Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen. Teil 4 Für das fünfte Schuljahr: Im Anschluß an die elfte Auflage des Lesebuches für höhere Mädchenschulen [Reprint 2020 ed.] 9783111565828, 9783111194431


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German Pages 350 [352] Year 1911

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Table of contents :
Vorwort
Erste Abteilung: Gedichte
Zweite Abteilung: Prosa
Inhalt I
Inhalt II
Anfangsworte der Gedichte
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Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen. Teil 4 Für das fünfte Schuljahr: Im Anschluß an die elfte Auflage des Lesebuches für höhere Mädchenschulen [Reprint 2020 ed.]
 9783111565828, 9783111194431

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Deutsches Lesebuch von

Karl Hessel.

Ausgabe für Mädchenschulen mit neunjährigem Lehrgang. Unter Mitwirkung von

Christian Äser. Vierter Teil. Für das fünfte Schuljahr. Im Anschluß an die elfte Auflage de» Lesebuche» für höhere Mädchenschulen.

Bonn 1911.

A. Marcus und E. Webers Verlag.

Vorwort. Nachdem durch Ministerial-Erlaß vom 3. Februar 1910 die preußischen Mittelschulen für Knaben und Mädchen in feste Formen gebracht, besonders auch die Lehrstoffe im einzelnen festgelegt worden sind, hat' sich alsbald die Not­

wendigkeit ergeben, mein für höhere Mädchenschulen ent­ worfenes Lesebuchwerk in einer etwas veränderten Aus­ gabe erscheinen zu lassen, die sich nicht nur der Mädchen­ mittelschule im engern Sinne, sondern den Bedürfnissen aller Mädchenschulen mit neunjährigem Lehrgang anpassen will. Diese Ausgabe, die unter Mitwirkung meines Kolle­ gen Christian Ufer, Rektors der südstädtischen Mädchen­ mittelschule in Elberfeld, ausgearbeitet ist, erscheint als sechsbändiges Werk, und zwar so, daß für das zweite, dritte, vierte inib fünfte Schuljahr je ein besonderer Band vorhanden ist (1., 2„ 3. und 4. Teil), der 5. und 6. Teil dagegen zun« Gebrauch für je zwei aufeinanderfolgende Jahr­ gänge bestimmt ist. Die ersten drei Teile stimmen völlig überein mit den drei ersten Teilen des Lesebuchs für höhere Mädchenschulen, 11. Auflage. Da aber von da ab die Lehrpläne für höhere und für mittlere Mädchenschulen viel­ fach auseinandergehen, so mußten die Teile 4, 5 und 6 auch ihre eigenen Wege gehen, halten jedoch soviel als mög­ lich enge Fühlung mit der Ausgabe für höhere Mädchen­ schulen. Der vorliegende 4. Teil stimmt im poetischen Teile überein mit der Ausgabe für höhere Mädchen­ schulen, dagegen sind etwa 12 Prosastücke durch andere ersetzt, in genauen! Anschluß an die Lehrpläne für die preußischen Mädchemnittelschulen.

IV

Vorwort.

Da für die realistischen Fächer durch andere Hilfs­ mittel genügend gesorgt ist, so haben wir in erster Linie den literarischen Charakter des Lesebuchs betont; wenn auch dem so wichtigen Konzentrationsgedanken zuliebe und in Rücksicht auf die Bestimmungen für Mittel­ schulen geschichtliche Stoffe und solche aus der Erdkunde und Naturkunde durchaus nicht ausgeschlossen sind, so ist dabei doch stets der Gedanke leitend gewesen, daß die För­ derung der Liebe zur Muttersprache, der Fertigkeit in ihrem Gebrauch, des Sinnes für dichterische Schönheit und die sittliche und vaterländische Erhebung des Gemüts der vor­ nehmste Zweck des deutschen Lesebuchs sein soll. Für die Übung im sinngemäßen Lesen erscheint es besonders wichtig, daß stets darauf aufmerksam gemacht wird, daß Pausen nicht allein bei Satzzeichen zu machen sind, sondern auch nach jedem Sprechakt (Atempause). Wir haben deshalb auch im vorliegenden Teil als Probe ein Prosastück, und zwar Nr. 117, das Märchen vom König Drosselbart von Grimm, mit Bezeichnung der Sprechtakte drucken lassen. (Näheres in meinem Artikel „Vortrag, mündlicher, und seine Pflege im Schulunterricht", in Reins Encyklopädischem Handbuch der Pädagogik, in Sonderab­ druck durch Marcus u. Webers Verlag, Bonn, zu be­ ziehen. K. H.) Herrn Heinrich Weitkamp, Lehrer an der nord­ städtischen Mädchenmittelschule in Elberfeld, sprechen wir für viele wertvolle Anregungen und Ratschläge den besten Dank aus. Koblenz, Elberfeld, im April 1911.

Dr. Karl Hessel,

Direktor der Hildaschule. Christian User, Rektor der südstädtischen Mädchenmittelschule.

Erste Abteilung:

Gedichte. Ernst Moritz Arndt. 1. Das Lied vom Feldmarschall (1813).

1. Was blasen die Trompeten- Husaren, heraus! Es reitet der Feldmarschall im fliegenden Saus, Er reitet so freudig sein mutiges Pferd, Er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert.

2. O, schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar! O, schauet, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar! So frisch blüht sein Alter wie greifender Wein, Drum kann er Verwalter des Schlachtfeldes sein. 3. Der Mann ist er gewesen, als alles versank, Der mutig auf gen Himmel den Degen noch schwang, Da schwur er beim Eisen gar zornig und hart. Den Welschen zu weisen die preußische Art.

4. Den Schwur hat er gehalten. Als Kriegsruf erklang. Hei! wie der weiße Jüngling in Sattel sich schwang! Da ist er's gewesen, der Kehraus gemacht, Mit eisernem Besen das Land rein gemacht.

5. Bei Lützen auf der Aue er hielt solchen Strauß, Daß vielen tausend Welschen der Atem ging aus. Viel Tausend liefen dort hasigen Lauf, Zehntausend entschliefen, die nie wachen auf.

Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

M. 1

2

Arndt.

Becker.

6. Am Wasser der Katzbach er's auch hat bewährt. Da hat er den Franzosen das Schwimmen gelehrt: Fahrt wohl, ihr Franzosen, zur Ostsee hinab! Und nehmt, Ohnehosen, den Walfisch zum Grab! 7. Bei Wartburg an der Elbe, wie fuhr er hindurch! Da schirmte die Franzosen nicht Schanze noch Burg, Da mußten sie springen wie Hasen übers Feld, Und hell ließ erklingen sein Hussa! der Held. 8. Bei Da brach Da lagen Da ward

Leipzig auf dem Plane, o, herrliche Schlacht! er den Franzosen das Glück und die Macht, sie sicher nach blutigem Fall, der Herr Blücher ein Feldmarschall.

9. Drum blaset, ihr Trompeten! Husaren, heraus! Du, reite, Herr Feldmarschall, wie Winde im Saus! Dem Siege entgegen zum Rhein, übern Rhein, Du tapferer Degen, in Frankreich hinein!

Nikolaus Becker. 2 Der deutsche Rhein. 1. Sie sollen ihn nicht haben. Den freien deutschen Rhein, Ob sie wie gierge Raben Sich heiser danach schrein,

2. Solang er ruhig wallend Sein grünes Kleid noch trägt. Solang ein Ruder schallend In seine Woge schlägt! 3. Sie sollen ihn nicht haben. Den freien deutschen Rhein, Solang sich Herzen laben An seinem Feuerwein;

Becker. Chamisso. 4. Solang in seinem Strome Noch fest die Felsen stehn. Solang sich hohe Dome In seinem Spiegel sehn! 5. Sie sollen ihn nicht haben. Den freien deutschen Rhein, Solang dort kühne Knaben Um schlanke Dirnen frein; 6. Solang die Flosse hebet Ein Fisch auf seinem Grund, Solang ein Lied noch lebet In seiner Sänger Mund! 7. Den Bis Des

Sie sollen ihn nicht haben. freien deutschen Rhein, seine Flut begraben letzten Manns Gebein!

Adelbert von Chamisso. 3. Tragische Geschichte. 1. 's war einer, dem's zu Herzen ging. Daß ihm der Zopf so hinten hing. Er wollt es anders haben. 2. So denkt er denn: wie fang ich's an? Ich dreh mich um, so ist's getan — Der Zopf, der hängt ihm hinten.

3. Da hat er flink sich umgedreht. Und wie es stund, es annoch steht — Der Zopf, der hängt ihm hinten. 4. Da dreht er schnell sich anders rum, 's wird aber noch nicht besser drum — Der Zopf, der hängt ihm hinten.

3

4

Chamisso.

5. Er dreht sich links, er dreht sich rechts. Es tut nichts Guts, es tut nichts Schlechts — Der Zopf, der hängt ihm hinten. 6. Er dreht sich wie ein Kreisel fort. Es hilft zu nichts, in einem Wort — Der Zopf, der hängt ihm hinten.

7. Und seht, er dreht sich immer noch Und denkt: es hilft am Ende doch — Der Zopf, der hängt ihm hinten.

4. Die Weiber von Weinsberg. 1. Mit Der Die

Der erste Hohenstaufen, der Kaiser Konrad, lag Heeresmacht vor Winsperg, seit manchem langen Tag; Welfe war geschlagen, noch wehrte sich das Nest, unverzagten Städter, die hielten es noch fest.

2. Der Hunger kam, der Hunger! Das ist ein scharfer Dorn, Nun suchten sie die Gnade, nun fanden sie den Zorn. „Ihr habt mir hier erschlagen gar manchen Degen wert. Und öffnet ihr die Tore, so trifft euch doch das Schwert." 3. Da sind die Weiber kommen: „Und muß es also sein. Gewährt uns freien Abzug, wir sind vom Blute rein!" Da hat sich vor den Armen des Helden Zorn gekühlt. Da hat ein sanft Erbarmen im Herzen er gefühlt.

4. Was Laßt Das

„Die Weiber mögen abziehn, und jede habe frei, sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei. ziehn mit ihrer Bürde sie ungehindert fort!" ist des Königs Meinung, das ist des Königs Wort.

5 Und als der frühe Morgen im Osten kaum gegraut. Da hat ein seltnes Schauspiel vom Lager man geschaut: Es öffnet leise, leise sich das bedrängte Tor, Es schwankt ein Zug von Weibern mit schwerem Schritt hervor.

Chamisso.

Claudius.

S

6. Tief beugt die Last sie nieder, die auf dem Rücken ruht, Sie tragen ihre Ehherrn, das ist ihr liebstes Gut. „Halt an die argen Weiber!" ruft drohend mancher Wicht; Der Kanzler spricht bedeutsam: „Das war die Meinung nicht." 7. Da hat, wie er's vernommen, der fromme Herr ge­ lacht: „Und war es nicht die Meinung, sie haben's gut gemacht; Gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht, Und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht." 8. So war das Gold der Krone wohl rein und unent­ weiht. Die Sage schallt herüber aus halbvergeßner Zeit. Im Jahr elfhundertvierzig, wie ich's verzeichnet fand. Galt Königswort noch heilig im deutschen Vaterland.

Matthias Claudius. 5. An einem Maimorgen. (Frau Rebekka mit den Kindern.)

1. Kommt, Kinder, wischt die Augen aus, Es gibt hier was zu sehen. Und ruft den Vater auch heraus: Die Sonne will aufgehen.

2. Wie ist sie doch in ihrem Lauf So unverzagt und munter! Geht alle Morgen richtig auf Und alle Abend unter. 3. Geht immer und scheint weit und breit. In Schweden und in Schwaben, Dann kalt, dann warm, zu seiner Zeit, Wie wir es nötig haben.

6

Claudius.

4. Das Der Ihr

Von ohngefähr könnt ihr wohl Wagen da geht müßt ihn ziehn

kann das nicht sein. gedenken; nicht allein, und lenken.

5. So hat die Sonne nicht Verstand, Weiß nicht, was sich gebühret; Drum muß wer sein, der an der Hand Als wie ein Lamm sie führet. 6. Und der hat Gutes nur im Sinn, Das kann man bald verstehen: Er schüttet seine Wohltat hin Und lässet sich nicht sehen.

7. Sieht alles, was ihr tut und denkt. Hält euch in seiner Pflege, Weiß, was euch freut, und was euch kränkt, Und liebt euch allewege.

6. Abendlied eines Bauersmanns. 1. Das schöne, große Taggestirne Vollendet seinen Lauf. Komm, wisch den Schweiß mir von der Stirne, Lieb Weib, und denn tisch auf!

2. Kannst hier nur auf der Erde decken. Hier, unterm Apfelbaum; Da pflegt es abends gut zu schmecken Und ist am besten Raum. 3. Und rufe flugs die kleinen Gäste, Denn, hör, mich hungert's sehr; Bring auch den Kleinsten aus dem Neste, Wenn er nicht schläft, mit her! 4. Dem König bringt man viel zu Tische; Er, wie die Rede geht. Hat alle Tage Fleisch und Fische Und Panzen und Pastet;

Claudius.

5. Von Der Und

Und ist ein eigner Mann erlesen. andrer Arbeit frei, ordert ihm sein Tafelwesen präsidiert dabei.

6. Gott laß ihm alles wohl gedeihen! Er hat auch viel zu tun Und muß sich Tag und Nacht kasteien, Daß wir in Frieden ruhn. 7. Und haben wir nicht Herrenfutter, So haben wir doch Brot Und schöne, frische, reine Butter Und Milch; was denn für Not?

8. Wir Und Vor

Das ist genug für Bauersleute, danken Gott dafür halten offne Tafel heute allen Sternen hier.

9. Der Und Und

Es präsidiert bei unserm Mahle Mond, so silberrein, guckt von oben in die Schale tut den Segen 'nein.

10. Nun Kinder, esset, eßt mit Freuden, Und Gott gesegn es euch! Sieh, Mond! ich bin wohl zu beneiden. Bin glücklich und bin reich.

7. Ei« Lied hinter« Ofen zu fingen. 1. Der Winter ist ein rechter Mann, Kernfest und auf die Dauer, Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an. Und scheut nicht süß noch sauer.

2. Er zieht sein Hemd im Freien an Und läßt's vorher nicht wärmen Und spottet über Fluß im Zahn Und Kolik in Gedärmen.

7

Claudius.

8

3. Aus Blumen und aus Vogelsang Weiß er sich nichts zu machen. Haßt warmen Drang und warmen Klang Und alle warmen Sachen.

4. Doch wenn die Füchse bellen sehr, Wenn's Holz im Ofen knittert Und um den Ofen Knecht und Herr Die Hände reibt und zittert; 5. Wenn Und Teich' Das Hingt Dann will

Stein und Bein vor Frost zerbricht und Seen krachen, ihm gut, das haßt er nicht. er tot sich lachen.

6. Sein Schloß von Eis liegt ganz hinaus Beim Nordpol an dem Strande, Doch hat er auch ein Sommerhaus Im lieben Schweizerlande.

7. Gut Und Und

Da ist er denn bald dort, bald hier, Regiment zu führen; wenn er durchzieht, stehen wir sehn ihn an und frieren.

8. Kartoffellied. 1. Biel Pastet und Leckerbrot Verdirbt uns Blut und Magen, Die Köche kochen lauter Not, Sie kochen uns viel eher tot, Ihr Herren, laßt euch sagen! 2. Und Sie Und Ein

Schön rötlich die Kartoffeln sind weiß wie Alabaster, däun sich lieblich und geschwind sind sür Mann und Frau und Kind rechtes Magenpflaster.

Cornelius.

Peter Cornelius. S. Christbaum. 1. Wie schön geschmückt der festliche Raum! Die Lichter funkeln am Weihnachtsbaum! O, fröhliche Zeit! 0, seliger Traum! 2. Die Mutter sitzt in der Kinder Kreis, Nun schweiget alles auf ihr Geheiß, Sie singet des Christkinds Lob und Preis.

3. Und rings, vom Weihnachtsbaum erhellt. Ist schön in Bildern aufgestellt Des heiligen Buches Palmenwelt. 4. Die Kinder schauen der Bilder Pracht Und haben wohl des Singens acht, Das tönt so süß in der Weihenacht!

5. O, glücklicher Kreis im festlichen Raum! O, goldne Lichter am Weihnachtsbaum! O, fröhliche Zeit! 0, seliger Traum!

10. Die Könige. 1. Drei Kön'ge wandern aus Morgenland; Ein Sternlein führt sie zum Jordanstrand. In Juda fragen und forschen die drei. Wo der neugeborene König sei. Sie wollen Weihrauch, Myrrhen und Gold Dem Kinde schenken zum Opfersold.

2. Und hell erglänzet des Sternes Schein; Zum Stalle gehen die Kön'ge ein; Das Knäblein schauen sie wonniglich. Anbetend neigen die Kön'ge sich; Sie bringen Weihrauch, Myrrhen und Gold Zum Opfer dar dem Knäblein hold. 3. O, Menschenkind, halte treulich Schritt! Die Kön'ge wandern, 0, wandre mit!

9.

10

Cornelius. Disselhoff. Der Stern der Liebe, der Gnade Stern Erhelle dein Ziel, so du suchst den Herrn, Und fehlen Weihrauch, Myrrhen und Gold, Schenke dein Herz dem Knäblein hold!!

August Disselhoff. 11. Abschied von der Heimat. 1. Nun ade, du mein lieb Heimatland, Lieb Heimatland, ade! Es geht jetzt fort zum fremden Strand, Lieb Heimatland, ade! Und so sing ich denn mit frohem Mut, Wie man singet, wenn man wandern tut. Lieb Heimatland, ade!

2. Wie du lachst mit deines Himmels Blau, Lieb Heimatland, ade! Wie du grüßest mich mit Feld und Au, Lieb Heimatland, ade! Gott weiß, zu dir steht stets mein Sinn, Doch jetzt zur Ferne zieht's mich hin, Lieb Heimatland, ade!

3. Begleitest mich, du lieber Fluß, Lieb Heimatland, ade! Bist traurig, daß ich wandern muß, Lieb Heimatland, ade! Vom moosgen Stein am waldgen Tal, Da grüß ich dich zum letzten Mal, Lieb Heimatland, ade!

Eichendorff.

Joseph Freiherr von Eichendorff. 12. Der frohe Wandersmann. 1. Wem Gott will rechte Gunst erweisen. Den schickt er in die weite Welt; Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld. 2. Die Trägen, die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur von Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot.

3. Die Bächlein von den Bergen springen. Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl und frischer Brust? 4. Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd und Himmel will erhalten. Hat auch mein Sach aufs best bestellt!

13. Weihnachten. 1. Markt und Straßen stehn verlassen. Still erleuchtet jedes Haus, Sinnend geh ich durch die Gassen, Alles sieht so festlich aus.

2. An den Fenstern haben Frauen Buntes Spielzeug fromm geschmückt, Tausend Kindlein stehn und schauen. Sind so wunderstill beglückt. 3. Und ich wandrc aus den Mauern Bis hinaus ins freie Feld; Hehres Glänzen, heilges Schauern! Wie so weit und still die Welt!

11

12

Eichendorff.

Förster.

4. Sterne hoch die Kreise schlingen; Aus des Schneees Einsamkeit Steigt's wie wunderbares Singen; O, du gnadenreiche Zeit!

Karl Förster. 14. Kaiser Rudolf und der Freihart. 1. Der Kaiser zog zum Münstertor Und viel des Volks ihm nach; Da trat ein Freihartsbub hervor Und zupft den Herrn und sprach:

2. „Herr Bruder, nicht so stracks fürbaß. Es ist noch einer hier!" Der Kaiser schaut ihn an; der Spaß Bedünkt ihm Frevel schier. 3. Ich Der Und

„Was ficht dich an? Mein Bruder du? kenne traun dich nicht!" Freihart aber lacht dazu blinzt ihn an und spricht:

4. „Ich denke so: der Kaiser stammt. Wie ich, von Adam her. Und sind wir Brüder allesamt, Sind wir's auch, ich und er. 5. Drum wollt Ihr, was die Zeit verbrach, Ausgleichen bar und blank, So teilt mit mir und tilgt die Schmach Und nehmt dann meinen Dank!" 6. Der Kaiser lacht und spricht: „Gesell, Jetzt muß ich beten gehn; Schaff einen Sack derweil zur Stell, Dann laß uns weiter sehn!"

Förster.

Fouque.

Geibel.

13

7. Der Bub eilt flink und flugs nach Haus Und kehrt in vollem Lauf. Da tritt der Herr zur Kirch heraus Und ruft: „Nun Bursch, tu auf!"

8. Der zieht den Sack die Läng und Quer, Ihm dünkt er noch zu klein. Der Kaiser wirft, es klang nicht schwer, Wirft einen Heller drein 9. Und spricht: „Nun weiter, Bursch, durchs Reich; Der Brüder sind noch mehr! Gibt jeder dir dem ersten gleich, Bist du so reich, wie der."

Friedrich Baron de la Motte Fouque. 15. Brandenburgisches Erntelied (Auf den Tod der Königin Luise, 1810.)

1. Die Halm und Ähren winken 3. Die Trauerglocke läutet Uns reich und mild. Vom Dorfe her. Die hellen Sensen blinken, Wir wissen, was es deutet: Die Garbe schwillt. Sie ist nicht mehr!

2. Da wollen wir beginnen Den Erntesang, Ach, aber mitten innen Schallt Glockenklang!

4. Zwei Augen ruhn im Grabe, So fromm und blau. Und auf die Gottesgabe Fällt Tränentau.

Emanuel Geibel. 16. Bon des Kaisers Bart. 1. Im Schank zur goldnen Traube, Da saßen im Monat Mai In blühender Rosenlaube Guter Gesellen drei.

14

Geibel.

Ein Der Der Der

frischer Bursch war jeder. erst am Gurt das Horn, zweit am Hut die Feder, dritte mit Koller und Sporn.

2. Es trug in funkelnden Kannen Der Wirt den Wein auf den Tisch, Lustige Reden sie spannen Und sangen und tranken frisch. Da war auch einer drunter. Der grüne Jägersmann, Bom Kaiser Rotbart munter Zu sprechen hub er an: 3. „Ich habe den Herrn gesehen Am Rebengestade des Rheins, Zur Messe wollt er gehen Wohl in den Dom nach Mainz. Das war ein Bild, der Alte, Fürwahr von Kaiseract! Bis auf die Brust ihm wallte Der lange, braune Bart."

4. Ins Wort fiel ihm der zweite, Der mit dem Federhut: „Ei, Bursch, bist du gescheite? Dein Märlein ist nicht gut. Auch ich hab ihn gesehen Auf seiner Burg im Harz, Am Söller tät er stehen. Sein Bart, sein Bart war schwarz."

5. Der Und Rief „So Ihr

Da fuhr vom Sitz der dritte. Mann mit Koller und Sporn, in der Zänker Mitte er in hellem Zorn: geht mir doch zur Höllen, Lügner! Glück zur Reis'!

Geibel.

Görres.

Ich sah den Kaiser zu Köllen, Sein Bart war weiß, war weiß!"

6. Das gab ein grimmes Zanken Um Weiß und Schwarz und Braun, Es sprangen die Klingen, die blanken. Und wurde scharf gehaun. Verschüttet aus den Kannen Floß der vieledle Wein, Blutige Tropfen rannen Aus leichten Wunden drein.

7. Und als es kam zum Wandern, Ging jeder in zornigem Mut, Sah keiner nach dem andern. Und waren sich jüngst so gut. Ihr Brüder, lernt das eine Aus dieser schlimmen Fahrt: Zankt, wenn ihr sitzt beim Weine, Nicht um des Kaisers Bart!

Guido Görres. 17. St. Meinrads Raben. 1. Wo Wo Das

Beim Etzel in dem Finsterwald, nur des Wildes Schrei erschallt, durch die menschenleere Stille kleine Flüßchen rinnt, die Sille;

2. Dort, wo die Hat Meinrad seine Er dienet Gott in Vom wilden Streit

Alp zum Himmel schaut. Zell erbaut: stillem Frieden, der Welt geschieden.

3. Wie Blatt um Blatt der Wind verweht. So still ihm Tag um Tag vergeht. Und wie die Bächlein durch die Wiesen, So leise hin die Jahre fließen.

15-

16

GörreS.

4. Denn Ehre nicht, noch Gold und Lust Bewegen seine fromme Brust, Nur eins ist Tag und Nacht sein Sinnen: Die Liebe Gottes zu gewinnen. 5. Und täglich fliegt mit frohem Schrei Ein heimlich Rabenpaar herbei, Die freundlich zu der Zelle kommen, Weil er sie hungrig ausgenommen.

6. Die Messe sang er am Altar, Da ruft ihm eine Stimme klar: „Sankt Meinrad, wolle dich bereiten, Gott ruft, nun ist es Zeit zum Scheiden." 7. Zur Erde beugte Meinrad sich Und ruft: „O Herr, nun stärke mich!" Als in dem stillen Finsterwalde Es laut von Menschentritt erschallte.

8. Zwei Bösewichte dachten wohl, Sankt Meinrads Opferstock sei voll; Doch wie sie an die Klause treten. Die Raben schrein in großen Nöten. 9. Die Mörder schlagen an die Tür: „Du böser Mönch, nun tritt herfür, Tu auf, gib uns dein Geld zusammen. Sonst stecken wir das Haus in Flammen." 10. Sankt Meinrad heißt die Räuber fromm Mit Brot und Wein in Gott Willkomm: „Laßt mich erst euern Hunger stillen. Dann mögt ihr euern Will erfüllen. 11. Die Milde gab mir Brot und Wein, Sonst ist kein Gut auf Erden mein. Ich würde gern euch alles geben; In Gottes Hand, da steht mein Leben." 12. Sie tranken Wein, sie aßen Brot, Sie schlugen dann Sankt Meinrad tot.

17

Görres.

Da duftet's süß, da strahlt es Helle, Die Mörder fliehen von der Stelle.

13. Doch sieh! es flieget hintendrein Das Rabenpaar mit lautem Schrein; Die Mörder laufen immer schneller. Die Raben rufen immer Heller. 14. Den Die Raben Die Augen Und rufen:

Mördern wird so bang und heiß. folgen stets im Kreis, wollen sie durchbohren „Mörder!" in die Ohren.

15. Wie rasend jagt die Höllenqual Die Mörder über Berg und Tal, Gen Wollrau laufen sie bergunter Und fliehen dann gen Zürch hinunter.

16. Sie suchen dort im Wirtshaus Ruh Und werfen schnell die Türe zu. Doch sieh! die Fenster hell erUirren, Und auf sie zu die Raben schwirren. 17. Sie stoßen um den roten Wein Und hacken grimmig auf sie ein. Sie raufen in dem wirren Haare Und schlagen mit dem Flügelpaare. 18. Sankt Meinrads Raben sind im Land Bei jung und alt gar wohl bekannt. Der Richter ließ die Mörder binden, Tät ihnen bald den Tod verkünden. 19. Die Raben aber weichen nicht, Sie folgen mit zum Hochgericht; Erst als die Leichen man begraben. Da flogen fort Sankt Meinrads Raben.

20. Nun steht ein großes Gotteshaus, Wo einstens stand Sankt Meinrads Klaus; Die Engel weihten ein die Stelle; Noch fließet dort Sankt Meinrads Quelle. Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

M.2

18

Goethe.

Johann Wolfgang Goethe. 18. Die wandelnde Glocke. 1. Zur Und Den

Es war ein Kind, das wollte nie Kirche sich bequemen, Sonntags fand es stets ein Wie, Weg ins Feld zu nehmen.

2. Und Und Sie

Die Mutter sprach: „Die Glocke tönt, so ist dir's befohlen. hast du dich nicht hingewöhnt, kommt und wird dich holen."

3. Das Kind, es denkt: „Die Glocke hängt Da droben auf dem Stuhle." Schon hat's den Weg ins Feld gelenkt. Als lief es aus der Schule. 4. „Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr. Die Mutter hat gefackelt!" Doch welch ein Schrecken hinterher! Die Glocke kommt gewackelt.

5. Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum; Das arme Kind im Schrecken Es lauft, es kommt, als wie im Traum: Die Glocke wird es decken.

6. Und Eilt Zur

Doch nimmt es richtig seinen Husch, mit gewandter Schnelle es durch Anger, Feld und Busch Kirche, zur Kapelle.

7. Und jeden Sonn- und Feiertag Gedenkt es an den Schaden, Läßt durch den ersten Glockenschlag, Nicht in Person sich laden.

Greif.

Martin Greif. 19. Der Sunnwendmann 1. Der Sunnwendmann, Wo kommt er her? Über Wiesen und Felder, Über Berge und Wälder, Vom weiten, weiten Meer, Da kommt er her. 2. Der Sunnwendmann, Wie zieht er ein? Auf leuchtendem Schinimel, Wie die Sonne am Himmel, Voll spiegelndem Schein, So zieht er ein.

3. Der Sunnwendmann, Was bringt er mit? Gar köstliche Gaben Für Mädchen und Knaben, Die guter Sitt, Die bringt er mit.

4. Der Sunnwendmann, Wie teilt er's aus? Er legt sie verstohlen. Wo leicht sie zu holen. Ans Fenster, vors Haus, So teilt er aus.

20. Die Friedenseiche. 1. Ein Hört Was

Bei Erfurt steht im Felde alter Eichbaum da. an, daß ich euch melde, einst darauf geschah.

19

20

Greis.

Grün.

2. Die Deutschen und die Schweden, Sie standen dort zur Schlacht, Als Botschaft kam an jeden, Es wäre Frieden gemacht. 3. Die Fackel sei verglommen, Die gegen Himmel stieg. Es hab ein End genommen Der dreißigjährge Krieg.

4. Da sandten beide Heere Je einen Trompeter sich, Daß er der Herold wäre Der Botschaft wonniglich. 5. An jenem Eichenstamme Da trafen sich die zwei, Zu künden, daß die Flamme Des Kriegs erloschen sei.

6. Sie stiegen in die hohe Laubkrone traulich auf Und bliesen lang und frohe Das Tal hinab, hinauf. 7. Sie kündeten den Müden, Es komme nicht zur Schlacht, Es hätten die Fürsten Frieden, Die Völker Frieden gemacht.

Anastasius Grün (Anton Graf von Auersperg). 21. Zwei Heimgekehrte. 1. Zur Der Den

Zwei Wanderer zogen hinaus zum Tor, herrlichen Alpenwelt empor. eine ging, weil's Mode just, andern trieb der Drang in der Brust.

Grün. Güll.

21

2. Und als daheim nun wieder die zwei. Da rückte die ganze Sippe herbei, Da wirbelt's von Fragen ohne Zahl: „Was habt ihr gesehen? erzählt einmal!" 3. Der eine drauf mit Gähnen spricht: „Was wir gesehen? viel war es nicht. Ach, Bäume, Wiesen, Bach und Hain Und blauen Himmel und Sonnenschein!"

4. Doch „Ei, Und

Der andere lächelnd dasselbe spricht. leuchtenden Blicks, mit verklärtem Gesicht: Bäume, Wiesen, Bach und Hain blauen Himmel und Sonnenschein!"

Friedrich Güll. 22. Der erste Schnee. Ei, du liebe, liebe Zeit, Ei, wie hat's geschneit, geschneit! Ringsherum, wie ich mich dreh. Nichts als Schnee und lauter Schnee. 5

Wald und Wiesen, Hof und Hecken, Alles steckt in weißen Decken! Und im Garten jeder Baum, Jedes Bäumchen voller Flaum!

Auf dem Sims, dem Blumenbrett, 10 Liegt er wie ein Federbett! Auf den Dächern um und um Nichts als Baumwoll rings herum!

Und der Schlot vom Nachbarhaus, Wie possierlich sieht der aus: 15 Hat ein weißes Müllerkäppchen, Hat ein weißes Müllerjöppchen! Meint man nicht, wenn er so raucht. Daß er just sein Pfeiflein schmaucht?

22

Güll.

Und im Hof der Pumpenstock 20 Hat gar einen Zottelrock Und die pudrige Perücke Und den Haarzopf im Genicke; Und die ellenlange Nase Geht schier vor bis an die Straße! 25.

Und gar draußen vor dem Haus! — Wär nur erst die Schule aus! Aber dann, wenn's noch so stürmt. Wird ein Schneemann auf getürmt,

Dick und rund und rund und dick, 30 Steht er da im Augenblick. Auf dem Kopf als Hut 'nen Tiegel Und ini Arm den langen Prügel Und die Füße tief im Schnee: Und wir rings herum, juhe! 35 Ei, ihr lieben, lieben Leut, Was ist heut das eine Freud!

23. Rätsel. 1. Ich falle vom Himmel In wirrem Gewimmel, Ich schimmre und flimmre und decke das Land, Zahllos wie der Sand. Doch unversehens im Sonnenschein Schlüpf ich ins Dunkel der Erde hinein. Und bist du des andern Morgens erwacht, Bin ich spurlos verschwunden. Wie der Dieb in der Nacht.

2. Ich habe keinen Schneider, Und doch hab ich sieben Kleider. Wer mir sie auszieht, der muß weinen, Und sollt er noch so lustig scheinen.

Güll. Hebel.

3. Pumpum! pitschpatsch! in den Gassen, Zickzack! krach krach! in den Straßen: Sag mir, was ist denn das? 4. Im Frühling hauch ich süßen Duft, Im Sommer fächl ich kühle Luft, Im Herbste spend ich würzge Kost, Im Winter scheuch ich dir den Frost.

5. Ich schwanke her, ich schwanke hin. Doch will mit meinem Schaukeln Ich tändeln nicht und gaukeln. Nur Pflicht und Recht hab ich im Sinn: Ich will in leisem Schwünge Mit meiner stillen Zunge Nur sagen, daß ich ehrlich bin. 6. Ich schwimme stets im Wasser frisch Und bin doch weder Frosch, noch Fisch, Ich bin kein Vogel, und doch geschwind Dehn ich die Flügel int flatternden Wind; Ein Bote bin ich zu jeder Stund Und lauf mir doch keine Füße wund; Und willst du alles wissen auch: Hab Zucker und Kaffee im Bauch.

Johann Peter Hebel. 24 Das Lieblein vom Kirschbaum. 1. Dem Frühling Gott der Herr befahl: „Geh, deck dem Räuplein auch den Tisch!" Da trug der Kirschbaum ohne Zahl Viel tausend Blätter grün und frisch.

23

24

Hebel.

2. Und Es schlief Es streckt Und reibt

's Räuplein, aus dem Ei erwacht's. in seinem Winterhaus, sich, sperrt das Mäulchen auf die blöden Augen aus.

3. Und darauf hat's mit stillem Zahn Am Blättlein ohne Rast genagt: „Man kommt schier nimmer weg davon, So schmeckt's Gemüs!" hat es gesagt.

4. Und wieder Gott der Herr befahl: „Deck jetzt dem Jmmlein auch den Tisch!" Da trug der Kirschbaum ohne Zahl Biel tausend Blüten weiß und frisch. 5. Früh in der Sonne Morgenschein Sieht's Jmmlein das und fliegt heran; Es denkt: „Das wird mein Kaffee sein! Sie haben kostbar Porzellan;

6. Wie sauber sind die Kelchlein geschwenkt!" Sein trocken Zünglein streckt's hinein. Es trinkt und sagt: „Wie schmeckt's so süß! Da muß der Zucker wohlfeil sein." 7. Dem Sommer Gott der Herr befahl: „Geh, deck dem Spätzlein auch den Tisch!" Da trug der Kirschbaum ohne Zahl Biel tausend Kirschen rot und frisch. 8. Das Spätzlein sagt: „Lädt Da setzt man sich und fragt nicht Das gibt mir Kraft in Mark und Stärkt mir die Stimm zu neuem

man uns ein? lang. Bein, Sang."

9. Dem Spätling Gott der Herr befahl: „Räum ab! jetzt brauchen sie nichts mehr!" Da weht ein kühler Wind ins Tal, Und feiner Reif liegt ringsumher. 10. Die Blättlein werden gelb und ror. Und eins ums andere verweht.

Hebel.

Und was vom Boden aufwärts kam. Jetzt zu dem Boden abwärts geht. 11. Dem Winter Gott der Herr befahl: „Deck tüchtig zu den leeren Tisch!" Da streut der Winter ohne Zahl Viel tausend Flocken weiß und frisch.

2S. Der Sommeravend. (Übersetzung von Reinick.)

1. O, sieh, wie ist die Sonne müd! Sieh, wie sie still nach Hause zieht! O, sieh, wie Strahl um Strahl verglimmt. Wie sie ihr Tüchelchen da nimmt. Ein Wölkchen, blau mit rot vermischt, Und sich damit die Stirne wischt!

2. Wahr ist es, sie hat schlimme Zeit, Im Sommer gar, der Weg ist weit. Und Arbeit findt sie überall: In Haus und Feld, in Berg und Tal Drängt alles sich nach ihrem Schein Und will von ihr gesegnet sein. 3. Manch Blümlein hat sie ausstaffiert. Mit Farben so scharmant geziert. Dem Bienchen gab sie seinen Trunk Und sagt' zu ihm: „Hast auch genung?" Kam noch ein Käferchen in Eil, Gewiß bekam es auch sein Teil.

4. Und Wie Wie Und Das

Manch Samenhülschen sprengt sie auf holt den Samen draus herauf. bettelten die Vögelchen, wetzten sie die Schnäbelchen! keins geht hungrig doch zu Bett, nicht sein Teil im Kröpfchen hätt.

5. Der Kirsche, die am Baume lacht. Hat rote Backen sie gemacht.

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26

Hebel.

Und wo im Feld die Ähre schwankt. Und wo am Pfahl die Rebe rankt. Gleich kümmert sich die Sonne drum, Hängt ihnen Laub und Blüten um. 6. Und auf der Bleiche, seht doch an! Macht sie sich Arbeit, wo sie kann. Das hat dem Bleicher schon behagt, Doch hat er nicht „Gotts Lohn!" gesagt. Ist irgend Wäsche wo im Ort, Sie trocknet hier, sie trocknet dort. 7. Und wirklich wahr: allüberall. Wo irgend nur die Sens im Tal Durch Gras und durch die Halme ging. Da macht sie Heu. Wie geht das flink! Es will was sagen, meiner Treu! Am Morgen Gras, am Abend Heu.

8. Drum ist sie letzt so schrecklich müd Und braucht zum Schlaf kein Abendlied. Kein Wunder ist es, wenn sie schwitzt; Sieh, wie sie auf dem Berg da sitzt. „Schlaft alle wohl!" so ruft sie jetzt Und lächelt noch zu guter Letzt.

9. Da ist sie weg! behüt dich Gott! Der Hahn am Kirchturm, seht, wie rot! Er guckt ihr noch ins Haus hinein. Du Naseweis, so laß das sein! Da hat er es: in guter Ruh Zieht sie den roten Vorhang zu.

10. Ich denk, wir gehen auch ins Nest. Wen sein Gewissen ruhig läßt, Schläft sicher ein auch ohne Lied; Die Arbeit macht von selber müd. So manches ist doch heut vollbracht. Gott geb uns eine gute Nacht!

Hoffmann.

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August Heinrich Hoffmann v. Fallersleben. 26. Sonntag. 1. Der Sonntag ist gekommen, Ein Sträußchen auf dem Hut; Sein Aug ist mild und heiter, Er meint's mit allen gut.

3. Und wie in schönen Kleidern Nun pranget jung und alt. Hat er für sie geschmücket Die Flur und auch den Wald.

2. Er steiget auf die Berge, Er wandelt durch das Tal, Er ladet zum Gebete Die Menschen allzumal.

4. Und wie er allen Freude Und Frieden bringt und Ruh, So ruf auch du nun jedem „Gott grüß dich!" freundlich zu.

27. Morgenlied. 1. Die Sterne sind erblichen mit ihrem güldnen Schein. Bald ist die Nacht entwichen, der Morgen dringt herein. Noch waltet tiefes Schweigen im Tal und überall; Auf frischbetauten Zweigen singt nur die Nachtigall. 2. Sie singet Lob und Ehre dem hohen Herrn der Welt, Der überm Land und Meere die Hand des Segens hält. Er hat die Nacht vertrieben: ihr Kindlein, fürchtet nichts! Stets kommt zu seinen Lieben der Vater alles Lichts.

28. Libellentanz. 1. Wir Libellen Hüpfen in die Kreuz und Quer, Auf den Quellen Und den Bächen hin und her.

3. Wir ernähren Uns am Strahl des Sonnenlichts Und begehren, Wünschen, hoffen weiter nichts.

2. Schwirrend schweben Wir dahin im Sonnenglanz; Unser Leben Ist ein einzger Reigentanz.

4. Mit dem Morgen Traten wir ins Leben ein; Ohne Sorgen Schlafen wir am Abend ein.

5. Heute flirren Wir in Freud und Sonnenglanz; Morgen schwirren Andre hier im Reigentanz.

28

Hoffmann.

29. Wo wohnt das Glück? 1. O, frag mich nicht: was ist denn Glück? Sieh vorwärts nicht, noch sieh zurück! O, such es nicht in weiter Ferne Auf diesem oder jenem Sterne! O, such's nicht dort und such's nicht hier! Es wohnet nur in dir.

2. Und wenn du's da nicht finden magst. Umsonst ist, daß du weinst und klagst. Umsonst dein Sehnen, dein Verlangen, Umsonst dein Hoffen und dein Bangen. O, frag mich nicht! Das Glück sind wir. Das Glück wohnt nur in dir.

30. Des Vögleins Dank 1. Hört ich nicht ein Vöglein singen? Ja, es sang zum letztenmal, Wollte seinen Dank nur bringen Für den letzten Sonnenstrahl.

2. Aber keine Blätter rauschten, Bäum und Sträuche waren kahl; Keine lieben Blumen lauschten. Denn sie starben allzumal.

3. Doch das Vöglein wollte singen. Eh es schied aus unserm Tal, Wollte seinen Dank nur bringen Für den letzten Sonnenstrahl.

Hottei.

29

Karl von Holt ei. 31. Lied des alten Unteroffiziers Wallheim an seinen Mantel. 1. Hast Hast Und Wir

Schier dreißig Jahre bist du alt. manchen Sturm erlebt; mich wie ein Bruder beschützet, wenn die Kanonen geblitzet. beide haben niemals gebebt.

2. Wir lagen manche liebe Nacht, Durchnäßt bis auf die Haut; Du allein, du hast mich erwärmet. Und was mein Herze hat gehärmet, Das hab ich dir, Mantel, vertraut. 3. Geplaudert hast du nimmermehr. Du warst mir still und treu; Du warst getreu in allen Stücken, Drum laß ich dich auch nicht mehr flicken, Du alter, du würdst sonst neu. 4. Und mögen sie mich verspotten. Du bleibst mir teuer doch; Denn wo die Fetzen runterhangen. Sind die Kugeln hindurchgegangen: Jede Kugel, die macht' ein Loch. 5. Und wenn die letzte Kugel kommt Ins preußsche Herz hinein: Lieber Mantel, laß dich mit mir begraben! Weiter will ich von dir nichts mehr haben; In dich hüllen sie mich ein.

6. Da liegen wir zwei beide Bis zum Appell im Grab! Der Appell, der macht alles lebendig. Da ist es denn auch ganz notwendig. Daß ich meinen Mantel hab.

Hölty.

30

Ludwig Heinrich Christoph Hölty.

32. Das Feuer im Walde. Zween Knaben liefen durch den Hain Und lasen Eichenreiser auf Und türmten sich ein Hirtenfeur. Sie freuten sich der schönen Glut, 5 Die wie ein helles Osterfeur Gen Himmel flog, und setzten sich Auf einen alten Weidenstumpf. Sie schwatzten dies und schwatzten das: Vom Feuermann und Ohnekopf, 10 Vom Amtmann, der im Dorfe spukt Und mit der Feuerkette klirrt, Weil er nach Ansehn sprach und Geld, Wie's liebe Vieh die Bauern schund Und niemals in die Kirche kam. Sie schwatzten dies und schwatzten das: Vvm felgen Pfarrer Habermann, Der noch den Nußbaum pflanzen tät. Von dem sie manche schöne Nuß Herabgeworfen, als sie noch 20 Zur Pfarre gingen, manche Nuß! Sie segneten den guten Mann In seiner kühlen Gruft dafür Und knackten jede schöne Nuß Noch einmal in Gedanken auf.

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25

Da rauscht das dürre Laub empor. Und sieh, ein alter Kriegesknecht Wankt durch den Eichenwald daher, Sagt: „Guten Abend!" wärmet sich Und setzt sich auf den Weidenstumpf. 30 „Wer bist du, guter alter Mann?" „Ich bin ein preußischer Soldat,

HSlty.

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55

Kerner.

Der in der Schlacht bei Kunersdorf Das Bein verlor und leider Gotts! Bor fremden Türen betteln muß. Da ging es scharf, mein liebes Kind! Da sauseten die Kugeln uns Wie tausend Teufel um den Kopf! Dort flog ein Arm und dort ein Bein! Wir Patschelten durch lauter Blut, Und Roß und Reiter lagen da. Wie Kraut und Rüben." — „Lieber Gott!" Sprach Hans und sahe Töffeln an, „Mein Seel! ich werde kein Soldat Und wandre lieber hinterm Pflug. Da sing ich mir die Arbeit leicht Und spring und tanze wie ein Hirsch Und lege, wann der Abend kommt. Mich Hintern Ofen auf die Bank. Doch kommt der Schelmfranzos zurück, Der uns die besten Hühner stahl Und unser Heu und Korn dazu, Dann nehm ich einen roten Rock Und auf den Buckel mein Gewehr. Dann komm nur her, du Schelmfranzos!" Das Feuer sank und wölkte kaum Noch Dampf empor; sie gingen fort.

Justinus Kerner. 33. Der reichste Fürst 1. Preisend mit viel schönen Reden Ihrer Länder Wert und Zahl, Saßen viele deutsche Fürsten Einst zu Worms im Kaisersaal.

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Kerner.

Kopisch.

2. „Herrlich," sprach der Fürst von Sachsen, „Ist mein Land und seine Macht, Silber hegen seine Berge Wohl in manchem tiefen Schacht." 3. „Seht mein Land in üppger Fülle!" Sprach der Kurfürst von dem Rhein, „Goldne Saaten in den Tälern, Auf den Bergen edlen Wein!"

4. „Große Städte, reiche Klöster," Ludwig, Herr von Baiern, sprach, „Schaffen, daß mein Land dem euren Wohl nicht steht an Schätzen nach." 5. Eberhard, der mit dem Barte, Württembergs geliebter Herr, Sprach: „Mein Land hat kleine Städte, Trägt nicht Berge silberschwer: 6. Doch ein Kleinod hält's verborgen: Daß in Wäldern noch so groß Ich mein Haupt kann kühnlich legen Jedem Untertan im Schoß." 7. Und es rief der Herr von Sachsen, Der von Baiern, der vom Rhein: „Graf im Bart! Ihr seid der reichste. Euer Land trägt Edelstein!"

August Kopisch. 34. Wie Ralf dem Riesen half. Hört, wie der kleine Knirps, der Ralf, Fasolt, dem großen Riesen, half. Er sprach: „Ihr werdet schwach und alt. Plag tut nicht gut, Ihr zittert bald. 5 Herr Fasolt, laßt Euch raten recht Und nehmt mich an zu Eurem Knecht.

Kopisch.

33

Zwar bin ich kurz und dick und klein,' Doch kann nicht jeder ein Riese sein. Krieg ich mein gutes Deputat, 10 So schaff und helf ich früh und spat. Bald mit der Tat, bald mit dem Rat."

Der Riese sprach: „Ich will's probieren; Erst iß, und tu dich nicht genieren!" Wie schmauste da der kleine Ralf! 15 Den Riesen freut's, wie er ihm half. „Nun aber komm hinaus zum Wald, Wir brauchen Holz, es wird schon kalt." Sie gehn — „Wo hast du denn das Beil?" Ralf sprach: „Vergessen in der Eil; 20 Doch macht Euch keine Sorge drum, Man kriegt den Baum auch so schon um: Packt ihn nur recht beim Wipfel an Und wiegt; ich helf hier unten dann. Weil ich so hoch nicht langen kann. 25 Wiegt zu, wiegt zu! er weichet schon! Da liegt er, blautz!" — Ralf springt davon, Der Riese wischt sich ab den Schweiß. Ralf sprach: „Nicht wahr, es wird uns heiß, Drum wechseln wir nun, lieber Mann: 30 Weil ich nun oben langen kann, Pack du den Baum nun unten an!" Der Riese sprach: „Hier hakt er noch!" „Zieh nur die Wurzel aus dem Loch, Zieh zu und bleibe guten Muts, 35 Zieh zu, zieh zu!" — Der Riese tut's: „Nun ist er raus, nun wechsle du!" „Nein," sprach da Ralf, „bleib dort in Ruh! Ich pack ihn schon, trag du nur zu!"

Der Riese nimmt nun auf den Baum, 40 Ralf hilft ihm nicht einmal im Traum, Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

M. 3

34

Kopisch.

Er ruckt und raschelt nur -um Schein Und läßt dem Riesen alle Pein. Er läßt ihn ziehen mit der Last, Setzt sich noch gar auf einen Ast 45 Und läßt sich tragen ohne Not, Verzehrt dazu ein Butterbrot Und ruft: „Nur zu, nicht zu gemach! Ich spute mich, ich komm schon nach."

Der Riese sieht sich auch nicht um 50 Und trägt ihn immer mit, wie dumm! Lobt ihn und spricht: „So ist es recht. Es richt sich nach dem Herrn der Knecht! Sollt ich so klein die Schritte machen Wie du, so würden alle lachen." 55 Ralf sprach: „Die Arbeit macht doch munter!" Und sang und pfiff ein wenig drunter. Als man sie sah so ziehen beide. Da hatten alle Leute Freude: Man fand es allerliebst, wie Ralf, 60 Der Knirps, dem großen Riesen half.

35. Der Jäger am Mummelsee. 1. Der Jäger trifft nicht Hirsch, nicht Reh, Verdrießlich geht er am Mummelsee.

2. Was sitzet am Ufer? ein Waldmännlein! Mit Golde spielt es im Abendschein. 3. Der Jäger legt an: „Du Waldmännlein Bist heute mein Hirsch, dein Gold ist mein!" 4. Das Männlein aber taucht unter gut, Der Schuß geht über die Mummelflut.

5. „Ho, ho! du toller Jägersmann, Schieß du auf, was man treffen kann! 6. Geschenkt hätt ich dir all das Gold, Du aber hast's mit Gewalt gewollt.

Kopisch.

35

7. Drum troll dich mit lediger Tasche nach Haus! Ihr Hirsche, tanzet! sein Pulver ist aus!"

8. Da springen ihm Häselein über das Bein, Und lachend umflattern ihn Lachtäubelein,

9. Und Elstern stibitzen ihm Brot aus dem Sack Mit Schabernack, Husch und mit Gick und mit Gack

10. Und flattern zur Liebsten und singen ums Haus: „Leer kommt er! Leer kommt er! Sein Pulver ist aus!"

36

Die Wahrheit ohne Herberge.

1. „Ich Der, Nicht

„Wer klopft bei solchem Wetter?" bin's, ein armer Mann, weil er Wahrheit redet. unterkommen kann."

2. „Wie schlimm sind doch die Leute! Geh, Hans, tu auf die Tür! Ich such indes was Warmes Dem armen Mann herfür."

3. „Herein! Wir li-li-lieben Ein wa-wa-wahres Wort!" „Wer weiß, vielleicht muß hier ich Auch balde wieder fort, 4. Drum sagt mir, krumme Mutter Und stotteriger Mann, Wo häng ich etwa jetzo Mein Reiseränzel an?" 5. „Er Grobian! Er Flegel!" „Fo-fort aus unserm Haus!" „Da habt ihr's! niemand hält mehr Die reine Wahrheit aus!"

38

Kopisch.

37. Kaspars Löffel. 1. Wer Zwergen etwas nimmt, der seh sich vor! Bei Gnissau kamen sie gar oft vors Tor Beim Pflügen, wenn das Wetter recht nach Sinn, Und stellten dicht am Rain die Tafel hin, Topf, Napf, Schüssel, Löffel.

2. Bon Die Und

Und aßen da verwunderlicher Weis einer ganz absonderlichen Speis: war zerstückt, gesüßt, gespickt, gepocht dann mit neunerlei Gewürz gekocht: Man aß sie mit Löffeln.

3. Einst schlich der Müller an denselben Ort Und nahm von solchen Löffeln einen fort. Da kam zum Schulzen gleich ein Zwerg gerannt. Sprach: „Kaspar heiß ich, das sei dir bekannt: Ich will meinen Löffel!"

4. Der Schulze sagte: „Freund, den weiß ich nicht." Das Zwerglein wieder: „Freund, so hilft mir's nicht! Du bist hier Obrigkeit, drum schaff den Dieb Und gib dir Müh, es sei dir leid nun oder lieb: Schaff mir meinen Löffel!" 5. Der Schulz« sprach: „Will sehn, ob ich ihn find." Da ging der Zwerg, kam wieder dann geschwind Und sprach: „Mein Name steht darauf ganz fein: Kaspar, und Kaspars Löffel muß es sein. Schaff mir meinen Löffel!" 6. Der Schulze sprach: „Will sehen, wo und wie." Da ging der Zwerg; der Schulze gab sich Müh Und spürte da und dort und traf's doch nicht. Am Morgen fand sich wieder ein der Wicht: „Ich will meinen Löffel!"

7. Der Schulze suchte wiederum von Haus zu Haus; Er kriegt den Dieb jedennoch nicht heraus.

Kopisch.

37

Denn weil die Müller ehrlich sind, so kommt Auf den kein Mensch. Allein der Kleine kommt: „Schulz, schaff den Löffel!" 8. Der Schulze weiß am End sich nicht mehr Rat, Der Kleine läßt nicht Ruh, nicht früh, nicht spat: Der arme Schulz, wenn seine Frau er küßt, So zupft das Zwerglein ihn und ruft: „Pst, pst! Schaff mir meinen Löffel!" 9. Da sprach der Schulz am End: „Laß mich in Ruh, Und seht nach eurem Löffel selber zu!" „Gut!" sagt der Zwerg und ruft die Zwerge all. Und alle suchen nun mit großem Schall, All, all nach dem Löffel.

10. Von einem Haus ins andre zieht das Heer, Es tobt, als wenn's der wilde Jäger wär. Durch Flur und Küch und Keller hört man schrein: „Den Löffel! Kaspars Löffel muß es sein! Dieb, Dieb, schaff den Löffel!" 11. Die Zwerge werden aller Häuser Pein, Sie dringen überall gleich Mäusen ein; Was hilft es, wenn die Bauern Zeter schrein? Die Zwerge rufen immer: „Recht muß sein! Dieb, Dieb, schaff den Löffel!" 12. Er findt sich nicht, der Bauern Not wird groß; Ein Bauer schlägt gar auf die Zwerge los. Allein sie haben Nebelkappen an Und rufen, während er nicht treffen kann: „Dieb, Dieb, schaff den Löffel!" 13. „Ich hab ihn nicht." — „Wir kehren um das Haus." „So kehrt es um, er fällt doch nicht heraus!" Da kommt des kleinen Volks erst viel herbei. Man hört bis zu der Mühle das Geschrei: „Dieb, Dieb, schaff den Löffel!"

38

Kopisch.

14. Der Müller denkt: „Man sucht am End auch hier; Darum behalt ich diesen Löffel nicht bei mir." Er geht und will verscharren ihn am Sand, Als plötzlich Ehrenkaspar vor ihm stand: „Gib her den Löffel!" 15. Vor Schreck entfiel der Löffel da dem Mann, Doch Kaspar rief sein ganzes Volk heran Und rief: „Ich hab den Dieb, ich hab den Dieb. Der ist mir lieb, der kriegt nun manchen Dieb; Flink her mit den Löffeln!"

16. Da kam das ganze kleine Volk herbei Und schlug mit Löffeln ihn beinah zu Brei. Der Müller rief da öfters: „Mit Verlaub!" Allein man klopft ihm aus den Müllerstaub: „Da, stiehl wieder Löffel!"

38. Des kleinen Bottes Überfahrt. 1. „Steh auf, steh auf! es pocht ans Haus." „Tipp, tipp!" — „Wer mag das sein?" Der alte Fährmann geht hinaus. „Tipp, tipp!" — „Wer mag das sein?" Nichts sieht er — halb nur scheint der Mond, Die Sache deucht ihm ungewohnt. Da flüstert es fein: „O Fährmann mein, Wir sind ein winzig Völkelein Und haben Weib und Kindelein. Fahr über uns, die Müh ist klein. Und jedes zahlt sein Hellerlein. Es lärmt zu sehr im Lande, Wir wolln zum andern Strande.

2. Unheimlich wird's an diesem Ort, Es gellt hier zu viel Hammerschlag Und schießt und trommelt fort und fort. Die Glocken läuten Tag für Tag."

Kopisch.

Der Fährmann steigt in seinen Kahn: „Ich will euch fahren; kommt heran! Werft ohne Betrug Das Geld in den Krug!" — O, welchen Lärm vernahm er da. Obwohl er nichts am Ufer sah! Er wußte nicht, wie ihm geschah. Es klang wie fern und war doch nah: Zehntausend Keine Stimmchen, Viel feiner als die Jmmchen.

3. Der Schiffer ruft dem Knechte sein; Er kommt. Die kleinen Wesen schrein: „Zertritt uns nicht, wir sind so klein!" Da mußt er wohl behutsam sein. Tück, tück! fiel's in den Krug hinab. Wie jeder seinen Heller gab, Pirr! trippelt's heran Und stapft jum Kahn Und ächzt wie mit Kisten und Kasten schwer. Rückt, drückt und schiebt sich hin und her. Es drängt und zwängt sich immer mehr: „Fahr ab, der Kahn will sinken! Fort, eh wir all ertrinken!"

4. Der Schiffer stößt vom Ufer los; Und als er jetzo drüben war. Geht an das Schiff mit leichtem Stoß. „Au!" schrie die ganze kleine Schar. In Ohnmacht fiel da manche Frau, Das hörte man am Ton genau. Nun dappelt's hinaus Mit Katz und Maus, Mit Kind und Kegel und Stuhl und Tisch, Mit Kisten und Kasten und Flederwisch. Es war ein Lärmen und ein Gemisch Von Ruf und Zank und Stillgezisch.

39

40

Kopisch.

Nichts sieht man; doch am Schalle Hört man: hinaus sind alle. 6. Nach holt er wieder neue Schar; Die lärmt hinaus; er fährt zurück. Ms dreißigmal gefahren war. Läßt nach im Krug das tück, tüd, tück. Er fährt den letzten Teil zum Strand, Der Mond geht unter am Himmelrand. Doch dunkelt es nicht: Was glänzt so licht? Am Strand gehn tausend Lichter klein. Wie von Johanniswürmelein. Da rafft der Knecht vom Uferrain Erdboden in den Hut hinein. Setzt auf und kann nun schauen Die Männlein und die Frauen.

6. O, welche Wunder er nun sah: Der ganze Strand war all bedeckt; Sie liefen mit Laternchen da, Von Gras und Blumen oft versteckt. Und trugen Kindlein wunderhold Und Edelstein und rotes Gold. „Hei!" denket der Knecht, „Das kommt mir recht!" Und langt begierig aus dem Kahn Am Uferrande weit hinan. Da merket ihn ein kleiner Mann, Der fängt ein Zeterschreien an. Puh, -uh! sind aus die Lichte, Verschwunden alle Wichte. 7. Drauf flog es her wie Erbsen flein; Es mochten Keine Steinchen sein. Die warfen sie mit großer Pein Und ächzten mühsam hinterdrein.

Kopisch.

4}

„Es sprühet immer mehr wie toll. Fort, fort von hier, der Kahn wird voll!" Sie wenden geschwind Herum wie der Wind Und stoßen eilig ab vom Land Und fahren in Angst sich fest im Sand, Bald rechter Hand, bald linker Hand, Und immer ruft es nach vom Strand: „Das Fliehn war euer Glücke, Sonst kamt ihr nicht zurücke!"

39. Kleen Männeken. 1. „Kleen Männeken, sei lustig, du hast ja, was du magst! Keins quält dich, keins plackt dich, alles läßt dich in Ruh!" „Mutter," sagt's, „das versteht Ihr nicht," Und purrt und knurrt. „Ach," sagt die Mutter da, „Was hast du zu knurren?" — „Gar viel, gar viel!" sagt kleen Männeken; „Wenn ich auf die Straße komm. Sieht keins mich an, und keins hat acht auf mich. Und das ärgert mich. Ach Mütterchen, ach Mütterchen, Wär ich doch nur schön, recht schön!"

2. Kleen Männeken will mit Gewalt schön sein. Holt all seine Kleider her. „Mutter, ich muß schön sein, schön, recht schön!" — „So tritt vor den Spiegel, ich steck dich Wunderschön jntt Nadeln!" „Au!" schreit kleen Männeken; Läßt sich aber fein stecken. „Haha! wie bin ich nun schön!" sagt kleen Männeken. Wie's auf die Straße kommt. So rufen alle: „O wie niedlich ist kleen Männeken!

42

Kopifch.

Seht doch kleen Männeken!" „Ach," denkt kleen Männeken, „Wär ich doch lieber groß, recht groß!" 3. Kleen Männeken will groß sein, Da geht's zum Hexenschmidt: „Spann mich ein, zieh mich lang, lang, lang aus!" Der Hexenschmidt legt's vor das Drahtöhr Und kneipt und zieht. „Au!" schreit kleen Männeken, Läßt sich aber durchziehn. „Hihi! wie bin ich nun lang!" sagt kleen Männeken. Wie's auf die Straße kommt. So nimmt's der Fuhrmann, bindt's an die Peitsche sich Und haut die Pferde mit: „Au!" schreit kleen Männeken, „Wär ich doch lieber breit, recht breit!"

4. Kleen Männeken will sich breit machen, Da geht's zum Hexenschmidt: „Lieber Hexenschmidt, klopf mich breit, breit, recht breit!" Der Hexenschmidt legt's auf den Amboß Und klopft darauf: „Au!" schreit kleen Männeken, Läßt sich aber breit klopfen. „He, he! wie bin ich nun breit!" sagt kleen Männeken. Wie's auf die Straße kommt, So kleben's die Kinder an die Scheuertür: „Kleen Männeken soll Scheibe sein!" „Au!" schreit kleen Männeken, „Wär' ich doch lieber dick, recht dick!" 5. Kleen Männeken will dicke tun. Da geht's zum Hexenschmidt: „Pust mich auf, mach mich dick, recht dick, dick, dick!" Der Hexenschmidt nimmt's vor den Blasbalg Und setzt das Rohr an.

Kopisch.

Krummacher.

43

„Uh!" schreit kleen Männeken, Läßt sich aber aufpusten. „Ho ho! wie bin ich nun dick!" sagt kleen Männeken. Wie's auf die Straße kommt, So nehmen's die Buben und schlagen Ball damit: Blitz! blautz! wie fliegt es! „Ich platze!" ruft kleen Männeken, Und klitsch und klatsch! da war's geplatzt. 6. Da näht's die Mutter mit Nadel und Zwirn Und trägt's zum Hexenschmidt: „Mach mir kleen Männeken wieder, wie's war, wie's war!" Der Hexenschmidt tut's ins Feuer ein und aus Und pocht's auf dem Amboß. „Au!" schreit kleen Männeken, Hält aber ganz geduldig still. „Hihi, nun bin ich wieder, wie ich war, kleen Männeken!" Wie's auf die Straße kommt, Sieht keins es an, und keins hat acht auf es. Da freut es sich: „Ach, Mutter," ruft kleen Männeken: „Wie ist mir wohl, ich bin nun, wie ich war!"

Friedrich Adolf Krummacher. 40. Das Lied vom Samenkorn. 1. Der Sämann streut aus voller Hand Den Samen auf das weiche Land, Und, wundersam! was er gesät. Das Körnlein, wieder aufersteht.

2. Die Erde nimmt es in den Schoß, Da wird es seiner Windeln los; Ein zartes Keimchen kommt hervor Und hebt sein rötlich Haupt empor.

Krummacher.

44

3. Und Die Der

Es steht und frieret, nackt und klein. fleht um Tau und Sonnenschein; Sonne schaut von hoher Bahn Erde Kindlein freundlich an.

4. Bald aber dräuet Frost und Sturm, Und schon verbirgt sich Mensch und Wurm; Das Körnlein kann ihm nicht entgehn. Es muß in Wind und Wetter stehn.

5. Doch schadet ihm kein Leid noch Weh, Der Himmel deckt mit weichem Schnee Der Erde nacktes Kindlein zu; Dann schlummert es in guter Ruh. 6. Die Der Und

Bald fleucht des Winters trübe Nacht; Lerche singt, das Korn erwacht; Lenz heißt Bäum und Wiesen blühn schmückt das Feld mit frischem Grün.

7. Nun müssen Halm an Halm erstehn. Und Ähr an Ähre läßt sich sehn. Und wie ein leise wallend Meer Im Winde wogt es hin und her. 8. Dann schaut vom hohen Himmelszelt Die Sonne auf das Ährenfeld; Die Erde ruht in stillem Glanz, Geschmückt mit goldnem Erntekranz.

9. Die Der Des

Die Ernte naht, die Sichel klingt. Garbe rauscht, gen Himmel dringt Freude lauter Jubelsang, Herzens stiller Preis und Dank.

Kugler.

Leuthold.

Franz Kugler. 41. Rudelsburg. 1. An der Saale Hellem Strande Stehen Burgen stolz und kühn, Ihre Dächer sind gefallen, Und der Wind streicht durch die Hallen, Wolken ziehen drüber hin.

2. Zwar die Ritter sind verschwunden. Nimmer klingen Speer und Schild; Doch dem Wandersmann erscheinen Auf den altbemoosten Steinen Oft Gestalten zart und mild. 3. Droben winken holde Augen, Freundlich lacht manch roter Mund, Wandrer schaut wohl in die Ferne, Schaut in holder Augen Sterne, Herz ist heiter und gesund. 4. Und der Wandrer zieht von dannen, Denn die Trennungsstunde ruft: Und er singet Abschiedslieder, Lebewohl! tönt ihm hernieder, Tücher wehen in die Luft.

Heinrich Leuthold. 42. Meiues Kindes Abendgebet. 1. Der Tag ist um. Und wiederum Hat deine Macht Dein Kind bewacht. Und fort und fort Bet ich zu dir: O Herr, mein Hon, Sei du mit mir!

45

46

Leuthold.

Lingg.

2. In deiner Hut, Wie bin ich gut! Kein Vögelein Ist dir zu klein; Mein Kindeswort Dringt auch zu dir: O Herr, mein Hort, Sei du mit mir!

3. Dich fleh ich an: Zeig mir die Bahn, Laß fromm und rein Mein Leben sein! An jedem Ort Steh ich vor dir; O Herr, mein Hort, Sei du mit mir!

Hermann Lingg. 43. Der Fahnenträger. 1. Hoch über den Burgen im Hochgebirg weit. Da steht er auf Felsen und schwinget zum Streit Die Feldstandarte, die sausende Fahne; Tief unten durch Schluchten und Wüstenei Ziehn Fußvolk und rasselnde Reiter vorbei. Es blitzet der Speer und die Partisane. 2. Und wenn sie hoch oben ihn stehen sehn Und sehn seine mächtige Fahne wehn, So freun sich alle die tapfern Streiter; Sie jauchzen hinüber und ziehen vorbei Mit mächtig erschallendem Schlachtgeschrei, Das donnert von Bergen zu Bergen und weiter.

3. Treu hält er die Fahne mit eiserner Faust Und wird sie bewahren, von Feinden umbraust. Inmitten des Kampfs, im Gewühle des Sturmes,

Löwenstein.

47

Und über die Mauern in siegendem Lauf Vortragen dem stürmenden Heer und darauf Aufpflanzen den Sieg auf den Zinnen des Turmes.

Rudolf Löwenstein. 44. Die wilde Kastanie 1. Winter ist entflogen kaum, Seht, da schmückt die Aste Schon der Roßkastanienbaum Hold zum Frühlingsfeste. 2. Blätterknospen, braun und dicht, Quellen, schwellen, sprießen Saftig, werden bald dem Licht Prachtvoll sich erschließen.

3. Bald von Kerzen, silberschwer. Ist der Baum behangen. Als ob sie ein Christbaum wär, Wird Kastanie prangen. 4. Wird euch rufen: „Schaut mich an. Freut euch mein von Herzen! Schöner als ein grüner Tann Strahlen meine Kerzen.

5. Und ich habe hundertfach Gaben zu versenden: Allen Sängern will ich Dach, Ruh und Schatten spenden! 6. Weithin durch die grüne Flur Leuchten meine Lichter Und um mich vereint sind nur Fröhliche Gesichter."

48

Mörike.

Eduard Mörike. 45. An den Mai. Es ist doch im April fürwahr Der Frühling weder halb noch gar. Komm, Rosenbringer, süßer Mai, Komm du herbei! 5 So weiß ich, was der Frühling sei. Wie aber? soll die erste Gartenpracht, Narzissen, Primeln, Hyazinthen, Die kaum die hellen Äuglein aufgemacht. Schon welken und verschwinden? 10 Und mit euch besonders, holde Veilchen, Wär's dann fürs ganze Jahr vorbei? Lieber, lieber Mai, Ach, so warte noch ein Weilchen!

46. Elfenlied. Bei Nacht im Dorf der Wächter rief: Elfe! Ein ganz kleines Elfchen im Walde schlief, Wohl um die elfe, 5 Und meint, es rief ihn: aus dem Tal Bei seinem Namen die Nachtigall, Oder Silpelit hätt ihm gerufen. Reibt sich der Elf die Augen aus. Begibt sich vor sein Schneckenhaus, 10 Und ist als wie ein trunken Mann, Sein Schläflein war nicht voll getan. Und humpelt also tippe tapp Durchs Haselholz ins Tal hinab. Schlupft an der Mauer hin so dicht, 15 Da sitzt der Glühwurm, Licht an Licht. „Was sind das helle Fensterlein? Da drin wird eine Hochzeit sein!

Mörite. Mosen. Die Kleinen sitzen beim Mahle Und treiben's in dem Saale, 20 Da guck ich wohl ein wenig 'nein!" Pfui! stößt den Kopf an harten Stein! Elfe, gelt! Du hast genug? Gukuk! gukuk!

Julius Mosen. 47. Aus der Fremde. 1. Wo auf hohen Tannenspitzen, Die so dunkel und so grün, Drosseln gern verstohlen sitzen. Weiß und rot die Moose blühn: Zu der Heimat in der Ferne Zög ich heute noch so gerne!

2. Wo ins Silber frischer Wellen Schaut die Sonne hoch hinein, Spielen heimliche Forellen In der Erlen grünem Schein: Zu der Heimat in der Ferne Zög ich heute noch so gerne! 3. Wo tief unten aus der Erde Eisenerz der Bergmann bricht Und die Zither spielt am Herde In der kurzen Tagesschicht: Zu der Heimat in der Ferne Zög ich heute noch so gerne!

4. Wo die Hirtenfeuer brennen. Durch den Wald die Herde zieht. Wo mich alle Berge kennen, Drüberhin die Wolke flieht: Zu der Heimat in der Ferne Zög ich heute noch so gerne! Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

i

Mosen.

50

Wilhelm Müller.

5. Wo so hell die Glocken schallen Sonntags früh ins Land hinaus. Alle in die Kirche wallen. In der Hand den Blumenstrauß: Zu der Heimat in der Ferne Zög ich heute noch so gerne!

