenmull aufgesetzt. Manche der jungen Damen haben sich zu sehr mit Rüschen, mit Schleifen, mit Spitzenboas beladen; andere haben ganz glatte, leichte Klei­ der gewählt, die im Boot und auf dem Sportplatz be­ quem sind. Wenn man mit dem Zug fährt, erreicht man in einer knappen Stunde Maidenhead, eine kleine Stadt am Flusse. Die Ufer sind bedeckt mit Hotels, mit Villen und mit Bootshäusern, und unten auf dem Flußspiegel liegen in langen Reihen die ruhenden Boote, Privatboote und die Boote der Vermieter. Man leiht sich eines jener sehr langen, schmalen und ganz flachen Fahrzeuge, die durch fortwährendes Abstoßen mit Hilfe einer langen Stange vor­ wärtsbewegt werden, und in denen man auf dem Boden liegt oder hockt, und man fährt stromaufwärts nach Cookham. Das ist ein etwas kostspieliges, aber auch sehr kostbares Vergnügen. Zuerst sind die Ufer noch ziemlich flach, und die Fahrt ist nur lustig, weil ringsumher zahllose Schiffe von allen Sorten und Größen die Wasserfläche durchschneiden, aber in einigen Minuten kommt man zur Schleuse. Man findet das Schleusentor geschlossen und muß mindestens eine

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Wolff.

Viertelstunde warten. Andere Boote liegen schon wartend da, noch andere kommen nach, und schließlich ist eine ge­ mischte Gesellschaft von großen Dampfjachten, von Motor­ booten, von schwerfälligen Gesellschaftsdampfern, von leich­ ten Jollen, „Seelenverkäufern", und Wettruderbooten bei­ einander. Auf dem Verdeck der großen Dampfer sitzen die Ausflügler beim Frühstück, und die Bierflaschen stehen in Regimentern auf dem Tisch. In den Ruderbooten liegen die jungen Mädchen lang ausgestreckt, von einem japanischen Schirm gegen die Sonne geschützt und lesen oder tun, als läsen sie, während die jungen Männer in Hemdsärmeln ihr Schifflein hin und hermanövrieren lassen. Und auf einer großen Jacht steht eine rotblonde Miß neben einem Kavalier und singt, während ein Herr sie begleitet, die Sehnsucht ihrer Seele in falschen Tönen hinaus. Das Schleusentor wird geöffnet, und nun entsteht ein Vorwärtsdrängen, ein allgemeiner Wettkampf, ein jeder will sein Fahrzeug in die enge Schleuse hineinzwängen; die kleinen schlängeln sich zwischen den fauchenden und pusten­ den großen hindurch, und in jeder Sekunde gibt es einen Zusammenstoß. Oben auf den Brücken und auf dem Kai neben der Schleuse sitzen die Ausflügler und die Sommer­ gäste und sehen auf das Schiffsgewimmel hinab. Vor dem Hause des Schleusenwächters wachsen feuerrote Geranien und weiße Margaretenblumen. Und dann sind endlich alle Jachten und Jollen, alle Motor- und alle Ruderboote in dem engen Schleusengefängnis untergebracht und harren auf den Augenblick, wo das zweite Tor sich öffnen und die Fahrt in die Freiheit hinaus beginnen wird. Als das Tor sich dann wirklich öffnet, werden Fahrt und Bild ganz unsagbar schön. Die Ruderer, die neue Kräfte gesammelt haben, rudern mit verdoppeltem Eifer; die Dampfboote suchen das Versäumte nachzuholen, und alles flieht und flitzt pfeilschnell davon. Die Themse ist nun breit, und auf dem blauen, von der Sonne silbern gesprenkelten Wasser schwimmen auf- und niedertauchend

Wolff.

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die grünen Flußgräser. Eine weiße Schwanenmutter zieht furchtlos, begleitet von ihren struppigen, rauhen Kücken, -wischen all den Schiffen durch den Strom. Auf dm Ufern lassen die Bäume mg nebmeinander ihre blaugrünm vollen Kronen bis zum Wasser niederhängen, so daß es aussieht, als säume ein ununterbrochener, gewölbter, grüner Wall zu bei» den Seiten die glitzemde, von den Booten durchfurchte Themse ein. Und etwas weiter landeinwärts sind die Hügel mit andern grünen Wällen bedeckt, mit einem kräftigen, safti­ gen, dunklen Grün, und nur die scharfkantigen, roten Dächer der Landhäuser bilden eine Abwechselung in der scheinbar undurchdringlichen Laubfülle. Vom Deck einer weibgestrichenen und golden verzier­ ten Dampfbarkasse kommt ein- sonderbare, ein wenig heisere Musik. Ein großer phonographischer Apparat leiert dort einen englischen Marsch herunter. An einer Stelle, wo der Fluß fast einen See bildet, liegen vier Hausboote nebeneinander, jene Boote, die wie schwimmende Villen find, und in denen Familien wie wandernde Flußzigeuner leben. Hier die vier sind bläulich weiß, und auf ihren langen Veranden und ihren flachen Dächern wachsen in Kästen rote und gelbe Blumen. Hinter dem Glasperlen­ vorhang einer Laube decken Dienstmädchen mit weißen Häub­ chen den Frühstückstisch. Die Sonne liegt jetzt schwerer und brennender auf dem Wasser, und die Ruderer flüchten mit ihren Booten zu -en Ufern unter die schützend vorgebeugten Baumkronen. Der Nachen wird an einem Baumstamm befestigt, die Futter­ körbe werden ausgepackt, kleine Tische werden ausgeklappt. Hier im Freien hat das Einfache seinen Reiz, und eine Dame im Spitzenkleid und mit sieben Perlschnüren, die zu Hause keinen Finger rühren würde, zerlegt hier das gebratene Huhn und preßt die Zitrone in das Limonaden­ glas. Das Leben der Bootfahrer auf der Seine und auf der Marne bei Paris ist berühmt geworden, aber verglichen

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Wolff. Zingerle.

mit dem Leben auf der Themse ist es nur dürftig und ärmlich. Die kleinen blassen Pariser Mädchen und die jungen Leute machen auf der Seine und Marne sehr viel Lärm, aber man merkt doch, sie sind nicht in ihrem Element. Das Bild, das man im schmalen Kahn durch das Wasser gleitend auf der Themse vor sich hat, ist unver­ gleichlich in seiner Farbenschönheit und seiner Gesundheit. Und während das Boot immer weüer gleitet, und während die Bäume ihre Zweige noch tiefer über die scherzenden und lachenden Menschen neigen, hat man, mit Entzücken ge­ mischt, eine leise Regung des Neides.

Ignaz Zingerle. 230. Die verstorbene Gerechtigkeit. Vor langer Zeit lebte ein gewaltig reicher und mächti­ ger Graf, dem alles nach seinem Kopfe gehen mußte. Er fragte nicht nach Recht und Billigkeit, sondern schaltete und waltete nur nach Willkür. Da kam er einmal auf einem Spazierritte zu einem großen, schönen Landhause, das ihm gar sehr in die Augen stach. Er besichtigte deshalb das ganze Gehöfte und ritt dann vor das Haus hin, wo eben der Bauer, dem das Anwesen gehörte, unter der Haus­ türe stand. Der Graf grüßte ihn freundlich, stieg vom Rosse und sprach: „Guter Freund, möchtest du mir nicht deinen Hof zu kaufen geben? Ich würde ihn sehr gut bezahlen." Der Bauer aber bedachte die Frage nicht lange und antwortete: „Euer Gnaden, nichts für ungut. Aus dem Handel wird nichts, denn auf diesem Hofe saßen meine Voreltern schon, und ich will auch darauf meine alten Tage zubringen. Also nichts für ungut!" Da sagte der Graf: //Ich will dir bis morgen Bedenkzeit lassen. Überleg es dir gut." Dann stieg er auf sein Pferd und sprengte von dannen.' Der Bauer blieb aber bei seinem Vorhaben,

Zingerle.

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schüttelte den Kopf und dachte sich: daraus wird einmal

nichts. Am folgenden Tage kam der Graf schon in aller Frühe daher geritten und fragte, ohne abzusteigen, den Bauer, was er jetzt beschlossen habe. Da antwortete der Bauer: »Ich habe. Euer Gnaden, meinen Entschluß nicht aufge­ geben. Ich bleib auf meinem Hofe, und aus dem Handel wird nichts." Da wurde der Graf wild und sprach: ,Lch frage dich noch einmal, ob du dein Anwesen gutwillig hergeben willst. Wo nicht, so bekomme ich es doch!" Der Bauer schüttelte jedoch seinen Kopf und erwiderte: „Dabei bleibt's, ich verkaufe meinen Hof nicht." Nun wurde der Gras ganz wild vor Zorn und sprengte mit seinem Rosse aus und davon. Er ritt spornstreichs zu einem Advokaten, bestach ihn mit vielem Golde und ließ dem Landmanne einen Prozeß anhängen. Die Richter wußten, daß der Gras ein steinreicher Mann sei und bei dem Handel Geld her­ ausschaue. Deshalb hielten sie zu dem Grafen und ver­ sprachen ihm, das Bäuerlein mürbe zu machen. Sie ließen nun den Bauer durch den Gerichtsdiener herbeiholen und fragten ihn, ob er seinen Hof verkaufen wolle oder nicht. Als er ein entschiedenes Nein erwiderte, wurde ihm eine Klagschrift vorgelesen, und es wurde ihm gesagt, wenn er den Hof behalten wolle, so müsse er mit dem Herrn Grafen einen Prozeß führen. Der einfältige Bauer, der sich nicht zu helfen wußte, ging darauf ein und ließ sich die Sache gefallen. Der Graf hatte einen pfiffigen Advokaten, der Bauer hatte aber keinen, weil er sparen wollte. Da wurde nun hin und her prozessiert und der Bauer so oft in die Stadt gerufen und übertölpelt, bis er ganz verschuldet war. Die Richter entschieden auch gegen ihn, so daß er vom Hose mußte und ihm nur mehr hundert Gulden blieben. Er gab sich in die traurige Geschichte, machte aber den Richtern bittere Vorwürfe und sprach: „Wenn auf Erden keine Gerechtigkeit mehr ist, so lebt droben noch ein Rich­ ter, der euch finden wird." Da lachten die Herren, und.

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Zingerle.

einer sagte: ,La, die Gerechtigkeit ist lange gestorben; die kann dir nicht helfen." — Der betrogene Bauer ging dann schweigend aus der Kanzlei hinaus und begab sich gerades Weges zum Kir­ chenvater. Als dieser den ihm wohlbekannten Bauer kom­ men sah, rief er ihm freundlich zu: „Grüß dich Gott, Hans. Kommst auch einmal in die Stadt mich hcimsuchen?" „Ja," antwortete Hans, „aber in einer sehr traurigen Lage." Dann erzählte er dem Kirchenvater die Geschichte und schloß: „Jetzt hab ich noch hundert Gulden, und die geb ich dir. Es ist gerade so viel Geld, als man bei euch in der Stadt da zahlen muß, wenn man die große Glocke sür einen Verstorbenen läuten läßt. Da hast's Geld, und jetzt läute schnell der Gerechtigkeit, weil sie gestorben ist, zur Scheidung. Aber läute recht lang." — Der Kirchen­ vater nahm das Geld,, ging mit seinem Knechte in den Turm nnd läutete die große Glocke und zwar länger als gewöhnlich. Da gab's nun in der Stadt ein Gefrage und Gerede, wer gestorben sei, für wen es so lange läute. Doch niemand wußte Bescheid darauf, und die Neugierde ward immer größer. Auch der König, der in derselben Stadt seine Residenz hatte, erkundigte sich, wer gestorben sei, konnte aber keine Auskunft erhalten. Da schickte er einen Läufer zum Kirchenvater und ließ ihn fragen, für wen es so lange Scheidung geläutet habe. Sprach der Kirchen­ vater: „Für die Gerechtigkeit." Der Läufer eilte mit dieser Antwort zum Könige zurück. Wie der König dies hörte, ward er rot vor Zorn und rief: „Die Gerechtigkeit ist nicht gestorben. Sie schläft nur, und ich will ihr neues Leben einhauchen." Dann ließ er den Kirchenvater holen und fragte ihn, wer die große Glocke für die verstorbene Gerechtigkeit habe läuten lassen. Sprach dieser: „Eure Maje­ stät, der Schauferle Hans, der früher Schauferlebauer war." — Wie der König dies erfahren hatte, ließ er alsogleich den Schauferle Hans herbeiholen und fragte ihn, warum er die Glocken habe läuten lassen. Da erzählte Hans, wie

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Zingerle.

er des Grafen wegen von Haus und Hof gekommen sei, weil die Gerechtigkeit nicht mehr lebe. Der König ward über die Richter ganz ergrimmt, machte kurzen Prozeß und

gab dem Bauer fein Eigentum zurück.

Dann ließ er den

Grafen, den pfiffigen Advokaten und die bestochenen Rich­ tet rtzfen, die Sache untersuchen Und verurteilte allesamt

zum Tode. Sie wurden in Gestalt einer Glocke aufgehängt, und in ihrer Mitte zappelte der ®ia|. Seitdem aber kam die Gerechtigkeit töied^i zu Leben, und die Richter sprachen

Recht, wie es sich geziemt.

« es sei «nb Ufer, Lesebuch 5.

M.28

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Deutsche Geschichte des Mittelalter».

Aus der deutschen Geschichte des Mittelalters. 231. Arminius und fein Bruder SlavuS. Bon Tacitus.

[Sieben Jahre nach der Varusschlacht im Teutoburger Wald versuchte Germaniens, des Drusus Sohn und Neffe des Kaisers Tiberius, das Verlorene wiederzugewinnen. Er fuhr mit Schiffen die Ems hinauf, drang ins Cherusker­ land vor und besiegte auf dem Felde Jdistavisus, beim heutigen Minden, den Arminius. Trotzdem zog er sich zurück, und Germanien blieb von da ab für die Römer verloren. Kurz vor dem Gefechte auf dem Gefilde Jdista­ visus geschah folgendes): Der Weserstrom schied Römer und Cherusker. Drüben am Ufer stand Arminius mit den übrigen Häuptlingen, und als man auf seine Frage, ob der Kaiser gekommen sei, geantwortet, er sei da, bat er um eine Unterredung mit seinem Bruder. Dieser war im Heer und hieß jetzt Flavus, der Blonde, ein Mann von erprobter Treue, der vor wenigen Jahren unter des Tiberius Oberbefehl infolge einer Verwundung ein Auge verloren hatte. Er erhält Urlaub, tritt vor und wird von Arminius begrüßt, der die Begleiter weggehen und die Pfeilschützen vom Ufer drüben sich entfernen heißt. Als sie weg waren, fragt er den Bruder, woher sein Gesicht so entstellt sei. Als jener Ort und Schlacht nennt, wo es geschehen, da fragt er, was ihm denn zu Lohne geworden sei. Flavus nennt Solder­ höhung, Gnadenkette, Siegerkranz und andere kriegerische Ehrenzeichen. Da lacht Arminius ob des erbärmlichen Knechtelohns.

Tacitus- JordauiS.

43»

Dann reden sie abwechselnd, der von Roms Größe, des Kaisers Macht/ von den schweren Strafen, die Be­ siegte träfen, von der Gnade, die derer warte, die sich unterwürfen, und wie auch seine Gattin und sein Sohn nicht als Feinde behandelt würden; jener von dem heiligen Rechte des Vaterlandes, der Freiheit von den Vätern her, von Germaniens Heimatsgöttern, von der Mutter, der Ge­ nossin seiner Bitten; und doch ziehe der Bruder vor, seine Landsleute und seine Nachbarn, ja seinen Stamm zu ver­ heeren und zu verraten, und könne doch Fürst sein. So ereiferten sie sich immer mehr, und obwohl der Fluß sie ttennte, wäre es schließlich zum Kampf gekommen, wenn nicht Stertinms zornerfüllt herbeigeeilt wäre und den Flavus zurückgezogen hätte, der nach Waffen und Pferden schrie. Drüben sah man noch den Arminius und hörte ihn drohen und eine Schlacht ankündigen. Denn das meiste warf er in lateinischer Sprache hin; hatte er doch im römischen Lager als Anführer seiner Landsleute um Sold gedient.

232. DaS Grab im Busento. von Jordanis.

Die Westgoten rückten in Rom ein und plünderten es auf Befehl des Alarich; sie legten jedoch nicht, wie wilde Völker gewöhnlich tun, Feuer an, und duldeten nicht, daß die heiligen Orte irgendwie verunehrt wurden. Dann zogen sie fort durch Kampanien und Lukanien, das sie gleichfalls plünderten, und kamen zu den Bryttiern. Hier saßen sie lange und dachten daran, nach Sizilien und von da in die afrikanischen Länder hinüberzugehen. Das Land der Bryttier liegt nämlich ganz außen am Südostzipfel Italiens. Die Ecke desselben bildet der Anfang des Ge­ birges Appininus und erstreckt sich wie eine Zunge ins Adriatische Meer, welches dadurch vom Tyrrhenischen getrennt wird. Sein Name stammt von der ehemaligen Königin Brhttia. Dorthin kam Alarich, der König der Westgoten, 28'

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Deutsche Geschichte deS MttelalterS.

mit bin Schätzen von ganz Italien, die er durch Plünde­ rung gewonnen hatte, und beschloß, wie gesagt, bon hier über.Sizilien nach. Afrika.hinüberzugehen, das ihm eine Ruhestätte bieten sollte. Mehrere seiner Schiffe aber —

nichts ist ja festgestellt, was der Mensch ohne Gottes Willen beschlossen hat — verschlang jenes furchtbare Meer, die meisten verschlug es. Während Manch, durch dieses Un­ glück niedergeschlagen, darüber nachdachte, was zu tun sei, wurde er plötzlich von einem frühen Tod dahingerasst und schied.von dieser.Welt. Ihn betrauerten die Seinen, die ihn sehr geliebt hatten. Sie leiteten den Fluß Busentus bei der Stadt Cosenza aus seinem Bette, denn dieser

Fluß , strömt nämlich mit heilbringendem Gewässer vom Fuß des . Berges zur Stadt hin, — und mitten in seinem Bette ließen sie durch eine Schar Sklaven ein Grab graben und versenkten in seinen Schoß den Alarich mit vielen Schätzen;, dann , leiteten sie die Wogen wieder irt ihr altes Bett; und damit von keinem je der Ort gefunden würde, töteten sie alle, welche mitgegraben hatten. Die Herrschaft über die Westgoten übertrugen sie dem Atavulf, einem Blutsverwandten von ihm) von schöner. Gestalt und hohem Geist; denn wenn er auch an Körpergröße nicht gar statt­ lich war, so war er doch durch Schönheit der Gestalt und des Gesichts sehr ansehnlich.

233. Autharis Brautwerbung. Bon Paulus Warnefried, Diakonus. König Authari schickte Gesandte nach Bayern, die sollten um die Tochter des Königs Garibald für ihn Ver­ ben. Gütig nahm sie Garibald auf und versprach ihren, daß er seine Tochter Theudelinde dem Authari geben Nulle. Ms nun die Gesandten bei ihrer Rückkehr dem Autsari solches überbrachten, wünschte der König seine Braut selbst zu sehen. Darum wählte er unter seinen Langübaiden einige rüstige Männer aus, stellte einen seiner Getreuesten als deren Oberhaupt an ihre Spitze und zog selbst mit

JordaniS. Warnefried.

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ihnen gen Bayern. Da sie nun nach dem Rechte der Ge­ sandten vor König Garibald geführt wurden, und der Mann, der mit Authari als der Führer der ganzen Schar gekom­ men war, nach der Begrüßung eine Ansprache gehalten hatte, wie es die Sitte erheischt, trat Authari, der von keinem aus jenem Volke gekannt wurde, zum König Gari­ bald und sprach zu ihm: „Mein Herr, der König Authari hat mich allein aus dem Grunde hergesandt, daß ich Eure Tochter, seine Braut, die in Zukunft unsere Herrin sei» wird, anschauen soll, damit ich ihm getreulich berichten könne, wie sie aussieht." Sobald dies der König gehört hatte, hieß er seine Tochter kommen. Schweigend schaute Authari sie an, wie sie so schön war, und da sie ihm in allem wohlgefiel, sagte er zum Könige: „Da wir Eure Tochter von solcher Gestalt erfunden haben, daß wir mit Recht den Wunsch hegen, sie möchte unsere Königin werden, so möchten wir, falls es Euch beliebt, einen Becher Weins aus ihrer Hand entgegennehmen, wie sie ihn uns später reichen wird." Der König gewährte die Bitte. Darauf ergriff seine Tochter den gefüllten Becher, reichte ihn zuerst dem dar, welcher ihr das Haupt der Gesandtschaft zu sein schien, dann aber wandte sie sich zu Authari, pon dem sie nicht wußte, daß er ihr Bräutigam war. Dieser trank und gab den Becher wieder zurück, berührte aber dahei, ohne daß es jemand gewahr wurde, ihre Hand mit seinem Finger und führte ihre Rechte über seine Stirn, Nase und Wange herab. Mit Rot übergossen, erzählte Theudelinde dies ihrer Amme. Diese gab ihr zur Antwort: „Wenn dies nicht der König selbst und dein Verlobter wäre, so hätte er nicht gewagt, dich zu berühren. Aber laß uns darüber schweigen, damit dein Vater nichts davon erfährt. Denn wahrlich, der Langobarde ist ein Mann, würdig, die Krone zu tragen und dich zu besitzen." Es war aber damals Authari in der Vollkraft der Jahre, in Jugendschöne blühend, von blonden Locken umflossen und prächtig an-

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Deutsche Geschichte des Mittelalter-.

zuschauen. Mcht lange, so zogen die Gesandten mit kömglichem Geleite wieder ihrer Heimat zu. Als nun Authari schon nahe der Grenze Italiens gekommen war und noch die Bayern bei sich hatte, die ihn geleiteten, erhob er sich auf dem Rosse, das er ritt, so hoch, als er konnte, und warf mit aller Gewalt die Streitaxt; die er in der Hand hielt, in einen Baum, der in der Nähe stand, daß sie darin stecken blieb, und rief laut: „Das sind Autharis Würfe!" Da erkannten die Bayern, die in seinem Geleit ritten, daß er der König Authari selbst sei. Als nun einige Zeit darauf König Garibald vor den heranrückenden Franken in Bedrängnis kam, floh Theudelinde mit ihrem Bruder Gundoald nach Italien und ließ ihrem Verlobten Authari ihre Ankunft melden. Sogleich ging ihr der König mit stattlichem Gefolge entgegen. Auf dem Sardisfelde traf er sie, oberhalb Verona, und unter allgemeinem Jubel hielt er dort mit ihr Hochzeit. Das war am 16. Mai.

284, Chlodwigs Bekehrung. Bon Gregor von Tours.

Die Königin Chrotochildis ließ nicht ab, in ihren Gemahl, den König Chlodowech, zu dringen, daß er den wahren Gott bekenne und von den Götzen ablasse. Aber auf keine Weise konnte er zum Glauben bekehrt werden, bis endlich einmal ein Krieg mit den Allemannen ausbrach. Als die beiden Heere zusammenstießen, mußten viele das Leben lassen, und Chlodowechs Heer begann zu wanken. Als er das sah, erhob er seine Augen zum Himmel, er war ins Herz getroffen, seine Augen füllten sich mit Tränen, und er sprach: Jesus Christus, von dem Chrotochildis sagt, du seiest der Sohn des lebendigen Gottes, du brächtest Hilfe den Bedrängten und verliehest Sieg denen, die auf dich hoffen; demütig beuge ich mich vor dir und erflehe deinen mächtigen Beistand. Gewährst du mir jetzt den

Warnefried.

Gregor von Touri.

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Sieg über diese meine Feinde, und erfahre ich jene Macht, die das Volk, das deinem Namen sich weiht, an dir er­ probt zu haben rühmt, so will ich an dich glauben und mich taufen lassen auf deinen Namen. Denn ich habe meine Götter angerufen, aber sie sind fern geblieben und helfen mir nicht. Darum glaube ich, daß sie ohnmächtig sind, denn sie stehen denen nicht bei, die ihre Diener sind. Dich rufe ich jetzt an, und ich gelobe, an dich zu glauben, wenn ich meinen Feinden entrissen werde. Als er solches gesprochen hatte, wandten sich die Allemannen zur Flucht, und als sie sahen, daß ihr König gefallen war, . unterwarfen sie sich der Macht Chlodowechs und sprachen: »Laß, wir bitten dich, nicht noch mehr des Volkes umkommen, denn wir sind schon die Deinen." Da gebot er dm Seinen Still­ stand, unterwarf sich die Allemannen und kehrte in Frie­ den heim. Der Königin aber erzählte er, wie er.Christi Namen angerufen und so den Sieg gewonnen habe. Da ließ die Königin heimlich den Bischof von Rheims, den

heiligen Remigius, rufen und bat ihn, er möchte das Wort des Heils dem König zu Herzen führm. Da ging der Bischof zu dem König und drang in ihn, er solle an den wahren Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde, glau­ ben und die Götzen verlassen, die weder ihm noch andem helfen könnten. Der König aber sprach: „Gern höre ich dich, heiligster Vater, aber das Volk, da- mir folgt, wird nicht dulden, daß ich seine Götter verlasse. Aber ich will hingehen und mit dem Volke sprechen nach deinem Worte." Als er nun zu den Seinen kam, riefen alle, ehe er selbst noch etwas gesagt hatte: „Wir verlassen, o König, die sterblichen Götter und sind bereit, dem unsterblichen Gotte

zu dienen, den Remigius predigt." Dies wurde dem Bischof gemeldet, und er befahl hocherfreut, das Taufbad zu be­ reiten. Mit bunten Teppichen werden die Straßen be­ hängt, mit weißen Tüchern die Kirche geschmückt; das Taufbecken wird in Ordnung gebracht, Wohlgerüche ver-

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Deutsche Geschichte des Mittelalters.

breiten sich, hell schimmern die brennenden Kerzen, und der ganze Raum um das Taufbecken ist von Duft und Wohlgeruch derart erfüllt, daß alle, die zugegen sind, meinen, die Wohlgerüche des Paradieses umwehen sie. Der König verlangte zuerst getauft zu werden, um in dem Bade der Taufe die Flecken seiner früheren Taten abzuwaschen. Als er zur Taufe herantrat, sprach der Bischof zu ihm: „Beuge deinen Nacken, stolzer Sigamber! Bete an, was du verbrannt hast; verbrenne, was du angebetet hast!" Also bekannte der König den allmächtigen dreieinigen Gott und ließ sich taufen im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes; und er wurde gesalbt mit dem heiligen Ole unter dem Zeichen des Kreuzes Christi. Von seinem Gefolge aber wurden an diesem Tage mehr als dreitausend getauft.

238. Wuotans Eiche. Bon Willibald.

Bonifatius durchwanderte langer Wege Krümmungen und vieler Völker Gebiete und kam auch mit Zustimmung des Herzogs Karl zu den Hessen. Viele Hessen nahmen den katholischen Glauben an und empfingen, durch die Gnade des Geistes gestärkt, die Handauflegung, andere da­ gegen, deren Geist noch nicht erstarkt war, weigerten sich, des rechten Glaubens Wahrheiten anzuhören. Einige opfer­ ten noch heimlich den Bäumen und Quellen, andere taten dies offen; einige trieben offen oder insgeheim Wahr­ sagung und Zauberkünste, achteten auf zukunftkündende Vor­ zeichen und pflegten die verschiedensten Opfergebräuche. Andere dagegen, die eine gesundere Auffassung hatten und schon allem heidnischen Götzendienste entsagt hatten, taten nichts von alledem. Auf deren Rat und mit ihrer Hilfe unternahm er es, eine Eiche von seltener Größe, die man die Eiche des höchsten Gottes nannte, und die bei Geis­ mar unweit Frideslar stand, im Beisein der Knechte Gottes zu fällen.

Gregor von Tours. Willibald. Karls d. Gr. Landgüterordnung. 44t

Als er nun kühn entschlossen die Axt an den Baum legte, stand eine große Schar von Heiden dabei, und sie verwünschten ihn heftig als Feind ihrer Götter. Aber kaum hatte die Axt die Eiche leicht getroffen, als auch schon der mächtige Baum, vom Windhauche Gottes getroffen, mit zerschmettertem Wipfel zusammenstürzte und wie aus Befehl von obenher in vier Teile auseinander barst. Als das die Heiden sahen, die vorher voll Verwünschungell waren, wurden sie umgewandelt, vergaßen alle Lästerung und priesen, zum Glauben sich bekehrend, den Herrn. Der heilige Priester aber beriet sich mit den Brüdern und baute aus dem Holz der Eiche ein Bethaus, das er zu Ehren des heiligen Apostels Petrus weihte.

236, Karls des Große» Landgüterordnung. Wir wünschen, daß unsere Landgüter, die wir zur Besorgung unserer Wirtschaft eingerichtet haben, nur uirs allein dienen und nicht anderen Leuten; daß unser Ge­ sinde gut unterhalten werde und durch niemand ins Elend gerate; daß unsere Amtsleute sich nicht unterfangen, unser Gesinde zu ihrem Dienste zu gebrauchen, nicht zu den Frondiensten, nicht zum Holzfällen, noch sie andere Ar­ beiten zu vollbringen zwingen; daß sie keine Geschenke von ihnen annehmen, kein Pferd, keinen Ochsen, keine Kuh, kein Schwein, kein Schaf, kein Ferkel, kein Lamm noch sonst etwas außer Getränk, Hülsenfrüchten, Obst, Hühnern und Eiern. Es sollen unsere Amtleute unsere Weinberge über­ nehmen, die in ihren Bezirken liegen, sic gut besorgen und den Wein selbst in gute Fässer tun und sorgfältig darauf achten, daß er in keinerlei Weise Schaden leide. Auch sollen sie von anderen Leuten Wein kaufen, um da­ mit die königlichen Pfalzen zu versorgen. Von unseren Weinbergen sollen sie uns für unsere Tafel Wein senden. Der Wein, der von unseren Gütern als Zins gegeben wird, soll in unsere Keller geschickt werden.

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Deutsche Geschichte des Mittelalters.

So viele Landgüter einer in seinem Bezirke hat, so viele Leute soll er dazu bestimmen, die Bienen für unsere Wirtschaft zu besorgen. In unseren Mühlen sollen sie im Verhältnis zur Größe derselben Hühner und Gänse halten, so viel man kann. Auf den Hauptgütern soll man bei unseren Scheuern nicht weniger als 100 Hühner und mindestens 30 Gänse halten, auf den Hufengütern aber mindestens 50 Hühner und nicht weniger als 12 Gänse. Jeder Amtmann soll Jahr für Jahr reichlich Federvieh und Eier nn den Hof liefern.

Wir wünschen, daß jährlich in der Fastenzeit, am Palmsonntage, nach unserer Verordnung das Geld von unserm Wirtschaftsertrage, nachdem wir die Rechnungen von dem laufenden Jahre durchgesehen haben, eingezahlt werde. Es ist mit aller Sorgfalt darauf zu achten, daß alles, was die Leute mit ihren Händen verarbeiten und verfertigen, als Speck, getrocknetes Fleisch, Wurst, einge­ salzenes Fleisch, Wein, Essig, Maulbeerwein, Senf, Käse, Butter, Malz, Bier, Met, Honig, Wachs, Mehl, mit der größten Reinlichkeit hergestellt und bereitet werde. Unsere Wälder und Forsten sollen gut in Obacht ge­ nommen werden. Wo ein Platz zum Ausroden ist, rode man aus und dulde nicht, daß Felder sich bewalden, und wo Wald sein soll, da dulde man nicht, daß er zu sehr behauen und verwüstet werde. Und unser Wild im Walde sollen sie gut besorgen, desgleichen Falken und Sperber zu unserm Gebrauche hegen, auch den Zins für die Mast sorgsam einfordern. Ein jeder Amtmann soll auf unsern Landgütern ein­ zelne edle Vögel halten: Pfauen, Fasanen, Enten, Tau­ ben, Rebhühner, Turteltauben, um des Schmuckes willen.