6. Doch mein Leid ist nicht zu ändern; Zieht das Heimweh mich zurück, Treibt mich doch nach fremden Ländern Unerbittlich das Geschick: Zu der Heimat in der Ferne Zög ich heute noch so gerne!

Wilhelm Müller. 48. Wohin? 1. Ich hört ein Bächlein rauschen Wohl aus dem Felsenquell, Hinab zum Tale rauschen. So frisch und wunderhell.

2. Ich weiß nicht, wie mir wurde, Nicht, wer den Rat mir gab, Ich mußte gleich hinunter Mit meinem Wanderstab. 3. Und Und Und

Hinunter und immer weiter immer dem Bache nach, immer frischer rauschte immer heller der Bach.

4. Ist das denn meine Straße? O Bächlein, sprich, wohin! Du hast mit deinem Rauschen Mir ganz berauscht den Sinn. 5. Was sag ich denn vom Rauschen? Das kann kein Rauschen sein:

Wilhelm Müller.

Es singen wohl die Nixen Dort unten ihren Reihn.

6. Laß singen. Gesell, laß rauschen. Und wandre fröhlich nach! Es gehn ja Mühlenräder In jedem klaren Bach.

49. Morgenlied. 1. „Wer schlägt so rasch an die Fenster mir Mit schwanken, grünen Zweigen?" „Der junge Morgenwind ist hier Und will sich lustig zeigen. 2. Heraus, heraus, du Menschensohn!" So ruft der kecke Geselle, „Es schwärmt von Frühlingswonnen schon Bor deiner Kammerschwelle. 3. Hörst du die Käfer summen nicht? Hörst du das Glas nicht klirren, Wenn sie, betäubt von Duft und Licht, Hart an die Scheiben schwirren? 4. Die Sonnenstrahlen stehlen sich Behende durch Blätter und Ranken Und necken .auf deinem Lager dich Mit blendendem Schweben und Schwanken.

5. Die Nachtigall ist heiser fast, So lang hat sie gesungen. Und weil du sie gehört nicht hast, Ist sie vom Baum gesprungen. 6. Da schlug ich mit dem leeren Zweig

An deine Fensterscheiben: Heraus, heraus in das Frühlingsreich! Er wird nicht lange mehr bleiben."

51

52

Wilhelm Müller.

so. Frühlingseinzug. 1. Die Fenster auf! die Herzen auf! Geschwinde, geschwinde! Der alte Winter will heraus. Er trippelt ängstlich durch das Haus, Er windet bang sich in der Brust Und kramt zusammen seinen Wust. Geschwinde, geschwinde! 2. Die Fenster auf! die Herzen auf! Geschwinde, geschwinde! Er spürt den Frühling vor dem Dor, Der will ihn zupfen bei dem Ohr, Ihn zausen an dem weißen Bart Nach solcher wilden Buben Art. Geschwinde, geschwinde! 3. Die Fenster auf! die Herzen auf! Geschwinde, geschwinde! Der Frühling pocht und klopft ja schon. Horcht, horcht! es ist ein lieber Ton. Er pocht und klopfet, was er kann. Mit kleinen Blumenknospen an. Geschwinde, geschwinde!

4. Die Fenster auf! die Herzen auf! Geschwinde, geschwinde! Und wenn ihr noch nicht öffnen wollt. Er hat viel Dienerschaft im Sold, Die tust er sich zur Hilfe her Und pocht und klopfet immer mehr. Geschwinde, geschwinde! 5. Die Fenster auf! die Herzen auf! Geschwinde, geschwinde! Es kommt der Junker Morgenwind, Ein bausebackig rotes Kind, Und bläst, daß alles klingt und klirrt.

Wilhelm Müller.

Niebusch.

53

Bis seinem Herrn geöffnet wird. Geschwinde, geschwinde!

6. Die Fenster auf! die Herzen auf! Geschwinde, geschwinde! Es kommt der Ritter Sonnenschein, Der bricht mit goldnen Lanzen ein. Der sanfte Schmeichler Blütenhauch Schleicht durch die engsten Ritzen auch. Geschwinde, geschwinde! 7. Die Fenster auf! die Herzen auf! Geschwinde, geschwinde! Zum Angriff schlägt die Nachtigall, Und horch! und horch! ein Widerhall, Ein Widerhall aus meiner Brust: Herein, herein, du Frühlingslust, Geschwinde, geschwinde!

K. von Niebusch. 81. Mein Heimatland. 1. Von des Rheines Strand, wo die Rebe blüht. Bis zur Weichsel, die gen Norden zieht; Don der Alpe Rand, frei und felsenfest, Bis zur Möwe wildem Felsennest, Liegt ein schönes Land, 's ist mein Heimatland, 's ist mein liebes deutsches Vaterland. 2. Wo die Eiche kühn auf gen Himmel strebt Und die Treue tief im Herzen lebt; Wo der Buche Grün um uns Tempel baut Und die Lieb aus jeder Hütte schaut: Ach, dies schöne Land ist mein Heimatland, Ist mein liebes deutsches Vaterland. 3. Auf, du deutsches Land, wahre deutschen Mut, Deutsche Treu und deutscher Liebe Glut!

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Niebusch. Pfeffel. Wehre welschem Tand, Trug und Heuchelschein, Laß sie fern von deinen Hütten sein! Fern von dir, o Land, du mein Heimatland, Du mein liebes deutsches Vaterland!

Gottlieb Konrad Pfeffel. 52. Die Stufenleiter. 1. Ein schlauer Sperling haschte sich Ein blaues Mückchen. „Weh mir Armen!" Rief es, „ach Herr, verschone mich, Laß meiner Jugend dich erbarmen!" „Nein," sprach der Mörder, „du bist mein. Denn ich bin groß, und du bist klein." 2. Ein Sperber fand ihn bei dem Schmaus; So leicht wird kaum ein Floh gefangen. Als Junker Spatz. „Gib," rief er aus, „Mich frei! Was hab ich denn begangen?" „Nein," sprach der Mörder, „du bist mein. Denn ich bin groß, und du bist klein."

3. Ein Adler sah den Gauch und schoß Auf ihn herab und riß den Rücken Ihm auf. „Herr König, laß mich los," Rief er, „du hackst mich ja in Stücken!" „Nein," sprach der Mörder, „du bist mein. Denn ich bin groß, und du bist klein." 4. Schnell kam ein Pfeil vom nahen Bühl Dem Adler in die Brust geflogen. „Warum," rief er, indem er fiel, Zum Jäger, „tötet mich dein Bogen?" „Ei," sprach der Mörder, „du bist mein. Denn ich bin groß, und du bist Nein."

Ramler.

Reinick.



Karl Wilhelm Ramler. 53. Der Junker und der Bauer. Ein Bauer trat mit seiner Klage Bor Junker Alexander hin: „Vernehmt, Herr, daß ich heut am Tage Recht übel angekommen bin, 5 Mein Hund hat Eure Kuh gebissen. Wer wird den Schaden tragen müssen?" „Schelm, das sollst du," fuhr hier der Junker auf. Für dreißig Taler war mir nicht die Kuh zu Kauf, Die sollst du diesen Augenblick erlegen, 10 Das sei hiermit erkannt von Rechtes wegen!" „Ach nein, gestrenger Herr! ich bitte, hört," Rief ihm der Bauer wieder zu, „Ich hab es in der Angst verkehrt. Nein, Euer Hund biß meine Kuh." 15 Und wie hieß nun das Urteil Alexanders? „Ja, Bauer, das ist ganz was anders!"

Robert Reinick. 54. Deutscher Rat. 1. Laß Bon Der

Bor allem eins, mein Kind: sei treu und wahr! nie die Lüge deinen Mund entweihn! altersher im deutschen Volke war höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein.

2. Noch Aus Das

Du bist ein deutsches Kind, so denke dran! bist du jung, noch ist es nicht so schwer. einem Knaben aber wird ein Mann — Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr.

3. Was Was Dein

Sprich ja und nein, und dreh und deutle nicht! du berichtest, sage kurz und schlicht! du gelobest, sei dir höchste Pflicht! Wort sei heilig, drum verschwend es nicht!

56

Reinick.

Mckert.

4. Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran. Zuerst ein Zwerg, ein Riese Hinternach; Doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an, Und eine Stimme ruft in dir: „Sei wach!" 5. Dann wach und kämpf! es ist ein Feind bereit: Die Lüg in dir, sie drohet dir Gefahr. Kind! Deutsche kämpften tapfer allezeit; Du deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr!

Friedrich Rückert. 55. Blücher in London. 1. Als Blücher durch die Straßen Londons im Wagen fuhr, Drängte sich ohne Maßen Das Volk auf seine Spur. Sie wollten all ihn grüßen; Da hielt er aus dem Schlag, Weil man sie wollte küssen. Die Hand den ganzen Tag.

2. Da sprach der alte Streiter Still zu sich mit Verstand: Wenn das so fortgeht weiter. So komm ich um die Hand. Man wird sie ab mir küssen, Und ja nicht weiß ich doch, Ob ich sie werde müssen Nicht brauchen irgend noch. 3. Drauf eine Hand von Leder Setzt er an jener Statt, Da küsse nun sich jeder Nach Lust am Leder satt. Sie sehn am Wagen baumeln Die Hand, die schlapp genug.

Rückert.

Sie küßten sie mit Taumeln Und merkten nicht den Trug.

4. Auffiel ihr welk Geschlotter Doch einem von der Schar, Der von Pudding und Potter Genährt am besten war. „Goddam?" sprach er verwegen, „Wie konnte diese Hand Nur führen jenen Degen, Der Frankreich überwand?"

86. Bom Bäumlein, das spazieren ging. Das Bäumlein stand im Wald In gutem Aufenthalt; Da standen Busch und Strauch Und andere Bäumlein auch; 5 Die standen dicht und enge. Es war ein rechts Gedränge; Das Bäumlein mußt sich bücken Und sich zusammendrücken. Da hat das Bäumlein gedacht 10 Und mit sich ausgemacht: „Hier mag ich nicht mehr stehn. Ich will wo anders gehn Und mir ein Ortlein suchen. Wo weder Birk noch Buchen, 15 Wo weder Tann noch Eichen Und gar nichts desgleichen; Da will ich allein mich pflanzen Und tanzen!"

Das Bäumlein, das geht nun fort 20 Und kommt an einen Ort In ein Wiesenland, Wo nie ein Bäumlein stand;

57

Rückert.

58

Da hat sich's hingepflanzt Und hat getanzt.

Dem Blümlein hat's vor allen An dem Örtlein gefallen; Ein gar schöner Bronnen Kam zum Bäumlein geronnen; War's dem Bäumlein zu heiß, 30 Kühlt's Brünnlein seinen Schweiß. Schönes Sonnenlicht War ihm auch zugericht; War's dem Bäumlein zu kalt. Wärmt die Sonn es bald. 35 Auch ein guter Wind War ihm hold gesinnt. Der half mit seinem Blasen Ihm tanzen auf dem Rasen. 25

Das Bäumlein tanzt und sprang 40 Den ganzen Sommer lang; Bis es vor lauter Tanz Hat verloren den Kranz. Der Kranz mit den Blättlein allen Ist ihm vom Kopf gefallen; 45 Die Blättlein lagen umher. Das Bäumlein hat keines mehr: Die einen lagen im Bronnen, Die andern in der Sonnen, Die andern Blättlein geschwind 50 Flogen umher im Wind.

Wie's Herbst nun war und kalt, Da fror's das Bäumlein bald; Es rief zum Brunnen nieder: „Gib meine Blättlein mir wieder, 55 Damit ich doch ein Kleid Habe zur Winterszeit!" Das Brünnlein sprach: „Ich kann eben Die Blättlein dir nicht geben;

Rückert.

Ich habe sie alle getrunken, 60 Sie sind in mich versunken."

Da kehrte von dem Bronnen Das Bäumlein sich zur Sonnen: „Gib mir die Blättlein wieder. Es friert mich an die Glieder!" 65 Die Sonne sprach: „Nun eben Kann ich sie dir nicht geben: Die Blättlein sind längst verbrannt In meiner heißen Hand." Da sprach das Bäumlein geschwind 70 Zum Wind: „Gib mir die Blättlein wieder. Sonst fall ich tot darnieder!" Der Wind sprach: „Ich eben Kann dir die Blättlein nicht geben; 75 Ich hab sie über die Hügel Geweht mit meinem Flügel." Da sprach das Bäumlein ganz still: „Nun weiß ich, was ich will; Da haußen ist mir's zu kalt. 80 Ich geh in meinen Wald, Da will ich unter die Hecken Und Bäume mich verstecken!" Da macht sich's Bäumlein auf Und kommt im vollen Lauf 85 Zum Wald zurückgelaufen Und will sich stelln in den Haufen, 's fragt gleich beim ersten Baum: „Hast du keinen Raum?" Der sagt: „Ich habe keinen"; 90 Da fragt das Bäumlein noch einen. Der hat wieder keinen; Es fragt von Baum zu Baum, Aber kein einzger hat Raum.

öS

60

Rückert.

Dem Bäumchen kann nichts frommen, 95 Es kann nicht unterkommen.

Da geht es traurig weiter Und friert, denn es hat keine Kleider; Da kommt mittlerweile Ein Mann mit einem Beile, 100 Der reibt die Hände sehr. Tut auch, als ob's ihn fror. Da denkt das Bäumlein wacker: „Das ist ein Holzhacker, Der kann den besten Trost 105 Mir geben für meinen Frost." Das Bäumlein spricht schnell Zum Holzhacker: „Gesell, Dich friert's so sehr wie mich Und mich so sehr wie dich. 110 Vielleicht kannst du mir Helfen und ich dir! Komm, hau mich um Und trag mich in deine Stub'n, Schür ein Feuer an 115 Und leg mich dran! So wärmst du mich Und ich dich."

Das deucht dem Holzhacker nicht schlecht. Er nimmt sein Beil zurecht, 120 Haut's Bäumlein in die Wurzel, Um fällt's mit Gepurzel; Nun hackt er's klein und kraus Und trägt das Holz nach Haus Und legt von Zeit zu Zeit 125 In den Ofen ein Scheit. Das größte Scheit von allen Ist uns fürs Haus gefallen;

Rückert.

61

Das soll die Magd uns holen. So legen wir's auf die Kohlen; 130 Das soll die ganze Wochen Uns unsre Suppen kochen.

Oder willst du lieber Brei?

Das ist mir einerlei.

57. Die Rätsel der Elfen. Die Elfen sitzen im Felsenschacht, Vertreiben mit Reden die lange Nacht. Sie legen sich luftige Rätsel vor, Die, wenn sie nicht Gold sind, doch klingen im Ohr. Und wie ein Windzug dazwischen geht, So sind samt den Elfen die Rätsel verweht.

1. Welch Gold entstammt dem Erdschacht nicht? Ich hörte von goldenem Sonnenlicht. 2. Wer borgt sein Silber von fremdem Gold? Der Mond, der ob unsern Häuptern rollt.

3. Wo quillt die Trän aus härtester Brust? Der Quell im Fels ist mir wohl bewußt. 4. Wo strömt ein Strom, da kein Strombett ist? Der Regenstrom, der in Lüften fließt.

5. Wo ist auf dem Fluß die breiteste Brück? Das Eis ist gebaut aus einem Stück. 6. Die Flut, die im stetesten Takt sich bewegt? Das Blut, das im Herzen des Menschen schlägt. 7. Wer trauert in seinem buntesten Kleid? Das ist der Baum zu des Herbstes Zeit.

8. Wer hat tausend Augen und sieht sich nicht? Der Strauch, der sie treibt und weiß es nicht. 9. Wer sah nie von innen sein eigenes Haus? Die Schnecke, und kommt doch niemals heraus.

62

Rückert.

10. Wo hat man den kleinsten zum König gemacht? Der Zaunkönig wird ausgelacht. 11. Wo tritt der Schwache den Starken nieder? Den Erdboden des Menschen Glieder. 12. Was ist stärker als der Erdengrund? Das Eisen, denn es macht ihn wund. 13. Was ist stärker als Eisen und Stahl? Das Feuer schmelzt sie allzumal.

14. Was ist stärker als Feuersglut? Die feuerlöschende Wasserflut. 15. Was ist stärker als Flut im Meer? Der Wind, der sie treibt hin und her.

16. Und was ist stärker als Wind und Luft? Der Donner: sie zittern, wenn er ruft. 17. Wer ist mächtiger als der Tod? Wer da kann lachen, wenn er droht.

18. Und wer, wenn die Erde bebt, kann stehn? Wer nicht fürchtet unterzugehn. 19. Warum fließt das Wasser den Berg nicht hinauf? Weil's bergunter hat leichtern Lauf. 20. Warum trägt Kürbse der Eichbaum nicht? Daß sie dir nicht fallen aufs Angesicht.

21. Wozu hat der Gaul vier Füße empfahn? Damit er mit vieren stolpern kann. 22. Und warum sind die Fische stumm? Weil sie sonst würden reden dumm.

23. Wer löset alle Rätsel auf? Wer immer was weiß, was sich reimet drauf. 24. Und warum schweig ich jetzo still? Weil ich nichts weiter hören will.

Rückert.

58. Parabel: Der Nagel 1. Es ritt ein Herr, das war sein Recht, Zu Fuße ließ er gehn den Knecht. Er reitet über Stock und Stein, Daß kaum der Knecht kann hinterdrein. Der treue schleppt sich hinterher Dem leichten Ritt und fürchtet sehr. Zu Falle komm er schwer. 2. „Herr, Herr!" erschallt des Knechtes Ruf, „Ein Nagel ging Euch los vom Huf, Und schlagt Ihr nicht den Nagel ein. So wird der Huf verloren sein." „Ei, Nagel hin und Nagel her! Der Huf hat ja der Nägel mehr Und hält noch ungefähr."

3. Und wieder schallt des Knechtes Ruf: „Herr, losgegangen ist ein Huf, Und schlagt Ihr nicht das Eisen an. So ist es um das Roß getan." „Hufeisen hin, Hufeisen her! Das Rößlein hat Hufeisen mehr Und geht noch wie vorher." 4. Und eh der dritte Ruf erschallt. Da ist er an den Stein geprallt; Das Rößlein liegt und steht nicht auf, Geendet ist des Herren Lauf. Er spricht nicht mehr: „Roß hin, Roß her!" Er rafft sich auf und schreitet schwer Mit seinem Knecht einher.

59. Die verspätete Biene. 1. Die ersten Sonnenstrahlen schienen Aufs Bienenhaus, Da flogen die erwachten Bienen In Schwärmen aus.

63

«4

Rückert.

„Trompetet hell und fahret. Gerüstet und gescharrt. Zur Arbeit und zum Schmaus!"

2. Erst ihre fleißgen Scharen zählte Die Königin Und merkte, daß ein Bienchen fehlte: „Wo ist es hin? Und hat es sich verschlafen, So treffen es die Strafen, So wahr ich König bin." 3. Doch als sie fuhren auf den Wegen Mit lautem Ton, Kam ihnen, das gefehlt, entgegen. Beladen schon. Mit goldnem Wachs behoset. Mit Goldseim überroset, Durchleuchtet ganz davon.

4. „Wo hast du das schon aufgetrieben, Wo hergebracht?" „Und wißt ihr denn, wo ich geblieben Heut über Nacht? Die Nacht mich überraschte. Wo ich in Blumen naschte, Da hab ich denn gedacht: 5. Ich will im Kelch hier übernachten. Nicht weit davon. Und wenn die andern dort erwachten, Arbeit ich schon. Arbeitet nun, Gesellen! Ich eil indes, zu stellen Mich vor der Kön'gin Thron."

65

Rückert.

60. Katerstolz und Fuchses Rat. Vernimm vom Katerstolz, wie er auf Fuchses Rat Zuletzt das Weib, das ihm gebührt, bekommen hat. Der stolze Kater sprach: „Ich bin so hochgeboren. Der Sonne Tochter hab ich mir zum Weib erkoren.

5 Weil über groß und klein hell ist der Sonne Schein, Darum will ich allein der Sonne Tochter frein. Wie, oder weißt du, wer der Sonne Meister feie, Den sage mir, damit ich dessen Tochter freie!"

10

Der Fuchs, der kluge, sprach: „Das ist dort jene Wolke, Die hält der Sonne Licht zurück vor allem Volke." Der Kater sprach: „Wie stark muß nicht die Wolke sein! So will ich lieber doch der Wolke Tochter frein. Wie, oder weißt du, wer der Wolke Meister feie. Den sage mir, damit ich dessen Tochter freie!"

15 Der Fuchs, der kluge, sprach: „Ihr Meister ist der Wind, Vor dessen Hauch zergeht die Wolke so geschwind."

Der Kater sprach: „Wie stark muß dessen Macht nicht sein! So will ich lieber doch des Windes Tochter frein! 20

Wie, oder weißt du, wer des Windes Meister feie, Den sage mir, damit ich dessen Tochter freie!"

Der Fuchs, der kluge, sprach: „Dort jener alte Turm, An dem so lange schon sich brach der Winde Sturm!"

Der Kater sprach: „Wie stark muß dieser Turm nicht sein! So will ich lieber doch des Turmes Tochter frein! 25 Wie, oder weißt du, wer des Turmes Meister feie! Den sage mir, damit ich dessen Tochter freie!"

Der Fuchs, der kluge sprach: „Im alten Turm die Maus, Die höhlet, bis er fällt, den Turm von unten aus." 30

Der Kater sprach: „Wie stark muß diese Maus nicht sein! So will ich lieber doch derselben Tochter frein! Wie, oder weißt du, wer der Mäuse Meister feie, Den sage mir, damit ich dessen Tochter freie!" Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

M. 5

66

Rückert.

Der Fuchs, der kluge sprach: „Dein Bäschen ist's, die Katze, Die übers Mausgeschlecht gebietet mit der Tatze." 35 Der Kater sprach und zog den Schweif des Stolzes ein: „So will ich lieber doch der Katze Tochter frein!"

61, Das Wunder auf der Flucht 1. Auf jener Flucht, von welcher nun Das Morgenland die Jahre zählt. Als im Gebirg, um auszuruhn, Mohamed hat die Höhl erwählt. Wo Abubeker bei ihm war. Und vor der Höhle die Gefahr, Der feindlichen Verfolger Schar —

2. Mohamed sprach: „Was zitterst du? Wir sind nicht zwei hier, wir sind drei." Da kam hernieder Gottesruh, Gefühl, daß Gott mit ihnen sei. Sie fühlen Friedensatem wehn; Die Feinde vor der Höhle stehn; Was hindert sie hereinzugehn? 3. Die Taube draußen auf dem Stein Hat in der Nacht ihr Ei gelegt; Die Spinne hat den Eingang fein Mit seidnem Vorhang überhegt. Betrogen sieht's der Feind und spricht: „Das Ei ist ganz, das Netz ist dicht: In dieser Höhle sind sie nicht." 4. In dieser Höhle sind sie doch. Die Feinde aber gehn vorbei. Bei Spinn und Taube ruhn sie noch. Bis draußen sind die Wege frei. Dann gehn sie hin, wohl ausgeruht, Und danken Gott für treue Hut, Der groß im Kleinen Wunder tut.

Rückert.

Sallet.

67

62. Der Perlenkranz. Vier Königstöchter sind auf einem rings von Wogen Umspülten Lenzeiland von einer Fee erzogen; Und morgen sollen sie zurück zur Heimat ziehn. Weil ihnen aller Schmuck der Bildung ist verliehn. 5 Da sprach die Fee: „Ich bin mit jeder wohl zu­ frieden. Doch einer muß zuletzt der Vorzug sein beschieden. Nun geht zur Ruh, und wenn euch weckt des Morgens Glanz, Ist einer unter euch beschert ein Perlenkranz. Dieselbe findet ihn am Grund des Körbchens liegen, 10 Den soll die Finderin bewahren hold verschwiegen." Da blickten alle vier einander lächelnd an. Und jede dachte: Die wird wohl den Preis empfahn. Nicht eine dachte, daß sie selber siegen sollte. Nur wie sie sich des Siegs der andern freuen wollte. 15 So träumten sie die Nacht bis zu des Morgens Glanz, Und an des Körbchens Grund sand jede einen Kranz.

Friedrich von Sallet. 63. Elfenwirtschast. 1. „Wo sind sie nur alle hingekommen. Die Blumenglöcklein von zuletzt?" „Das Elfenvolk hat sie mitgenommen Und sie als Helme sich aufgesetzt." 2. „Doch wo sind die Hälmlein, möcht ich wissen, Die auf der Wiese schwankten frei?" „Das Elfenvolk hat sie ausgerissen Als Schwerter und Lanzen zum Festturnei."

3. „Wohin sind alle die Bienen gegangen. Die lustig flogen und saugten Duft?"

Sallet.

68

„Das Elfenvolk hat sie eingefangen Und reitet turnierend durch die Luft."

4. Die Mit Mit

„Wo aber blieb die schöne Rose, glühend mit tausend Blättern stand, goldner Krone tief im Schoße, Hellem Tau gefüllt zum Rand?"

5. „Den Tau wird das Elfenvolk wohl trinken, Trinkschalen müssen die Blätter sein; Auf Elfenkönigs Stirn wird blinken Die Rosenkrone mit goldigem Schein." 6. „Doch sag, was ist's mit den Schmetterlingen?" „Die starben der Rose nach aus Schmerz, Die Elfen nahmen die bunten Schwingen Zum Putz für die Damen bei Tanz und Scherz."

7. „Wo aber blieben denn die Grillen, Die ringsum zirpten mit lustigem Schall?" „Die müssen den Elfen zirpen und schrillen Als Musikanten beim festlichen Ball."

8. „Ach! auch die schönen Lilien schwanden. Die hier geblüht in stiller Pracht." „Die Elfen schleppten sich fast zu schänden. Bis sie sie endlich hinweggebracht. 9. Nun stehn sie als Säulen stolz und mächtig. Als Zier des Saales beim Elfenball, Und auf den Blütenkronen prächtig Ruhet die Wölbung von lichtem Kristall. 10. Doch komm nach Haus! es dunkelt im Tale, Heut leuchtet uns nicht der Würmlein Schein, Die schweben als Lichter im Elfensaale, Wetteifernd mit schimmerndem Edelgestein. 11. Hörst Doch Dann

Nun freun sich die Elfen des, was sie genommen: du sie nicht jubeln im tiefen Haus? wenn der Frühling wiedergekommen. geben sie alles wieder heraus."

Schüler.

Friedrich Schiller. 64. Kischerknabe. 1. Es lächelt der See, er ladet zum Bade, Der Knabe schlief ein am grünen Gestade, Da hört er ein Klingen, Wie Flöten so süß, Wie Stimmen der Engel Im Paradies.

2. Und wie er erwachet in seliger Lust, Da spülen die Wasser ihm um die Brusr. Und es ruft aus den Tiefen: „Lieb Knabe, bist mein! Ich locke den Schläfer, Ich zieh ihn herein."

65. Alpenjäger. 1. Es donnern die Höhen, es zittert der Steg, Nicht grauet dem Schützen auf schwindlichtem Weg; Er schreitet verwegen Auf Feldern von Eis; Da pranget kein Frühling, Da grünet kein Reis. 2. Und, unter den Füßen ein neblichtes Meer, Erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr; Durch den Riß nur der Wolken Erblickt er die Welt, Tief unter den Wassern Das grünende Feld.

66. Alpenhirt. Ihr Ihr Der Der

Matten, lebt wohl, sonnigen Weiden! Senne muß scheiden. Sommer ist hin.

69

Schiller.

70

Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder. Wenn der Kuckuck ruft, wenn erwachen die Lieder, Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu. Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai. Ihr Matten, lebt wohl, Ihr sonnigen Weiden! Der Senne muß scheiden, Der Sommer ist hin.

67. Pförtners Morgenlied. 1. Die Die Am Sie Sie Und Das

Verschwunden ist die finstre Nacht, Lerche schlägt, der Tag erwacht. Sonne kommt mit Prangen Himmel aufgegangen. scheint in Königs Prunkgemach, scheinet durch des Bettlers Dach, was in Nacht verborgen war. macht sie kund und offenbar.

2. Lob sei dem Herrn und Dank gebracht. Der über diesem Haus gewacht. Mit seinen heiligen Scharen Uns gnädig wollte bewahren. Wohl mancher schloß die Augen schwer Und öffnet sie dem Licht nicht mehr; Drum freue sich, wer neu belebt Den frischen Blick zur Sonn erhebt!

68. Rätsel. I. 1. Unter allen Schlangen ist eine, Auf Erden nicht gezeugt, Mit der an Schnelle keine, An Wut sich keine vergleicht. 2. Sie stürzt mit furchtbarer Stimme Auf ihren Raub sich los,

Schiller.

Vertilgt in einem Grimme Den Reiter und sein Roß.

3. Sie liebt die höchsten Spitzen; Nicht Schloß, nicht Riegel kann Vor ihrem Anfall schützen: Der Harnisch lockt sie an.

4. Den Sie Wie

Sie bricht wie dünne Halmen stärksten Baum entzwei; kann das Erz zermalmen, dicht und fest es sei.

5. Und dieses Ungeheuer Hat zweimal nie gedroht — Es stirbt im eignen Feuer; Wie's tötet, ist es tot!

II. 1. Ein Gebäude steht da von uralten Zeiten, Es ist kein Tempel, es ist kein Haus; Ein Reiter kann hundert Tage reiten, Er umwandert es nicht, er reitet's nicht aus. 2. Jahrhunderte sind vorüber geflogen. Es trotzte der Zeit und der Stürme Heer; Frei steht es unter dem himmlischen Bogen, Es reicht in die Wolken, es netzt sich int Meer. 3. Nicht eitle Prahlsucht hat es getürmet. Es dienet zum Heil, es rettet und schirmet; Seinesgleichen ist nicht auf Erden bekannt. Und doch ist's ein Werk von Menschenhand. III.

1. Wie heißt das Ding, das wen'ge schätzen. Doch ziert's des größten Kaisers Hand; Es ist gemacht, um zu verletzen; Am nächsten ist's dem Schwert verwandt.

71

Schiller.

Schnezler.

2. Kein Blut vergießt's und macht doch tausend Wunden; Niemand beraubt's und macht doch reich; Es hat den Erdkreis überwunden, Es macht das Leben sanft und gleich. 3. Die größten Reiche hat's gegründet, Die ältesten Städte hat's erbaut; Doch niemals hat es Krieg entzündet. Und Heil dem Volk, das ihm vertraut!

August Schnezler. 69. Die Lilien im Mummelsee. 1. Im Mummelsee, im dunklen See Da blühn der Lilien viele, Sie neigen sich, sie beugen sich. Dem losen Wind zum Spiele; Doch wenn die Nacht hcrniedersinkt. Der volle Mond am Himmel blinkt, Entsteigen sie dem Bade Als Jungfern ans Gestade.

2. Es braust der Wind, es saust das Rohr Die Melodie zum Tanze; Die Lilienmädchen schlingen sich Als wie zu einem Kranze Und schweben leis umher im Kreis, Gesichter weiß, Gewänder weiß, .Bis ihre bleichen Wangen Mit zarter Röte prangen.

3. Es braust der Sturm, es saust das Rohr, Es pfeift im Tannenwalde, Die Wolken ziehn am Monde hin. Die Schatten auf der Halde; Und auf und ab durchs nasse Gras Dreht sich der Reigen ohne Maß, Und immer lauter schwellen Zum Ufer an die Wellen.

Schnszler.

4. Die Ein Von

Da hebt ein Arm sich aus der Flut, Riesenfaust gebattet, triefend Haupt dann, schilfbekränzt. langem Bart umwallet; Und eine Donnerstimme schallt. Daß im Gebirg es widerhallt: „Zurück in eure Wogen, Ihr Lilien ungezogen!"

5. Da stockt der Tanz, die Mädchen schrei» Und werden immer blässer: „Der Vater ruft; puh! Morgenluft! Zurück in das Gewässer!" Die Nebel steigen aus dem Tal, Es dämmert schon der Morgenstrahl, Und Lilien schwanken wieder Im Wasser auf und nieder.

70. Heimweh. 1. Wenn der Schnee vom Gebirge niedertaut. Aus dem See blau der Himmel wieder schaut. Wenn die Glöcklein läuten von den Almen her — Schau ich denn die Heimat nimmermehr? 2. Wenn das Alphorn von Firn zu Firne klingt Und der Gemsbock von Klipp zu Klippe springt. Wo der Adler kreiset überm Wolkenmeer — Schau ich denn die Heimat nimmermehr? 3. Wenn das Tal blitzt vom frischen Wiesenglanz, Aus der Dorfschenk erschallt Musik und Tanz, Wenn der Hirte jodelt um die Sennrin her — Schau ich denn die Heimat nimmermehr?

4. Wo der Staubbach sich stürzet in die Kluft, Donners Zornhall von Fels zu Felsen ruft. Fern ertost der Schlaglawinen wildes Heer — Schau ich denn die Heimat nimmermehr?

73

74

Schnezler.

Simrock.

5. Wenn die Nacht sinkt und rings die Alpen glühn, Wenn der Tag winkt und Morgenrosen blühn, O, mein Herz, mein Herz, was pochst du doch so schwer — Schau ich denn die Heimat nimmermehr?

Karl Simrock. 71. Habsburgs Mauern 1. In Aargau steht ein hohes Schloß, Vom Tal erreicht es kein Geschoß: Wer hat's erbaut. Das wie aus Wolken niederschaut?

2. Der Bischof Werner gab das Geld, Graf Radbot hat sie hingestellt. Klein, aber fest. Die Habichtsburg, das Felsennest. 3. Der Bischof kam und sah den Bau, Da schüttelt er der Locken Grau, Zum Bruder spricht: „Die Burg hat Wall und Mauern nicht." 4. Versetzt der Graf: „Was macht das aus? In Straßburg steht ein Gotteshaus, Das bautest du. Doch Wall und Mauern nicht dazu." 5. „Das Münster baut ich Gott dem Herrn, Dem bleiben die Zerstörer fern; Bor Feindessturm Beschützt ein Schloß nur Wall und Turm."

6. „Wohl hast du recht, ich räum es ein. Ja, Wall und Mauern müssen sein; Gib morgen acht, Ich baue sie in einer Nacht." 7. Und Boten schickt der Gras ins Tal, Die Mannen nahn int Morgenstrahl,

Simrock.

75

Und scharenweis Umstellen sie die Burg im Kreis. 8. Frohlockend stößt ins Horn der Graf Und weckt den Bischof aus dem Schlaf: „Die Manern stehn! Wer hat so schnellen Bau gesehn?"

9. Zum Und Der

Das Wunder dünkt den Bischof fremd, Erker springt er hin im Hemd sieht gereiht Helden viel im Eisenkleid.

10. Mit blankem Schilde Mann an Mann Steht mauergleich des Grafen Bann, Und hoch zu Roß Hebt mancher Turm sich aus dem Troß. 11. Da spricht der Bischof: „Sicherlich, An solche Mauern halte dich! Nichts ist so fest Als Treue, die nicht von dir läßt. 12. So schütze Habsburg fort und fort Lebendger Mauern starker Hort, Und herrlich schaun Wird's über alle deutsche Gaun."

72. Der Schmied von Solingen. 1. Zu Solingen sprach ein Schmied bei jedem Bajonette, Das seinem Fleiß geriet: „Ach, daß der Fritz es hätte!" Wenn er die Zeitung las von seinem Lieblingshelden, Da schien ihm schlecht der Spaß, nicht lauter Sieg zu melden. Einst aber hatt es sich viel anders zugetragen: Da hieß es, Friederich sei bei Kollin geschlagen.

2. Der Schmied betroffen rief: „Hier muß geholfen werden. Sonst geht die Sache schief!" und riß den Schurz zur Erden. Ihm waren Weib und Kind wohl auch ans Herz gewachsen. Doch lief er hin geschwind zu Friedrichs Heer in Sachsen. Und eh man sich's versah, begann die Schlacht zu losen: Mit Seidlitz schlug er da bei Roßbach die Franzosen.

76

Simrock.

3. Das deucht ihn nicht genug, viel schlimmre Feinde dräuten. Er ließ nicht ab und schlug mit Zielen noch bei Leuthen. Da ging es herrlich her: zu ganzen Bataillonen Ergab sich Ostreichs Heer mit Fahnen und Kanonen. „Und somit wär vollbracht", gedacht er, „meine Sendung: Es nimmt nach solcher Schlacht von selber andre Wendung." 4. Mit Urlaub kehrt er um, für Weib und Kind zu sorgen. Und hämmerte sich krumm vom Abend oft zum Morgen. Der Krieg ging seinen Gang, man schlug noch viele Schlachten, Die oft ihm angst und bang in seiner Seele machten. Als endlich Friede war: „Fritz", rief er, „laß dich küssen' Ich hätte dir fürwahr sonst wieder helfen müssen."

73. Die 9 in der Wetterfahne. 1. Hans Winkelsee, der Wilddieb, irrt Eschenheimer Turm Spricht zu der Wetterfahne, da sie bewegt der Sturm: „Nun hast du neun Nächte mir den Schlaf geraubt Mit deinem Drehn und Wirbeln immer über meinem Haupt.

2. Für das bißchen Schießen ist die Qual zu lang. Und am Ende lautet's wohl gar auf den Strang. Pfui, das leidige Zappeln ist ein schlechter Scherz, Ich gönn es keinem Tiere, ich treff es mitten ins Herz. 3. Sie wissen nicht in Frankfurt, wie der Hänsel schießt. Daß man zum Gesindel in den Turm ihn schließt. Würd ich heute ledig, ich ließe sie aus Gunst Wohl eine Probe schauen meiner edlen Schützenkunst. 4. Ich weiß schon, wie ich's machte: in schlafloser Nacht Beim erogen Fahnen schwirren hab ich's ausgedacht. Za, in diese Fahne, zum Gedächtnis meiner Pein, Mit neun Kugeln schöß ich den schönsten Neuner hinein." 5. Das hört der Kerkermeister und bringt es vor den Rat. Der Schultheiß spricht: „Die Schützen, was nützen die dem Staat? Er hat so viel geschossen, es ist wohl hängenswert; Jedennoch soll es gelten, wenn er die Rede bewährt."

Simrock.

Spyri.

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6. Die Schöffen, Rät und Bürger lassen es geschehn. „Und ist es denn beschlossen, so mag es gleich ergehn. Bringt ihm seine Büchse und sagt ihm ohne Hehl, Unfehlbar müß er hangen, geh eine Kugel nur fehl." 7. Der Hänsel nimmt die Büchse und küßt sie auf den Mund: „Nun tu mir heute wieder die alte Treue kund! Neun Tage nichts geschossen! so schieß nun eine Neun; Ich hoff es wett zu machen, es soll dich nimmer gereun!"

8. Hier standen die des Rates und welch ein Menschenspiel! Er richtet seine Büchse und äugelt nach dem Ziel. Ein Schuß! ein Schuß! getroffen, und an den rechten Ort! Seht ihr das runde Löchlein in der Wetterfahne dort?

9. Gib acht, da schießt er wieder! und auch nicht abgeblitzt! Ich seh ein -weites Löchlein, das bei dem ersten sitzt. Ein drittes jetzt, ein viertes! der Hänsel blickt so frech; Mit neun Kugeln schießt er den schönsten Neuner ins Blech.

10. Die Menge jauchzt, die Räte flüstern unter sich. „Hans Winkelsee, wir wissen ein schönes Glück für dich: Uns fehlt ein Schützenhauptmann, willst du der sein, so sag's! Du solltest dich nicht weigern, es gereut dich eines Tags."

11. „Stadtschützenhauptmann begehr ich nicht zu sein; Ich geh durch die Wälder mit meiner Büchs allein. Auf den Dächern klirren die Wimpel mir zu sehr; Ade! hier war der Hänsel, her kommt der Hänsel nicht mehr."

Johanna Spyri. 74. Morgen ist's Sonntag. 1. Und Und Und

Es blühn schon die Nelken, die Rosen noch mehr. morgen ist's Sonntag, das freut uns so sehr.

78

Spyri.

Strachwitz.

2. Sechs Tage voll Arbeit, Müde Füß und müde Hand, Aber morgen ist's Sonntag, Da hat's Plagen ein End.

3. Am Werktag seufzt mancher Und hat's bös auf der Welt, Aber morgen ist's Sonntag, Da spaziert man ins Feld. 4. Dann klingt's auf den Höhen, Und es läutet im Tal, Ja, morgen ist's Sonntag, Drum freu dich einmal!

Moritz Graf von Strachwitz. 75. Rolands Schwanenlied. 1. König Karl, der hielt ein Mahl mit Schall Im Schlosse zu Paris, Als auf der Jagd von Roncevall Roland sein Leben ließ.

2. König Karl sprang auf in Angst und Zorn, Er horchte lang und tief: „Mir ist, als hört ich Rolands Horn, Das fern um Hilfe rief.

3. Mir ist, als hört ich Olifant Es hallt aus der spanischen Mark, Es hallt herüber aus Mohrenland Gewaltig und zauberstark. 4. Am Ebro kämpft mein werter Pair, Der Ritter von Anglant, Und wenn er dort erschlagen wär. Dann sei mir Gott zur Hand!" —

5. Und tiefe Stille brach herein Von wetterschwüler Art,

Strachwitz.

Sutermeister.

Es biß Herr Karl in banger Pein Den stolzen Silberbart. 6. Da klang es herüber zum zweitenmal. Es klang nicht leis und lind. Es schmetterte durch den Königssaal Wie rasender Wirbelwind.

7. Und als zum dritten das Horn erscholl. Da borsten Gewölb und Wand, Da sank der Humpen, Weines voll. Dem König aus der Hand. 8. Und wie der Ruf durch Hall und Turni Zum drittenmal gegellt, Da hatte des Ritters Atemsturm Das silberne Horn zerschellt. 9. Und wie der Klang nun himmelwärts Als Todesröcheln verblaust. Da hob Herr Karl in tiefem Schmerz Die stahlbewehrte Faust: 10. „Heut ist gefallen ein teurer Held, Das sei dem Himmel geklagt! Ihn haben die Heiden mit List umstellt. Mit List zu Tode gejagt." —

11. Das war Graf Rolands letzter Schrei, Er kam aus fernem Süd; Wohl singt sich nimmer ein Ritter frei Solch donnerndes Schwanenlied.

Otto Sutermeister. 76. Tarmenbäumchens Geschichte. 1. Bei Und Das

Ein Tannenbäumchen stand im Wald lauter großen Genossen, das hat eben Tag und Nacht Bäumlein gar verdrossen.

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Sutermeister.

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2. Ist in der herben Winterszeit Ein Häslein gesprungen gekommen. So hat es richtig seinen Lauf Stets über das Bäumlein genommen. 3. Die Und Wie

Es sprach: „Wer doch so von oben herab Häslein säh ohne Schaden sich im Winde so wiegen könnt meine Kameraden!"

4. Und als der Sommer gekommen war, Da wuchs es auf das Beste; Da wogten die wilden Winde daher Und sausten durch seine Äste.

5. Als Ach, Und

Es sprach: „Das war eine andere Zeit, noch die Häslein sprangen: stünd ich nur nicht in diesem Sturm in dem Walde gefangen!"

6. Da Und fällt' Es stand Und dacht

kam zur Weihnacht ein muntrer Gesell es und trug es von dannen. int Zimmer in schimmernder Pracht an den Wald und die Tannen.

7. Es sprach: „Das war doch die schönste Zeit, Im Sturme, im freien Walde; O, stünd ich doch wieder an meinem Platz Daheim an der grünen Halde!"

8. Doch als die Weihnacht vorüber war, Da schleppten sie's aus dem Zimmer. „Ach", seufzt es, „daß ich schon sterben soll,

Ich bin ja so jung noch immer!" 9. Das Das Und

Und in das Feuer versenkten sie dann Bäumlein und seine Träume. ist die Geschichte des Tannenbaums vieler andern Bäume.

Sutermeister.

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77. Rätsel. 1.

Ein Baum mit einem Dutzend Äste, Auf jedem Ast vier Nester feste. Und sieben Junge in jedem Neste. 2. Sechse haben den Bruder ernährt, Da seht ihn sich kleiden In Samt und Seiden, Womit sie reichlich ihn beschert; Da seht ihn ohne Rügen Mit Ruhn und Spielen Sich nun vergnügen. Indes mit Schweiß und Schwielen, Mit Sorgen und Fasten Die Brüder trugen des Lebens Lasten.

3. Sowie er geboren, Haben ihm Tausende zugeschworen; Zwölf Minister und vier Generale Hat er entlassen mit einem Male; Dreihundert und fünf und sechzig zugleich Hat er erschlagen mit einem Streich. 4. Wer läuft mit dem Flinksten in die Wette Und liegt zu derselbigen Zeit im Bette? Wer ist bald hier und ist bald dort Und bleibt doch stets an demselbigen Ort?

5. Im dunkeln Laube Sitzt eine Taube; Du zielst, da fällt sie auch. Und nach Schlaraffenbrauch Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

M, 6

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Sutermeister. Trojan.

Machst du flugs dich über sie her. Als ob sie schon gebraten wär. Aber der Braten Ist dir schlecht geraten, Kaum hast du angebissen. Pfui! rufst du und hast sie fortgeschmissen. 6. Wie heißt mein Männchen? Kaum mißt's ein halbes Spännchen, Es wohnt in keinem Häuschen, Aber wie ein Mäuschen Findet's ein Löchlein allerorten: Bald da, bald dorten Drängt es sich ein. Da steckt's im Kasten, da im Schrein, Ja, in Dielen und Wände Schlüpft's behende. Neulich hat einer ihm zuletzt Eines grad auf den Kopf versetzt; Gleich riefen alle laut und offen: „Ei, so ist's recht, der.hat's getroffen!"

Johannes Trojan. 78. Das Kornfeld. 1. Was ist schöner als das Feld, Wenn die Halme all, die schlanken Leise schwanken Und ein Halm den andern hält! 2. Wenn im Korn die Blumen blühn Leuchtend rot und blau dazwischen Und sich mischen Lieblich in das sanfte Grün.

Trojan.

3. Wenn es flüsternd wogt und wallt, Lerchen sich daraus erheben. Drüber schweben Und ihr Lied herniederschallt!

4. Dann den schmalen Pfad zu gehn Durch das Korn — welch eine Wonne! Nur die Sonne, Nur die Lerche kann uns sehn!

79. Sechse «uv einer. Es kommen sechs ernsthafte Leut, Gehn schlicht und rauh im Arbeitskleid. Die lassen dich nicht müßig ruhn. Ein jeder bringt dir was zu tun. 5 Ein siebenter kommt hinter ihnen Mit leichtem Schritt und lustigen Mienen. Mit den sechs ernsthaften Gesellen Tust du wohl, dich recht gut zu stellen. Dann wird, wenn du dich brav benommen, 10 Der siebente so fröhlich kommen. Daß du die sechse mit ihrer Last Um seinetwillen auch gerne hast.

80. Neues von draußen. 1. 's geht draußen was Besondres vor, Es regt sich, was sich lang geruht. Die Sonn besieht sich's jeden Tag Und lacht es an und sagt: „'s wird gut!"

2. Man spricht davon im Sperlingsnest, Da zwitschert es mit Hellem Ton: „Ihr Kinder, bald gibt's größres Brot! 's wird besser schon! 's wird besser schon!" 3. Im Wald ist auch der Haselbusch Schou wach und blinzelt schon ins Licht;

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84

Trojan.

Und schneit's ihm in die Augen mal. Er ist's gewohnt, ihn stört es nicht. 4. Aus dunklen Beeten bricht's hervor. Hellgrün und rot drängt sich's herauf. Eins sieht sich nach dem andern um: „Kommst auch so früh? bist auch schon auf?"

5. Noch Doch Man

Ein Sträuchlein schimmert grünlich schon; zittert's, wenn der Nordwind weht. rust's getrost: „Ihr andern, kommt! hält es aus — es geht! es geht!"

6. Ein Lerchlein schwebt in klarer Luft Hoch überm Ackersmann und singt: „Ich bin die erst, die erst bin ich. Die dir ein Lied vom Frühling bringt."

81. Arühliitgsarbeit. 1. Der Frühling kommt ins Land herein. Das überschneit noch liegt und weiß. Er sagt: „Bald soll es anders sein!" Ein Hauch — da schmelzen Schnee und Eis.

2. Er sagt: „So Ob auch schon warm Grün hab ich gern!" Da färbt sich Wald

kahl ist noch die Flur, die Sonne schien! — Er lächelt nur. und Wiese grün.

3. Er sagt: „Ich lieb's ein wenig bunt. Zu einfach grün ist mir die Au." Gleich stickt er in den grünen Grund Die Blumen weiß, rot, gelb und blau.

4. Er sagt: „Zu still ist noch mein Reich, Ihr Vöglein, singt im grünen Wald!" Da singen Fink und Amsel gleich. Daß laut es von den Zweigen schallt.

Trojan.

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5. Wie hat's der Frühling schön gemacht! Schon springen Rosen auf am Strauch, Und alles draußen singt und lacht. Nun geh hinaus und freu dich auch!

82. Die Schönste. 1. Und Wer Als

Wenn der Winter von dannen scheidet die Blumen im Grase blühn. ist lieblicher wohl geUeidet, die Birke in lichtem Grün?

2. Alles hat ja zur Frühlingsfeier Schön geziert sich, Baum, Strauch und Kraut, Aber die Birke in zartem Schleier Ist die Schönste, sie ist die Braut.

83. Zum Blumenpflücken. 1. Brichst du Blumen, sei bescheiden. Nimm nicht gar so viele fort! Sieh, die Blumen müssen's leiden. Doch sie zieren ihren Ort. 2. Nimm ein paar und laß die andern Stehn im Gras und an dem Strauch! Andre, die vorüberwandern, Freun sich an den Blumen auch. 3. Nach dir kommt vielleicht ein müder Wandrer, der des Weges zieht, Trüben Sinns — der freut sich wieder, Wenn er auch ein Röslein sieht.

84. Zwergwanderschaft. 1. Es geht ein Männlein Am Morgen aus. Wagt sich gar keck In die Welt hinaus.

2. Vorsichtig tappt es Durchs zarte Moos. „Die Glockenblume, Wie ist sie groß!"

86

Trojan.

3. Unterm Pilzdach hält's Ein Weilchen Rast. Vor einer Spinne Flieht es mit Hast.

8. Es kennt die Wege, Die Stege nicht — Da schimmert vor ihm Grüngoldnes Licht.

4. Mit Zittern schleicht es Vorbei am Stein, Wo die Eidechs liegt Im Sonnenschein.

9. Glühwürmchen ist es — „Glühwürmchen, hier Ist ein Verirrter, Komm, leuchte mir!"

5. Bon einer Erdbeer, Schön reif und rot, Ißt es ein Zwölfteil Als Mittagsbrot.

10. Glühwürmchen freundlich Fliegt ihm voraus Und zeigt ihm richtig Zurück ins Haus.

6. Moosbecher winkt ihm, Mit Tau gefüllt. Da hat es reichlich Den Durst gestillt.

11. Wo Tannenwurzel Sich knorrig streckt. Da liegt das Häuschen, Ist ganz versteckt.

7. Und Im Hat

Wie die Sonne sinkt es Abend wird. Heidekraut es sich verirrt.

12. „Dank schön!" sagt's Männlein Und schlüpft hinein. — Das möcht ein winziges Zwerglein sein.

85. Die Käferwage. Wollten Käferchen sich wiegen lassen. Um zu wissen es, wie schwer sie wären. Gingen hin, besprachen's mit der Spinne; Diese wußte Rat und unterwies sie. Machten einige sich auf und holten Flink herbei zwei kleine Rosenblätter, Ganz hellrote von der Heckenrose, Trefflich als Wagschalen zu gebrauchen. Andre schnitten einen Wagebalken 10 Aus dem Waldgrashalme, welcher glänzend Braun poliert ist, eine Rispe tragend Mit gewundenen polierten Stielchen. 6

Trojan. Andre wieder sorgten für Gewichte, Holten von dem Mohn her eine Menge 15 Samenkörner, passend zu Gewichten.

An den Wagebalken hing die Spinne Drauf die beiden rosenroten Schalen Mit dem guten, selbstgedrehten Tauwerk. Doch den Wagebalken in der Mitte 20 Machte fest sie ganz geschickt und richtig An den Klöppel einer Glockenblume, Einer großen, frischerblühten, blauen. Fertig war die Wage; nun ans Wiege» Konnt es gehn und ging es auch in Eile. 25 In die eine von den Schalen setzten Sich die Käfer, einer nach dem andern; Unterdessen warfen in die zweite Korn um Korn die übrigen, mit Werfen Schnell aufhörend, wenn einstand die Wage. 30 Was heraus sich stellte, war erstaunlich: Fünfundsiebzig Körner wog ein Käfer, Einer sechszig, zweiunddreißig einer. Zwanzig wogen mehrere von ihnen; Aber einer, welcher kaum zu sehn war. 35 Wog, der kleinste, nur ein einzig Mohnkorn.

Viel gelacht ward und gescherzt beim Wiegen, Das kein Feind, kein böser Zufall störte — Und zum Glück auch war es völlig windstill. Als ein jeder, was er wog, erfahren. 40 Mancher wundernd sich, der Spinne dankten Höflich sie und flogen auseinander.

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Uhland.

Volkstümlich.

Ludwig Uhland. 86. Frühlingsruhe. 1. O, legt mich nicht ins dunkle Grab, Nicht unter die grüne Erd hinab! Soll ich begraben sein. Lieg ich ins tiefe Gras hinein. 2. In Gras und Blumen lieg ich gern, Wenn eine Flöte tönt von fern, Und wenn hoch obenhin Die Hellen Frühlingswolken ziehn.

87. Die Rache 1. Der Knecht hat erstochen den edeln Herrn, Der Knecht wär selber ein Ritter gern. 2. Er hat ihn erstochen im dunkeln Hain Und den Leib versenket im tiefen Rhein,

3. Hat angelegt die Rüstung blank. Auf des Herren Roß sich geschwungen frank. 4. Und als er sprengen will über die Brück, Da stutzet das Roß und bäumt sich zurück. 5. Und als er die güldnen Sporen ihm gab. Da schleudert's ihn wild in den Strom hinab.

6. Mit Arm, mit Fuß er rudert und ringt. Der schwere Panzer ihn niederzwingt.

Volkstümlich. 88. Wettstreit des Kuckucks mit der Nachtigall. 1. Einsmals in einem tiefen Tal Der Kuckuck und die Nachtigall Täten ein Wett anschlagen, Zu singen um das Meisterstück: „Gewinn es Kunst, gewinn es Glück, Dank soll er davon tragen."

Volkstümlich.



2. Der Kuckuck sprach: „So dir's gefällt. Ich hab zur Sach ein Richter wählt," Und tät den Esel nennen. Denn weil er hat zwei Ohren groß. So kann er hören desto baß Und was recht ist, erkennen.

3. Sie flogen vor den Richter bald. Wie ihm die Sache ward erzählt. Schuf er, sie sollten singen. Die Nachtigall sang lieblich aus. Der Esel sprach: „Du machst mir's kraus. Ich kann's in Kopf nicht bringen." 4. Der Kuckuck drauf anfing geschwind: „Kuckuck!" sein Sang durch Terz, Quart, Quint Und tät die Noten brechen; Er lacht auch drein nach seiner Art. Dem Esel gefiel's, er sagt nun: „Wart, Ein Urteil will ich sprechen. 5. Wohl sungen hast du, Nachtigall, Aber Kuckuck, singst gut Choral Und hältst den Takt fein innen. Das sprech ich nach mein hohen Verstand, Und kostet's gleich ein ganzes Land, So laß ich dich's gewinnen." 89. Born Wasser und vom Wein. 1. Ich weiß ein Liedlein hübsch und fein Wohl von dem Wasser, wohl von dem Wein. Der Wein kann's Wasser nit leiden, Sie wollen alleweg streiten.

2. Da sprach der Wein: „Bin ich so fein. Man führt mich in alle Länder hinein. Man führt mich vor's Wirt sein Keller Und trinkt mich für Muskateller."

so

Volkstümlich.

3. Da sprach das Wasser: „Bin ich so fein. Ich laufe in alle Länder hinein. Ich laufe dem Müller ums Hause Und treibe das Rädlein mit Brause." 4. Da sprach der Wein: „Bin ich so fein, Man schenkt mich in Gläser und Becherlein Und trinkt mich für süß und für sauer. Der Herr als gleich wie der Bauer." 5. Da sprach das Wasser: „Bin ich so fein, Man trägt mich in die Küche hinein. Man braucht mich die ganze Wochen Zum Waschen, zum Backen, zum Kochen."

6. Da sprach der Wein: „Bin ich so fein, Bürgermeister und Rat insgemein Den Hut vor mir abnehmen Im Ratskeller zu Bremen." 7. Da sprach das Wasser: „Bin ich so fein. Man gießt mich in die Flamm hinein. Mit Spritz und Eimer man rennet, Daß Schloß und Haus nicht verbrennet."

8. Da sprach der Wein: „Bin ich so fein. Ich spring aus Marmorbrünnelein, Wenn sie den Kaiser krönen Zu Frankfurt wohl auf dem Römer." 9. Da sprach das Wasser: „Bin ich so fein. Es gehn die Schiffe groß und klein, Sonn, Mond auf meiner Straßen, Die Erd tu ich untfassen." 10. Da sprach der Wein: „Bin ich so fein. Man pflanzt mich in die Gärten hinein. Da laß ich mich hacken und hauen Bon Männern und schönen Jungfrauen." 11. Da sprach das Wasser: „Bin ich so fein. Ich laufe dir unter die Wurzel hinein,

Volkstümlich.

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Wär ich nicht an dich geronnen. Du hättest nicht können kommen."

12. Da sprach der Wein: „Und du hast recht. Du bist der Meister, ich bin der Knecht, Das Recht will ich dir lassen. Geh du nur deiner Straßen!"

90. Wachtelwacht. 1. Hört, wie die Wachtel im Grünen schön schlagt: „Lobet Gott, lobet Gott! Mir kommt kein Schauder," sie sagt; Fliehet von einem ins andre grün Feld Und uns den Wachstum der Früchte vermeldt, Rufet zu allen mit Lust und mit Freud: „Danke Gott, danke Gott! Der du mir geben die Zeit!"

2. Morgens sie ruft, eh der Tag noch anbricht: „Guten Tag, guten Tag!" Wartet der Sonnen ihr Licht. Ist sie aufgangen, so jauchzt sie vor Freud, Schüttelt die Federn und strecket den Leib, Wendet die Augen dem Himmel hinzu: „Dank sei Gott, dank sei Gott, Ter du mir geben die Ruh!" 3. Kommt nun der Weidmann mitHund und mitBlei: „Fürcht mich nicht, fürcht mich nicht! Liegend ich beide nicht scheu. Steht nur der Weizen und grünet das Laub, Ich meinen Feinden nicht werde zum Raub; Aber die Schnitter, die machen mich arm, Wehe mir, wehe mir! Daß sich der Himmel erbarm!"

4. Kommen die Schnitter, so ruft sie ganz keck: „Tritt mich nicht! tritt mich nicht!" Liegend zur Erde gestreckt.

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Volkstümlich.

Flieht von geschnittenen Feldern hindann, Weil sie sich nirgend verbergen mehr kann. Klaget: „Ich finde kein Körnlein darin. Ist mir leid! ist mir leid!" Flieht zu den Saaten dahin.

5. Ist nun das Schneiden der Früchte vorbei: „Harte Zeit! harte Zeit! Schon kommt der Winter herbei." Hebt sich, zum Lande zu wandern nun fort. Hin zu dem andern, weit fröhlichern Ort, Wünschet indessen dem Lande noch an: „Hüt dich Gott, hüt dich Gott!" Fliehet in Frieden bergan.

91, Das Federspiel. 1. Wohlauf, ihr klein Waldvöglein, die ihr in Lüften schwebt. Stimmt an, lobt Gott den Herren mein, singt all, die Stimm erhebt. Denn Gott hat euch erschaffen, sich selbst zu Lob und Ehr, Sang, Feder, Schnabel, Waffen, kommt alles von ihm her. Adler. 2. Der aller Vögel König ist, macht billig den Anfang. Komm, Adler! komm hervor, wo bist? stimm an den Vogel­ sang ! Der Vorzug dir gebühret, kein Vogel ist dir gleich, Drum dich im Wappen führet der Kaiser und das Reich.

B a ch st e l z. 3. Die Bachstelz tut oft schnappen und fängt der Mücken viel, Es hört nicht auf zu knappen ihr langer Pfannenstiel, Den Schweif tut sie stets zwingen, sie läßt ihm niemals Ruh: Wenn andre Vögel singen, schlägt sie den Takt dazu. Henne und Hahn. 4. Die Henne fröhlich gaggagagt und macht ein grob Geschrei, Die Bäurin weiß wohl, was sie sagt, und geht und holt das Ei,

Volkstümlich.

93

Der Hahn tut früh aufwecken den Knecht und faule Magd, Sie tun sich erst recht strecken und schlafen, bis es tagt. Kanarienvogel. 6. Das lieb Kanarievögelein kömmt her aus fremdem Land, Es singt gar schön, zart, hell und rein, wie allen ist bekannt. Den Zucker frißt es gerne, doch nimmt es auch vorlieb. Wenn man ihm Hanfsamkerne und Rübesamen gibt. Lerche. 7. Das Lerchlein in den Lüften schwebt und singt den Himmel an. Vom grauen Feld es sich erhebt und tröst den Ackcrsmann. Gar hoch tut es sich schwingen, daß man's kaum sehen mag. Im Kreis herum tut's singen, lobt Gott den ganzen Tag. Nachtigall. 8. O Nachtigall, dein edler Schall bringt uns sehr große Freud, Dein Stimm durchstreift all Berg und Tal zur schönen Sommerzeit. Wenn du fängst an zu zücken, die Vöglein schweigen still. Es läßt sich keiner blicken, keiner mehr singen will. Schwalbe. 9. Schwätzerlein, wie schwätzst so toll und plauderst hin und her, Früh hast du Kisten und Kasten voll, abends ist alles le- le-leer; Zu morgen, eh die Sonn aufsteht, erzählst du deinen Traum, Und abends, wenn sie niedergeht, hast du geendet kaum.

10. O, sagt, ihr lieben Vögelein, wer ist's, der euch erhält? Wo fliegt ihr hin, wo kehrt ihr ein, wenn Schnee im Winter fällt? Wo nehmt ihr eure Nahrung, so viel als ihr begehrt? Es zeigt ja die Erfahrung, daß Gott euch alle nährt. 11. Ihr habt kein Feld, kein Heller Geld, nichts, was die Tasche füllt. Der Tannebaum ist euer Zelt; Trotz dem, der euch was stiehlt!

Volkstümlich.

94

Euer Pflug ist: lustig singen! stets lobt ihr Gott, den Herrn, Die Töne tut ihr schwingen bis zu dem Abendstern.

12. Ihr habt nicht Koch, nicht Keller und seid so wohlgemut, Ihr trinkt nicht Muskateller und habt so freudig Blut. Nichts haben, nichts begehren ist euer Liverei; Ihr habt ein guten Herren, er hält euch alle frei.

92. Rätsel. 1. Am Tage geht es klipp klapp. Des Nachts steht's vor dem Bett und jappt.

2. Das ist ein großer greiser Mann, Der an den Himmel reichen kann. 3.

Ter Hat Und Nur

arme Tropf einen Hut und keinen Kopf hat dazu einen Fuß und keinen Schuh.

4.

Der Herr von Bohnika Kommt aus Amerika, Dann geht er nach Brandenburg, Dort fommt er aufs Wasser, Dann fährt er mit Extrapost Von da nach Leidig. 5.

Eine Jungfer guckt aus dem Haus, Sie hat Staketlein um das Haus. 6. Ein Haus voll Essen Und die Tür vergessen.

Volkstümlich.

7.

Ein Tal voll und ein Land voll. Und am Ende keine Hand voll. 8.

Ein weißes Feld ist schwarz besät. Mancher Mann vorübergeht. Der nicht weiß, was auf ihm steht. 9. Es ritt ein Männchen über Land, Gewickelt und gewackelt. Hatt ein Kleid von lauter Taud, Gezickelt und gezackelt.

10. Es schnaubt und heult die Straß herauf Und hat doch keine Lunge, Es leckt den Schnee wie Butter auf Und hat doch keine Zunge. 11. Es steht was hinter dem Haus, Guckt blitzblan über die Mauer 'naus. 12. Gott sieht es nie, der König selten, Doch alle Tage Bauer Belten.

13.

Hinten und vorn krumm geraten. Und recht schön in Butter gebraten, Wie schreibt man das mit drei Buchstaben? 14. Hinter unserm Hause Ackert Vetter Krause, Ohne Pflüg und ohne Schar, Wird's kein Mensch im Haus gewahr.

95

W

Volkstümlich. 15.

Ich Ich Ich Und

rede ohne Zunge, schreie ohne Lunge, hab auch kein Herz nehme doch teil an Freud und Schmerz. 16.

Ich weiß ein Ding Wie ein Pfifferling, Kann gehen, kann stehen. Kann auf dem Kopfe nach Hause gehen. 17.

Immer ist es nah. Niemals ist es da, Wenn du denkst, du seist daran, Nimmt es andren Namen an. 18. Klimpermann Liefen beide Klappermann Klimpermann

und Klappermann den Berg hinan, lief noch so sehr, kommt doch noch ehr.

19. Merzel Merzel Mücken Hat sieben Körb' auf dem Rücken, In jedem Korb eine schwarze Katze, Jede Katze hat ihr Junges, Jedes Junge hat seinen Namen.

20.

Niemand und keiner Gingen in ein leer Haus, Niemand ging heraus. Keiner ging heraus, ' Wer blieb noch drin?

97

Volkstümlich.

21. Rund rund Ringelchen, Ich trete dich auf dein Züngelchen, Rupfe dir dein Haar aus. Hier aus dem Kopf heraus.

22. Sieht man es, so läßt man's liegen, Sieht man's nicht, so hebt man's auf.

23. Spiegel blink, Spiegel blank. Geht die ganze Straß entlang.

24. Vor meines Vaters Kammer Hängt ein blanker Hammer, Wer damit zimmern kann, Der ist ein künstlicher Mann.

25. Vorne rund und hinten rund. In der Mitte wie ein Pfund.

26. Was ist's, das übers Wasser geht Und doch dabei ganz ruhig steht?

27. Wickerwacker Sprang über den Acker, Wickerwacker ins Wasser sprang, Wickerwacker doch nicht ertrank.

28. Zweibein saß auf Dreibein und aß Einbein. Da kam Vierbein und nahm dem Zweibein das Einbein, da nahm Zweibein das Dreibein und warf den Bierbein, daß Vier­ bein das Einbein fallen ließ. Hessel und Ufer. Lesebuch 1.

M.7

98

Volkstümlich.

93. Inschriften an Gerät nnv Hans. 1. Alles mit Gott, So hat's keine Not!

2. Allzeit traurig ist beschwerlich, Allzeit fröhlich ist gefährlich, Allzeit aufrichtig, das ist ehrlich.

3. Das ist meiner Wünsche Ziel: Nicht zu wenig, nicht $u viel!

4. Denk vernünftig. Denk aut künftig!

5. Einigkeit, ein festes Band, Hält zusammen Leut und Land.

6. Heute lieb, morgen leid. Das ist der Welt Unstätigkeit.

7. Schweigen, dulden und lachen Hilft zu manchen Sachen.

8. Überfluß macht Überdruß.

9. Wasserkrug macht alt und klug.

10. Zwischen Freud und Leid Ist die Brücke nicht breit.

Volkstümlich. Botz.

09

11. Das Haus ist mein und doch nicht mein, Beim Nächsten wird es auch so sein. Den dritten trägt man auch hinaus — Nun frag ich: wem gehört dies Haus? 12.

Ich lebe und weiß nicht, wie lang. Ich sterbe und weiß nicht wann. Ich fahr und weiß nicht wohin — Mich wundert, daß ich so fröhlich bin. 13.

Laß Neider neiden, laß Hasser hassen. Was Gott mir gönnt, das müssen sie mir lassen. 14. Trag nichts hinein, trag nichts hinaus. So ist der Friede stets im Haus!

Johann Heinrich Boß. 94. Herbstlied. 1. Wohl ist der Herst ein Ehrenmann; Er bringt uns Schnabelweide, Auch Nas und Auge lockt er an Und überspinnt talab, bergan Das Feld mit bunter Seide.

2. Schon lange lüstert uns der Gaum, Aus seinem Korb zu naschen; Wann reift doch Apfel, Pfirsch und Pflaum? Oft sehn und hören wir im Traum, Wie's niederrauscht, und haschen. 3. Schaut auf und jubelt hoch im Tanz, Wie sich die Bäume färben!

100

Boß.

Zirbes.

Gelb, rot und blau im bunten Glanz! Er kommt, er kommt im Asterkranz, Der Herbst mit vollen Körben. 4. Was blinkt von jener Mauer her So gelb und schwarz im Laube? Die Leiter an! wie voll und schwer! Den Trauben drängt sich Beer an Beer, Den Ranken Traub an Traube!

5. Was rauscht und klappert dort und kracht? Da hagelt's welsche Nüsse. Frisch abgehülst und ausgemacht! Wie euch der Kern entgegenlacht. Milchweiß und mandelsüße! 6. Der Baum dort mit gestütztem Ast, Er will so gerne geben! Den Apfelbrecher her in Hast, Und nehmt behend ihm seine Last, Im Winter was zu leben! 7. Das Wir Und Und

Komm, Boreas, und stürme du Laub den Bäumen nieder! machen dir das Pförtchen zu naschen Nüß und Obst in Ruh trinken klaren Zider.

Peter Zirbes. 95. Das verlorene Schühlein. (Sage aus dem Kylltale in der Eifel.)

1. Was schleicht da drunten im Mondenstrahl Zur späten Mitternachtsstunde Dort an der Kyll im Wiesental, Allnächtlich macht es die Runde?

gkber.

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2. Ei, das ist ein Wichtlein, dort steht es am Born, Blickt traurig zur Erde nieder. Dort hat es sein goldenes Schühlein verlorn Beim Tanze und findet's nicht wieder. 3. Der Schäfer, der es im Grase fand. Der hat es zum Goldschmied getragen. Und dieser hat daraus allerhand Kostbare Sachen geschlagen.

4. O, böser Schäfer, ach, hättest du Dem Armen es wiedergegeben, So hätte der kleine Schelm doch Ruh, Nun ist sie dahin für sein Leben! 5. Nun darf er nicht wieder in den Schacht, Wo seine Brüder Hausen, Drum klagt er einsam jede Nacht Vergebens suchend draußen.

102

Allmers.

Zweite

Abteilung:

Prosa. Hermann Allmers. 96. Sturmflut. Um ganz die hohe Wichtigkeit und Bedeutung der Deiche zu begreifen, muß man einmal eine gewaltige Sturmflut mit angesehen haben; denn wer ein solches Er­ eignis nie erlebte, wird sich schwerlich von der Größe und Schrecklichkeit desselben eine Vorstellung machen können. Die rechte Zeit der Sturmfluten ist vom Oktober bis zum April. Wenn eine Zeitlang ein anhaltender Westwind weht, der große Wassermassen in den Kanal trieb, und diese nun, sich nach Nordosten oder Norden umsetzend, gegen die Küsten und weit in die Flüsse hinaufpeitscht, wodurch die Ebbe sehr aufgehalten oder fast ganz gehemmt wird, wenn sich dazu noch eine Springflut gesellt, dann steigen die wilden Wasser oft zu einer Höhe und Furchtbarkeit, die einem das Herz erbeben machen. Aber ruhig erwartet sie der Marschbewohner; weiß er doch, daß seine Deiche hoch und stark genug sind, ihm sichern Schutz zu gewähren. Höchstens mag ihm ein trüber Gedanke an die Mühen und Kosten der Deicharbeit kom­ men, die wenige Stunden herbeiführen können. So steht er, unbekümmert um den heulenden Sturm, auf der Kappe des Deichs und schaut in ernstem Sinnen auf die wallewiren Fluten, von denen er genau weiß, wann sie den Deich heranströmen werden. Noch ist das Vorland trocken, noch sind die Fluten

Allmers.