Auf jedem Gute sollen innerhalb des Wohnraumes sich befinden: Bettstellen, Pfühle, Federbetten, Bettleinen und Tücher für Tische und Bänke, Gefäße von Kupfer, von Blei, Eisen und Holz, Feuerböcke, Ketten, Kesselhaken,

Karls d. Gr. Landgüterordnung.

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Äxte, Beile, Bohrer und all dergleichen Geräte, so daß man nicht nötig hat, sie anderswoher holen zu lassen und

zu borgen. Und das Eisenzeug, das man im Kriege braucht, sollen sie in Verwahrsam haben, damit es sich gut hält,

und sobald man aus dem Kriege zurückkehrt, soll man es wieder verwahren.

In unseren Weiberhäusern sollen sie der Bestimmung nach den Swff zur Arbeit geben, nämlich Flachs, Wolle,

Waid, Scharlach, Krapp, Wollkämme, Kardendisteln, Seife, Gefäße und anderes der Art, was hier notwendig ist. Ein jeder Amtmann soll in seinem Sprengel gute

Handwerker haben, als da sind Eisenschmiede, Gold- und

Silberschmiede,

Schuster,

Dreher,

Zimmerleute,

Schild­

macher, Fischer, Falkner, Seifensieder, Brauer, die nicht

nur Bier, sondern auch Apfel- und Birnenmost und andere

Getränke bereiten können, Bäcker, die Semmeln für unsere Wirtschaft zu backen verstehen, Netzemacher, die Netze zu

flechten verstehen zur Jagd, zum Fisch- und Vogelfang, und allerlei andere Handwerker. Unsere Kelterpressen auf unseren Gütern sollen in guter

Ordnung sein.

Und das sollen die Amtleute im Auge be­

halten, daß keiner sich herausnehme, unsere Trauben mit

den Füßen zu treten, wie in den südlichen Ländern, son­

dern daß alles sauber und anständig sei. Wir wollen, daß die Amtleute alles, was sie zu un­

serem Haushalte gegeben oder an Hosdiensten geleistet und sonst noch geliefert haben, in ein besonderes Rechnungsbuch

schreiben, und was sie selbst auf dem Gute verbraucht haben, in ein anderes; und über das, was erübrigt worden ist,

sollen sie uns Rechenschaft geben. Ein jeder Amtmann liefere Jahr für Jahr zu Weih­

nachten uns ein Verzeichnis von all unserem Gute und Ertrage: Was von Ochsen vorhanden ist, von Hufen, die

gepflügt werden sollen, von Acker- und anderen Zinsen, von geschlossenen Vergleichen und Friedensgeld, von dem ohne unsere Erlaubnis in unsern Forsten gefangenen Wild,

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Deutsche Geschichte des Mittelalters.

von Mühlen, von Feldern, von Brücken und Fähren, von Märkten, von Weinbergen, von denen, die Weinzins zahlen, von Heu, von Holzhöfen, von Kien, Schindeln und Bau« holz, von Brachland, von Hülsenfrüchten, von Wolle, Flachs und Hanf, von Baumfrüchten, von großen und kleinen Nüssen, von veredelten Bäumen, Gärten, Rübenland und Fischteichen, von Leder, Fellen und Hörnern, von Honig und Wachs, Fett und Seife, Maulbeerwein, Met und Essig, von Bier, jungem und altem Wein, altem und neueni Getreide, von Hühnern, Eiern und Gänsen, von Fischern, Schmieden, Schildmachern und Schustern, von Kisten und Schränken, von Drehern und Sattlern, Schmiedewerk­ stätten, Eisen- und Bleigruben, von Abgabenpflichtigen; und zwar alles getrennt voneinander und wohl geordnet, daß wir im stände sind, zu wissen, was und wie viel >vir von jeder Art haben. Wir wollen, daß sie in den Gärten alle Pflanzen haben, als Lilien, Rosen, Klee, Krauseminze, Salbei, Raute, Beifuß, Gurken, Melonen, Kürbisse, Bohnen, Kümmel, Rosmarin, Karbe, italienische Kichererbsen, Meerzwiebel, Siegwurz, Schlangenwurz, Anis, Sonnenblumen, Bärwurz, Lattich, Senf, Kresse, Petersilie, Sellerie, Sadebaum, Dill, Fenchel, Wegwarte, Weißwurz, Senf, Pfefferkraut, Wasser­ kresse, Gartenkresse, Rainfarn, Katzenkraut, Tausendgülden­ kraut, Mohn, Mangold, Haselwurz, Malven, Karotten, Pastinak, Melden, Kohl, Kohlrabi, Zwiebeln, Porree, Ret­ tiche, Schalotten, Lauch, Knoblauch, Krapp, Kardendisteln, Saubohnen, maurische Erbsen, Koriander, Kerbel, Spring­ wurz. Von Bäumen aber, so wünschen wir, sollen sie haben: Obstbäume von verschiedenen Sorten, ebenso Birnbäume und Pflaumenbäume von verschiedener Art, Ebereschen, Mispeln, Kastanien, Pfirsichbäume verschiedener Art, Quit­ ten, Haselnüsse, Mandelbäume, Maulbeerbäume, Lorbeer­ bäume, Kiefern, Feigen, Nußbäume, Kirschen verschiedener Art. Die Namen der Äpfel sind: Gosmaringa, Geroldinga,

Karls d. Gr. Landgüterordnung.

Wipo.

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Krevedellen, Spirauken, süße und herbe, alles Winteräpfel; aber auch frühreife, die sogleich gegessen werden müssen. Von Winterbirnen habe man drei oder vier Arten, süße, Kochbirnen und spätreife.

237. Die Kaiserwahl Konrads II. Von Wipo.

Zwischen Mainz und Worms zieht sich eine weite Ebene hin, die eine große Menschenmenge aufnehmen kann und mit ihren versteckten Inseln zu geheimen Besprechungen besonders sicher und geeignet erscheint. Als dort alle Großen und, um mich so auszudrücken, Kraft und Kern des Reiches zusammengekommen waren, schlugen sie diesseit und jenseit des Rheines ihr Lager auf. Da der Fluß Gallien von Germanien trennt, versammelten sich auf der deutschen Seite die Sachsen mit der slavischen Nachbar­ schaft, die Ostfranken, die Bayern und die Schwaben; aus dem linken Ufer aber die rheinischen Franken, die Loth­ ringer. Es handelte sich um das Höchste; Zweifel und Un­ gewißheit herrschten über die Wahl; zwischen Furcht und Hoffnung schwankend, erforschten Verwandte und Befreun­ dete ihre Wünsche. Denn nicht über eine geringe Ange­ legenheit sollte beraten werden, sondern über eine, die dem Reiche unermeßlichen Schaden bringen mußte, wenn sic nicht sorgsam erwogen war; wie man im Sprichwort sagt: Gargekochte Speise ist dem Munde gesund, roh ist sie schädlich. Nachdem man lange gestritten hatte, wer herr­ schen sollte, und nachdem man den einen wegen seines zu jugendlichen, den anderen wegen allzusehr vorgerückten Alters, diesen wegen Mangels an erprobter Tüchtigkeit, einige auch um offenkundigen Hochmuts willen ausge­ schlossen hatte, wurden aus vielen wenige gewählt und von diesen wenigen zuletzt zwei ausgesondert, bei denen end­ lich das Zünglein der Wage im Gleichgewicht ruhte. Zwei Kunrade waren es, von denen der eine wegen seines höhe­ ren Alters der ältere, der andere der jüngere genannt

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Deutsche Geschichte des Mittelalters.

wurde, beide die höchsten Adeligen der rechtsrheinischen Franken, die Söhne zweier Brüder, deren einer Hetzel, der andere Kuno hieß. Zwischen jenen beiden Kon­ raden schwankten lange alle Fürsten, und obgleich sonst alle im geheimen und mit besonderer Vorliebe auf den durch Mannhaftigkeit und Biederkeit ausgezeichneten älte­ ren Konrad ihr Augenmerk richteten, hielt doch ein jeder wohlweislich mit seiner Meinung zurück wegen der Macht des jüngeren Konrad, und damit nicht etwa der Ehrgeiz die beiden entzweite. Zuletzt aber fügte es die göttliche Vorsehung, daß die beiden selbst ein Übereinkommen trafen, das jeden Zweifel befriedigend löste, daß nämlich, wenn die Mehrzahl des Volkes einen von ihnen ausrufe, der andere ihm unverzüglich weichen sollte. Der jüngere Kuono versprach auf das bestimmteste, wenn man den älteren Kuono zum Herrscher ausrufe, wolle er ihm, seinem geliebten Vetter, gebührende Treue erweisen. Bei diesen Worten neigte sich der ältere Kuono im Angesichte alles Volkes und küßte seinen Verwandten, und durch diesen Kuß ward es allen klar, daß jeder der beiden einverstanden sein werde, wenn der andere getvählt würde. Auf dies Zeichen der Eintracht hin traten die Fürsten zusammen, und das Volk stand ringsum, und jeder freute sich, daß jetzt die Zeit gekommen war, wo das laut werden durfte, was er längst im innersten Herzen sich ge­ dacht hatte. Der Erzbischof von Mainz, dessen Stimme vor allen ein besonderes Gewicht hatte, wurde gefragt, was er dächte. Da gab er aus Herzensgründe und mit Freuden seine Stimme den: älteren Kunrad und erwählte ihn zu seinem Herrn und König, zum Lenker und Ver­ teidiger des Vaterlandes. Dem schlossen sich die andern Bischöfe und die übrigen Männer des geistlichen Standes ohne Bedenken an. Der jüngere Kunrad aber, der eben noch in kurzer Zwiesprach die Lothringer zur Beistimmung zu bewegen versucht hatte, kehrte nunmehr zurück und wählte mit freudiger Bereitwilligkeit den ältern zu seinem

Wipo.

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Herrn und König. Da reichte ihm der König die Hand und ließ ihn neben sich Platz nehmen. Darauf wählten ihn die einzelnen Vertreter der ver­ schiedenen Teile des Reiches mit den gleichen, oft wie­ derholten Worten, und das Volk jauchzte der Wahl zu. Alle stimmten den Fürsten bei, alle verlangten den ältern Kunrad und wollten, daß unverzüglich der neue König geweiht werde. Die Kaiserin Kunigunde reichte glück­ wünschend die königlichen Kleinodien dar, die ihr Ge­ mahl, der Kaiser Heinrich II., ihr zur Verwahrung über­ geben hatte, und sie ermutigte den Gewählten, soweit ein Weib dies vermag, zu seiner Regierung. Nach vollendeter Wahl beeilten sich alle, den König nach Mainz zu geleiten, damit er dort die hochheilige Sal­ bung empfange. Jubelnd zogen sie dahin; die Geistlichen stimmten Psalmen an, das Volk sang. Ich glaube, daß so viel Preis wohl noch nie an einem Tage Gott von den Menschen empfangen hat. Wäre Karl der Große mit seinem Szepter leibhaftig erschienen, so hätte das Volk nicht freudiger sein können und sich über seine Wiederkehr nicht mehr freuen können als jetzt über das Erscheinen dieses Königs. Bei dem Einzuge in Mainz wurde der König mit der schuldigen Ehrerbietung empfangen, und er harrte dort demütig der von allen ersehnten Feier. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der König aus dem Dome, und wie man von dem König Saul liest, daß er eines Hauptes länger gewesen sei als alles Volk, so schritt auch König Konrad einher, als ob er eine ganz andere Gestalt bekommen hätte, wie vorher. Im Geleit der Priester ging er in die Königspfalz.

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Der Rhein im Mittelalter.

Der Rhein im Mittelalter. 238. Rheingold. Die Rheinufer, ursprünglich von Kelten bewohnt, deren Spuren noch in zahlreichen Ortsnamen zu erkennen sind, tvurden früh von Germanen erobert und neu besiedelt. Zwar lief mehrere Jahrhunderte lang die Grenze des Römerreiches am rechten Rheinufer her, und der Strom erschien noch dem Dichter Ausonius um das Jahr 370 n. Chr. wie ein Grenzwall: „Unüberschreitbar den Franken, Chamaven und allen Germanen,"

-allein es währte nur noch kurze Zeit, da flutete der mächtige Völkerbund der Franken über den Rhein und machte sich das römische Gallien untertan. Der Frankenkönig Chlod­ wig eroberte Köln und ging dann westwärts, und in den wilden Jahrhunderten, die nun folgten, erwuchs mancher Held, dessen Taten noch lange in Gesängen gepriesen wur­ den. Karl der Große, auch ein Frankenkönig, ließ die Hel­ denlieder seines Volkes aufzeichnen, aber sein Sohn Lud­ wig der Fromme verbrannte sie wieder, weil darin ja das Heidentum verherrlicht schien. Trotzalledem hielten sich die Stoffe mündlich noch viele Jahrhunderte lang, bis sie dann, vielfach verändert und umgedeutet, im Nibelungenlied und in Heldenbüchern wieder auftauchten. Wir besitzen aber manches auch in nordgermanischer Fassung, indem vom Rhein her über Soest, Hamburg, Dänemark deutsche Männer, fahrendes Volk und Kaufleute, die Stoffe weiter­ trugen, bis sie auf der fernen Insel Island in den Lie­ dern der Edda und der Skalden ausgezeichnet wurden. Die Fluten des Rheines waschen aus dem Quarzgestein, über das sie rollen, die blinkenden Quarzkristalle,

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Der Rhein im Mittelalter.

Rheinkiesel genannt, die ehedem als Edelsteine hochge­ schätzt waren, aber auch Goldkörner. Durch oftmaliges Waschen und Sieben des Rheinsandes hat man seit uralten Zeiten gewaltige Massen Rheingoldes gewonnen, beson­ ders zwischen Basel und Straßburg, im Breisgau. „Gut ist, des Rheines Gold zu besitzen" heißt es schon in der Edda, und das Rheingold ist denn auch der tiefste Ur­ grund der Sage vom Nibelungenhort. In der Edda heißt das Halsgeschmeide der Göttin Freia Brinsingamen, ein Name, der auf Breisach und den Breisgau hindeutet. Der kunstberühmte Schmied Wieland, in der Edda Wölunder genannt, stammte vom Rhein. Der angelsächsische Dichter Galfred singt: „Wieland hat die Pokale geschmiedet im Lande zu Siegen,"

er hält also das erzberühmte Siegerland für Wielands Heimat. Als Wieland gefangen und verstümmelt dasitzt und man von ihm Goldgeschmeide heischt, da klagt er, wie in der Edda zu lesen, folgendermaßen: „Hier ist kein Gold wie auf Granis Wege, Fern ist das Land den Felsen des Rheins, Mehr der Kleinode mochten wir haben, Da wir heil in der Heimat saßen."

Grani ist Siegfrieds (Sigurds) sagenberühmtes Roß. Dem jungen Sigurd schmiedete Regin das Schwert Gram, das war so scharf, daß er es zur Probe in den Rhein steckte und eine Wollflocke den Strom hinabtreiben ließ, da zer­ schnitt das Schwert die Flocke, als wäre es Wasser. Mit diesem Schwert schlug Sigurd den Amboß Regins entzwei und zog dann aus, den Drachen Fafnir zu töten, der am Drachensels aus Goldschätzen saß. Als Fafnir von seinem Golde kroch, da erschlug ihn Sigurd, bemächtigte sich des Schatzes und wandte sich nun südwärts ins Franken­ land. Wegen des Schatzes ist später Sigurd ermordet wor­ den, und den Hort hat man wiederum in den Rhein ver­ senkt, woher er stammte. In der Edda heißt es: Hessel unb Ufer, Lesebuch 5.

M. 29

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Der Rhein im Mittelalter. „Nur der Rhein soll schalten mit dem verderblichen Schatz, Er kennt das Asen-verwandte Erbe der Niflungen: In der Woge gewälzt, glühn die Wal-Ringe mehr, Denn hier in den Händen der Hunnensöhne."

Bis in das 19. Jahrhundert hinein bestanden die Goldwäschereien im Breisgau, und manches blinkende Goldstück ist ans Rheingold geschlagen worden. Noch heute könnte man dort Gold waschen, allein die Arbeitslöhne und Unkosten wären größer, als das gewonnene Gold wert ist. Hat man doch inzwischen in fernen Ländern vielerorten so reiche Goldadern entdeckt, daß man darauf ver­ zichten kann, dem Rhein mühsam seine Goldkörner zu ent« fischen. Aber der Name Rheingold lebt noch in Dichter­ mund, als Inbegriff alles Edelsten und Köstlichsten.

239, Rheinschiffahrt in alter Zeit. Wie andere Bilder als heute mag der Rhein auf­ gerollt haben, als König Gunther und Siegfried mit ihren Mannen den Rhein talwärts schifften, von Worms bis hinaus in das Meer, oder als die Nordmänner auf ihren schlanken Schiffen bis Bingen ruderten und die Uferorte verheerten. Im ganzen Mittelalter war rege Schiffahrt auf dem Rheinstrom, aber es fuhren Segelschiffe, die zu Berg mühsam von Pferden gezogen wurden, die alle Augen­ blicke halten mußten, um Zoll zu entrichten oder zu leich­ tern. Von Mainz bis Köln wurde siebenzehnmal Zoll er­ hoben, und so ging es bis zur französischen Zeit. Im Wiener Kongreß erst wurde bestimmt, der Rhein sollte frei sein, „jusque dans la mer". Nur Nassau erhob noch bei Kaub seine Sporteln, so lange Nassau als selbständiges Herzogtum bestehen blieb, bis 1866. Kam eine für die Schiffahrt schwierige Strecke, so die Stromschnellen im Bingerloch, da mußten die Fracht­ schiffe einen Teil der Ladung löschen, leichtern, damit sie mit geringerem Tiefgang die Untiefen und Klippen über-

Der Rhein im Mttelalter.

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wänden. Auf Frachtwagen passierten dann die Waren am Ufer die gefährliche Strecke, und da gerade klebten am Felsen die Raubburgen, deren Insassen, die Raubritter, unberechtigterweise auch ihrerseits Zoll erhoben. Rudolf von Habsburg war es, der die schlimmsten dieser Nester, Reichenstein und Sooneck, ausheben und die adeligen Raub­ vögel am Rheinufer an Bäumen aufhängen ließ. Sonst schützte jeder der vielen Landcsherrn sein Stück­ chen Rheinufer und sorgte für Instandhaltung des Lein­ pfades, wo Pferde an einer Leine die Schiffe langsam auf­ wärts schleppten; zur Verbesserung des Fahrwassers ge­ schah nichts. Zu Köln und Mainz bestand bis 1831 das uralte Umschlagsrecht, das heißt: alle rheinaufwärts kom­ menden Güter mußten zu Köln und Mainz auf Schiffe dortiger Schiffer umgeladen werden, während die tal­ wärts fahrenden Güter von Mainz ab nur auf Kölner Schiffen befördert werden dursten. Ja, daneben bestand bis in das 18. Jahrhundert hinein noch das ungeheuer­ liche Stapelrecht, danach wurden in jenen beiden Städ1m die Güter nicht etwa nur einfach umgeladm, nein, sie mußten erst alle in das Stapelhaus geschafft werden und waren den einheimischen Kaufleuten zu Kaufe angeboten, so daß der ganze Rheinhandel nur durch Vermittlung der Kölner und Mainzer Kaufherrn vor sich gehen konnte. Da hatten sich diese Herrn leicht ihres Reichtums rühmen! Riesig war in alten Zeiten der Floßverkehr auf dem Nheinstrom. Einer, der 1789 auf einem Floß von Ander­ nach nach Holland gefahren ist, erzählt, daß auf diesem Floß ein Dutzend Hütten gebaut waren, die von fast fünf­ hundert Knechten bewohnt wurden. In der Herrenhütte wohnte der Floßherr, beim Sommerzelt standen die Bier­ fässer, auch mehrere Ochsen, die zu schlachten und herzu­ richten zwei Metzger gedingt waren. Auf der langen Reise verbrauchte man 40000 Pfund Brot, 10 Zentner Butter, 600 Ohm Bier. Das Feuer in der Küchenhütte erlosch nie, darin regierte ein Meisterkoch mit mehreren Gehilfen. 2Y«

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Der Rhein im Mittelalter.

Dafür bestand aber auch das Floß aus Hölzern im Wert von einer: Viertelmillion Gulden. Im Jahr 1827 wurde die Dampfschiffahrt auf den, Rhein eröffnet, und heute befahren mehr als tausend Dampfer den breiten grünen Strom, ohne Rheinzoll zu zahlen. Das Holz des Schwarzwaldes wird nach wie vor, in Flöße zusammengebunden, stromab gefahren, doch sind die Flöße viel kleiner und werden sicher und schnell von kleinen Schleppern gezogen.

240. Das römische Mainz. Die Ähnlichkeit des Namens Mainz mit Main ist ge­ wiß nicht zufällig: die der Mainmündung gegenüber­ liegende Ansiedlung ist sicherlich nach dem Mainfluß be­ nannt worden und zwar Moguntiacum, woraus im Mittel­ alter die Abkürzung Moguntia sich entwickelte. Bei dieser keltischen Niederlassung gründete Drusus das stärkste und wichtigste der fünfzig Kastelle, die er am Rhein anlegte. Mainz ward die Hauptstadt des „ersten Germaniens". Das Kastell lag nicht dicht am Rhein, sondern auf. dem höchsten Punkte der jetzigen Stadt, dem Kästrich, was ja sicher mit Castrum zusammenhängt; es bildete ein Viereck, dessen Langseiten die gleiche Richtung mit dem Rheinlauf hatten. Die 14. Legion, die bis Titus hier ihre Garnison hatte, baute die gewaltige Wasserleitung, deren Reste bei dem Dorf Zahlbach in Form von 62 mächtigen Pfeilern noch sichtbar sind. Die einst darüberliegenden Bogen, wie auch die das Bauwerk bekleidenden Quadern sind im Lauf der Zeiten abgebrochen und zu andern nützlichen Zwecken

verwandt worden. Unter Trajan baute die 21. Legion eine steinerne Rheinbrücke. Bei niedrigem Wasserstand wurde im Jahre 1800 festgestellt, daß die Reste von 25 Pfeilern noch vor­ handen sind, die in einem Abstand von je 100 Fuß den

Der Rhein im Mittelalter.

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Strom überschritten. Auf dieser Unterlage, so glaubt man, hat dann Karl der Große eine hölzerne Brücke gebaut. Einhard war mit der Bauleitung betraut, es wird berichtet, daß der Bau zehn Jahre gedauert habe. Diese Brücke ist aber ein Jahr vor Karls Tode abgebrannt und konnte ob des schnellen Todesfalles nicht wieder hergestellt werden, wiewohl es in Karls Plane lag, statt einer hölzer­ nen eine steinerne aufzuführen. Der römische Kaiser Hadrian hatte Mainz auch noch durch zwei vorgeschobene Kastelle gedeckt. Unter dem Schutze dieser dreifachen Festung ent­ wickelte sich die bürgerliche Ansiedlung. In den jetzigen Festungswerken von Mainz steht der Eigelstein, eine schwärzliche Steinmasse, etwa zwölf Meter hoch, anscheinend ein Grabdenkmal, dem aber die äußere QuaderbeUeidung geraubt ist. Eigel erinnert att Aquila, Adler, und es wird wohl einst ein Adler das Denkmal gekrönt haben. Die mittelalterliche Sage erzählt, ein heid­ nischer König von Mainz habe nicht an die Auferstehung glauben wollen und befohlen, ihm einen solchen Berg aufs Grab zu türmen, damit er nicht mehr herauskommen könne, denn er wolle nun einmal die Auferstehung nicht mit­ machen. Inschriften fehlen am Eigelstein, nur die Über­ lieferung bezeichnet ihn als Grabdenkmal des Drusus. Ein anderes, sicher dem Drusus gewidmetes Mal ist erst in neuester Zeit verschwunden, es war ein Relief, das den Drusus in Lebensgröße darstellte, geharnischt, eine Stier­ haut über dem Kopf, den Speer in der Rechten, in der Linken den Schild. Die Inschrift lautete: In memoriern Drusi Germanin (zum Andenken an den Drusus Germanicus). Als Drusus durch die Anlage der Befestigungen von Mainz den römischen Heeren den Rücken gedeckt hatte, unter­ nahm er seinen letzten Eroberungszug, der ihn tief nach Germanien hineinführte. Bis an die Elbe kam er, da trat ihm, wie Cassius Dio erzählt, ein Weib von übermensch­ licher Größe entgegen und sagte ihm: „Drusus, wohin

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Der Rhein im Mittelalter.

reißt dich deine unersättliche Begierde? Es ist dir nicht bestimmt, dies alles zu schauen. Kehre um, du stehst am Ziel deiner Taten und deines Lebens!" Die Erscheinung schreckte ihn so, daß er den Rückzug befahl und in Eil­ märschen dem Rhein zustrebte. Aber in der Wetterau fiel er vom Pferde und starb nach dreißig Tagen. Tribunen und Zenturionen trugen seinen Leichnam nach Mainz, und von da brachte man ihn nach Rom. Der Eigelstein war also ein Kenotaph, d. h. ein leeres Grabmal.

241. Bier Grabmäler im Mainzer Dom. Der Mainzer Dom ist um die Wende des elften und zwölften Jahrhunderts gebaut, in damals unerhörten Größenverhältnissen; er ist mit dem Dom von Speier das erste Beispiel, daß man es wagte, so riesige Räume mit Kreuzgewölben zu Überspannen, darum ist er mitsamt dem Speierer Dom ein Markstein in der Geschichte der Kirchen­ baukunst. Er ist in alten Zeiten ganz fertig geworden; mit seinem Doppelchor, seinen sechs Türmen, seinen mächti­ gen Mauermassen und seiner herrlichen Jnnenhalle wirkt er überaus großartig, ernst und überwältigend. Mit Denk­ mälern aus allen Jahrhunderten seines Bestehens ist er wie übersät. Das Äußere ist leider fast ganz zugedeckt durch festangebaute Häuser und Kaufläden. Vier Grabmäler int Mainzer Dom sind geschichtlich merkwürdig. Zunächst das der Fastrada, jener Gemahlin Karls des Großen, der er der Sage nach durch die Kraft eines Zauberringes, den sie trug, so zugetan war, daß er selbst nach ihrem Tode nicht von ihr lassen wollte. Erst als jemand unter der Zunge der toten Kaiserin den Zau­ berring entdeckte und wegnahm, ließ Karl die Fastrada begraben. Der Ring soll in die Quelle zu Aachen ge­ worfen worden sein, und von da ab soll des Kaisers Herz an den Aachener Quellen gehangen haben. So wird meist erzählt. Es gibt aber auch ein altes Lied, wonach ein

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Bischof den Zauberring in den Rhein geworfen habe, da habe der Kaiser gerufen: O Rhein, o Rhein, du Liebster mein, Hier will ich leben, begraben sein. O Abend, o Abend, Die müden Arme ruhn!

und da habe er sich die Kaiserpfalz zu Ingelheim gebaut, um immerdar am Rheine zu wohnen. Das zweite Grabdenkmal ist das des Erzbischofs Peter von Aspelt, auch der Eichspalter genannt, der Deutschland drei Könige gegeben. Darum steht er in ganzer Figur auf seinem Grabsteine, segnend die Hand über drei Ge­ stalten breitend, die um eines Hauptes kleiner sind denn er: Heinrich VII. von Luxemburg, Johann von Böhmen, dessen Sohn, und Ludwig den Bayern, die drei Könige, die er gekrönt hat. Ein weniger rühmliches Gegenstück dazu ist das Grab­ denkmal des Erzbischofs Siegfried: die beiden Könige, über die dieser seine Segenshand breitet, sind die Gegenkönige Heinrich Raspe und Wilhelm von Holland. Mit beiden hat er Deutschland nichts Gutes beschert. Es ist aber noch ein vierter Grabstein beachtenswert, der sich im Kreuzgang des Domes befindet. Er deckt Frauen­ lobs Grab. Zu Mainz lebte der Minnesänger Heinrich von Meißen. Es war aber dazumal ein Streit, ob der Name Frau oder Weib edler und würdiger sei. Man muß wissen, daß Frau damals den Sinn „Herrin" hatte, etwa wie jetzt Dame gebraucht wird. Während die Dichter Rei­ mar von Hagenau und Walther von der Bogelweide dem Namen Weib den Vorzug gaben, führte Heinrich von Meißen einen Streit mit Rumeland und dem Meister Regen­ bogen über diese Frage. Alle erklärten „Weib" für schöner, nur er war für die Benennung „Frau". Lieder waren die Waffen in dieser Fehde, und diese Lieder flogen hin und her wie Speere. Von nun ab wurde Heinrich von Meißen, dem man den Sieg zuschrieb, Frauenlob genannt. Dazu

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kam noch, daß er auch „Unsere liebe Frau", die Jungfrau Maria, in schönen Gesängen gefeiert hatte. Als er starb, bestatteten ihn die Mainzer Frauen zu Grabe. Die zwölf Schönsten trugen den Sarg, und als sie ihn im Kreuzgang des Domes beigesetzt hatten, streu­ ten sie Blumen in die offene Gruft und gossen so viel Spenden neuen Weines auf das Grab, daß der ganze Kreuzgang herrlich duftete. Ein alter Chronikschreiber sagt, der Begräbnistag sei der Tag vor dem Andreastag 1318 gewesen, und es sei soviel Wein auf das Grab gegossen worden, daß er durch den ganzen Umgang der Kirche umhergeflossen sei.