103

in ihrem Bette, doch man sieht schon, wie sie toben, wie sie sich bäumen und die weißen Zähne zeigen, als harrten sie voll Ungeduld der Stunde, da eine höhere Macht ihnen das Zeichen zum Angriffe gibt. Jetzt nahen sie. Lauter und lauter wird das Brausen und Donnern. Sie erreichen das Vorland; in kurzer Zeit ist es bedeckt und beut nun, soweit das Auge reicht, nur eine einzige wilde Wasser­ wüste, deren Schaumkämme blendend weiß gegen das trübe Grau der Wogen abstechen. Kein Schiff ist weit und breit zu erspähen, alle sind sie vor dem Sturme in sichere Buch­ ten geflüchtet, und nur hier und dort kündet ein einsamer Weidenbaum, der mit seinem nickenden, wild zerzausten Haupte aus den Fluten ragt, daß da unter den wilden Wogen grünes fruchtbares Land liegt. Und noch immer höher schwillt das Gewässer; jetzt ist auch die Bärme, der Fuß des Deiches, beflutet, endlich der Deich selbst, und es beginnt durch den Widerstand desselben eine furchtbare Brandung, ein wahrhaft majestätisches Schauspiel. Mit zerstörender Gewalt schnaubt Woge auf Woge an ihm hin­ auf; kaum wird die erste zurückgewiesen von seiner Schrägung, als schon die nächste mit erneuter Wut heran­ rollt. Dazu steigt die Flut noch mit jedem Augenblicke; hochauf bäumen sich die wilden Wasser und schauen gierig über den Deich ins gesegnete Land, weit hinein ihren stäubenden Schaum schleudernd, als ob sie der Anblick ihres alten Eigentums mit doppelter Wut erfüllte. Dazu der heulende Sturm, der des Himmels dunkle Regenwolken in rasender Eile vor sich hinjagt; Scharen segelnder Möven, die umsonst mit dem Winde kämpfen, bis sie ermattet sich auf die geschützten Wiesen und Acker flüchten, und endlich hie und da ein Marschbewohner, der trotz Sturmgewalt und Wogendrang sich mühsam längs des Deichs durch den spritzenden Schaum hinarbeitet, um zu erspähen, ob ihm nicht die Fluten einen Balken oder einige Bretter oder sonst eine Beute zutreiben: all dies vereint, gibt ein Bild von wilder Großartigkeit.

104

Mmers.

Doch der Marschbewohner blickt noch immer kalt und ruhig in den Aufruhr. Hat nur der Deich hinreichende Höhe und Schrägung, so wird er nicht vor einer Flut weichen, ob auch ihre Wogen noch so mächtige Stücke herausreißen und noch so tiefe Höhlungen in seinen Leib wühlen. Doch wehe ihm! wenn das Wasser so hoch steigt, daß es mit dem Gipfel des Deichs gleich wird. Vom unab­ lässigen Bespülen ist dann bald die festgetretene Kappe er­ weicht, und das Schicksal der Menschen hängt oft nur noch an einem Haar. Die geringste Lockerheit des Erdreichs, ein einziges Mauseloch oder ein Maulwurfsgang kann jetzt Ursache des größten Unglücks werden. Durch die kleinste Rinne dringt sofort das Wasser, spült sie schnell weiter und im Nu reißt ein Stück der Kappe fort. Ist aber das ge­ schehen, so ist auch ein Deichbruch unvermeidlich; denn mit furchtbarer Gewalt dringt jetzt die hochaufgestaute Flut durch die entstandene Öffnung, die mit jeder Minute breiter und breiter wird. Da endlich bricht auch das letzte noch feste Erdreich fort, und durch nichts mehr gehemmt, schießt donnernd und brausend der rasende Strom durch die weite Gasse dahin, tief den Grund aufwühlend, alles, was er auf seinem Wege findet, mit sich fortspülend, Häuser im Nu zertrümmernd, Bäume ausreißend, Menschen und Tiere in seinen Fluten begrabend und bald die weite ruhige Marschfläche in eine wilde graue Wasserfläche verwandelnd. Sowie sich daher eine Kappstürzung zeigen will, wird in höchster Hast das mögliche aufgeboten, um dieselbe zu verhindern. Sandsäcke, Mist, Stroh, Balken, Bretter, alles, was nur irgend dienlich sein kann, wird zur Verstärkung auf die bedrohte Stelle gebracht. Ebenso eilt man auch nach einem wirklichen Deichbruche, sowie nur die Ebbe es zuläßt, die entstandene Lücke für die nächste Flut so gut wie möglich zu verstopfen. Eiligst und mit großer Strenge werden selbst die umliegenden Ortschaften dazu aufgeboten, um schnell aus allem möglichen Material eine hohe mächtige Barrikade aufzuwerfen. Man arbeitet mit kaum glaub--

Allmers.

Aurbacher.

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licher Anstrengung, und doch spült vielleicht schon wenige Stunden darauf die Flut das ganze mühevolle Werk wie­ der fort, und alles war umsonst.

Ludwig Aurbacher. 97. Die verwüstete Alp. An der Grenze des bayrischen Oberlandes ragen die Kaiserer empor, sehr hohe und schroffe Felsenwände, die einen großen Teil des Jahres mit Schnee bedeckt sind. In alten Zeiten sollen am nördlichen Abhang dieses Ge­ birges fruchtbare Alpen gewesen sein und zahlreiche Her­ den auf den fetten Matten geweidet haben, so daß die Menschen Überfluß hatten an Milch und Butter und Käs und an zeitlichen Gütern. Aber wie das Sprichwort sagt: „Reichtum gebiert Über­ mut, Übermut gebiert Armut", also geschah es auch hier. In Hülle und Fülle, wie diese Leute lebten, arteten sie immer mehr aus und trieben es zuletzt so arg, daß sie Gottes Gabe, statt dafür zu danken, zu eitlem, frevent­ lichem Spiele mißbrauchten. Sie erbauten sich eine Kegel­ stätte von lauter Käslaibern, dazu formten sie Kegel aus Butter und schossen darauf mit Kugeln aus Brot und hatten ihren Jubel dabei, das ruchlose Geschlecht! Da end­ lich ergrimmte der Himmel über sie, und es ereilte sie plötzlich Gottes schwere Rache. Denn in einer Nacht brach ein furchtbares Gewitter aus; Regenströme schwemmten von den Alpen alles fruchtbare Erdreich hinweg, die Felsen erbebten und stürzten über ihren Häuptern und Hütten zusammen. Und so ist es denn geschehen, daß von der Zeit an da, wo ehedem grüne Matten von Fett troffen, nur kahle, gähstrotzige Felsenwände emporstarrten, an denen kein Gras wächst, kein Gesträuch wuchert, kein Leben ge­ deiht, eine große, menschenleere Wüste!

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Aurbacher.

98. Der Schneider im Mond. Ein Schneider, der in der Welt wanderte, verirrte sich in den Mond. Ein solcher Mann war dem Mond willkommen. „Es friert mich immer so sehr," sagte der Mond, „zumal in den kalten Winternächten; und da tät mir denn ein warmes Röcklein gar wohl." Der Schneider mochte wollen oder nicht, er mußte bleiben, und er nahm sogleich das Maß an dem Mond. Der hatte aber einen gar großen Buckel und einen dünnen, dünnen Bauch, und er sah schier aus wie ein Schneider, wenn er auf dem Bock sitzt. Der Rock war indessen bald fertig, und er stand dem Mond aufs allernetteste, trotz seiner Mißgestalt. Aber siehe da! Nun schwoll der Kunde von Tag zu Tag, und sein Bauch wurde immer dicker und der Rock immer enger. Da hatte denn der Schneider vollauf zu tun, um nachzuhelfen, aufzutrennen und dranzusetzen. Zuletzt wurde der Mond ganz dick und fett und kugelrund, und der Schneider konnte kaum so viel Tuch auftreiben und soviel Zeit, um die Arbeit zu fertigen für Nacht auf Nacht. Nun end­ lich glaubte aber der Schneider, er werde Ruhe haben und Urlaub bekommen. Aber was geschieht? Jetzt fing der Mond an, ordentlich einzuschrumpfen von Tag zu Tag, so daß ihm das Kleid immer »eiter wurde und an seinem Leib schlotterte. Ja, was noch schlimmer war, er schwand jetzt, wie ein rechter Wechselbalg, am Rücken, während er vorn den Wanst behielt, und er sah zuletzt aus wie ein Gaukler, der sich rückwärts auf den Boden niederläßt. Da gab's denn für den armen Schneider fort und fort Arbeit; immer wieder mußte er nachhelfen und auftrennen und davon nehmen, bis daß es recht war. Endlich, nach drei Wochen, bekam er Ruhe; denn der Mond legte sich jetzt schlafen und ließ sich mehrere Tage nicht mehr sehen. Unser Schneider aber, welcher der vielen und langen Ar­ beit satt geworden, verließ insgeheim den Mond und setzte seine Wanderung fort. Ob er aber zuletzt in den Himmel gekommen, weiß man nicht.

Baßler.

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Ferdinand Bäßler. SS. Wineta. An der nordöstlichen Küste der Insel Usedom sieht man häufig bei stillem Wetter in der See die Trümmer einer alten großen Stadt. Es hat dort die einst weltberühmte Stadt Wineta gelegen, die schon vor tausend und mehr Jahren wegen ihrer Laster und Wollust ein schreckliches Ende ge­ nommen hat. Die Einwohner trieben einen überaus großen Handel; ihre Läden waren angefüllt mit den seltensten nnd kost­ barsten Waren, und cs kamen jahrein jahraus Schiffe und Kaufleute aus allen Gegenden und aus dey entferntesten Enden der Welt dahin. Deshalb floß denn auch in der Stadt ein über die Maßen großer Reichtum zusammen, daß man ihn kaum noch unterzubringen wußte. Die Stadttore waren aus Erz und Glockengut, die Glocken aber aus Silber, und das Silber war überhaupt so gemein in der Stadt, daß man es zu den gewöhnlichsten Dingen gebrauchte und die Kinder auf den Straßen mit harten Talern spielten. Dafür traf sie denn der gerechte Zorn Gottes, und die üppige Stadt wurde urplötzlich von dem Ungestüm des Meeres zu gründe gerichtet und von den Wellen verschlungen. Darauf kamen die Schweden von Gotland her mit vielen Schiffen unb holten fort, was sie von den Reichtümern der Stadt aus dem Meere herausfischen konnten. Die Stelle, wo die Stadt gestanden, kann man noch heu­ tiges Tages sehen. Wenn man nämlich von Wolgast über die Peene in das Land von Usedom ziehen will nnd gegen das Dorf Damerow, zwei Meilen von Wolgast, gelangt, so er­ blickt man bei stiller See bis tief, wohl eine Biertelmeile in das Wasser hinein, eine Menge großer Steine, marmorner Säulen und Fundamente. Das sind die Trümmer der ver­ sunkenen Stadt Wineta. In der Stadt ist noch immer ein wundersames Leben. Wenn das Wasser ganz still ist, so sieht man oft unten im

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Baßler.

Grunde des Meeres in den Trümmern ganz wunderbare Bilder. Große, seltsame Gestalten wandeln dann in den Straßen auf und ab, in langen, faltigen Kleidern. Oft sitzen sie auch in goldenen Wagen oder auf großen, schwarzen Pferden. Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig ein­ her, manchmal bewegen sie sich in langsamen Trauerzügen, und man sieht dann, wie sie einen Sarg zum Grabe geleiten. Die silbernen Glocken der Stadt kann man noch jeden Abend, wenn kein Sturm auf der See ist, hören, wie sie tief unter den Wellen die Vesper läuten. Wenn es aber Nacht oder stürmisches Wetter ist, dann darf kein Mensch und kein Schiff sich den Trümmern der alten Stadt nahen. Ohne Gnade wird das Schiff an die Felsen geworfen, an denen es rettungslos zerschellt, und keiner, der darin gewesen, kann aus den Wellen sein Leben erretten.

100. Das Amen der Steine. Es war ein heiliger Priester, der hieß Beda. Aus hohen! Alter war er blind und ließ sich leiten von einem Dorf zum andern und predigte Gottes Wort. Und es gehet die Sage, daß er zu einer Zeit durch eine einsame Gegend kam, woselbst viele Steine umherlagen. Da sprach sein Knecht, dem die Lust zu einem Schelmstück ankam: „Herr, es sind viel Leute ver­ sammelt, die wollten gern Gottes Wort hören. Wollt Ihr ihnen predigen?" Der Priester sprach: ja, er wolle es gern tun. Da hob er an zu predigen, und wie er an das Ende kam, sprach er: „Nun gesegne euch alle Gott der Vater und Gott der Sohp und der heilige Geist!" Und es antworteten ihm die heiligen Engel: „Amen!" und die Steine, die da lagen, antworteten auch: „Amen!" Der Knecht fiel erschrocken dem Priester zu Füßen und be­ kannte seine Schuld. Der Priester aber antwortete ihm mit Sanftmut: „Hattest du nie gelesen, was geschrieben steht: Ich sage euch, wo diese werden schweigen, so werden die Steine schreien?"

Bäßlei.

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101, Wie Eulenspiegel ein Schneider wird. Eulenspiegel kam nach Berlin, da verdingte er sich zu einem Schneider. Als er nun in der Werkstatt saß, sprach der Schneider zu ihm: „Gesell, willst du nähen, so nähe eng und fein, daß man es nicht sehe!" Eulenspiegel sagte ja, nahm Nadel und Zwirn und kroch mit dem Gewand unter eine Bütte, steppte eine Naht übers Knie und hub an zu nähen. Der Schneider sah das an und sprach: „Was willst du tun? Das ist eine seltsame Näherei." Eulenspiegel sprach: „Meister, Ihr sagtet, ich sollte nähen, daß man es nicht sähe; so siehet es niemand." Der Schneider sprach: „Nein, lieber Knecht, höre auf und nähe nicht mehr also; nähe du, daß man es fein sehen kann!" Nun schickte es sich nach vier Tagen, daß der Meister des Abends müde ward und gern geschlafen hätte; doch deucht' ihm, es wäre dem Knecht noch zu früh, schlafen zu gehen. Da lag ein Rock, der war gemacht bis an die Ärmel; da nahm der Meister den Rock, warf ihn Eulenspiegel zu und sprach: „Wirf die Ärmel noch an den Rock, hernach geh du auch schlafen!" Eulenspiegel sagte ja, hing den Rock an einen Haken, zündete zwei Lichter an, eins auf jeder Seite, und nahm einen Ärmel und warf damit nach dem Rock. Wenn zwei Lichter verbrannt waren, zündete er zwei andere an und warf die Ärmel an den Rock bis an den Morgen. Da

stand der Meister auf und kam in den Laden. Eulenspiegel erschrak nicht vor dem Meister und warf immerzu mit den Ärmeln. Der Schneider stand und sah das an und sprach: „Was den Teufel machst du da für ein Gaukelspiel?" Eulenspiegel sprach ernstlich: „Das ist mir kein Gaukelspiel; ich bin die ganze Nacht gestanden und hab drangeworfen, aber sie wollen nicht dran kleben bleiben. Es wär besser gewesen, Ihr hättet mich lassen schlafen gehen, als daß Ihr mich die hießet anwerfen, da Ihr doch wohl wußtet, daß es verlorene Arbeit war." So gerieten sie miteinander in Zank, also daß der Meister Eulenspiegeln ansprach, daß

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Bäßler.

Bechstein.

er ihm die Lichter bezahlen sollte, die er darüber verbrannt hatte. Indem rafft' Enlenspiegel seine Siebensachen zu­ sammen und ging davon.

Ludwig Bechstein. 102. Aschenbrödel. Ein Mann und eine Frau hatten zwei Töchter, und war auch noch eine Stieftochter da, des Mannes erstes liebes Kind, gar fromm und gut, aber nicht gern gesehen von ihrer Stiefmutter und Stiefschwestern, deshalb wurde es auch schlecht behandelt. Es mußte in der Küche den ganzen Tag über wohnen, alle Küchenarbeit tun, früh aufstehen, kochen, waschen und scheuern, und nachts mußte es in der Boden­ kammer schlafen. Da kroch es bisweilen lieber in die Asche am Küchenherd und wärmte sich, und da es davon nicht sauber aussehen konnte, so wurde es von der Mutter und den Schwestern noch obendrein Aschenbrödelchen genannt, aus Spott und Bosheit. Einst war der Vater zur Messe gereist und hatte die Mädchen gefragt, was er ihnen mitbringen solle: da hatte die eine schöne Kleider, die andere Perlen und Edelsteine gewünscht, Aschenbrödel aber nur ein grünes Haselreis. Diese Wünsche hatte der Vater auch erfüllt. Die Schwestern putzten und schmückten sich, Aschenbrödel aber pflanzte das Reis auf das Grab ihrer Mutter und begoß es alle Tage mit ihren Tränen. Da wuchs das Reis sehr schnell und wurde ein schönes Bäumlein, und wenn Aschenbrödel auf dem Grabe ihrer Mutter weinte, so kam allemal ein Vöglein geflogen, das sah sie mitleidig an. Da begab's sich, daß der König ein Fest anstellte und dazu alle Jungfrauen des Landes einladen ließ, denn sein Sohn sollte sich aus ihnen eine Braut wählen. Und da schmückten sich die Schwestern überaus reizend, und Aschen­ brödel mußte ihnen die Haare kämmen und schöne Zöpfe

Bechstein.

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flechten, und daß sie auch gern zum Tanz mitgehen mochte, das fiel gar niemand ein. Als sie endlich es wagte, um Er­ laubnis zu bitten, ward sie schrecklich ausgelacht, daß sie sich einfallen ließe, zum Tanze gehen zu wollen, da sie doch keine schönen Kleider habe und nicht einmal Schuhe. Die böse Stiefmutter nahm geschwind eine Schüssel voll Linsen, warf diese in die Asche und sagte: „So, so, Aschenbrödel, mache dir etwas zu tun, lies erst die Linsen! dann sollst du mitgehen, mußt aber in zwei Stunden fertig sein." Das arme Kind ging in den Garten und rief dem Vöglein auf ihrem Haselnußbaum und auch den Täubchen, daß sie alle lesen sollten, die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen, und bald wimmelte es von Tauben und andern Vögeln; da währte es gar nicht lange, so war die Schüssel voll Linsen ganz rein gelesen. Aber wie das gute Mädchen voller Freude die Linsen brachte, ärgerte sich die Stiefmutter und schüttete jetzt zwei Schüsseln voll Linsen in die Asche, und die sollte es nun auch noch in zwei Stunden lesen. Aschenbrödel weinte, rief aber die Vöglein wieder, und baldwar auch diese Arbeit getan. Es wurde ihr aber dennoch nicht Wort gehalten, sondern sie wurde ausgelacht, denn sie habe ja keine Kleider und Schuhe, und wie sie sei, könnte sie sich nimmermehr sehen lassen, auch müsse der Königssohn und jeder andere einen schlechten Geschmack haben, der mit ihr tanze, und da gingen jene Stolzen fort und ließen Aschen­ brödel tiefbetrübt zurück. Die ging zu ihrem Bäumchen und weinte bitterlich; da kam das Vöglein geflogen und rief: »Mein liebes Kind, o, sage mir! Was du wünschest, schenk ich birl* Da rief Aschenbrödel, indem sie das Bäumchen anfaßte: ,£>, liebes Bäumchen, rüttle dich! O, liebes Bäumchen, schüttle dich! Wirf schöne Kleider über midjl*

Da flog ein schönes Kleid herunter und kostbare Strümpfeund Schuhe, das zog Aschenbrödel geschwind an und ging, damit auf den Ball, und das Mädchen war so schön, ach, so-

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Bechstein.

schön, daß es gar niemand kannte, auch nicht einmal seine Schwestern, und der Königssohn tanzte nur mit ihm und mit keiner andern Jungfrau, und als es abends nach Hause ging, wollte er ihm folgen; es entwich ihm aber, zog ge­ schwind Kleider und Schuhe aus auf dem Grabe unter dem Bäumchen und legte sich in seine Asche. Kleider und Schuhe verschwanden augenblicklich. So ging es noch zweimal, immer kam Aschenbrödel unerkannt und in stets schönern Kleidern zum Tanze, immer tanzte der Königssohn nur mit ihm, und immer folgte er ihm, und beim drittenmal verlor es von ungefähr den einen kleinen goldnen Schuh; der Königssohn hob ihn auf, bewunderte seine Zierlichkeit und sprach es laut, ließ es auch durch die Herolde kund tun: nur die Jungfrau, an deren Fuß der kleine Schuh passe, solle seine Gemahlin werden, und ritt von Haus zu Haus, die Probe zu machen. Vergebens probierten die beiden Schwestern den kleinen Schuh: es war, als ob ihre Füße ordentlich größer würden; da fragte der Königssohn, ob nicht drei Töchter da wären, und der Mann sagte: „Ja, Herr Prinz, noch ein kleines Aschenbrödelchen!" und die Mutter setzte gleich hinzu: „Die sich nicht sehen lassen kann." Der Königssohn wollte sie aber doch sehen; Aschenbrödel wusch sich fein und rein und trat ein, auch in ihrem aschgrauen Kittelchen durch ihre Schönheit die Schwestern überstrahlend. Und wie es den goldnen Schuh anzog, so paßte er prächtig, wie angegossen. Und der Königssohn erkannte sie nun auch gleich wieder und rief: „Das ist meine holde Tänzerin, meine liebe Braut!" nahm sie, führte sie aufs Schloß und befahl, ein stattliches Hochzeitsfest zuzurüsten. Beim Kirchgang hatte Aschenbrödel ein ganz goldenes Kleid an und ein goldnes Krönlein auf dem Kopfe; ihre Schwestern gingen ihr voll Neid zur Rechten und zur Linken. Da kam das Vöglein vom Haselbäumchen und pickte jeder ins Auge, daß dies erblindete. Als nun die Braut aus der Kirche ging, kam wieder das Vöglein und pickte wieder jeder

Bechstein.

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das andere Auge aus, und so waren sie für ihren Neid und ihre Bosheit mit Blindheit geschlagen ihr lebelang.

103. Die arme Mutter und der reiche Sohn. Es war einmal eine arme Frau, die hatte einen Sohn, den brachte sie zur Schule, und sie hatte nicht so viel, daß sie ihn erhalten konnte, denn sie mußte sich selber ernähren durch ihre Hände mit saurer Arbeit, mit Spin­ nen, mit Waschen und allerhand anderer Arbeit. Der Sohn ging zur Schule, und er nahm sehr zu an Gelehr­ samkeit, daß er von der Mutter fort zog, und er reiste nach Paris, und er ernährte sich da, wie mancher arme Schüler tut, mit Schreiben und mit andern Dingen, und er nahm auch Almosen, wenn sie ihm werden konnten. Darnach lernte er so fleißig, daß ihn die guten Priester zu ehren begannen um seiner Kenntnis willen. Darnach ward er so tüchtig, daß er über all die Priester stieg, die zu Paris waren, und er ward sehr reich. Das ver­ nahm seine alte Mutter, und sie wandelte ihm nach gen Paris, und sie wollte versuchen, ob er sie erkennen würde, und auch, daß er ihr zu Hilfe käme in ihrer Not. Da sie nach Paris kam, ging sie zum Hause einer reichen Frau und erbat da um Gottes willen Herberge, und sie hatte sehr schlechte Kleider an. Da fragte sie die Frau, wer sie wäre, und wo sie hin wollte. Da sprach sie: „Ich bin eine arme Frau und hatte einen Sohn, den sandte ich zur Schule, und er wandelte fort von mir und kam her in diese Stadt und ist ein reicher Priester ge­ worden. Nun bin ich hergekommen und wollte ihn gerne sehen, und ich wollte Hilfe von ihm erbitten." Da sie ihn nannte, sprach die Wirtin: „Frau, Euer Sohn ist der höchste Geistliche und der weiseste Meister, der in dem Lande ist, er kann Euch wohl Gutes tun." Da ging die wackere Frau hin und versammelte ihre Freunde, und sie zog der armen Frau gute Kleider an und brachte sie in Ehren zu ihrem Sohne, und er empHcssel und Ufer. Lesebuch 4.

M. 8

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Bechstein.

Becker.

fing die Frauen mit großen Ehren und fragte sie, was sie wollten. Sie sprachen: „Herr, wir bringen Euch Euere Mutter." Da sprach er zu ihnen: „Dies ist meine Mutter nicht! Meine Mutter bekam nie so gute Kleider an: meine Mutter war ein armes Weib, und sie pflegte zu spinnen und zu waschen." Sie sprachen: „Wahrlich, sie ist Euere Mutter." Das half alles nichts, er wollte sie nicht erkennen. Sie gingen wieder nach Hause, und die Mutter kam des andern Tages wieder in schlechten Kleidern. Da stund er auf und umfing sie um den Hals und sprach: „Dies ist meine Mutter, ich erkenne sie wohl." Darum weil er seine Mutter ehrte, so ehrte ihu Gott wieder, denn er ward darnach ein gewaltiger Bischof, und all die Leute hatten ihn lieb darum.

Karl Friedrich Becker. 104. Aus dem Leben Alexanders des Großen. Die Alten haben als etwas Besonderes angemerkt, König Philipp von Makedonien habe die Nachricht von seines Sohnes Geburt an einem glücklichen Tage erhalten, als er nämlich so eben Potidäa erobert und zugleich zwei andere frohe Botschaften empfangen habe, die eine, daß sein Feldherr Parmenio die Illyrier bezwungen, die an­ dere, daß sein Rennpferd in den olympischen Spielen den Preis erhalten. Auch das hat bedeutungsvoll geschienen, daß in derselben Nacht, in der Alexander geboren, der marmorne Dianentempel zu Ephesus, eins der Wunderwerke griechischer Baukunst, von einem Unsinnigen in Brand ge­ steckt wurde, der einzig die Absicht dabei gehabt haben soll, sich durch Zerstörung dieses berühmten Kunstwerks einen Namen zu machen. Die Amphiktionien, heißt es, befahlen zwar, daß niemand den Namen des Elenden nennen solle, allein er hat seinen Zweck dennoch, vielleicht eben durch das Verbot, erreicht; er hieß Herostratos.

Becker.

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Damals hatte der Philosoph Aristoteles, Platons Schüler, den Ruf des größten und kenntnisreichsten Denkers. Philippos war Grieche genug, um ihm als dem würdigsten aller damals lebenden Menschen die Erziehung seines Nach­ folgers aufzutragen, und meldete ihm schon dreizehn Jahre früher die Geburt desselben in diesem Briefe: „Ein Sohn ist uns geboren. Wir danken den Göttern, die ihn uns zu einer Zeit geschenkt haben, wo ein Aristoteles lebt. Wir hoffen, du werdest aus ihm einen Fürsten bilden, seines Vaters und Makedoniens würdig." Die Neigungen des Knaben waren schon früh so ent­ schieden auf das Große und Ruhmwürdige gerichtet, daß der Unterricht des Weisen nur insofern bei ihm haftete, als er mit diesen Neigungen in Berührung kam. Homer ward sein Lieblingsdichter, eine Abschrift der Ilias lag beständig unter seinem Kopfkissen; er ward nicht müde, die herrlichen Gesänge von den alten Heroen vor Troja zu lesen. In der Gymnastik tat er es allen andern Knaben zuvor. Einmal, nachdem er eine bewundernswürdige Probe von seiner Schnelligkeit im Laufen abgelegt hatte, und jemand ihn fragte, ob er sich nicht zu Olympia sehen lassen wollte, antwortete er stolz: „Wenn ich mit Königen um die Wette laufen könnte!" Mit einem Interesse, das über seine Jahre war, bekümmerte er sich um die Staatsver­ hältnisse und politischen Ereignisse seiner Zeit. Als ein­ mal persische Gesandte nach Makedonien kamen, fragte er sie mit solcher Klugheit aus, daß sie einen alten General zu hören glaubten und nicht ohne Besorgnis an die Zeit dachten, wo dieser Knabe Mann und König sein würde. Oft auch, wenn man ihm von seines Vaters neuesten Siegen erzählte, rief er schmerzlich aus: „Mein Vater wird mir nichts mehr übrig lassen!" Einmal wurde dem König ein wildes thessalisches Pferd, Bukephalos genannt, für den ungeheuern Preis von dreizehn Talenten angeboten. Die besten Reiter versuchten ihre Kunst daran; allein es ließ keinen aufsitzen, und Philipp 8*

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befahl endlich das Tier wegzuführen, da es kein Mensch brauchen könne. Alexander bat seinen Vater, noch ihm einen Versuch zu erlauben. Er ergriff es beim Zügel, führte es gegen die Sonne, da er bemerkt hatte, daß es sich vor seinem eigenen Schatten scheute, streichelte es lange, ließ dann unvermerkt seinen Mantel fallen und schwang sich plötzlich hinauf. Alsobald flog das Tier blitzschnell mit ihm davon, und alle Zuschauer zitterten für ihn. Als sie aber sahen, daß er endlich wieder umlenkte, und bald links, bald rechts nach Willkür das Roß tummelte, da erstaunten sie alle, und Philipp rief mit Freudentränen, indem er ihn umarmte: „Mein Sohn, suche dir ein anderes König­ reich, Makedonien ist für dich zu klein." Im achtzehnten Jahre wohnte er der Schlacht bei Chäronea bei, und im einundzwanzigsten war er König von Makedonien.

105. Diogenes. Kein Redner und kein Staatsmann, sondern ein Philo­ soph und witziger Kopf, dessen übertriebene moralische Strenge oft ins Lächerliche fiel, daher ihn auch Platon den verrückten Sokrates nannte. Er war aus dem jonischen Städtchen Sinope, aus welchem er früh mit seiner ganzen Familie hatte flüchten müssen, weil sein Vater über einer Geldverfälschung ertappt worden war. Er kam nach Athen, und eine unbezwingliche Liebe zur Weisheit trieb ihn, so arm er war, zum Philosophen Antisthenes hin, einem strengen Schüler des Sokrates. Dieser hatte sich aber vor­ genommen, keine Schüler mehr anzunehmen, und wies da­ her den jungen Diogenes mit harten Worten ab, der jedoch mit Bitten nicht nachließ, sondern so lange in ihn drang, bis Antisthenes nach dem Stocke griff. „Schlag immer zu," sagte Diogenes, indem er willig seinen Rücken darbot. „Du wirst nie einen Stock finden, der hart genug wäre, mich von dir zu vertreiben, so lange du redest." Durch diese seltene Beharrlichkeit ließ sich der Philosoph bewegen, ihn

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zu sich zu nehmen und ihm durch einen langen Umgang seine Grundsätze mitzuteilen. Antisthenes war ein finsterer Mann, der den Grund­ satz des Sokrates: man müsse so wenig Bedürfnisse als möglich haben, bis zur eigensinnigsten Verachtung aller äußern Güter, ja selbst aller Erfordernisse des Wohlstandes übertrieb. Er ging mit ungeschorenem Barte, seine Klei­ dung war ein schmutziger und zerrissener Mantel, und auf dem Rücken trug er einen Bettelsack. Wie Platons Schüler von dem Orte, wo er lehrte, Akademiker hießen, so nannte man die des Antisthenes von dem Gymnasium Khnosarges (Weißhund) nicht ohne Zweideutigkeit Kyniker, d. i. Hündler. Diogenes nun ahmte seinem Lehrer in seiner hündi­ schen Lebensweise aufs genaueste nach; er ging barfuß, selbst im Schnee, und sein eigensinnigstes Bestreben war, sich über alle herkömmliche Begriffe von Anstand und Schicklichkeit wegzusetzen. Er bettelte, wenn er nichts hatte, und wenn ihn dürstete, so schöpfte er mit einer kleinen Schale Wasser aus einem Brunnen. Da er aber einmal ein Kind sah, welches aus der hohlen Hand trank, so warf er auch noch die Schale weg und sagte: „Dies Kind lehrt mich, daß ich noch etwas Überflüssiges besitze." Um die Zeit, als Alexandras nach Griechenland kam, hielt sich Diogenes in der Nähe von Korinth auf und hatte sich der Sage nach eine große Tonne angeschafft, die er zu seiner Wohnung gebrauchte und nach Belieben bald hierhin bald dorthin rollte. Alexandras, der zu einem Reichstage nach Korinth kam, war begierig, den wunder­ lichen Philosophen kennen zu lernen, und ging einmal mit seinem ganzen Gefolge zu ihm hinaus. Diogenes hatte sich eben zu einer Mittagsruhe vor seiner Tonne gelagert, doch richtete er sich auf, als er die Menge der vornehmen Herren auf sich zukommen sah. Alexandros redete ihn freundlich an, besprach sich lange mit ihm und fand viel Vergnügen an seinen treffenden und geistreichen Antworten. Unter anderm fragte er ihn, ob er ihm eine Gunst erzeigen könne.

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„O ja," versetzte der Kyniker, „tritt mir mit den Leuten da aus der Sonne!" Die Umstehenden wurden unwillig über solche Verachtung dargebotener Gnade, aber der König sagte: „Er hat Recht, und wenn ich nicht Alexandros wäre, so möchte ich wohl Diogenes sein." Zu Olympia sah er einmal einige prächtig gekleidete Jünglinge aus Rhodus. „Lauter Stolz!" rief er aus. Da zeigte man ihm einige schmutzige Spartaner. „Auch nichts als Stolz," sagte er, „nur Stolz anderer Art." Dasselbe pflegte indessen Platon von ihm selbst, und wohl mit Recht, zu sagen. „War es voll bei den olympischen Spielen?" fragte ihn ein Athener. „Viel Zuschauer, aber wenig Menschen!" war die Antwort. Ein andermal, da er von Sparta nach Athen zurückkam, fragte ihn einer, wo er herkomme. „Aus den Wohnungen der Männer in die Gemächer der Weiber." — „Die Leute lachen über dich, Diogenes," sagte ihm ein andrer. „Kann sein," antwortete er, „ich aber werde nicht verlacht." — „Warum issest du auf dem Markte?" — „Weil mich auf dem Markte hungert." — „Wie könnte man sich wohl am ärgsten an seinem Feinde rächen?" — „Dadurch, daß man tugendhafter würde." — „Welches ist das gefährlichste Tier?" — „Unter den wilden der Ver­ leumder, unter den zahmen der Schmeichler." — „Was für ein Landsmann bist du eigentlich?" — „Ein Weltbürger." — „Ach," sagte einer, „er ist aus Sinope; da haben sie ihn verurteilt, die Stadt zu verlassen." — „Und ich habe sie verurteilt, drinnen zu bleiben," versetzte Diogenes. Einmal lief er am Hellen Mittage mit einer Laterne auf vollem Markte umher. Die Leute lachten und fragten ihn, was er suche. „Ich suche einen Menschen," antwortete er. Er wollte auch nach Sizilien reisen, allein das Schiff ward unterwegs von Seeräubern angegriffen und wegge­ nommen und die sämtliche Mannschaft in die Sklaverei verkauft. Den Diogenes rührte dieser Unfall wenig, obgleich keine Freunde sich finden wollten, die ihn, wie den Platon,

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loskauften. Auf den Sklavenmarkt geführt, ward er von einem Korinther erhandelt, der ihn zum Aufseher seines Hauswesens und seiner Kinder machte. Diogenes stand bei­ den Ämtern so gut vor, daß sein Herr zu sagen pflegte: Ein guter Geist ist in mein Haus gekommen. Er blieb hier bis in sein hohes Alter und starb, ein fast neunzigjähriger Greis. Ihm errichteten die Grie­ chen eine marmorne Gedächtnissäule.

106. Der Triumph des Ämilius Paulus. (167 v. Chr.).

Der Beendiger des makedonischen Krieges war nicht strenger gegen den Feind als gegen sein eigenes Heer, und dies machte ihm so viele Feinde, daß ihm sogar nach seiner Rückkehr die Ehre des Triumphs streitig gemacht ward. Allein seine Freunde und die Gerechtigkeit der Sache drangen durch, und so hielt er seinen Einzug mit einem Glanze, der alles bisher Gesehene in dieser Art übertraf. Damit der Leser sich einen deutlichen Begriff von diesen Ehrenein­ zügen machen möge, wollen wir hier die Beschreibung des Ämilischen Triumphs einschalten, die uns Plutarch um­ ständlich aufbehalten hat. Das Volk, heißt es darin, hatte auf den Straßen und öffentlichen Plätzen der Stadt eine Menge Schaugerüste erbaut, um von denselben den Zug bequem ansehen zu können. Alle Zuschauer waren in festlichen Kleidern, alle Tempel waren geöffnet und mit Kränzen geschmückt und strömten Düfte köstlichen Weihrauchs aus. Drei Tage dauerte das Fest. Am ersten sah man auf unzähligen Wagen die aus Griechenland geplünderten Gemälde, Bildsäulen und andere treffliche Kunstwerke durch die Straßen fahren. Am zweiten Tage kam die Reihe an die erbeuteten Waffen und Rüstungen, die alle hell poliert waren und im Sonnen­ scheine wie Spiegel blitzten. Man hatte Helme, Schilde, Harnische, Köcher, Pferdezäume und Streitstiefeln sehr künst­ lich, doch scheinbar verworren, übereinander gepackt, und

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so, daß die dazwischen gestellten Schwerter und Lanzen überall hervorsahen und grauenvoll aneinander klirrten. Hinter diesen Wagen folgten 3000 Männer, welche das gemünzte Silber in 750 offenen Gefäßen trugen, und nach diesen kamen andere Träger, beladen mit dem verarbeite­ ten Silber, mit Tischgeräten, silbernen Bechern, Kannen und Schalen. Der dritte Tag war der glänzendste von allen. Schon früh ließen sich die Trompeter mit kriegerischer Musik in den Straßen hören. Der Aufzug begann mit 120 fetten Opferstieren, denen man die Hörner vergoldet und Nacken und Rücken mit Bändern und Kränzen verziert hatte. Jünglinge in schön gestickten Schürzen und Knaben mit goldenen und silbernen Opfergefäßen begleiteten sie bis zum Altare. Hierauf folgten die Träger des gemünzten Goldes, das man erbeutet hatte, und welches in 77 Gefäßen zur Schau getragen ward. Hinter diesen sah man die große Opferschale, welche Amilius aus zehn Talenten Goldes von einem griechischen Künstler hatte verfertigen und mit vielen Edelsteinen hatte besetzen lassen. Dann folgten die un­ zähligen goldnen Becher und Gefäße aus dem Schatze des Perseus, unter denen sich manches Stück befand, welches sich von Alexandras Generalen herschrieb, also vielleicht vormals aus Asien geplündert war und nun durch eine abermalige Plünderung in Rom prunken mußte. Hierauf ward der Wagen des Perseus vorbeigefahren, auf welchem sein königliches Diadem und seine Waffen lagen. Dann kamen die gefangenen Kinder des Königs, geführt von ihren weinenden Lehrern und Dienern. In einer kleinen Entfernung hinter ihnen folgte endlich Perseus selbst in Ketten und in einem Trauerkleide. Er schlug die Augen nieder, zitterte heftig und sah ganz verstört aus. Hinter ihm gingen seine mitgefangenen Freunde und Verwandten, traurig und beschämt, wie er selbst. Dann folgte wieder ein Haufe von Trägern, welche 4000 goldene Kronen tru-

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gen, die die griechischen Städte als Geschenke dem Sieger durch Abgeordnete hatten reichen lassen. Nun endlich er­ schien auch Ämilius, gehüllt in eine prächtige, goldgestickte, purpurne Toga, und in der Hand einen Lorbeerzweig haltend. Er saß auf einem herrlichen Triumphwagen, von vier schönen Rossen gezogen, und hinter ihm folgte zum Schluffe das ganze römische Heer, mit Lorbeerzweigen ge­ schmückt, ausgelassene Lieder singend, und vor den Zu­ schauern mit übermütigen Geberden einherstolzierend. Der unglückliche König ward nachher nach Alba ab­ geführt und daselbst zu ewigem Gefängnisse verdammt, in welchem er das Jahr darauf vor Gram starb.

Klemens Brentano. 107. Wie Gockel, Hinkel und Gackeleia verzaubert erwachen. sJm Hühnerstall seines alten, verfallenen Stammschlosses Gockel-, ruh, als dem einzigen Raume, der daselbst noch bewohnbar unter Dach und Fach stand, wohnte der arme, alte Raugraf Gockel von Hanau mit seiner Gemahlin Hinkel von Hennegau und ihrem Töchterchen Gackeleia. Der König von Gelnhausen hatte ihn in Ungnaden aus seinem Dienste entlassen, und so drückte sie bittere Armut. Eines Abends gelangte Gockel in den Besitz des Siegelringes Salomonis.s

I. Als Gockel in der Nacht erwachte, gedachte er der Frau Hinkel und seines Töchterleins Gackeleia mit vieler Liebe und entschloß sich, den Siegelring Salomonis zu versuchen. Er nahm daher den Ring aus der Tasche, steckte ihn an den Finger und drehte ihn an demselben herum. Unter dem Drehen des Ringes schlief Gockel endlich ein. Da träumte ihm, es träte ein Mann in ausländischer reicher Tracht vor ihn, der ein großes Buch vor ihm aufschlug, worin die schönsten Paläste, Gärten, Springbrunnen, Hausgeräte, Kleidungsstücke, Tapeten, Schildereien, Kutschen, Pferde, Livreen und andre dergleichen Dinge abgebildet lvaren, aus

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welchem er sich heraussuchen mußte, was ihm wohlgefiel. Gockel beobachtete bei der Wahl alles mit großem Fleiße, was Frau Hinkel und Gackeleia gefallen konnte, denn er träumte so klar und deutlich, als ob er wache. Da er aber das Buch durchblättert hatte, schlug der Mann im Traume es so heftig 8ii, daß Gockel plötzlich erwachte. Es war noch dunkel, und er war so voll von seinem Traume, daß er sich entschloß, seine Frau zu weckeu, um ihr denselben zu erzählen, auch fühlte er ein so wunderbares Behagen durch alle seine Glieder, daß er sich kaum enthalten konnte, laut zu jauchzen. Da er sich immer mehr vom Schlafe erholte, empfand er die lieblichsten Wohlgerttche mit sich her und konnte gar nicht begreifen, was nur in aller Welt für köstliche Gewürzblumen in seinem alten Hühnerstall über Nacht müßten aufgeblüht sein. Als er aber, sich auf scinent Lager wendend, benterkte, daß kein Stroh unter ihm knistre, sondern daß er auf seidnen Kissen ruhe, begann er vor Er­ staunen auszurufen: „O Jemine, was ist das?" In deniselben Augenblick rief Frau Hinkel dasselbe, und dann riefen beide: „Wer ist hier?" und beide antworteten: „Ich bin's, Gockel! — ich bin's, Hinkel!" abe,r sie wollten's beide nicht glauben, daß sic es seien. Es hatte ihnen beiden dasselbe geträunit. „Gockel," flüsterte Fran Hinkel, „was ist mit uns ge­ schehen? es ist mir, als wäre ich zwanzig Jahre alt." — „Ach, ich weiß nicht," sagte Gockel, „aber ich möchte eine Wette anstelle«, daß ich nicht über fünfundzwaitzig alt bin." — „Aber sage nur, wie kommen wir auf die seidenen Bet­ ten?" fragte Fran Hinkel. II

Die Worte erinnerten Gockel an den Ring Salomonis; er dachte: „Ach, das mag alles von meinem gestrigen Wunsche Herkommen!" da hörte er auch Rosse ini Stalle stampfen und wiehern, hörte eine Türe gehen, und es fuhr ein Licht durch die Stube an der Decke weg, als wenn jemand mit einer Laterne nachts über den Hof geht. Er und Hinkel

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sprangen auf, aber sie fielen ziemlich hart auf die Nase, denn jetzt merkten sie, daß sie nicht mehr auf der ebenen Erde, sondern auf hohen Polsterbetten geschlafen hatten. Sie raff­ ten sich auf von einem spiegelglatten Boden, sie stürzten sich in die Arme und weinten vor Freude wie Kinder.

Nun bemerkten sie den Schein wieder und sahen, daß er durch ein hohes Fenster hereinfiel. Mit verschlungenen Ar­ men liefen sie nach dem Fenster und sahen, daß er von der Laterne eines Kutschers in einer reichen Livree herkam, der in einein großen Hof stand, Hafer siebte und ein Liedchen pfiff. Im Scheine der Laterne, der an das Fenster fiel, sah Gockel Hinkel an und Hinkel Gockel, und beide riefen aus: „Ach, Gockel! ach, Hinkel! wie jung und schön bist du ge­ worden!" Da sprach Gockel: „Der Ring Salomonis hat Probe gehalten; alle meine Wünsche sind in Erfüllung ge­ gangen," und da erzählte er der Frau Hinkel, wie ihm der Mann mit dem großen Bilderbuch erschienen und er alles herausgesucht und den Ring dabei gedreht habe. „Ach, Gockel, Herzens-Gockel! hast du wirklich alles so gewünscht, alles, wie es. mich freuet und erquicket? Diesen tiefroten, chinesischen Schlafrock, fein, fein, man kann ihn ganz in den Raum einer Nuß verbergen. Gockel! und dieses sei­ dene Netz um meine Haare — alles, alles so nach meiner Lust?" — „Ja," sagte Gockel, „alles nach deiner Lust, es wird schon Tag werden, da wirst du erst sehen die hohen, hellen Räume, Säle, um Wettrennen darin anzustellen, lauter Doppeltüren, Fußböden mit Purpurteppichen bedeckt, herr­ liche, breite Treppen, auf Säulen ruhend, Terrassen, Ga­ lerien, offene Hallen; ach, Hinkel! welche Gärten und Spring­ brunnen und Säulenhallen und Statuen und Aussichten und schöne Berglinien und Lorbeeren-, Myrten-, Cypressen-, Zitronen-, Pomeranzen-, Orangen-, Granatenhaine! und

eine Schaukel darin von weißen Rosen — vom Küchengarten will ich gar nicht reden, es wird dir genug sein, wenn ich sage, daß die Pflaumenbäume ihre Äste mit getrockneten Früchten zum Küchenfenster hineinhängen. — Was soll ich von der

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Garderobe sprechen? ehe ich dir nur den hundertsten Teil der Stiefelchen, Pantöffelchen, Röckchen, Schürzchen, Hütchen, Tüchelchen, Quästchen, Troddelchen u. s. w. nenne, ist es Tag, und du kniest mitten darunter und räumst und packst und pro­ bierst alles nach der Reihe. — Ich will nicht weiter sprechen, o Hinkel von Hennegau, von allen Kabinetten und Kabinettchen, von der Bibliothek, der Hauskapelle, der Küche, der Speisekammer, dem Saal Ball zu schlagen, dem Musiksaal, der Gemäldegalerie, der Äpfelkammer, der Kinderstube, dem Badhaus, dem Hühnerhof, ach! und dem bezaubernd schönen Stall voll der edelsten Pferde und Pferdchen, vor allem ein arabisches Schimmelchen, weiß wie der gefallene Schnee, Mähnen und Schweif mit Purpurbändern durchflochten, mit tiefrotem Samt gezäumt, Gebiß und Bügel von Gold und Rubin."

III. „Lieber Gockel!" sagte Frau Hinkel, „es ist nicht mög­ lich, es ist zu viel, ich kann's nicht glauben; aber ich möchte trinken, kannst du mir nicht ein Glas Wasser herbeidrehen?" — „Geh nur links an deinen Waschtisch," erwiderte Gockel, „und halte den Kristallpokal zum Fenster hinaus!" — „O Gockel, gehe mit!" sagte Hinkel, sich an seinen Arm hängend, „ich weiß nicht Bescheid hier; es ist mir ganz bang vor lauter Schönheit, ich fürchte, ich möchte über das siebente Wunder der Welt stolpern und in das achte hineinstürzen." Da führte Gockel sie zu ihrem Waschtisch an ein zweites Fenster, dessen Vorhang der volle Mond mit angenehmem Licht durchstrahlte. O, da ging das Verwundern erst recht an; neben einem Schirm von goldnen Stäbchen, an welchem weiße Rosen­

sträucher hinaufrankten, stand ein Waschtischchen, das sich nicht nur gewaschen hatte, sondern sich auch in alle Ewigkeit fortwusch. In den mit tiefrotem Samt belegten Marmor­ boden war ein eirundes, tiefes Becken von Kristall versenkt, der Rand oben war von Muscheln, Korallen und lebendigen Blumen umgeben, Reseda und Veilchen und Vergißmein-

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nicht; diese Wanne war voll Rosenwasser, über diesem ragte wie schimmernd ein mit Lotosblumen gesattelter Delphin von Perlenmutter hervor; auf seinem Rücken saß ein feingeflügeltes Kind von weißem Marmor, in der einen Hand hielt es ein Sieb von Kristall, voll der duftendsten Rosen, in welches zwei Strahlen des frischesten, klaresten Wassers aus den Nüstern des Delphins sprudelten und als Rosenwasser in das Becken niederflossen; mit der andern Hand stützte das Mar­ morkind die kristallne, durchsichtige Tischplatte, welche den Waschtisch bildete, und da war erst die rechte Herrlichkeit von schönen Siebensachen. „Verzeih, Herz Hinkel!" sprach Gockel, „ich selbst vergesse über den kuriosen Sachen Essen und Trinken" — da gab er ihr das Glas von dem Waschtisch, dünn und klar und rein wie eine Seifenblase, die sich auf eine Lilie niedergelassen, so war Kelch und Stiel gebildet — „halte

es zum Fenster hinaus! ich will den Ring Salomonis drehen." Gockel zog den rotdamastenen Vorhang hinweg, da sah man durch die blütenvollen Wipfel der Orangenbäume in den blauen Himmel, an dessen Osten der Tag graute. „Reich nur den Pokal hinaus," sagte Gockel, „fahre nur mit der Hand mitten durch die Orangenblüten, die Geister Salomonis wer­ den schon einen Wasserstrahl senden, der dir das Herz erlabt!" — Schon plätscherte es unter den Orangenbäumen heftiger, die Blätter bewegten sich, die Blüten küßten sich, und zwischen ihnen spritzte der feine, im Mond- und Sternenlicht schim­ mernde Strahl eines Springbrunnens aus dem untenliegen­ den Garten empor und füllte den Pokal, welchen die Hand der Frau Hinkel hinaushielt, ohne sie selbst im mindesten zu benetzen. Frau Hinkel trank und trank wieder, auch Gockel trank, und die allerliebste Frau Nachtigall sang in der nahen Linde dazu.

„Ach," sagte Frau Hinkel, indem sie den Pokal wieder auf den Waschtisch setzte, „das hat aber einmal geschmeckt, das Wasser duftete ganz von Blüten, und wie die liebe Nachtigall singt!" — Nun liefen sie an ein drittes Fenster. „O je, welche Freude!" rief Frau Hinkel aus, „wir sind in Geln-

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Hausen; da oben liegt das Schloß des Königs, und da drüben, o, zum Entzücken! da sehe ich in einer Reihe alle die Bäckerund Fleischerladen; es ist noch ganz stille in der Stadt; horch, der Nachtwächter ruft in einer entfernten Straße, drei Uhr ist es; ach, was wird er sich wundern, iueitn er hierher auf den Markt kommt und auf eininal unsern prächtigen Palast sieht! O Gockel, liebster Gockel, was bist du sür ein herzallerliebster, bester Gockel mit deinem Ring Salomonis!" Und da fielen sie sich wieder um den Hals und fuhren vor Freude gleichsani Schlitten auf dem spiegelglatten Boden.

IV. Es brach aber der Tag an, und es Ivar kein Traum; alles hatte Bestand. Sie blickten Arm in Arm scheu und doch freudig bald sich in ihrer verjüngten Gestalt und präch­ tigen Kleidung, bald die wunderbare Pracht ihres Schlaf­ gemaches an, und als sie neben ihrem großen Prachtbett, welches wie ein Himmelwagen aussah, mit Federbüschen besteckt, ein anderes schönes Bettchen sahen, fiel ihnen erst im Taumel der großen Freude ihre liebe Gackeleia ein; sie rissen die rotsamtnen, goldgestickten Vorhänge hinweg, da lag Gackeleia, schön wie ein Engel, ach, viel schöner, als sie je gewesen. Gockel und Hinkel erweckten sie mit Küssen und Tränen: „Wach auf, Gackeleia! ach, alle Freude ist um uns her; ach, Gackeleia, sieh alle die schönen Sachen an!" Da schlug Gackeleia die blauen Augen auf und glaubte, sie träume das alles nur, und da sie Vater und Mutter, welche beide so jung und schön geworden waren, gar nicht wieder­ erkannte, fing sie an zu weinen und verlangte nach ihren lieben Eltern. Ja, alle die schönen Sachen konnten sie nicht zufriedenstellen; sie sagte immer: „O, was soll ich mit all der Herrlichkeit? ich will zu meiner lieben Mutter, Frau Hinkel, zu meinem guten Vater Gockel zurück!" Die Mutter und der Vater konnten sie auf keine Weise bereden, daß sie es selbst seien. Endlich sagte Gockel zu ihr: „Wer bist du

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denn?" — „Gackeleia bin ich," erwiderte das Kind. „So," sagte Gockel, „du bist Gackeleia? Aber Gackeleia hatte ja gestern ein Röckchen von grauer Leinwand an, wie kommt denn Gackeleia in das schöne, buntgeblümte seidene Schlafröck­ chen?" — „Ach, das weiß ich nicht," antwortete Gackeleia, „aber ich bin doch ganz gewiß Gackeleia; ach, ich weiß es gewiß. Du bist Gockel nicht; der Vater Gockel hat ganschneeweiße Haare und einen weißen Bart und ist bleich im Gesicht und hat eine spitze Nase; du schwarzer mit den roten Wangen bist Gockel nicht; du bist auch die Mutter Hinkel nicht, du bist ja so hübsch glatt und anmutig wie ein Turtel­ täubchen; die Mutter Hinkel ist klapperdürr wie ein Zaun­ pfahl; ich will fort in das alte Schloß, ihr habt mich ge­ stohlen," und da weinte das Kind wieder heftig. Gockel wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er sagte: „Schau mich einmal recht an, ob ich dein Vater Gockel nicht bin!" Da guckte ihn Gackeleia scharf an, und er drehte den Ring Salomonis ganz sachte am Finger und sprach leis: „Salomon, du großer König, Mache mich doch gleich ein wenig Dem ganz alten Gockel ähnlich; Mach mich wieder wie gewöhnlich!"

Und wie er am Ring drehte, ward er immer älter und grauer, und das Kind sagte immer: „Ach Herrje, ja, fast wie der Vater!" Und als er ganz fertig mit dem Drehen war, sprang das Kind aus bent Bett und flog ihm um den Hals und schrie: „Ach ja, du bist's, du bist's, liebes, gutes, altes Väterchen!"

Rulemann Friedrich Eylert. 108. Die Freiwilligen aus -er Mark -ei Friedrich -em Große«. Die Grafschaft Mark, fruchtbar und reich, bewohnt noch heute ein Stammvolk biederer, derber, alter Germanen. Milde und freundlich beherrscht von den alten Grafen von der Mark,

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nachher geliebt und geschätzt vom großen Kurfürsten, zogen sie die Aufmerksamkeit Friedrichs des Großen zur Zeit des siebenjährigen Krieges auf sich. Nach Schlachten, die viel Menschen gekostet, machten unaufgefordert, aus eigenem in­ nerem Antriebe, diese riesigen Enaks-Kinder, die Hellweger in weißen, die Sauerländer in blauen Kitteln, den Pumper­ nickel und Schinkenbeutel auf dem Rücken, den Eichenstock in der Faust, Söhne wohlhabender Bürger und Bauern zu Hunderten wiederholentlich sich auf ins entfernte Heerlager zu ihrem königlichen Vater Fritz. Als sie so vor ihm zum erstenmal erschienen, fragte er sie: „Wo kommt ihr her?" — „Aus der Grafschaft Mark." — „Was wollt ihr ?" — Unserm Könige helfen." — „Ich habe euch nicht gerufen." — „Desto besser!" — „Wer hat euch denn rekrutiert?" — „Keiner." — „Es muß euch doch einer geschickt haben?" — „Ja! un­ sere Väter." — „Wo ist der Offizier, der euch geführt hat?" — „Wir haben keinen." — „Wer hat euch denn komman­ diert?" — „Wir selbst." — „Wie viele von euch sind unter­ wegs desertiert?" — „Desertiert? könnten wir das, dann wären wir ja nicht freiwillig gekommen." Das Adlerauge des großen Königs glänzte vor Freude beim Anblick dieser treuen Vaterlandssöhne. „Seid mir willkommen, wackere Männer!" rief er aus, „brave, redliche Markaner, auf euch kann ich bauen." Dies königliche Wort erhielt sich als eine heilige Sage im Lande; es tönte fort und fort von einer Generation zur andern und lebt heute noch in der Brust eines jeden hochsinnigen Markaners an den Ufern der rauschen­ den Lippe, Ruhr, Lenne und Volme. — Mein seliger Vater besaß nahe bei Hamm zu Kettinghausen einen Bauernhof, wo er alljährlich mit der Mutter und uns acht Kindern an einem schönen Frühlings-, Som­ mer-, Herbst- und Wintertage in der heitersten Stiminung das Fest der vier Jahreszeiten feierte. Der damalige Erb­ pächter des Hofes, Othmer Wiese, ein alter, biederer Bauer, hatte den hier bezeichneten Zug seiner Landsleute zum Könige ins Heerlager mitgemacht und erzählte dann als Augen-

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und Ohrenzeuge diese Anekdote.

Der wahre Glanzpunkt

des gemütlichen Familienfestes war, so oft es wiederkehrte, der Moment, wo der alte Othmer Wiese diese Unterredung der Markaner mit dem alten Fritz in immer neuer Frische immer wieder zum Besten gab. Wenn er geendet, standen alle auf (es war in den Jahren 1770—1786), und mein ehr­ würdiger Vater, einen großen, mit Rheinwein gefüllten Familien-Pokal in der Hand, brachte in ehrfurchtsvoller Stel­ lung die Gesundheit: „Dem Gesalbten Gottes, Seiner Maje­ stät unserm allergnädigsten Könige und Herrn, ihm, der Krone und dem Throne, Gut und Blut und Treue auf ewig !" Dem alten Othmer und uns allen liefen die Tränen über die Wangen, und indem der Pokal in der Runde umging, strichen die auf der großen Diele, wo der Tisch gedeckt war, umherstehenden, mit bunten Bändern geschmückten Knechte fröhlich die Sensen, und die sonntäglich angekleideten Mägde sangen fröhliche Volkslieder in plattdeutscher Mundart auf den großen König, von denen eines schloß: „De olle gudde Fritz!" Dies herrliche Fest, im heitern Frühling des Lebens, ist mir das Ideal für alle geselligen patriotischen Feste geworden und geblieben, und nach der Teilnahme an manchen pracht­ vollen, glänzenden Festen habe ich oft später zu mir selbst sagen müssen: Nein, so innig vergnügt wie beim alten Othmer auf Wiesenhof bist du doch nicht gewesen!

Drei Geschichten von der Königin Lnife von Preußen.

109. Darf ich das nicht mehr tun? Einer der schönsten Punkte der Stadt Berlin ist der, wo man am Eingänge zu den Linden durch die lange Allee und die beiden Reihen Paläste in der Entfernung auf dem Bran­ denburger Tore die Viktoria erblickt und dann hinaufschaut nach dem alten Schlosse, eine Straße, die eine der schönsten der Welt sein mag. Auf dieser Stelle war zum begrüßenden Empfange der ihren bräutlichen Einzug haltenden Prinzessin Hess»! und Ufer, Leseduch t. M. 9

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eine prächtige Ehrenpforte erbaut. Die weithin tönenden Pauken und Trompeten machen eine feiernde Pause, Tau­ sende schauen aus Fenstern und von den Dächern herab, aller Augen sind nur auf sie, die Königin des Festes, ge­ richtet. Ein großer Kreis hübscher Kinder, Töchter der Bürger, geschmückt mit der Farbe der Unschuld und Liebe und den Kränzen der Hoffnung, umgibt die königliche Braut. Eins von diesen lieblichen Mädchen tritt näher zu ihr hin und spricht unter Überreichung einer blühenden Myrten­ krone ein einfaches Bewillkommnungsgedicht und spricht es vernehmlich im Ausdrucke der Empfindung, der Anmut und Liebe. Freudig bewegt und gerührt nimmt die Prinzessin die bräutliche Krone an; sie folgt der Stimme ihres Liebe und Dank atmenden Herzens: sie umarmt das liebliche Kind, drückt es an sich und küßt Mund, Stirn und Augen. Die hinter ihr stehende Oberhofmeisterin Gräfin von Voß er­ schrickt und will sie zurückziehen, aber es ist geschehen, das Unerhörte und nie Erlebte. „Mein Gott!" ruft die Wäch­ terin über Hofetikette voll Erstaunen aus, „was haben Eure Königliche Hoheit gemacht? das ist ja gegen allen Anstand und Sitte!" Und die Herrliche schaut um sich, heiter und ruhig, und fragt unbefangen: „Wie? darf ich das nicht mehr tun?"

110. Die Oberhofrneisterin. Unnatürlich und lästig war in früheren Zeiten der Eti­ kettenzwang in der Ehe fürstlicher Personen: sie durften nicht nach Neigung und Gefühl, sondern nur angemeldet und an­ genommen sich sehen und sprechen. Ihre wechselseitige An­ rede war jedesmal und blieb der gebührende Titel, und den Gebrauch der Worte Mann und Frau und das vertrauliche Du würde man für unanständig und gemein gehalten haben. Die in Eintracht, Liebe und Vertrauen zusammenfließenden Herzen des Königs und der Königin ertrugen diese Schranken nicht: der König überschritt, die Königin überhüpfte sie. Am meisten war darüber außer sich die Oberhofmeisterin Gräfin

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von Voß, deren Berus und Bestimmung es eben war, die Sitte, wie sie als eine heilige Überlieferung sie gefunden, zu bewachen und zu bewahren. „Nun gut," sprach eines Tages der Kronprinz zur Ober­ hofmeisterin Gräfin von Voß, „so will ich mich denn fügen, und um Ihnen davon einen Beweis zu geben, ersuche ich Sie, mich anzumelden und anzufragen, ob ich die Ehre haben kann, meine Gemahlin, Ihre Königliche Hoheit die Kron­ prinzessin, zu sprechen; ich möchte ihr gern mein Kompli­ ment machen und hoffe, sie wird es gnädigst gestatten/*

Die Oberhofmeisterin, außer sich vor Freude, die schon so oft zu ihrem Schmerz verletzte Hofetikette nun endlich einmal wieder zu Ehren gebracht zu sehen, eilt sich anzu­ schicken, die sofort gewünschte Audienz feierlich anzukünden und zu erbitten, nicht zweifelnd, eine gnädige Antwort bringen und damit Dank verdienen zu können. Wer beschreibt daher ihr Erstaunen, als sie beim Eintreten in das Zimmer den anzumeldenden hohen Herrn schon vorfindet, vertraulich auf- und abgehend, mit der Kronprinzessin Hand in Hand. Laut und fiöhlich auflachend sprach dann der Kronprinz: „Sehen Sie, liebe Voß, meine Frau und ich sehen und sprechen uns unangemeldet, so oft wir wollen und wünschen, und so ist es damit auch in guter, christlicher Ordnung."

111. Die Gaben der Mennoniten. Der Aufenthalt der königlichen Familie in Königsberg und Memel vom Jahre 1807 bis 1809 ist reich an schönen, milden, rührenden Zügen der reinsten Hingabe und Anhäng­ lichkeit. Unter andern kam aus der Weichselniederung bei Kulm ein Landbauer, der Sekte der Mennoniten angehörig, mit Namen Abraham Nickel, mit seiner Frau zum Könige und der Königin. Der ehrliche Mann, treuherzig und bieder, brachte ein Geschenk von 3000 Stück Friedrichsdor, und die Frau trug einen Korb mit frischer Butter. Er sprach schlicht und einfach, wie ihr kirchliches System vorschreibt, mit be9*

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decktem Haupte und der Anrede Du, also: „Gnädigster Herr! deine getreuen mennonitischen Untertanen in Preußen haben mit Schmerz erfahren, wie groß deine Not ist, die Gott über dich, dein Haus und Land verhängt hat. Das tut uns allen leid, und darum sind unsere Gemeinden zusammengetreten und haben gern und willig diese Kleinigkeit zusammengebracht. Bon ihnen geschickt, komme ich in ihrem Namen, unsern lieben König und Herrn zu bitten, diese Gabe aus treuen Herzen wohlwollend anzunehmen, und wir werden nicht auf­ hören, für dich zu beten." Die Mennonitin aber überreichte mit offenem, freund­ lichem Angesichte ihren Korb voll frischer Butter der Königin mit den Worten: „Man hat mir gesagt, daß unsere gnädige Frau Königin gute, frische Butter sehr liebt und auch die jungen Prinzen und Prinzessinchen gern ein gutes Butter­ brot essen. Diese Butter hier ist rein und gut, aus meiner eigenen Wirtschaft, und da sie jetzt rar ist, so habe ich ge­ dacht, sie würde wohl angenehm sein. Die gnädige Königin wird auch meine kleine Gabe nicht verachten; du siehst ja so freundlich und gut aus; wie freue ich mich, dich mal in der Nähe so sehen zu können!" Solche Sprache verstand unsere Königin. Mit Tränen der Rührung im Auge drückte sie der Bauernfrau die Hand, nahm das Umschlagetuch, das sie eben trug, ab und hing es der gutmütigen Geberin um, mit den Worten: „Zum Andenken an diesen Augenblick!" Auch der König nahm die Gabe treuer Liebe gern an, quittierte aber über -en Empfang; und daß er späterhin reich und königlich vergalt, darf nicht erst versichert werden. Als mehrere Jahre nachher den Abraham Nickel das Unglück traf, durch Brand sein Wohnhaus nebst Ställen zu verlieren, ließ der König das Gehöft des Mennoniten, besser wie es vorher gewesen, wieder herstellen. Alles, was er mit dem Herzen aus­ genommen, vergaß nie sein Gedächtnis, und weil jenes treu und fest war, so war es auch dieses. Die gute Gesinnung, welche die Mennoniten-Gemeinden in Preußen ihm zur Zeit des Unglücks betätiget, hatte auf ihn einen günstigen, tiefen

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Eindruck gemacht, sodaß, so oft von dieser seltsamen Sekte die Rede war, er immer ihrer mit besonderem Wohlwollen gedachte.

112. Bom alten Heim. 1. Heim als Leibarzt.

Der Berliner Arzt Dr. Ernst Ludwig Heim, Königlich preußischer Geheimrat, war geschätzt und geliebt vom Könige und seinem Hause an bis zu dem Geringsten herab. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend unermüdet tätig, immer bereit, jedem, der ihn darum bat, zu helfen, erreichte er ein hohes Alter: 87 Jahre alt, starb er 1834. Man sah ihn ebenso vergnügt in die Hütten der Armen kriechen, als in die Paläste der Reichen gehen. Weil er im Volke und für dasselbe lebte, hatte er in seinem ganzen Wesen etwas Freies, was ihn auch dann nicht verließ, wenn er mit den höchsten Ständen umging. Unter anderm war er Leibarzt der Prinzessin Ferdinand. Diese hohe Frau hatte einen vortrefflichen, biedern, gut­ mütigen Charakter; sie und ihr Hof hatten aber noch die Färbung von Friedrich dem Großen, der alle Leute Er nannte. Es fiel folgende Szene vor. Die Prinzessin sitzt in einem prächtigen Saale in einem Sofa und besieht durch ein Vergrößerungsglas von der Fußsohle bis zum Scheitel den geforderten, vorgelassenen und eingeführten Heim. „Tret Er näher!" spricht sie und fährt dann fort: „Ich höre von Seiner Geschicklichkeit und von Seiner großen und glücklichen Praxis sehr viel Rühmliches. Ich bin darum entschlossen. Ihn zu meinem Leibarzt zu ernennen, und solches habe ich Ihm kund tun wollen." — „Euer Königlichen Hoheit danke ich für Ihr Vertrauen; aber die Ehre, Ihr Leibarzt zu sein, kann ich nur unter Bedingungen annehmen." Dies sagt Heim in einem heitern Tone. Lachend sagt die Prinzessin: „Bedingungm? die hat mir in meinem ganzen Leben noch niemand gemacht." —

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„Nicht?" antwortet Heim scherzend, „dann ist es hohe Zeit, daß Sie es lernen." — „Nun," erwidert sie, „ich bin neu­ gierig, diese Bedingungen kennen zu lernen; laß Er hören!" — „Die erste ist," antwortet Heim humoristisch, „daß Eure Königliche Hoheit mich nicht Er nennen; das ist nicht mehr an der Zeit; der König tut das nicht, selbst meinen Bedienten nenne ich nicht Er. Die zweite Bedingung ist, daß Sie mich dann nicht, wie soeben geschehen, so lange antichambrieren lassen; ich habe keine Zeit zu verlieren, der längste Tag wird mir stets zu kurz. Die dritte ist, daß Eure Königliche Hoheit mir nicht so nach den Füßen sehen; ich kann nur in Stiefeln und im bequemen Oberrock kommen. Die vierte ist, daß Sie nicht verlangen, ich soll zu Ihnen zuerst kommen; ich komme nach Beschaffenheit der Krankheit, nach Lage der Straßen und Häuser. Die fünfte ist, daß Sie mich nicht zu lange auf­ halten und nicht von mir verlangen, ich soll mit Ihnen von der wetterwendischen Politik und von Stadtneuigkeiten schwatzen; dazu habe ich keine Zeit. Endlich die sechste, daß Sie mich, weil Sie eine Königliche Hoheit sind, königlich honorieren." Beide lachten herzlich, und er war in diesem Verhält­ nisse bis zum Schlüsse desselben gern gesehen, geachtet und geliebt. 2. Das Gewissen.

Der ehrliche, fromme, gemütliche Heim hatte nicht Zeit, krank zu werden, und wurde, immer tätig, sehr alt. Sein Jubiläum feierte ganz Berlin, von den allerhöchsten und höchsten Ständen an bis herab zu den Straßenjungen, und währte drei Tage. Unaufhörlich in Anregung, war er end­ lich erschöpft und befahl, daß alles im Hause stille sein sollte. Am Abend spät kam eine unbemittelte Bürgersfrau, die ihn zu ihrem sehr kranken Kinde rufen wollte. Abgewiesen, drang, bekannt mit der Lokalität, sie in das Schlafzimmer von Heim, der die weinende und lärmende Frau unhöflich

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abwies. — Alles ist wieder still geworden, und die Geheim­ rätin sagt: „Lieber Heim, wie ist es mit dir? du wirfst dich ja im Bette hin und her!" — „Ich kann," antwortete er, „nicht schlafen; es ist doch ein eigen Ding mit dem Gewissen: ich muß hin." Er klingelt und vergißt alle Müdigkeit, eilend zum Kranken, den er glücklich wiederherstellt.

Ferdinand Christian Falkmann. 113. Der Tag eines Jägers. Kaum beginnt der Oktobertag zu dämmern, so wird es in der Försterei lebendig; die Läden gehn auf, dem Schorn­ steine entquillt eine dicke Rauchsäule, und aus der rasselnd geöffneten Haustür springen bellend ein paar Hühnerhunde hervor. Bald ist das Frühstück drinnen verzehrt, und der Förster tritt mit seinen Burschen, im kurzen Jagdkleide, die blanken Gewehre nebst der Weidtasche um die Schultern, aus der Wohnung. Sie schreiten rüstig durch den dicken Morgennebel, der sich in Tropfen an ihre Haare und Kleider hängt. Erst geht es zu den Dohnen in dem Unterholze, das jene nach Osten offene Höhe bedeckt. Man findet reichliche Beute in ihnen, und ein Knecht trägt einen Korb voll Krammetsvögel nach Hause. Jetzt beginnt in der angrenzenden Feldmark ein Treiben. Jener mit Haselstauden und Schlehdorn bewachsene Hügel wird umstellt. Laut ertönt durch die herbstliche rauhe Luft das Geschrei und das Klappern der aufgebotenen, treiben­ den Landleute, vermischt mit dem Klaffen der Hunde und ihrer Führer kunstverständigem Zurufe. Aufgeschreckt auS ihren! Lager, stürzen verschiedene Hasen hervor, Schüsse fallen, Hunde springen hinzu, und das erlegte Wild be­ lastet bald, ausgeweidet, die Taschen der Jäger. Nachdem nun noch zwei andere Dickichte abgesucht worden sind, sammelt sich alles neben einer alten Eiche, um unter dem heiter ge-

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Falkmann.

wordenen Himmel ein Mahl von Butterbrot nebst Wurst und Schinken, gewürzt mit einem Schluck gebrannten Wassers, zu verzehren. Man unterhält sich dabei von den Vorfällen des Morgens, lobt den einen Schuß, tadelt den andern, und auch Tiras und Waldmann, die schnellsten und geschicktesten unter den Huüden, erhalten ihren ge­ bührenden Ruhm. Dann steht der geschäftige Förster auf, sendet einen Teil seiner Begleiter mit den geschossenen Hasen nach Hause und verfügt sich mit dem andern wieder in den Wald, um kürzlich errichtete Klaftern zu besehen und neue Bäume mit dem Waldhamnler zu diesem Zwecke anzuschlagen. Einige Köhler erscheinen und zahlen für das empfangene Holz; Arme aus der Gegend erhalten auf ihre Bitte Erlaubnis, Reisig aufzusuchen oder dürres Laub nach Hause zu tragen. So vergeht der Nachmittag, und bald ist es Zeit, den Rückweg anzutreten. Nachdem der Jäger erst einen Trunk aus dem Hubertusquell, unter jenem mit Rottannen bewachsenen Felsen, getan und in der Nähe desselben der Fährte eines Ebers nachgespürt hat, erschallt das Horn und ruft zum Abzüge. Unterwegs rauscht plötzlich aus einem Kartoffel­ felde ein Volk Rebhühner empor — es knallt, und sechs Stück vermehren die Beute des Weidmanns. Fruchtlos bleibt in­ des sein Lauern auf Schnepfen dort in den Erlenbüschen auf dem Moore. Ist der Nebel am Abend nicht stark ge­ nug wiedergekehrt, oder hat sonst eine Störung stattge­ funden: man bekommt keinen dieser Vögel zum Schusse. Doch zufrieden mit dem Ertrage des Tages, führt der Förster seine Leute bald völlig heim. Als sie wieder an der Tür des einsamen Waldhauses stehen, verhüllt schon dichtes Dunkel die Erde; aber gastlich leuchten die hellen Fensterchen. Bald sitzt, nach eingenommener Abendmahlzeit, der Förster am wärmenden Ofen und hört behaglich dem Winde zu, der in den Wipfeln der Ulmen saust, und dem Geschrei der in ihnen horstenden Eulen.

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114. Die Mühle. Wie schön windet sich dieser klare Bach durch das dichte, von Blumen durchdufsete, von Nachtigallen belebte Gebüsch! Ich will seinen anmutigen Krümmungen folgen, neugierig, zu sehen, wohin sie den Wanderer führen werden. — Aber welches Geräusch schallt in mein Ohr? Hat ein Wasserfall den ebenen Lauf meines Baches unterbrochen und den stillen, plätschernden zu diesem Brausen genötigt, das ich immer stärker vernehme? Nein, ich sehe es, die Menschen haben den Sohn des Berges zur Dienstbarkeit gezwungen: er muß ihnen eine Mühle treiben und ihnen ihr Korn zum Brote mahlen. Seht! hier schließen ihn statt der blumigen Ufer schon schnurgerade Mauern ein. Durch jene hölzernen Kasten ziehend, besucht er seine Mitgegefangenen, die Fische. Dort aber hemmt eine Querwand von Balken und Brettern seinen Lauf, und nur durch einzelne, von seinem Beherrscher, dem Müller, geöffnete Stellen darf er hinabspringen auf die Schaufeln des untenstehenden ge­ waltigen Rades, um es herumzudrehen durch sein Gewicht und durch seinen Fall. Seht! die durchsichtig grüne Flut ist in einen sprudelnden Silberstrom verwandelt, der, alles umher benetzend und bestäubend, sich zwischen den alter­ schwarzen, moosbedeckten Speichen der neuen Freiheit zu­ drängt, die ihm dort unten in der sonnigen Aue winkt. Aber welche Bewegung, welches Getöse erregt der Sprung des Baches hier in diesem Gebäude! Ich trete hinein und sehe, daß das rastlos kreisende Rad seine gewaltige Welle durch die Grundmauer des Hauses streckt und in dessen unterm Geschoß vermittelst der hölzernen Zacken eines kleinern Rades eine dicke Eisenstange, die sich in der Decke verliert, in Schwung setzt. Ich steige in das obere Stockwerk, und nun zittert der Boden unter mir von dem Kreisläufe eines mächtigen, in diesem runden Kasten verborgenen Steines. Ich sehe die bräunlich gelbe Körner­ flut aus einem andern, schwebenden Kasten, dessen beweg­ licher Boden durch einen vom schwingenden Steine ge-

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Falkmann.

Fick.

schüttelten Stab in steter Bewegung gehalten wird, immer neu zufließen. Dort ist ein drittes Behältnis, das der schüttelnde Beutel mit milchweißem Mehle füllt, während aus seinem Ende die gröbere Kleie strömt. Wie rasselt es, wie Köpft es überall! Wie stäubt ein feiner Mehlstaub im ganzen Hause umher und pudert dem Müller und seinen Gesellen Gesicht und Kleider! Horch, da erschallt ein Glöck­ chen! Der Lehrbursch springt zu und gießt neues Korn in jenes hangende Gefäß. Zugleicherzeit öffnet der Geselle die Klappe des Mehlkastens und füllt jener wartenden Dirne den Sack mit dem zarten Marke des Weizens. Vor der Türe langen eben zwei Esel mit neuem Vorräte von Getreide an, und die Mahlgäste, denen sie gehören, treten grüßend in die Mühle.

Wilhelm Fick. 115. Das Wuppergebiet. Die Wupper ist nur ein kleiner, im Sommer recht wasserarmer Fluß von kaum hundert Kilometer Länge. An Bedeutung aber übertrifft sie manche viel größere Neben­ flüsse des Rheins. Sie beschreibt auf ihrem Laufe ein großes, nach Süden geöffnetes Viereck, an dessen Nordseite die bei­ den Großstädte Barmen und Elberfeld liegen. Das Wuppergebiet ist ein niedriges Berg- und Hügelland mit meist sanft abgerundeten Erhebungen. Ganz allmählich werden diese „Bergischen Höhen", so benannt nach dem alten Herzogtum Berg, nach Westen hin niedriger und gehen end­ lich in die Rheinebene über, durch die der Fluß einige Stunden nördlich von Köln den Rhein erreicht. Das Tal der Wupper ist tief in das Hügelland eingeschnitten und meist sehr schmal. Dasselbe gilt von den Tälern der zahl­ reichen Bäche, die ihr von allen Seiten zuströmen. Die größeren Ortschaften liegen darum auch fast alle auf den Höhen, während man in den Tälern meist nur kleine An­ siedlungen trifft.

Fick.

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Das Wuppergebiet ist von großer landschaftlicher Schönheit. Der reiche Wechsel von Wald, Feld und Wiese, die zahlreichen Ortschaften, die seine Höhen bedecken, die vielen kleinen Täler mit ihren frischen Wiesen und wal­ digen Abhängen und den verstreut liegenden Höfen und kleinen gewerblichen Anlagen: das alles vereinigt sich zu einem höchst anmutigen Landschaftsbilde. Aber nicht seiner Schönheit, sondern seiner großartigen Industrie verdankt das Wuppergebiet seine Berühmtheit. Diese Gewerbetätigkeit steht in engster Beziehung zu dem Flusse. Die Wupper hat nämlich ein starkes Gefälle, dar­ um haben die fleißigen Bewohner das Wasser als treibende Kraft verwendet. Hunderte von gewerblichen Anlagen, Eisenhämmer, Schleifmühlen, Pulvermühlen, Spinnereien, Webereien, Färbereien usw., sind an der Wupper und ihren Nebenbächen entstanden. Mit Recht hat man wohl gesagt, daß kein Wasser auf dem ganzen Erdboden soviel arbeiten müsse wie das der Wupper. Man sieht's ihm auch an; denn schwarz wie Tinte, oft auch in andern Far­ ben schimmernd, fließt es im Unterlaufe des Flusses dahin, und kein Fisch oder anderes Tier vermag in diesen Fluten zu leben. Freilich bildet das Wasser jetzt nicht mehr die einzige, ja nicht einmal mehr die Haupttriebkraft. Als die Dampfmaschine erfunden wurde, trat diese auch im Wuppertale in Wettbewerb mit dem Wasserrade. Ohne ihre Anwendung wäre die großartige Entwicklung, die die In­ dustrie in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat, nicht möglich gewesen. Dabei war es sehr vorteilhaft für das Wuppergebiet, daß die für den Dampfbetrieb so unentbehr­ lichen Kohlen aus öer Nähe, von der Ruhr, bezogen wer­ den konnten. Neuerdings hat man jedoch der Ausnutzung der Wasserkraft wieder erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet. In mehreren Tälern hat man Talsperren gebaut, künstliche Seen, Staubecken, die durch eine gewaltige, das ganze Tal sperrende Mauer gebildet werden. Darin wird in der regen­ reichen Zeit das Wasser gesammelt, aufgestaut, damit man

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es in der trockenen Zeit, wenn die Bäche versiegen, beliebig verwenden kann. Es gibt im Wnppergebiet eine Menge von kleinen Betrieben in abgelegenen Tälern; Dampfmaschinen­ anlagen können hier nicht gut gemacht werden, weil sie zu weit von der Eisenbahn abliegen und darum die Kohlen­ fracht zu hoch wird. Nicht wenige von ihnen waren in den letzten Jahrzehnten eingegangen; denn im Sommer mußten sie oft Monate lang wegen Wassermangel still liegen, wodurch sie den mit Dampf arbeitenden Fabriken gegenüber sehr im Nachteil waren. Durch die Talsperren sind viele von ihnen wieder lebensfähig geworden, weil sie jetzt das ganze Jahr hindurch die gewünschte Wasserkraft zur Verfügung haben. Die erste im Wuppergebiet wie überhaupt in Deutsch­ land angelegte Talsperre größeren Maßstabes ist die im Eschbachtale bei Remscheid, die 1889 bis 91 erbaut wurde und eine Million Kubikmeter Wasser faßt. Nach ihrem Muster wurden dann in andern Gegenden Deutschlands ähnliche Anlagen geschaffen. Die Talsperren dienen übrigens verschiedenen Zwecken. Sie liefern nicht nur Wasser als Triebkraft für gewerbliche Anlagen, sondern werden auch zur Erzeugung elektrischer Kraft ausgenutzt. Manche der Wasserbecken versorgen zugleich die benachbarten Städte mit Trinkwasser, andere verhüten verheerende Überschwemmun­ gen, indem sie die bei starken Regengüssen und bei der Schneeschmelze abströmenden Gewässer sammeln und erst nach und nach wieder abgeben. Das Wuppergebiet ist mit Städten, Dörfern und einzel­ liegenden Höfen wie übersät. Den Mittelpunkt des Jndustriebezirks bilden die beiden Städte Elberfeld und Bar­ men, die äußerlich jetzt zu einer Riesenstadt verschmolzen sind. Sie liegen an der Nordseite des Wuppervierecks und zwar im Tale selbst, das sich hier kesselartig bis auf ein Kilometer Breite erweitert. Fast drei Stunden weit zieht sich das Häusermeer den Talgrund hinab, bedeckt die Ab­ hänge der Serge und sendet noch Seitenarme weit in die

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Nebentäler hinauf. An den Ufern des Flusses reiht sich Fabrik an Fabrik, und Hunderte von hohen Schornsteinen geben Zeugnis von dem geschäftigen Treiben, das sich da unten entwickelt. Gewaltig ist auch der Verkehr, dem zwei Eisenbahnen mit dreizehn Bahnhöfen und mehrere elektrische Bahnen dienen. Unter diesen erweckt besonderes Interesse die Schwebebahn, die beide Städte ihrer ganzen Länge nach durchzieht. Um die Straßen vom Verkehre zu ent­ lasten, hat man hoch über dem Wupperbette ein mächtiges Eisengerüst erbaut, unter dem die Wagen, an Schienen hängend, schwebend dahingleiten. Unter den Industrie­ zweigen steht in erster Linie die Weberei. Seide, Wolle und Baumwolle werden hier verarbeitet. Barmen fertigt in erster Linie Bänder, Kordel, Litzen und Spitzen, Elber­ feld Seidenstoffe, Plüsch, Tuche, Kattun .und Zanella. Da­ neben gibt es Färbereien, Papierfabriken, Maschinenwerk­ stätten, Knopffabriken, Bierbrauereien, Orgel- und Klavier­ fabriken. Von hervorragender Bedeutung sind auch die Farbenfabriken. Ähnliche Gewerbe wie in Elberfeld und Barmen wer­ den noch in einer ganzen Reihe von kleineren Städten be­ trieben. Andrer Art ist dagegen die Industrie von Rem­ scheid und Solingen. Jenes liegt im Wupperviereck, süd­ lich von Elberfeld, auf weithin sichtbarer Bergeshöhe, So­ lingen westlich davon, jenseits des Flusses. Beide Städte sind durch eine Eisenbahn verbunden, die bei Müngsten das schmal und tief eingeschnittene Wuppertal auf einer gewal­ tigen Brücke überschreitet. In Remscheid, Solingen und den umliegenden Ortschaften ist die Kleineisen- und Stahlwaren-Jndustrie zu Hause. Remscheid fertigt Handwerks­ zeuge und kleinere Gebrauchsgegenstände aus Eisen und Stahl, wie Sägen, Meißel, Bohrer, Feilen, Äxte, Steig­ bügel, Sporen, Gebisse, Spaten, Hacken, Pflugschare, Schlitt­ schuhe und hundert andre Dinge. Das Hauptgewerbe in Solingen ist die Schwertfabrikation, die hier bereits im Mittelalter betrieben wurde. Die Solinger Klingen sind

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so vorzüglich gehärtet, daß man einen Nagel damit durch­ hauen, und so elastisch, daß man sie zu einem Ringe zu­ sammenbiegen kann. Nicht nur das deutsche Heer, auch viele ausländische Armeen beziehen ihre blanken Waffen vorzugsweise von Solingen. Neben Schwertern werben aber auch alle andern Arten von Schneidewerkzeugen an­ gefertigt. Über sechs Millionen Messer und Gabeln, zwei einhalb Millionen Scheren gehen jährlich aus der Solin­ ger Gegend in die Welt.

Otto Glaubrecht (Rudolf Oser). 116. Der Jmmeker. Im Norden unsers Vaterlandes dehnt sich die Heide mit ihrem dürren Grase und mit ihren einsamen, farblosen Blumen, und schwerfällig und heiß streicht der Sommer­ wind darüber. Selbst der Schmetterling hebt dort lang­ samer die Flügel; er hat Zeit, wie alles um ihn her. Das Leben der Natur scheint im Traum zu liegen. Mühsam schleppt sich der Wanderer von Hügel zu Hügel, er sucht Leben und findet keins. Doch siehe da! plötzlich entfaltet sich ein Bild des Lebens. An einem Hügel, der sich, mit niedrigem Tannengestrüpp bewachsen, im Halbkreis vor dir ausdehnt, siehst du auf tlcinen Erhöhungen von Erde und Rasen hundert und aber hundert Bienenstöcke, und das Völk­ chen, das sie bewohnt, ist in voller Tätigkeit. Das ist ein Schwärmen, Fliegen und Summen, ein Arbeiten ohne Rast und Ruh, ein Gehen und Kommen, ein Ausweichen nnb Fördern, ein Helfen und Abnehmen, daß man versteht, was Arbeit ist und Gemeinsinn, und wie der Herr der Natur auch den Bienlein etwas von dem ewigen Worte zugeflüstert hat: „Wirket, so lange es Tag ist, es kommt die Nacht, da nie­ mand wirken kann." Wie aber unser Wirken vom Auge über den Sternen geleitet wird und dann recht geht, wenn wir uns von seinem

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Blick lenken lassen, so sind auch nur scheinbar die tausende von emsigen Tierlein in den Strohstöcken dort ani Hügel sich selbst überlassen, zwei Menschenaugen überwachen sie von srüh bis spät und ruhen mit Sorge und Liebe auf ihnen. Denn siche, dort an die verkrüppelte Tanne gelehnt, steht eine Hütte, aus Strauchwerk und Rasen gebaut; ihr Dach springt weit vor und bedeckt ein Bänklein zur Seite der niedrigen Tür der Hütte. Dort sitzt, an die Wand der Hütte gelehnt, ein alter Mann mit grauem Bart und verwettertem Angesicht und raucht aus einem kurzen, hölzernen Pfeifchen. Das ist der Jmmeker, der Bienenvater seines Dorfes und vielleicht mehrerer Heidedörfer. Er weiß nicht zu pflügen und nicht zu säen, er kennt Fischerei und Vogelstellen nur denk Namen nach, er kennt nur eine Kunst, nämlich die Bienenstöcke zu flechten, und hat nur eine Liebe, zu einem einzigen kleinen Geschöpfe, das ist die Biene. Es hat ihn diese Liebe niemand gelehrt, er hat sie mitbekommen von der Natur. Der Biene ist er nachgegangen als Kind schon, von Bienen hat er geträumt, Bienen hat er auf der Hand umhergetragen, so weit er denken kann, und hat sie gefangen und geliebkost, und niemals hat ihn eine gestochen. Sie haben ihn aufgesucht, die Bienen, und auf seinen Gängen begleitet, als wäre er eine Blume voll Nektar und Wohl­ geruch, und die Leute seines Dorfes, die das sahen, die haben gesagt: „Das gibt einen guten Jmmeker." Und ein guter Jmmeker ist er geworden. Nicht immer sitzt er dort in der Heide unter dem Dach seiner Hütte und raucht aus seiner Pfeife, sein Auge verfolgt wie das Falkenauge das Tun und Treiben der ihm vertrauten Herde. Manchmal verläßt er plötzlich seinen Sitz und schreitet bedächtig auf einen Stock zu, der anfängt unruhig zu werden. Er will sehen, was das kleine Volk bewegt: ob ihm die Königin gestorben, ob ein Käfer sich hinein verirrt, ob eine Heidemaus Miene macht, durch die Hinterseite des Stockes sich einzu­ bohren und nach dem Honig zu streben, ob ein Vogel auf dem benachbarten Strauche sitze und nach den müden, heim-

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kehrenden Bienen schnappe, oder ob das Bölklein sich teile und dem jungen Weisel sich anschließe zur Gründung einer neuen Kolonie. In allen ihren Nöten ist der Jmmeker der Bienen Vertrauter und Ratgeber; sie fliegen ihm entgegen, sie geleiten ihn an die streitige Stelle, sie dulden es, daß er den Stock öffnet und hineinschaut in ihr verborgenes Reich, ja, sie lassen sich's gefallen, daß er unter sie greift und sie händeweis versetzt, wohin er will; kein Stachel trifft ihn. Der Jmmeker und sein Völkchen kennen sich und gehören zusammen.

Brüder Jakob und Wilhelm Grimm. 117. König Drosselbart. Ein König hatte eine Tochter, die war über alle Maßen schön, aber dabei so stolz und übermütig, daß ihr kein Freier | gut genug war. Sie wies einen nach dem andern ab | und trieb noch dazu Spott mit ihnen. Ein­ mal | ließ der König | ein großes Fest anstellen, und ladete dazu | aus der Nähe und Ferne | die heiratslustigen Männer ein. Sie wurden alle in eine Reihe | nach Rang und Stand geordnet; erst kamen die Könige, dann die Herzöge, die Fürsten, Grafen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute. Nun ward die Königstochter | durch die Reihen geführt, aber an jedem | hatt sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick, „das Weinfaß!" sprach sie. Der andere zu lang, „lang und schwank | hat keinen Gang." Der dritte zu kurz, „kurz und dick | hat kein Geschick." Der vierte zu blaß, „der bleiche Tod!" Der fünfte zu rot, „der Zinshahn!" Der sechste war nicht gerad genug, „grünes Holz, hinterm Ofen getrocknet!" Und so hatte sie an einem jeden | etwas auszusetzen, besonders aber | machte sie sich über einen guten König lustig, der ganz oben stand, und dem das Kinn | ein wenig krumm gewachsen war. „Ei," rief sie und lachte, „der hat ein Kinn, wie die Drossel einen Schnabel;" und

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seit der Zeit | bekam er den Namen Drosselbart. Der alte König aber, als er sah, daß seine Tochter nichts tat | als

über die Leute spotten, und alle Freier, die da versammelt waren, verschmähte, ward er zornig | und schwur, sie sollte den ersten besten Bettler | zum Manne nehmen, der vor seine Türe käme. Ein paar Tage darauf | hub ein Spielmann an | unter dem Fenster zu singen, um damit | ein geringes Almosen zu verdienen. Als es der König hörte, sprach er „laßt ihn herauf kommen". Da trat der Spielmann | in seinen schmutzigen verlumpten Kleidern herein, sang vor dem König und seiner Tochter, und bat, als er fertig war, um eine milde Gabe. Der König sprach: „Dein Gesang hat mir so wohl gefallen, daß ich dir meine Tochter da | zur Frau geben will." Die Königstochter erschrak, aber der König sagte: „Ich habe den Eid getan, dich dem ersten besten Bettelmann zu geben, den will ich auch halten." Es half keine Einrede, der Pfarrer ward geholt, und sie mußte sich gleich | mit dem Spielmann trauen lassen. Als das geschehen war, sprach der König: „Nun schickt sich's nicht, daß du als ein Bettelweib | noch länger in meinem Schloß bleibst, du kannst nur mit deinem Manne fortziehen." Der Bettelmann | führte sie an der Hand hinaus, und sie mußte mit ihm zu Fuß fortgehen. Als sie in einen großen Wald kamen, da fragte sie: „Ach, wem gehört der schöne Wald?" „Der gehört dem König Drosselbart; Hältst du'n genommen, so wär er dem." „Ich arme Jungfer zart, Ach, hätt' ich genommen | den König Drosselbart!"

Darauf kamen sie über eine Wiese, da fragte sie wieder: „Wem gehört die schöne grüne Mese?" „Sie gehört dem König Drosselbart; Hältst du'n genommen, so wär sie dein." „Ich arme Jungfer zart, Ach, hätt' ich genommen | den König Drosselbart!"

Hessel Hitb Ufer, Lesebuch 4.

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Dann kamen sie durch eine große Stadt, da fragte sie wieder: „Wem gehört die schöne große Stadt?" „Sie gehört dem König Drosselbart; Hüttst du'n genommen, so wär sie dein." „Ich arme Jungfer zart, Ach, hätt' ich genommen | den König Drosselbart!"

„Es gefällt mir gar nicht," sprach der Spielmann, „daß du dir immer einen andern | zum Mann wünschest: bin ich dir nicht gut genug?" Endlich kamen sie an ein ganz kleines Häuschen, da sprach sie: „Ach, Gott, was ist das Haus so klein! Wem mag das elende | winzige Häuschen sein?"

Der Spielmann antwortete: „Das ist mein und dein Haus, wo wir zusammen wohnen." Sie mußte sich bücken, da­ mit sie zu der niedrigen Tür hineinkam. „Wo sind die Diener?" sprach die Königstochter. „Was Diener!" ant­ wortete der Bettelmann, „du mußt selber tun, was du willst getan haben. Mach nur gleich Feuer an | und stell Wasser auf, daß du mir mein Essen kochst; ich bin ganz müde." Die Königstochter verstand aber nichts | vom Feueran­ machen und Kochen, und der Bettelmann | mußte selber mit Hand anlegen, daß es noch so leidlich ging. Als sie die schmale Kost verzehrt hatten, legten sie sich zu Bett; aber am Morgen | trieb er sie schon ganz früh heraus, weil sie das Haus besorgen sollte. Ein paar Tage | lebten sie auf diese Art | schlecht und recht und zehrten ihren Vorrat auf. Da sprach der Mann: „Frau, so geht's nicht länger, daß wir hier zehren | und nichts verdienen. Du sollst Körbe flechten." Er ging aus, schnitt Weiden | und brachte sie heim: da fing sie an zu flechten, aber die harten Weiden | stachen ihr die zarten Hände wund. „Ich sehe, das geht nicht," sprach der Mann, „spinn lieber, vielleicht kannst du das besser." Sie setzte sich hin | und versuchte zu spinnen, aber der harte Faden | schnitt ihr bald in die weichen Finger, daß das Blut daran herunter

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lief. „Siehst du," sprach der Mann, „du taugst zu keiner Arbeit, mit dir bin ich schlimm angekommen. Nun will ich's versuchen | und einen Handel | mit Töpfen und irde­ nem Geschirr | anfangen: du sollst dich auf den Markt setzen | und die Ware feil halten." — „Ach," dachte sie, „wenn auf den Markt | Leute aus meines Vaiers Reich kommen, und sehen mich da sitzen und feil halten, wie werden sie mich verspotten!" Aber es half nichts, sie mußte sich fügen, wenn sie nicht Hungers sterben wollten. Das erste Mal ging's gut, denn die Leute kauften der Frau, weil sie schön war, gern ihre Ware ab, und bezahlten, was sie forderte: ja, viele gaben ihr das Geld | und ließen ihr die Töpfe noch dazu. Nun lebten sie | von dem erwor­ benen i so lang es dauerte, da handelte der Mann | wieder eine Menge neues Geschirr ein. Sie setzte sich damit an eine Ecke pes Marktes | und stellte es um sich her | und hielt feil. Da kam plötzlich | ein trunkener Husar daher gejagt | und ritt geradezu | in die Töpfe hinein, daß alles I in tausend Scherben zersprang. Sie fing an zu wei­ nen | und wußte vor Angst nicht, was sie anfangen sollte. „Ach, wie wird mir's ergehen!" rief sie, „was wird mein Mann dazu sagen!" Sie lies heim | und erzählte ihm das Unglück. „Wer setzt sich auch an die Ecke des Marktes | mit irdenem Geschirr!" sprach der Mann, „laß nur das Wei­ nen, ich sehe wohl, du bist zu keiner ordentlichen Arbeit | zu gebrauchen. Da bin ich in unseres Königs Schloß ge­ wesen | und habe gefragt, ob sie nicht eine Küchenmagd brauchen könnten, und sie haben mir versprochen, sie woll­ ten dich dazu nehmen; dafür bekommst du freies Essen." Nun ward die Königstochter eine Küchenmagd, mußte dem Koch zur Hand gehen | und die sauerste Arbeit tun. Sie machte sich in beiden Taschen ein Töpfchen fest, darin brachte sie nach Haus, was ihr von dem übrig gebliebe­ nen | zu teil ward, und davon nährten sie sich. Es trug sich zu, daß die Hochzeit | des ältesten Königssohnes | sollte gefeiert werden, da ging die arme Frau hinauf, stellte

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sich vor die Saaltüre | und wollte zusehen. Als nun die Lichter angezündet waren | und immer einer schöner als der andere | hereintrat | und alles voll Pracht und Herr­ lichkeit war, da dachte sie mit betrübtem Herzen | an ihr Schicksal | und verwünschte ihren Stolz und Übermut, der sie erniedrigt | und in so große Armut gestürzt hatte. Von den köstlichen Speisen, die da ein- und ausgetragen wur­ den, und von welchen der Geruch zu ihr aufstieg, warfen ihr Diener | manchmal ein paar Brocken zu, die tat sie in ihr Töpfchen | und wollte es heimtragen. Auf einmal trat der Königssohn herein, war in Sammet und Seide gekleidet | und hatte goldene Ketten um den Hals. Und als er die schöne Frau in der Türe stehen sah, ergriff er sie bei der Hand | und wollte mit ihr tanzen, aber sie weigerte sich und erschrak, denn sie sah, daß es der König Drosselbart war, der um sic gefreit | und den sie mit Spott abgewiesen hatte. Ihr Sträuben half nichts, er zog sie in den Saal: da zerriß das Band, an welchem die Taschen hingen, und die Töpfe fielen heraus, daß die Suppe floß | und die Brocken umhersprangen. Und wie das die Leute sahen, entstand ein allgemeines Gelächter und Spot­ ten, und sie war so beschämt, daß sie sich lieber | tausend Klafter unter die Erde | gewünscht hätte. Sie sprang zur Türe hinaus | und wollte entfliehen, aber auf der Treppe I holte sie ein Mann ein | und brachte sie zurück: und wie sie ihn ansah, war es wieder der König Drosselbart. Er sprach ihr freundlich zu: „Fürchte dich nicht, ich und der Spielmann, der mit dir in dem elenden Häuschen gewohnt hat, sind eins: dir zuliebe habe ich mich so verstellt, und der Husar, der dir die Töpfe entzwei geritten hat, bin ich auch gewesen. Das alles ist geschehen, um deinen stolzen Sinn zu beugen | und dich für deinen Hochmut zu strafen, womit du mich verspottet hast." Da weinte sie bitter­ lich | und sagte: „Ich habe großes Unrecht gehabt | und bin nicht wert | deine Frau zu sein." Er aber sprach: „Tröste dich, die bösen Tage sind vorüber, jetzt wollen

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wir unsere Hochzeit feiern." Da kamen die Kammer­ frauen ; und taten ihr die prächtigsten Kleider an, und ihr Vater kam | und der ganze Hof | und wünschten ihr Glück zu ihrer Vermählung | mit dem König Drosselbart, und die rechte Freude | fing jetzt erst an. Ich wollte, du und ich, wir wären auch dabei gewesen.

118. Frau Holle. I.

Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig,"die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und mußte so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war; da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: „Hast du die Spule hinunter­ fallen lassen, so hol sie auch wieder herauf!" Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief: „Ach, zieh mich raus! zieh mich raus! sonst verbrenn ich; ich bin schon längst ausge­ backen." Da trat es herzu und holte mit dem Brotschieber alles nach einander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baun:, der

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hing voll Äpfel und rief ihm zu: „Ach, schüttel mich, schüttel mich! wir Äpfel sind alle miteinander reif." Da schüttelte es den Baum, daß die Äpfel fielen, als regneten sie, und schüttelte, bis keiner mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter. Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine alte Frau; weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: „Was fürchtest du dich, liebes Kind? bleib bei mir! wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir's gut gehn. Du mußt nur acht geben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle." Weil die Alte ihm so gut zusprach, so faßte sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst. Es besorgte auch alles nach ihrer Zufriedenheit und schüttelte ihr das Bett immer gewaltig auf, daß die Federn wie Schnee­ flocken umherflogen; dafür hatte es auch ein gut Leben bei ihr, kein böses Wort und alle Tage Gesottenes und Gebratenes. Nun war es eine Zeitlang bei der Frau Holle, da ward es traurig und wußte anfangs selbst nicht, was ihm fehlte, endlich merkte es, daß es Heimweh war; ob es ihm gleich hier viel tausendmal besser ging als zu Haus, so hatte es doch ein Verlangen dahin. Endlich sagte es zu ihr: „Ich habe den Jammer nach Haus kriegt, und wenn es mir auch noch so gut hier unten geht, so kann ich doch nicht länger bleiben, ich muß wieder hinauf zu den Meinigen." Die Frau Holle sagte: „Es gefällt mir, daß du wieder nach Hause verlangst, und weil du mir so treu gedient hast, so will ich dich selbst wieder hinauf­ bringen." Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es vor ein großes Tor. Das Tor ward aufgetan, und tote das Mädchen gerade darunterstand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so daß es über und über davon bedeckt war. „Das sollst du haben, weil du so fleißig gewesen bist," sprach die Frau Holle und gab ihm

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auch die Spule wieder, die ihm in den Brunnen gefallen war. Darauf ward das Tor verschlossen, und das Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit von seiner Mutter Haus; und als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief: .Kikeriki, Unsere goldene Jungfrau ist wieder hie."'

Da ging es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam, ward es von ihr und der Schwester gut ausgenommen.

II. Das Mädchen erzählte alles, was ihm begegnet war, und als die Mutter hörte, wie es zu dem großen Reichtum gekommen war, wollte sie der andern, häßlichen und faulen Tochter gerne dasselbe Glück verschaffen. Sie mußte sich an den Brunnen setzen und spinnen, und damit ihre Spule blutig ward, stach sie sich in die Finger und stieß sich die Hand in die Dornhecke. Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang selber hinein. Sie kam, wie die andere, auf die schöne Wiese und ging auf demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder: „Ach, zieh mich raus! zieh mich raus! sonst verbrenn ich, ich bin schon längst ausgebacken." Die Faule aber antwortete: „Da hätt ich Lust, mich schmutzig zu machen!" und ging fort. Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief: „Ach, schüttel mich! schüttel mich! wir Äpfel sind alle miteinander reif." Sie antwortete aber: „Du kommst mir recht, es könnte mir einer auf den Kopf fallen!" und ging damit weiter. Als sie vor der Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen Zähnen schon gehört hatte, und verdingte sich gleich M ihr. Am ersten Tag tat sie sich Gewalt an, war fleißig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte, denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr schenken würde;

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am zweiten Tag fing sie schon wieder an zu faulenzen, am dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht aufstehen. Sie machte auch der Frau Holle das Bett nicht, wie sich's gebührte, und schüttelte es nicht, daß die Federn aufflogen.

Das ward die Frau Holle bald müde und sagte ihr den Dienst auf. Die Faule war das wohl zufrieden und meinte, nun würde der Goldregen kommen; die Frau Holle führte sie auch zu dem Tor; als sie aber darunterstand, ward statt des Goldes ein großer Kessel voll Pech ausge­ schüttet. „Das ist zur Belohnung deiner Dienste!" sagte die Frau Holle und schloß das Tor zu. Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der Hahn auf dem Brunnen, als er sie sah, rief: „Kikeriki, Unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie."

Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, so lange sie lebte, nicht abgehen.

110. Die kluge Else. Es war ein Mann, der hatte eine Tochter, die hieß die kluge Else. Als sie nun erwachsen war, sprach der Vater: „Wir wollen sie heiraten lassen!" — „Ja," sagte die Mutter, „wenn nur einer käme, der sie haben wollte!" Endlich kam von weither einer, der hieß Hans und hielt um sie an, er machte aber die Bedingung, daß die kluge Else auch recht gescheit wäre. „O," sprach der Vater, „die hat Zwirn im Kopf," und die Mutter sagte: „Ach, die sieht den Wind auf der Gasse laufen und hört die Fliegen husten." — „Ja," sprach der Hans, „wenn sie nicht recht gescheit ist, so nehm ich sie nicht." Als sie nun zu Tisch saßen und ge­ gessen hatten, sprach die Mutter: „Else, geh in den Keller und hol Bier!" Da nahm die kluge Else den Krug von der Wand, ging in den Keller und klappte unterwegs brav mit dem Deckel, damit ihr die Zeit ja nicht lang würde.

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Als sie nun unten war, holte sie ein Stühlchen und stellte es vors Faß, damit sie sich nicht zu bücken brauchte und ihren Rücken etwa nicht wehe täte und unverhofften Schaden nähme. Dann stellte sie die Kanne vor sich und drehte den Hahn mtf, und während der Zeit, daß das Bier hineinlief, wollte sie doch ihre Augen nicht müßig lassen, sah oben an die Wand hinauf und erblickte nach vielem Hin- und Her­ schauen eine Kreuzhacke gerade über sich, welche die Maurer da aus Versehen hatten stecken lassen. Da fing die kluge Else an zu weinen und sprach: „Wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß, und wir schicken das Kind in den Keller, daß es hier soll Bier zapfen, so fällt ihm die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt's tot." Da saß sie und weinte und schrie aus Leibeskräften über das bevorstehende Unglück. Tie oben warteten auf den Trank, aber die kluge Else kani immer nicht. Da sprach die Frau zur Magd: „Geh doch hinunter in den Keller und sieh, wo die Else bleibt!" Die Magd ging und fand sie vor dem Fasse sitzend und laut schreiend. „Else, was weinst du?" fragte die Magd. „Ach", antwortete sie, „soll ich nicht weinen? wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß und soll hier Trinken zapfen, so fällt ihm vielleicht die Kreuz­ hacke aus den Kopf und schlägt es tot." Da sprach die Magd: „Was haben wir für eine kluge Else!" setzte sich zu ihr und fing auch an über das Unglück zu weinen. Über eine Weile, als die Magd nicht wiederkam und die droben durstig nach dem Trank waren, sprach der Herr zum Knecht: „Geh doch hinunter in den Keller und sieh, wo die Else und die Magd bleibt!" Der Knecht ging hinab, da saß die kluge Else und die Magd, und weinten beide zu­ sammen. Da fragte er: „Was weint ihr denn?" — „Ach"» sprach die Else, „soll ich nicht weinen? wenn ich den Hans kriege, und wir kriegen ein Kind, und das ist groß und soll hier Trinken zapfen, so fällt ihm die Kreuzhacke auf den Kopf und schlägt's tot." Da sprach der Knecht: „Was

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haben wir für eine kluge Else!" setzte sich zu ihr und fing auch an laut zu heulen. Oben warteten sie auf den Knecht; als er aber immer nicht kam, sprach der Männ zur Frau: „Geh doch hinunter in den Keller und sich, wo die Else bleibt!" Die Frau ging hinab und fand alle drei in Wehklagen und fragte nach der Ursache; da erzählte ihr die Else auch, daß ihr zukünftiges Kind wohl würde von der Kreuzhacke totgeschlagen werden, wenn es erst groß wäre und Bier zapfen sollte und die Kreuzhacke fiele herab. Da sprach die Mutter gleichfalls: „Ach, was haben wir für eine kluge Else!" setzte sich hin und weinte mit. Der Mann oben wartete noch ein Weilchen, als aber seine Frau nicht wiederkam und sein Durst immer stärker ward, sprach er: „Ich muß nur selber in den Keller gehen und sehen, wo die Else bleibt." Als er aber in den Keller kam und alle da beieinander saßen und weinten und er die Ursache hörte, da rief er: „Was für eine kluge Else!" setzte sich und weinte auch mit. Der Bräutigam blieb lange oben allein; da niemand wiederkommen wollte, dachte er: „Sie werden unten auf dich warten, du mußt auch hingehcn und sehen, was sie vorhaben." Als er hinabkam, saßen da fünfe und schrieen und jammerten ganz erbärmlich, einer immer besser als der andere. „Was für ein Unglück ist denn geschehen?" fragte er. „Ach, lieber Hans", sprach die Else, „wann wir einander heiraten und haben ein Kind, und es ist groß, und wir schicken's vielleicht hierher, Trinken zu zapfen, dann kann ihm ja die Kreuzhacke, die da oben ist stecken geblieben, wenn sie herabfallen sollte, den Kopf zerschlagen, daß es liegen bleibt! sollen wir da nicht weinen?" — „Nun", sprach Hans, „mehr Verstand ist für meinen Haushalt nicht nötig; weil du eine so kluge Else bist, so will ich dich haben!" packte sie bei der Hand und nahm sie mit hinauf und hielt Hochzeit mit ihr.

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120. Die Boten des Todes. Vor alten Zeiten wanderte einmal ein Riese auf der großen Landstraße, da sprang ihm plötzlich ein unbekannter Mann entgegen und rief: „Halt! keinen Schritt weiter!" — „Was", sprach der Riese, „du Wicht, den ich zwischen den Fingern zerdrücken kann, du willst mir den Weg vertreten? Wer bist du, der du so keck reden darfst?" — „Ich bin der Tod," erwiderte der andere, „mir widersteht niemand, und auch du mußt meinen Befehlen gehorchen." Der Riese aber weigerte sich und fing an mit dem Tode zu ringen. Es war ein langer, heftiger Kampf; zuletzt behielt der Riese die Oberhand und schlug den Tod mit seiner Faust nieder, daß er neben einem Stein zusammensank. Der Riese ging seiner Wege, und der Tod lag da besiegt und war so kraft­ los, daß er sich nicht wieder erheben konnte. „Was soll daraus werden", sprach er, „wenn ich da in der Ecke liegen bleibe? es stirbt niemand mehr auf der Welt, und sie wird so mit Menschen angefüllt werden, daß sie nicht mehr Platz haben werden, nebeneinander zu stehen." Indem kam ein junger Mensch des Wegs, frisch und gesund, sang ein Lied und warf seine Augen hin und her. Als er den Halbohnmächtigen erblickte, ging er mitleidig heran, richtete ihn auf, flößte ihm aus seiner Flasche einen stärkenden Trank ein und wartete, bis er wieder zu Kräften kam. „Weißt du auch," fragte der Fremde, indem er sich aufrichtete, „wer ich bin, und wem du wieder auf die Beine geholfen haft?" — „Nein," antwortete der Jüngling, „ich kenne dich nicht." — „Ich bin der Tod," sprach er, „ich verschone niemand und kann auch mit dir keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst, daß ich dankbar bin, so verspreche ich dir, daß ich dich nicht unversehens überfallen, sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole." — „Wohlan!" sprach der Jüngling, „immer ein Gewinn, daß ich weiß, wann du kommst, und so lange wenigstens sicher vor dir bin." Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein.

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Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus; bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn bei Tag plagten und ihm nachts die Ruhe Wegnahmen. „Sterben werde ich nicht," sprach er zu sich selbst, „denn der Tod sendet erst seine Boten: ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber." Sobald er sich gesund fühlte, fing er wieder an, in Freuden zu leben. Da klopfte ihm eines Tages jemand auf die Schulter; er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach: „Folge mir! die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen." — „Wie," antwortete der Mensch, „willst du dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen, daß du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wollest? ich habe keinen gesehen." — „Schweig," erwiderte der Tod, „habe ich dir nicht einen Voten über den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dir's nicht in den Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? ward dir's nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich er­ innert? lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon ge­ storben ?" Der Mensch wußte nichts zu erwidern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort.

121, Sechse kommen durch die ganze Wett. Es war einmal ein Mann, der verstand allerlei Künste; er diente im Krieg und hielt sich brav und tapfer, aber als der Krieg zu Ende war, bekam er den Abschied und drei Heller Zehrgeld auf den Weg. „Wart", sprach er, „das laß ich mir nicht gefallen; finde ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die Schätze des ganzen Landes herausgeben." Da ging er voll Zorn in den, Wald und sah einen darin stehen, der hatte sechs Bäume ausgerupst, als wären's Kornhalme. Sprach er zu ihm: „Willst du mein Diener sein und mit

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mir ziehen?" — „Ja," antwortete er, „aber erst will ich meiner Mutter das Wellchen Holz heimbringen," und nahm einen von den Bäumen und wickelte ihn um die fünf andern, hob die Welle auf die Schulter und trug sie fort. Dann kam er wieder und ging mit seinem Herrn, der sprach: „Wir zwei sollten wohl durch die ganze Welt kommen." Und als sie ein Weilchen gegangen waren, fanden sie einen Jäger, der lag auf den Knieen, hatte die Büchse angelegt und zielte. Sprach der Herr zu ihm: „Jäger, was willst du schießen?" Er antwortete: „Zwei Meilen von hier sitzt eine Fliege auf dem Ast eines Eichbaums, der will ich das linke Auge heraus­ schießen." — „O, geh mit mir!" sprach der Mann, „wenn wir drei zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kommen." Der Jäger war bereit und ging mit ihm, und sie kamen zu sieben Windmühlen, deren Flügel trieben ganz hastig herum, und ging doch rechts und links kein Wind, und bewegte sich kein Blättchen. Da sprach der Mann: „Ich weiß nicht, was die Windmühlen treibt, es regt sich ja kein Lüftchen," und ging mit seinen Dienern weiter. Und als sie zwei Meilen fortgegangen waren, sahen sie einen auf einem Baum sitzen,der hielt das eine Nasenloch zu und blies aus dem andern. „Mein, was treibst du da oben?" fragte der Mann. Er antwortete: „Zwei Meilen von hier stehen sieben Windmühlen, seht, die blase ich an, daß sie laufen." — „O, geh mit mir!" sprach der Mann, „wenn wir vier zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kom­ men." Da stieg der Bläser herab und ging mit, und über eine Zeit sahen sie einen, der stand da auf einem Bein und hatte das andere abgeschnallt und neben sich gelegt. Da sprach der Herr: „Du hast dir's ja bequem gemacht zum Ausruhen." — „Ich bin ein Läufer," antwortete er, „und damit ich nicht gar zu schnell springe, habe ich mir das eine Bein abgeschnallt; wenn ich mit zwei Beinen laufe, so geht's geschwinder, als ein Bogel fliegt." — „O, geh mit mir! wenn wir fünf zusammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kommen." Da ging er mit, und gar nicht lang, so be-

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begneten sie einem, der hatte ein Hütchen auf, hatte es aber ganz auf dem einen Ohr sitzen. Da sprach der Herr zu ihm: „Manierlich! manierlich! häng deinen Hut doch nicht auf ein Ohr, du siehst ja aus wie ein Hans Narr." — „Ich darf's nicht tun," sprach der andere, „denn setz ich meinen Hut gerad, so kommt ein gewaltiger Frost, und die Vögel unter dem Himmel erfrieren und fallen tot zur Erde." — „O, geh mit mir!" sprach der Herr, „wenn wir sechs zu­ sammen sind, sollten wir wohl durch die ganze Welt kom­ men." Nun gingen die sechse in eine Stadt, wo der König hatte bekannt machen lassen, wer mit seiner Tochter in die Wette laufen wollte und den Sieg davon trüge, der sollte ihr Ge­ mahl werden; wer aber verlöre, müßte auch seinen Kopf hergeben. Da meldete sich der Mann und sprach: „Ich will aber meinen Diener für mich laufen lassen!" Der König antwortete: „Dann mußt du auch noch dessen Leben zum Pfand setzen, also daß sein und dein Kopf für den Sieg haften." Als das verabredet und festgemacht war, schnallte der Mann dem Lauser das andere Bein an und sprach zu ihm: „Nun sei hurtig und hilf, daß wir siegen!" Es war aber bestimmt, daß wer am ersten Wasser aus einem weit abgelegenen Brunnen brächte, der sollte Sieger sein. Nun bekam der Lauser einen Krug und die Königstochter auch einen, und sie fingen zu gleicher Zeit zu laufen an; aber in einem Augenblick, als die Königstochter erst eine kleine Strecke fort war, konnte den Läufer schon kein Zuschauer mehr sehen, und es war nicht anders, als wäre der Wind vorbei­ gesaust. In kurzer Zeit langte er an dem Brunnen an, schöpfte den Krug voll Wasser und kehrte wieder um. Mitten aber auf dem Heimweg überkam ihn eine Müdigkeit, da setzte er den Krug hin, legte sich nieder und schlief ein. Er hatte aber einen Pferoeschädel, der da aus der Erde lag, zum Kopfkissen gemacht, damit er hart läge und bald wieder erwachte. Indessen war die Königstochter, die auch gut laufen.

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konnte, so gut es ein gewöhnlicher Mensch vermag, bei dem Brunnen angelangt und eilte mit ihrem Krug voll Wasser zurück; und als sie den Lauser da liegen und schlafen sah, war sie froh und sprach: „Der Feind ist in meine Hände gegeben,"

leerte seinen Krug aus und sprang weiter. Nun wäre alles verloren gewesen, wenn nicht zu gutem Glück der Jäger mit seinen scharfen Augen oben auf dem Schloß gestanden und alles mit angesehen hätte. Da sprach er: „Die Königstochter soll doch gegen uns nicht aufkommen," lud seine Büchse und schob so geschickt, daß er dem Läufer den Pferdeschädel unter dem Kopf wegschoß, ohne ihm weh zu tun. Da erwachte der Läufer, sprang in die Höhe und sah, daß sein Krug leer und die Königstochter schon weit voraus war. Aber er verlor den Mut nicht, lies mit dem Krug wieder zum Brunnen zurück, schöpfte aufs neue Wasser und war noch zehn Minuten eher als die Königstochter daheim. „Seht ihr," sprach er, „jetzt hab ich erst die Beine aufgehoben, vorher war's gar kein Laufen zu nennen." Den König aber kränkte es und seine Tochter noch mehr,, daß sie so ein gemeiner abgedankter Soldat davontragen sollte; sie ratschlagten miteinander, wie sie ihn samt seinen Gesellen los würden. Da sprach der König zu ihr: „Ich habe ein Mittel gefunden, laß dir nicht bang sein, sie sollen nicht wieder heim kommen." Und sprach zu ihnen: „Ihr sollt euch nun zusammen lustig machen, essen und trinken," und führte sie zu einer Stube, die hatte einen Boden von Eisen, und die Türen waren auch von Eisen, und die Fenster waren mit eisernen Stäben verwahrt. In der Stube war eine Tafel, mit köstlichen Speisen besetzt, da sprach der König zu ihnen: „Geht hinein und laßt euch wohl sein!" Und wie sie darinnen waren, ließ er die Türe verschließen und ver­ riegeln. Dann ließ er den Koch kommen und befahl ihm, ein Feuer solange unter die Stube zu machen, bis das Eisen glühend würde. Das tat der Koch, und cs fing an und ward den sechsen in der Stube, während sie an der Tafel saßen, ganz warm, und sie meinten, das käme vom Essen; als aber

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die Hitze immer größer ward und sie hinaus wollten, Türe und Fenster aber verschlossen fanden, da merkten sie, daß der König Böses im Sinne gehabt hatte und sie ersticken wollte. „Es soll ihm aber nicht gelingen," sprach der mit dem Hüt­ chen, „ich will einen Frost kommen lassen, vor dem sich das Feuer schämen und verkriechen soll." Da setzte er sein Hütchen gerade, und alsobald fiel ein Frost, daß alle Hitze verschwand und die Speisen auf den Schüsseln anfingen zu frieren. Als nun ein paar Stunden herum waren und der König glaubte, sie wären in der Hitze verschmachtet, ließ er die Tür öffnen und wollte selbst nach ihnen sehen. Aber wie die Tür aufging, standen sie alle sechse da, frisch und gesund, und sagten, es wäre ihnen lieb, daß sie heraus könnten, sich zu wärmen, denn bei der großen Kälte in der Stube frören die Speisen an den Schüsseln fest. Da ging der König voll Zorn hinab zu dem Koch, schalt ihn und fragte, warum er nicht getan hätte, was ihm wäre be­ fohlen worden. Der Koch aber antwortete: „Es ist Glut genug da, seht nur selbst!" Da sah der König, daß ein ge­ waltiges Feuer unter der Eisenstube brannte, und merkte, daß er den sechsen auf diese Weise nichts anhaben könnte. Nun sann der König aufs neue, wie er der bösen Gäste los würde, ließ den Meister kommen und sprach: „Willst du Gold nehmen und dein Recht auf meine Tochter auf­ geben, so sollst du haben, soviel du willst!" — „O, ja, Herr König!" antwortete er, „gebt mir so viel, als mein Diener

tragen kann, so verlange ich Eure Tochter nicht. " Das war der König zufrieden, und jener sprach weiter: „So will ich in vierzehn Tagen kommen und es holen." Darauf rief er alle Schneider aus dem ganzen Reich herbei, die mußten vierzehn Tage lang sitzen und einen Sack nähen. Und als er fertig war, mußte der Starke, welcher Bäume ausrupfen konnte, den Sack auf die Schulter nehmen und mit ihm zu dem König gehen. Da sprach der König: „Was ist das für ein gewaltiger Kerl, der den hausgroßen Ballen Leinwand auf der Schulter trägt?" erschrak und dachte: „Was will der

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für Gold wegschleppen!" Da hieß er eine Tonne Gold her­ bringen, die mußten sechzehn der stärksten Männer tragen, aber der Starke packte sie mit einer Hand, steckte sie in den Sack und sprach: „Warum bringt ihr nicht gleich mehr? das deckt ja kaum den Boden." Da ließ der König nach und nach seinen ganzen Schatz herbeitragen, den schob der Starke in den Sack hinein, und der Sack ward davon noch nicht zur Hälfte voll. „Schafft mehr herbei!" rief er, „die paar Brocken füllen nicht." Da mußten noch siebentausend Wagen mit Gold in dem ganzen Reich zusammengefahren werden, die schob der Starke samt den vorgespannten Ochsen in seinen Sack. „Ich will's nicht lange besehen," sprach er, „und nehmen, was kommt, damit der Sack nur voll wird." Wie alles darin stak, ging doch noch viel hinein, da sprach er: „Ich will dem Ding nur ein Ende machen, man bindet wohl einmal einen Sack zu, wenn er auch noch nicht voll ist." Dann huckte er ihn auf den Rücken und ging mit seinen Ge­ sellen fort. Als der König nun sah, wie der einzige Mann des ganzen Landes Reichtum forttrug, ward er zornig und ließ seine Reiterei aufsitzen, die sollten den sechsen nachjagen und hatten Befehl, dem Starken den Sack wieder abzunehmen. Zwei Regimenter holten sie bald ein und riefen ihnen zu: „Ihr seid Gefangene, legt den Sack mit dem Gold nieder, oder ihr werdet zusammengehauen." — „Was sagt ihr?" sprach der Bläser, „wir wären Gefangene? eher sollt ihr sämtlich in der Luft herumtanzen," hielt das eine Nasenloch zu und blies mit dem andern die beiden Regimenter an, da fuhren sie auseinander und in die blaue Luft über alle Berge weg, der eine hierhin, der andere dorthin. Ein Feld­ webel ries um Gnade, er hätte neun Wunden und wäre ein braver Kerl, der den Schimpf nicht verdiente. Da ließ der Bläser ein wenig nach, so daß er ohne Schaden wieder herabkam, dann sprach er zu ihm: „Nun geh heim zum König und sag, er solle nur noch mehr Reiterei schicken, ich wollte sie alle in die Luft blasen." Der König, als er Hessel und User, Lesebuch 4. M. 11

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den Bescheid vernahm, sprach: „Laßt die Kerle gehens die haben etwas an sich." Da brachten die sechs den Reichtum heim, teilten ihn unter sich und lebten vergnügt bis an ihr Ende.

122. Die Gänsemagd. Es lebte einmal eine alte Königin, der war ihr Gemahl schon lange Jahre gestorben, und sie hatte eine schöne Tochter. Wie die erwuchs, wurde sie weit über Feld an einen Königs­ sohn versprochen. Als nun die Zeit kam, wo sie vermählt werden sollten und das Kind in das fremde Reich abreisen mußte, packte ihr die Alte gar viel köstliches Gerät und Geschmeide ein, Gold und Silber, Becher und Kleinode, kurz alles, was nur zu einem königlichen Brautschatz ge­ hörte, denn sie hatte ihr Kind von Herzen lieb. Auch gab sie ihr eine Kammerjungfer bei, welche mitreiten und die Braut in die Hände des Bräutigams überliefern sollte, und jede bekam ein Pferd zur Reise, aber das Pferd der Königs­ tochter hieß Falada und konnte sprechen. Wie nun die Ab­ schiedsstunde da war, begab sich die alte Mutter in ihre Schlafkammer, nahm ein Messerlein und schnitt damit in ihre Finger, daß sie bluteten; darauf hielt sie ein weißes Läppchen unter und ließ drei Tropfen Blut hineinfallen, gab sie der Tochter und sprach: „Liebes Kind, verwahre sie wohl, sie werden dir unterwegs not tun." Also nahmen beide voneinander betrübten Abschied; das Läppchen steckte die Königstochter in ihren Busen vor sich, setzte sich aufs Pferd und zog nun fort zu ihrem Bräutigam. Da sie eine Stunde geritten waren, empfand sie heißen Durst und sprach zu ihrer Kammerjungfer: „Steig ab und schöpfe mir mit meinem Becher, den du für mich mit­ genommen hast, Wasser aus dem Bache, ich möchte gern einmal trinken." — „Wenn Ihr Durst habt," sprach die Kammerjungfer, „so steigt selber ab, legt Euch ans Wasser und trinkt, ich mag Eure Magd nicht sein." Da stieg die Königstochter vor großem Durst herunter, neigte sich über

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das Wasser int Bach und trank und durfte nicht aus dem goldnen Becher trinken. Da sprach sie: „Ach Gott!" da ant­ worteten die drei Blutstropfen: „Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen." Aber die Königstochter war demütig, sagte nichts und stieg wieder zu Pferde. So ritten sie etliche Meilen weiter fort, aber der Tag war warm, die Sonne stach, und sie durstete bald von neuem. Da sie nun an einen Wasserfluß kamen, rief sie noch einmal ihrer Kammerjungfer: „Steig ab und gib mir aus meinem Goldbecher zu trinken!" denn sie hatte aller bösen Worte längst vergessen. Die Kammerjungfer sprach aber noch hoch­ mütiger: „Wollt Ihr trinken, so trinkt allein, ich mag nicht Eure Magd sein." Da stieg die Königstochter hernieder vor großem Durst, legte sich über das fließende Wasser, weinte und sprach: „Ach Gott!" und die Blutstropfen ant­ worteten wiederum: „Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen." Und wie sie so trank und sich recht überlehnte, fiel ihr das Läppchen, worin die drei Tropfen waren, aus dem Busen und floß mit dem Wasser fort, ohne daß sie es in ihrer großen Angst merkte. Die Kammerjungfer hatte aber zugesehen und freute sich, daß sie Gewalt über die Braut bekäme; denn damit, daß diese die Blutstropfen verloren hatte, war sie schwach und machtlos geworden. Als sie nun wieder auf ihr Pferd steigen wollte, das da hieß Falada, sagte die Kammerfrau: „Auf Falada gehöre ich, und auf meinen Gaul gehörst du;" und das mußte sie sich gefallen lassen. Dann befahl ihr die Kammer­ frau mit harten Worten, die königlichen Kleider auszu­ ziehen und ihre schlechten anzulcgen, und endlich mußte sie sich unter freiem Himmel verschwören, daß sie am königlichen Hof keinem Menschen etwas davon sprechen wollte; und wenn sie diesen Eid nicht abgelegt hätte, wäre sie auf der Stelle umgebracht worden. Aber Falada sah das alles an und nahm's wohl in Acht.

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Die Kammerfrau stieg nun auf Falada und die wahre Braut auf das schlechte Roß, und so zogen sie weiter, bis sie endlich in dem königlichen Schloß eintrafen. Da war große Freude über ihre Ankunft, und der Königssohn sprang ihnen entgegen, hob die Kammerfrau vom Pferde und meinte, sie wäre seine Gemahlin; sie ward die Treppe hinaufgeführt, die wahre Königstochter aber mußte unten stehen bleiben. Da schaute der alte König am Fenster und sah sie im Hof halten und sah, wie sie fein war, zart und gar schön, ging alsbald hin ins königliche Gemach und fragte die Braut nach der, die sie bei sich hätte und da unten im Hof stände, und wer sie wäre. „Die hab ich mir unterwegs mitgenommen zur Gesellschaft; gebt der Magd etwas zu arbeiten, daß sie nicht müßig steht." Wer der alte König hatte keine Arbeit für sie und wußte nichts, als daß er sagte: „Da hab ich so einen kleinen Jungen, der hütet die Gänse, dem mag sie helfen." Der Junge hieß Kürdchen (Konrädchen), dem mußte die wahre Braut helfen Gänse hüten. Bald aber sprach die falsche Braut zu dem jungen König: „Liebster Gemahl, ich bitte Euch, tut mir einen Ge­ fallen!" Er antwortete: „Das will ich gerne tun." — „Nun, so laßt den Schinder rufen und da dem Pferde, worauf ich hergeritten bin, den Hals abhauen, weil es mich unter­ wegs geärgert hat!" Eigentlich aber fürchtete sie, daß das Pferd sprechen möchte, wie sie mit der Königstochter um­ gegangen war. Nun war das so weit geraten, daß es ge­ schehen und der treue Falada sterben sollte, da kam es auch der rechten Königstochter zu Ohr, und sie versprach dem Schinder heimlich ein Stück Geld, das sie ihm bezahlen wollte, wenn er ihr einen kleinen Dienst erwiese. In der Stadt war ein großes, finsteres Tor, wo sie abends und morgens mit den Gänsen durch mußte: unter das finstere Tor möchte er dem Falada seinen Kopf hinnageln, daß sie ihn doch noch mehr als einmal sehen könnte. Also versprach das der Schindersknecht zu tun, hieb den Kopf ab und nagelte ihn

unter das finstere Tor fest.

Grimm.

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Des Morgens früh, da sie und Kürdchen unterm Tor hinaustriebcn, sprach sie im Vorbeigehen: „O du Falada, da du hangest," da antwortete der Kopf: „O du Jungfer Königin, da du gongest. Wenn das deine Mutter wüßte, Ihr Herz tät ihr zerspringen." Da zog sie still weiter zur Stadt hinaus, und sie trieben die Gänse aufs Feld. Und wenn sie auf der Wiese angekommen war, saß sie nieder und machte ihre Haare auf, die waren eitel Gold, und Kürdchen sah sie und freute sich, wie sie glänzten, und wollte ihr ein paar ausraufen. Da sprach sie: „Weh, weh, Windchen, Nimm Kürdchen sein Hütchen, Und laß en sich mit jagen. Bis ich mich geflochten und geschnatzt Und wieder aufgesatzt!" Und da kam ein so starker Wind, daß er dem Kürdchen sein Hütchen wegwehte über alle Land, und es mußte ihm nach­ laufen. Bis es wieder kam, war sie mit dem Kämmen und Aufsehen fertig, und er konnte keine Haare kriegen. Da war Kürdchen bös und sprach nicht mit ihr; und so hüteten sie die Gänse, bis daß es Abend war, dann gingen sie nach Haus.

Den andern Morgen, wie sie unter dem finstern Tor hinaustrieben,, sprach die Jungfrau: „O du Falada, da du hangest," Falada antwortete: „O du Jungfer Königin, da du gongest, Wenn das deine Mutter wüßte, Ihr Herz tüt ihr zerspringen." Und in dem Feld setzte sie sich wieder auf die Wiese und fing an ihr Haar auszukämmen, und Kürdchen lief und wollte danach greifen, da sprach sie schnell: „Weh, weh, Windchen, Nimm Kürdchen sein Hütchen, Und laß en sich mit jagen. Bis ich mich gestochten und geschnatzt Und wieder aufgesatzt!"

Grimm.

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Da wehte der Wind und wehte ihm das Hütchen vom Kopf weit weg, daß Kürdchen nachlaufen mußte; und als es wieder kam, hatte sie längst ihr Haar zurecht, und es konnte seins davon erwischen; und so hütete sie die Gänse, bis es Abend ward.

Abends aber, nachdem sie heimgekommen waren, ging Kürdchen vor den alten König und sagte: „Mit dem Mädchen will ich nicht länger Gänse hüten." — „Warum denn?" fragte der alte König. „Ei, das ärgert mich den ganzen Tag." Da befahl ihm der alte König zu erzählen, wie's ihm denn mit ihr ginge. Da sagte Kürdchen: „Morgens, wenn wir unter dem finstern Tor mit der Herde durch­ kommen, so ist da ein Gaulskops an der Wand, zu dem redet sie: „Falada, da du hangest/

da antwortet der Kopf: „O du Königsjungfer, da du gongest, Wenn das deine Mutter wüßte, Ihr Herz tät ihr zerspringen."

Und so erzählte Kürdchen weiter, was auf der Gänsewiese geschähe, und wie es da dem Hut im Winde nachlaufen müßte.

Der alte König befahl ihm, den nächsten Tagen wieder hinauszutreiben, und er selbst, wie es Morgen war, setzte sich hinter das finstere Tor und hörte da, wie sie mit dem Haupt des Falada sprach, und dann ging er ihr auch nach in das Feld und barg sich in einem Busch auf der Wiese. Da sah er nun bald mit seinen eigenen Augen, wie die Gänse­ magd und der Gänsejunge die Herde getrieben brachte, und wie nach einer Weile sie sich setzte und ihre Haare losflocht, die strahlten von Glanz. Gleich sprach sie wieder: „Weh, weh, Windchen, Fatz Kürdchen sein Hütchen, Und laß en sich mit jagen. Bis ich mich geflochten und geschnatzt Und wieder aufgesatzt!" •

Grimm.

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Da kam ein Windstoß und fuhr mit Kürdchens Hut weg, daß es weit zu laufen hatte, und die Magd kämmte und flocht ihre Locken still fort, welches der alte König alles be­ obachtete. Darauf ging er unbemerkt zurück, und als abends die Gänsemagd heimkam, rief er sie beiseite und fragte, warum sie dem allem so täte. „Das darf ich Euch nicht sagen und dars auch keinem Menschen mein Leid klagen, denn so hab ich mich unter freiem Himmel verschworen, weil ich sonst um mein Leben gekommen wäre." Er drang in sie und ließ ihr keinen Frieden, aber er konnte nichts aus ihr herausbringen. Da sprach er: „Wenn du mir nichts sagen willst, so klag dem Eisenofen da dein Leid!" und ging fort. Da kroch sie in den Eisenofen, fing an zu jammern und zu weinen, schüttete ihr Herz aus und sprach: „Da sitze ich nun von aller Welt verlassen und bin doch eine Königstochter, und eine falsche Kammerjungfer hat mich mit Gewalt da­ hin gebracht, daß ich meine königlichen Kleider habe ab­ legen müssen, und hat meinen Platz bei meinem Bräutigam eingenommen, und ich muß als Gänsemagd gemeine Dienste tun. Wenn das meine Mutter wüßte, das Herz im Leib tät ihr zerspringen." Der alte König stand aber außen an der Ofenröhre, lauerte ihr zu und hörte, was sie sprach. Da kam er wieder herein und hieß sie aus dem Ofen gehen. Da wurden ihr königliche Kleider angetan, und es schien ein Wunder, wie sie so schön war. Der alte König rief seinen Sohn und offenbarte ihm, daß er die falsche Braut hätte: die wäre bloß ein Kammermädchen, die wahre aber stände hier, als die gewesene Gänsemagd. Der junge König war herzensfroh, als er ihre Schönheit und Tugend erblickt, und ein großes Mahl wurde angestellt, zu dem alle Leute und guten Freunde gebeten wurden. Obenan saß der Bräutigam, die Königstochter zur einen Seite und die Kammerjungfer zur andern, aber die Kammerjungfer war verblendet und erkannte jene nicht mehr in dem glänzenden Schmuck. Als sie nun gegessen und getrunken hatten und gutes Muts waren, gab der alte König der Kammerfrau ein Rätsel

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Grimm.

auf, was eine solche wert wäre, die den Herrn so und so be­ trogen hätte, erzählte damit den ganzen Verlauf und fragte:

„Welches Urteils ist diese würdig?" Da sprach die falsche Braut: „Die ist nichts Besseres wert, als daß sie splitternackt

ausgezogen und in ein Faß gesteckt wird, das inwendig mit spitzenNägeln beschlagen ist;und zwei weiße Pferdemüssen vor­ gespannt werden, die sie Gasse aus Gasse ab zu Tode schleifen." — „Das bist du," sprach der alte König, „und hast dein eigen Urteil gefunden, und danach soll dir widerfahren!" Und als das Urteil vollzogen war, ver­ mählte sich der junge König mit seiner rechten Gemahlin, und beide beherrschten ihr Reich in Frieden und Seligkeit.

123. Der tausendjährige Rosenstock zu Hildesheim. Als Ludwig der Fromme winters in der Gegend von Hildesheim jagte, verlor er sein mit Heiligtum gefülltes Kreuz, das ihm vor allem lieb war. Er sandte seine Diener aus, um es zu suchen, und gelobte, an dem Orte, wo sie es finden würden, eine Kapelle zu bauen. Die Diener verfolgten die Spur der gestrigen Jagd auf dem Schnee und sahen bald aus der Ferne mitten im Wald einen grünen Rasen und darauf einen grünenden wilden Rosenstrauch. Als sie ihm näher kamen, hing das verlorene Kreuz daran; sie nahmen es und berichteten dem Kaiser, wo sie es gefunden. Alsobald befahl Ludwig, auf der Stätte eine Kapelle zu erbauen und

den Altar dahin zu setzen, wo der Rosenstock stand. Dieses geschah, und bis auf diese Zeit grünt und blüht der Strauch und wird von einem eigens dazu bestellten Manne gepflegt. Er hat mit seinen Ästen und Zweigen die Rundung des Domes bis zum Dache umzogen.

124. Rodensteins Auszug. Nah an dem zum gräflich Erbachischen Amt Reichen­ berg gehörigen Dorf Oberkainsbach, unweit dem Odenwald, liegen auf einem Berge die Trümmer des alten Schlosses

Grimm.

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Schnelleres; gegenüber eine Stunde davon, in der Rodsteiner Mark, lebten ehemals die Herren von Rodenstein, deren männlicher Stamm erloschen ist. Noch sind die Ruinen ihres alten Raubschlosses zu sehen. Der letzte Besitzer desselben hatte sich besonders durch seine Macht, durch die Menge seiner Knechte und des er­ langten Reichtums berühmt gemacht; von ihm geht folgende Sage. Wenn ein Krieg bevorsteht, so zieht er von seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort Schnellerts bei grauender Nacht aus, begleitet von seinem Hausgesind und schmet­ ternden Trompeten. Er zieht durch Hecken und Gesträuche, durch die Hofraite und Scheune Simon Daums zu Ober­ kainsbach bis nach dem Rodenstein, flüchtet gleichsam, als wolle er das ©einige in Sicherheit bringen. Man hat das Knarren der Wagen und ein Hoho-Schreien, die Pferde an­ zutreiben, ja selbst die einzelnen Worte gehört, die einher­ ziehendem Kriegsvolk vom Anführer zugerusen werden, und womit ihm befohlen wird. Zeigen sich Hoffnungen zum Frieden, dann kehrt er in gleichem Zuge vom Rodenstein nach dem Schnellerts zurück, doch in ruhiger Stille, und man kann dann gewiß sein, daß der Frieden wirklich ab­ geschlossen wird. Ehe Napoleon im Frühjahr 1815 landete^ war bestimmt die Sage, der Rodensteiner sei wieder in die Kriegburg ausgezogen.