242. Drei Königsftühle am Rhein. Königsstuhl nannte man einen steinernen Hochsitz, worauf der zum deutschen König erkorene Mann im Kreis der Fürsten, die ihn erwählt, dem Volk als sein neuer Herrscher vorgestellt wurde. Der älteste Königsstuhl stand auf der Grenze des Mainzer und Wormser Bistums, bei Nierstein am Rhein, an der Stelle, wo der zweite Konrad zum Kaiser erkoren ward, an jenem denkwürdigen Tage des Jahres 1024, von dem der alte Geschichtsschreiber Wipo und nach ihm Uhland so anmutend erzählt hat. Dieser Stuhl stand bis ins 13. Jahrhundert hinein. Jenseits Mainz, in dem Winkel zwischen Rhein und Main, der das „Königssundra" hieß, das heißt das dem König abgesonderte Gebiet, ward der zweite Königsstuhl errichtet, von wo aus Lothar von Sachsen, die Hohenstaufen Philipp und Friedrich II. im Angesicht des goldenen Mainz als deutsche Könige ausgerufen wurden. Dort hielt auch der alte Friedrich Barbarossa im Jahre 1184 das be­ rühmte Mainzer Fest ab. Das war zu Pfingsten, und man hatte eine ganze Zeltstadt gebaut zur Aufnahme der Fürsten und ihrer Gefolgschaft. In der Mitte war ein hölzerner Palast für den Kaiser errichtet und eine große

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Holzkirche. Fahnen und Banner flatterten überall, ganze Flotten kamen angeschwommen, mit Lebensmitteln und Wein befrachtet, zwei große Hauser waren von unten bis oben mit Hühnervieh angefüllt, so daß viele mit Verwunde­ rung sie ansahen und gackern hörten; sie hatten gemeint, so viele Hühner gäbe es überhaupt nicht. Fahrende Sänger, Spielleute und Gaukler strömten herbei, das Volk zu be­ lustigen und reichen Lohn einzuheimsen. Auf 70000 schätzte man die Zahl der Ritter und Krieger, dazu kam ein Heer von Geistlichen und Leuten niederen Standes. Ein Gottes­ dienst mit Prozession eröffnete das Fest, und glänzende Gastmähler schlossen den ersten Tag. Der zweite Tag war dem Wasfenspiel gewidmet, des Kaisers Söhne wurden zu Rittern geschlagen, sein Sohn Heinrich erschien mit der Königskrone auf dem Haupt. Erst am vierten Tag zerstreute sich die Menge. Der Königsstuhl, der dort erbaut war, wurde später abgerissen und aus seinen Steinen ein Wartturm errichtet, der aber auch längst wieder zerstört ist. Auch der dritte Königsstuhl ist verschwunden, wenn er auch anscheinend noch vorhanden ist. Das hängt so zusammen: Als zu Zeiten Ludwigs des Bayern die Zahl der Wahlfürsten oder Kurfürsten auf sieben beschränkt wurde, von denen vier am Rhein seßhaft waren, da be­ stimmten sie Rhense zu ihrem Versammlungsort, weil dort die Gebiete aller vier rheinischen Kurfürsten zusammen­ stießen. Rhense selbst war kurkölnisch, der Stolzenfels kurtrierisch, Lahnstein kurmainzisch, die Marksburg zwar katzenellenbogisch, aber zugleich kurpfälzisches Lehen. Stieß man zu Rhense ins Horn, so konnten auf dies Zeichen hin die drei hohen Herrn sich aus ihren Burgen aufmachen und sich zum vierten nach Rhense begeben, und nach der Sitzung konnte jeder in seiner eigenen Burg bequem über­ nachten. Als nun 1346 Karl IV. römischer Kaiser wurde, da ward er zu Rhense ausgerufen, und man baute dazu den

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dritten Königsstuhl. Auch Wenzel, Ruprecht von der Pfalz, Sigismund und Friedrich III. sind zu Rhense gekoren wor­ den, dann geriet diese Sitte in Verfall, weil von nun ab nur noch habsburgische Kaiser herrschten, die im fernen Wien ihre Hofstatt hatten. Es war aber der Königsstuhl zu Rhense ein Raum im regelmäßigen Achteck, den ein Kreuzgewölbe überspannte, auf acht Eckpfeilern und einem Mittelpfeiler ruhend. Über dem Gewölbe war eine Plattform, das war das eigent­ liche Gestühl, zu dem von außen eine Treppe hinanführte. Der Stuhl stand unversehrt bis zum Jahre 1808, da ward er abgebrochen, damit die neue Landstraße ohne Umweg hier vorbeilaufen könne. Was kümmerten die französische Regierung des „döpartement du Rhin" die Erinnerungen an des Deutschen Reiches Herrlichkeit? Im Jahre 1841 haben dann vaterländisch gesinnte Männer aus freiwilligen Beiträgen den Königsstuhl an der alten Stelle wieder aufgebaut, getreu nach alten Zeich­ nungen, die noch vorhanden waren. Die letzte Königsweihe, die der alte Königsstuhl er­ lebt hat, war 1794, da galt es freilich die Weihe eines Königleins, des Koblenzer Bürgermeisters Rosenbaum. Man unternahm eine feierliche Wagenfahrt nach Rhense, ver­ kündete dem unten harrenden Volk die Wahl und warf Weißbrot und Geld unter die Menge, während droben auf dem Gestühl Pokale mit Rheinwein kreisten. Und abends gab es ein Tänzchen im Haus des hochgebietenden Herrn Rosenbaum in der Kastorgasse zu Koblenz. Auch Rosen­ baum wurde abgesetzt wie einst der faule Wenzel, nach kurzer Herrschaft trat ein französischer Maire an seine Stelle.

243. Das römische Köln. Julius Cäsar siedelte den germanischen Volksstamm der Ubier, der im heutigen Nassau gewohnt hatte, weiter nördlich auf dem linken Rheinufer an, und so entstand

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die Stadt der Ubier. Germaniens mit seinen Legionen weilte gern an diesem Orte, er erhob die Ubierstadt zu einer römischen Kolonie und gab ihr seiner Gemahlin Agrippina zu Ehren den Namen Colonia Agrippina. In Rechteckform umzogen die Mauern die Stadt, so daß die Stelle, wo später die Gereonskirche sich erhob, schon außer­ halb lag. Nach und nach ward Köln neben Mainz die zweite Hauptstadt des linksrheinischen Römergebiets in Germanien, Standort von fünf Legionen. Als Claudius Civilis den gewaltigen Aufruhr erhob, schlug sich Köln

zu seiner Partei; Vitellius ward in Köln zum Kaiser auf­ gerufen; Konstantin baute hier eine feste, steinerne Brücke über den Rhein. Auf dem Platz westlich vom Dom hat sich der Rest eines alten römischen Stadttores gefunden, das in Keller und Grundmauern der niedergelegten Dom­ dechanei verbaut gewesen war; auch sonst sind mancher­ lei Baureste aus römischer Zeit noch vorhanden, so steht an der St. Apernstraße noch der Römerturm, der die Nord­ westecke der römischen Stadtmauer bildete. Zahllose Grä­ berfunde mit Hausgerät, Schmucksachen und Münzen aller Art werden, man möchte fast sagen bei jedem Neubau ge­ macht. Ein Kanal, einem überwölbten Bach zu vergleichen, führte viele Meilen weit von der Eifel her das dortige wohl­ schmeckende, kalkreiche Wasser bis nach Köln, auch unter­ wegs zahlreiche Ansiedelungen und Villen tränkend. Dieser Kanal ist mit seinen seitlichen Abzweigungen noch heute auf lange Strecken hin zu erkennen, wenn auch fast überall zerstört. Man tat das, um Bausteine zu gewinnen, be­ sonders aber, um den Kalksinter herauszunehmen, der mit seiner reichen und bunten Schichtung, besonders wenn man ihn polierte, einen prächtigen Schmuckstein abgab und viel­ fach sogar als Säulen in Kirchen Verwendung gefunden hat. Im Mittelalter glaubte man, dieser Kanal sei eine Leitung gewesen, um auf diese seltsame Art den Moselwein wie einen Bach von Trier nach Köln fließen zu lassen. Heißt es doch im Annolied:

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Der Römer Macht geschmücket hat Trier, diese alte Stadt; Unter der Erde sandte Den Wein man in die Lande: In steinernen Rinnen Ließ man ihn rinnen Nach Köln, den Herrn zu besonderer Gunst: So gewaltig war der Römer Kunst.

Jedenfalls ist dieser Kanal eins der bedeutendsten Kultur­ werke, das die Römer im Rheinlande geschaffen haben, natürlich, mit Hilfe des Teufels, so glaubte man. Darum hieß der Kanal auch Teufelskalle. Die Patrizierfamilie von der Aducht in Köln muß ihre Wohnung an dieser Wasser­ leitung gehabt haben, denn Aducht ist aus Aquädukt ver­ stümmelt. Der Kanal trat an der Südwestecke der Stadt in diese ein und durchquerte sie bis zum Palaste des Statt­ halters, der an der Stelle des jetzigen Domes stand. Dort endete die Leitung in einem Sammelbecken, das durch Treppen zugänglich war. Auch die Kirche Maria im Kapitol zeigt schon durch ihren Namen, daß sie im Bereich eines römischen Tempels erbaut ist. Die Straßenzüge der jetzigen innern Stadt Köln entsprechen in den Hauptzügen den altrömischen: quer durch die Stadt zog sich und zieht sich noch die Hoch­ straße, und senkrecht zu ihr laufen viele Straßen, die sich wohl nur deswegen so schlängeln, weil sie nach Zerstörungen zwar im alten Straßenzug neu erbaut wurden, aber nicht in festbestimmter Fluchtlinie. Vor Köln lag eine Insel, die im Mittelalter nach Zuschüttung des trennenden Rhein­ armes zur Stadt gezogen wurde. Noch zeigen die lang­ gestreckten Plätze, der Altenmarkt und Heumarkt, die Stelle des einstigen Rheinarmes. Die mittelalterliche Sage feierte übrigens als Kölns Gründer den Agrippa. Sein Bild war am Gürzenich an­ gebracht, und darunter standen die Worte: Der herrliche Marcus Agrippa, ein heydnisch Mann, Vor Gotz Geburt Agrippinam, nu Kölne, begann.

Der Rhein im Mittelalter.

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244. Petrarka in «Sln. Im Jahre 1330 machte der berühmte italienische Dichter Petrarka eine Reise durch Frankreich und gelangte dann über Aachen nach Köln. In Briefen an den Kar­ dinal Colonna hat er mancherlei über diese Reise be­ richtet. So auch, daß er in Köln Zeuge eines ihn höchlich überraschenden Schauspiels geworden sei. Er sah am Borabend des Johannistages das ganze Rheinufer mit einer Schar herrlicher Frauen und Mäd­ chen bedeckt. „Ihr guten Götter," so erzählt er selbst, „welche Frauen, welche Haltung! Da müßte sich jeder ver­ lieben, dessen Herz nicht schon anderweit vergeben ist. Ich stand an einer etwas erhöhten Stelle und beobachtete also von oben her alles genau. Unglaublich war das Gewim­ mel, aber ohne Drängen, alles atmete Frohsinn. Viele waren mit wohlriechenden Kräutern geschmückt, und die Ärmel bis über den Ellenbogen zurückgestreift, wuschen sie die weißen Arme und Hände int. Fluß, wobei sie in ihrer Sprache wohllautende, mir unverständliche Worte sprachen." Auf Petrarkas Frage nach der Bedeutung dieses selt­ samen Treibens bekam er die Antwort, es sei ein uralter Brauch des Volkes, namenüich der Weiber; denn man glaube alles im ganzen Jahr etwa bevorstehende Unglück durch die an diesem Tag übliche Abwaschung im Rheine wegzuspülen, dann könne einem nur Angenehmes begeg­ nen. Diese jährliche Weihe habe man von jeher unver­ brüchlich gehalten und werde sie auch in Zukunft halten. „Wie beneide ich euch," schließt Petrarka seinen Be­ richt, „ihr glücklichen Anwohner des Rheins, daß der Fluß euer Leid und eure Klagen hinwegschwemmt, da uns weder Po noch Tiber davon reinigen kann! Euer Leid wälzt der Rhein den Briten zu, gern schickten wir unseres nach Afrika oder Illyrien, aber unsere Flüsse sind zu träge." Da die heidnischen Deutschen ihre neugeborenen Kin­ der im Rhein wuschen und diese Handlung als eine Art religiöser Weihe betrachteten, so war wohl jener kölnische

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Der Rhein im Mittelalter.

Brauch in der Johannisnacht ein Nachklang jener alt­ germanischen Feier. Jetzt ist das alles verklungen und vergessen.

245. Das mittelalterliche Köln. Als Köln sich dauernd die Unabhängigkeit von der erzbischöflichen Gewalt erstritten hatte, da zog Gewerbe­ fleiß, Handelsgeist und Wohlhabenheit in seine Mauern ein. Köln stand als die erste Stadt Deutschlands da, in ganz Europa bekannt und hochgepriesen. Ihre Bewohner erfüllte hohes Selbstgefühl, Tatkraft und Unternehmungs­ geist. Am Schluß des 13. Jahrhunderts gab es in Köln 80000 Webstühle, Kölner Tuch ging in die ganze Welt, die Gold- und Silberschmiede von Köln waren weitbe­ rühmt. Mit Ungarn und Griechenland, den Niederlanden und Dänemark stand die Stadt in regem Verkehr. Kölns Kaufleute hatten ihre Kontore in London, und ihr dortiger Warenhof war der Keim für den Hansabund. Die Kölner Schiffe blieben nicht auf dem Rhein, sondern segelten auch über Meer. Nach Kölns Münzfuß richtete sich sogar Venedig. Tuch, Wein, 'Getreide, Fisch, Holz waren die Haupthandelsartikel. Am 11. November 1367 ward zu Köln der große Hansabund geschlossen, der lange Zeit eine so große Bedeutung für Deutschland hatte. Da kam der stolze Spruch auf/ Kölns Wahlspruch bis heute: Köln ein Krvin boven allen Städten schoin! Trotz der Kämpfe mit den Erzbischöfen waren die Kölner Bürger gläubige Christen. Sie achteten die Heilig­ tümer ihrer Stadt sehr hoch und waren bedacht, immer neue Stätten der Gottesverehrung zu schaffen, so daß Köln mehr Altäre gehabt haben soll, als Tage im Jahre. Darum hat es seit Alters den Beinamen das heilige Köln, das „billige". In Köln wirkte und lehrte der berühmte Ge­ lehrte Albert der Große, ein Dominikanermönch, der auch in der Wissenschaft der Natur seiner Zeit voraus var. Darum wurden abenteuerliche Dinge von ihm erzihlh so

Der Rhein im Mttelalter.

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soll er um 1248 den König Wilhelm von Holland bewirtet haben und dem Gaste zu Ehren mitten im Winter den Klostergarten zum Grünen und Blühen gebracht haben. Vöglein sangen in den Zweigen, Musik ertönte unsicht­ bar, und Geisterhände reichten Speisen, bis nach dem Feste wieder eine Schneedecke sich über den Garten brettete wie vorher. Köln hatte auch seit 1389 eine Universität. Zur humanistischen Zett kam jedoch diese Schule in üblen Ruf, besonders die Kölner Theologen huldigten einer starren Richtung und pflegten das sogenannte Mönchs- oder Küchen-

latein. Mehr und mehr sank das Ansehen der Kölner Wissenschaft, die Hochschule siechte langsam dahin und ent­ schlief endlich 1798, alt und lebenssatt.

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Verschiedenes.

Verschiedenes. 246. Heidelberg. Wenige Orte in Deutschland können sich mit Heidel­ berg messen, was Schönheit und Lieblichkeit der Gegend anlangt und die Fülle geschichtlicher Erinnerungen. Auf dem schmalen üfersaume des Neckars dehnt sich über eine halbe Stunde lang, die Stadt hin, gleich einem Bande, fast nur eine einzige Straße bildend, von der aus kurze schmale Gassen dem Neckar zulaufen und ebenso kurze, steile den Schloßberg hinan. Das Schloß ist der eigent­ liche Glanzpunkt Heidelbergs. Erst seit 1803 ist die Stadt badisch, jahrhun­ dertelang aber war sie die Hauptstadt der Kurpfalz. Schon vor dem Jahre 1300 begannen die Pfalzgrafen den Schloßbau, Otto Heinrich fügte um 1560 den OttoHeinrichsbau hinzu, Friedrich IV. 40 Jahre später den Friedrichsbau und Friedrich V. den Bau, der nach seiner Gemahlin Elisabeth, einer Prinzessin von England, der englische Bau hieß. Bei der greulichen Verwüstung der Pfalz durch die Franzosen ist im Jahre 1689 und 1693 Schloß und Stadt zerstört worden. Darum ist auch außer der Heiliggeistkirche, dem Marstall und dem Gasthaus zum Ritter kaum ein altertümliches Gebäude in Heidel­ berg zu sehen. Leider haben die Kurfürsten ihr Schloß nicht wiederhergestellt, sind vielmehr nach dem nahen Mannheim gezogen. Doch ist das Schloß auch in seinen Trümmern noch überaus herrlich. Besonders der OttoHeinrichsbau und der Friedrichsbau sind wahre Wunder­ werke der Baukunst, sie prangen im reichsten Schmucke zahlloser Bildhauerwerke: Blumengewinde, prächtig ver-

Verschiedenes.