125. Richmodis von Aducht. Richmuth ober Richmodis von Aducht war eines reichen Burgemeisters zu Köln Ehefrau und wohnte am Neumarkte in dem Hause zu den Papageien. Im Jahre 1400, als die böse Pest in der Stadt wütete, starb Richmuth und wurde auf dem Friedhofe zu Sankt Aposteln beigesetzt. Die Toten­ gräber hatten aber wahrgenommen, daß die Leiche noch ihre goldenen Ringe an den Fingern trug, und die Begierde trieb sie nachts zu dem Grab, das sie öffneten, willens, die Ringe abzuziehen. Kaum aber hatten sie den Sargdeckel aufgemacht, so sahen sie, daß der Leichnam die Hand zu-

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Grimm.

sammendrückte und aus dem Sarge steigen wollte. Er­ schrocken flohen sie. Die Frau wand sich aus den Grabtüchern los, nahm, die von den Entwichenen zurückgelassene Leuchte und wankte schwach ihrer Wohnung zu, wo sie den bekannten Haus­ knecht bei Namen rief, daß er schnell die Türe öffnen sollte, und ihm mit wenigen Worten erzählte, was ihr widerfahren. Der Hausknecht trat zu seinem Herrn und sprach: „Unsere Frau steht unten vor der Tür und will eingelassen sein." — „Ach," sagte der Herr, „das ist unmöglich; ehe das möglich wäre, eher würden meine Schimmel auf dem Heu­ boden stehen." Kaum hatte er das Wort ausgeredet, so trappelte es auf der Treppe und dem Boden, und siehe, die beiden Schimmel standen oben beisammen. Da flog der Herr mehr, als er die Treppe herunterging, um der Wiedererstandenen die Türe zu öffnen. Mit Freuden wurde sie empfangen und alles aufgeboten, um sie zu er­ quicken und völlig ins Leben zurückzurufen. Den anderen Tag schauten die Pferde noch aus dem Bodenloch, und man mußte ein großes Gerüste anlegen, um sie wieder lebendig und heil herabzubringen. Zum An­ denken an die Geschichte hat man Pferde ausgestopft, die aus diesem Hause zum Boden hinausgucken. Auch war sie früher in der Apostelkirche gemalt, wo man noch einen leinenen Vorhang zeigt, den Frau Richmuth mit eigener Hand gewebt und dahin verehrt hat. Denn sie lebte noch fieben Jahre.

126. Die Füße der Zwerge. Vor alten Zeiten wohnten die Menschen im Tal und rings um sie in Klüften und Höhlen die Zwerge, freundlich rind gut mit den Leuten, denen sie manch schwere Arbeit nachts verrichteten. Wenn nun das Landvolk frühmorgens mit Wagen und Geräten herbeizog und erstaunte, daß alles fchon getan war, steckten die Zwerge im Gesträuch und lachten .hell auf. Oftmals zürnten die Bauern, wenn sie ihr noch

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nicht ganz zeitiges Getreide auf dem Acker niedergeschnitten fanden; aber als bald Hagel und Gewitter hereinbrach und sie wohl sahen, daß vielleicht kein Hälmlein dem Verderben entronnen sein würde, da dankten sie innig dem voraus­ sichtigen Zwergvolk. Endlich aber verscherzten die Menschen durch ihren Frevel die Huld und Gunst der Zwerge, sie ent­ flohen, und seitdem hat sie kein Aug wieder erblickt. Die Ursache war diese: Eiu Hirt hatte oben am Berg einen trefflichen Kirsch­ baum stehen. Als die Früchte eines Sommers reisten, begab sich's, daß dreimal hintereinander nachts der Baum geleert wurde und alles Obst auf die Bänke und Hürde getragen war, wo der Hirt sonst die Kirschen aufzubewahren pflegte. Die Leute im Dorf sprachen: „Das tut niemand anders als die redlichen Zwerglein, die kommen bei Nacht in langen Mänteln mit bedeckten Füßen dahergetrippelt, leise wie Vögel, und schaffen den Menschen emsig ihr Tagwerk. Schon vielmal hat man sie heimlich belauscht, allein man stört sie nicht, sondern läßt sie kommen und gehen." Durch diese Reden wurde der Hirt neugierig und hätte gern gewußt, warum die Zwerge so sorgfältig ihre Füße bärgen, und ob diese anders ge­ staltet wären als Menschenfüße. Da nun das nächste Jahr wieder der Sommer und die Zeit kam, daß die Zwerge heimlich die Kirschen abbrachen und in den Speicher trugen, nahm der Hirt einen Sack voll Asche und streute die rings um den Baum herum aus. Den andern Morgen mit Tagesanbruch eilte er zur Stelle hin, der Baum war richtig leer gepflückt, und er sah unten in der Asche die Spuren von vielen Gänsfüßen eingedrückt. Da lachte der Hirt und spottete, daß der Zwerge Geheimnis verraten war. Bald aber zerbrachen und verwüsteten diese ihre Häuser und flohen tiefer in den Berg hinab, grollen dem Menschengeschlecht und versagen ihm ihre Hilfe. Jener Hirt, der sie verraten hatte, wurde siech und blödsinnig fortan bis an sein Lebensende.

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127. Der einkehrende Zwerg. Vom Dörflein Ralligen am Thuner See und von Schillingsdorf, einem durch Bergfall verschütteten Ort des Grindelwaldtales, vermutlich von andern Orten mehr, wird erzählt: bei Sturm und Regen kam ein wandernder Zwerg durch das Dörflein, ging von Hütte zu Hütte und pochte regentriefend an die Türen der Leute, aber niemand er­ barmte sich und wollte ihm öffnen, ja sie höhnten ihn noch aus dazu. Am Rande des Dorfes wohnten zwei fromme Armen, Mann und Frau, da schlich das Zwerglein müd und matt an seinem Stab einher, klopfte dreimal bescheidentlich ans Fensterchen, der alte Hirt tat ihm sogleich auf und bot gern und willig dem Gaste das wenige dar, was sein Haus vermochte. Die alte Frau trug Brot auf, Milch und Käs, ein paar Tropfen Milch schlürfte das Zwerglein und aß Brosamen von Brot und Käse. „Ich bin's eben nicht gewohnt," sprach es, „so derbe Kost zu speisen, aber ich dank euch von Herzen, und Gott lohn's: nun ich geruht habe, will ich meinen Fuß weitersetzen." „Ei, bewahre," ries die Frau, „in der Nacht in das Wetter hinaus, nehmt doch mit einem Bettlein vorlieb." Aber das Zwerglein schüttelte und lächelte: „Droben auf der Fluh hab ich allerhand zu schaffen und darf nicht länger ausbleiben, morgen sollt ihr mein schon gedenken." Da­ mit nahm's Abschied, und die Alten legten sich zur Ruhe. Der anbrechende Tag aber weckte sie mit Unwetter und Sturm, Blitze fuhren am roten Himmel, und Ströme Wassers ergossen sich. Da riß oben am Joch der Fluh ein gewaltiger Fels los und rollte zum Dorf herunter, mitsamt Bäumen, Steinen und Erde. Menschen und Vieh, alles, was Atem hatte im Dorf, wurden begraben, schon war die Woge gedrungen bis an die Hütte der beiden Alten; zitternd und bebend traten sie vor ihre Türe hinaus. Da sahen sie mitten im Strom ein großes Felsenstück nahen, oben drauf hüpfte lustig das Zwerglein, als wenn es ritte, ruderte mit einem mächtigen Fichtenstamm, und der

Grimm.

Gude.

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Fels staute das Wasser und wehrte es von der Hütte ab, daß sie unverletzt stand und die Hausleut'e außer Gesahr. Aber das Zwerglein schwoll immer größer und höher, ward zu einem ungeheuren Riesen und zerfloß in der Luft, während jene auf gebogenen Knien beteten und Gott für ihre Errettung dankten.

Karl Gude. 128. Der Löwe ist los! I. Nach mehreren Regentagen hatte die Stadt, wo für die weite, dorfreiche Umgegend Herbstmesse abgehalten wurde, endlich einmal wieder einen schönen Septembertag. Glänzend war die Sonne an dem reinen, blauen Himmel emporgestiegen und hatte die Dorfbewohner aus der Nähe wie aus der Ferne in großen Scharen herbeigelockt. Auch in der Stadt war alt und jung auf den Beinen und eilte dem Meßplatze zu. In den Nachmittagsstunden wogte es in allen Reihen der Metz­ buden; man kam und ging; es war ein ununterbrochener Menschenstrom. So lustig hatte das Feuer in den Schmalz­ kuchenbuden noch nie gebrodelt und so weit der Duft des fetten Gebäcks sich noch nie verbreitet als heute. Und doch mußte die lüsterne Jugend lange warten, ehe sie ihren Appetit befriedigen konnte, denn nur mit Mühe gelang es derselben, sich durch die dichten Reihen der Erwachsenen bis zu dem er­ sehnten Ladentisch vorzudrängen. Nicht mindere Mühe kostete es ihr, einen Platz auf dem Karussell zu erobern, das sich fortwährend unter Trompetenklang und Paukenschlag in schwindelndem Kreise drehete. Ungeduldig wartete immer schon eine Schar kleiner Kinder an den Händen der Mütter und Mägde, um eine leer gewordene Kutsche zu besteigen oder sich auf den Rücken eines Rosses zu schwingen. Die Kühneren wählten die neben dem Karussell sich befindende russische

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Gude.

Schaukel, und jubelnd schwebten sie hier bald hoch über den Dächern der Buden, den Köpfen ihrer zuschauenden Kameraden weit entrückt, bald mitten zwischen diesen hin­ durch. Wie an den Schmalzkuchenbuden und Karussells, so häufte sich die kommende und gehende Menschenmenge auch an den sogenannten Groschenbuden, herbeigelockt durch den heiserenRuf der feilbietenden Besitzer. Jeder wollte wenigstens die bunte Auswahl der aufgestellten und aufgehängten Sachen, die so billig ausgeboten wurden, betrachten. Wie hier un­ ermüdlich die Verkäufer mit demselben Ruf: „Immer ran, meine Herrn, einen Groschen das Stück!" die Vorüber­ gehenden heranlockten, so lockten von einer andern, großen Bude her verschiedene Stimmen mit lauten, fremdländischen Tönen die Menschenmenge ebenfalls heran. Es waren dies die Kakadus und Papageien der Tierbude. An einer Kette befestigt, schaukelten sich diese unruhigen Fremdlinge auf ihren beweglichen Stäben fortwährend auf und nieder und ergötzten die. Schaulustigen teils durch ihren Ruf, der über den ganzen Meßplatz hinweg ertönte, teils durch ihre affen­ artigen Manieren. Der Zudrang von Menschen war be­ sonders dann sehr groß, wenn der junge Elefant als Lockvogel vor die Bude geführt wurde und einige seiner Kunststücke umsonst produzierte. So gab es überall viel zu sehen und zu hören. Man schlenderte daher Arm in Arm von Bude zu Bude, hier die ausgestellten Sachen betrachtend, dort einen Bekannten be­ grüßend und von neuem mit ihm eine Rundreise antretend. Das Gedränge mehrte sich mit jeder Stunde; der Lärm wurde immer betäubender. Aus den Trinkbuden erscholl überall Musik und Gesang, und auch die Drehorgeln feierten keinen Augenblick. Knaben probierten die gekauften Trompeten und Trommeln, kleine Mädchen die schreienden Puppen. Da­ zwischen erscholl von Zeit zu Zeit das fürchterliche Gebrüll des Löwen und das widrige Geheul der Hyänen.

Gude.

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II.

Plötzlich vernahm man von der Tierbude her ein lautes Geschrei, und zugleich sah man die dichte Menschenmenge da­ selbst in Aufruhr und Bewegung. „Der Löwe ist los! — Der Löwe ist entsprungen!" ertönte es mit einemmale von allen Ecken und Enden. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich dieser Schreckensruf über den ganzen Meßplatz. Wer eben noch gescherzt und gelacht hatte, wurde plötzlich still und bleich. Kein Mund fragte mehr nach einer Ware; keine Hand rührte sich mehr zum Verkauf; jeder war auf Flucht und Rettung bedacht. Mütter rissen ihre Kinder aus den Kutschen und von den Pferden des Karussells, und Väter nahmen eilig die Kleinen auf den Arm, um schneller fortkominen zu können. Wer eben noch mit einem Freunde Arm in Arm gescherzt hatte, trennte sich plötzlich und unwillkürlich von ihm. Alles stürzte in blinder Hast vorwärts. Viele wußten in bleicher Angst nicht gleich, wohin sie ihre Schritte lenken sollten, und liefen in die Kreuz und Quer, da jeder Ort ihnen nicht sicher genug schien. Diejenigen, welche den Häusern am nächsten waren, suchten eiligen Laufes diese zu erreichen; die den Häusern fernen verkrochen sich hinter die Fässer und Tische der Buden; ja, manche ver­ suchten sogar, die Buden zu erklettern und sich auf die Dächer derselben zu retten. Da wurde mancher Berg von Honig­ kuchen, der mit vieler Mühe künstlich aufgetürmt worden war, umgeworfen, und mancher süße Pflasterstein kam an die Erde zu liegen, als ob hier seine Stelle sei, und ward zer­ treten. Aber trotz aller Angst konnten einige behende Buben nicht der Lust widerstehen, im raschen Lauf von den auf den Weg gefallenen Süßigkeiten einige aufzulesen. Die ge­ wandtesten der Knaben suchten auf Bäumen Schutz und Heil. III.

Noch war ein großer Teil des Publikums mit Suchen, Laufen und Verstecken nicht fertig, und dieser und jener

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Gude.

Günther.

rnochte schon die Zähne und Krallen des Löwen in seinem Fleische fühlen, als plötzlich ein lautes Gelächter von der Tierbude her die Fliehenden zum Stillstehen brachte. Nicht der Löwe war entsprungen, sondern ein Affe. Wer der Ur­ heber des Schreckensrufes gewesen war, hat nicht ermittelt werden können; aber eine allgemeine Heiterkeit folgte der anfänglichen Bestürzung. Nur von den Warenverkäufern machten einige recht saure Gesichter, namentlich diejenigen, welche irdene Gefäße feilhielten. Mancher Topf und mancher Napf war da zertreten worden. Einen komischen Eindruck machten jetzt auch ein paar Kinder in dem obersten Kasten der russischen Schaukel. Bei der allgemeinen Flucht wäre« sie -ort in der Schwebe zwischen Himmel und Erde hängen ge­ blieben, ohne daß sich jemand ihrer erbarmt hätte. Mit Tränen in den Augen, obschon sie den sichersten Platz inne­ gehabt hatten, saßen sie noch immer da, bis endlich der Be­ sitzer der Schaukel, der ebenfalls die Flucht ergriffen hatte, sie aus der Schwebe erlöste und zur Erde herniederließ. Ein großer Teil der Menschenmenge richtete jetzt seine Schritte einem Baume zu, auf welchem der entsprungene Affe saß, der nicht zu bewegen war herabzusteigen und lange Zeit die Umstehenden durch seine Grimassen und Sprünge ergötzte. Nur mit vieler Mühe gelang es einem der Tier­ wärter, den Entsprungenen wieder einzufangen. Als der Auf­ ruhr endlich gestillt war, prahlte mancher, der sich verkrochen hatte, mit seinem Mute und versicherte, er habe gar keine Furcht gehabt.

Friedrich Günther. 129. Bergmannsleben im Harz. Glückauf! Glückauf! Glückauf! Glückauf!

mein Ruf hinab in den Schacht. mein Wunsch in Bergesnacht. mein Gruß dem Sonnenlicht. mein Trost, wenn's Auge bricht!

Ter Wächter hat seinen letzten Rundgang durch die

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Günther.

Stadt gemacht und den Anbruch des Tages nach guter Väterweise mit dem Gesang angekündigt: Hört, ihr Herren, und laßt euch sagen: Die Glock' hat vier geschlagen. Der Tag vertreibt die finstere Nacht; Ihr lieben Christen, seid munter und wacht Und lobet Gott den Herrn!

Doch bevor er sein mächtiges Kupferhorn, das schon manches Jahrhundert hindurch die Diebe geschreckt und die Schläfer geweckt hat, nach Hause trägt, ersteigt er den Turm, ergreift den Strang der Anläuteglocke und ruft durch ihre helle Stimme den Bergmann zur Arbeit. Schon ist er fahrbereit. Er hat seinen Kaffee in Eile getrunken, seinen Speisebedarf (Brot, ein „EinschteckelWirschtel" und ein Schnapsfläschchen) im Busenraum des Grubenkittels' untergebracht und nimmt nun Abschied von seinem Weibe und seinen schlafenden Kindern. Die Glocke klingt noch fort in den stillen Morgen hinein, da ist's schon lebendig auf allen „Anfahrwegen", den hübsch mit ,Greiple" (Gräupchen, Kies) bestreuten Fußwegen, welche, sich viel­ fach kreuzend und vereinigend, von allen Seiten der Stadt nach den Gruben führen. Auch in der Dämmerung kann der Fuß nicht irren, denn der unter ihm knirschende, Schwer­ spat hebt sich schimmernd weiß von der grünen Wiese ab. Und wenn der erste Schnee fällt, dann wird jeder Anfahr­ weg mit Wegweisern versehen. Als solche dienen Tannen­ stangen, welche in Entfernung von etwa je zehn Schritten zur rechten Hand in den Boden geschlagen werden. Aber beschwerlich pnd gefährlich ist doch in mancher Winter­ nacht, wenn der Schneesturm wütet und ganze Berge auf­ türmt, der Weg zur Grube. Ernst und still eilen die schwarzen Gesellen ihrer Arbeits­ stätte zu. Es ist Montag morgen, deshalb versammelt sich die ganze Belegschaft, welche die Frühschicht hat, in der Zechenstube zum Gebet. Der „Vorbeter", ein alter würdiger Bergmann, hat bereits die Gesänge an die schwarze Tafel Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

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Günther.

Hauff.

geschrieben, oben vor einem durch den ganzen Raum rei­ chenden Tische Platz genommen und auf seinem Pulte die Postille aufgeschlagen. Bald füllt sich der Betsaal mit Berg­ leuten und Steigern, jetzt tritt auch der Obersteiger ein, und der Gesang beginnt. Der Vorbeter vertritt dabei die Stelle des Vorsängers und hält dabei den Schlußton jeder Vers-eile kräftig aus trotz dem besten Dorfkantor alter Schule. Ist der Gesang, der niemals ein Berg-, sondern entweder ein allgemeines Dank- und Loblied ist, oder sich auf das Evangelium des vorhergehenden Sonntags bezieht, zu Ende, so verliest der Vorbeter dieses würdig und feierlich und schließt daran die in der Postille vorgeschriebene Predigt. Ein Schlußvers und das Vaterunser beenden die Feier, und der Vorbeter entläßt die Versammlung mit den im Harzdialekt gesprochenen Worten: „Un nunt laßt uns in Gottes Namen anfahre! Glückauf!" Von dem Bethause oder der Zechenstube gehen die Berg­ leute in den nahen Geipel (das Wort ist eine Nebenform zu Göpel, und dieses wahrscheinlich verderbt aus Hebel; es bezeichnet ursprünglich das zum Heben der Erze dienende Treibwerk, dann das über diesem errichtete Gebäude), zün­ den dort ihr Grubenlicht an, und von den Zurückbleibenden mit dem Wunsche: „Es zieh Eich wull!" (Es geh' Euch wohl!) begrüßt, verschwindet einer nach dem andern in dem Fahrschacht. Wie Sterne, die nach und nach erblassen und dann völlig verschwinden, leuchten eine Zeitlang noch die Grubenlichter aus der Tiefe herauf, dann erfüllt raben­ schwarze Nacht den Fahrschacht bergestief.

Wilhelm Hauff. 130. Der Bau des Reußensteins. Dort über dem Berg, gerade wo jetzt der Mond steht, liegt ein Schloß, das heißt der Reußenstein. Es liegt auf jähem Felsen, weit oben in der Luft, hat auch keine Nach­ barschaft als die Wolken und bei Nacht den Mond.

Hauff.

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Geradeüber von der Burg, auf einem Berge, worauf jetzt der Heimenstein steht, liegt eine Höhle, und darinnen wohnte vor Alters ein Riese. Er hatte ungeheuer viel Gold und hätte herrlich und in Freuden leben können, wenn es noch mehr Riesen und Riesinnen außer ihm gegeben hätte. Da fiel es ihm ein, er wolle sich ein Schloß

bauen, wie es die Ritter haben auf der Alb.. Der Felsen gegenüber schien ihm gerade recht dazu. Er selbst aber war ein schlechter Baumeister; er grub mit den Nägeln haushohe Felsen aus der Alb und stellte sie aufeinander; aber sie fielen immer wieder ein und wollten kein geschicktes Schloß geben. Da legte er sich auf den Beurener Felsen und schrie ins Tal hinab nach Hand­ werkern. Zimmerleute, Maurer, Steinmetzen, Schlosser, alles solle kommen und ihm helfen, er wolle gut be­ zahlen. Man hörte sein Geschrei im ganzen Schwabenland, vom Kocher hinauf bis zum Bodensee, vom Neckar bis an die Donau, und überall her kamen die Meister und Ge­ fallen, um dem Riesen das Schloß zu bauen. — Es war lustig anzusehen, wie er vor seiner Höhle im Sonnenschein saß und über dem Tal drüben auf dem hohen Felsen sein Schloß bauen sah. Meister und Ge­ sellen waren flink an der Arbeit und bauten, wie er ihnen über das Tal hinüber zuschrie; sie hatten allerlei fröh­ lichen Schwank und Kurzweil mit ihm, weil er von der Bauerei nichts verstand. Endlich war der Bau fertig, und der Riese zog ein und schaute aus dem höchsten Fenster aufs Tal hinab, wo die Meister und Gesellen versammelt waren, und fragte sie, ob ihm das Schloß gut anstehe, wenn er so zum Fenster herausschaue. Als er sich aber umsah, ergrimmte er; denn die Meister hatten geschworen, es sei alles fertig, aber an dem obersten Fenster, wo er heraussah, fehlte noch ein Nagel. Die Schlossermeister entschuldigten sich und sagten, es habe sich keiner getraut, vors Fenster hinaus in die Luft 12'

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Hauff.

zu sitzen und den Nagel einzuschlagen. Der Riese aber wollte nichts davon hören, sondern zahlte den Lohn nicht aus, bis der Nagel eingeschlagen sei. Da zogen sie alle wieder in die Burg, die wildesten Burschen vermaßen sich hoch und teuer, es sei ihnen ein Geringes, den Nagel einzuschlagen; wenn sie aber an das oberste Fenster kamen und hinausschauten in die Luft und hinab in das Tal, das so tief unter ihnen lag, und ringsum nichts als Felsen, da schüttelten sie den Kopf und zogen beschämt ab. Da boten die Meister zehnfachen Lohn, wer den Nagel einschlage, und es fand sich lange

keiner. Nun war ein flinker Schlossergeselle dabei, der hatte die Tochter seines Meisters lieb, und sie ihn auch, aber der Vater war ein harter Mann und wollte sie ihm nicht zum Weibe geben, weil er arm war. Der faßte sich ein Herz und dachte, er könne hier seinen Schatz verdienen oder sterben; denn das Leben war ihm entleibet ohne sie. Er trat vor den Meister, ihren Vater, und sprach: „Gebt Ihr mir Eure Tochter, wenn ich den Nagel einschlage?" Der aber gedachte seiner auf diese Art los zu werden, wenn er auf die Felsen hinabstürze und den Hals breche,

und sagte ja. Der flinke Schlossergeselle nahm den Nagel und seinen Hammer, sprach ein frommes Gebet und schickte sich an, zum Fenster hinaus zu steigen und den Nagel einzuschlagen für sein Mädchen. Da erhob sich ein Freudengeschrei unter den Bauleuten, daß dec Riese vom Schlaf aufwachte und fragte, was es gebe, und als er hörte, daß sich einer gefunden habe, der den Nagel einschlagen wolle, kam er, betrachtete den jungen Schlosser lange und sagte: „Du bist ein braver Kerl und hast mehr Herz als das Lumpen­ gesindel da; komm, ich will dir helfen." Da nahm er ihn beim Genick, daß es allen durch Mark und Bein ging, hob ihn zum Fenster hinaus in die Luft und sagte: „Jetzt hau drauf zu! ich lasse dich nicht fallen."

Hauff.

Hebel.

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Und der Geselle schlug den Nagel in den Stein, daß er fest saß: der Riese aber küßte und streichelte ihn, daß er beinahe ums Leben kam, führte ihn zum Schlossermeister und sprach: „Diesem gibst du dein Töchterlein." Dann ging er hinüber in seine Höhle, langte einen Geldsack her­ aus und zahlte jeden aus bei Heller und Pfennig. End­ lich kam er auch an den flinken Schlossergesellen. Zu diesem sagte er: „Jetzt gehe heim, du herzhafter Bursche, hole deines Meisters Töchterlein und ziehe ein in diese Burg, denn sie ist dein!" Des freuten sich alle.

Johann Peter Hebel. 131. Der Star von Segringen. Selbst einem Staren kann es nützlich sein, wenn er etwas gelernt hat, wie viel mehr einem Menschen. In Seg­ ringen der Barbier hatte einen Star, und der Lehrjung gab ihm Unterricht im Sprechen. Der Star lernte nicht nur alle Wörter, die ihm sein Sprachmeister aufgab, sondern er ahmte zuletzt auch selber nach, was er von seinem Herrn hörte, zum Exempel: „Ich bin der Barbier von Segringen!" Sein Herr hatte sonst noch allerlei Redensarten an sich, die er bei jeder Gelegenheit wiederholte, zum Exempel: „So, so, la, la!" oder: „Par compagnie" (das heißt so viel als: in Gesellschaft mit andern): oder: „Wie Gott will," oder: „Du Tolpatsch!" So titulierte er nämlich insgemein den Lehr­ jungen, wenn er das halbe Pflaster auf den Tisch strich, anstatt aufs Tuch, oder wenn er das Schermesser am Rücken

abzog, anstatt an der Schneide, oder wenn er ein Arzneiglas zerbrach. Alle diese Redensarten lernte nach und nach der Star auch. Da nun täglich viel Leute im Haus waren, weil der Barbier auch Branntwein ausschenkte, so gab's manch­ mal viel zu lachen, wenn die Gäste miteinander ein Gespräch führten und der Star warf auch eins von seinen Wörtern

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drein, das sich dazu schickte, als wenn er den Verstand davon hätte; und manchmal, wenn ihm der Lehrjnng rief: „Hansel, was machst du?" antwortete er: „Du Tolpatsch!" und alle Leute in der Nachbarschaft wußten von dem Hansel zu erzählen.

Eines Tages aber, als ihm die beschnittenen Flügel wieder gewachsen waren, und das Fenster war offen und das Wetter schön, da dachte der Star: „Ich hab jetzt schon so viel gelernt, daß ich in der Welt kann fortkommen," und husch! zum Fenster hinaus. Weg war er. Sein erster Flug ging ins Feld, wo er sich unter eine Gesellschaft anderer Vögel mischte, und als sie aufflogen, flog er mit ihnen, denn er dachte: „Sie wissen die Gelegenheit hier zu Land besser als ich." Aber sie flogen unglücklicherweise alle miteinander in ein Garn. Der Star sagte: „Wie Gott will!"

Als der Vogelsteller kommt und sieht, was er für einen großen Fang getan hat, nimmt er einen Vogel nach dem andern behutsam heraus, dreht ihm den Hals um und wirft ihn auf den Boden. Als er aber die mörderischen Finger wieder nach einem Gefangenen ausstreckte und denkt an nichts, schrie der Gefangene: „Ich bin der Barbier von Segringen!" als wenn er wüßte, was ihn retten muß. Der Vogelfänger erschrak anfänglich, als wenn es hier nicht mit rechten Dingen zuginge, nachher aber, als er sich erholt hatte, konnte er kaum vor Lachen zu Atem kommen; und als er sagte: „Ei, Hansel, hier hätt ich dich nicht gesucht, wie kommst du in meine Schlinge?" da antwortete der Hansel: „Par compagnie!" Also brachte der Vogelsteller den Star feinem Herrn wieder und bekam ein gutes Fanggeld. Der Barbier aber erwarb sich damit einen guten Zuspruch, denn jeder wollte den merkwürdigen Hansel sehen. Merke: So etwas passiert einem Staren selten. Aber schon mancher junge Mensch, der auch lieber herumflankieren als daheimbleiben wollte, ist ebenfalls Par compagnie in die Schlinge geraten und nimmer herauskommen.

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132. Der geheilte Patient. Reiche Leute haben trotz ihrer gelben Vögel doch manchmal auch allerlei Lasten und Krankheiten auszu­ stehen, von denen gottlob der arme Mann nichts weiß, denn es gibt Krankheiten, die nicht in der Luft stecken, sondern in den vollen Schüsseln und Gläsern und in den weichen Sesseln und seidenen Bettern, wie jener reiche Amsterdamer ein Wort davon reden kann. Den ganzen Vormittag saß er im Lehnsessel und rauchte Tabak, wenn er nicht zu träge war, oder hatte Maulaffen feil zum Fenster hinaus, aß aber zu Mittag doch wie ein Drescher, und die Nachbarn sagten manchmal: „Windet's draußen, oder schnauft der Nachbar so?" Den ganzen Nachmittag aß und trank er ebenfalls bald etwas Kaltes, bald etwas Warmes, ohne Hunger und ohne Appetit, aus lauter langer Weile bis an den Abend, also daß man bei ihm nie recht sagen konnte, wo das Mittagessen aufhörte, und wo das Nachtessen anfing. Nach dem Nachtessen legte er sich ins Bett und war so müd, als wenn er den ganzen Tag Steine ab­ geladen oder Holz gespalten hätte. Davon bekam er zu­ letzt einen dicken Leib, der so unbeholfen war wie ein Maltersack. Essen und Schlaf wollte ihm nimmer schmecken, und er war lange Zeit, wie es manchmal geht, nicht recht gesund und nicht recht krank; wenn man aber ihn selber hörte, so hatte er 365 Krankheiten, nämlich alle Tage eine andere. Alle Ärzte, die in Amsterdam sind, mußten ihm raten. Er verschluckte ganze Feuereimer voll Mixturen und ganze Schaufeln voll Pulver und Pillen, wie Enteneier so groß, und man nannte ihn zuletzt scherz­ weise nur die zweibeinige Apotheke. Aber alle Arzneien halfen ihm nichts, denn er folgte nicht, was ihm die Ärzte befahlen, sondern sagte: „Wofür bin ich ein reicher Mann, wenn ich soll leben wie ein Hund und der Doktor will mich nicht gesund machen für mein Geld?" Endlich hörte er von einem Arzt, der hundert Stund

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weit weg wohnte, der sei so geschickt, daß die Kranken gesund werden, wenn er sie nur recht anschaue, und der Tod geh ihm aus dem Weg, wo er sich sehen lasse. Zn dem Arzt faßte der Mann ein Zutrauen und schrieb ihm seinen Umstand. Der Arzt merkte bald, was ihm fehle, nämlich nicht Arznei, sondern Mäßigkeit und Be­ wegung, und sagte: „Wart, dich will ich bald kuriert haben!" Deswegen schrieb er ihm ein Brieflein folgen­ den Inhalts: „Guter Freund, Ihr habt einen schlimmen Umstand, doch wird Euch zu helfen sein, wenn Ihr folgen wollt. Ihr habt ein bös Tier im Bauch, einen Lindwurm mit sieben Mäulern. Mit dem Lindwurm muß ich selber reden, und Ihr müßt zu mir kommen. Aber fürs erste, so dürft Ihr nicht fahren oder auf dem Rößlein reiten, sondern auf des Schuhmachers Rappen, sonst schüttelt Ihr den Lindwurm, und er beißt Euch die Eingeweide ab, sieben Därme auf einmal ganz entzwei. Fürs andere dürft Ihr nicht mehr essen, als zweimal des Tages einen Teller voll Gemüs, mittags ein Bratwürstlein dazu und nachts ein Ei und am Morgen ein Fleischsüpplein mit Schnittlauch drauf. Was Ihr mehr esset, davon wird nur der Lindwurm größer, also daß er Euch die Leber er­ drückt, und der Schneider hat Euch nimmer viel anzu­ messen, aber der Schreiner. Dies ist mein Rat, und wenn Ihr mir nicht folgt, so hört Ihr im andern Frühjahr den Kuckuck nimmer schreien. Tut, was Ihr wollt!" Als der Patient so mit ihm reden hörte, ließ er sich sogleich am andern Morgen die Stiefel salben und machte sich auf den Weg, wie ihm der Doktor befohlen hatte. Den ersten Tag ging es so langsam, daß wohl eine Schnecke hätte können sein Vorreiter sein, und wer ihn grüßte, dem dankte er nicht, und wo ein Würmlein auf der Erde kroch, das zertrat er. Aber schon am zweiten und am dritten Morgen kam es ihm vor, als wenn die Vögel schon lange nimmer so lieblich gesungen hätten

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wie heut, und der Tau schien ihm so frisch und die Kornrosen im Feld so rot, und alle Leute, die ihm be­ gegneten, sahen so freundlich aus und er auch, und alle Morgen, wenn er aus der Herberge ausging, war's schöner, und er ging leichter und munterer dahin, und als er am achtzehnten Tage in der Stadt des Arztes ankam und den andern Morgen aufstand, war es ihm so wohl, daß er sagte: „Ich hätte zu keiner ungeschicktern Zeit können gesund werden als jetzt, wo ich zum Doktor soll. Wenn's mir doch nur ein wenig in den Ohren brauste, oder das Herzwasser lief mir!" Als er zum Doktor kam, nahm ihn der Doktor bei der Hand und sagte ihm: „Jetzt erzählt mir dann noch einmal von Grund aus, was Euch fehlt!" Da sagte er: „Herr Doktor, mir fehlt gottlob nichts, und wenn Ihr so gesund seid wie ich, so soll's mich freuen." Der Doktor sagte: „Das hat Euch ein guter Geist geraten, daß Ihr meinem Rat gefolgt habt. Der Lindwurm ist jetzt abge­ standen. Aber Ihr habt noch Eier im Leib, deswegen müßt Ihr wieder zu Fuß heimgehen und daheim fleißig Holz sägen, daß niemand sieht, und nicht mehr essen, als Euch der Hunger ermahnt, damit die Eier nicht ausschlupfen, so könnt Ihr ein alter Mann werden," und lächelte dazu. Aber der reiche Fremdling sagte: „Herr Doktor, Ihr seid ein feiner Kauz, und ich versteh Euch wohl," und hat nach­ her dem Rat gefolgt und 87 Jahre, 4 Monate, 10 Tage gelebt, wie ein Fisch im Wasser so gesund, und hat alle Neujahr dem Arzt zwanzig Dublonen zum Gruß geschickt.

ISS. Die «achtel. Zwei wohlgezogene und ehrbare Nachbarn lebten sonst miteinander immer in Frieden und Freundschaft, jetzt zwar auch noch, aber einer von ihnen hatte eine Wachtel. Zu ihm kommt endlich der Nachbar und sagt: „Freund, be­ greift Ihr nicht, daß mir Euer Lärmmacher, Euer Tam­ bur da sehr ungelegen sein kann, wenn ich morgens noch

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ein Stündlein schlafen möchte, und daß Ihr Euch unwert macht bei der ganzen Nachbarschaft?" — Ihm erwiderte der Nachbar: „Ich begreife das Gegenteil. Jst's nicht aller Ehren wert, daß meine Wachtel der ganzen Nachbarschaft den Morgen umsonst ansagt und die Gesellen weckt, auch sonst Kurzweil macht, und ich trage die Atzungskosten allein?" Als alle Vorstellungen nicht verfangen wollten und die Wachtel immer früher schlug und immer heller, kommt endlich der Nachbar noch einmal und sagt: „Freund, wär Euch Eure Wachtel nicht feil?" Der Nachbar sagt: „Wollt Ihr sie tot machen?" — „Das nicht," erwiderte der andere. — „Oder fliegen lassen?" — „Nein, auch nicht." — „Oder in eine andere Gasse stiften?" — „Auch das nicht, sondern hier vor mein Fenster will ich sie stellen, damit Ihr sie auch noch hören könnt alle Morgen." Der Nachbar merkte nichts, denn er war nicht der klügere von beiden. Ei — dachte er — wenn ich sie vor deinem Fenster umsonst hören kann und bekomme noch Geld dazu, so ist's besser. — „Ist sie Euch ein Zweiguldenstück wert?" fragte er den Nachbarn. Der Nachbar dachte zwar, es sei viel Geld, doch soll's ihm nicht verloren sein, und noch in der nämlichen Stunde nntrbc die Wachtel umquartiert. Am anderen Morgen, als sie ihren vorigen Besitzer aus dem Schlaf erweckte und er eben denken wollte: Ei, meine gute Wachtel ist auch schon munter — halbwegs des Gedankens fällt's ihm ein: Nein, es ist meines Nachbars Wachtel. „Das undankbare Vieh," sagte er endlich am dritten Morgen, „ein Jahr lang hat sie bei mir gelebt und gute Tage gehabt, und jetzt hält sie es mit einem andern und lebt mir zum Schabernack. — Der Nachbar sollte verständiger sein und bedenken, daß er nicht allein in der Welt ist, wenigstens nicht allein in der Stadt." Nach mehreren Tagen aber, als er vor Verdruß es nimmer aushalten konnte, redete er hinwiederum den Nachbar an: „Freund," sagt er, „Eure Wachtel hat in der vergangenen Nacht wieder einen kurzen Schlaf gehabt." — „Es ist ein braver Vogel," erwiderte

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der Nachbar, „ich habe mich nicht daran verkauft." — „Er ist recht brav worden in Eurem Futter," fuhr jener fort, „was verlangt Ihr Aufgeld, daß er Euch wieder feil werde?" Da lächelte der andere und sagte: „Wollt Ihr sie vielleicht tot machen?" — „Nein." — „Oder fliegen lassen?" — „Das auch nicht." — „Oder in eine andere Gasse ver­ machen?" — „Auch das nicht. Aber an ihren alten Platz will ich sie wieder stellen, wo Ihr sie ja eben so gut hören könnt wie an ihrem jetzigen." — „Freund," erwiderte ihm hierauf der Nachbar, „vor Euer Fenster kommt die Wachtel nimmermehr, aber gebt Ihr mir meine zwei Gulden wieder, so laß ich sie fliegen." Der Nachbar dachte bei sich: „Wohl­ feiler kann ich sie nicht los werden, als für sein eigenes Geld." Also gab er ihm die zwei Gulden wieder, und die Wachtel flog. Der geneigte Leser wolle hieran gelegentlich erkennen, wenn er es nötig hat, was für ein großer Unterschied es sei, ob etwas vor dem eigenen Fenster und in dem eigenen Haus geschieht oder in einem andern; ferner — denn es braucht keine Wachtel dazu — ob einer in einer Gesellschaft selber pfeift und aus den Tisch trommelt, oder ob es ein anderer

anhören muß; item: ob einer selber bis nachts um zehn Uhr eine langweilige Geschichte erzählt, und ob ein anderer dabei sein und von Zeit zu Zeit sich verwundern und etwas dazu sagen muß, gleich als ob er acht gäbe.

134, Ist der Mensch ein wunderliches Geschöpf. Einem König von Frankreich wurde durch seinen Kammerdiener der Name eines Mannes genannt, der das 75. Jahr zurückgelegt habe und noch nie aus Paris heraus­ gekommen sei. Er wisse noch auf diese Stunde nicht anderst als vom Hörensagen, was eine Landstraße sei oder ein Ackerfeld oder der Frühling. Man könnte ihm weiß machen, die Welt sei schon vor zwanzig Jahren untergegangen; er müsse es glauben. — Der König fragte, ob denn der Mann kränklich oder gebrechlich sei. „Nein," sagte der Kammerdiener, „er ist so gesund wie der Fisch im Wasser."

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Oder ob er trübsinnig sei. „Nein, es ist ihm so wohl wie dem Vogel im Hanfsamen." Oder ob er durch seiner Hände Arbeit eine zahlreiche Familie zu ernähren habe. „Nein, er ist ein wohlhabender Mann. Er mag eben nicht. Es nimmt ihn nicht wunder." Des verwunderte sich der König und wünschte diesen Menschen zu sehen. Der Wunsch eines Königs von Frank­ reich ist bald erfüllt, zwar auch nicht jeder, aber dieser, und der König redete mit dem Menschen von allerlei, ob er schon lange gesund und wohlauf sei. „Ja, Sire," er­ widerte er, „allbereits 75 Jahre." Ob er in Paris geboren sei. „Ja, Sire! Es müsse kurios zugegangen sein, wie ich anderst hineingekommen wäre, denn ich bin noch nie draußen gewesen." — „Das soll mich doch wunder nehmen," erwiderte der König, „denn eben deswegen hab ich Euch rufen lassen. Ich höre, daß Ihr allerlei verdächtige Gänge macht, bald zu diesem Tor hinaus, bald zu jenem. Wißt Ihr, daß man schon lange auf Euch Achtung gibt?" Der Mann war über diesen Borwurf ganz erstaunt und wollte sich entschuldigen. Das müsse ein anderer sein, der seinen Namen führe, oder so. Aber der König fiel ihm in die Rede: „Kein Wort mehr! Ich hoffe, Ihr werdet in Zu­ kunft nicht mehr aus der Stadt gehen ohne meine aus­ drückliche Erlaubnis." Ein rechter Pariser, wenn ihm der König etwas be­ fiehlt, denkt nicht lange, ob es notwendig sei, und ob es nicht auch anders ebenso gut sein könnte, sondern er tut's. Der unsrige war ein rechter, obgleich, als auf seinem Heim­ weg die Postkutsche vor ihm vorbeifuhr, dachte er: „O, ihr Glücklichen da drinnen, daß ihr aus Paris hinaus dürft!" Als er nach Hause kam, las er die Zeitung wie alle Tage. Aber diesmal fand er nicht viel drin. Er schaute zum Fenster hinaus, das war auf einmal so langweilig. Er las in einem Buch, das war auf einmal so einfältig. Er ging spazieren, er ging in die Komödie, in das Wirts­ haus, das war so alltäglich. So das erste Vierteljahr lang.

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so das zweite, und mehr als einmal im Gasthaus sagte er zu seinen Nachbarn: „Freunde, es ist ein hartes Wort, fünfundsiebenzig Jahre kontinuierlich in Paris gelebt zu haben und jetzt erst nicht hinaus zu dürfen." Endlich im dritten Vierteljahr konnte er's nimmer aushalten, sondern meldete sich einen Tag um den andern wegen der Erlaubnis, das Wetter sei so hübsch, oder es sei heut ein schöner Regen­ tag. Er wolle sich gern auf seine Kosten von einem ver­ trauten Manne begleiten lassen, wenn's sein müsse, auch von zweien. Aber vergebens. Nach Verlauf aber eines schmerzlich durchlebten Jahrs, gerade am nämlichen Tag, als er abends nach Hause kam, fragt er mit bösem Gesicht die Frau: „Was' ist das für ein neues Kaleschlein im Hof? Wer will mich zum besten haben?" — „Herzens­ schatz!" antwortete die Frau, „ich habe dich überall suchen lassen. Der König schenkt dir das Kaleschlein und die Er­ laubnis, darin spazieren zu fahren, wohin du willst." — „Ma foi!" erwiderte der Mann mit besänftigter Miene, „der König ist gerecht." — „Aber nicht wahr," fuhr die Gattin fort, „morgen fahren wir spazieren aufs Land?" — „Ei, nun," erwiderte der Mann kalt und ruhig, „wir wollen sehn. Wenn's auch morgen nicht ist, so kann's ein andermal sein, und am Ende, was tun wir draußen? Paris ist doch am schönsten inwendig."

135. Kairnitverftan. Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Immen­ dingen oder Gundelfingen so gut als in Amsterdam, Be­ trachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzu­ stellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Lust herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Um­ weg kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch dm Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen

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gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis nach Amsterdam noch keines erlebt hatte. Lange betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dach, die schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim die Tür. Endlich konnte er sich nicht entbrechen, einen Vorüber­ gehenden anzureden. „Guter Freund," redete er ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternenblumen und Levkojen?" — Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte und zum Un­ glück gerade so viel von der deutschen Sprache verstand, als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: „Kannitverstan!" und schnurrte vor­ über. Dies war ein holländisches Wort, oder drei, wenn man's recht betrachtet, und heißt auf deutsch so viel als: „Ich kann Euch nicht verstehn." Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte. Das muß ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannit­ verstan, dachte er und ging weiter. Gaß aus Gaß ein kam er endlich an den Meerbusen, der da heißt: Het Ey, oder auf deutsch: das Npsilon. Da stand nun Schiff an Schiff und Mastbaum an Mastbaum, und er wußte anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdig­ keiten genug zu sehen und zu betrachten, bis endlich em großes Schiff seine Aufmerksamkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt war und jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen ganze Reihen von Kisten und Ballen auf- und nebeneinander am Lande. Noch immer wurden mehrere herausgewälzt und Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer. Als er aber lange zugesehn hatte, fragte er endlich einen, der eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann heiße, dem das Meer alle diese Waren an das Land bringe. „Kannitverstan!" war die Antwort. Da

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dachte er: „Haha, schaut's da heraus? Kein Wunder! wem das Meer solche Reichtümer an das Land schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt stellen und solcherlei Tuli­ panen vor die Fenster in vergoldeten Scherben." Jetzt ging er wieder zurück und stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Mensch sei unter so viel reichen Leuten in der Welt. Aber als er eben dachte: „Wenn ich's doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat!" kam er um eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarz ver­ mummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach. Paar und Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein wehmütiges Gefühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber war. Doch machte er sich an den letzten vom Zug, der eben in der Stille ausrechnete, was er an seiner Baum­ wolle gewinnen könnte, wenn der Zentner um zehn Gulden aufschluge, ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treu­ herzig um Exküse. „Das muß wohl auch ein guter Freund von Euch gewesen sein," sagte er, „dem das Glöcklein läutet, daß Ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht?" — „Kannit­ verstan!" war die Antwort. Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große Tränen aus den Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz. „Armer Kannitverstan!" rief er aus, „was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Toten­ kleid und ein Leintuch, und von all deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute." Mit diesen Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten

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Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt, als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. Endlich ging er leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab.

Karl Klein. 136. Aus der Fröschweiler Chronik. 1. Der Ritt des Grafen Zeppelin. Das feindliche Heer bestand aus dem Württembergi­ schen Generalstabsoffizier Hauptmann Graf Zeppelin, drei badischen Offizieren und vier Dragonern. Sie hatten den Befehl, über Lauterburg eine Rekognoszierung ins Land herein zu machen, ob etwa schon bedeutende Truppen­ massen im Unter-Elsaß konzentriert wären; hatten Sulz, Wörth, Fröschweiler glücklich passiert und waren von Elsaßhausen aus auf einem wenig gangbaren Waldwege so weit vorgedrungen, daß sie die Eisenbahnlinie von Gundershofen bis Niederbronn und auch ein gut Stück des Hanauergebietes überblicken konnten. — Sie waren in dem einsamen, von nahen Wal­ dungen umgebenen Schirlenhof eingekehrt; hatten ihre Pferde in Stall und Schuppen untergebracht, wollten auch von dem harten Ritt ein Weilchen rasten, und schon dampf­ ten die Eierkuchen lustig in der Pfanne und sollten auf französischer Erde desto besser schmecken. ... Da entsteht plötzlich Lärm .... Das ganze Jägerregiment ist im An-

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zug, der Hof ist umzingelt.... Was jetzt? — Messer und Gabeln fallen aus den Händen, die Schwerter fahren aus der Scheide, sie stürzen heraus, verbarrikadieren sich hinter ihre Pferde — es fällt ein erster Schuß und streckt einen französischen Unteroffizier zu Boden; — es fallen wieder Schüsse — Leutnant Winsloe ist tödlich getroffen, auderc sind verwundet; einige Sekunden verzweifelter Gegenwehr; die Übermacht hat gesiegt; zwei Offiziere, zwei Dragoner sind gefangen; Winsloe ist im Verbluten; Graf Zeppelin aber und zwei andere Dragoner sind entkommen. Das Regiment macht Kehrt, rückt am Abend unter allge­ meinem Jubel wieder in Niederbronn ein; in Paris wird eine Bataille du Schirlenhof mit Illuminationen gefeiert, und auch in Fröschweiler war, als unsere Jäger wiederkamen, die Freude so groß und die Begeisterung so allge­ mein, daß unsere guten Leutchen des Gebens, Fragens, Lobens und Verwunderns nicht müde, und auch die Solda­ ten des Essens und Trinkens und Erzählens nicht fertig werden konnten bis in die Nacht hinein. Als Siegesbeute hatte» sie eine kurze Kavallerieflinte und einen dicken hölzernen Klöpfel mitgebracht, der zum ewigen Andenken in Fröschweiler aufbewahrt bleibt. Wie diese Trophäen aber angestaunt und gepriesen wurden! Graf Zeppelin soll auf dem Rappen des getöteten französischen Unteroffiziers ent­ ronnen und eine Weile nach der Schlacht in den Schirlen­ hof zurückgekehrt sein und die Zeche bezahlt haben. Ob dem also sei, muß er selbst am besten wissen, denn er lebt noch, und wenn er's auch nicht gesteht, so wird doch viel­ leicht die Geschichte auch über diese Frage noch ins Klare kommen. — Jedenfalls ist er ein kühner Reitersmann; denn seine Retirade nach der Pfalz hinab bekundet nicht allein eine sehr genaue Kenntnis unserer Örtlichkeiten, son­ dern auch eine Todesverachtung, die einem Bewunderung ab­ nötigt. Er ist vom Schauplatz des Kampfes in nordöst­ licher Richtung durch den Großenwald durchmarschiert, mußte unweit Fröschweiler quer über die damals schon sehr beHessel und Ufer, Lesebuch 4.

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lebte Reichshofener Heerstraße — zog dann, immer in Be­ gleitung des Rappen am Waldessaum hinüber nach dem Gebirge, und als an jenem Abend der Wendlingpeter am Bergesabhang zwischen Nähweiler und Linienhausen dicht am Walde die Kühe weidete, kam da auf einmal ein seltsamer Mann, der kein Franzose sein konnte, führte ein müdes Schlachtroß am Zaume und fragte, ob er nicht etwas Milch bekommen könnte. — Da schaute ihn der Wendlingpeter erschrocken an. . . . „Ja, ich würde Euch schon gerne ein wenig Milch geben, wenn ich ein Geschirr hätte, in das ich melken könnte." — „Da läßt sich ab­ helfen," sagte der Mann; zog ein ledernes Ding aus der Tasche, woraus man trinken und wohinein man auch melken kann, und der Wendlingpeter melkte ganz wacker drauflos, und die Milch schmeckte dem fremden Herrn so trefflich, daß er sich noch einmal melken ließ, und damr gab er dem verdutzten Kuhhirten ein Frankenstück, sagte Dank und guten Abend. Und das alles, während vielleicht 300 Schritte dort drüben französische Kavallerie auf- und ab­ jagte und den Prussien im Wald vermaledeite, aber nicht in den Wald kam, denselben zu erschlagen. — Graf Zeppelin zog weiter: kam am selben Abend ins Günstal; trank sich beim sogenannten großen Peter zwei Schoppen roten Wein, die er mit einem Zehnfrankenstück bezahlte, und stand den andern Tag nach seinem strapazen­ reichen Kundschaftsritt mit wichtigen Erkundigungen ans bayrischem Gebiet. Nachtrag. Im Sommer 1909 hat der Mennonitenprediger van der Smissen aus Altona die „Täuferlies" ausgesucht, die Tochter des Mennoniten Peter Müller in Sulztal, in dessen Gehöft Graf Zeppelin nach dem Über­ fall im Schirlenhof ein sicheres Unterkommen gefunden hat. Die „Täuferlies" erzählte ihm: „Unser Vater war nach Nähweiler gegangen und wegen heftigen Gewitters dort über Nacht geblieben. Da kommt,

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grade wie wir schlafen gehen wollen, ein Offizier in den Hof geritten und ruft, es solle jemand mit der Laterne

herauskommen. Ich ging mit meinem Bruder in den Regen hinaus. Genau konnte man nicht erkennen, wen wir vor uns hatten, das Pferd war französisch gezäumt und gesattelt. Da fragt uns der Reiter, ob wir ihn wohl ein paar Stunden mit seinem Pferde in den Stall neh­ men wollten, sein Pferd wäre zum Umfallen müd. Er wollte bei seinem Pferd auf der Streu schlafen. Nun da haben wir ihm gesagt, das solle er doch nicht tun, wir hätten ein gutes Fremdenbett, da möchte er sich ausruhen, und für das Pferd sollte mein Bruder schon gut sorgen, daß es sein Recht bekäme. In der Fremdenstube hätte er es doch besser als im Stall. So gab er denn meinem Bru­ der das Pferd und sagte: gut, da will ich auch ein bißchen schlafen. Habt ihr was für mich zu essen? Wir hatten saure Milch und gequellte Kartoffeln zur Nacht gegessen. Dann hat er bis vier Uhr geschlafen, da hat mein Bru­ der ihm das Pferd gefüttert, geputzt und gesattelt und hat ihm den Weg nach der Grenze gewiesen. Kein Mensch im ganzen Weiler ist gewahr geworden, wie er gekommen und wie er wieder fortgeritten ist. Gegen sechs Uhr kommt der Vater. Kaum tritt er in den Hof, so fragt er: Wo kommt der Soldatengaul her, der in unserm Hof gewesen ist? und zeigt auf die Abdrücke feiner Hufeisen, die hinten glatt und ohne Stollen waren. Da haben wir gesagt, so und so wäre gestern Abend ein fremder Offizier gekommen. Kinder, rief er aus, wenn das der Offizier gewesen ist, den sie den ganzen Tag im Wald gesucht haben! Droben haben sie ihn auf dem Schirlenhof mit seiner Patrouille überfallen, der eine Offizier ist gleich tot gewesen, der andere ist zur Hintertür hinaus aufs Feld. Dort war das Pferd eines erschossenen Unter­ offiziers von den Chasseurs in ein Kleefeld gelaufen, wo eine arme Frau Klee schnitt, und hat angefangen von ihrem Klee zu fressen. Der Offizier winkt der Frau, sie 13*

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solle und und ihm

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das Pferd festhalten, sie tut's, und er setzt sich drauf davon. Da kamen die Chasseurs, er in den Wald, nun ist das ganze zwölfte Chasseurregiment hinter her. Der Wendlingpeter hat ihm Milch zu trinken

geben. Um neun Uhr sind die Grenzgendarmen bei uns ge­ kommen und wollten uns das Haus über dem Kopf an­ zünden, wir hätten einen deutschen Offizier über Nacht bei uns gehabt. Unser Vater aber hat gesagt, er wäre ja eben von Nähweiler gekommen, ein Reiter wäre bei den Kin­ dern gewesen, aber sein Pferd hätte französisches Sattel­ zeug gehabt. Da sind sie wieder davon. — Wie ich diesen Winter krank bei meinem Schwieger­ sohn gelegen habe, ist der Herr Pfarrer von Langensulz­ bach zu mir gekommen, und ich habe ihm die Sache er­ zählt. Ei, sagte er, das sollte man dem Grafen Zeppelin berichten, das ist ja der Mann, der das Luftschiff erfunden hat. Und so hat er's auch gemacht. Und am 26. Juli hat er mir durch den Herrn Pfarrer 50 Mark geschickt, das sollte ich auf den Jahrestag von ihm zum Andenken haben."

2. Die geraubte Kuh.

Es sind auch Beispiele von Milde und Barmherzigkeit zu verzeichnen, welche das Andenken an jene gräßlichen Tage lieblich und tröstend durchleuchten. Ein solches aus unsern persönlichen Erlebnissen. Wir hatten um sechs Uhr an Nahrungsvorräten nichts mehr als die Milch von unsern zwei Kühen. Nun, wenn die uns blieben, so wer­ den wir nicht verhungern. Wenn nur die Kleinen heute Nacht und morgen noch satt werden, wir Alten können schon warten. Bis hierher hat Gott geholfen durch seine große Güte. . . Überdem tritt ein Offizier mit einer Ab­

teilung Soldaten in den Hof herein, schreitet rasch dem Hinterhöfe zu, und in einem Augenblick sind beide Kühe

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gebunden, um ins Lager geführt zu werden. Ein Schrei des Entsetzens erhebt sich im ganzen Hause. Mir selbst wird's jetzt auch bange. Ich eile hinaus und wage ganz ruhig ein Wort an den Offizier. „Herr Leutnant, ich habe jetzt nichts mehr, als diese vier kleinen Kinder und zwei Augen zum weinen. Wenn es Ihnen möglich ist, haben Sie Erbarmen, lassen Sie mir nur eine von den zwei Kühen, daß ich diese Würmlein heute abend noch einmal sättigen kann." Sichtbar ergriffen erwidert der fremde Krieger: „Herr Pfarrer, glauben Sie mir, es tut mir leid, ich fühle mit Ihnen, aber ich kann nicht anders, ich muß sie haben." — „Nun, wenn Sie sie haben müssen, kann ich mich dieses letzten Opfers nicht weigern; nehmen Sie's hin in Gottes Namen." — Die Soldaten wollten fort. Der Offizier gab einen Wink: „Nein, wir nehmen nur eine," und zu mir sich wendend: „Welche wollen Sie behalten?" — „Diese da!" — „Kinder, führt die Kuh wieder in den Stall." Unter Loben und Danken trat ich wieder ins Haus, der Offizier begleitete mich hinein, verlangte Feder und Papier und schreibt einen Requisitionsschein, den er mir mit den Worten überreichte: „Das sind blutige Zeiten, Herr Prediger, aber seien Sie getrost, es wird auch wie­ der besser kommen." Des andern Tages, als ich vom Schlachtfeld kam, sino wir wieder beisammen, und es fließen Tränen, und man­ cher Seufzer steigt zu Gott empor Da hören wir auf einmal das Hoftor aufsprengen, eine Kuh läuft brüllend zum Stalle hin. . . wir eilen hinaus... da steht wahr­ haftig neben der andern unsere zweite vermißte Kuh. Sie hat den Strick noch am Halse, und die Milch von gestern bringt sie wieder. Man denke sich unsere Freude; wir sind alle wie erstarrt vor Vern nnderung. „Du guter Gott! wie bist du doch so freundlich und barmherzig! Ja wahr­ lich, das Seufzen der Elenden hörest du, Herr! ihr Herz ist gewiß, daß dein Ohr darauf merket." — Wie ist aber das gute Tier zu uns gekommen? Sie ist doch aus einem

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fremden Dorfe und ist hier niemals im Felde gewesen... Wer hat ihr den Rückweg gezeigt? Hat Gott jenem Offi­ zier etwa gesagt, er solle sie durch seine Mannschaften zurücksühren lassen? Wir wissen es nicht. Nur das wissen wir, daß Gottes Güte sie uns wieder geschenkt hat, und wenn auch fast kein Futter mehr in der Scheune blieb, so hat es doch auch daran nicht fehlen dürfen bis zur neuen Ernte.

3.

Das halbe Brot. Wie hart, wie schonungslos die Hand des Siegers uns niedergeworfen hatte, es schlug unterm freniden Waffenrock manch fühlend, mitleidig Herz. Sie mußten es ja tun, und wer, nach solch einer Schlacht, hätte es nicht getan? Und wie mancher tat um unsers Jammers willen dennoch nur halb, was er hätte ganz tun dürfen? Gerade da unten wohnte ein Bäuerlein, nicht reich an irdischen Gütern, wohl aber an unmündigen Kindern. Da war auch Jammer und Elend, als am Abend nach der Schlacht alles drunter und drüber ging und der letzte Laib Brot, im Bette verborgen, jeden Augenblick in Feindes Hände fallen konnte. Der Vater seufzte, die Kinder heulten vor Schrecken, aller Augen waren nach dem letzten Bissen gerichtet, als eben wieder ein Trupp Soldaten das Hof­ tor hereinstürmte. Die Mutter merkte die Gefahr, langt den Laib Brot zum Bett heraus und spricht: „Bärbele, geschwind, da setz dich drauf! deck's mit deinem Röckle zu und steh ja nicht auf, wenn> sie kommen." Gesagt, ge­ tan. Die Soldaten dringen in die Stube, durchstöbern all/ Winkel. Das Kind sitzt unbeweglich auf seinem Schatze. Sie haben ihn nicht gefunden. Es kommen wieder anders durchsuchen alle Betten, Schränke und Kissen, die kleine Hüterin verzückt keine Miene. S'ist nichts mehr da. End­ lich wird aber das Kindlein müde; „Mutter," ruft es, „ich kann jetzt nicht mehr auf dem Brote sitzen!" steht auf

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und verläßt seinen Posten. Was jetzt anfangen? Es kom­ men ja schon wieder Soldaten! „Christian, lauf schnell und versteck ihn in den Taubenschlag!" Und im Handumdrehen ist der köstliche Vorrat unter den Hohlziegeln. — Aber auch dort oben gibt's keine sichere Stätte, denn wo die Bayern nicht auf ebenem Wege hinkommen, da steigen si? die Leiter hinauf. . . . Und so wird auch endlich der Tau­ benschlag erreicht, erbrochen und der letzte Laib Brot in Beschlag genommen. Triumphierend kommen sie herunter, und schon sind viele Hände nach dem Brote ausgestreckt, aber die Kleinen wimmern gar Näglich, und das Bäuer­ lein faßt sich ein Herz zu den fremden Kriegern: „Ihr lieben Herrn, seid doch gut gegen uns! wir haben ja schon zehn Laib gegeben, und das ist alles, was wir haben für unsere Kinder ihr habt ja auch vielleicht Geschwister und Kinder .... laßt uns nur ein wenig, daß wir nicht Hungers sterben. ." — Und die Soldaten sind auch nicht so unmenschlich und ohne Gottesfurcht: sie fühlen auch der Besiegten Weh und Jammer Der, welcher den Fund getan hat, zieht den Säbel, haut den Laib Brot in zwei Teile, überreicht dem zitternden Familienvater die Hälfte und spricht: „Da, Bauer, iß dich satt mit deinen Kindern.... das andere brauch ich für mich und meine Kameraden." Und die armen Leutlein haben sich's unter Loben und Danken trefflich schmecken lassen, und gewiß hat's dem edlen Krieger und seinen Streitgenossen auch trefflich geschmeckt, und der Segen Gottes wird ihn be­ gleitet haben auf seinen Wegen.

Leander (Richard v. Bolkmann). 137. Der Wunschring. I. Ein junger Bauer, mit dem es in der Wirtschaft nicht recht vorwärts gehen wollte, faß auf seinem Pfluge und ruhte einen Augenblick aus, um sich den Schweiß vom An-

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gesichte zu wischen. Da kam eine alte Hexe vorbeigeschlichen und rief ihm zu: „Was plagst du dich und bringst's doch zu nichts? Geh zwei Tage lang gerade aus, bis du an eine große Tanne kommst, die frei im Walde steht und alle anderen Bäume überragt. Wenn du sie umschlägst, ist dein Glück gemacht." Der Bauer ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm sein Beil und machte sich auf den Weg. Nach zwei Tagen fand er die Tanne. Er ging sofort daran, sie zu fällen, und in dem Augenblicke, wo sie umstürzte und mit Gewalt auf den Boden schlug, siel aus ihrem höchsten Wipfel ein Nest mit zwei Eiern heraus. Die Eier rollten auf den Boden und zerbrachen, und wie sie zerbrachen, kam aus dem einen Ei ein junger Adler heraus, und aus dem andern fiel ein kleiner goldener Ring. Der Adler wuchs zusehends, bis er wohl halbe Manneshöhe hatte, schüttelte seine Flügel, als wollte er sie probieren, erhob sich etwas über die Erde und ries dann: „Du hast mich erlöst; nimm zum Dank den Ring, der in dem andern Ei gewesen ist! Es ist ein Wunschring. Wenn du ihn am Finger umdrehst und dabei einen Wunsch aussprichst, wird er alsbald in Erfüllung gehen. Aber es ist nur ein einziger Wunsch im Ring. Ist der getan, so hat der Ring alle weitere Kraft verloren und ist nur wie ein gewöhnlicher Ring. Darum überlege dir wohl, was du dir wünschst, auf daß es dich nicht nachher gereue." Darauf erhob sich der Adler hoch in die Luft, schwebte lange noch in großen Kreisen über dem Haupte des Bauers und schoß dann wie ein Pftil nach Morgen.

II. Der Bauer nahm den Ring, steckte ihn an den Finger und begab sich auf den Heimweg. Als es Abend war, langte er in einer Stadt an; da stand der Goldschmied im Laden und hatte viel köstliche Ringe feil. Da zeigte ihm der Bauer seinen Ring und fragte ihn, was er wohl wert wäre. „Einen

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Pappenstiel!" versetzte der Goldschmied. Da lachte der Bauer laut auf und erzählte ihm, daß es ein Wunschring sei und mehr wert als alle Ringe zusammen, die jener feil­ hielte. Doch der Goldschmied war ein falscher, ränkevoller Mann. Er lud den Bauer ein, über Nacht bei ihm zu bleiben, und sagte: „Einen Mann, wie dich, mit solchem Kleinode, zu beherbergen, bringt Glück; bleibe bei mir!" bewirtete ihn aufs schönste mit Wein und glatten Worten, und als er nachts schlief, zog er ihm unbemerkt den Ring vom Finger und steckte ihm statt dessen einen ganz gleichen, ge­ wöhnlichen Ring an. Am nächsten Morgen konnte es der Goldschmied kaum erwarten, daß der Bauer aufbräche. Er weckte ihn schon in der frühesten Morgenstunde und sprach: „Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Es ist besser, wenn du dich früh aufmachst." Sobald der Bauer fort war, ging er eiligst in seine Stube, s chloß die Läden, damit niemand etwas sähe, riegelte dann auch noch die Türe hinter sich zu, stellte sich mitten in die Stube, drehte den Ring und rief: „Ich will gleich hunderttausend Taler haben!" Kaum hatte er dies aus­ gesprochen, so fing es an, Taler zu regnen, harte, blanke Taler, als wenn es mit Mulden gösse, und die Taler schlugen ihm auf Kopf, Schultern und Arme. Er fing an kläglich zu schreien und wollte zur Türe springen, doch ehe er sie erreichen und aufiiegeln konnte, stürzte er am ganzen Leibe blutend zu Boden. Aber das Talerregnen nahm kein Ende, und bald brach von der Last die Diele zusammen, und der Goldschmied mitsamt dem Gelde stürzte in den tiefen Keller. Darauf regnete es immer weiter, bis die hunderttausend voll waren, und zuletzt lag der Goldschmied tot im Keller und auf ihm das viele Geld. Von dem Lärm kamen die Nachbarn herbeigeeilt, und als sie den Goldschmied tot unter dem Gelde liegen fanden, sprachen sie: „Es ist doch ein großes Unglück, wenn der Segen so knüppeldick kommt!" Darauf kamen auch die Erben und teilten.

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III. Unterdes ging der Bauer vergnügt nach Hause und zeigte seiner Frau den Ring. „Nun kann es uns gar nicht fehlen, liebe Frau," sprach er, „unser Glück ist gemacht, wir wollen uns nun recht überlegen, was wir uns wünschen wollen!" Doch die Frau wußte gleich guten Rat. „Was meinst du," sagte sie, „wenn wir uns noch etwas Acker wünschten? Wir haben gar so wenig. Da reicht so ein Zwickel gerade zwischen unsere Äcker hinein; den wollen wir uns wünschen!" — „Das wäre der Mühe wert!" erwiderte der Mann. „Wenn wir ein Jahr lang tüchtig arbeiten und etwas Glück haben, können wir ihn uns vielleicht kaufen." Darauf arbeiteten Mann und Frau ein Jahr lang mit aller Anstrengung, und bei der Ernte hatte es noch nie so ge­ schüttet wie diesesmal, so daß sie sich den Zwickel kaufen konnten und noch ein Stück Geld übrig blieb. „Siehst du!" sagte der Mann, „wir haben den Zwickel, und der Wunsch ist immer noch frei." Da meinte die Frau, es wäre wohl gut, wenn sie sich noch eine Kuh wünschten und ein Pferd dazu. „Frau," entgegnete abermals der Mann, indem er mit dem übriggebliebenen Gelde in der Hosentasche klapperte, „was wollen wir wegen solch einer Lumperei unsern Wunsch vergeben? Die Kuh und das Pferd kriegen wir auch so." Und richtig, nach abermals einem Jahre waren die Kuh und das Pferd reichlich verdient. Da rieb sich der Mann wergnügt die Hände und sagte: „Wieder ein Jahr den Wunsch erspart und doch alles bekommen, was man sich wünschte. Was wir für ein Glück haben!" Doch die Frau redete ihrem Manne ernsthaft zu, endlich einmal an den Wunsch zu gehen. „Ich kenne dich gar nicht wieder," versetzte sie ärgerlich. „Früher hast du immer geklagt und gebarmt und dir alles Mögliche gewünscht, und jetzt, wo du's haben kannst, wie tm's willst, plagst und schindest du dich, bist mit allem zu­ frieden und läßt die schönsten Jahre vergehen. König, Kaiser, -Graf, ein großer, dicker Bauer könntest du sein, alle Truhen woll Geld haben — und kannst dich nicht entschließen, was

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du wählen willst." — „Laß doch dein ewiges Drängen und Treiben!" erwiderte der Bauer, „wir sind beide noch jung, und das Leben ist lang. Ein Wunsch ist nur in dem Ringe, und der ist bald vertan. Wer weiß, was uns noch einmal zustößt, wo wir den Ring brauchen! Fehlt es uns denn an etwas? Sind wir nicht, seit wir den Ring haben^ schon so herauf gekommen, daß sich alle Welt wundert? Also sei verständig. Du kannst dir ja mittlerweile überlegen, was wir uns wünschen könnten." IV.

Damit hatte die Sache vorläufig ein Ende. Und es war wirklich, als wenn mit dem Ringe der volle Segen ins Haus gekommen wäre, denn Scheuern und Kammern wurden von Jahr zu Jahr voller und voller, und nach einer längeren Reihe von Jahren war aus dem kleinen, armen Bauer ein großer, dicker Bauer geworden, der den Tag über mit den Knechten schaffte und arbeitete, als wollte er die ganze Welt verdienen, nach der Vesper aber behäbig und zufrieden vor der Haustüre saß und sich von den Leuten guten Abend wünschen ließ. So verging Jahr um Jahr. Dann und wann, wenn sie ganz allein waren und niemand es hörte, erinnerte zwar die Frau ihren Mann immer noch an den Ring und machte ihm allerhand Vorschläge. Da er aber jedesmal erwiderte, es habe noch vollauf Zeit, und das Beste falle einem stets zuletzt ein, so tat sie es immer seltener, und zuletzt kam es kaunr noch vor, daß auch nur von dem Ringe gesprochen wurde. Zwar der Bauer selbst drehte den Ring täglich wohl zwanzig­ mal am Finger um und besah sich ihn, aber er hütete sich, einen Wunsch dabei auszusprechen. Und dreißig und vierzig Jahre vergingen, und der Bauer und seine Frau waren alt und schneeweiß geworden, der Wunsch aber war immer noch nicht getan. Da erwies ihnen Gott eine Gnade und ließ sic beide in einer Nacht selig sterben. Kinder und Kindeskinder standen um ihre beiden Särge

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und weinten, und als eins von ihnen den Ring abziehen und aufheben wollte, sagte der älteste Sohn: „Laßt den Vater seinen Ring mit ins Grab nehmen. Er hat sein Lebtag seine Heimlichkeit mit ihm gehabt. Es ist wohl ein liebes Andenken. Und die Mutter besah sich den Ring auch so ost; am Ende hat sie ihn dem Vater in ihren jungen Tagen geschenkt."

So wurde denn der alte Bauer mit dem Ringe begraben, der ein Wunschring sein sollte und keiner war und doch so viel Glück ins Haus gebracht hatte, als ein Mensch sich nur wünschen kann. Denn es ist eine eigene Sache mit dem, was richtig und was falsch ist; und schlecht Ding in guter Hand ist immer noch sehr viel mehr wert, wie gut Ding in schlechter.

Hermann Löns. 138. Die Zwergmaus. Quer durch die wohlbestellte Feldmark, die die Tal­ mulde zwischen den waldgekrönten Hügeln ausfüllt, fließt ein Bach. Hier und da beschattet ein Baum seine klare Flut, und wo die Ufer steile Wände haben, bollwerkt dich­ tes Buschwerk, von Hopfen überklettert, von Winden durch­ wirkt, und bietet vielerlei Getier Unterschlupf und Schutz. Grasmücke und Sumpfrohrsänger, Laubvogel und Gold­ ammer, Hänfling und Zaunkönig bauen dort ihre Nester.

Mitten in dem Gewirre, das die Stengel des Baldrians, die Halme des Bandgrases, die Stiele von Klette und Distel und das Rankenwerk von Hopfen, Klebkraut und Winde bilden, hängt ein Nestchen von Mannesfaustgröße, eirund in der Form, mit dem Schlupfloche seitwärts, locker aus Grasblättern gewirkt und leicht an Halmen und Stengeln befestigt. Es war kein Vogel, der diese luftige Schaukel webte, die Zwergmaus flocht es sich als Nachtherberge und Kin-

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derwiege. Im Mai, als das Ufergestrüpp sich belaubt hatte und die Stauden ihr Blattwerk entfalteten, kletterte eine winzige, fuchsrote Maus eifrig in dem Gewirr umher, flocht hier zwei Grasblätter zusammen, drehte dort ein anderes um einen Halm, zog noch welche heran, kletterte, das Grasblatt im Mäulchen haltend, einige Male um einen Stengel, bis das Blatt fest gewickelt war, zog und zerrte, bis ein Halm knickte, ein Stengel sich senkte, und schließlich war das Gebälk des Nestes fertig. Dann ver­ schwand das Mäuschen, erschien mit einem welken Gras­ blatt, fügte es dem Nestgerüste ein und trieb das so lange, bis das Nest fertig war. Zum Beschlusse polsterte es die Höhle mit fein zerschlitzten, watteweichen Hälmchen aus. Nicht den ganzen Tag arbeitete es an dem Kunst­ werke herum, meist in der Morgenfrische und in der Abend­ kühle, wenn die Blätter geschmeidig waren. Unter Mittag war die Maus verschwunden. In dem Stamme der alten Kopfweide war ein enger Spalt, der sich zu einer kleinen Höhle erweiterte; dert verschlief sie die heißen Stunden. Nachmittags aber und späterhin kletterte sie von Halm zu Halm, von Stengel zu Stengel, hier einen Käfer greifend und ihn mit den scharfen Zähnchen zerraspelnd, dort ein Räupchen hinuntermümmelnd oder ein keimendes Samen­ korn zernagend. Die Graseule, die aus der Puppe schliefte, wurde als fetter Bissen mitgenommen, und das Heupferd, das ihr mit jähem Sprunge vor das ewig schnuppernde Näschen fiel, wurde gefaßt und verschwand in den hastig arbeitenden Nagezähnen. Eines Tages aber lagen in dem Nestchen acht winzige, nackte, rosenrote, blinde, mopsköpfige Mäuschen, die fein und dünn zirpten. Die Mutter wurde nun noch gieriger und frecher. Sie biß die viel größere Brandmaus keck von der erbeuteten Wasserjungfer ab, fing dem Frosch die Motte vor dem Rachen fort, plünderte das Hummelnest und meuchelte den jungen Hänfling, der aus dem Neste gefallen war, trotz des Gezeters der Alten. Aber sie konnte

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fressen, soviel sie wollte, dicker wurde sie nicht, denn acht Junge wollten gestillt sein. Sie gediehen aber auch prächtig, die Kleinen, und bald Netterten sie am Neste herum. Der Jüngste fiel da­ bei gerade dem dicken grünen Frosch auf die Nase und verschwand in dessen großem, rosenrotem Rachen. Später­ hin, als die Kleinen sich im Weizen erlustigten, erwischte das Käuzchen eins davon und brachte es seinen wolligen Jungen nach der hohlen Kopfweide. Ein drittes erlitt einen schändlichen Martertod, denn her Dorndreher griff es und spießte es trotz seines Gequiekes auf den Schlehenbusch, wo schon sechs Mistkäfer und zwei blanke Laufkäfer zappel­ ten. Das vierte fing der Igel. Die anderen vier aber wuchsen und gediehen, und als der Mohn im Felde sein rotes Banner entrollte, da waren die jungen Zwergmäuse schon großjährig, während ihre Mutter bald darauf einem zweiten Gehecke das Leben gab. Nur fünf Junge waren es dieses Mal. Das eine turnte so unvorsichtig auf dem Stau­ werke entlang, daß die alte Forelle es sich langte; ein anderes meuchelte nächtlicherweile der Maulwurf, als er im Klee Raupen suchte; ein drittes hackte die Elster tot, und das vorletzte fiel der Krähe zum Opfer. Das letzte aber fing ein Mann und nahm es mit nach seinem Hause, wo er es zu einer wunderhübschen halbwüchsigen Brand­ maus setzte. Als er am anderen Morgen seine Gefangenen füttern wollte, saß die Zwergmaus dick und fett in der Ecke, und die Brandmaus war zum Drittel aufgefressen. Die anderen Zwergmäuse draußen zwischen Bach und Feld lebten gute Tage. Um Nahrung brauchten sie keine Sorge zu haben; Hafer und Gerste reiften, Weizen und Roggen bekamen Milch in die Körner, und überall krimmelte und wimmelte es von fettem Geziefer. Als dann die Sense im Felde klang, war es zwar nicht mehr so herrlich, dort zu leben, denn zu schön hatte es sich in

den gelben Halmen geturnt, aber zu knabbern gab es immer noch reichlich, denn das Feld war bestreut mit Kör-

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nern, und trotz der Feldmäuse blieb für die Zwergmäuse noch genügend davon übrig, und im Uferdickicht war jetzt ein Überfluß von Früchten und Sämereien jeglicher Art. Eines Tages aber brach das Unheil herein. Es regnete und regnete oben in den Bergen, und über Nacht schwoll der Bach, ließ seine Ufer unter sich, stieg hoch in dem Gestrüpp empor und nahm viel Feld ein. Da ging es den Zwergmäusen schlimm. Biele riß die Flut fort, und die Forellen schluckten, bis sie nicht mehr konnten. Die Mäuse, die sich an das Land retteten, griffen der Storch und die Krähe, die Eule und der Sperber, und nur die, die rechtzeitig in die Spitzen der Büsche und in die Kronen der Kopfweiden geklettert waren, kamen mit dem Leben davon, wenn sie nicht der Sturm in das Wasser warf oder die Kälte ihnen den Tod brachte. Sowie das Hochwasser ablief, flohen alle Zwergmäuse das gefährliche Ufer. Viele eilten nach der großen Dieme,, andere suchten in der Feldscheune Unterkunft, wo es von Brand- und Waldmäusen wimmelte und auch allerlei Spitz­ mäuse umherhuschten, wo aber auch Iltis und Igel hausten und die Schleiereule allabendlich umherflog. Sonst war es dort aber auszuhalten. Hafer und Roggen lag dort in Garben, Rübensaat und Klee, und vielerlei Ungeziefer kroch in den Winkeln herum oder lag halberstarrt im Mulm. Dort verlebten die Zwergmäuse den Winter, nicht so an­ genehm wie den Sommer, aber doch ohne Nahrungssorge. Manche von ihnen griff das Raubgetier, andere erlagen der Mäusepest, ein großer Bestand hielt sich noch bis zu jenem schrecklichen Tage im Vorfrühling, der den meisten den Tod brachte und die anderen in das rauhe Märzwetter hineintrieb. Ein gewaltiger Wagen rumpelte heran, grobe Stimmen wurden laut, alle Türen flogen auf, kalte Luft zog durch die Garben. Immer lauter wurde es in der Scheune, immer kälter zog es in die Verstecke. Dann ging ein Keuchen, Brummen und Summen los, ein Klappern und Rattern. Und mit jeder Stunde wurde es weniger

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geheuer. Hierhin und dahin flüchteten die Mäuse, um bei Hallo und Geschrei ihr Leben unter genagelten Stiefeln, schweren Holzpantoffeln und Stockstreichen zu lassen oder unter den Zähnen der Hunde, die wie toll hin- und her­ liefen, um alles, was vier Beine und einen Schwanz hatte, totzubeißen.

Als dann die Garben alle leer gedroschen waren und die Scheune blank war, lagen hunderte von erschlagenen Mäusen im nassen Rasen, Brandmäuse, Waldmäuse, einige Hausmäuse, Zwergmäuse, Haus- und Feldspitzmäuse, auch einige Wanderraten und sogar ein halbes Dutzend Feld­ mäuse, die sich vor dem letzten Regen in die Scheune ge­ flüchtet hatten; die Krähen konnten eine Woche lang fett leben, und der Fuchs kam jeden Abend hier herunter ge­ schlichen. Im Ufergestrüppe des Baches, in der Feldhecke, in der Fasanerie und wo sonst Buschwerk war, fristeten die ausgetriebenen Mäuse mühsam ihr bißchen Leben, bis der Mai ihnen wieder bessere Tage brachte und sie sich daran machten, ihre Nester zu bauen und dafür zu sorgen, daß ihr Geschlecht erhalten bleibe.

139. Der Kantor. Der Fischer und seine Frau sitzen vor der Tür, sehen das Abendrot hinter dem See verschwinden und das Wasser silbern aufleuchten, wenn ein großer Fisch sich wirft, und hören dem Geschwätz der Rohrsänger und dem Geplärre der Frösche zu, das aus den Schilfbuchten erschallt. „Der Kantor fehlt noch," sagt die Frau und sieht lächelnd ihren Mann an, und der lächelt auch und raucht langsamer; denn ein Abend, an dem der Kantor nicht singt, ist nur ein halber Abend für Fischer Klawitter; erst wenn der Kantor loslegt, dann schmunzelt der Fischer be­ häbig, und noch im Bette ruft er zu seiner Frau hinüber: „Hör bloß, wie der Kantor prahlt!"

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Der Kantor ist der größte Frosch in der ganzen Bucht, ja vielleicht sogar im ganzen See. Er hat seinen Platz bei der Anlegestelle für die Kähne und sitzt entweder auf dem Ufersande unter den Schlehdornzweigen, die der Fischer dort eingesteckt hat, um die Katzen von den Fischkästen ab­ zuhalten, oder er liegt dick und breit auf der dichten, von vielen Hunderten von silberweißen Blüten bedeckten Bank von Wasserhahnensuß, die die Wellen hin und her schieben, und läßt sich von der Sonne bescheinen. Der Kantor ist nicht nur der größte, sondern auch der schönste Frosch in der Bucht. Er ist knallgrün und hat über dem Rücken zwei breite, schwarzbraune Binden, zwischen denen von der Nase bis zu den Keulen eine gelb­ grüne, in der Mitte int Zickzact gebogene Binde herabläuft. Wenn er so daliegt, sieht er ganz ungeheuer aus, und wenn er seine goldenen Glotzaugen aufreißt und die Kin­ der ansieht, die ihn voller Ehrfurcht, aber auch mit etwas Angst betrachten, dann wundern sie sich, daß er kein gol­ denes Krönchen auf dem Kopfe trägt; denn daß er kein gewöhnlicher Frosch ist, sondern ein verzauberter Prinz, das steht für sie fest, seitdem ihnen die Großmutter das Märchen vom Froschkönige erzählt hat. Anna, das drittjüngste Mädchen des Fischers, hat ein­ mal versucht, den Kantor zu fangen; denn sie wollte ihm, wie es im Märchen gelehrt wird, einen Kuß geben, um ihn zu erlösen, und dann wollte sie Prinzessin werden und nur noch seidene Kleider anziehen und nicht mehr in die Schule gehen und die Pellkartoffeln von goldenen Tellern essen. Sie pflückte sich einen ellenlangen Binsenhalm ab, riß die Spitze und die meisten Blüten herunter und schlich mit ihren nackten Füßen dahin, wo der Kantor saß. Als der Frosch das Kind kommen hörte, drehte er sich sofort nach ihm um und sah es an; denn er war gewohnt, daß

die Kinder des Fischers ihm Brummfliegen, Käfer und Raupen hinwarfen. Anna bekam einen tüchtigen Schreck, Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

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als der Kantor sie mit seinen großen Augen anglotzte, aber dann mußte sie lachen; denn er wischte sich eine sreche Fliege, die sich ihm auf die Nase gesetzt hatte, mit dem linken Vorderfuß so ärgerlich weg, gerade wie der Groß­ vater, wenn ihn die Fliegen beim Schlafen stören. Das Mädchen ließ die Blüte der Binse vor dem Maule des Frosches auf und ab tanzen, aber dann schrie sie auf und sprang zurück; denn der Kantor riß sein gewaltiges, rosenrotes Maul auf und schlug seine lange rosenrote Zunge nach der Binsenblüte, weil er sie für eine Fliege hielt. Weil das Kind in seinem Schrecken die Binse zurückgezogen hatte, machte er einen furchtbaren Satz und sprang bis dicht vor die Füße des Mädchens; das schrie auf und niachte, daß es fortkam. Aber Anna hatte sich nun einmal vorgenommen, den Frosch zu erlösen und Prinzessin zu werden, und so ging sie nach einer Weile wieder hin, lockte den Kantor mit der Binsenblüte, und diesmal schnappte er sofort zu und hielt die Blüte so fest, daß Klein-Anna ihn hoch in die Luft schwenken und in ihrer Schürze auf­ fangen konnte. Da tobte er nun ganz mächtig herum und hampelte und strampelte so gewaltig, daß das Mädchen es mit der Hellen Angst bekam und die Schürzenzipfel los­ ließ. Da sagte der Kantor: „Kiekst!" und plumpste in das Wasser, daß es hoch aufspritzte. Seitdem war es mit der Freundschaft zwischen ihm und den Kindern aus; er hatte es zu sehr übelgenommen, daß er übertölpelt war. Die wilden Enten klingeln über den See, der Hau­ bentaucher quarrt dumpf, der Rohrsänger singt lauter, und Stern auf Stern taucht am Himmel auf. „Wo er bloß bleibt?" meint der Fischer und schüttelt den Kopf. Es wird dunkler, das Abendrot ist längst verschwunden, die Mücken singen, die Maikäfer brummen, und rund um den See geht das Gequarre der Frösche, das Geschnarre der Kreuzkröten, und in den Wiesengräben läuten die Unken. Schon röchelt die Schleiereule, schon heult der Kauz drüben im Forste, schon tönt der dumpfe Ruf der Rohrdommel

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aus dem Schilfe, und noch immer ist der Kantor nicht zu hören. Aber jetzt legt er los. Der Fischer lacht und hebt den Zeigefinger. „Paß auf, Mutter, das ist er!" Ein hartes, rauhes „breck, kreck, kreck" ertönt, hinterher er­ schallt ein dumpfes „mork, quert, moark, quoark", und jetzt kommt die Hauptsache: ein lautes Lachen erschallt, so breit, so behäbig, daß der Fischer mitlachen muß und seine Frau auch, und jetzt ist er zufrieden und sagt: „Mutter, nun können wir ruhig schlafen gehen." Aber als er schon Jacke und Weste ausgezogen hat, muß.er noch einmal vor die Tür treten und zuhören, wie der Kantor lacht: „Hahaha," geht es, „hahahaha, hahahahahaha, hihahaha, hohihahahaha, hihohohohoha, Hai, hia, hiahahahaha," und es ist, als hörte man die Frösche, die Kröten und die Unken nicht mehr vor dem lauten Gesänge des Kantors, des Vorsängers der Frösche. Ja, der Kantor, das ist ein Kerl! Ein Hauptkerl ist er. Er ist der Methusalem der Frösche im See, ist der Altvater, der Vorsteher; aber er ist auch der Schrecken der Wasserjung­ fern, das Entsetzen der Jungfische, der Mäuse blasse Angst und der jungen Rohrsänger Verderben. Wenn er sich an Mücken und Fliegen halten wollte, wie die anderen Frösche, dann könnte er schnappen und schnappen, bis er die Maulsperre bekäme, aber satt würde er darum doch nicht. Darum hält er sich an derbere Kost. Da kommt ein Maikäfer ange­ brummt. Einen Riesensatz macht • der Kantor, und ver­ schwunden ist der Käfer. Ein spannenbreiter Abend­ salter rüttelt über den weißen Trichterblumen der Ufer­ winde; ehe er sich retten kann, hat ihn die rosenrote Zunge des Frosches schon festgeleimt und zieht ihn in den Rachen hinein. Im Weidengebüsch turnt die Zwergmaus umher. Vorsichtig dreht der große Frosch sich um und wartet, bis das rote Mäuschen in Sprungnähe ist; dann ein Sprung und ein Quietschen, und aus ist es mit dem Turnen und dem Nesterbauen. Ja, der Kantor, das ist ein ganz Schlimmer! Wenn

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die Ukleis laichen, dann ist sein Schweineschlachten. Dann wartet er, bis die laichdummen Fische an den flachen Stellen sind, und dann schnappt er zu. Da hilft kein Schwänzeln und Sträuben; sie müssen hinunter. Ist ein Uklei zu lang, das schadet nichts; der Frosch läßt ruhig den Schwanz aus seinem Maule herausgucken und wartet, bis er dem verdauten Vorderleib nachrutscht, oder vielmehr er wartet gar nicht; denn wenn er noch Hunger hat, fängt er sich noch einen Fisch oder sogar zwei, und Fischer Klawitter wußte gar nicht, was er sagen sollte, als er seinen Freund eines Tages aus der Waschbalge sitzen sah; drei littet» schwänze guckten dem Frosche zum Halse heraus. „Mensch," sagte der Fischer, „wenn du so beibteibst, dann kann ich bald etwas anderes werden." Und er setzte hinzu: „Na, Ukleis gibt's ja mehr als genug." Zehn Jahre kannte der Fischer den Kantor schon, so glaubte er wenigstens; denn immer hatte an der Anlege­ stelle ein Riesenfrosch gesessen, an dem besten Platze, ein­ mal, weil da die Schlehdornen Schutz vor dem Milan und dem Rohrweih boten, zweitens, weil dort der schöne Sand­ strand war, an dem die Ukleis so gern laichten, und dann, weil das Schilf und das Rohr dort dichter standen als sonst am See, und schließlich, weil dort das meiste Unge­ ziefer flog; denn am Ufer wuchsen hohe Pappeln und breite Weiden, die von Gewürm wimmelten. Da, wo das Schilf aufhörte und das Rohr, da, wo die Pferdebinsen anfingen, wagte sich der Kantor nicht hin; denn da war es nicht geheuer. Manchmal, wenn da eine junge Ente schwamm oder eine Schwalbe trank, dann platschte es, und fort war die Ente oder die Schwalbe. Das schöne Wetter hörte auf; der Juni kam mit Regen und Schafkälte. Acht Tage lang mußte der Kantor hungern, daß ihm die Seiten zusammenfielen; denn noch nicht einmal die elendeste Mücke flog. Vor Verzweiflung fraß er ein Fröschchen seiner eigenen Art, und er hätte gern mehr gefressen, aber er sah keins. So lag er denn

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mürrisch im Schilfe und wurde vor Mißmut immer dunk­ ler und unansehnlicher. Aus einmal kam Leben in ihn; seine zusammengesunkenen Augen wurden dick und rund, er richtete sich auf und glotzte scharf vor sich hin. Da krabbelte etwas im Wasser umher, eine dicke Fliege oder ein Käfer, aber bestimmt etwas, was gut zu essen war. Ganz vorsichtig schob sich der Kantor aus dem Schilfe, tauchte unter und kam genau vor dem Brachkäfer, der zwischen den hohen, dunklen Binsen im Wasser zappelte, zum Vorschein, und schnell schnappte er ihn hinunter. Da aber fiel ihm ein, daß es hier nicht geheuer sei, und schnell tauchte er wieder unter und schwamm gerade in den Rachen des uralten Hechtes hinein, und ehe er noch recht wußte, wie ihm geschah, war es aus mit ihm. Als das Wetter sich aufbesserte, lauerte der Fischer Abend für Abend auf den Kantor; er sah und hörte aber nichts mehr von ihm. Eines Abends jedoch kam von der Anlegestelle ein lau­ tes Quarren und Singen, und als der Fischer am anderen Morgen nachsah, saß unter den Dornen ein Frosch, fast eben so groß wie der Kantor, nur ganz grün mit schwarzen Tupfen, und der Fischer nahm den Hut ab und sagte: „Mein Name ist Klawitter! Sie sind wohl der neue Kan­ tor? Mit Ihrem Herrn Vorgänger war ich gut bekannt." Klein-Anna aber war traurig; sie glaubte, eins von den feinen, jungen Mädchen aus der Stadt, die auf dem Gute zu Besuch gewesen waren, habe den Kantor erlöst und könne nun seidene Kleider tragen und Pellkartoffeln von goldenen Tellern essen, und sie nahm sich fest vor, den neuen Kantor zu fangen und ihm einen Kuß zu geben. Sie kam aber nicht dazu.

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Mayhall.

William Marshall. 140. Anschluß der Bögel an die Kultur. Die Neigung nicht weniger Vögel, sich an den Men­ schen und seine Kultur anzuschließen, ist wunderbar und scheint eine ganze Reihe von Ursachen zu haben, die zum Teil im Vogel, zum Teil aber auch im Menschen liegen. Einmal folgen Vögel der menschlichen Kultur, welche Wäl­ der lichtet, wie z. B. in den ungeheuren Waldungen der mittleren und nördlichen Vereinigten Staaten das regste Bogelleben in den Umgebungen der Eisenbahnstationen, der Faktoreien an den großen Seen, kurz überall da herrscht, wo die Kultur anfängt Fuß zu fassen. Dem Getreidebau, der Viehzucht folgen Vögel, namentlich aber auch, was uns hier am meisten interessiert, den menschlichen Bauwerken, die ihnen günstige Niststätten bieten, zumal wenn ihnen die Bevölkerung hilfreich und gastfrei entgegen kommt, und so haben sich zwischen Mensch und Vogel vielfach innige Beziehungen entwickelt. Die Schwalbe gilt fast überall, mit Ausnahme Italiens, wo ein pietätloses Volk kein Herz für die Tierwelt hat, als ein heiliger Vogel, und ich möchte es keinem raten, den auf dem Dachfirst des hol­ ländischen Bauernhauses nistenden Storch zu nahe treten, er könnte bei der ländlichen Bevölkerung ganz bedenkliche Erfahrungen auf dem Gebiete der Lynchjustiz machen. In meiner lieben Heimat Thüringen ist oder war wenigstens noch in meiner Jugend das Hausrotschwänzchen ein kleiner Wohnungsschmarotzer, der sich der allgemeinen Zuneigung erfreute, obwohl es für die Bienenzucht ein nichts weniger als vorteilhafter Gast ist. Denn während der Mensch in dieses gegenseitige Verhältnis einen poetischen Zug hineingebracht hat, sucht der Bogel dabei nur seinen eigenen Vorteil, der allerdings auch für die Menschen wieder Nutzen im Gefolge haben kann, aber durchaus nicht immer hat. So ist die Schwalbe, die so gern ein zutraulicher Nistgast

Marshall.

Müllenhofs.

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in den Ställen ist, wo sie an den sich üppig entwickelnden Insekten einen reichgedeckten Tisch findet, dnrch die Ver­ tilgung dieses Ungeziesers direkt unserm Vieh und da­ durch indirekt auch uns von großem Nutzen. Hauptsäch­ lich ist die Rauch- oder Stachelschwalbe ein ttetner Woh­

nungsgenosse der Menschen von Norwegen bis Java und China, während die Hausschwalbe trotz ihres Namens eine größere Selbständigkeit besitzt; aus den Balearen, in Grie­ chenland und, was nicht zu verwundern, auch in Italien ist sie als Hausschwalbe ganz unbekannt, dort nistet sie vom Menschen entfernt in der felsigen Einsamkeit der Ge­ birge, und auch in Deutschland gibt es solche unabhängige Kolonien der Hausschwalbe, so an der östlichen Wand der 5000 Fuß hohen Ebenalp und an den Kreidefelsen der Halbinsel Jasmund auf Rügen. Aber immerhin bleibt die Vorliebe der Schwalben für die Gesellschaft der Menschen auffallend, und sie findet sich nicht nur bei unsern Arten, sondern auch sonst vielfach auf Erden, so in Nordamerika, wo die Purpurschwalbe als gern gesehener Gast beim Far­ mer wohnt und eine andere, hierundo lunifrons, seit dem Jahre 1825 zu der Ansicht gekommen ist, daß unter den Tachkasten der menschlichen Wohnungen nicht schlecht Hausen sei, wobei sie noch in der Art ihres Nestbaues int Lauf der Zeiten wesentliche Veränderungen hat eintreten

lassen.

Karl Müllenhoff. 141. Das Licht der treuen Schwester. An dem Ufer einer Hallig wohnte einsam in einer Hütte eine Jungfrau. Vater und Mutter waren gestorben, und der Bruder war fern auf der See. Mit Sehnsucht int Herzen ge­ dachte sie der Toten und des Abwesenden und harrte seiner Wiederkehr. Als der Bruder Abschied nahm, hatte sie ihm versprochen, allnächtlich eine Lampe ans Fenster zu setzen.

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Müllenhofs. Ratzel.

damit das Licht, weithin über die See schimmernd, wenn er heimkehre, ihm sage, daß seine Schwester Elka noch lebe und seiner warte. Was sie versprochen, das hielt sie. An jedem Abend stellte sie die Lampe ans Fenster und schaute Tag und Nacht auf die See hinaus, ob nicht der Bruder käme. Es vergingen Monde, es vergingen Jahre, und noch immer kam der Bruder nicht. Elka ward zur Greisin. Immer saß sie noch am Fenster und schaute hinaus, und an jedem Abend stellte sie die Lampe aus und wartete. Endlich war es bei ihr dunkel und das gewohnte Licht erloschen. Da riefen die Nachbarn einander zu: „Der Bruder ist gekommen!" und eilten ins Haus der Schwester. Da saß sie da, tot und starr ans Fenster gelehnt, als wenn sie noch hinausblickte, und neben ihr stand die erloschene Lampe.

Friedrich Ratzel. 142. Wanderung im Nnftrnttal. Sicherlich kann man keine deutschere Landschaft fin­ den als hier, wo Saale und Unstrut zusammentreffen, wo man ja auch räumlich so recht im Herzen von Deutschland ist. Bon allen Höhen schaut der Wald herein, der Rest altgermanischen Urwalds; in allen Tälern grünen und blühen die Felder und Gärten der Urenkel der alten Thü­ ringer, die vor bald anderthalb Jahrtausenden hier zu roden begonnen haben. Die Dörfer im Wiesental und die Häuschen an den rebenbepflanzten Hängen rechts und links von der Unstrut sind sauber gehalten, die Wege ge­ pflastert; da und dort sieht man einen Neubau oder Um­ bau im Werk. Entsprechend sind auch die Feldwege in Ordnung, und daß sie fast überall von Kirschbäumen be­ gleitet werden, erhöht den Eindruck einer sorgsamen Wirt­ schaft. Es ist die Frucht einer Kulturarbeit von vielen Jahrhunderten und der ungestörten Friedensarbeit von fast

drei Generationen, die von einem zahlreichen, fleißigen und genügsamen Volk verrichtet worden ist. Wie anders sah es hier aus, als die Kanonen von Jena herüberdonner­ ten, und als sich über die laubwaldbegrünten sanften Höhen über Freyburg die von der Leipziger Schlacht her flüch­ tenden Franzosen ins Unstruttal ergossen! Das Unstrut­ tal versank nach den Kriegsstürmen in eine Ruhe, die noch tiefer war als der Schlummer andrer deutscher Landschaf­ ten, und es hat von diesem Ruhestand mehr behalten als sie. Die Eisenbahn, die es durchzieht, macht kein großes Geräusch, die saubere Landstraße ist nur mäßig belebt. Wenn du von Naumburg kommst und den Bergweg ins Unstruttal wählst, statt die längere Landstraße über Frey­ burg, und auf dem schattigen Waldpfad gegen Balgstädt hin­ untersteigst, liegt die Welt so wohlig eng umschlossen vor dir, daß du meinst, diesen grünen Winkel nie mehr ver­ lassen zu sollen. Du siehst über die rotbraunen Dächer hinweg in den Einschnitt des Unstruttals zwischen den gradlinigen, dachfirstartigen Höhen des Muschelkalks auf der einen und den weichern Hügeln des Keupers auf der an­ deren Seite. Es ist ein echt thüringisches Bild, das bei Jena und in der Koburger Gegend geradeso wiederkehrt. Dazu die Erinnerung an das türmereiche Naumburg, das man zurückblickend in den baumreichen Saaleauen ver­ schwinden sah. Wir sind hier mitten im Thüringerland, die Un­ strut verdient ja mehr als die Saale der eigentliche thü­ ringische Fluß zu heißen. In ihren grünen Wiesen, die, rechts und links von Getreidefeldern umgeben, sanft zu Waldhügeln anschwellen, geht sie friedlich dahin. Nur die Fährstellen, Die den Poeten gefallen, haben leicht etwas Unfertiges, Zerrüttetes. Der rasige Ufer­ saum ist zerrissen, in den Fluß hineingetreten. Ein paar Steinblöcke und ein Brett, das sich nächstens spalten wird, vermitteln den Übergang zum Wasser. Eine altersgraue Bank unter einer knorrigen Weide dient als Warteplatz.

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Ratzel.

Müde Menschen ziehen vor, sich daneben in den Schatten der Weide zu betten. Ein alter Mann ruht hier im Grase, das Gesicht durch den Hut gegen die Sonnenstrahlen ge­ schützt, ein kleines Mädchen neben ihm, ein weißes Tuch über dem Gesicht, ein kleines Bündel liegt ihnen zu Häup­ ten, keines Diebes gewärtig. Nichts stört ihren Schlaf.

Auch ufer von nach

nicht der lange Kahn, der jetzt zwischen dem Rasen­ die Unstrut unhörbar herabgleitet, schweigend gelenkt zwei Bewohnern des alten Memlebens, die Steine Naumburg führen. Seltsam ist der Eindruck des

langen Fahrzeuges auf dem schmalen, stillen Wasser, an dem Gras und Blüten bis zum Rande stehen. Der Wald der Thüringer Vorberge ist ebenso reich und mannigfaltig, wie der des eigentlichen „Waldes", des Gebirges, einförmig ist. Er ist ein heiterer Wald, in dem ich den Charakter der Thüringer eher wiederfinde als in den dunkeln Fichtenhainen von Eisenach oder am Insels­ berg. Hier herrschen Eichen und Buchen vor, man sieht aber auch Linden mit herrlichem Blätterdom, als stünden sie vor einer Dorfkirche und nicht unter dem ganzen Volk von Bäumen. Das Unterholz sind Haselnüsse, Maßholder mit weißer Dolde und Weißdorn. An den Rändern steht blütenreich der Weißdorn. Maiblumen und Vogelgesang nehme ich als liebes Andenken aus dem heitern Walde mit. Solcher Wald begleitet die Unstrut auf beiden Sei­ ten des Tals. An wenig Stellen ist er gelichtet, und dort ziehen über die runden Hügel breite Getreidefelder weg, die vor dem Frühsommerwind grün und silbern fließen und wogen. Wenn auch waldreich, ist doch das Land ein Garten. Es gleicht einem Garten, den eine breite lebendige

Hecke dunkelgrün einfaßt.

Rosegger.

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Peter Rosegger. 143. Das Waldspinnlein. Als ich im sommerlichen Walde auf dem ausgebreiteten Wollentuche dalag und meinem lieben Gott Artigkeiten sagte von wegen seiner schönen, vortrefflichen Schöpfung, da lief plötzlich etwas sehr rasch über mein Bein herauf. Meine Hand schnellte hin, war aber nichts mehr da, und auf dem Wollentuche lag ein graubraunes Kügelchen. Ich mußte sehr scharf und genau darauf Hinblicken, bis ich sah, daß es ein Tier war, welches sich fest zusammenkauerte und seine Beine so nahe an den Leib zog, daß sie von diesem kaum zu unterscheiden waren. Ich rührte es an, es bewegte sich nicht, ich suchte es in Bewegung zu bringen, es kollerte ein wenig über das Tuch hin und blieb liegen, unbeweglich und starr wie ein Baumrindchen. Ich glaubte endlich, es sei nicht jenes Tier, welches über das Bein gelaufen war, sondern wirklich ein Stückchen Holz oder dergleichen. Anderseits aber kam mir der Gedanke: „Halt, kleines Ding, vielleicht bist du etwas Abgefeimtes, stellst dich nur so, damit ich mich wieder von dir wende und du deinen Angriff auf mich im günstigen Augenblick neuer­ dings machen kannst. Warte, necken wir dich ein wenig!" Ich stupfte es mit einem Grashalm, es blieb leblos und starr. Nun ließ ich es vom Tuche auf ein grünes Blatt rollen, da ging es in die Falle. Das Blatt mochte es für seinen freien Boden halten, allsogleich sprangen die Bein­ chen auseinander, und das Wesen — eine Waldspinne war's — lief. Als ich es hierauf mit dem Finger berührte, war es wieder das regungslose Kügelchen. Kein Glied, kein Kopf,

kein Auge war zu sehen, keine Ähnlichkeit mit einem lebendigen Wesen. Schauspielerin du! Da denkt sie sich: „Au, hier ist ein Ungeheuer, das den Spinnen nachstellt. Ich stelle mich tot, sonst macht es mich tot." Nur ruhig, es ist noch immer da — ein schreckliches Ungetüm. „So will ich doch sehen," dachte ich mir wieder, „ob deine

220

Rosegger.

Berstellungskunst größer ist, als deine Raubgier. Was meinst du zu einem Mücklein? Sieh, da treib ich dir eins zu. Mich dünkt, ein appetitlich Ding." — „Aha!" denkt die Spinne, „jetzt will er mich ködern. Wenn du glaubst, daß ich so dumm bin und jetzt aufspringe und die Mücke fresse, so ist es traurig für dich. Ich weiß mir besseren Fang, ist nur erst wieder meine Zeit. Jetzt bleibe ich liegen und bin mausetot." Wohlan, meine liebe Spinne, wenn du mausetot bist, so muß man dich in einen Sarg legen. Da habe ich ein leeres Streichholzbüchschen bei mir, darin will ich dich mit mir tragen und sehen, wer es länger treibt, du oder ich. Denkt sich die Spinne: „Auch gut!" und kollert in das Büchschen und ist tot. Ich liege noch eine Weile da und sinne nach, wie es wäre, wenn jetzt ein Riese gegangen käme, der mit seinen Füßen den Wald in den Erdboden hineinträte, als wäre er sprödes Gras, und da ganz unten im Grund ein Insekt kauern sähe mit zwei Beinchen und zwei Pfötlein und ein rundes Köpfchen obenan, und er dächte sich: „Halt, mit dir will ich mich ein wenig unterhalten," und läse mich auf und steckte mich in den Sack? Es gibt solche Riesen, nur nennen wir sie anders. Ich stand auf, ging nach Hause und war begierig, zu erfahren, was daheim auf dem Tisch mein Spinnlein machen würde. Vielleicht wird es sich immer noch tot stellen. Viel­ leicht wird es wirklich tot sein, obwohl ich achtete, daß es in seinem Verlies nicht ersticken konnte. Die Lunge von einem solchen Tierchen möchte ich einmal sehen! — Vielleicht läuft es, befreit, auch allsogleich davon. Die Spinne aber dachte in ihrem Streichholzschächtelchen: „Das ist sehr finster. Ich habe acht Augen, und keines sieht was. Und ein Schaukeln, daß einem übel werden könnte, wenn man's von wackelnden Halmen und Ästen her nicht ge­ wohnt wäre. Ich will mir aber eilig Fäden spinnen, man kann nicht wissen, in welche Lage man gerät. Das Unge­ heuer scheint mir spinnefeind zu sein; stärker ist es als ich: wenn ich nicht gescheiter bin, so kann's mir schlecht gehen."

Rosegger.

Rutz.

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Ich komme heim, versammle meine Kinder um den Tisch, erzähle ihnen die Geschichte von der schlauen Spinne und fordere sie auf, zu betrachten, was nun geschehen würde, wenn ich das Schächtelchen öffne. Und was geschah? Kaum, daß das Büchschen geöffnet war, flog die Spinne heraus. Es war — ich wußte nicht wie, auf einmal ein Faden durch die Luft gespannt, und auf dem lief sie hin, wie eine, die nicht allein das Komödienspielen, sondern auch das Seiltanzen gelernt hat. Oho! Spinne, so haben wir nicht gewettet. Ich zerstöre den Faden, da fiel sie auf den Tisch und lief ratund planlos hin und her. Jetzt sprang sie auf ein Buch, gleichsam als wollte sie von dem erhöhten Gegenstände eine Aussicht gewinnen. Aber die Aussicht auf die nahen Un­ getüme und auf die fernen Fenster schien ihr trostlos ge­ wesen zu sein — augenblicklich lag wieder ein Kügelchen da, leblos und erstarrt. So lag sie über eine Stunde, und wir hielten Rat, was nun mit ihr zu machen sei. Meine Stimme war die einzige, die sie vor Ärgerem schützte, aber diese Stimme ist so, daß sie manchmal respektiert wird. Nach zwei und drei Stunden lag noch immer das regungslose Kügelchen da, so daß die Mutmaßung aufstieg, nun wäre sie wirklich tot, vielleicht vor Schreck gestorben. Andere Obliegenheiten wink­ ten, wir vergaßen einen Augenblick auf das Tierchen, und als wir wieder hinsahen, war es nicht mehr da. Bot ich das Haus auf, um die Flüchtige zu verfolgen? Nein, ich freute mich, daß sie glücklich entkommen war.

Karl Ruß. 144. Der gefangene Zaunkönig. Als Knabe hatte ich mir ein Meisenkästchen gebaut, in dem ich Meisen und Rotkehlchen, auch dann und wann «inen Zaunkönig überlistete. Ich ließ meine kleinen Ge­ fangenen dann frei in meinem Stübchen umherfliegen, wo

222

Rutz,

sie gewöhnlich sehr bald ganz zahm wurden, und schließ­ lich aber, besonders die Meisen, stets durch Tür oder Fenster wieder entschlüpften. Es gewährte mir das größte Vergnügen, die verschiedenartige Begabung der Vögel im ganzen Wesen und Benehmen, die dreiste Pfiffigkeit der Meisen, die Zutraulichkeit des Rotkehlchens und den so drolligen und gegen seinesgleichen ebenfalls durchaus un­ duldsamen Stolz des Zaunkönigs zu beobachten. Gerade diese arglosen Kerbtierfresser sind leider in jeder Weise am leichtesten zu fangen, während die gröberen Körner­ fresser vor solchen Gefahren weit mehr geschützt, indem sie vielen Fangweisen gar nicht ausgesetzt sind; so z. B. gehen sie aus ängstlicher Dummheit nie an eine Meisen­ kiste. Einst hatte ich mein Kästchen morgens früh aufgestellt und wurde den ganzen Vormittag hindurch abgehalten, so daß ich erst mittags um 12 Uhr zu dem Fliederstrauch eilen konnte. Schon von weitem — ha, Freude! — sah ich den Deckel zugeklappt, und als ich durch die Luftlöcher lugte, erblickte ich meinen seltenen Keinen Gast. Mög­ lichst vorsichtig trug ich nun die Falle in mein Stübchen, stellte sie dicht neben das Fenster — damit der Keine Wildfang sich nicht den Kopf einstoße, bevor er gelernt habe, daß es auch „feste Luft" gibt — und öffnete den Deckel. Mein Gefangeper war ein Prachtexemplar, einer der schönsten und größten seiner Art; er hob jetzt das Köpfchen, flog schnell wie ein Blitz auf's Fensterbrett, breitete die Flügel aus, fiel hinten über und — war tot, unrettbar gestorben. Kein kaltes Wasser, Brausepulver, Riechmittel uno Aderlaß hätten ihm geholfen — er war und blieb tot. Der Fall war mir zu merkwürdig; mit unendlicher Mühe und größter Vorsicht balgte ich sein Federkleidchen her­ unter und untersuchte den Keinen Körper aufs genaueste, doch keine Spur irgend welcher Verletzung war zu finden. Was war dies nun? War es verletzter Freiheitsstolz, der

Ruß.

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ihn die Schmach seiner Gefangenschaft nicht überleben ließ, oder tötete ihn der plötzliche Wechsel von Schmerz und Freude? Seitdem habe ich niemals mehr Gewalt angewandt, sondern in meinem Gärtchen alle meine kleinen Freunde durch Wohltaten herbeigelockt und in der Beobachtung ihres Tun und Treibens tausendfache Belohnung gefunden.

145, Die Haubenlerche. Die Tage sind noch kürzer und kälter geworden; jede Nacht schafft eine Eisdecke, welche die Mittagssonne nur mühsam wieder zerstören kann. Der alte Haushahn geht nachdenklich über den Hof und hält je einen Fuß möglichst lange in die Höhe, ob um seine Würde als Selbstbeherrscher des Hühnerhofes recht deutlich anzuzeigen oder der kalten Erde wegen, wer vermag es zu sagen? Der wachsame Spitz läßt die Ohren hängen und trippelt mit eingeknisfnem Schwänze in die warme Hütte. Ihm ist gar nicht behaglich in der Kälte, eben weil es die erste ist. Ja, selbst der kleine Philosoph der Straße, der lustige Bru­ der Spatz, ist heute ganz verstimmt. Mit weit aufgeblasenem Gefieder sitzt er trübselig auf dem Zaunpfahl und sagt kaum ein verdrießliches „pschip!" Doch noch weit verzagter ist der Goldammer, der mit jämmerlicher Gebärde schon jetzt bettelt: „Buer, en Körnken!" Gegen Mittag hin bekommt die Sonne mehr Kraft, so daß sie wenigstens die leichten Fensterblumen „weggeleckt" und sogar einige Tropfen vom Dache herabrinnen läßt. Jetzt hören wir plötzlich von der Dachfirste des Nachbarhauses — was, ist's möglich? Gesang! Ja, ja, erst ganz leise, dann etwas lauter, läßt sich dort eine Haubenlerche hören. Sie ist zwar keine große Künstlerin, dennoch singt sie so lieb­ lich, daß wir trotz der kalten Luft stehen bleiben und ihren Tönen lauschen. Das gute Vögelchen ist ein mildes.

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Ruh.

frommes Gemüt, sie dankt der lieben Mutter Natur auch für die kurze Freude eines wärmeren Sonnenstrahls, und wenn nun wieder eine dunkle Wolke vor die Sonne tritt, so fliegt sie wohlgemut herab auf die Straße, wo das Weib­ chen ihrer schon harrt. So sehen wir sie nun beide, immer kurz beieinander — ein zärtliches Pärchen — laufen und flink und fleißig umhersuchen. Während der Meister Spatz ungeschickterweise stets mit beiden Füßen zugleich hüpft, läuft unsere Freundin so zierlich und fast möchte ich

sagen anständig daher, daß es eine Freude ist, ihr zuzu­ sehen. Sie ist überhaupt ein gewandtes, pfiffiges Geschöpfchen. Bekanntlich läßt in Schlingen, Leimruten und der­ gleichen kein Vogel sich seltener und schwerer fangen, als der schlaue Spatz. Bei ihm ist es aber auch kein Wunder, er kommt fortwährend, jahraus und jahrein, mit den Men­ schen in Berührung, kann täglich und stündlich ihr Treiben und alle gegen ihn und seinesgleichen gerichteten Schliche beobachten, wie soll er da nicht gewitzt und vorsichtig wer­ den und eben so gut eine Schlinge von einem losen Faden, als die Leimrute von einem natürlichen Zweige unterschei­ den können! Zudem ist er von Natur höchst kaltblütig und wenig neugierig, so daß er sich erst lange besinnt, bevor er an irgend etwas Verdächtiges sich wagt. Die Haubenlerche dagegen ist die größte Frist im Jahre auf dem Felde, wo sie nur Menschen sieht, die ruhig ihrer Arbeit nachgehen und sich gewöhnlich um nichts wei­ ter kümmern; daher ist sie auch so arglos und zutraulich und baut ihr Nest oft neben den viel begangenen Fußsteig. Merkwürdig ist es nun aber, wie genau sie den lauernden Buben, der Schlingen legt oder sie mit einem Steine be­ droht, von jedem ruhig dahin gehenden Menschen zu unter­ scheiden weiß. Während sie letzterm ohne Scheu aus dem Wege trippelt, erhebt sie sich schon in der Entfernung, sobald der erstere naht. Und dann, wie vorsichtig und ge­ schickt pickt sie die Körnchen zwischen den Schlingen fort, in denen der ungeschickte Goldammer, der Grünfink und

Ruß.

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viele andere der armen Wintergäste sehr bald Freiheit und

Leben verlieren.

146. Ein Rebhühnervölkchen. Cs kann nicht leicht ein reizenderes Naturbild geben als das eines Rebhühnervölkchens in seiner Tätigkeit am Waldesrande. Die Henne scharrt und kratzt unermüdlich, und die unbeschreiblich beweglichen Hühnchen laufen und springen, flattern und trippeln unablässig hin und her. Hier hüpft ein Küchelchen hastig hinter einem Brachkäfer her, und als es ihn endlich erwischt hat, steht es verwun­ dert vor ihm und weiß nicht eher etwas mit ihm zu be­ ginnen, als bis die Alte ihn mit dem Schnabel zerhackt. Währenddessen springt ein anderes ihr auf den Rücken; jetzt hat sie aber einen langen Regenwurm herausgescharrt und ruft eifrig die Küchlein zusammen. Und nun geht die drolligste Hetze los, indem der Wurm zerrissen und um die einzelnen Stücke ein langwieriger Wettlauf gehalten wird. Dann breitet die Henne ihr Gefieder aus, und jedes der Kleinen sucht sich im Gedränge ein warmes Plätzchen. Der verwegene kleine Himmelsstürmer klettert jedoch schon wieder auf den geduldigen Mutterrücken, und zwei andere versuchen schon gar ihre Stärke int kämpfenden Gegen­ einanderspringen. Währenddessen umkreist der alte Hahn fortwährend die Gegend, läuft zum nächsten Hügel hinan, lauscht und späht dort sorgsam, ob auch nicht eine Gefahr nahe. Dann sucht er einen neuen, recht sichern und nahrungsreichen Ort, lockt das Völkchen hierher, läuft wieder nach dem Hügel und scheint in Sorge und Aufmerksamkeit sich zu verzehn­ fachen. Des Abends sucht er sich auf einer erhöhten Stelle,

doch ganz in der Nähe der ©einigen, einen Ruheplatz und lauscht und späht noch immer bis gegen die Nacht hin; selbst später, in der dichtesten Finsternis, achtet er noch immer auf jedes geringste Geräusch und ist stets bereit, jede Gefahr rechtzeitig zu entdecken und wenn möglich abHessel und Ufer, Lesebuch 4.

M. 15

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Ruß.

Schwartz.

zuwenden. Eine solche unausgesetzte Sorgfalt ist aber auch nötig, denn — Menschen, Hunde und Katzen, Habichte und Eulen, Marder, Iltisse und Wiesel, ja selbst die frechen Waldmäuse verfolgen und jagen unablässig die be­ dauernswerten Küchel.

Wilhelm Schwartz. 147. Selbergedan und der Wassernix. War mal ein Fischer bei Deetz an der Havel, der hatte sich vor den Wind gelegt und wollte sich ein Ge­ richt Fische fangen. Als er nun genug geangelt hatte, machte er sich ein Feuer an, sie zu braten. Wie er nun die Fische in der Pfanne über dem Feuer hat, — es war so um die Schummerzeit —, taucht plötzlich ein Wasser­ nix aus der Havel auf, das war ein ganz kleines Kerl­ chen, so groß wie ein Hahn, der hatte eine rote Kappe auf, und stellt sich so neben ihn hin und fragt ihn, wie er heiße. — „Wie ich heiße," sagte der Fischer, „ich heiße Selbergedan." — „Na," sagt der Wassernix — und kann kaum reden, weil er den ganzen Mund voll Padden (Frösche) hat, — „Selbergedan, ik bedrippe di" (ich bespeie dich). — „S," sagt der Fischer, „das sollst du einmal tun, dünn nehm ich einen Stock und schlag dich krumm und lahm." Aber der Wassernix kehrt sich nicht dran und sagt noch einmal: „Ik bedrippe di," und ehe sich mein Fischer es versieht, speit er ihm alle Padden in die Pfanne. Da wurde der Fischer ärgerlich und nahm seinen Stock und schlug gewaltig auf den Wassernix los, daß dieser ganz jämmerlich zu schreien anfing und alle Wassernixe ihre Köpfe aus dem Wasser steckten und ihn fragten, wer ihm denn etwas getan, daß er so schreie. Wie nun aber der Wassernix antwortete „Selbergedan" und sie das hörten, da sagten sie: „Hast du dir selber etwas getan, dann ist dir nicht zu helfen," und damit tauchten sie wieder

Schwartz.

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unter. Da sprang auch der geschlagene Wassernix wie­ der in die Havel. Er hat aber nie wieder einen Fischer „bedrippt".

148. Der Schmied von Jüterbog. Zu Jüterbog lebte einmal ein Schmied, der war ein gar frommer Mann. Zu dem kam eines Abends noch ganz spät ein Mann, der gar heilig aussah, und bat um eine Herberge. Nun war der Schmied immer freundlich und liebreich zu jedermann, nahm daher den Fremden auch gern und willig auf und bewirtete ihn nach Kräften. Anderen Morgens, als der Gast von dannen ziehen wollte,

dankte er seinem Wirt herzlich und sagte ihm, er solle drei Bitten tun, die wolle er ihm gewähren. Da bat der Schmied erstlich, daß sein Stuhl hinter dem Ofen, auf dem er abends nach der Arbeit auszuruhen pflege, die Kraft bekäme, jeden ungebetenen Gast so lange auf sich festzu­ halten, bis ihn der Schmied selbst loslasse; zweitens, daß sein Apfelbaum tat Garten die Hinaufsteigenden gleicher­ weise nicht herablasse.; drittens, daß aus seinem Kohlen­ sacke keiner herauskäme, den er nicht selbst befreie. Diese drei Bitten gewährte auch der Fremde und ging darauf von dannen. Nicht lange währte es nun, so kam der Tod und wollte den Schmied holen. Der aber bat ihn, er möge doch, da er sicher von der Reise zu ihm ermüdet sei, sich noch ein wenig auf seinem Stuhle erholen. Da setzte sich denn der Tod auch nieder, und als er nachher wieder aufstehen wollte, saß er fest. Nun bat er den Schmied gar sehr, er möge ihn doch wieder befreien, allein der wollte es zuerst nicht gewähren; endlich verstand er sich dazu unter der Bedingung, daß er ihm noch zehn Jahre schenke. Damit war der Tod gern zufrieden, der Schmied löste ihn, und nun ging jener davon. Als Nun die zehn Jahre um waren, kam der Tod wieder. Da sagte ihm der Schmied, er sei bereit mitzu15'

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Schwartz.

gehen, er solle doch aber erst noch auf den Apfelbaum im Garten steigen und sich einige Äpfel herunterholen, sie würden ihnen wohl auf der weiten Reise schmecken. Das tat der Tod und saß wieder fest. Jetzt rief der Schmied seine Gesellen herbei, die mußten mit schweren eisernen Stangen gewaltig auf den Tod losschlagen, daß er Ach! und Weh! schrie, und den Schmied flehentlich bat, er möge ihn doch nur freilassen, er wolle ja gern nie wieder zu ihm kommen. Wie nun der Schmied hörte, daß der Tod

ihn ewig leben lassen wolle, hieß er die Gesellen einhalten und entließ jenen von dem Baum. Der zog glieder- und lendenlahm davon und konnte nur mit Mühe vorwärts. Da begegnete ihm unterwegs der Teufel, dem er sogleich sein Herzeleid klagte; aber der lachte ihn aus, daß er so dumm gewesen, sich von dem Schmied täuschen zu lassen, und meinte, er wollte schon bald mit ihm fertig werden. Darauf ging er in die Stadt und klopfte bei dem Schmied an, er solle ihm Herberge für die Nacht geben. Nun war's aber schon spät in der Nacht, und der Schmied verweigerte es ihm, sagte wenigstens, er könne die Haustür nicht mehr öffnen; wenn er jedoch zum Schlüsselloch hineinsahren wolle, so möge er nur kommen. Das war nun dem Teufel ein leichtes, und sogleich huschte er hindurch. Der Schmied war aber ttüger als er gewesen, er hatte innen seinen Kohlensack vorgehalten, und wie nun der Teufel darin saß, band er den Sack schnell zu, warf ihn auf den Amboß und ließ seine Gesellen wacker drauflos hämmern. Da flehte der Teufel zwar gar jämmerlich und erbärmlich, sie möchten doch aufhören; aber sie ließen nicht eher nach, als bis ihnen die Arme von dem Hämmern müde waren und der Schmied ihnen befahl aufzuhören. So war des Teufels Keckheit und Vorwitz gestraft, und der Schmied ließ ihn nun frei;

doch mußte er zu demselben Loche wieder hinaus, wo er hereingeschlüpft war, und wird wohl kein Verlangen nach

einem zweiten Besuche beim Schmiede getragen haben.

Seibel.

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Heinrich Seidel. 149. Der Zwerg und Vie Gerstenähre. I. Ein wohlhabender Bauer stand in seiner Scheune und schaute behaglich den mächtigen Segen an, welchen ihm ein günstiger Sommer gebracht hatte. Bis an den Giebel hinan waren alle Fächer gefüllt mit goldenen Garben, und das nicht allein — auf dem Felde standen noch einige stattliche Schober, die keine Unterkunft mehr hatten finden können, so reich war die Ernte gewesen. Dabei war das Stroh so lang und die Ähren so voll, wie lange nicht; ja, der Hafer hatte sogar das dritte Korn, während sonst an den einzelnen Stielchen seiner Ähre nur zwei wie kleine Kanarienvögel sitzen und das dritte dazwischen gemeiniglich verkümmert. Als er nun so stand und an das Dreschen im Winter dachte und an die Wagen, mit feisten Kornsäcken beladen, welche er in die Stadt und an den Müller liefern würde, und im Geiste schon die vielen blanken Taler in seinem Kasten klingen hörte, da raschelte es ganz leise in einem Haufen Stroh, welcher auf der Tenne lag. Der Bauer glaubte, es sei eine Maus, und packte seinen Stock schon fester, um ihr den Garaus zu machen; allein er verwunderte sich fast, da statt eines solchen Tierchens ein Etwas, so leuchtend rot wie Klatschmohn, aus dem Stroh her­ vorkam. Nun arbeitete es sich ganz zum Vorschein und stand da, nicht größer als eine Maus, die auf zwei Beinen geht. Es war ein Zwerg in grauer Kleidung, mit einem roten Käpp­ chen auf bem Haupte. Dieses lüftete der kleine Wicht gar höflich und sprach mit einem winzigen Stimmlein: „Herr Bauer, ich habe ein großes Anliegen an Euch." — „Nun, was willst du denn, kleiner Mann?" fragte dieser. Das Zwerglein sprach: „Reichtum und Fülle ist bei Euch ein­ gekehrt. Wolltet Ihr nun die große Güte haben, alltäglich um diese Zeit mir von Eurem Überfluß eine Gerstenähre zu schenken, so soll dies nicht zu Eurem Schaden sein." Der

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Seidel.

Bauer, welcher wohl wußte, daß man gut daran tut, das kleine Volk sich freundlich zu erhalten, sprach: „Gewiß, das soll geschehen, kommet nur allezeit um die Mittagsstunde, so soll Euch werden, was Ihr begehret!" Damit ging er an das Fach, zog eine schöne Gerstenähre hervor und reichte sie dem Männlein hin. Dieses wendete sich aber mit trübseliger Gebärde gegen das Häuflein Stroh, aus welchem es hervorgekommen war, und sprach: „Ihr habt diesen großen Berg vor unsere Höhle getürmt. So er dort liegen bleibt, vermag ich nicht mit Eurer freundlichen Gabe unsere Wohnung zu gewinnen." — „Nun, wenn's weiter nichts ist!" sagte der Bauer und schob mit dem Fuße das Stroh beiseite. Es zeigte sich nun an der Wand eine Öff­ nung wie ein großes Mauseloch. Das Wichtlein lüftete wieder sein Mützchen und sprach in wohlgesetzten Worten seinen Dank aus. Sodann wuchtete es unter großem Schnaufen die Gerstenähre auf seine Schulter und schleppte seine Last unter ziemlichem Gestöhne von dannen. Den sperrigen Halm in das Loch hineinzubringen, ward ihm auch nicht leicht, man sah an dem Zappeln der Ähre, wie das Männlein inwendig zerrte, und wohl eine halbe Mi­ nute dauerte es, bis der letzte Zipfel in der Öffnung ver­ schwunden war. Der Bauer ging von nun an alle Mittage in die Scheune und gab dem Männlein seine Gerstenähre, und von dieser Zeit ab gedieh sein Vieh auf eine wunderbare Art, obwohl es weniger Pflege und Futter verlangte als sonst. Es war eine Lust, diese runden, glänzenden Schweine zu betrachten, welche so fett waren, daß sie kaum aus den Augen sehen konnten und sich nur mit Mühe an ihren Futter­ trog schleppten. So blanke Kühe wie auf diesem Hofe fanden sich bald weit und breit nicht. Sie gaben ohne Ende fette, sahnige Milch aus ihren strotzenden Eutern, und um die Butter, welche die Bäuerin in die Stadt schickte, rissen sich die Leute, denn sie war frisch wie Morgentau und süß wie Nußkern. Obwohl die Pferde des Bauern nur wenige

Seidel.

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Hände voll Hafer und ein wenig Heu alltäglich verzehrten, waren sie doch glänzend und schön und fromm und feurig zugleich, beschafften sie vor dem Pfluge oder dem Wagen doppelt so viel als früher. Auch mit den Hühnern war es ein seltsames Ding. Sie legten und legten fast das ganze Jahr hindurch, jedes alltäglich ein großes, rundes Staatsei, zu­ weilen gar mit zwei Dottern, und niemals geschah es, wenn eine Glucke gesetzt wurde, daß auch nur eines von den untergelegten Eiern sich faul erwies, oder daß später von den Küchlein der Habicht oder der Weih eins erwischte. Dies alles gefiel dem Bauer und der Bäuerin gar wohl, und da sie recht gut wußten, wem sie diesen Segen zu verdanken hatten, so priesen sie das kleine Männlein alle Tage, und niemals ward die herkömmliche Weise ver­ säumt. Eines Tages im Winter aber, als es bei hellem Sonnenschein so recht Stein und Bein fror und die Eis­ zapfen wie gläserne Keulen von den Dächern hingen, saß der Bauer recht behaglich in seinem Sorgenstuhl am warmen Ofen und wartete auf sein Mittagessen. Es gab sein Lieb­ lingsgericht, Schweinsrippenbraten mit Pflaumen und Äpfeln gefüllt, und süße Düfte dieses köstlichen Gerichtes wehten jedesmal, wenn die Tür geöffnet wurde, verheißungsvoll aus der Küche hervor. Da er nun in der Erwartung des Guten so behaglich in der Wärme saß, empfand er eine Abneigung, hinauszugehen in den eisigen Wintertag und die kalte Scheune, nur um der einen kleinen Gersten­ ähre willen. Er rief deshalb seinen Knecht und sagte ihm, was er tun sollte.

II.

Dieser, ein vorwitziger Gesell, hatte schon lange Be­ gehren getragen, das sonderbare Männlein, darüber man im Dorfe die wunderlichsten Dinge erzählte, zu sehen, und ging eilfertig in die Scheune, woselbst er das Wichtlein schon wartend antraf. Als er ihm den Halm nun darreichte, konnte er sich nicht enthalten, das kleine Geschöpf wie zu-

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Seidel.

fällig ein wenig mit den spitzen Grannen der Ähren ins Gesicht zu kitzeln, also daß es sehr prustete und wunder­ liche Gesichter zog. Darüber wollte sich der Knecht vor Lachen innerlich ausschütten. Als er nun aber sah, wie der Kleine mit schwerem Gestöhn den Halm auf die Schulter wuchtete und unter Schnaufen davonschleppte, da erschien ihm solches dermaßen lächerlich, daß er sich nicht enthalten konnte, zu rufen: „Nun sieh einer das Krabauterding, wie es sich hat, als wenn der Halm ein Bindebaum wäre!" Sodann schlug er mit den Händen mehrfach auf die Kniee seiner Lederhosen und lachte unbändig. Zwischendurch aber rief er, wie die Zimmerleute tun, wenn sie schwere Balken bewegen: „Holz, komm! Holz, komm!" und höhnte das Männlein auf alle Weise. Dieses aber ward im Gesichte so blutrot wie seine Mütze und warf zornig funkelnde Blicke um sich. Es schleppte, so rasch es vermochte, den Halm in das Loch hinein, und an dem hastigen Hin- und Herfliegen des vorstehenden Endes konnte man wohl bemerken, mit welcher Wut es inwendig zog und zerrte, bis der letzte Zipfel verschwunden war. Am anderen Tage, als der Bauer selbst kam, um dem Wichtlein die Gerstenähre zu geben, wartete er ver­ gebens. Es erschien niemand. Er rief es mit schmeichle­ rischen Worten und gab ihm die schönsten Namen; allein alles war umsonst. Auch am folgenden Tage kam es nicht, und so oft auch der Bauer um die Mittagszeit noch sein Heil versuchte, das Männchen war und blieb verschwunden. Wie oft hat es der Bauer noch bereut, daß er damals nicht selbst gegangen ist und seinem Knecht vertraut hat; denn von nun an ging alles quer. Das Vieh stand an den Raufen und fraß und fraß Berge von Futter in sich hinein, und wenn alles verschlungen war, sah es mit glühenden, hungrigen Augen sich nach mehr um; dabei ward es jedoch immer rauher und magerer. Die Kühe gaben wenig dünne und blaue Milch, und den Pferden standen die Hüft­ knochen also vor, daß der Knecht seinen Hut dort hätte

Seibel

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anhängen können, wenn er gewollt hätte. Die Schweine wurden hochbeinig und dünn, und wenn sie einmal aus dem Stall gelassen wurden, da rannten sie wie die Wind­ hunde auf dem Hofe umher, was für ein Schwein eine ganz törichte Kunstfertigkeit ist. Und mit den Hühnern war's vorbei. Sie kriegten den Pips und legten Windeier, und wenn sie mal ein ordentliches zu gange brachten, so fraßen sie es auf. Als der Bauer nun sah, wie alles hinter sich ging, verlor er ganz die Lust an seinem Anwesen, und als er ein gutes Angebot erhielt, verkaufte er es. Er ist dann weit sortgezogen nach Rußland zu, wo die Polacken wohnen.

150. Der Eisvogel. Der Eisvogel hat etwas Märchenhaftes an sich und ist ein höchst sonderbarer kleiner Gnom. Die gedrungene Gestalt, das kurze Schwänzchen, die lächerlich kleinen Füße und vor allem der mächtige Kopf mit dem ungeheuren Schnabel geben ihm etwas seltsam Putziges, und dazu kommt, daß kein einheimischer Bogel ihm in der Pracht des Ge­ fieders zu vergleichen ist. Je nach dem einfallenden Lichte schillert es mit wahrhaftem Edelsteinglanze vom tiefsten Blau bis in das leuchtendste Grün, wozu das feurige rot der Unterseite herrlich stimmt. Obwohl den Haussper­ ling an Größe nicht viel übertreffend, läßt ihn der große Kopf doch ansehnlicher erscheinen, als er ist. An diesem Vogel ist alles sonderbar, sein Aussehen, sein Leben, die Art seiner Ernährung und die Weise, wie er nistet. Auf seinen verborgenen Lieblingssitzen dicht über dem Wasser kann er stundenlang lauern und nach Beute spähen, so ruhig, daß man denken möchte, er wäre bloß, ausgestopft. Endlich aber zeigt eine kleine Wendung des Schnabels, daß ihm ein Fischlein in Sicht gekommen ist, und plötzlich, kopfüber wie ein Frosch plumpst er ins Wasser, mit siche­ rem Stoße fast nie sein Ziel verfehlend. Gleich daraus

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kommt er an derselben Stelle, ein Fischlein im Schnabel, zurück, fliegt auf seinen ersten Sitz, wirft seine Beute hiy und her, bis sie in die richtige Lage, den Kopf voran, kommt und schlingt sie dann oft mit ziemlicher Anstrengung hinunter. Danach sträubt er ein wenig die Kopf- und Hals­ federn, so daß er ein verdrießliches Aussehen bekommt, und sitzt eine Weile ganz still in sich versunken, als dächte er über seine Sünden nach. Dies dauert aber nur eine kleine Weile, dann kehrt Heiterkeit in seine Züge zurück, und er widmet sich aufs neue der angelegentlichen Betrachtung des nahrhaften Gewässers. Im Sommer sind solche Beobach­

tungen wegen der Verborgenheit dieser Lieblingsplätze und tuegen der großen Scheuheit des Vogels schwer zu machen, in strengen Wintern jedoch, wo ihn die Not zum Wandern und an die wenigen Stellen treibt, wo warme Quellen oder schnelle Bewegungen das Wasser offen halten, da hat man leicht Gelegenheit, diesem anziehenden Treiben zuzu­ sehen, umsomehr als der Vogel dann, vom Hunger geplagt, oiel von seiner ursprünglichen Scheuheit ablegt. Da nun die meisten Menschen dieses wunderliche und auffallende Tierchen nur bei solcher Gelegenheit zu sehen bekommen, so erklärt sich auch der Name Eisvogel dadurch zur Ge­ nüge. Ich selber habe in einem sehr strengen Winter zu Schwerin in Mecklenburg mehrfache Gelegenheit gehabt, diese Vögel beim Fischen zu beobachten und rechne dies zu meinen angenehmsten Erinnerungen. Der Eisvogel bohrt sich seine Nisthöhle etwa einen Meter tief in einen steil abfallenden lehmigen Abhang an Flußufern, aber manchmal auch ziemlich weit vom Wasser entfernt. Am Ende des etwa fünf Zentimeter weiten "Ganges, befindet sich eine kleine backofenförmige Erweite­ rung, und hier legt das Weibchen gegen die Mitte des Mai auf einer Unterlage von Fischgräten, die von den in Ballen wieder ausgewürgten unverdauten Teilen der verzehrten Nahrung herstammen, fünf bis sieben, ja sogar manchmal elf fast kugelrunde, ziemlich große und wie poliert glänzende

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weiße Eier, die in sechzehn Tagen von ihm allein ausge­ brütet werden, während das Männchen Nahrung herbei­ schafft und die häuslichen Arbeiten besorgt. Die Jungen sind anfangs kleine greulich häßliche Geschöpfe von sehr verschiedener Größe, hocken lange im Neste und werden von den Alten in der ersten Zeit mit Libellen, später mit kleinen Fischen aufgefüttert. Sind sie flugfähig, dann be­ gibt sich die ganze Familie in recht einsame Winkel an Flüsse und Seen, wo sich überhängende Zweige dicht über das Wasser strecken, und dort werden die angehenden kleinen Fischer von den Eltern höchst sorgfältig in allem unter­ richtet, was einem Eisvogel zu wissen und zu können nötig und nützlich ist. Aus dem bereits Gesagten geht hervor, daß die Eis­ vögel unter Umständen für die Fischerei außerordentlich schädlich werden können, da sie bei ihrer Gesräßigkeit eine sehr große Anzahl von kleinen Fischen zu ihrer Nahrung brauchen. Me Fischzüchter hassen sie deshalb bitterlich und richten ihnen bei den Teichen trotzdem absichtlich auf ein­ geschlagenen Pfählen recht bequeme Sitzplätze her. Damit könnten die schönen Tiere ja am Ende schon zufrieden sein, wenn nicht jeder dieser verlockenden Sitze mit einem kleinen, eigens sür Eisvögel gebautem Fangeisen versehen wäre, wie es nun einmal der Menschen tückische Art ist. Auf diese Weise wird an solchen Orten eine große Menge dieser glänzenden Vögel alljährlich fortgefangen, und man hat seitdem eigentlich erst einen Begriff bekommen, wie verhältnismäßig häufig dieser uns so selten zu Gesicht kom­ mende kleine Fischräuber in Deutschland noch ist. Aber noch gibt es genug einsame Fluß- und Seeufer, wo es auf ein Fischlein mehr oder weniger nicht ankommt, und darum darf man hoffen, daß uns dieser wunderliche Märchenvogel trotz aller Nachstellungen noch lange erhal­ ten bleibt.

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Seidel.

151. Der Gesang des Buchfinken. Der Gesang des Buchfinken ist zwar nur kurz, aber sehr angenehm, voll und schön und hat viele Liebhaber. In früherer Zeit war in manchen Gebirgsgegenden diese Liebhaberei fast eine Krankheit, und man erzählt, daß ein armer Handwerker in der Ruhl eine Kuh für einen be­ sonders schön schlagenden Finken gegeben habe. Diese Lieb­ haberei blühte besonders in Thüringen, und an Sonntagen kamen die Leute mit ihren Finken oft von weither zusam­ men, um ihre Sänger miteinander zu vergleichen; ein be­ sonders gut und richtig schlagender Fink war ein vielbe­ neidetes Besitztum, das die meist armen Gebirgsbewohner oft für die lockendsten Gebote nicht fortgaben. Es war eine ganz besondere Wissenschaft vom Finkenschlag ent­ standen, und der Naturforscher Bechstein führt aus jener Zeit fünfundzwanzig Benennungen für verschiedene Finken­ schläge auf. Er selber war ein großer Finkenliebhaber und hielt im Jahre 1812 einundzwanzig Finken in acht ver­ schiedenen Zimmern. Diese Finkenschläge führten oft die wunderlichsten Bezeichnungen, meist nach den Endsilben, zum Beispiel unter vielen anderen: Nutschkebier, Quakia, Zitzigall, Kühdieb, Kienöl, Schüttelzwetschger, Parakika, Goldschmiedbus, Klapzia. Die, deren Endsilbe auf zia aus­ ging, achtete man nicht sehr uno hatte für sie den Schimpf­ namen „Putzschere". Um ein Beispiel zu geben, wie man einen Finkenschlag in Silben wiederzugebm suchte, sei hier der sehr geschätzte Doppelschlag angeführt, der so lautet: „Fink serlinkfink zispeuzia parverlalalala zikutschia!" Dies ist ein sehr langer und zweiteiliger Schlag; für gewöhnlich lautet er kürzer, wie zum Beispiel „der scharfe Weinge­ sang," der umschrieben wird: „Fritz, Fritz, Fritz, willst du mit zum Wein gehn!" Wenn auch nicht mehr so allge­ mein und mit solcher Leidenschaft betrieben, ist diese Lieb­ haberei noch immer nicht erloschen, denn nach Brehm wer­ den in Thüringen gute Schläger noch immer mit dreißig Mark bezahlt.

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So kurz auch der Gesang des Buchfinken ist, so schön ist er oft ausgearbeitet, so frisch und klar klingt dieser fröhliche Trompetenruf, besonders im knospenden Walde, der noch wegen des Laubmangels hellhörig ist, und wo nah und fern die schlagenden Bögel einander antworten und sich gegenseitig zu überbieten suchen. Zudem gehört der Buchfink zu den wenigen Vögeln, die auch in der schwülen Mittagsstunde nicht ganz schweigen und dadurch ein wenig Leben in die traumhafte Stille bringen, während von ferne zuweilen ein Pirol flötet und der Fitislaubvogel fast verschlasen seinen melancholischen Gesang ertönen läßt.