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zierte Gesimse, Türbögen und Fensterstäbe, überlebens­ große Figuren, Köpfe in runder Einrahmung und In­ schriften, alles aus Sandstein gemeißelt, wechseln bunt mit einander ab. Der Friedrichsbau steht noch, der OttoHeinrichsbau ist eine malerische Ruine, ohne die einst hochragenden Giebel und ohne Dach; auch die Um­ fassungsmauern und Ecktürme des Schlosses sind ge­ sprengt und zerstört. Dagegen sind die Keller noch wohl erhalten, und selten wird ein Fremder, der das* Schloß besucht, es ver­ säumen, sich das berühmte Heidelberger Faß zeigen zu lassen, jenes Faß aller Fässer, das genau gemessen 221726 Liter Wein aufnehmen kann. Eine Treppe führt hinauf, und oben drauf ist ein mit einem Geländer umschlossener Raum, wo eine ganze Anzahl Paare tanzen können, wenn es ihnen Spaß macht, und wenn sie jemand finden, der ihnen zum Tanze aufspielt. Das hölzerne Standbild eines kurfürstlichen Hofzwerges, namens Perkeo, hält Wache neben dem Faß. Auch die stolze Schloßterrasse ist unzeratört, von deren hohem Balkon wir einen Überblick gewinnen über ganz Heidelberg, über die bewaldeten hohen Berge jenseits des Neckars, über das Flußtal selbst, das zu unserer Rechten sich durch die Berge windet, links aber alsbald in die fruchtbare, weite Rheinebene übergeht. Der Schloßberg selber, an dessen Abhange sich das alte Schloß erhebt, ist mit uralten Bäumen bestanden, besonders vielen echten Kastanien, die so schöne braun­ glänzende, eßbare Früchte tragen. Stundenweit noch dehnen sich die herrlichen Anlagen stromaufwärts am Berg hin, bis zum Wolfsbrunnen, wo nach der Sage die Zauberin Jetta von einem Wolf getötet worden ist; und will man die ganze Höhe des hohen Berges erklimmen, der das Schloß trägt, so kostet das auch noch manchen sauren Tritt, denn erst nach zwanzig Minuten Steigens gelangt man zur Molkenkur, wo die Pfalzgrafen zuerst ihre Burg hatten, und beinahe noch eine weitere Stunde Hessel und User, Lesebuch b. M. 30

braucht es, bis man den 568 Meter über dem Meer lie­ genden Gipfel, den Königsstuhl, erreicht hat. Heidelberg hat auch eine berühmte Hochschule oder Universität, die schon im Jahre 1386 gegründet worden ist, an der seitdem zahlreiche berühmte Männer als Lehrer gewirkt haben. In Heidelberg ist auch der Heidelberger Katechismus abgefaßt worden; dies geschah 1563 auf Befehl des Kurfürsten Friedrich III. Im 15. Jahrhundert regierte Friedrich der Siegreiche, der von seinen Feinden der böse Fritz genannt wurde. Von ihm erzählt man sich Folgendes: Mehrere Fürsten waren in sein Land eingefallen und hatten gräßlich darin gehaust, gesengt und gebrannt. Der böse Fritz aber rückte ihnen entgegen, schlug ihr Heer und nahm die Fürsten sämtlich gefangen. Er warf sie aber nicht in das Burgverlies, vielmehr richtete er im Rittersaal des Schlosses, dessen Fenster auf das Neckar­ tal schauten, ein prächtiges Mahl her und tafelte daselbst mit den Gefangenen. Alles war aufgetischt, nur kein Brot. Als aber einer der Herren schüchtern danach fragte, hieß er alle aufstehen und ans Fenster treten, und er zeigte hinaus auf die zerstampften Felder und die noch rauchenden Dörfer und sagte: „Hättet ihr Herren meinen Bauern etwas Korn übergelassen, dann hätte ich euch heute Brot geben können; so aber ist mir das un­ möglich.“ Mit teurem Lösegeld mußten die Gefangenen ihre Freiheit wieder erkaufen.

247. Versailles. An einem schönen Sonntag im Herbst fuhren wir von Paris nach Versailles. Umgekehrt wie in Deutschland haben die Züge dann erhöhte Fahrpreise und unbequemere Wagen als an Werktagen. Es waren zweistöckige Wagen, wir krochen auf steilen Leitern hinauf in das Obergeschoß, da war es offen und luftig, aber eng und staubig; aber auch der Unterstock war niedrig und dumpf und womöglich noch

Verschiedene».

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schmieriger. Dann ging es über die Seine, durch den Berg und hinüber nach Versailles. Paris liegt so schön und anmutig, die Seine schlängelt sich lieblich hindurch, rund­ um sind Berge, große Parkanlagen, leuchtende Landhäuser, freundliche Vorstädte, aber warum muß Versailles in einer so flachen, reizlosen Landschaft liegen? Ja, das muß es! Denn es ist eine Schöpfung des Königs Ludwig XIV., dessen prunkhafte, langweilige Größe sich gerade diese Gegend aussuchte, um daselbst ein Riesenschloß erstehen zu lassen, das für sich allein schön und großartig sein sollte, ohne Hilfe der Natur. Und dieser selbige König zauberte hinter dem Schloß einen Riesengarten hervor, der ganz sein eige­ ner Garten sein sollte, seine eigene Schöpfung, die schön sein sollte und großartig ohne Hilfe der Natur. Und so standen wir denn auf dem großen freien Platz, vor uns das gewaltige, kaum übersehbare Schloß mit seinen endlosen Reihen mächtiger Fenster, und doch alles so einförmig, so leer, so öde, wie der „Sonnenkönig" selbst, dessen Residenz es gewesen ist. Heute ist der Bau un­ bewohnt, er ist Eigentum der Nation und Eigentum auch des ärmsten Franzosen, wenn man will. Denn jeder darf durch die Prunksäle und Prunkzimmer wandeln, mit reinen oder mit schmutzigen Schuhen, jeder darf sich rekeln und darf schwatzen und lachen, wie er will, ohne Eintrittsgeld. Eine lange, lange Reihe von Gemächern ist zu einer Ruhmesgalerie umgestaltet: A Toutes les gloires de

la France! wo die Wände bedeckt sind mit Schlach­ tengemälden aus allen ruhmreichen Kriegen der Fran­ zosen. Es sind zu viel blutige ©jeitett, zu viel kriegerischer Ruhm, so daß der Beschauer übersatt wird des Blutes und bald nicht mehr imstande ist, jedes einzelne Kunst­ werk gebührend zu würdigen und zu bewundern. Gehen wir lieber in die Wohnräume des unglücklichen Königspaares, deren Häupter unter dem Fallbeil gefallen sind, Ludwigs XVI. und seiner österreichischen Gemahlin Marie Antoinette. Als sie Hochzeit hielten, war es ein 30'

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Verschiedenes.

Kinder-Ehepärchen, sie vierzehn Jahre alt und ihr Geinahl, der Kronprinz, noch nicht ganz sechzehn Jahre. Wenn sie so in ihrer niedlichen Kutsche durch Paris fuh­ ren, klatschte alles in die Hände und freute sich über unser Kronprinzchen und unser Kronprinzeßchen. Und als sie Wohnung nahmen im Schloß zu Versailles, waren ihnen die hohen Säle zu hoch und zu kalt, sie wählten sich darum ein quer geteiltes Geschoß, das da vorhanden war. Aber diesen Räumen ging es nun wie den zweistöckigen Eisen­ bahnwagen, jedes einzelne Stockwerk war etwas eng und niedrig geraten. Aber es war doch eine sehr artige Woh­ nung! Diese reizenden Zimmerchen, das eine ganz gelb mit lauter gelben Möbeln, und eins rot, mit roten Mö­ beln und ein anderes blau, und gar das Badezimmerchen! Und Wendeltreppchen führten aus einem Stockwerk ins andere, lauter Puppenzimmerchen, wie beim Schneewitt­ chen! Und alle Räume hat man so gelassen bis auf den heutigen Tag, und jeder, der hier durchgeht, lächelt und sagt: Wie reizend! Aber das Königsschloß der Franzosen birgt einen Raum, der weder reizend, noch niedlich ist, vielmehr jeden guten Deutschen, der ihn betritt, mit einem Gefühl er­ füllt, wie es Moses hatte, als er seine Schuhe auszog am Dornbusch: das ist der Spiegelsaal, eine lange, nicht allzu­ breite Galerie, die an der einen Längsseite Fenster hat, an der andern Spiegel. Denn in jenen Zeiten der Wachs­ kerzenbeleuchtung mußten die Spiegel das Licht zurück­ werfen, um bei Abendfesten die Helligkeit zu steigern. In dieser Galerie ist am 18. Januar 1871 der König Wilhelm von Preußen zum deutschen Kaiser ausgerufen worden, mitten im Feindesland! Wir kannten den Raum schon sehr wohl aus dem Gemälde Anton von Werners, das diesen feierlichen Vorgang darstellt, und so heimelte er uns denn auch gleich an, als wäre es ein Stück Deutschland mitten in Frankreich! Und nun treten wir auf die Terrasse mit der gewaltigen

Verschiedenes.

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Treppe, die nach dem Garten führt. Da stand einst der große König in seinen gestickten Kleidern nnd dem zier­ lichen Degen und der wallenden Perücke, die mit hundert gepuderten Locken über die Schultern hing wie eine Löwen­ mähne, da stand er jeden Nachmittag zu bestimmter Minute, schritt majestätisch die Stufen hinab und unten in den Prunkwagen, der zur Spazierfahrt lud durch den Park. Als er eines Tages die Treppen hinabsteigen wollte, stand unten noch kein Wagen. Da verfinsterte sich sein Blick, aber er schritt doch würdevoll die Stufen hinab, und wäh­ rend er noch Hinabstieg, fuhr drunten der Wagen vor. „Beinah warten müssen!" sagte der König ungnädig, „das darf nicht mehr vorkommen!" Den Park durchfährt man allerdings besser zu Wagen als ihn zu durchwandern, wie wir es taten, denn alles da­ selbst ist so riesengroß, die Baumreihen ziehen sich in schnurgeraden Gängen weiter und weiter, in endlose Fer­ nen hinein, die Wege sind unmäßig breit, alles gemessen, feierlich, streng und ernst. Wo die Baumreihen enden, schaut man in eine reizlose Landschaft hinaus, die gähnt so in den Riesenpark hinein. Alles ist hier in Maßstäben angelegt, als wäre es für lauter Übermenschen geschaffen, für Halbgötter. In den Alleen ist hier und da ein Rund gebildet, da ruht inmitten ein Wasserbecken, und rund her­ um stehen steinerne oder eherne Figuren, und ganz in der Mitte ragen überlebensgroße altgriechische Götter, BenuS und Meergötter und Tritonen, und alles so eingerichtet, daß Wasserstrahlen kreuz und quer emporspringen, aus den Nüstern der Wasserpferde, aus Urnen, aus Schläuchen, aus langen Schwanenhälsen, aus Delfinennaslöchern. Jetzt ge­ schieht das nur an zwei Sonntagen im Monat, denn es ist ein kostspieliges Vergnügen. Heute war so ein Sonntag, lind da spritzte und quoll es, wohin man nur schaute. Aber vergebens suchten wir nach traulichen Plätzchen, nach lauschigen Eckchen, nach behaglichen Schattenlauben. Wie dürfte so etwas vorhanden sein im prunkvollen Königspark?

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Verschiedenes.

Dieser Parkboden ist beinahe Parkettboden, da darf ■ man so etwas nicht suchen. Nur damals jenes Kronprinzenpärchen, das suchte so etwas, und das schuf sich so etwas, und das heißt Klein-Trianon, inmitten des großen öden Gar­ tens ein kleines Privatgärtchen nach seinem Geschmack, mil einem zierlichen, kleinen Schloß. Der Kronprinz und spätere König Ludwig XVI. hatte neben seinem Königs­ beruf einen bürgerlichen: er war ein gelernter Schlosser! Er hatte eine Werkstätte im Schloß, und wenn er ein be­ sonders zierliches und kunstvolles Türschloß selbst ge­ zeichnet und selbst geschmiedet hatte, wie stolz zeigte er das seiner kleinen Frau! Und die Königin wollte auch «licht immer Königin sein: in Klein-Trianon legte sie sich eine echte Schweizer Milchwirtschaft an, da standen in inarmorgepflasterten Ställen wirkliche Schwcizerkühe, die man wirklich melken konnte, und der König hatte sich in der Nähe an einem kleinen Bach eine kleine Mühle bauen lassen, wo man mit Hilfe eines wirklichen Mühlenrades wirkliches Mehl mahlen konnte. War das nicht reizend? Und das Mühlchen und die kleine Molkerei sind noch zu sehen. Wie wir dann so «ueiter durch beit Park wanderten, «nein Freund und ich, nnd an die Zeiten dachten vor der großen Revolution, da kamen wir an einen Raseirplatz bei einer schattigen Waldecke, da stand ein Tisch mit Erfrischun­ gen, und ein Manir davor, der diese verkaufte. O, wie schön! sagten wir beide, denn wir waren heiß und durstig geworden, wir ließen uns nieder ins Gras, im Schatten einer Buche, und tranken mit deutschem Behagen „un hoc“, das heißt ein Glas Bier und noch ein Glas und plau­ derten dabei und freuten uns, wohl eine halbe Stunde lang. Da kam eine englische Familie vorbei, ein Herr und eine fast erwachsene Miß und drei oder vier Knaben. Was die auf den Tisch stürzten! Jetzt Schokolade, jetzt Vutterbröte, Kuchen, Bier, Liköre, alles probierten sie durch, und schmunzelnd reichte der Verkäufer eins ums

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Verschiedenes.

andere, zuletzt noch viele Ansichtskarten. Endlich entfern­ ten sie sich, und die Knaben hatten ihm noch verstohlen

all seine Zigaretten abgekaust. feingekleideter

französischer

Nach einer Weile kam ein

Herr

mit drei

Knaben.

O,

Papa, hier wollen wir etwas genießen! — Ihr müßt auch immer trinken wollen, ich habe kein Bedürsnis dazu! —

Mit Mühe erlangten sie, daß sie zusammen ein Glas von dem

abscheulichen Getränk bekamen, das die Franzosen coco nennen und anscheinend gerne mögen: es ist Wasser mit Lakritzensaft

und

Zucker

und

obenauf

schwimmt

ein

Zitronenscheibchen, das Getränk sieht gelblichbraun aus und schmeckt Über die Maßen fad. Es war auch lauwarm und sicherlich keine Erfrischung. Sous.

Das Glas kostete zwei

Da lachte mein Freund und sagte: Das ist ein

Charakterbild der drei Nationen, ja so sind sie, die Eng­

länder, die Franzosen und wir Deutsche. Ich fand das sehr treffend, und um die Sache zu bestätigen, tranken wir noch eins und blieben noch eine Viertelstunde im Schatten der französischen Buch« liegen.

Nun ging eS gegen Abend, und man sah eilenden Schrittes viele Leute einem Punkte zustreben. Ob die Tore geschlossen werden? kommen

letztlich

an

Wir eilen auch diesem Punkt zu und einen

großen

kunstvollen

Weiher

unweit vom Schloß, den aufsteigende Sitzreihen umgeben,

und auf den Sitzen eine tausendköpfige Menge.

Was soll

das? Alles starrt in den Weiher, der überreich mit Stein­

figuren und Wassergöttern geziert ist.

und nun geht das tollste sehen kann.

Ein Schuß kracht,

Wasserspritzen los, was man

Wie sich das anspeit und anspritzt und an­

wütet, wie das auS dem Becken emporsteigt in haushohen

Strahlen! wie das alles sich in Schaum auflöst und zischt und brodelt! und immer wechselnde Bilder!