152. Lerchenlieder. Die Feldlerche ist ein graubräunlicher, unscheinbarer Bogel, aber einer der herrlichsten Sänger, die wir haben. Dieser Gesang wird dadurch weithin vernehmlich, daß der Bogel die Gewohnheit hat, sich dabei in die Luft zu er­

heben, ost so hoch, daß er dem menschlichen Auge ent­ schwindet und man einzig die jauchzenden Jubeltüne aus der blauen Lust herniederschallen hört. Welche Kraft steckt in dem kleinen Tierchen, daß es vermag, sich bei seinem lauten und anhaltenden Gesänge so hoch zu erheben, denn oft dauert beides über eine Viertelstunde lang! Das Lied besteht aus vielen wohlklingenden Strophen, bald wirbelnd, bald trillernd, bald jubilierend in gezogenen Flötentönen, und einzelne dieser Sätze werden oft unzählige Male wie­ derholt, als könnte der Sänger sich nicht genug an ihnen erfreuen. Dabei singt die Lerche so fleißig, und zwar vom Februar bis in den August, vom frühen Morgen bis in den späten Abend, daß man kaum begreift, wie sie Zeit findet ihr Futter aufzusuchen. Sie ist die erste, die aus morgenroten Höhen die Sonne erblickt und ihr entgegen­ jauchzt, sie ist es, die ihren letzten scheidenden Strahl aus­ fängt, sie genießt den längsten Tag von allen Geschöpfen der Ebene. Ist eine Gegend mit Heidekraut bewachsen und mit

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Stöber.

einzelnen Bäumen und kleinen Gehölzen überstreut, so bildet sie den Lieblingsaufenthalt der Heidelerche, des herr­ lichsten Sängers dieser Familie. Das Lied dieses Vogels besteht aus weichen, flötenden, trillernden und lullenden Strophen und paßt in seiner sanften Schwermut vortrefflich zu der einsamen Heidegegend, wo man es vernimmt. Diese Lerche läßt sich bald von einem Baume aus verneh­ men, bald steigt sie ebenfalls zu großen Höhen empor, wobei sie im Betragen der Haubenlerche ähnelt, und in der Brutzeit ertönt dieser herrliche Gesang fast die ganze Nacht hindurch, so daß man den Bogel auch Heidenachtigall genannt hat.

Karl Stöber. 153. Der kleine Friedensbote. Ein Gerber und ein Bäcker waren einmal Nachbarn, und die gelbe und die weiße Schürze vertrugen sich aufs beste. Wenn dem Gerber ein Kind geboren wurde, hob es der Bäcker aus der Taufe, und wenn der Bäcker in seinem großen Ostgarten an Stelle eines ausgedienten Invaliden eines Rekruten bedurfte, ging der Gerber in seine schöne Baum­ schule und hob den schönsten Mann aus, den er darin hatte, eine Pflaume oder einen Apfel oder eine Kirsche, je nach­ dem er auf diesen oder jenen Posten, auf einen fetten oder mageren Platz gestellt werden sollte. An Ostern, an Mar­ tini und am heiligen Abend kam die Bäckerin, welche keine Kinder hatte, immer mit einem großen Korbe unter dem Arme zu den Nachbarsleuten herüber und teilte unter die kleinen Paten aus, was ihr der Hase oder dtr gute Märtel oder gar das Christkindlein selbst unter die weiße Ser­ viette gelegt hatte. Je mehr sich die Kindlein über die reichen Spenden freuten, desto näher rückten sich die Herzen der beiden Frauen. Aber ihre Männer hatten ein jeder einen Hund, der Gerber als Jagdliebhaber einen großen, braunen Feld-

Stöber.

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mann und der Bäcker seinen kleinen, schneeweißen Mordax. Beide meinten die schönsten und besten Tiere ihres Ge­

schlechts zu haben. Da geschah es eines Tages, daß Mor­ dax ein Kalbsknöchlein gegen den Feldmann behauptete. Vom Knurren kam es zum Beißen, und ehe sich der Bäcker von der grünen Bank erheben konnte, lag sein Hündlein mit zermalmten Genicke vor ihm, und der Feldmann lief mit dem eroberten Knochen und eingezogenem Schweife davon. Sehr ergrimmt und entrüstet warf der Herr des Ermordeten dem Raubmörder einen gewaltigen Stein nach. Aber was half's? die Handgranate flog nicht dem Hund an den Kopf, sondern dessen Besitzer durch das Fenster mitten auf den Tisch, an dem er gerade die Zeitung las, und machte in den Wiener Kongreß, von dem da die Rede war, ein großes Loch. Ohne zu fragen, woher der Schuß gekommen sei, riß der Gerber den zertrümmerten Fenster­ flügel auf und fing an zu schimpfen. Der Nachbar in der weißen Schürze blieb nichts schuldig; Kinder und er­ wachsene Leute liefen zusammen. Der Bäcker verließ den Kampfplatz zuerst, aber nur, um seinen Nachbar beim Ge­ richte zu belangen. Die Sonne ging über dem Zorn der beiden Männer unter. ' Der Gerber wurde verurteilt, den totgebissenen Mor­ dax mit einem Reichstaler zu büßen. Der Bäcker mußte für den zertrümmerten Fensterflügel nicht viel weniger be­ zahlen und sich mit seinem Gegner in die angelaufenen Sporteln teilen. Von nun an lag zwischen den beiden Familien eine große, breite Kluft. Hinüber und herüber flog kein freund­ liches Wort mehr. Ging die Gerberin links zur Kirche, so nahm die Nachbarin ihren Weg rechts. Saß der Bäcker außerhalb der Stube im Posthaus beim Biere, so nahm der Gerber drinnen seinen Platz. Für die Kinder des Ger­ bers gaben weder der Osterhase noch der gute Märtel noch das heilige Kind durch die Frau Patin mehr etwas ab.

So ging es fast drei Jahre.

Einmal, am Ende des

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Stöber.

dritten, setzten sich der Gerber und seine Hausfrau nach­ mittags an den Tisch, um ihren Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade herauszog, war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, der neben ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute, rief sogleich: „Mutter, einen Groschen, ich hole das Brot!" Dann sagte er zum Vater: „Heute aber laufe ich nicht lange herum; wenn es beim Torbäcker kein Brot gibt, geh ich wieder ein­ mal zu dem Herrn Paten hinüber." Der Gerber sagte nicht ja und nicht nein und ließ den Knaben ziehen. Im ersten Brotladen hatten aber die Wecken schon alle ihre Käufer gefunden, und Helm kam wieder zum Tore herein, laut singend, daß es die ganze Gasse hören konnte: „Heute geh ich zum Herrn Paten! Heute geh ich zum Herrn Paten!" Ungehalten über den argen Schreihals wollte sein Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster aufbringen konnte, war der kleine Sänger schon zum Tempel hinein und kehrte nach einigen Augenblicken als Friedensbote wieder zurück. Statt des Ölzweiges hatte er einen geschenkten Eierring in der Hand und rief, über die Schwelle die Stube hinein­ stolpernd: „Der Herr Pate läßt Vater und Mutter recht schön grüßen, und ich soll bald wieder kommen." Noch an dem nämlichen Abende wechselten die Nach­ barsleute einige freundliche Worte über die Gasse: am folgenden saßen die weiße und die gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen; am dritten zeigten die Frauen einander die Leinwand, zu der sie in den bösen drei Jahren oft mit Tränen über den unseligen Zwist den Faden genetzt hatten. Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedens­ boten erweckt hatte; denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet schnell in ein Nervenfieber und aus diesem nach wenigen lichten Augenblicken in den Todes­ schlummer. Gott gebe ihm eine fröhliche Auferstehung!

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Johannes Trojan. 154. Eisen-ahnfahrt durch die norddeutsche Ebene. Man hat unterwegs immer etwas zu sehen, auch in der „schrecklich langweiligen" und „furchtbar einförmigen" norddeutschen Ebene. Mir wenigstens ist es, wenn ich auf der Bahn über sie hinfahre, als durchblätterte ich ein Bilder­ buch, in dem ein anziehendes Bild auf das andere folgt. Sind die Wiesen nicht immer hübsch anzusehen mit dem bunten Vieh darauf? Und auf den Feldern ist stets etwas zu beobachten, nicht das Wenigste um die Zeit, da die Ernte vor sich geht. Auf einem Felde steht schon das Korn in Hocken, zwischen denen die Krähen aufmerksam umher­ gehen, als musterten sie den Ertrag; auf einem anderen wird aufgeladen und eingefahren. Die Stoppeln bezieht schon eine Schar der schönen, schneeweißen Vögel, deren ehren­ voller Beruf es ist, sich mit Fleiß und Beharrlichkeit all­ mählich zu Bratgänsen auszubilden. Dann kommt ein Feld, das eben erst gemäht wird. Während der Zug vorbeigeht, läßt der Schnitter einen Augenblick die Sense ruhen, auch die Binderin, halb ge­ bückt und die Arme voller Halme, hält in der Arbeit inne und blickt nach dem Zuge hin. Aber am lustigsten sieht es doch auf dem Rübenfelde aus, wenn die ganze lange Reihe der hackenden Frauen beim Nahen des Zuges sich aufrichtet und, eine kurze Pause machend, den Zug an­ starrt. Sieht man ihnen nach, so kann man noch bemerken, wie die ganze Reihe wieder mit geschwungenen Hacken vorn­ überfällt. Ein anderes Feld wird schon wieder gepflügt. Kommt der Ackerer mit dem Gespann in die Nähe der Bahn, während gerade ein Zug herantost, so hält er seine Tiere an. Sie erschrecken leicht vor dem vorübersausenden Un­ getüm. Sieh, da werden zwei Pferde scheu, die vor eine Egge gespannt sind. Die Egge hinter sich hin- und her­ schleudernd, stürmen sie über das Feld davon, eine mächtige Hessel und Ufer, Lesebuch 4. M. 16

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Staubwolke erregend. Der Knecht steht da und kratzt sich zunächst den Kopf, dann läuft er ihnen nach. Und während man noch darüber nachdenkt, wie das wohl enden wird, ist rechts und links schon stiller Wald. Ein Dorf folgt dem andern. Die meisten bleiben weit im Hintergründe liegen. Man sieht aus dem Grün, das sie umgibt, nur den Kirchturm und hier und da ein Dach ragen. Manchmal aber tritt auch ein Dorf so nahe an die Bahn, daß man hineinsehen kann zwischen die Häuser und die Gemüsegärten mit Kohl und Rüben, mit den Blüten­ kugeln der Zwiebeln und den Vierecken der Stangenbohnen. Zwischen den Obstbäumen sind Leinen ausgespannt, an denen kleine Hemden und bunte Strümpfchen hängen. Auf den Dächern in ihren Nestern stehen die Störche. Vor den Türen der Häuser spielen Kinder und Kätzchen. Man sieht auf den kleinen Kirchhof mit den aus dem Grün hervorglänzenden weißen Steinen, auf dem ein Geschlecht nach dem andern nach arbeitsamem, engumfriedetem Leben sich zur Ruhe legt. Wie hübsch ist der kleine Weiher, von Weidengebüsch umgeben und ganz bedeckt mit weißen Wasserrosen! Darüber schweben die schimmernden Libellen, die man sich vorstellt, da man sie von der Bahn aus nicht sehen kann. Die weißen Schmetterlinge aber, die über den Blumen der Graben­ ränder und Raine spielen, die sieht man. Das Fließ, das zwischen Kopfweiden hingeht, von denen der Ruf der Goldammer schallt, oder zwischen dichtem Erlengebüsch, das es verdeckt — wie lockt cs, ihm nachzugehen, weit, weit, im Schatten zu ruhen und wonnige Kühlung zu atmen! Welche mächtigen Gewächse erheben ihre weißen Dolden aus dem Grase des Ufers, untermischt mit den roten Blütenähren des Weiderichs! Dann Kiefernwald, sonnendurchglänzt, und immer wieder Kiefernwald! Man glaubt den würzigen Duft zu spüren, welchen die Nadeln im heißen Sonnenschein aus­ atmen. Ab und zu öffnet sich gegen die Bahn hin ein durch

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den Wald führender breiter, sandiger Landweg; als Staffage darauf erscheint eine Frau, welche Reisig trägt, oder ein alter Landbriefträger, der den gewohnten Weg durch den Sand stapft. Vornehmer sieht die Chaussee ans, auf beiden Seiten mit Ebereschenbäumen bepflanzt, deren Beerenbüschel im Herbst so prachtvoll korallenrot glänzen. Zuweilen fährt man durch eine unsäglich magere Heide. Aber in das Grau des Bodens hat die Natur wie mit amarantroter Wolle die entzückenden Blumenkissen des wilden Thymians hinein­ gestickt. Eine Schafherde weidet auf dem dürren Grunde. Bei dem Nahen des Zuges flieht sie auseinander, der Hund hinter ihr her, die bangen Tiere wegen ihrer Ängstlichkeit scheltend und schmähend. Nachdenklich sieht der Hirt dem Zuge nach. Denkt er an die Ferne, an märchenhafte Paläste und Gärten, an Feen von zauberischer Schönheit, oder schweben ihm Kartoffeln mit Speck, welche die nahende Stunde der Mahlzeit verheißt, vor Augen? Viel Vergnügen machen mir die Bahnwärterhäuschen mit ihren Gärtchen. Die kleinen Gärten sind untereinander sehr verschieden. Der eine Bahnwärter gibt mehr auf das Nützliche und hat den ganzen Boden mit Gemüse bestellt, der andere bepflanzt wenigstens einen Teil mit Blumen. Die Blumen sind auch verschiedener Art an den verschie­ denen Häuschen. Hier sieht man nur Bauerblumen, wie Rittersporn, brennende Liebe, Ringelblume, Mohn, Eisen­ hut und anderes der Art: dort macht die Nähe der Stadt sich durch vornehmere, vom Gärtner bezogene Gewächse be­ merkbar. Die meisten Häuschen sind von Efeu überrankt. Das sieht nicht nur hübsch aus, sondern ist auch nützlich, denn der Efeu hält trocken und warm, wie man jetzt weiß, und dem Gemäuer fügt er keinen Schaden zu, sondern hält es unter Umstände^ zusammen. Etwas anderer, was mich anzieht, ist die Pflanzen­ welt, welche sich Oif den Bahndämmen ansiedelt und sie manchmal ganz in Besitz nimmt. In der Umgegend von

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Berlin hat die gelbe Nachtviole sich nicht nur der Dämme, sondern des Bahnterrains überhaupt bemächtigt. Wo die Bahn durch die Heide geht, legt sich bald das Heidekraut wie ein dichter Teppich über die Dämme. Aber nicht nur zu sehen ist auf der Bahn manches, sondern einiges auch zu hören. Manchmal schallt ein Vogel­ schlag in den Bahnwagen hinein, oder man hört eine Sense schärfen. Auch das Rauschen des Windes im Schilf oder im Eichen- und Eschenbaum hört man zuweilen. Und, o! was ist das? Ein Lachen wie von Kindermund. Richtig, da steht oben auf dem Rande der Böschung eine ganze Reihe, flachshaarig, in bunten Röckchen und barfuß und jubelt den vorbeifahrenden Zug an. Ein Augenblick nur, und das niedliche Bild ist verschwunden!

155. Der Königsschutz in Mecklenburg. Königsschuß in einer kleinen Stadt, das ist noch ein echtes und rechtes Volksfest. Aber in einer kleinen Stadt muß es sein, deren ganze Bewohnerschaft gewissermaßen eine Familie bildet, wo jung und alt, vornehm und gering an der Feier teilnimmt. Mir ward das Glück zu teil, in einer kleinen mecklen­ burgischen Stadt den Königsschuß mitfeiern zu können, leider erst vom zweiten Tage an. Am ersten Tage war der eigent­ liche Königsschuß abgegeben worden, und zum Schützenkönig hatte ein wackerer Lohgerber sich geschossen. Der Vater dieses Mannes hatte die Freude, in voller Rüstigkeit den Tag zu erleben, an dem sein Sohn im Wettkampf mit den Besten der Bürgerschaft den ersten Preis erzielte. Als ich am folgenden Tage den alten Herrn, der selbst als Schütze früher viele Auszeichnungen errungen hatte, beim Bier dasitzen sah, strahlend vor Freude über den siegreichen Sohn, fühlte ich mich unwillkürlich an das klassische Altertum erinnert. Am zweiten Tage des Festes wurden die neuen Schützen­ brüder feierlich in den Verband ausgenommen, wobei der gut vier Flaschen haltende „Willekumm" aus Zinn umging.

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Tiefe Züge wurden getan und viele Toaste ausgebracht. Der „Willekumm" trug die Jahreszahl 1670 und war mit Schildern und Denkmünzen behängt, welche hochstehende Per­ sonen im Laufe der Zeit der Schützenbrüderschaft des Ortes zugeeignet hatten. Vordem soll ein älterer „Willekumm" vorhanden gewesen sein, der noch größer und kostbarer war; ob den aber die Schweden oder die Kaiserlichen außer Landes gebracht haben, hat sich nicht mehr ermitteln lassen. Am Nachmittag des zweiten Tages wurde im Stadt­ holz nach Gewinnen geschossen. Dort hinaus zog alles, um sich unter den herrlichen grünen Buchen harmlos zu erlustigen. Dort stand die Schießhalle, dort gab es Er­ frischungszelte, und ein bunter kleiner Jahrmarkt war auf dem Waldboden aufgeschossen. An zahlreichen Stellen konnte man sein Glück mit dem Würfelbecher versuchen. Wer gewann, dem stand das Aussuchen unter vielen be­ gehrenswerten Gegenständen aus Blech, Porzellan und Holz oder auch unter einer Anzahl blühender kleiner Topfgegewächse frei. An dem Glücksspiel beteiligte sich mit beson­ derer Lebhaftigkeit die Jugend. Denn am zweiten Tage des Königsschusses zieht alles, was im Städtchen Onkel oder Tante heißt, die Spendierhosen an, und die Fünfzigpfennig­ stücke regnen nur so herunter. Neben den Glückstischen fehlte es nicht an anderen Ständen, wo Süßigkeiten der verlockendsten Art für klein und groß ausgelegt waren. Auch Kirschen, in Düten gefüllt, waren zu haben, und dem Fein­ schmecker von Beruf winkten Spickaale, goldbraun und glänzend von Fett. Eine Musikkapelle spielte seit dem frühen Nachmittag vor dem Haupterfrischungslokal im Buchholz. Um sechs Uhr ging der Tanz los, auf den schon vorbereitet und un­ geduldig wartend die niedlichsten Mädchen des Ortes, sauber wie aus dem Ei geschält, sich eingefunden hatten. Zum Tanz spielte dann eine andere Kapelle auf, welche in mv= mittelbarer Nähe der ersten sich postiert hatte, und nun spielten die beiden gleichzeitig gegeneinander an, während

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dazwischen vom Schießstande her die Schüsse knatterten. Anfangs hatte man dabei das Gefühl, als müsse einem der Kopf wie eine platzende Granate nach allen Richtungen hin auseinandergehen. Nach und nach gewöhnte man sich daran, lachte darüber und erklärte es für nervenstärkend. Während die Jugend das Tanzbein schwang, saßen die Alten beim Bier, besprachen die neuesten Welthändel und ergingen sich in erregter Unterhaltung. Gegen Abend war das Gewinnschießen zu Ende, und die Sieger im Kampf erschienen an den Biertischen mit mehr oder weniger vielen silbernen Löffeln in den Knopflöchern. Bis tief in die Nacht hinein währte das frohe Fest. Ein so harmloses und gemütliches Volksfest ist nur in einer kleinen Stadt noch möglich. Es gehört aber dazu außer dem, was schon genannt ist, auch noch der Buchen­ hain, der Finkenschlag, die Linden- und Rosenblüte und das Jelängerjelieber. Alles ist in der kleinen Stadt und in ihrer nächsten Umgebung zu finden. Und ein guter Trunk auch, wenigstens im Mecklenburgischen.

156. Kleinigkeiten. I. Kleine Übervorteilungen im Handel glauben die meisten Leute sich erlauben zu dürfen, ohne dadurch mit dem Ge­ wissen und mit dem Recht in Streit zu kommen. Ein gewöhulicher Kunstgriff der Handelsleute auf dem Markt ist es, daß sie die besten Stücke ihrer Ware nach oben in das Maß tun. So fällt es schön in die Augen, unten aber liegt dann, was klein und dürftig oder von Wurmfraß und Fäulnis heimgesucht ist, was traurig zu finden ist und weder gesund noch angenehm zu essen. Schon die Kinder, welche Erdbeeren zum Verkauf im Walde suchen, kennen den Brauch, die besten Früchtchen obenauf zu legen, die unansehnlichen aber nach unten zu packen, wo sie dann durch den Druck und durch die schlechte Gesellschaft noch schlechter werden. Wer nun ordentlich zusieht, daß er nicht

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betrogen werde, der handelt zu seinem eigenen und auch zu des Verkäufers Vorteil. Übrigens kommt Ähnliches auch vor beim Handel im Großen. Ja, cs gibt ganze Menschen, bei denen das Beste oben liegt. Wenige sind durch und durch gleich gut; bei manchen liegt auch das Beste unten.

II. Bielen Leuten scheint es unmöglich zu sein, sich schlicht und einfach über eine Sache auszudrücken, sie können nicht anders als in lauter Übertreibungen reden. Toll! fabel­ haft! himmelschreiend! gräßlich! sind ihre gewöhnlichen Ausdrücke für gut, schön, schlecht u. s. w. Das. ist aber eine Mißhandlung der Sprache, und wer die Gewohnheit hat, so zu reden, möge sich doch bemühen, davon zu lassen. Dieses Bemühen wird ihn dazu anregen, auch schlicht und. einfach denken zu lernen.

Klara Biebig. 157. Am Totenmaar. Hoch oben in den Eifelbergen liegt ein See, dunkel, tief, kreisrund, unheimlich, wie ein Kraterschlund. Einst tobten unterirdische Gewalten da unten, Feuer und Lavamassen wurden emporgeschleudert; jetzt füllt eine glatte Flut das Becken, wie Tränen eine Schale. Es geht hinunter in bodenlose Tiefe. Keine Bäume, keine Blumen. Nackte vulkanische Höhen, gleich riesigen Maulwurfshügeln, stehen im Kranz, zu nichts gut als zu armseliger Viehweide. Mageres Strand­ gras weht, blasses Heidekorn duckt sich unter Brombeer­ gestrüpp. Kein Bogel singt, kein Schmetterling gaukelt. Ein­ sam ist's, zum Sterben öde! Das ist das Weinfelder Maar, das Totenmaar, wie's die Leute heißen. Es hat keinen Abfluß, keinen Zufluß anders als die Tränen, die der Himmel drein weint. Es

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Viebig.

liegt und träumt und ist todestraurig, wie alles rings umher. Wenn Herbstwinde über die Eifel gehen und kalte Nebel in den Tälern hocken, ist's hier oben noch kälter. Hui, pfeift das! Wind, wilder Gesell, stöhne nicht so laut! Zerre nicht die letzten braunen Blätter von den dornigen Ranken, stürze nicht die morschen Holzkreuze um, die dort um das Kirchlein stehen, das grau und düster am See­ ufer trauert. Es ist das einzige Werk der Menschenhand hier oben, viel hundert Jahre alt, nicht schön, nicht häßlich, doch voll schwermütiger Poesie. Einst lag hier das Dorf Weinfelden, seine Hütten scharten sich um das Gotteshaus wie Küchlein unter die Flügel der Glucke. Es ist lange her, das Dorf ist verschwun­ den — zerstört, versunken? Wer weiß! Am sichersten ver­ hungert. Einzig das Kirchlein ist übrig geblieben und reckt seinen schwärzlichen Turm gen Himmel. Gottesdienst wird nicht viel drin gehalten, die Lebenden kommen nur herauf, ihre Toten zu begraben. Auf dem schmalen Rain hinter der bröckligen Mauer reiht sich Kreuz an Kreuz; hier hängt ein Perlenkranz, dort eine verwitterte Schleife, der Wind zaust daran, der Regen verwäscht die Farben — es ist der Friedhof von Schalken­ mehren. Der Weg herauf ist beschwerlich. Man weiß nicht, warum behalten die Schalkenmehrer ihre Toten nicht bei sich unten im Dorf? Raum hätten die auch noch da. Brauchen die Lebenden denn allen Platz am hellen freund­ lichen Schalkenmehrer Maar, dran Obstbäume wachsen, drin Fische schwimmen? Ei was, tot gehört zu tot; da kraxelt man lieber den steilen Berg hinan, die Ochsen oder der Ackergaul ziehen den Karren, drauf die Lade zwischen Strohschütten schwankt. Der Geistliche keucht hinterdrein und die Leidtragenden auch; man murmelt Gebete, man weint, man schluchzt, und über ein Kleines kommt man

ledig wieder herunter.

Wolf.

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Johannes Wilhelm Wolf. 158. Der Zwerglein Hilfe. In einem Dorfe fällt die Kirmes just in die Ernte­ zeit. Es geschah einmal, daß in einem Hofe des Dorfes die Knechte und Mägde alle beim Einernten helfen mußten, während im Dorfe die Musik lustig spielte und alle Jungen und Mädchen am Tanze waren oder an den Buden auf dem Markte herumspazierten. Sie arbeiteten alle, daß ihnen der Schweiß vom Leibe lief, aber trotzdem sahen sie ein, daß sie doch nicht fertig werden konnten, und daß der Spiel­ mann seine Geige an den Nagel hängen würde, ohne daß sie ein Tänzchen gemacht hätten. Sie beklagten sich auch nicht wenig darüber, aber was konnte ihnen das alles helfen! Die Arbeit mußte getan sein. Ms sie eben noch so recht im Murren waren, sahen sie plötzlich ein klein alt Männchen neben sich stehen, das hatte die Hände auf dem Rücken und lachte herzlich drein und sprach : „Ja, Jungen, Jungen, ihr tanztet also lieber, als daß ihr hier herumsklavt?" — „Ist das noch eine Frage?" entgegnete einer der Knechte, „gewiß, Freundschaft, und noch nie ist uns das Arbeiten so sauer angekommen." — „Gut," sprach das Männchen, „dann leget euch — es ist um zehn Uhr — schlafen bis elf Uhr und sehet nicht weiter um euch. Alle eure Arbeit wird dann verrichtet werden. Aber daß keiner von euch die Augen auftue und laure!" Das taten die Leute auch alle, eine neugierige Närrin von Dienstmagd ausgenommen, die schloß die Augen nur halb und lachte verstohlen, um zu sehen, auf welche Weise die Arbeit denn eigentlich vollendet würde. Da sah sie aber nichts anderes als die Garben fliegen, rechts und links, Bänder drum binden und kurz, ein Treiben, als wären tausend Teufel damit beschäftigt gewesen. Ehe es noch elf schlug, war alles in Ordnung, nur die jener Magd zugewiesene Arbeit war noch nicht verrichtet. So mußte

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Wolf. Zeitz.

sie denn zur Strafe für ihre Neugier mutterseelenallein arbeiten bis abends elf Uhr, während die andern alle lustig tanzten und sprangen.

Karl Zeitz. 159. Drei Kameraden. (1870).

Ich ging suchend im Walde vor. Da lagen, an dem Rande einer Bodeneinsenkung hingekauert, drei Gestalten, eng aneinander geschmiegt. Sie regten sich. „Seid ihr ver­ wundet?" Zwei der Leute sprangen auf. „Wir nicht," antworteten diese, „nur unser Kamerad hier, den wir be­ wachen." Beide Franzosen standen in Waffen. „Sie sind meine Gefangenen, die Waffen weg!" Ich zerschlug "bie Flinten und warf die Seitengewehre in die Büsche. — Während wir die Verwundeten aufnahmen und durch den Wald zurücktrugen, erzählten mir die beiden Fran­ zosen ihr heutiges Schicksal. Sie standen, drei Freunde, in einer Kompagnie. Bis zum Abend war das Gefecht ohne Unfall für sie verlaufen, Schulter an Schulter hatten sie gekämpft, da, die Nacht brach eben herein, stürzte der eine im feindlichen Feuer. Sie wollten ihn zurücktragen. Der Blutverlust wurde jedoch zu groß. Sie befürchteten, daß der Freund ihnen unter den Händen sterben möge; sie -legten ihn dort an der Bodeneinsenkung nieder. Das Ge­ fecht verlor sich, die Preußen waren verschwunden, die Ihrigen gingen zurück. Sie riefen nach Hilfe, sie eilten bald diesen, bald jenen Waldweg entlang. „Hilfe! Hilfe! Sie sterben alle, die Verwundeten hier! Hilfe, sonst sind sie verloren!" Doch nur immer einsamer wurde der Wald. — Was tun? — Die guten Burschen beratschlagten. Den Kameraden hilflos verlassen? Nimmermehr! Hier in dem Schnee, bei der Kälte mußte der Freund aber erfrieren; .wie ihn schützen? Sie wußten keinen Rat. Da kauerten die

Zeitzbeiden braven Menschen links und rechts neben dem Schwer­ verwundeten nieder, umfingen ihn mit den Armen und suchten so durch ihre Körperwärme ihn zu schützen. — Ich

wüßte kein schöneres Bild kameradschaftlicher Hingebung zu finden, als dieses. Wir hatten geklagt drüben, auf Vor­ posten kommandiert zu sein, und hier freiwillig diese Auf­ opferung! Ich schämte mich. Die beiden Leute hatten es mir angetan, ich schüttelte ihnen die Hände, wie alten lieben Bekannten. Ihr Freund wurde auf die Bahre genommen und diese von den beiden getragen. Nun brachten wir mit einem Gange vier Verwundete zurück. Bon Zeit zu Zeit mußten wir halten, die Last war schwer und das Gehen so mühsam in dem tiefen Schnee. Leise flüsternd hatten mir die Franzosen ihre Erlebnisse berichtet, jetzt schritten wir lautlos durch den Wald dahin; nur das Ächzen der Verwundeten unterbrach die nächtliche Stille. Ich wechselte mit den beiden Franzosen im Tragen ab. Von Zeit zu Zeit stellten sie die Bahre nieder und sahen besorgt nach ihrem Freunde. Wieder waren wir ein Stück weiter gekommen. „Er ist so ruhig geworden," sagte der eine. „Auch mir fiel es auf," antwortete sein Kamerad. Wir setzten die Bahre nieder. Er war in der Tat still, ganz still geworden, — er hatte ausgelitten. Wir standen an einer Totenbahre; regungslos war der Körper. Die Kranken­ träger meinten: „Das Herz steht still, er ist ganz kalt und der Tod sicher eingetreten." „Tragt die Verwundeten rasch nach dem Lazarett," sagte ich den anderen. Ich blieb mit den beiden Franzosen zurück. Dort standen wir nun mitten im Walde in der Winternacht, neben uns lag der Tote. Die beiden Fran­ zosen weinten bitterlich. „Was tun, meine Kameraden?" fragte ich sie. „Wir müssen den Freund bestatten, er darf nicht so auf der Straße liegen bleiben." Wie das aber be­ ginnen? Ich sprang über den Graben. Wenige Schritte davon war eine Einsenkung; dort lag er wie in einem Sarge. „Laßt uns den Schnee beiseite schaffen, dann wollen

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Zeitz,

wir ihn hier zur Ruhe niederlegen, Heidekraut rupfen, einige Äste brechen und ihn damit bedecken." Das taten wir. Mit den Händen räumten wir den Schnee hinweg, dann brachen wir Äste ab, rissen Kräuter aus, nun wurde ihr Freund gebettet. „Nehmen wir Helm und Käppi ab, spreche jeder für sich ein stilles Gebet!" In dem Walde dort umstanden die drei Soldaten, zwei Franzosen und ein Deutscher, die Leiche des auf dem Felde der Ehre Gebliebenen; sie hatten die Hände gefaltet, ihre Bitten geleiteten den geschiedenen Kameraden; jetzt deckte jeder ein paar Zweige auf den gefallenen Krieger, — so wurde er dort in der Winternacht bestattet. Kaum je hat mich ein Begräbnis so ergriffen als dieses. Ehe wir gingen, ließ ich noch durch abgebrochene Zweige die Stelle kennt­ lich machen, damit ihm bald eine weitere Bestattung von seinen Landsleuten werde.

Deutsche Landschaft.

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Deutsche Landschaft. 160. Eisenbahnfahrt von Metz nach Berlin. Eine Fahrt durch Deutschland ist jetzt leichter, schneller und billiger zu machen als in früheren Zeiten: wer sich des Morgens kurz vor sechs Uhr zu Metz in den Eisenbahnzug setzt, der kann anderthalb Stunden vor Mitternacht desselben Tages in Berlin aussteigen und hat in aller Bequemlichkeit eine Strecke von fast 900 Kilo­ meter deutschen Landes an sich vorüberziehen sehen. Das wollen wir im Geiste jetzt auch tun, aber unsere Fahrt geht noch viel, viel schneller, nämlich genau so schnell, als wir dazu brauchen, diese Seiten zu durchlesen. Wir fahren also zunächst in der frischen Morgen­ luft durch die liebliche Hügellandschaft des Moseltals, vorüber an der kleinen Festung Diedenhofen, bis wir bei Sierck das Reichsland Lothringen verlassen und auf preußisches Gebiet treten. Auf einer Brücke geht es über die Mosel, und alsbald erscheint die uralte Stadt Trier mit ihren ehrwürdigen Türmen und Toren. Schnell aber ist sie wieder entschwunden, und nun geht es wieder auf das linke Moselufer hinüber und eine Strecke weit durch die Eifel, weil die Bahn die Umwege vermeiden möchte, die es kosten würde, wenn sie der vielgewundenen Mosel folgte. Aber wie wir durch einen Tunnel gefahren sind, sehen wir uns plötzlich wieder am Ufer der Mosel, und nun beginnt eine reizende Fahrt durch das enge Felsental, dessen steile Hänge bald mit Weinreben bepflanzt sind, bald mit Wald; Burgen grüßen hernieder, und am Ufer erheben sich altertümliche Städt­ chen und Dörfer; Brücken und Tunnele folgen einander; immer gibt es etwas Neues zu schauen, verfallene Klöster

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Deutsche Landschaft.

am Ufer oder auf Bergeshöhe, stolze Landhäuser, male­ rische Blicke auf die hochragenden Berge und in die tiefen Schluchten des Hunsrücken und der Eifel, bis wir nach Überschreitung der letzten Brücke rechts abbiegen: wir sind in Koblenz. Die eigentliche Stadt berühren wir nur eben, denn die Bahn lenkt nunmehr nach Süden, um alsbald den herrlichen, breiten, grünen Rheinstrom zu überschreiten. Von hoher Brücke schauen wir links die Häuserfront von Koblenz, alte Dome und die drohende Felsenfestung Ehrenbreitstein, rechts sehen wir rheinaufwärts Schloß Stolzenfels winken. Wir wenden uns links in das Lahn­ tal hinein, sehen neugierig nach Ems hinüber, wo einst König Wilhelm so lange Jahre hindurch allsommerlich die Bäder gebrauchte, auch in dem denkwürdigen Sommer 1870 bis zum Ausbruch des Krieges und danach noch viele Jahre als Kaiser Wilhelm. Die Lahn ist beinahe ebenso gewunden wie die Mosel, nur sind ihre Ufer noch stiller wie die Moselufer, die Berge weniger hoch und steil, und statt der Weinberge sehen wir nur Wiesen und Wald. Durch schier zahllose Tunnele und über ge­ wiß ebenso viele Brücken braust der Zug, an Nassau, Limburg, Weilburg, Wetzlar vorüber, lauter Städtchen von altem, geschichtlichem Ruhm und reizender Lage meist auf Bergeshöhe; immer nach Osten geht es, bis wir die Universitätsstadt Gießen erreichen. Es ist jetzt die Mittagsstunde, und wer sich kein Mahl mitgenommen hat, kann in höchster Eile auf dem Gießener Bahnhof etwas genießen. Die Bahn dreht sich nun nach Norden, sich immer neben der Lahn haltend. Bald winkt von links her Marburg, auch eine Universitäts­ stadt: von hohem Berg herab, den die Gassen der Stadt von allen Seiten her erklimmen, schaut das stolze alte Schloß der hessischen Landgrafen herunter, und an seinem Fuße ragen die zwei Türme der altberühmten Elisabeth­ kirche, wo die heilige Elisabeth ihre letzte Ruhestätte

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gefunden hat. Der Weg führt nun durch die lieblichen Wiesenfluren des hessischen Berglandes, durch jene Gaue, wo einst der heilige Bonifazius die Lehren des Christentums verkündigt hat. Die Lahn neben uns wird immer kleiner. Auf einmal ist sie weg, und wir sind un­ vermerkt aus dem Stromgebiet des Rheines in das Weser­ gebiet gekommen: neben uns fließt an Stelle der Lahn jetzt ein ebenso kleines Flüßchen, die Eder, aber wir sehen sie größer und größer werden, bis sie in die Fulda fließt, an der entlang wir nunmehr Kassel zustreben. Links erblicken wir Schloß Wilhelmshöhe am Fuß eines mächtigen Berges; von seiner höchsten Höhe schaut das sogenannte Riesenschloß herab, dessen Dach von einer zehn Meter hohen kupfernen Herkules-Bildsäule überragt wird. In weitem Bogen geht es nun auf Kassel zu, das stolz auf einer Bergterrasse thront und die herrliche, fruchtbare, von blauen Bergen eingerahmte Ebene zu seinen Füßen hat. In Kassel wird umgespannt, denn es ist ein sogenannter Sackbahnhof, wir haben also Zeit, uns an einer Tasse Kaffee zu laben; aber lange dauert es nicht, so sausen wir weiter durch das Land. Bei dem waldumkränzten Münden, wo Fulda und Werra sich vereinen, biegen wir ostwärts ins Tal der Werra ein, fahren eine Strecke weit dicht an diesem Fluß ent­ lang und überschreiten, nachdem wir früher die ge­ wundene Fulda mehrmals gekreuzt, nun auch die Werra. Tief unter uns schlängelt sich die Werra hin, fern jenseits überragt der mächtige Gipfel des Meißners die andern Höhen des hessischen Berglandes; die Bahn steigt höher und höher auf die Hochfläche des Eichsfeldes, geht droben die Leine entlang und dann über die Wasser­ scheide zwischen Weser und Elbe; ehe wir es uns ver­ sehen, geht die langsame Fahrt bergauf in eine schneller und schneller sausende Talfahrt über, und wir kommen ins Tal der Wipper, die der Saale zuströmt. Das alte, am Südfuß des Harzes gelegene Nordhausen grüßt uns.

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bei Roßla schauen wir rechts den sagenberühmten Kyffhäuser und gelangen dann nach Sangerhausen. Der Weg fuhrt uns nun durch das gewerbreiche Mansfelder Gebiet — Eisleben bleibt rechts seitwärts liegen — und wir denken an das Silber, das da gewonnen wird, den Segen des Mansfelder Bergbaus. Allgemach dunkelt es, Aschersleben, die Wiege des askanischen Fürstenhauses, das dereinst über die Mark Brandenburg herrschte, ahnen wir drüben links; bei dem Städtchen Laibe streifen wir die Saale, kurz vor ihrer Mündung, und sind nun aus dem thüringischen Berglande heraus in die norddeutsche Tiefebene eingetreten. Siehe! da dröhnt es unter uns seltsam: wir sind auf der Eibbrücke bei Barby; die Wasser glänzen im Abend­ lichte zu uns herauf, aber im Flug sind wir auf dem rechten Elbufer, und da es nun draußen nichts mehr zu sehen gibt, weil die Nacht völlig hereingebrochen ist, so lehnen wir uns in die Wagenecke und denken: hier, wo wir durch die sandige Mark fliegen, würden wir doch nicht viel andere Dinge sehen, als Äcker und Dörfer und Kiefern. Außerdem sind unsere Augen so müde von dem vielen, was sie den Tag über geschaut haben; und es ist ja auch so schön, den zurückgelegten Weg nochmals zu überdenken oder im Geiste sich auszumalen, was wir morgen in Berlin alles erblicken werden! Und ehe wir das alles durchdacht haben, sind wir schon an Potsdam vorübergesaust und sehen schon die Lichter der Vororte von Berlin durch die Nacht blinken. Ein heller Lichter­ schein legt sich über den Horizont hin, wir glauben schon das Getöse der niemals völlig ruhenden Haupt­ stadt zu hören; immer zahlreicher werden die Lichter, jetzt halten wir an dem ersten hauptstädtischen Bahnhof, dann geht’s über, neben und durch hellerleuchtete lange, lange Straßen, der Zug hält wieder; wir sind in den Bahn­ hof an der Friedrichstraße eingelaufen und befinden uns nun so recht im Herzen der Reichshauptstadt Berlin.

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161. Dresden und die sächsische Schweiz.

I. An beiden Ufern der Elbe hingelagert, über die hier eine Anzahl prächtiger Brücken führen, liegt Dresden, die glänzende Hauptstadt des Königreichs Sachsen. Am Elbufer führen mächtige Treppen, die mit den vergol­ deten Sandsteingruppen der vier Tageszeiten von Schilling, dem Schöpfer des Niederwalddenkmals, ge­ schmückt sind, zur Brühlschen Terrasse hinauf. Da liegt der Eibstrom vor uns; ist sein Wasser auch nicht so frisch grün wie das des Rheines, so belebt es doch die Landschaft und schmückt sie. Elbabwärts rahmen nach Nordwesten hin sanft geschwungene Berglinien das Bild ein, dessen Mittelgrund die stattlichen Gebäude der auf dem rechten Elbufer gelegenen Neustadt bilden. Nach Norden ragt aus dem dunkeln Walde der Dresdener Heide die mächtige Kette der prachtvoll ausgestatteten Militärkasernen empor. In anmutigem Gegensatz dazu winken von den rebenbewachsenen Höhen des östlichen Elbufers herüber die drei prächtigen Eibschlösser; weiter elbaufwärts sehen wir Döschwitz, Wachwitz und andere Örtchen die Rebenhtigel hinanklimmen; noch weiter nach Süden schauen wir in die merkwürdigen Sandsteinberge der sächsischen Schweiz. Dresden bietet besonders für den Fremden sehr viel Sehenswertes: um die Stadt schlingt sich ein Kranz von Gärten, Landhäusern und Vorstädten, die, ganz in Grün versteckt, eben darum um so traulicher erscheinen; aber trotz des Gewühls und bunten Treibens der Großstadt* trotz aller elektrischen Bahnen und prunkvollen Kauf­ läden ist es der Stadt Dresden dennoch deutlich an­ zusehen, daß sie weniger eine tosende Fabrik- und Handelsstadt ist, als vielmehr eine königliche Resi­ denz, eine Stadt der Künste und des frohen, behaglichen Lebensgenusses. Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

M. 17

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Vor allem zieht uns das Königsschloß an, dessen Festsäle und herrliche Malereien sich jeder besehen darf, ebenso wie auch das weltberühmte grüne Gewölbe, worin die wunderbarsten Schätze aus Gold und Silber, Elfen­ bein und Edelsteinen, Kristallgefäße, kostbare Schränke, Waffen und allerlei Seltenheiten aufgehäuft sind, z. B. Kirschkerne, auf deren Oberfläche mehrere Dutzend Ge­ sichter, deutlich erkennbar, erhaben ausgeschnitten sind. Die Dresdener Gemäldegalerie, die der König August III. um die Mitte des 18. Jahrhunderts gegründet hat, ist weltberühmt, enthält sie doch die größten Meisterwerke der Malerei, so die Sixtinische Madonna von Raffael, die heilige Nacht von Correggio, die Hochzeit zu Kana von Paul Veronese, den Zinsgroschen von Tizian, Rembrandts Gattin Saskia und zahllose andere Gemälde. All diese Bilder sind im Museum untergebracht, einem Prachtgebäude, das mit dem weltberühmten Zwinger ein einziges Ganze bildet. Der Zwinger sollte die Vorhalle eines großartigen Schlosses bilden und ist unter August II. um das Jahr 1720 von Pöppelmann er­ baut worden, während das Museum von Gottfried Semper 1854 vollendet wurde. Berühmt ist auch das Dresdener Theatergebäude und die Frauenkirche, die mit ihrer hohen Kuppel das eigentliche Wahrzeichen Dresdens ist.

II. Wer in Dresden war, pflegt auch die sächsisch­ böhmische Schweiz zu besuchen, wie man seit etwas über hundert Jahren die ungefähr 60 Kilometer lange Strecke nennt, wo die Elbe das Sandsteingebirge durchströmt. Offenbar ist die ganze Landschaft in uralten Zeiten eine einzige feste Sandsteinplatte gewesen; dann haben die Gewässer sich langsam hineingewühlt und die weicheren Teile des Gebirges herausgewaschen, so daß ganz schmale, tiefe Rinnen und Spalten entstanden sind, während die härteren Felsbestandteile» als senkrechte

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Wände oder als freistehende Felsmassen mit flachen Gipfeln, in seltsamen, abenteuerlichen Gestalten stehen geblieben sind. So winden sich die Elbe und die zahl­ reichen Bäche, die ihr von links und rechts her zuströmen, durch das Sandsteingebirge hin; Tannen und Laubbäume bedecken die Höhen und füllen die Schluchten aus, Wasserfälle stürzen hier und da die Felswände herab, und in schwindelnden Schlangenlinien führen geländerte Felsensteige den Wanderer aufwärts. So geht es auf die „Bastei“ hinauf, so zum „Prebischtor“ und zum „Kuhstall“. Der berühmteste jener einzelstehenden Felsen ist der Königstein, der sich am Elbufer erhebt und zur Festung umgestaltet ist; ein in die Felsen gehauenes Tor bildet den Zugang, der 600 Fuß tiefe Brunnen hat ge­ wöhnlich 52 Fuß Wasser. Oben ist sogar ein Wäldchen aus Buchen und Eichen; in den Felsenräumen liegt Pro­ viant auf drei Jahre; in Kriegszeiten werden hier oben Schätze und wertvolle Urkunden geborgen. Im Kriege von 1866 wurde der Königstein der preußischen Armee sehr lästig, denn er sperrte die Elbe und die im Tal hinführende Eisenbahn. Als eine Merkwürdigkeit zeigt man außen am Felsen­ hang das Pagenbett. Vor alten Zeiten kroch nämlich ein­ mal bei einem Hoffeste des Kurfürsten ein Page, vom Wein benebelt, zu einer Schießscharte hinaus, legte sich auf einen kleinen Felsvorsprung und schlief dort ein. Zum Glück entdeckte jemand den Schläfer'und zeigte ihn dem Kurfürsten. Dieser ließ den festschlafenden Knaben anbinden und dann mit Pauken und Trompeten wecken. Der Schreck hat ihm aber nicht viel geschadet, denn ungeachtet eines ähnlichen Abenteuers, wo sein scheues Pferd von der Dresdener Eibbrücke mit ihm in den Strom hinabsetzte, erreichte er ein Alter von 106 Jahren. — Unbeschreiblich schön ist der Blick vom König­ stein auf das Elbtal, auf Dresden, die seltsamen Fels17'

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gebilde der sächsischen Schweiz und die tiefen Gründe, wo die kleinen Waldbäche zwischen den rauschenden Tannen über moosbewachsene Felsblöcke zur Elbe ziehen.

162. Hamburg. I. Die freie Stadt Hamburg liegt am Unterlauf der Elbe, etwas über hundert Kilometer von der Nordsee entfernt. Dicht neben Hamburg liegt Altona, so dicht, daß beide Städte eigentlich nur eine einzige sehr große Stadt bilden. Darum entstand auch die Sage, als Altona erbaut worden sei, hätten die Hamburger verdrießlich ausgerufen: „Dat is alte nah!“ d. h. das ist allzunah! und daher sei die neue Stadt Altona genannt worden. Die Elbe ist dort so breit und tief, daß große Seeschiffe bis Hamburg fahren können. Da liegen sie denn in den zahlreichen Häfen in großer Zahl und werden eingeladen oder ausgeladen. Das besorgen riesige elektrische Kranen, die unaufhörlich mit großen Eisenhaken die Kisten und Ballen fassen, sie in die Höhe heben, sich dann drehen und alles, was sie gepackt haben, an das Land oder auf die Schiffe niederlassen. Am Ufer erheben sich zahllose Warenschuppen, die bis obenhin vollgepackt sind mit Kisten und Kasten, mit Fässern, Säcken und Ballen. Da riecht es nach Zimt und Tee, nach Tabak, Mehl und Spiritus, und man kann gar nicht begreifen, wie das alles ver­ kauft werden und gegessen und getrunken und ver­ braucht werden soll. Kleine Dampfboote, Schuten und Jollen fahren hin und her und haben Mühe, einander auszuweichen und zwischen all den mächtigen Segel­ schiffen, Dreimastern und Zweimastern, den Dampfern von jeder Art und Größe sich durchzuwinden, ohne anzu­ rennen. Wenn es nun gar heißt: heute geht die „Pennsylvania“ oder der „Graf Waldersee“ nach Amerika ab, da ist erst ein Ge­ wimmel. Von überallher kommen Auswanderer und Bei-

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sende eilenden Schrittes herbei, um noch rechtzeitig auf das Schiff zu gelangen; Koffer und Gepäckstücke in unabsehbarer Menge werden noch eingeladen, die Schlote rauchen, die Wimpel flattern, Matrosen putzen die blinkenden Messinggeländer noch blanker, dazwischen läutet die Schiffsglocke, tönen Kommandorufe, wird Ab­ schied genommen, gelacht, geweint, geschrieen, gezankt, mit Tüchern gewinkt, daß man ganz verwirrt und toll wird, auch wenn man ruhig am Ufer bleibt und die Sache sich nur einmal ansieht.

II.

Auch im Innern von Hamburg ist reges Leben, man sieht nicht bloß Deutsche, sondern auch dunkelfarbige Südländer, mancherlei seltsame Trachten, schwarze, braune und gelbe Menschen. In den Straßen wandeln laut schreiend und ausrufend Männer und Frauen mit Fischen, Gemüse, Obst und vielerlei Waren. Durch die Stadt ziehen sich viele Kanäle, Fleete genannt, daran liegen alte Speicher, das sind hochgiebelige Hauser, die von unten bis oben nur Lagerräume für Kaufmannsgüter enthalten; auch in den Fleeten liegt Schute an Schute, aber nur kleinere, worin die Waren aus dem Hafen in diese Speicher befördert werden. Ein Flüßchen, die Al­ ster, durchfließt die Stadt und bildet zwei seeartige Becken, die Binnenalster und die viel größere Außen­ alster. Um die Binnenalster führen prächtige Straßen, deren eine der Jungfernstieg genannt wird; um dieAußenalster herum liegen herrliche Landhäuser in großen Gärten, deren schöngepflegte Rasenflächen und hohe, schattige Bäume bis dicht ans Wasser heranreichen. Viele Kaufleute wohnen draußen an der Alster, fahren morgens in die Stadt, wo ihre Geschäftsräume liegen, und gegen Abend wieder nach Hause. Denn sehr viele Leute in Hamburg essen erst des Abends zu Mittag, auch die

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Schulen dauern im Winter von morgens neun Uhr bis nachmittags um drei. Dutzende von niedlichen Dampfbooten vermitteln den Verkehr auf der Alster: man kann sagen, daß so ziemlich jede Minute ein Boot vom Jungfernstieg abfährt. Die Segel- und Ruderboote, die man auf der Alster sieht, sind nicht zu zählen, überall sieht man weiße Schwäne, die rudern auf und ab. Mitten in der Alster liegt ein kleines Häuschen. Dort werden sie zu bestimmten Stunden des Tages gefüttert. Dann sieht man von allen Seiten her die weißen, schönen Vögel herbeischwimmen, so schnell sie nur können. Sie kommen so pünktlich, als ob sie eine Uhr hätten, und keiner will zu spät zum Essen kommen. Im Winter, wenn die Alster zugefroren ist, vergnügt sich jung und alt auf der Eisfläche mit Schlittschuh­ laufen, die Schwäne aber kommen in ein großes Winter­ haus auf der Alster, wo sie gefüttert werden, bis im Frühling das Eis aufgetaut ist.

163. Am Nordseestrande. An einem eiskalten, stürmischen Dezembertage wurden die Bewohner eines Fischerdorfes am Strande der deutschen Nordsee durch einen Notschuß geweckt, der vom Meere dumpf herüberdröhnte. Alle wußten, was das zu bedeuten hatte: ein Schiff in Gefahr, das Hilfe will! Draußen donnerte die See in gewaltiger Brandung: auch dieses Jahr sollte also anscheinend nicht zu Ende gehen, ohne daß die wilde Nordsee ihr Opfer eingefordert hätte. Aber die Fischer waren mutige und hilfsbereite Leute, und auch diesmal eilte alles an den Strand, um wo möglich zu helfen. Eine Viertelmeile von der Küste saß ein Segelschiff auf dem Strande fest, ein Spiel der Wellen, rettungslos verloren. Die Besatzung war in die Masten geklettert und hatte sich an das Tauwerk fest-

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geklammert, um nicht von den wild anspringenden Wellen fortgespült zu werden. „Das Rettungsboot klar!“ so rief es laut am Ufer. Und das Boot wurde ausgebracht, aber Harro, ein beherzter Führer, war nicht da, er hatte sich am frühesten Morgen eines Geschäftes halber in das Nachbardorf begeben. Man konnte nicht auf ihr warten; acht Mann ruderten hinaus in den Sturm. Sie erreichten das Wrack und schafften die armen, ermatteten Schiff­ brüchigen in das Boot. Nur einer blieb zurück. Hoch oben im Mast hing er, schwer und steif infolge der Kälte, und sie wagten nicht, ihn herabzuholen, denn das Boot war überladen, der Sturm nahm zu, und ihrer aller Rettung stand auf dem Spiel.

Als sie ans Land kamen, war Harro da. Er fragte, ob man sie alle habe, und so hörte er denn von dem letzten im Mast. „Ich werde ihn holen!“ rief er, „geht ihr mit?“ Aber sie wollten nicht, sie meinten, es sei un­ möglich. Harro sprang ins Boot: „Dann gehe ich allein“. In diesem Augenblick erscheint seine Mutter am Strand. Sie bittet ihn: „Geh nicht! dein Vater blieb draußen — und Uwe“. Uwe war ihr jüngster Sohn, von dem sie seit Jahren nichts gehört hatte. „Geh nicht, deiner Mutter zu Liebe!“ — „Und der da draußen? bist du dessen sicher, daß auch er nicht noch eine Mutter hat?“ — Da schwieg die alte Frau, und vier Mann sprangen mit Harro in das Boot. Vorwärts geht es, der Brandung entgegen, aber es geht langsam, denn es ist eine gar zu schwere See. Das Wrack stand schon ganz unter Wasser, als sie hinaus­ kamen, und kaum gelang es den wackern Leuten, sich dem Schiff zu nähern. Endlich gelingt es doch. Harro selbst klettert hinauf in das Takelwerk, um den fast erfrorenen Burschen herunterzuholen. Nun liegt er im Boot, und landeinwärts geht’s. Und als man dem Strande so nahe ist, daß Harros kräftige Stimme durch Sturm und Brandung dringen kann, da winkt und ruft er: „Sagt’s der Mutter — es ist Uwe!“

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164. Eine Halliginsel. Wer erproben will, wie das Meer das Sinnen und Treiben der Nordseeleute hinausgelenkt hat in die ozeani­ schen Fernen, der suche das Idyll einer kleinen Hallig­ insel auf im nordfriesischen Wattenmeer. Aus fettestem Marschboden aufgeschlickt, überragen die Halligen kaum in Tischhöhe den Meeresspiegel bei dem mittleren Höhen­ stand der Flut; bei Ebbe sind sie vom feuchten Schlamm­ grund des Meeres umgeben, in dessen tieferen, von der Flutströmung ausgerissenen Furchen dann allein noch Salz­ wasser steht. Die Inseln sind zu klein, um den kost­ spieligen Deichbau zu lohnen, mithin sind sie schutzlos der allmählichen Vernichtung preisgegeben durch stetige Benagung ihres Küstensaumes seitens der gierigen Flut. Wütet vollends Weststurm, der das Nordseewasser in der schleswigschen Flachsee aufstaut und gegen Insel- wie Festlandküsten peitscht, so braust das Meer nur zu oft über die ganze Fläche der Halligen dahin. Deshalb ist hier kein Ackerbau möglich; bloß Rinder und Schafe weiden das saftige G-ras ab, das in zusammenhängender Narbe die Eilande überzieht, und der Mensch baut seine kleinen Wohnhäuser dicht gedrängt auf „Warften" d. h. auf künstlich aufgeworfenen Platthügeln, die beim An­ segeln jede Hallig, ehe man ihre Oberfläche selbst wahr­ nimmt, wie eine Gruppe steiler Flachinselchen erscheinen lassen, eben hoch genug, daß kaum die schlimmste Sturm­ flut sie zu überspülen vermag. Wir bemerken fast nur Frauen oder Kinder oder Greise auf diesen Inseln: die rüstigen Halligmänner sind eben draußen auf dem Welt­ meer. Bei der argen Seichtigkeit ihrer Inselküsten sehen die Bewohner der Halligen größere Schiffe zwar nur von weitem vorüberfahren, aber sie wissen durch hundertfältige Erzählungen ihrer Landsleute, die „draußen“ waren, und aus dem Glück, das dabei viele der Ihren gemacht, wie das weite Meer ihr rechtes Element ist. In den kleinen Schmuckzimmern der Halligbewohner, deren Wände nach

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altniederländischer Mode mit weißen P orzellanfliesen äusgelegt sind, etwa das biblische Gleichnis vom Balken im eigenen, dem Splitter in des Nächsten Auge drastisch in Blau daraufgemalt, überraschen uns lauter Seltenheiten von ostasiatischen, indischen, amerikanischen Küsten und Meeren,, an der Wand große Bilder holländischer „Fleuten“, an deren Bord ein Vorfahr gesegelt ist, an gehakt auch das lange Fernrohr, das er dann als „Kaptein“ bei der Fahrt gebraucht hat. Die würdige Matrone in patrizierhaft schwarzer Kleidung schenkt uns besten Madeira ein und erzählt stolz und sorgenfrei von ihrem Sohne, der die schönen japanischen Lackwaren mit dem Futschijamabild dort auf dem Nipptisch ihr mitgebracht habe und nun wieder mit den Taifunen kämpfe; Tränen aber füllen ihr Auge, indem sie auf ihren Jüngsten zu sprechen kommt, den sie nach Berlin genommen und in die Garde eingestellt haben; dem ginge es in dem wildfremden Lande gewiß entsetzlich, er müsse sogar — Kommißbrot essen! Wie anders wieder lautete die Antwort, die jener friesische Marschbauer seinem in die Fremde strebenden Sohn er­ teilte: „Hie is de Marsch, un buten (draußen) in de Welt is man Geest; wat willt du dumme Jung in de Welt?“ So verschiedenartig spiegelt sich das Weltbild in der Seele von Gliedern desselben Volksstammes je nach der Sinnes­ richtung, die bestimmt wird durch den erwählten Beruf. Kirchhoff.

165. Trier. Trier hält man für die älteste Stadt in Deutschland. Eine Sage behauptet, sie sei schon tausend und drei­ hundert Jahre vor Rom erbaut worden. Soviel ist jeden­ falls gewiß, daß die Römer lange Zeit die Stadt Trier be­ saßen, ja daß eine ganze Anzahl römischer Kaiser in Trier gewohnt hat, darunter Konstantinus, der das Christentum im römischen Reiche einführte. Darum befinden sich in Trier und Umgegend noch viele Überreste von Bauten aus der Römerzeit. Selbst der Dom ist ein solcher Rest,

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sein Mittelbau soll ein Teil des Palastes der heiligen Helena gewesen sein, der Mutter Konstantins, die einer frommen Sage nach bei ihrem Wegzug von Trier ihr Haus der christlichen Gemeinde überließ, daß sie daselbst ihren Gottesdienst halten sollte. Die Moselbrücke ruht auf sieben mächtigen Pfeilern aus Granit und Basalt, die von den Römern aufgeführt sind. Von Norden her bildet den Eingang in die Stadt das noch ziemlich vollständig erhaltene gewaltige Römer­ tor, im Volksmunde das Simeonstor genannt, sonst die Porta nigra, das heißt die schwarze Pforte. Eine alte Sage berichtet, wenn die alten Trierer aus einem sieg­ reichen Kampfe heimgekehrt wären, dann wären sie fröh­ lich durch das Tor im Süden eingezogen, das sei darum die weiße Pforte genannt worden; wenn sie aber eine Schlacht verloren hätten, dann wären sie betrübt zu dem nördlichen Tore eingezogen und hätten es darum die schwarze Pforte geheißen. Diese Sage ist aber recht töricht erfunden, denn wenn die alten Trierer geschlagen wurden, dann rannten sie wohl so schnell es ging zum nächsten Tor in die Stadt hinein. Und es gibt der Tore fast ein Dutzend. Die Porta nigra ist vielmehr deshalb als die schwarze Pforte bezeichnet worden, weil sie aus schwärzlichen, gewaltigen Sandsteinblöcken erbaut ist, die ohne Mörtel, nur durch eiserne Klammern verbunden sind. Sie ist kein bloßes Tor, sondern zugleich ein beinahe dreißig Meter hohes dreistöckiges Gebäude mit runden, vierstöckigen Ecktürmen. Weil in altenZeiten ein frommer Einsiedler, namens Simeon, darin gehaust hat und ge­ storben ist, hatte man das ganze Torgebäude in eine Kirche verwandelt, die man Simeonskirche nannte. Als die Rheinlande französisch waren, beschloß der Kaiser der Franzosen, Napoleon I., das Gebäude in seiner ursprüng­ lichen Gestalt wiederherzustellen, doch wurde dieser Plan erst von der preußischen Regierung im Jahre 1817 vollendet.

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Trier hat außerdem noch eine Reihe wichtiger Denk­ mäler aus der Römerzeit, so die Trümmer des Kaiser­ palastes, die Basilika, die jetzt in eine evangelische Kirche umgewandelt ist, das Amphitheater und die rö­ mischen Bäder. Die überaus zahlreichen Funde aus dem Altertum, welche in dem Gebiete von Trier ausgegraben worden sind und noch fortdauernd neu ausgegraben werden, werden in dem zu Ende der achtziger Jahre voll­ endeten prächtigen Museum aufbewahrt. 166. Rheinische Weinlese. 1. Erwartung der Lese. Stundenlang kämpft allmorgendlich die Oktobersonne mit dem dicken, weißen Nebel, der über dem Flußtal wogt. Ist sie aber endlich siegreich durchgedrungen, dann liegt sie dafür auch den Rest des Tages so heiß über der Gegend, daß wir uns in die Sommerzeit versetzt glauben. Die Weinberge sind längst geschlossen, selbst den Eigentümern ist der Zutritt verwehrt; die einzelnen „Wingerte“ sind ja nicht durch Hecken und Zäune voneinander abgegrenzt, darum ist diese Maßregel üblich geworden. Nur einmal wöchentlich ist „Wingertstag“, da darf jeder zuschauen, welche Fort­ schritte seit acht Tagen seine Trauben gemacht haben. Es ist eine edle Frucht, darum entwickelt sie sich auch so langsam. Erst Ende Juni blüht der Wein, und mancher sonnige August- und Septembertag ist erforderlich, um die Beeren zu färben und zu erweichen.

2. Vorbereitungen zur Lese. Die Herbst­ gerätschaften sind längst in Ordnung, die Bütten ge­ wässert, die Fässer geschwenkt, die Legel geputzt, die Traubenmesser geschliffen, und erwartungsvoll sieht man dem Beginn der Lese entgegen, denn niemand darf vor dem angesetzten Termine des „allgemeinen Herbstes“ die Ernte einheimsen. Ängstliche Gemüter, zu welchen be­ sonders die Besitzer ganz kleiner Weinberge gehören,

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drängen fortwährend den Gemeinderat, er möge die Lese gestatten, während die Besitzer größerer Weinberge das Herbsten immer noch hinausgeschoben wissen wollen. „Je länger wir warten,“ so sagen sie, „desto besser wird der Wein, und diese Herbstnebel in der Frühe und des Nachmittags die warme Sonne tun den Trauben noch gar zu gut, sie werden noch täglich süßer! Es geht nichts über die Spätlese!“ 3. Beginn der Lese. Endlich eines Abends schallt die Trommel des Ausrufers durch die Gassen des Städtchens. „Übermorgenbeginntder allgemeineHerbst!“ so ruft jubelnd einer dem andern zu. Nun entfaltet sich ein rastloses Treiben; Leser werden bestellt, Wein in Krüge und Flaschen gefüllt, Brot, Käse und Würste ge­ kauft, kurz, alles beschafft, was etwa noch fehlt. Welches Leben füllt die Stadt! man kennt sie kaum wieder. Lange vor Tagesanbruch schon knallen Peitschen und rasseln Räder. Fässer und Bütten werden hinausgefahren, und in der Morgendämmerung zieht es scharenweise zu allen Toren hinaus, in den Beiz, auf den Kauzenberg, die Ley, den Hinkelstein, und wie die Berge alle heißen, die mit vielen Tausenden der edlen Traubenstöcke bedeckt sind. Überall lachen uns die reifen Trauben entgegen und scheinen zu sagen: „Schneidet uns ab, wir platzen sonst!“ Die steilen Abhänge sind mit der kleinbeerigen, abge­ härteten Rieslingtraube bepflanzt, der edelsten Reben­ sorte, aus welcher der Wein mit der feinen, lieblichen „Blume“ bereitet wird, während oben „auf dem Gleichen“ in bunter Abwechslung alle Arten von Trauben vertreten sind. Die grasgrüne, saftige, festgepackte Österreicher oder Frankentraube ist am häufigsten, aber dazwischen stehen auch zahlreich die blauen Burgunder und die schwarzblauen „Klebrot“, die bräunlich goldenen, dünn­ schaligen „Kleineberger“, die hellroten „Traminer“ und die violetten „Ruländer“, die langen, fleischigen „Velt­ liner“, hier und da auch ein „Gutedel“, kennbar an den

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kirschdicken, locker sitzenden Beeren, oder ein „Mus­ kateller“ mit wunderbar feinem Wohlgeschmack. 4. Das Herbsten. Und nun beginnt die schönste der Ernten. Jedem Leser und jeder Leserin wird eine „Zeile“ zugeteilt, welche jedes für sich allein zu lesen hat. Da stellt man nun das Büttchen oder den Eimer neben die Weinstöcke, und nachdem man hier und da einige Blätter abgestreift hat, um auch die versteckten Trauben zu finden, wird mit dem krummen Messer oder der Traubenschere ein Träublein nach dem andern ab­ geschnitten. Viele sind schon faul, aber das liebt man gerade, es ist ja die „Edelfäule“, welche den Wein nur um so vorzüglicher macht. Die zu Boden gefallenen Beeren werden sorgsam aufgerafft, oft unter dem Laub und feuchten Weinbergsgras hervorgescharrt. Der Herr des Weinbergs betrachtet es heute als eine wichtige Auf­ gabe, darauf zu achten, ob dieses Geschäft des Beeren­ raffens auch wirklich ausgeführt wird. Dies hindert aber nicht, daß die Leser sich allerlei lustige und schaurige Geschichten erzählen oder durch Anstimmen fröhlicher Lieder die Arbeit fördern. Auch von Zeit zu Zeit ein Träublein zu kosten, ist ihnen nicht verwehrt. Hin und her wandelt, auf einen Weinbergspfahl ge­ stützt, der „Legeiträger“, auf seinem Rücken trägt er an ledernem Riemen das hölzerne Legel, in welches die Trauben aus den kleinen Eimern und Bütten unaufhörlich hineingeschüttet werden. Vor dem Weinberg steht über einer großen Bütte die Traubenmühle, einer riesigen Kaffeemühle nicht unähnlich; in diese entleert der Legelträger seine Last. Da liegen sie dann, die gelben und die roten, die blauen und die weißen Früchte. Aber hüte dich, sehens Träubelein! Die Mühle wird gedreht, und in kurzer Frist ist alles zerquetscht und in einen häßlichen Brei verwandelt, der von einer süßen, schmutzig-trüben Brühe umgeben ist. An wenigen abgegelegenen Orten werden auch nach alter Vätersitte die

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Trauben in einer Tretbütte von einem Tretbuben, der in mächtigen Stiefeln steckt, zertreten. Jetzt erscheint auch der Fuhrmann mit dem Ladfaß, mit Kübeln wird die Traubenernte dahinein geladen und nach Hause zur Kelter gefahren. 5. Erholung zwischen der Arbeit. Unter­ dessen herrscht im Weinberg emsige Arbeit und fröh­ liches Leben, bis der Schall der Mittagsglocke aus dem Städtchen herübertönt; dann ruht für eine Stunde die Arbeit, und die ganze Gesellschaft begibt sich an den ehrwürdig bemoosten Steintisch, der sich an einer etwas freigelegenen Stelle befindet. Das Städtchen liegt uns zu Füßen, zwischen die Berge geschmiegt: weiße Landhäuser leuchten von den Abhängen, und verfallene Burgruinen strecken ihre Turmstümpfe zum Himmel. Drunten glänzt der prächtige Strom. Von allen Bergen in der Bunde schallt Gesang, Lachen und fröhliches Jauchzen, hier und da flackert auch ein Feuerchen auf. Das gehört einmal dazu. Die Kinder des Hauses, welche anfangs fleißig mit­ lasen, jedes seine Zeile, dachten das auch und haben, statt weiter zu lesen, lieber eine andere Arbeit unter­ nommen; sie haben reichlich die zu kurzen oder sonst un­ brauchbar gewordenen Weinbergspfähle zusammenge­ sucht, von den Planken die jetzt nutzlos gewordene Dornenverzäunung abgerissen, das Heftstroh von den Weinstöcken geschnitten und allerlei anderes Brennbare aufgetrieben, und nun flammt bald ein behagliches, hohes Feuer in die sonnige Oktoberluft. Sobald es etwas zu­ sammengesunken ist, wird ein Kessel mit Wasser dran­ geschoben und ein magenwärmender Kaffee bereitet, welchem die Leserinnen sogar vor dem Wein den Vorzug geben. Der Flurschütz erscheint auch, und noch mancher­ lei Freunde stellen sich ein. Der Steintisch wird nicht leer von Flaschen und Gläsern und allerlei kaltem Imbiß; auch Tassen und Kuchen fehlen nicht. Wer aber Trauben essen will, der geht zu den Lesern und schneidet sich nach

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Herzenslust. Nur wer von den noch am Stock hangenden Trauben einzelne Beeren abzupft, gilt als Näscher und wird von dem Herrn des Weinberges scheel angesehen. Die Hausfrau hat inzwischen sorgsam einen großen Korb voll der schönsten Trauben geschnitten, zum Aufbewahren bis tief in den Winter hinein oder zum Verschicken an auswärts wohnende Freunde. Die Knaben sind auf die Mandelbäume geklettert, die man hier und da im Wein­ berg duldet, weil ihr dünnes Laub nicht viel Schatten wirft und also den Trauben die Sonne nicht sonderlich wegnimmt. Die Mandeln hängen jetzt lose in der grünen Schale, der „Kolte“, ein Zeichen, daß sie reif sind: unter Jubel werden sie von den Knaben mit langen Stangen heruntergeschlagen und in Säcke gesammelt. 6. Feierabend. Aber die Oktobertage sind kurz, immer häufiger hört man den Herrn verweisend sagen: „Da hat schon wieder jemand eine hängen lassen! Da ist ein ganzer Stock übersprungen! Da sind die Beeren nicht gerafft!“ Auf einmal sagt er: „Wir wollen lieber auf­ hören! es wird zu dämmerig: Feierabend, ihr Leute!“ — „Feierabend!“ schallt es fröhlich zurück, und wiederum sammelt sich die ganze Gesellschaft am alten Steintisch zum vergnüglichen Feierabendtrunke; gar manchmal werden die Gläser gefüllt und immer wieder leer. Das Feuer wird aufs neue geschürt, und sein knisterndes und loderndes Aufflammen antwortet auf die zahllosen Herbstfeuerchen, die in weiter Runde aufblitzen. Einer der Leser, ein lustiger Bursch, der bei der Garde gedient hat und den ganzen Tag schon durch seine Schnurren die andern erheiterte, hat eine Harmonika mitgebracht, da­ mit begleitet er nun die Lieder vom Morgenrot, Morgen­ rot! oder vom grünen Klee und weißen Schnee, und was da alles gesungen wird; plötzlich aber geht er in eine Tanz­ weise über, und siehe da! die anscheinend so müden Beine fühlen sich zauberisch angeregt, und in munterem Reigen hüpft alt und jung im Kreise um den Steintisch. Zum

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Abschied — es ist nun völlig Nacht geworden — brennt der älteste Sohn des Besitzers einige Schwärmer und Frösche los, welche krachend und zischend und unend­ lichen Jubel erregend umherfahren, und zuguterletzt steigen auch noch ein paar Raketen in die Abendluft. Unter Gesängen geht es nun heimwärts; die Leserinnen tragen ihre Büttchen auf dem Kopfe oder unter dem Arm. Nur darf man sich nicht einbilden, sie sähen schmuck aus, vielmehr sind die Gewänder feucht und bespritzt, die Schuhe kotig, Gesicht und Hände klebrig und schwarz. Die Straßen des Städtchens aber sind vollgestopft mit heimkehrenden Lesern und Fuhrwerken aller Art, welche den Erntesegen heimbringen. Und so geht das nun wochenlang fort: es ist ein Leben und Wogen, wie es eben nur einmal im Jahre hier stattfindet — wenn es „Herbst“ ist, aber das seinen Höhepunkt erst erreicht in einem guten und reichen Weinjahr.