Dazwischen

Lachen und Jubeln und Ah! und Aaah! Und endlich er­

strahlt alles in Zauberlichtern, und ein Riesenquell steigt

aus der Mitte, so hoch und rasend, als trieben ihn un­ terirdische

Erdgewalten

empor.

Zuletzt

sinkt

alles zu-

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Verschiedenes.

sammen in Nacht, bravo! Händeklatschen! und es ist zu Ende. So was hat selbst der Halbgott Ludwig XIV. nicht gesehen, denn ihm dienten noch nicht die Geisterscharen des Dampfes, und jetzt genießt es der ärmste Mann, er braucht nur an den bestimmten Tagen sich hier einzu­ finden.

248. Korf«. Korfu ist die Insel der Phäaken, die Heimat der Nausikaa. Natur und Menschenhand vereint haben dies Eiland geschmückt, so überreich, daß dem, der diese Fluren durchwandelt, zu Mute ist, als träume er nur so schön. Je weiter man in die Insel hineinschreitet, desto reizender ist alles, was man da sieht. Die Benezianer, welche vierhun­ dert Jahre lang die Herrscher in diesen Meeren waren, haben Korfu in einen Olgarten verwandelt. Für jeden neu­ gepflanzten Olbaum wurde von der Regierung eine Beloh­ nung ausgezahlt, und infolgedessen wachsen hier noch heute unzählige dieser segenspendenden Bäume. Und was für Bäume! Gegen diese erscheinen die Olbäume Italiens wie elende Krüppel. Es sind Baumriesen, hochaufstrebend, mit gewalttgen Kronen, mächtig verzweigt, weitschattend, die Rinde geborsten und zerrissen vor Alter, die Äste umein­ ander gewunden wie Tauwerk. Wo wir auch wandeln, überall ist das Land ein einziger Gartenwald. Unter den Bäume« ist moosdurchwachsener Rasen, drin duften jetzt, im März, zahllose blaue und weiße Bellchen und leuchten bunte, große Anemonen, wie der Norden sie nicht kennt; frische Quellen rieseln durch die Wiesen die Abhänge hinunter ins Meer, Herden von Schafen und Ziegen weiden da; freundliche Landhäuser und Dörfchen blinken durchs Grün. Wir kamen an einen südwärts schauenden Punkt, eine Felfenspttze hoch über dem Meer; rechts von uns zog sich tief ins Land hinein eine liebliche Bucht, der jetzt ver­ sandete Hafen der alten Stadt; vor uns dehnte sich die Ostküste der Insel, an deren Felswänden meilenweit das

Verschiedenes.

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Auge entlang glitt; zu unsern Füßen lagen zwei winzige, aber im Schmucke grüner Bäume glänzende Felseneilande: eins liegt dem User näher, das andre schwimmt einsam draußen in der blauen Flut; hochgetürmt, ist es einem Schiffe nicht unähnlich; das Kirchlein mit den dunllen Zypressen, die es überragen, ist dann Mast und Takelwerk. Und wirUich will die Sage, daß dieses Eiland jenes Schiss der Phäaken sei, das den Odysseus nach Ithaka gebracht und zur Strafe von dem darob zürnenden Poseidon bei der Rückkehr in einen Felsblock verwandelt wurde. An eine andere Stelle kamen wir, Catdachio genannt: lichter und lichter hatten wir es durch die Ölbäume schim» ment sehen, endlich hörte der Wald ganz auf, und wir stan­ den zu unserer Überraschung auf einem hohen Felsen, der sich unmittelbar ins Meer hinabsenkte. Etwas unterhalb unseres Standpunktes erblickten wir Mauerreste, Trümmer eines altgriechischen Tempels. Als wir hinabgeklommen, standen wir an einem Punkte von wahrhaft einziger Schönheit. Zwar vom Tempelchen — es war nur ein Keines Heiligtum — waren nur noch bescheidene Spuren übrig: zerfallene Mauern und eine einzige dorische Säule! Der vordere Teil ist längst ins Meer hinuntergerollt; Efeu umkleidete die Mauern; int tiefen Gras versteckt lagen noch Kapitale und geriefelte Säulenstücke; Brombeerranken wucherten üppig; wilder Goldlack und Veilchen dufteten; ein Quell rauschte unter uns eine Schlucht hinab; Hirten­ knaben lagerten da, zwischen dem Geröll und den Felsen Kelterten ihre Ziegen. Als man vor mehr als zweitausendJahren dies Heiligtum baute, hat man die Felsenterrasse erst künstlich schassen müssen, deshalb sind im Halbkreis hinter und neben dem Tempelchen die Felsen weggehauen, und so blickt unser Kirchlein, nach Osten gewandt, wie aus­ traulichem Versteck über das glänzende Meer. Tief unten zu unsern Füßen rauscht es leise, der feuchte, erfrischende Seewind weht zu uns herauf. Der etwa zwei Meilen breite Meeresarm, welcher die Insel von dem gegenüber»

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Verschiedene-.

liegenden Festlande trennt, dünkt uys nur ein Landsee,

denn scheinbar ganz nahe steigen drüben herrlich hoch, in ein weißes Schneekleid gehüllt,

die

Berge

Epirus

von

empor, in langgezogenen Ketten, deren jede die vorliegende Hoch

überragt,

während

man

die

dazwischen

liegenden

Langentäler nur ahnt; die hinterste Kette, die am höchsten

ragt, ist schon der Pindus, dorthin lag Dodona! Nur die

Äüstenberge sind schneefrei, und an ihren Abhängen glänzen freundlich die weißen albanesischen Dörfer herüber.

Biele

Segel stimmen, wie Schwäne, auf den dunkelblauen Fluten, über den Wassern aber liegt der heiterste, glänzendste

Frühlingssonnenschein, über den Wassern, die bald dunkel­ blau, bald dunkelgrün erscheinen, ähnlich wie die tiefen schweizerischen Bergseen. Die Farbe des Mittelmeeres, wenn ein solcher Himmel über ihm lacht, wie heute, ist unver­ gleichlich schön, ganz anders als die des deutschen Meeres;

ist ja doch die Farbe der See bedingt durch die Farbe des

Himmels darüber, und so blau ist der deutsche Himmel

nicht.

Wie schwer wurde uns hier Trennung!

249. Römisches Gastmahl ant Zeit ReroS. Ein römischer Schriftsteller, der zur Zeit des Nero lebte, hat uns ein Gastmahl beschrieben, das der reichge­ wordene Freigelassene Trimalchio gab. Er hatte sein Land­ haus in einer Stadt am Meerbusen von Neapel.

Die ein­

geladenen Gäste waren keine eigentlich vornehmen Leute,

sondern meistens auch Freigelassene, einer war ein Advokat, «in anderer war ein Sänger gewesen, der dritte ein reich­

gewordener Schneider und dergleichen Soll. Als die Gäste in den säulenumstellten Hos eintrateu,

sanden sie den Gastgeber beim Ballspiel.

reichten den Spielern grüne Bälle.

Lockige Knaben

Kein Ball, der zur

«Erde gefallen war, durste wieder ins Spiel kommen, und

so wurden immer neue Körbe voll Bälle für die Spieler

Herbeigeschleppt.

Trimalchio bewillkommnete die Gäste und

wurde dann in einer Sänfte ins Haus getragen. Ein grün

Verschiedene».

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gekeideter Pförtner mit kirschrotem Gürtel öffnete die Tür, eine Elster in goldenem Käfig hing da und begrüßte die Eintretenden in gutem Latein. Der Speisesaal war prächtig geschmückt, der Fußboden zeigte in Mosaik naturgetreu Speiseabfälle, Eierschalen und Krebsscheren, Gemüse und Obstschalen, die Wände waren mit Wandgemälden geziert, in Nischen standen Bildsäulen, ein eherner Kandelaber, von knienden Knaben aus Erz gestützt, trug Lampen, der Speisetisch, in Form eines Halb­ mondes, für etwa vierzehn Personen, ruhte auf Marmorfüßen, die Gäste lagerten sich dahinter auf Polster, mit dem linken Ellbogen auf den Tisch sich stützend. Die Tafel war bedeckt mit Basen und Kostbarkeiten, Bechern, die mit

Edelsteinen besetzt waren, gläsernen Schalen, die auf blaß­ grünem Gründ dunkelgrüne Blumen erhaben hervortreten ließen, und ähnlichen Dingen. Sklaven gossen den Gästen Schneewasser über die Hände und wuschen ihnen die Füße, alles unter Gesang. Ein Tafelaufsatz aus korinthischem Erz erschien, in Gestalt eines Esels, der einen Quersack trug, in dem links lagen grüne Oliven, in dem rechts schwarze. Tellerchen mit eingelegten Stahlverzierungen waren mit Haselnußkernen bedeckt, die in Honig eingemacht und mit Pfeffer überstreut waren, Bratwürste auf silbernen Rosten und syrische Pflaumen mit Granatapfelkernen wurden her­ umgereicht. Das waren die Vorspeisen, die zum Appetit reizen sollten. Während die Gäste Zugriffen, wurde unter rauschen­ der Musik Trimalchio hereingetragen und auf die Polster gesetzt, in Scharlach war er gekleidet, um den Nacken eine Purpurserviette geschlungen, die mit Fransen verbrämt war. Schwere Goldringe hatte er an den Fingern, am rechten Arm ein goldenes Arinband und einen elfenbeinernen

Ring. Zwei Sklaven brachten eine hölzerne Henne, die wie brütend auf einer Schüssel die Flügel ausbreitete. Trimal­ chio sagte, er habe dieser Henne Pfaueneier unterlegen

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Verschiedene».

lassen, hoffentlich seien sie noch nicht angebrütet. Man griff nach den großen Eiern, die ans Teig gebacken waren, und schälte sie; in jedem Ei steckte eine gebratene Schnepfe. Auf einen Tusch der Musik wurden die Schüsseln von singenden Knaben im Nu entfernt, und Neger gossen aus kleinen Schläuchen den Gästen Wein über die Hände. In Glasflaschen brachte man hundertjährigen Falernerwein herbei. Dann kam eine mächtige runde Schüssel, worauf die zwölf Zeichen des Tierkreises angebracht waren und unter jedem Zeichen ein dem entsprechendes Gericht, so lagen beim Krebs Krebse, bei den Zwillingen Nieren, beim Schützen ein Hase, beim Wassermann eine Gans, in der Mitte auf einem grünen Rasenstück eine Honigwabe. Als man von den Gerichten etwas gekostet hatte, sagte Trimalchio, das wären zu gemeine Speisen, eigentlich nur zum Anschauen; da sprangen sofort vier SNaven herbei und nahmen den oberen Teil dieser Schüssel fort, darunter aber erschien eine andere, worauf ein Spanferkel lag und ein mit Flügeln aus Teig versehener Hase. Vier Faunen aus Erz trugen Schläuche, woraus Brühe auf die Braten herabträufelte. In den Zwischenpausen unterhielt man sich, lachte, trank Wein und lauschte der Tafelmusik. Nun kamen andere Sklaven, als Jäger gekleidet, und hatten Netze und Jagdspieße, zugleich sprangen mit Gebell Jagdhunde herein und umwbten die Tische. Ein ganzes gebratenes Wildschwein wurde hereingetragen, an den Hauern hingen Körbchen mit Datteln. Um das Schwein lagen aus Teig gebackene Ferkelchen. Ein Jäger hieb mit einem Hirschfänger das Schwein entzwei, da entflogen seinem Innern Drosseln, und die Jäger mit ihren Netzen fingen die Vögel. Ein schöner Sklavenknabe, als Bacchus gekleidet, mit Weinlaub und Efeu bekränzt, sang Trinllieder, die der Wirt gedichtet hatte, er reichte Trauben herum, und sein Herr sagte zu ihm: Als Lohn sollst du die Freiheit haben, Dionysos!

Verschiedenes.

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Nun kamen drei lebende schneeweiße Schweine in den Saal, aufgezäumt und mit Glöckchen um den Hals. Trimalchio sagte: Welches wollt ihr nun aufgetragen haben? meine Köche werden sofort das Tier Herrichten. Ein Koch trat selbst ein und empfing Anweisungen wegen der Zuberei­ tung. Nach einer Weile erschien ein ganzes gebratenes Schwein, natürlich ein anderes. Trimalchio aber tat, als ob es eins der soeben lebendig vorgeführten Tiere sei, lobte den Koch wegen seiner Schnelligkeit, fügte aber hinzu, es sei zu schnell gegangen, er fürchte, das Schwein sei nicht ausgenommen worden. Der Koch gestand jammernd, er habe das Äusweiden vergessen. So tu es jetzt schnell! sagte Trimalchio. Zitternd schnitt der Koch das Tier auseinander, da fielen statt der Eingeweide herrlich duftende Würste von allen Arten her­ aus. Alles klatschte, der Koch ward mit einem guten Trunk belohnt und bekam einen silbernen Kranz aufgesetzt. Zur Unterhaltung der Gäste kamen noch Sänger und Gaukler. Plötzlich aber zitterte die Decke des Saales, als ob ein Erdbeben sei, erschrocken sah alles in die Höhe, da tat sich die Decke auseinander, ein mächtiger Reif schwebte herab, an dessen Rundung goldene Kränze und alabasterne Salbenbüchsen hingen. Auf der Tafel aber erschien eine gebackene Figur, die trug in ihrem emporgehaltenen Ge­ wand Trauben, Früchte und Kuchen. Das war der Nach­ tisch, die Salbengefäße aber Geschenke für die Gäste. Drei Sklaven traten herein in weißen Gewändern, einer hatte einen Pokal mit edlem Wein, die andern jeder ein Haus­ göttchen, mit Lorbeer umhangen. Die setzten sie auf den Tisch und sagten: Die Hausgötter seien uns gnädig! Der Pokal kreiste, und man wünschte sich einander gute Gesund­ heit des Leibes und der Seele.

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Die Eroberung der Luft.

Die Eroberung der Luft. 250. Der erste Luftballon 1783. Von Hans Dominik.

Jahrhunderte hindurch hatten die Menschen den auf­ steigenden Rauch des Feuers betrachtet, ohne eine Erklä­ rung für diese Erscheinung zu haben. Jetzt konnte der Physikprofessor seinen Zuhörern das recht schön und an­ schaulich vor Augen führen und erklären. Er zündete in einer Metallschale ein wenig ölgetränkte Watte an und hielt einen der damals gerade erfundenen gläsernen Lampenzylinder darüber. Dann stieg der dicke Rauch, den die Watte gab, hübsch durch den Zylinder in die Höhe, und der Professor konnte dabei nach Herzenslust dozieren. Das tat er denn auch, aber er baute diesen Laboratoriums­ versuch nicht weiter aus, das sollten ganz andere tun. Zu Annonay war's, im Departement Ardeche. Dort betrieben die beiden Brüder Jaques Etienne und Joseph Michael Montgolfier eine Papierfabrik, und das Geschäft ging nicht schlecht. Aber neben ihrem Geschäft trieben die beiden Brüder noch andere Dinge. Auch sie hatten ja das Zylinderexperiment eines Professors gesehen und dann selbständig darüber nachgedacht. „Die Luft," begann Etienne eines Tages zu feinem Bruder, „die Luft, die man erwärmt, ist leichter als die umgebende kalte Lust, und darum steigt sie nach oben. Wenn man nun den Zylinder oben zumacht, dann müßte er doch eigentlich mit in die Höhe fliegen. Die aufsteigende Luft müßte ihn mit sich reißen, wie etwa das Pulver­ gas einer Flinte das Bleigeschoß mit sich nimmt." „Du irrst dich," erwiderte Joseph. „Hier handelt es sich nicht um ein Stoßen oder Reißen, sondern um ein freies Schwimmen. Wenn wir den^ Zylinder zumachen.

Die Eroberung der Lust.

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dann zieht der Qualm einfach um ihn herum. Dieser Zylinder ist ja viel zu schwer, um mitzusteigen. Bedenke doch nur, daß er etwa ein halbes Liter Inhalt hat und wenigstens 60 Gramm wiegt. Die ganze Luft in ihm wiegt also ein halbes Gramm, und wenn wir sehr heißen Rauch hineinlassen, dann wird vielleicht die Hälfte dieser Luft durch die Verdünnung verdrängt, wir bekommen eine Gewichtsersparnis von einem Biertelgramm. Das ist ein Auftrieb, der wohl den leichten Rauch in die Höhe reißen kann, der aber niemals genügt, um den schweren Glas­ zylinder mitzunehmen. Da hast ja auch niemals erlebt, daß die Glasflaschen, die wir auf unserer Luftpumpe bei­ nahe völlig leer pumpten, in die Luft geflogen wären" Auf diese Antwort schwieg Etienne, und Tage ver­ gingen, in denen auf das Thema nicht mehr zurückgekommen wurde. Aber Joseph bemerkte wohl, daß Etienne in der Fabrik eine größere Anzahl von Bogen eines be­ sonders kräftigen und doch leichten Papieres in Auftrag gab, und daß er dazu die allergrößten Büttenformen heraussuchte, die überhaupt nur aufzutreiben waren. Wurde doch damals das Papier noch nicht wie heute in Form eines unendlichen Bandes auf rotierenden Maschinen her­ gestellt, sondern Bogen um Bogen in große Drahtformen, die sogenannten Bütten, geschöpft. Das Papier wurde fertig und lag eines Tages in sauberem Stapel im Hause der beiden Brüder. „Was willst du damit anfangen?" fragte Joseph. „Das wirst du gleich sehen, denn du sollst mir helfen," erwiderte Etienne. „Der Glaszylinder war zu schwer. Darum will ich den Rauch jetzt in einer großen leeren Papierkugel einfangen, und ich bin überzeugt, daß diese Papierkugel steigen wird." „Es wäre möglich," sagte Joseph. „Es muß sogar sicher geschehen, wenn die ganze Papierhülle nicht mehr wiegt als diejenige Luft, die wir durch ein Feuer aus ihrem Innern vertreiben können."

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Die Eroberung der Lust.

Nun begann ein Schneiden und Kleben, ein Basteln und Bauen. Die Brüder hatten beschlossen, daß ihr Pa« Vierballon einen Durchmesser von 11 Meter haben sollte. Eine solche Kugel hat einen Inhalt von 500 Kubikmetern, und wenn auch nur ein Viertel der eingeschlossenen Luft durch das Feuer vertrieben wurde, mußte sich ein Auf­ trieb von 125 Kilogramm ergeben. Die Hülle durfte also etwa zwei und einen halben Zentner »viegen, und sie war in der Größe eines recht beträchtlichen Hauses anzufer­ tigen. Die Arbeit war nicht etwa leicht, und mancher Bogen wurde dabei zerrissen. Man kam schließlich zum Ziele, indem man die festere Leinwand zuhilfe nahm, die ein­ zelnen Segmente des Ballons aus dieser herstellte und nur mit dem luftdichteren Papier ausNebte. Nun gingen die Brüder an die Inbetriebsetzung des neuen Apparates. Sie errichteten in ihrem Garten zwei Masten von etwa 15 Meter Höhe und verbanden sie durch eine Schnur, die an den Spitzen der Masten über Rollen lief. Bon der Mitte die­ ser Schnur aus begannen sie die Montage ihres Ballons. Die einzelnen im Hause fertig geklebten Segmente wurden nn der Querschnur mit einem Ringe befestigt, der in einer «xtrastarken Pappscheibe saß. Diese Segmente oder Me­ ridianstreifen, welche in ihrer Gesamtheit die große Kugel Hilden sollten, wurden dann unter sich durch Zusammen­ knöpfen mit Hilfe von Knöpfen und Knopflöchern ver­ bunden. Diese Art der Verbindung ließ begreiflicherweise hinsichtlich der Dichtigkeit sehr viel zu wünschen übrig, und «ach Möglichkeft versuchten die Brüder durch Aufkleben von Papier die Fugen zwischen den einzelnen Segmenten abzudichten. Weiter setzten sie dann an das untere offene Ende «inen leichten Weidenring von einem Zentimeter im Durch­ messer. Nach mühseligen Arbeiten wurde der Apparat end­ lich für gut befunden. Der 5. Juni 1783 kam ins Land, ein Sommcttag mit blauem Himmel und kaum fühlbarem Winde. Schlaff hing der Ballon in seinem. Gestell, und nur etwa einen

Die Eroberung der Lust.

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Meter schwebte der Weidenring über dem Erdboden. An den knoteten die Brüder jetzt sechs Eisendrähte, deren an­ dere Enden an dem Rande einer leichten Blechpfanne be­ festigt waren, die einstweilen noch unter dem Ringe auf der Erde stand. Dann holten sie glühende Holzkohlen aus ihrer Schmiede und füllten sie in die Pfanne und nährten die Glut, bis die ganze Pfanne mit einem hellglühenden Kohlenhaufen besetzt war.

Der Ballon hing darüber zwischen den beiden Masten und blieb bei alledem nicht unverändert. In dem Maße, in dem das Feuer in der Pfanne stärker wurde, begann er zu zucken und sich zu blähen, gerade so, als ob eine Luftpumpe in Tätigkeit wäre. Ganz allmählich straffte er sich, und da sein oberes Ende am Querseil hing, so zog sich bei weiterer Aufblähung zur Kugelform das untere Ende in die Höhe und nahm jetzt auch die Kohlenschale von der Erde auf. Immer stärker wurde die Glut. Schon spielte der Aufhängungsring oben frei am Querseil. Jetzt noch ein paar Schaufeln Holzkohlen in die Pfanne, die in der kleinen Schmiede zur höchsten Weißglut entfacht waren, und jetzt ein kräftiger Ruck. Das Seil wurde über die Rollen fortgezogen, der Ballon seines oberen Haltes be­ raubt. Und er fiel nicht. Frei stand er einen Augenblick zwischen den Masten, um dann in leichtem Fluge in die Höhe zu eilen. Weithin sichtbar schwebte die blendend weiße Papierkugel in den blauen Äther hinein, bis sie schließlich am Horizont verschwand. Schweigend standen Etienne und Joseph Mongvlfier und schauten ihrem Werke nach. Das Experiment war glänzend gelungen. Die warme Luft hatte ihre Hülle mit in die Höhe genommen. Zum erstenmal hatte ein menschliches Bauwerk den Äther durch­ fahren. Und der Erfolg der beiden Brüder war nicht un­ bekannt geblieben. Zahlreiche Zuschauer hatten jenem wunderlichen Experiment beigewohnt. Es hatte als öffent­ liche Schaustellung im Programm der Festlichkeiten zur Hessel uit» User, Lesetuch t. M.31

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Die Eroberung der Lust.

Versammlung der Landstände eine besondere Nummer ge­ bildet und die Aufmerksamkeit des ganzen Städtchens er­ regt. Als nun der weiße Ball über den Ort dahin­ schwebte, da wußten die Leute, was geschehen war, und machten sich zu Fuß und zu Pferde an die Verfolgung jenes künstlichen Vogels. Da nur ein schwacher Wind wehte und der Ballon bald wieder fallen mußte, sobald das Holzkohlenfeuer erlosch, so fand man ihn nach nicht langer Zeit wieder, freilich so sehr angebrannt, daß eine Wiederholung des Versuches nicht sofort möglich war. Wer wenn auch der Apparat zerstört wurde, die Tat blieb leben­ dig, und vom 5. Juni 1783 datiert die Geschichte der Luft­ schiffahrt, die noch das Antlitz kommender Jahrtausende formen wird.

251, Im Luftballon aus dem belagerte« Pari-, Bon Han» Dominik.

In Paris, aber siebenundachtzig Jahre später. Von außen her dringt der Donner deutscher Belagerungsge­ schütze durch die Luft, und Granaten ziehen ihre feurigen Bahnen über den Himmel. Paris, der Brennpunkt aller Kultur und Zivilisation, liegt in der eisernen Umklammerung der deutschen Heere und verblutet in aussichtslosem Ringen. Die Nahrungsmittel gehen zur Neige. Kohlen und Holz sind selten geworden, und die Straßen liegen im tiefsten Dunkel, denn die Gasanstalten arbeiten nicht mehr, und wenn sie arbeiten, so wird das Gas zu anderen Zwecken als zur Straßenbeleuchtung gebraucht. Der Hof einer solchen Anstalt. Ein Heiltet Platz ist durch Gaslampen erhellt. Massig und schwarz ragt das ungeheure Gasometer in die Höhe. In der Mitte des Platzes bläht sich eine gelbe Kugel.

Zischend und knatternd fährt das Gas durch den Sei­ denschlauch in den Ballon und füllt ihn mehr und mehr. Ein Netz hängt über dem Ballon. In dessen untere Maschen

Die Eroberung der Lust.

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sind Sandsäcke eingehakt. Masche um Masche werden sie jetzt nach unten gehängt, während der Ballon sich immer höher bläht, während auch die untere, bisher noch schlaffe Hälfte Prallheit gewinnt. Nun ist die Füllung beendet. Geschickte Hände ziehen den Füllschlauch vom unteren zipfelförmigen Änsatz des Ballons, dem sogenannten Appendix

oder Füllansatz zurück. Mit leichter Schleife wird der An­ satz zugebunden, und schon bringen andere einen hölzernen Ring und eine Gondel. Der Ring trägt nach oben und unten zahlreiche angebundene Querhölzchen, die sogenann­ ten Knebel. In die oberen Knebel werden die Schlußmaschen des Ballonnetzes gehakt, in die unteren Knebel die vier Tragseile der Gondel gehängt. Sandsäcke bringt man und befestigt sie am Rande der Gondel. Pelze und Nahrungs­ mittel werden in den engen Gondelkorb verstaut. Wäh­ rend hier und dort deutsche Granaten einschlagen, während hier ein Passant auf offener Straße getötet wird, während dort ein hübsches Wohnhaus in Flammen aufgeht, vollen­ den die Leute in der Gasanstalt ruhig und sachgemäß ihre Arbeit. Und jetzt kommen zwei andere Männer und passie­ ren unangefochten die Postenlinie der Mobilgarden, welche die Gasanstalt absperrt. Sie tragen einen schweren Brief­ beutel, der wichtige Depeschen der Pariser Regierung an die Leute um Gambetta, an die Regierung der nationalen Verteidigung enthält. Der Beutel wandert in den Korb. Die Männer erklimmen den Korbrand, und es wird auch Zeit dazu, denn kaum können die Arbeiter den Ballon noch halten, der sich unter den Stößen eines sturmartigcn Windes wie ein verwundetes Ungeheuer hin und her wälzt. Noch einmal werden Ballastsäcke abgehakt. Dann er­ schallen kurze scharfe Kommandorufe: „Attention! — Attention! En avant!“ Beim letzten Worte lassen vierzig Hände los, und der leichte Ballon, dem man absichtlich viel Ballast genommen hat, schießt schnell in die Höhe, eben noch schnell genug, um nicht vom Sturm gegen das Gasometer geschleudert zu werden, sondern darüber hinweg31“

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zuhuschen. Dann entschwindet er im Dunkel. Wieder ein­ mal hat das belagerte Paris durch die Lüfte Boten ent­ sendet, Boten, von denen es Befreiung, Hilfe des Aus­ landes und alles mögliche andere erhofft. Für die beiden Männer in der Gondel hat der Auf­ ruhr der Elemente in dem Augenblick aufgehört, da ihr Fahrzeug die Erde verließ. Für Sekunden herrscht völlige Ruhe um sie herum. Kein Lüftchen regt sich, denn der Ballon, der selbst mit dem Sturme treibt, spürt ja den Sturm nicht mehr. Da ein Fauchen und Zischen, und haarscharf nimmt eine Granate ihren Weg am Ballon vor­ bei, Instinktiv greift der Größere der beiden zum Gondel­ rand und kippt einen Sandsack aus. Pfeilschnell steigt der Ballon danach, aber die Insassen, in Nacht und Dunkel verloren, können es nicht merken, und unten wundert sich ein biederer pommerscher Vorposten nicht wenig, als ihni Plötzlich aus dem klaren Winterhimmel eine gehörige Por­ tion Sand über Helm und Schultern rieselt. Doch jetzt werben Lichter sichtbar. Schweigend blicken die beiden Luft­ reisenden in die Tiefe. „St. Denis," sagt der Größere. „Wir haben den richtigen Kurs nach Belgien. In Kürze müssen wir Senlis und Compiögne sichten." Die beiden Orte werden auch vorschriftsmäßig gesichtet, nur ein ein­ ziger, ganz kleiner Fehler läuft dabei mit unter. Senlis ist bereits St. Quentin und Compisgne ist Cambrai. Die beiden Fahrer haben die Windgeschtvindigkeit falsch einge­ schätzt. Sie fahren nicht mit fünf, sondern mit zwölf Mei­ len in der Stunde, und da die Nacht ihnen nur wenige unbestimmte Lichter zeigt, wo sie die Städte vermuten, so wird der Irrtum erklärlich. Langsam geht die Winternacht dahin, und sorgsam achten die Fahrer auf das Gelände unter sich. Schon muß nach ihrer Schätzung die schützende belgische Grenze er­ reicht sein, als endlich das Sonnenlicht am östlichen Horizont zu wirken beginnt, als das Dunkel sich lichtet. Jetzt end­ lich verzieht sich der Nebel, und dunkelgrün und kristall-

Die Eroberung bet Lust.

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klar rauscht und wogt es kaum hundert Meter unter dem Ballon. Ein sturmartiger Wind Südwest zu Süd hat die Reisenden in die Nordsee verschlagen. Eine heikle Situation. Den deutschen Bajonetten sind sie glücklich entronnen, aber was wird die Zukunst bringen. Ersteulicherweise ist Geographie niemals die starke Seite der Franzosen ge­ wesen. So nehmen sie das Ganze nicht weiter tragisch. Sie wissen, daß links von der Nordsee England liegt, rechts aber Dänemark und Norwegen. Im übrigen haben sie von der Größe dieses Meeres und von feiner offenen Ver­ bindung mit dem nördlichen Atlantischen Ozean wenig Ahnung. So treiben sie dahin. Freilich gehen sie spar­

sam mit dem Ballast um. Nur eben so viel wird aus­ geworfen, um etwa hundert bis zweihundert Meter über

dem Meere zu bleiben. Schnell eilen die Stunden dahin. Schon geht der kurze Wintertag zu Ende, und immer noch brandet die See unter ihnen. Die zweite Nacht kommt, und der Ballast geht bedenklich zu Ende. Jetzt glauben sie Land unter sich zu haben, denn Lichter tauchen aust Dann scheint doch wieder die See unter ihnen zu branden, und sie wagen es nicht, herunterzugehen, denn einmal un­ ten, kostet das Heraufgehen Ballast, und der Ballast ist nach­ gerade verzweifelt knapp geworden. Jetzt haben sie sicher wieder das brüllende Meer unter sich. Ein besserer Geograph könnte ihnen sagen, daß es das Skagerrak ist, aber sie wissen nichts davon. Sie wissen nur, daß sie jetzt den vorletzten Sack mit Ballast abschneiden. Noch einmal wer­ den sie das können, und dann muß der Augenblick kommen,

wo ihre Fährt zu Ende geht, wo sie später oder früher einen jämmerlichen Tod in der offenen See erleiden

müssen. Wieder verrinnen die Stunden. Immer deut­ licher klingt das Branden der Wellen in die Gondel. Ein Seemann würde merken, daß dies nicht mehr das ruhige Wogen des offenen Meeres ist, daß sich hier vielmehr das Wasser an tausend Felsen und Klippen bricht. Der letzte Sack wird geworfen, und weiter geht die