167. Die Rodelbahn. Wenn der nasse November mit seinen Stürmen und Nebeln vorbei ist, wenn der Bergwald kahl und dunkel­ braun ins Tal herunter schaut, dann bewegt alle Kinder­ herzen im Städtchen derselbe Gedanke: Ach, gäb's doch bald Schnee! Allabendlich wird der dringende Wunsch zum Himmel gesandt, und allmorgendlich richten sich viele er­ wartungsvolle Augen nach dem Fenster, zu schauen, ob es denn noch immer nicht geschneit hat. Endlich ist eines Morgens draußen alles weiß, und der Jubel der Kindergroß. Er wird aber noch größer, als das Schneien in den nächsten Tagen gar nicht aufhören will und schließ­ lich Gärten und Wald in eine dichte, weiche Decke ge­ hüllt sind. Voll Freude werden die Rodelschlitten hervor­ geholt, sorgsam eingefettet hatten sie den Sommer über im Dachstübchen gehangen; die warmen Fausthandschuhe, die enganliegenden wollenen Jacken, die festsitzenden Käpp­ chen werden aus dem Schrank gekramt, und die Rodler

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können losziehen. Die zum Bergwald führende Straße ist belebt, Buben und flinke Schulmädchen, Gymnasiasten und große Damen, junge Burschen und ältere dicke Herren, alle ziehen sie einträchtiglich hintereinander, ihr Schlitten am Riemen rutscht brav hinterdrein. Sogar ein großeAuto voll Kinder tutet da heran, das Dach hoch beladen mit Schlitten, und erst die Wagen der elektrischen Bahn können kaum alle die Rodler fassen, rechts und links vom Fahrer häufen sich die Fahrzeuge zu Bergen, und an jeder Haltestelle werden noch neue Gäste und neue Schlitten ein­ geladen. Nun sind alle am Wald, und das Klettern be­ ginnt; es ist nicht leicht, die Wege sind glatt, und der Rodelschlitten wird immer lästiger, denn er will durch­ aus wieder bergab glitschen. Die doppelte Anstrengung macht heiß, aber das schadet alles nichts, denn endlich er­ reicht man doch, hoch oben int Wald, den Anfang der Rodelbahn, oder vielmehr ihr unteres Ende. Die ersten bergab sausenden Schlitten begegnen uns, und wir steigen flinker aufwärts auf dem schmalen Fußpfad neben der Bahn her. Endlich, endlich stehen wir auf der Höhe. Wenig Zeit haben wir heute für die herrliche Aussicht über den in der Wintersonne kristallen flimmernden Wald, über den Fluß, der langsam und dunkelgrau dahinzieht, belastet mit unzähligen Eisschollen, über das unter seinen Schneehauben wie schlafend daliegende Städtchen: der Rodelbahn allein gelten heute alle unsere Gedanken. Der gestrenge Stadt­ rat hat endlich auf vieles Drängen der Bürger und viele „Eingesandt" in der Zeitung hin in den Säckel gegriffen und diese breite Bahn anlegen lassen. Steil beginnt sie auf der Höhe des Berges, um dann nach einigen Biegungen geradeaus zu laufen und endlich sanft abfallend am Forst­ haus zu enden. Mancher Baum mußte gefällt werden, um Platz zu schaffen, und rechts und links türmen sich hohe Schneewälle auf, die jeden Absturz mildern. Hier oben, wo wir stehen, ist der Sammelplatz, wohl an 30 bis 40 Rodler kauern da dicht beieinander auf ihren kleinen Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

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Fahrzeugen, ungeduldig rutschend, bis die Reihc an sie kommt. Meist sitzt nur einer drauf, manchmal auch zwei oder drei Menschenkinder hintereinander, fest hält jedes das vor ihm sitzende umschlungen, stramm sind die Füße rechts und links gegen die Seitenstangen gestemmt, und weit zurück lehnen sich alle. Der städtische Rodelwart im Pelzrock führt mit wichtiger Miene Aufsicht. Erst nachdem er die Mitgliedskarten des Rodelvereins gesehen hat und von den Nichtmitgliedern ein Eintrittsgeld erhoben, läßt er den ersten Schlitten durch die schmale Öffnung in der Holz­ schranke, stößt ihn ab und schaut aufmerksam nach, ob er glücklich den ersten steilen Abhang hinuntergelangt ist und sicher um die nächste Waldecke verschwunden ist. Dann erst läßt er den folgenden durch, und immer so fort. Manch­ mal kippt schon gleich zu Anfang einer um; sieht das immerwache Auge des Gesetzes, daß die in den Schnee Gepurzelten sich nicht allein helfen können, so besteigt er wohl seinen Einsitzer und saust zur Rettung, aber selten ist das nötig, denn meist rollen sich die Verunglückten lachend aus dem Schnee, schütteln sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, nur daß kein Wasser, sondern weißer, feiner Staub von ihnen fliegt, und „wieder Auf­ sitzen!" heißt's, ehe der folgende Schlitten kommt. O weh, da ist er schon, „Bahn links" schreit's gellend, und blitz­ schnell segt's auch schon links vorbei, kaum erkennen konnte man, wer drauf saß, war's ein Herr oder eine Dame? Der auftvirbelnde Schneestaub hüllt den Fahrer oft so ein, daß man nur ein dunkles Etwas an sich vorbeihuschen sieht. Am drolligsten ist's an der großen S-Schleife, da scheitern die besten Fahrer, und je schwungvoller und sorg­ loser sie den scharfen Bogen nehmen wollen, den ganzeil Leib auf die rechte oder linke Seite gebogen, desto lächer­ licher sieht es sich an, wenn der selbstbewußte Reiter in hohem Bogen feinem Roß entfliegt. Unauslöschliches Ge­ lächter schallt dann durch den Winterwald, denn gerade an dieser Ecke haben sich ganze Scharen lachlustiger Zu-

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schauer aufgestellt. Vielen gelingt es auch, die ganze Strecke ohne Unfall hinunterzufahren, stolz lenkt da manch kleiner Junge, hinter sich die große Schwester, die sich ängstlich festklammert und am liebsten abspringen möchte, wenn sie es nur könnte, und wenn sie nicht so fest versprochen hätte, sich nicht zu rühren; schneidend scharf pfeift die Luft ihr um die Ohren, blitzschnell sieht sie rechts und links ver­ schneite Tannen kommen und schwinden, nun noch die letzte Biegung, und das Ziel ist schon erreicht. „Es war doch wundervoll, nun will ich auch selbst lenken lernen," sagt sie dann, und mühsam beginnt wieder der Aufstieg. Aber gern klimmt jeder die 25 Minuten bergan, von der Be­ gierde getrieben, denselben Weg in zwei Minuten wieder hinabrasen zu können, und dann wieder hinauf und wie­ der hinab und nochmals und nochmals. Mancher Dicke aber schleicht sich, ehe er den zweiten Aufstieg nimmt, seit­ wärts zum gastlichen Forsthaus, sich am Ofen beim Kaffee neuen Mut zu holen und ein Schwätzchen zu halten mit der Försterin. Doch die hat heut keine Zeit, zum morgigen Sonntag haben sich schon 25 Rodler zum Mittagessen an­

gemeldet, die wollen ben kurzen Wintertag ganz im Wald verleben. Andere Rodler aber sind unermüdlich, am meisten die Kleinsten. „Ich bin heute schon elsmal gefahren, wie oft du?" — „Ich schon siebzehnmal." — „Und ich zwanzig­ mal !" so hört man die Unterhaltung der Aussteigenden. Doch die frühe Dämmerung beginnt, die Kinder müssen heim; es ist zwar verboten, außerhalb der Bahn im Wald zu rodeln, aber ivenn gerade kein wandernder Fußgänger in Sicht ist, dann ist die Versuchung zu groß, schnell wird das hölzerne Roß bestiegen und ein Stück des Heimwegs im Fluge zurückgelegt. Der Wald wird leerer und stiller, und der aussteigende Vollmond sieht mit Verwundern die letzten lustigen Rodler durch den Schnee kollern.

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168. Der Strom im Winter. Der Winter hat sich eingestellt, der echte, strenge Winter. Zum Strom hinab geht unser Weg. Alles glitzert so frisch in der klaren, kalten Luft. Die Berge drüben mit den alten Burgen grüßen herüber, die Schneekappe steht ihnen ganz gut. Ode genug sieht der Strom aus, aber doch nicht ganz leblos. Schiffe freilich sind keine zu sehen, dafür aber kommen zahllose Eisschollen herangeschwommen. Im Haupt­ arm strömt das Wasser zu reißend, als daß da eine ordent­ liche, feste Eisdecke entstehen könnte. Es bildet sich zwar beständig Eis, allein es schwimmt in Gestalt dünner Schol­ len sofort stromabwärts. Zwischen diesen Schollen jedoch treiben auch mächtigere Stücke. Sie kommen aus den Neben­ flüssen herabgeschwommen oder haben sich in dem stilleren Wasser des Ufersaumes gebildet. Sie sind mit weißem Schnee bedeckt, auch Holzstücke und Äste reisen auf ihnen dem Meere zu. Nun wird ihre Schar dichter, und jetzt kommen sie ganz enggedrängt vorüber, wie eine Herde wan­ dernder Schneegänse. Sie reiben sich aneinander, und wenn zwei recht große zusammenstoßen, dann gibt es einen Ruck, ein zischendes Geräusch, die schwächere Scholle zerbricht in Stücke, di« Stücke tauchen unter und verschwinden in den grünen, kalten Fluten, um eine Strecke weiter unten wieder aufzutauchen. Ein eigentlicher Eisgang ist dies nicht; der bietet ein viel großartigeres Bild. Dazu ist der Winter noch nicht weit genug vorgeschritten und die Kälte noch zu anhaltend: heute das ist nur Treibeis. Auf dem stillen Seitenarm aber, zwischen der Insel und dem diesseitigen Ufer, steht das Eis fest und bildet die herrlichste Eisbahn. Dorthin wollen wir unsere Schritte lenken. Kaum haben wir die glatte Fläche betreten, so kommen schon die Knaben mit den klappernden Blechbüchsen auf uns zu, um Geld zu sammeln als Lohn für die Schnee­ kehrer, die dort mit langen Besen geschäftig einhergehen und die Bahn reinhalten. Jauchzen, Schreien, Summen, dazwischen der eigentümliche, surrende Klang der Schlitt-

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schuhe tönt an unser Ohr. In dichten Scharen treibt sich da jung und alt umher, die Offiziere haben sich ihre Regimentsmusik herbestellt, junge Leute und gelenkige Knaben sieht man zu den Klängen der Musik förmliche Reigen­ tänze aufführen und in kunstvollen Wendungen Halbkreise schlagen, jetzt auf einem Fuß, dann rückwärts, nun wieder in langer Kette, Arm in Arm geschlungen: kurz, sie versuchen alle möglichen und unmöglichen Künste, um die Bewun­ derung der Zuschauer zu erregen. Oft kommt freilich Hoch­ mut vor dem Falle und zwar vor einem Falle, der gar kein Mitleid, sondern nur Schadenfreude erregt. Zwischen den fröhlichen Menschen tummeln sich zu Dutzenden flinke Schulmädchen mit roten Wangen und freudestrahlenden Blicken, die Hände im Muff, Schlittschuhe unter den Füßen — heute ist ja schulfreier Nachmittag, der Eisbahn zuliebe — ganz kleine haben zum erstenmale Schlittschuhe angcschnallt, sie purzeln beständig hin, werden dann von mit­ leidigen ältern Schwestern oder Freundinnen wieder auf die Beine gestellt und mit Gewalt vorangeschoben, von rechts und von linksher faßt eine sie unter den Arm: ein sehr zweifelhaftes Vergnügen; aber ohne solche mühsame Stu­ dien kann eben keiner die Fertigkeit erlangen, die doch so große Freude macht. Schlitten mit rotgepolsterten Leder­ sitzen stehen da zum Vermieten, andere werden von Schlitt­ schuhläufern hin und hergefahren. Dazwischen jubelnde Kin­ der, die sich damit begnügen, „Bahn zu schlagen", eins dicht hinter dem andern, während ältere Leute am Ufer stehen und an einem Glas Glühwein oder Punsch nippen, den ein unternehmendes altes Mütterchen dort feilbietet. Auch am Ufer wogt es auf und ab von gehenden und kommenden Menschen. Eine Knabenschar trabt stampfend daher, teils um rascher zu der glatten Fläche zu gelangen, teils um sich die kalten Füße zu vertreiben. Die Wege sind zwar verschneit, aber durch den Schnee sind breite Pfade gebahnt; die Sträucher stehen kahl, auf den Ästen und Zwei­ gen lastet der Schnee, während in den angrenzenden Gärten

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die Tannen, Stechpalmen, Zypressen und Schlingrosen grün unter ihrer Schneehülle durchleuchten. Zutrauliche schwarze Umseln Hüpfen über den Weg und Picken mit ihren gelben Schnäbeln die Brotkrümchen auf, die man ihnen hinwirst. Rab! Rab! rüst es aus der Luft, da fliegt ein ganzer Schwarm der hungrigen Wintervögel einher, um wenige Schritte vor uns sich schreiend niederzulassen. Der Schnee aber knistert unter unsern Füßen; wir schütteln ihn von Zeit zu Zeit von den Sohlen und werfen dem winterlichen Strome noch einen Abschiedsgruß zu, trotz aller Winter­ freuden die Zeit herbeiwünschend, wo es wieder grün und somnterlich hier sein wird.

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Deutsche Sagen. 169. Der Korporal Spohn. In der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz, am 2. Dezember 1805, hatte Napoleon sich zu weit vor­ gewagt und war plötzlich von Kosaken beinahe um­ geben. Er macht Kehrt und gibt seinem Schimmel die Sporen. Immer noch von feindlichen Reitern verfolgt, kommt er in ein Gehölz, das ihn zunächst den Blicken der Verfolger entzieht. Das sah der Korporal Spohn, der dort stand. Herr Kaiser, ruft Spohn ihm zu, mir den Gaul und mir den dreieckigen Hut, ich will Eure Rolle spielen! Der Kaiser, rasch entschlossen, springt ab und geht zu Fuß langsam bei Seite. Wie aber die Kosaken den Schimmel jenseits des Gehölzes wieder auftauchen sehen und den Reiter mit dem dreieckigen Hut, da jauchzen sie laut auf, und es währt nicht lange, da haben sie ihn erreicht und fallen dem Pferd in die Zügel. Wie sie aber merken, daß sie den Un­ richtigen gefangen haben, geraten sie in Wut und haben den Spohn zusammengehauen, also, daß er blutend zur Erde sank und am 13. Januar 1806 seinen Wunden erlegen ist. Dieser Franz Spohn war ein Zimmermann aus Koblenz, damals 29 Jahre alt und ein altgedienter Sol­ dat, der als Rempla$ant d. h. Stellvertreter beim 36. französischen Linienregimente stand. Die eben erzählte Geschichte beruht auf mündlicher Überliefe­ rung und wird wohl ihre Richtigkeit haben. Simrock, der in seinen Rheinsagen dieses Beispiel von beiden-

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mütiger Aufopferung mitteilt, schließt sein Gedicht mit den Worten: Der große Korporal war Spohn, War größer als Napoleon.

170. Die Schwanenkirche auf dem Maifelde. Von Garden aus führt eine steile Straße vom Mosel­ tale das Maifeld hinauf zur Schwanenkirche, einem ein­ sam gelegenen Kirchlein in reinstem frühgotischem Stile. Lange Zeit traurig verfallen, ist das Gotteshaus jetzt wieder völlig hergestellt und bildet eine Zierde der ganzen Gegend. Statt eines Hahnes zeigt die Turm­ spitze einen Schwan. Das Kirchlein ist zur Zeit der Kreuzzüge als Gelöbniskirche errichtet. Folgende merk­ würdige Sage knüpft sich daran: Ein Ritter vom Maifeld war in den Kreuzzügen ge­ fangen worden und saß jahrelang in finsterem Turme. Seine Sehnsucht nach der Heimat ward stärker und stärker, und als er eines Abends inbrünstig zu Maria ge­ betet hatte, sie möge ihn doch seiner Ketten entledigen, da träumte er, es käme ein Schwan durch die Kerker­ mauer geschritten und böte ihm den Rücken dar, er schwänge sich auf, und alsbald breite der Schwan seine Flügel aus und flöge mit ihm ans Meer, dann über Meer und Land und Wälder und Heide, und endlich senke er die Schwingen, lasse sich nieder, schüttle seine Last ab und entschwebe wiederum gen Himmel. Da erwachte der Ritter und seufzte, daß ein Traum ihm so schöne Bilder vorgegaukelt hätte. Aber wie er die Augen rieb, lag er zwar auch auf rauher Erde, aber die Gegend um­ her war ihm wohlbekannt, denn es war das Maifeld und war seine Heimat. Der Ritter aber baute an der Stelle, wo der Schwan ihn niedergesetzt, zu Ehren Marias diese Kirche und nannte sie Schwanenkirche.

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171. Die Legende von der heiligen Genoveva. Der Pfalzgraf Siegfried, der bei Mayen auf dem Hochsimmer sein Schloß hatte, war erst wenig Monde mit der liebreizenden Genoveva vermählt, als die Mau­ ren über die Grenze drangen. Da rief der König der Franken den Heerbann zusammen, um den Feind aus dem Lande zu jagen. Auch der Pfalzgraf Siegfried mußte sein trautes Gemahl verlassen, empfahl aber seinem Freunde Golo aufs dringendste, sie zu be­ schützen und gut über sie zu wachen, so lange er im Kampfe gegen den mächtigen Feind von Haus und Hof fern gehalten werde. Das dauerte aber länger, als er anfänglich dachte, und während er in heißen Schlachtenwettern sein Leben wagte, zogen daheim auch Gewitterwolken auf, die sein Eheglück zer­ schmettern sollten. Golo, von sündiger Liebe zu Geno­ veva erfaßt, aber von der edlen und tugendhaften Frau mit Stolz und Verachtung zurückgewiesen, sann auf Rache. Seine schwarzen Gedanken brachte er auch bald zur Ausführung, indem er mit verstellter Hand­ schrift einen Brief schrieb, den er Siegfried ins Lager sandte, darin stand, sein Gemahl pflege sträflichen Umgang mit Drago, einem seiner Dienstmannen. Da­ mit Genoveva selbst aber nicht ihrem Gatten Nach­ richt könne zukommen lassen, hielt er sie im Kerker eingeschlossen, woselbst sie ein Knäblein zur Welt brachte, dem gab sie den Namen Schmerzenreich. Golo berief ein Gericht und stellte falsche Zeugen auf, die Genoveva der schwersten Vergehen beschuldigten, so daß sie und ihr Söhnlein zum Tode verurteilt wurden. Zwei Henkersknechte wurden beauftragt, die beiden ins Dunkel des Waldes zu führen und sie dort zu töten. Aber sogar diese rohen Menschen wurden, als sie, den Befehl auszuführen, schon die Mordwaffe gepackt hatten, von der hinreißenden Schönheit und den flehen­ den Bitten Genovevas so gerührt, daß sie ihr grausi-

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ges Vorhaben nicht zu vollbringen wagten, sondern die beiden im Walde zurückließen. Nach Jahren endlich kehrte Siegfried zum heimi­ schen Schlosse zurück. Golo hatte inzwischen alle, die Genovevas Unschuld hätten bekunden können, aus dem Wege geschafft, und so gelang es dem Bösewicht, den Pfalzgrafen so mit Lügengewebe zu umflechten, daß er an Genovevas Schuld glauben mußte, wie sehr sich auch sein Herz dagegen sträubte. Aber nächtliche Träume zeigten ihm in allerhand Bildern sein armes, verstoßenes Weib, wodurch sein tiefer, bitterer Schmerz stets von neuem erwachte. Da ließ es ihm schließlich keine Ruhe mehr, und um die düstern Ge­ danken zu scheuchen, ließ er eine große Jagd ansagen, zu der alle Ritter und Edlen der Umgegend geladen waren. Lange schon hatte die Jagd gedauert, und viel edles Wild war den Pfeilen der Schützen erlegen, siehe! da sprang plötzlich vor Siegfried eine weiße Hindin auf, und von heißer Jagdlust ergriffen, verfolgte er sie auf raschem Rosse. Sein Pfeil traf das arme Tier, aber nicht tödlich, denn es floh weiter und verschwand schließlich vor Siegfrieds Augen in einer Felsengrotte. Eilig stieg er vom Pferde und folgte der Hirschkuh. Aber wie erschrak er, als er die weidwunde Hindin zu den Füßen einer Frauengestalt liegen sah, von deren Haupte lange goldene Locken über Brust und Rücken flössen, und neben ihr spielte ein liebliches Knäblein, sein eigenes Ebenbild, nur jünger und an­ mutiger. Größer noch ward sein Schreck, als er in dieser hehren Frau Genoveva erkannte und aus ihren duldenden Mienen ihre Unschuld, aus ihren abgehärm­ ten Zügen ihr grenzenloses Elend herauslas. In heißem Zorne wallte sein ritterliches Blut, als er nun aus ihrem Mund hören mußte, wie schwer man sich an ihr ver­ sündigt, wie aber der hohe Gott im Himmel so gnädig über sie gewacht und ihr dieses treue Tier geschickt,

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dessen Milch den beiden Verstoßenen als Labetrunk diente zu den Wurzeln und Beeren, die außerdem ihre Speise waren. Mit wehmütiger Freude nahm nun Siegfried Weib und Kind auf sein Roß und führte sie heim auf seine Burg. Golo mußte für seinen Treubruch den bitteren Tod leiden. Genoveva stiftete die Frauenkirche bei Mayen, die heute noch nach ihr die Genovevakirche genannt wird. Dort liegt sie mit ihrem Gemahl Sieg­ fried begraben, und beider Bildnisse, in Stein ge­ hauen, sind noch heute daselbst zu sehen.

172. Drei Sagen aus dem Siebengebirge. I. Der beste Edelstein. Es trug sich einmal zu, daß der Erzbischof von Köln in Bonn ein großes Fest gab, zu dem viele Fürsten und Edle von beiden Seiten des Rheines geladen waren. Als sie nun im Saale beieinandersaßen, rühmten sie sich ihrer Macht und Herrlichkeit und besonders ihrer Edel­ steine, die sie für das Allerköstlichste hielten. Da lief die Frage durch den Saal: „Wer hat den besten Edelstein Wohl auf und ab den ganzen Rhein?“ Nun wies der eine seinen Fingerring vor, in dem ein köstlicher Demant funkelte, der andere seinen Schwertknauf, an dem ein mächtiger geschnittener Stein prangte; manche zeigten auch ihren Gürtel oder ihr Barett, woran ebenfalls herrliche Kleinode befestigt waren. Alle köstlichen Steine aber schienen zu er­ bleichen vor demjenigen, den der Erzbischof selbst in seinem Siegelringe trug. Als der Erzbischof nun die ganze Reihe der Herren überblickte, sah er den Ritter Dietrich vom Drachen­ fels, der in einer Fensternische stand und sich um den Streit der andern gar nicht zu kümmern schien. Der

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Erzbischof war biß vor kurzem mit ihm in Fehde gewesen, hatte es aber zuletzt für gut gehalten, sich mit ihm aus­ zusöhnen, weil Dietrich von seiner festen Burg aus alle Angriffe siegreich zurückschlug. „Ritter Dietrich“, rief der Erzbischof, „wollt Ihr mir den Preis nicht streitig machen?“ Da trat der Ritter näher und erwiderte: „Ich ließe Euch gern den Ruhm; doch da Ihr mich fragt, so sage ich, daß ich einen Stein besitze, mit dem die Eurigen alle nicht zu vergleichen sind.“ Dabei wies er seinen Ring vor, und alle sahen mit Erstaunen einen schlichten grauen Stein, in herrlichen Goldreif gefaßt. Alle Gäste lachten über den törichten Ritter, und der Erzbischof sprach: „Solche Steine seh ich täglich viele Karren voll auf der Straße vorüberfahren; man baut die Häuser daraus. Wie hell auch Euer Schwert im Kampfe funkelt, lieber Ritter, Euer Stein ist gar blind.“ Da trat Dietrich an das Fenster, zog den Vor­ hang zurück und rief: „Da schaut, Ihr Herren, dort liegt der Drachenfels, die beste Burg am ganzen Rhein; nicht für Gold und Kleinod ist sie zu kaufen, und aus diesem Steine ist die Burg gebaut.“ Da verstummten alle die Herren, und der Erzbischof schaute zu Boden, denn er hatte am meisten erfahren, was der Drachenfels wert sei. II. Hüttemätütt. Auf dem Papelsberge bei Römlinghofen ist der Tanzplatz der Hexen. Da kann man sie in manchen Nächten sehen; sie reiben sich zu Hause Hexensalbe uhter die Füße und sprechen dazu: „Hüttemätütt! Am Schorresteen erütt, Over all Hecken und all Züng!“ Dann geht es auf Melkstühlen, Mistgabeln und Besen durch den Schornstein zum Papelsberge. Auch in der Oberdollendorfer Mühle kamen die Hexen zusammen. Einmal legte sich ein beherzter

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Müllerknecht mit einem Beil unter dem Kittel auf eine Ofenbank und tat, als ob er schliefe. Da kam eine schwarze Katze geschlichen, betrachtete lange den Knecht und sagte dann: „Hä schlöf!“ Da kam noch eine, die umging auch ganz leise den Knecht und sagte zur ersten: „Da schlöf!“ Und immer mehr Katzen kamen, und eine jede sah vorsichtig nach dem Müller­ knecht und sagte: „Dä schlöf!“ Auf einmal sprang der Knecht auf, hieb mit dem Beil um sich und rief immer: „Hä schlöf net, hä schlöf net!“ Da verschwan­ den mit Miauen und Stöhnen alle Katzen. Am andern Morgen aber gingen alle Nachbarsfrauen mit verbun­ denen Armen und Köpfen umher. III. Thymiänchen. An der Schmerbach bei Honnef hausen auch Zwerge. Die haben einmal Leuten, die in der Nähe wohnten, ein Kind aus der Wiege gestohlen und einen Zwerg dafür hineingelegt. Die Leute wunderten sich, daß ihr Kind so alt aussah und so häßlich und runzlig war, aber sie hielten es doch für ihr Kind und zogen den Wechselbalg auf. Wie nun immer der Rahm und die Milch vom Herde verschwanden, da wurden sie arg­ wöhnisch und legten eines Tages Eierschalen mit Spül­ wasser gefüllt in die Asche um das Herdfeuer. Da hörten sie eine Stimme, die sprach: „Ich bin so alt wie der Böhmerwald, Der ist dreimal abgehauen und dreimal abgebrannt, Aber noch nie hab ich geschaut, Daß in Eiertöpfchen Bier wird gebraut.“ Die Leute hatten nun Angst, das Kind hätte viel­ leicht diese Worte gesprochen, und weil es schon monatelang dalag und gar nicht zunahm und nicht wuchs, da nahmen sie es und machten mit ihm eine Bittfahrt auf den Stromberg, der auch Petersberg heißt. Da begegnete ihnen ein Zwerg, der sagte:

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„Thymiänchen, wo gehst du hin?“ Da sagte das Kind: „Nach Stromberg zu Gebitt!“ — „Dann geh hin und besser dich nit!“ — „Geh du heim und sorg dafür nit!“ erwiderte das Thymiänchen, und seine Stimme klang so ärgerlich und krächzend wie die eines uralten Männchens. Da merkten die Leute klar, daß es nicht ihr Kind sein konnte, sondern ein Wechselbalg, und sie warfen das verquergelte Geschöpf von sich in eine Dornhecke. Da hörten sie aber, wie es sich aufrappelte und mit Hohnlachen durch die Büsche davonlief.

173. Kaiser Rudolf in Mainz. Als Kaiser Rudolf von Habsburg sich im Winter 1288 zu Mainz aufhielt, hat er eines Morgens in aller Frühe in einem schlichten, grauen Soldatenmantel und Schlapphut die Straßen durchwandert, um nach dem Rechten zu sehen. Da es kalt war, ging er in ein offenstehendes Bäckerhaus, um am Backofen sich etwas zu wärmen. Aber die Bäckerfrau, die ihn für einen gemeinen Kriegsknecht hielt, ward unwirsch, schalt und hieß ihn seiner Wege gehn. Da der Kaiser ver­ zog und mit Behagen die Schimpfworte anhörte, die sich über ihn ergossen, nahm die Bäckerin letztlich einen Eimer Wasser und goß ihn über den zudringlichen Söldnerknecht. Der Kaiser schüttelte sich und ging seiner Wege. Mittags aber erzählte er sein Abenteuer und schickte der Bäckerin einen Schweinskopf und eine Kanne Wein. Als die Frau hörte, daß es der Kaiser gewesen wäre, dem sie so übel mitgespielt hatte, er­ schrak sie auf den Tod, lief zum Kaiser und jammerte um Gnade, denn sie hielt ihr Leben für verwirkt. Sie sagte, sie hätte den Kaiser für einen gewöhnlichen Soldaten gehalten. Der aber sagte: „Und wenn es nur ein gemeiner Soldat gewesen wäre, so hättet Ihr doch nicht so grob zu werden brauchen!“ Und zur Strafe mußte die Frau vor den kaiserlichen Gästen die

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Schimpfworte wiederholen, die sie des Morgens in den Mund genommen hatte. 174. Die tapfere Besatzung. Wo zwischen Bingen und Koblenz der Rhein durch das enge Felsental sich windet, liegt das altertümliche Städtchen Kaub. Mitten im Strom erhebt sich da die turmreiche, noch wohlerhaltene kleine Zollfestung, ge­ nannt die Pfalz, wo Blücher in der Neujahrsnacht von 1813 auf 1814 mit seinem Heer den Rhein überschritt. Um das Städtchen aber ziehen sich noch, wenn auch hie und da unterbrochen, die alten Ringmauern, und mitten im Orte stehen noch eine Anzahl alter Wachttürme, merk­ würdig anzuschauen, mit dicken, schwarzen Mauern, Bal­ könen und unregelmäßig angebrachten, einst zu Schieß­ scharten dienenden Fenstern. Von einem dieser Türme erzählt man sich folgende Sage: Als in den ersten Jahren des dreißigjährigen Krieges spanische Scharen das Rheinland verwüsteten, kam auch eine Abteilung Spanier gen Kaub und eroberte es in wenig Tagen, da der Kommandant, wie das ja öfter so geht, rasche Übergabe einer langen Belagerung vorzog. Nur einer der Türme, der mitten in der Stadt sich erhob, wurde nicht geöffnet. Vergebens waren alle Aufforde­ rungen des Feindes, sich auf Gnade oder Ungnade zu er­ geben; die kleine Besatzung hielt tapfer stand, und mancher Spanier verlor durch wohlgezielte Schüsse aus den Schießscharten des Turmes sein Leben. Von Zeit zu Zeit erschienen über der Brüstung oben, vorsichtig spä­ hend, einige Köpfe, aber man konnte gegen die tapfern Verteidiger nichts ausrichten. Stürmen konnte man nicht, denn diese Türme haben ihre Eingangstür zwanzig und mehr Fuß über den Erdboden. Da mußte man Leitern anlegen; und ehe es dahin kam, schossen die von oben die Leiteranleger einzeln tot. Die Spanier hatten auch keine schweren Geschütze, und so blieb vier Wochen

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lang alles unverändert. Der Feind war zwar im Besitze der Stadt, allein dieser Besitz war immerhin unvoll­ ständig, denn jeder vermied die Nähe des verhängnis­ vollen Turmes, schlich sich auf Umwegen um ihn herum oder schaute ängstlich von ferne hinüber. Endlich, nach vier Wochen, erschien eine weiße Fahne am Turm, das Zeichen, daß man unterhandeln wolle. Eine Trompete schmetterte, und als man durch Gegenzeichen zu verstehen gab, daß man zu Verhand­ lungen geneigt sei, erschien ein bärtiger Krieger oben an den Zinnen, während gleichzeitig die drohend aus den Mauerluken ragenden Musketenläufe verschwanden. Die Besatzung erklärte sich bereit, den Turm zu über­ geben, jedoch nur, wenn ihr freier Abzug gestattet würde. Der Besitz des Turmes war zu wichtig, und darum, wie auch in anbetracht der glänzenden und ehren­ vollen Verteidigung, wurde die Forderung bewilligt. Neugierig pflanzten sich sämtliche Spanier unten am Turme auf, um endlich ihre tapfern, geheimnisvollen Feinde von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Die 'Frömmeln wirbelten — jetzt sollte der feierliche Akt vor sich gehen. Nicht lange, so hörte man mühsam einen Schlüssel sich drehen, eine Türangel knarrte, die Turmtür oben tat sich auf, eine Leiter senkte sich hernieder, und die Besatzung kletterte würdevoll die Sprossen herunter: ein alter, bärtiger Feldwebel voran, ihm folgte sein Weib, und nach dem Weibe — eine dürre Geiß, niemand mehr und niemand weniger! Diese drei waren die ein­ zigen Insassen des Turmes gewesen. Oben auf dem Turm war ein Grasplätzchen, und einige Sträucher waren aus der Mauer entsprossen; von dem Laub, dem Grase und dem aufgefangenen Regenwasser lebte die Ziege, und die Milch, welche dieses nützliche Tier spendete, stillte in Verbindung mit dem mäßigen Eßvorrat Hunger und Durst des biedern Ehepaares. Endlich hieß es: „Die Alp

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ist abgeweidet“, immer dürrer wurde das segenspendende Tier, auch immer spärlicher das Pulver, und so entschloß man sich und hißte die weiße Flagge auf. Die Spanier wußten lange nicht, ob sie lachen oder sich für verhöhnt ansehen sollten, doch ihr Hauptmann entschied, daß den drei Tapfern nichts Böses geschehen solle, denn sein Wort müsse er halten. Die Erinnerung an diese Begeben­ heit aber ist bis heute im Munde der Bevölkerung le­ bendig geblieben. 175. Das Wappen der Stadt Köln. DasWappen von Köln zeigt drei Kronen und darunter elf Flammen oder Funken. Dieses bezieht sich auf die beiden wichtigsten Heiligtümer der Stadt, deretwegen die uralte Rheinstadt im Mittelalter das heilige Köln genannt wurde, nämlich die Schädel der heiligen drei Könige, die das Christkind in Bethlehem mit Gold, Weihrauch und Myrrhen beschenkten, und die Gebeine der elftausend Jungfrauen. So viele Jungfrauen sollen nach der frommen Sage mit Ursula, einer Königstochter von Irland, einst zu Schiffe den Rhein hinaufgefahren sein bis Basel; von da pilgerten sie zu Fuß nach Rom und wieder zurück nach Basel. Dort bestiegen sie wieder ihre elf Schiffe und fuhren rheinabwärts. Als sie in Köln landeten, lag gerade das wilde Volk der Hunnen vor der Stadt, die stürzten mit Geheul über die Jungfrauen her und töteten sie alle. Ihre Gebeine sind später gesammelt und in der der heiligen Ursula geweihten Kirche in Köln feierlich beigesetzt worden. Die Schädel der heiligen drei Könige sind vom Kaiser Friedrich dem Rotbart aus Mailand nach Köln gebracht worden, und um ihnen eine würdige Grabstätte zu bereiten, wurde der berühmte Kölner Dom errichtet. Als Köln eine freie Reichsstadt war und die Stadt­ soldaten das Kölner Wappen an ihren Uniformen trugen, nannte man diese Soldaten scherzweise die Kölner Funken. Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

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Man sagte, es seien ihrer jederzeit nur elf gewesen, die sich allesamt nicht durch sonderliche Tapferkeit aus­ gezeichnet hätten. Als einst Feinde vor die Stadt rückten, da soll der Hauptmann selbst herumgelaufen sein, seine Mannschaft zusammenzurufen. Er schnallte in der Eile seinen Säbel an die rechte Seite, statt an die linke. Im Schilderhaus fand er den Jürgen schnarchend an die Wand gelehnt, auf der Wachstube aber war nur der Pitter, der sagte, die andern seien nach Hause gegangen Kaffee trinken. Der Drickes war am Strümpfestricken und sagte: „Ich kann noch nicht mitkommen, sonst fallen mir alle Maschen.“ Wie der Hauptmann endlich seine Schar bei­ sammen hatte und an die Brücke kam, da summte ein Mai­ käfer dem Jupp um den Kopf, der glaubte, es sei eine Flintenkugel, fiel hin und sagte: „Ich bin tot!" Da fielen alle zu Boden, der Hauptmann auch, und wie sie wieder zu sich kamen, da standen sie auf und liefen heim. Die Kölner aber betrachten seitdem die Zahl elf als die Narrenzahl. 176. Wie die Wupper entstand. An einem schönen Sommertage wanderte ein Zwerg durchs rauhe Land der Berge dahin. Seine Hand führte als Stütze einen Stab. Aus dem Antlitz leuchteten ein Paar freundliche, milde Augen. Man sah’s dem Männ­ lein an, daß es nur ausgezogen war, um den Menschen Wohltaten zu erweisen. Doch wurde das Zwerglein selber von Hunger geplagt, denn das Land der Berge wurde von einer Hungersnot heimgesucht. Da begegnete dem kleinen Wandersmann eine arme Frau. An ihrem Arm trug sie ein Körbchen mit duftenden Erdbeeren, die sie in einem fernen Tal für ihre Kleinen gepflückt hatte. Sie bemerkte die Not des Zwerges. Schnell trat sie heran und reichte ihm die Früchte dar. Der Zwerg, hoch erfreut über das gute Herz der Frau, aß die Erdbeeren. Darauf sagte er zu seiner Wohltäterin: „Sprich eine Bitte aus, ich will sie

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dir erfüllen.“ Die Frau besann sich eine Weile. Da ihr Ver­ langen nicht auf Silber und Gold gerichtet war, sprach sie: „Willst du mir eine Gnade erweisen, so tue Gutes an meinen Kindern und an diesem rauhen, unwirtlichen Lande.“ Darauf befahl ihr das Zwerglein: „Grabe an dieser Stelle nach. Es wird eine Quelle hervorsprudeln, die der ganzen Gegend zum Segen gereichen soll. Gold und Silber wird sie hervorzaubern und besonders die Stelle beglücken, wo du die Erdbeeren gepflückt hast.“ Der Zwerg ver­ schwand. Die Frau tat nach seinem Befehl. Es quoll ein silberheller Wasserstrahl hervor, der lustig über Baum­ wurzeln und Steine dahinsprang, bald zu einem munteren Bächlein erstarkte und im Tale als ein ansehnlicher Fluß weiterrauschte. Es war die Wupper. An ihren Ufern wurde mit emsigem Fleiß gearbeitet. Es siedelten sich Garnbleicher dort an. Später wurden noch Färbereien an­ gelegt und vielerlei andere Betriebe. Die alle brauchten das Wupperwasser. Wo früher der Wald rauschte, erhoben sich zuletzt Städte mit rauchenden Schornsteinen. Die größte unter ihnen wurde .Elberfeld. Wie einst der Zwerg ver­ heißen hatte, drang der Ruhm dieser Stadt weit in die Welt. 177. Der Spion von Aalen. Wer die Stadt Aalen besucht, dem zeigt man ge­ wiß auch auf dem Rathaus den Spion, das Wahrzeichen von Aalen. Mit diesem Spion aber hat es folgende Bewandt­ nis: Als Aalen noch zu den freien Reichsstädten ge­ hörte, war der Kaiser einst über die Bürger sehr er­ zürnt, weil sie es gewagt hatten, seinen Befehlen zu trotzen. Er zog mit einem Heer herbei, um sie zu bestrafen. Schon stand er bei Gmünd, wo er sein Lager aufschlug. Die Bürger von Aalen waren dar­ über sehr erschrocken; denn die Stadt war damals noch klein und die Mauer nicht im besten Zustande. Man hielt Rat, was zu tun sei, und kam auf den Einfall, 19*

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einen Mann auszuschicken, der das Lager und die Stärke des kaiserlichen Heeres auskundschaften sollte. Die einstimmige Wahl fiel auf einen Bürger, der in der Stadt allgemein als der Schlaueste und Pfiffigste galt. Dieser gab auch die Versicherung, daß er seine Aufgabe gut und gewissenhaft ausführen wolle, und machte sich auf den Weg. Beim feindlichen Lager an­ gekommen, besann er sich nicht lange, sondern ging mutig ins Heerlager hinein. Als er den Kaiser inmitten seiner Ritter erblickte, zog er ehrerbietig seinen Hut und sagte treuherzig: „Grüß Gott, ihr Herrn!“ Der Kaiser konnte sich nicht entsinnen, wo er den Mann schon einmal gesehen hatte. Er fragte ihn, wer er sei, und woher er komme. Gewichtig erwiderte dieser: „Ich bin der Spion von Aalen und möchte nur ein wenig das Lager auskundschaften!“ Der Kaiser und sein Gefolge wollten sich über diese Antwort vor Lachen ausschütten. Aber weil er ein Freund von Scherz und Kurzweil war, so behandelte er den Spion aufs freundlichste und führte ihn durch die Gassen des Lagers. Das heitere Erlebnis hatte seinen Grimm verjagt. Er beschenkte den Spion reichlich und gab ihm einen Brief an seine Mitbürger mit, in welchem ge­ schrieben stand, daß er mit solch tapfern und klugen Leuten gerne im Frieden lebe und er der Stadt ver­ zeihen wolle. Darüber war in Aalen große Freude, und der Spion wurde von seinen Mitbürgern hoch geehrt. Aus Dank­ barkeit wurde ihm sogar ein Denkmal gesetzt: er wurde an der Rathausuhr leibhaftig abgebildet, wo er mit dem Perpendikel seinen Kojf hin- und herdrehte und Gesichter schnitt. Als zu Anfang des vorigen Jahrhunderts der fran­ zösische Kaiser Napoleon auf Ulm zog, kam er auch durch Aalen. Eine gravierte Fensterscheibe im Gast­ hof zur Post, wo er logierte, erinnert noch an diesen

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Aufenthalt. Denn als es einmal einen Auflauf auf der Strasse gab, wollte Napoleon rasch das Fenster öffnen und drückte dabei eine Fensterscheibe ein, die nun durch die ebengenannte ersetzt wurde. Vor dem Ab­ marsch hielt der Kaiser auf dem Marktplatz eine Parade über seine Garde ab. Da brachen auf einmal die Soldaten in ein gewaltiges Lachen aus, denn sie sahen das possierliche Männchen an der Rathausuhr. Napoleon selbst mußte lachen, als man ihm den Gegen­ stand der allgemeinen Heiterkeit zeigte und die Ge­ schichte dazu erzählte.

178- Der Ulmer Spatz. So ein Spatz kann manches, was wir Menschen noch nicht können. Das muß wahr sein, und die lieben Ulmer haben diese Tatsache schon vor vielen hundert Jahren einmal herausbekommen. Dabei ist es aber so zugegangen. Vor Zeiten, .als man in Ulm zu Ehren des lieben Gottes ein Münster bauen wollte, da sandte der Rat der Stadt viele Holzhacker aus. Die mußten hingehen in den Albecker Wald, mußten Eichen fällen und sie zurichten zu Balken, auf daß man baue das Haus des Herrn. Und die Holzhacker gingen hin und taten, was ihnen befohlen war. Eines Tages führten sie dann den ersten Balken zur Stadt hinab. Sie hatten ihn aber quer auf den Wagen geladen, so daß er auf beiden Seiten weit über den Wagen hinaus und in den Weg hinein ragte. So kam das Fuhrwerk an das Tor am Gaisberg, und o weh, hier wollte nun der Wagen nicht durch das Tor gehen, weil der Balken hüben und drüben an die Mauer stieß. Als sich der Fuhrmann gar nimmer zu helfen wußte, da ließ er sein Fuhrwerk stehen, wie es stand, und lief spornstreichs aufs Rathaus, wo zum Glück gerade der Rat ver­ sammelt war. Und die Herren stunden alle eilends auf und liefen mit dem Fuhrmann nach dem Tor am Gais-

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berg. Sie besahen sich die Sachen von vorn und von hinten und von allen Seiten und hatten viel Sorge. Aber sie fanden keinen Rat und keinen Weg, bis end­ lich einer sagte: „Ich schätz, da ist bald geholfen; der Balken ist eben zu lang, und wir müssen ihn halt ab­ sägen.“ Da sprach aber Herr von Besserer, welcher zu dieser Zeit Ulmer Bürgermeister war: „Absägen? Wo denkt Ihr hin? Da würde der Balken ja für das Münster zu kurz.“ — „Jaso!“ gab der andere zu und schlug sich an den Kopf, „an das habe ich nicht ge­ dacht.“ Und die andern Ratsherrn sagten: „’s ist währle wahr: da würde er zu kurz.“ Und wer nichts sagte, der nickte, also daß man es gleich sah, daß die Ratsherrn in diesem Stücke alle einig seien: abge­ sägt darf der Balken nicht werden. Nachdem sie sich wieder eine Weile besonnen hatten, sagte ein Rats­ herr: „Diesmal bleibt uns, meiner Seel, nichts übrig als das Tor zu erweitern.“ Auf dies hin nickten wieder alle vom Rat und sagten nichts bis auf einen, welcher meinte: „Wenn wir das Tor erweitern, dann fällt ja der Turm ein!“ — „Halt!“ rief auf dies hin der Bür­ germeister, „das darf nicht vorkommen. Da würde die Bürgerschaft nicht übel schelten. Aber ich weiß einen andern Rat. Wir lassen den Torturm einfach durch Maurer abtragen, dann kann er nicht einfallen. Her­ nach erweitern wir das Tor, und dann fahren wir mit dem Balken in die Stadt hinein, richten ihn auf und bauen das Münster. Holet also fürs erste Maurer her­ bei!“ Und etliche vom Rat gingen, die Maurer zu holen. Indes die anderen nun am Gaisbergtor warteten, sah einer von ihnen wehmütig an dem schönen Turm hinauf, der nun abgetragen werden sollte, und be­ merkte zufällig unterm Torbogen ein ärmliches, kleines Nest. Und wie er so hinsah, flog ein Spätzlein herzu, das trug einen ellenlangen Strohhalm im Schnabel. Es wollte damit sein kleines Haus bessern. Das Spätzlein

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trug den Strohhalm aber der Länge nach, nicht der Breite nach durch den Torbogen. Da stupfte der Rats­ herr, der alles beobachtet hatte, seinen Nebenmann, und dieser stupfte den seinigen und so fort bis zum Bürgermeister, und alle sahen nun dem Spätzlein zu. „Sapperlot!“ rief da auf einmal der Bürgermeister aus und patschte in die Hände; „jetzt hab ich etwas ge­ lernt. So muß es gehen! Der Nase nach, nicht quer hinein!“ Und sie drehten nun eilends den Balken, also daß er hinten zum Wagen hinaussah. Dann riefen sie hist und wollten gerne sehen, wie es ginge. Die Gäule zogen an, und siehe da, das Fuhrwerk kam glücklich mitsamt dem Balken durchs Tor, und hinterdrein jubel­ ten die Ulmer Ratsherrn und sagten: „Das haben wir aber einmal fein fertig gebracht!“ Und als sie dann den Maurern begegneten, die eben ans Tor eilen woll­ ten, hießen sie die wieder umkehren. So blieb das Gaisbergtor stehen, und auch der Turm wurde nicht abgetragen. In der nächsten Ratssitzung aber erhob sich der Bürgermeister und hielt zu Ehren des rettenden Vogels eine ergreifende Rede. Und dieweil die Ulmer zu allen Zeiten dankbaren Gemüts waren und noch sind, so ließen sie den Spatzen in Stein aushauen, und her­ nach stellten sie ihn, den Strohhalm im Schnabel, auf das Münsterdach, wo er noch heute zu sehen ist. Seit der Zeit aber, da die Geschichte mit dem Balken passiert ist, müssen sich die Ulmer „die Spatzen“ heißen lassen bis auf den heutigen Tag. 179. Ein kluger Schwabenstreich. Vor alten Zeiten lebte ein König. Der war reich an Land und Volk und hatte eine einzige Tochter, eine Jungfrau von wunderbarer .Schönheit. Viele Prinzen und vornehme Herren kamen und wollten um sie freien.. Doch der König war ein weiser Mann. Ihm dünkte

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ein kluger Eidam besser zu sein als ein reicher und vornehmer. Daher sagte er zu ihnen: „Nur der soll meine Tochter zur Frau haben, der so zu lügen weiß, daß ich ihn mit eigenem Munde einen Lügner nennen muß." Er ließ dies Gebot auch im ganzen Lande ver­ künden, und so kamen bald Leute genug, die den Preis gewinnen wollten. Aber soviel sie sich auch Mühe gaben, den König anzulügen, so brachte es doch keiner fertig, daß ihn darüber der König einen Lügner nannte. Der König hatte aber an den wunderbaren Geschich­ ten, die ihm aufgetischt wurden, sein Vergnügen, und auch der Prinzessin machten sie gar vielen Spaß. Nun geschah es, daß ein junger Schwabe auf der Wanderschaft durch dieses Königs Reich kam. Er hörte des Abends in der Herberge, was der König ver­ sprochen hatte, und da er kecken Mutes war, so be­ schloß er, auch einen Versuch zu wagen. Er machte sich also flugs auf den Weg zum Schlosse und ließ sich beim König melden. Der König hieß ihn herein­ führen und gebot ihm seine Märe zu sagen. Der Schwabe erzählte: „Es ist noch nicht lange her, Herr König, daß ich auf der Jagd im Gebirge war. Als nun ein Hase daherlief, erlegte ich ihn rasch mit einem Pfeil, zog dann das Messer heraus und schnitt ihm den Kopf ab. Wie ich nun den Kopf mit der Hand emporhob, flössen plötzlich aus dem einen Ohr des Hasen tausend Maß Wein heraus. Darob verwundert, wandte ich ihn um, und alsobald fielen aus dem anderen Ohr tausend neue Goldgulden heraus. Voll Freude darüber band ich alles zusammen in die Haut des Hasen ein, um es nach Hause zu tragen.“ — Der König lächelte und sagte: „Solche Geschichten habe ich schon viele gehört." Der Schwabe aber sagte: „Meine Geschichte ist noch nicht aus, Herr König; denn als ich den Hasen daheim zerlegte, da fand ich ganz hinten im Schwänze einen königlichen Brief mit Unterschrift und

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Siegel, in dem geschrieben steht, daß ich der Herr von diesem Lande und Ihr, der König, nichts anderes seid als mein Untertan und Leibeigener.“ Wütend sprang der König von seinem Stuhle auf und schrie mit zornbebender Stimme: „Wie kannst du solches sagen, du frecher Lügner? Lügenwerk ist alles, was du gesagt hast von dem Brief, von dem Hasen und von mir!“ — „Ihr habt recht,“ erwiderte der Schwabe, „ich habe das alles gelogen und bin ein Lügner, wie Ihr eben mit Eurem eigenen Munde bestätigt habt. Aber den Preis habe ich gewonnen, und Eure Toch­ ter müßt Ihr mir nun zur Frau geben.“ Der König merkte jetzt erst, wie ihn der Schwabe überlistet hatte. Und obgleich der Schwabe nur ein geringer Geselle war, so hielt der König doch an seinem Worte fest und gab ihm seine Tochter zur Frau. Und er durfte es auch nicht bereuen; denn der Schwabe war wirk­ lich ein kluger Mann, und als der König sterben wollte, da war er froh, daß er solch einem tüchtigen Eidam Thron und Reich übergeben konnte. 180. Vom Eulenspiegel. I. Wie Eulenspiegel Brot gebacken hat. In Braunschweig verdingte sich Eulenspiegel bei einem Bäcker. Als er nun zween Tage bei ihm gewesen war, hieß ihn der Bäcker des Abends backen. Eulen­ spiegel sprach: „Ja, was soll ich aber backen?“ Der Bäcker sprach in Spott zu ihm: „Bist du ein Bäckerknecht und fragst erst, was du backen sollst? Was pflegt man zu backen? Eulen und Meerkatzen.“ Und hiemit ging er schlafen. Da ging Eulenspiegel in die Backstube und machte den Teig zu eitel Eulen und Meerkatzen und buk die. Des Morgens stand der Meister auf und wollte ihm helfen, und als er in die Backstube kam, fand er weder Wecke noch Semmel, sondern eitel Eulen und Meerkatzen. Da ward der Meister zornig und sprach:

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„Was hast du gebacken?“ Eulenspiegel antwortete: „Was Ihr mich geheißen habt, Eulen und Meerkatzen.“ Der Bäcker sprach: „Was soll ich mit der Ware tun? solch Brot ist mir zu nichts nutz; ich kann das nicht zu Geld machen.“ Hiermit griff er ihn beim Hals und sprach: „Bezahl mir meinen Teig!“ Eulenspiegel sprach: „Ja, wenn ich Euch den Teig bezahle, soll dann die Ware mein sein, die davon gebacken ist?“ Der Meister sprach: „Was frag ich nach solcher Ware? Eulen und Meerkatzen dienen mir nicht auf meinen Laden.“ Also bezahlte Eulenspiegel dem Bäcker seinen Teig und nahm die gebackenen Eulen und Meerkatzen in einen Korb und trug sie aus dem Haus in die Herberge zum wilden Mann. Und Eulenspiegel gedachte bei sich selbst: „Du hast immer gehört, man könne nichts so Seltsames gen Braunschweig bringen, daraus man nicht Geld löse.“ Nun war es gerade am St. Niklas-Abend. Da ging Eulen­ spiegel vor die Kirche mit seiner Kaufmannsware und verkaufte die Eulen und Meerkatzen alle und löste viel mehr Geld daraus, als er dem Bäcker für den Teig ge­ geben hatte.

IT. Eulenspiegel bestellt eine große Tasche. Zu Helmstedt wohnte ein Taschenmacher; zu dem kam Eulenspiegel und fragte, ob er ihm eine große, hübsche Tasche machen wollte. Der Meister sprach: „Ja, wie groß soll sie sein?“ Eulenspiegel sprach, er solle sie groß genug machen. Der Taschenmacher machte also Eulenspiegelh eine große Tasche. Als er nun kam und die Tasche besah, sprach er: „Die Tasche ist nicht groß genug; das ist ein Täschlein; macht mir eine, die groß genug sei, ich will sie Euch wohl bezahlen." Der Taschenmacher machte ihm eine Tasche von einer ganzen Kuhhaut und machte sie so groß, daß man wohl ein jährig Kalb hinein getan hätte. Als nun Eulen­ spiegel dazu kam, gefiel ihm die Tasche wieder nicht,

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und er sprach, die Tasche wäre nicht groß genug; wollt er ihm aber eine machen, die groß genug wäre, so wollt er ihm zwei Gulden darauf geben. Der Taschenmacher nahm die zwei Gulden und machte ihm eine Tasche, dazu er drei Ochsenhäute nahm. Als nun Eulenspiegel kam, sprach er: „Meister, diese Tasche genügt; aber die große Tasche, die ich meinte, ist es nicht. Wenn Ihr mir aber eine so große Tasche machen wollt, daß ich stets einen Pfennig daraus neh­ men könnte und noch zweie darin blieben und ich nie auf den Boden griffe, die wollt ich Euch abkaufen und bezahlen." Also ging er hinweg und ließ ihm die Tasche und die zwei Gulden; der Taschenmacher hatte aber wohl für zehn Gulden Leder verschnitten.

III. Wie Eulenspiegel Milch einkaufte. Seltsame und lächerliche Dinge trieb Eulenspiegel zu Bremen. Denn einesmals kam Eulenspiegel dahin auf den Markt und sah, daß die Bäuerinnen viel Milch zu Markte brachten. Da nahm er eine große Bütte und setzte sie auf den Markt und kaufte alle Milch, die auf den Markt kam, und ließ sie in die Bütte schütten und sagte den Frauen, sie sollten so lange warten, bis er die Milch beieinander hätte, so wollte er einer jeglichen ihre Milch bezahlen; da saßen die Frauen auf dem Markt im Kreise umher, und Eulenspiegel kaufte der Milch soviel, bis keine Frau mit Milch mehr kam und der Zuber auch schwer voll war. Da sagte Eulenspiegel: „Ich hab für diesmal kein Geld; welche nicht harren will vier­ zehn Tage, die mag ihre Milch wieder aus der Bütte nehmen!“ und ging damit hinweg. Die Bäuerinnen mach­ ten ein Geschrei und Rumoren: die eine hatte soviel gehabt, die andere soviel, die dritte dergleichen, und so fortan, so daß sich die Frauen mit den Eimern, Legeln und Flaschen an den Kopf warfen und schlugen, daß es aussah, als hätte es Milch geregnet.

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Aus den Niederlanden. 181. Rheinfahrt von Düsseldorf bis Rotterdam. I.

Wer idyllisches Reisen liebt, dem ist eine Dampfersahrt auf dem Rhein über die deutsch-niederländische Grenze zu empfehlen. In Köln und Düsseldorf hat der große Strom der Reisenden den Dampfer verlassen, und man findet sich meist ziemlich allein auf dem Deck des Dampfers, der nun gemächlich an Duisburg und Ruhrort mit ihren rauchenden Schloten und ihrem riesigen Hafenverkehr, an Wesel und dem alten Emmerich vorüber durch die grüne niederrheinische Landschaft dampft. Schwere regenfeuchte Wolken, die Nähe des Meeres verkündend, hängen über dem endlosen flachen Lande, aber unendlich reizvoll wirkt es, wenn dann die Sonnenstrahlen durchbrechen und in der Ferne im Norden das hohe Montferland bei Elten oder im Süden die zweitürmige Stiftskirche von Kleve am Fuße des Klever Berges aufleuchtend herübergrüßt. Kurz hinter der Grenze gabelt sich jetzt der Rhein; die große Hauptmasse des Stromes fließt unter dem Namen Waal links ab, ein bescheidener Arm, der zunächst gar kein altes Flußbett, sondern einen ehemaligen künstlichen Wasser­ weg, den Pannerdenschen Kanal, durchströmt, dann aber wie­ der den Namen Neder-Rijn annimmt, wendet sich rechts nordwestlich. Diesem folgend, sehen wir schon die Türme des reizenden Arnheim vor uns, als sich plötzlich zur Rech­ ten abermals ein Flußarm abzweigt: dies ist die Jjssel. Den nordöstlichsten Arm des Rheindeltas bildend, führt sie ebenfalls einen Teil des Rheinwassers, und zwar ein

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Neuntel, der See zu. Zweifellos stellt sie von Haus aus einen alten Abfluß des Rheines zur Zuidersee dar, doch zweigte sie sich früher weit oberhalb bei Rees vom Rheine ab. Die ehemalige Abzweigung ist jetzt verschwunden, noch aber trägt ein kleines Gewässer, das ostwärts vom Münster­ lande herkommt und in seinem untersten Teile diesen alten Rheinarm darstellt, den Namen alte Jjssel. Die Wasser­ verbindung, welche jetzt den Neder-Rijn und diese Jjssel verknüpft, soll erst in römischen Zeiten durch Drusus er­ öffnet worden sein: es ist der bekannte Drususgraben. Doch muß hier schon früher, wie aus dem gewundenen Flußlauf und der Bodenformation hervorgeht, ein altes Flußbett existiert haben. Jedenfalls aber hat die Jjssel seit der Römerzeit hier ihren Abfluß vom Rhein genommen, der Rheinverkehr fand hier seinen kürzesten Ausweg nach Fries­ land und weiterhin nach Dänemark und Skandinavien. Aus dieser Tatsache erklärt sich das Aufkommen und die Be­ deutung der Jjsselstädte. Ihrem Baucharakter und ihren Schicksalen nach bilden diese Jjsselstädte eine zusammenhängende Gruppe, deren Geschichte in gänzlich anderen Bahnen als die der holländi­ schen Städte, ja dieser geradezu entgegengesetzt, verläuft. Die Jjsselstädte, oder wie sie unter Einbeziehung der an der Zuidersee gelegenen Plätze Harderwijk und Elburg, des friesischen Stavoren und der geldrischen Rheinstädte Arn­ heim und Nymwegen im Mittelalter genannt wurden, die Süderseeischen Städte, haben allzeit zum Deutschen Reiche in engerer Verbindung gestanden als die holländischen, wie denn auch die Landschaften links und rechts der Jjssel, Gel­ dern und Overijssel, erst ganz spät, unter Karl V., mit dem burgundisch-niederländischen Staate vereinigt worden sind, aus dem die Republik der Vereinigten Niederlande her­ vorging. Die Jjssel ist eine alte Völkerscheide. Schon in der Äarolingerzeit wird sie als „confinium Saxonum et Frankorum", als Grenze zwischen Sachsen und Franken be-

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zeichnet, und diese Stammesgrenze ist als politische Grenze bestehen geblieben: links der Jjssel und südlich erstreckt sich das wesentlich fränkische Herzogtum Geldern, die jetzige Provinz Gelderland, rechts die Jjssel und nördlich Overijssel, ehemals geistliches Gebiet und unter der Herrschaft des Bischofs von Utrecht, mit einer Bewohnerschaft sächsi­ schen Stammes. Bogel.

II. Es sind die Köln-Düsseldorfer Schiffe, die den eben beschriebenen Weg über Arnheim nach Rotterdam ein­ schlagen. Wer aber auf dem Niederländer Rheindampfer fährt, der biegt da, wo die beiden Flußarme auseinander­ gehen, um die fruchtbare mächtige Rheininsel Betuwe (gute Aue, Batavia) zu bilden, in den Strom zur Linken ein, der die Waal genannt wird. Es dauert nicht lange, so er­ hebt sich links eine grünbewaldete Hügelkette, und auf diesen Hügeln malerisch hingelagert, liegt Nymwegen, holländisch Nijmegen (gesprochen Neimeeche, das ch wie bei uns in Bach), das römische Noviomagus. Der Dampfer hat hier stundenlangen Aufenthalt, so daß Zeit ist an Land zu gehen und die Stadt zu durchwandern. Der Kirchturm mutet schon sehr holländisch an mit seiner durchbrochenen Zwiebelbe­ krönung, die recht wie eine Krone aussieht, mit dem Glocken­ spiel, das sich an jeden Stundenschlag anschließt. Der Markt ist so verlockend besetzt mit üppigem Blumenflor und herrlichenl Obst, daß wir nicht umhin können allerlei zu erstehen, was Nase und Gaumen reizt und beglückt. Ein Gang durch den herrlichen Park des Balkhofs, der sich am Rheinufer und einen der Hügel hinanzieht, führt uns zu den Ruinen der Pfalz Karls des Großen, die erst 1796 von den fran­ zösischen Revolutionssoldaten zerstört worden ist; doch steht, unter Riesenbäumen geheimnisvoll versteckt, immerhin noch einiges Gemäuer, und vor allem ist die sechzehneckige Schloß­ kapelle noch wohl erhalten. Von der Höhe des Hügels, wo ein alter Befestigungsturm die Stadt nach Osten hin

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abschlicßt, schweift unser Blick über die waldigen Höhen und über den herrlich sich ausbreitenden Rheinarm zu unsern Füßen, den eine mächtige Eisenbahnbrücke über­ spannt, bis hinüber zu der nicht allzuweit entfernten Maas hin. Die Zeit ist abgelaufen, die Fahrt geht weiter, und wir sind überrascht, wie abwechselungsreich sie ist. Diese reichbelebte Wasserlandschaft bedarf wirklich nicht umsäu­ mender Bergeshöhen mit verfallenen Schlössern, um uns zu fesseln, sie trägt ihre Schönheit in sich selbst. Ein frischer Windhauch von Westen her kräuselt die Flut, schon ein Gruß vom Meere, daß das Dampfboot auf und nieder tanzt; die Wasserfläche ist bedeckt mit dunkelrot besegelten kräftigen Fischerbooten, die auf und niedertauchen, von Wellenschaunl überspritzt, Schleppzug um Schleppzug be­ gegnet uns, und die Ufer — wie reizvoll der Blick in diese reichbebaute, fruchtbare Landschaft, wo überall behäbige und stattliche Landhäuser aus grünen Gärten und majestäti­ schen Baumgruppen hervorschauen, wo in hohem Grase mächtige schwarzweiße Kühe weiden, wo überall Wind­ mühlen sich drehen, die, vom frischen Seehauch getrieben, nicht bloß Getreide mahlen, sondern alle möglichen Arbeiten verrichten, besonders Wasser pumpen. Aus der Ferne winken überall Ansiedlungen herüber, am Strome selbst liegt rechts das freundliche Tiel, einst eine ansehnliche Handelsstadt; immer wieder neue Wasserarme lenken rechts und links ab; jetzt mündet von links her die Maas; im Mündungs­ winkel erhebt sich die Feste Löwenstein, links kommt da» „Hollandsch Diep", ein unentwirrbares Gewimmel von Wasseradern, deren Gesamtheit einen Meeresarm darstellt, der sich hier bis an die Maas heranschlängelt, wie von nun ab die gesamte Wassermasse genannt wird. Und vor uns erheben sich schon die breiten, stumpfen Türme von Dordrecht, der altberühmten Handelsstadt, die so stolz und freiheitsbewußt aus den Fluten ragt. Wir sehen lauter Bilder von Goyen vor uns oder von Ruisdael oder Rem­ brandt oder van der Neer, und wie die berühmten holländi-

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schen Maler aus dem 17. Jahrhundert hießen, die nicht müde wurden, diese Rheinlandschaften mit all dem Menschentreiben und den Städteansichten und Schiffen in Ge­ mälden treulich wiederzugeben. Gleich nach Dordrecht biegt unser Schiff nordwärts in einen schmälern, stillen Seiten­ arm ein, de Noord genannt; bald aber schimmert der zweite Hauptstrom des Rheins uns entgegen, der Leck. Wo Waal und Leck sich einen, ist eben damit die Jnselbildung der Betuwe abgeschlossen, und wir sind wieder in einer Hauptflußader, die zwar von den Eingebornen auch als Maas bezeichnet wird, die aber in Wirklichkeit die größere Hälfte aller Rheinfluten zum Meere trügt. Der Rhein verläuft nicht im Sande, wie gefabelt wird, er zerteilt sich nur in eine Fülle von Armen und Kanälen, die, weil das Wasser keinen Fall mehr hat, bald durch die Wucht der Wassermassen vorwärtsgetrieben werden, bald aber stocken, wenn die Flut des Meeres sich geltend macht. So ist des Rheinwassers genug vorhanden, um das Kanalgewirr Hol­ lands reichlich zu versorgen. Immer mehr macht sich die Nähe des Meeres und die Nähe einer großen Hafenstadt merklich: die Wogen senken und heben sich immer meerartiger, immer frischer umweht uns der Atem des Ozeans, an den Ufern raucht es und hämmert es in industriellen Betrieben; die mächtigen Schiffswerften von Kinderdyck lassen sich sehen, und im Hintergrund breitet sich in gewaltigem Bogen Rotterdam aus mit seinem Mastenwald, seinen Brücken und Inseln, seinen schönen Uferstraßen, seinem Menschengewimmel. Hier ist die von der Natur gegebene Stelle, wo aller Verkehr und Handel des langgestreckten Rheintales zum Meere hin­ ausstrebt, und wo die Erzeugnisse von über See Einzug suchen ins Rheingebiet. Die geschichtliche Entwicklung hat im Laufe der Jahrhunderte manches verschoben, aber die natür­ liche Gunst der Lage ist so groß, daß Rotterdam nicht leicht völlig zurückgedrängt werden kann.

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182. Das Dorf Brock -ei Amsterdam. Wir biegen vom Nordkanal östlich ab und fahren auf dem Damm des Wasserwegs, der von Monikendam und der Zuidersee herzieht, dem Dorf Broek zu. In Bäumen versteckt, entzieht es sich noch unsern Blicken, aber darüber hinaus zeigen sich die Türme von Monikendam und von Edam, dem käseberühmten. Eine Trekschuit zieht wie ein greiser Schwan auf dem Kanal daher, zwei Weibsleute unter den Passagieren verkürzen sich die Fahrzeit mit einer der ihren, Geschlechte angemessensten Arbeiten — sie stricken Strümpfe. Vor einem einzeln stehenden Gehöft hält unser Fuhrmann; es ist eine Käserei, die er uns will sehen lassen. Der Besitzer ist zwar mit seiner Familie abwesend, und eine Magd macht die Honneurs, wenn dieses Wort in Holland überhaupt angewendet werden darf. Kalt und still, auf Fragen nur trocken antwortend, geleitet uns die Jung­ frau durchs ganze Haus. Wir betreten zuerst die Käserei und staunen über die beispiellose Reinlichkeit. Ich habe schon manche Schweizer Sennerei auf den Alpen gesehen, und man kann sicher nicht sagen, daß dieselben nicht sauber seien, aber zwischen einer Schweizer und einer holländi­ schen Käserei ist ein Unterschied wie zwischen einem Bauern­ haus und einem Palast. Rechts und links vom Gang, der durch die Vorhalle der Käserei führt, liegen wie auf Gartenbeeten die kupfernen Kessel und Geschirre; als Unterlage haben sie statt Sand kleine Muscheln. Sie glänzen, als wären sie eben frisch vergoldet und versilbert worden. In der Molkerei sind die Gefäße so weiß gescheuert und blank gehalten, wie wenn sie Malvasier in ihrem Innern hätten, und von dem sonst unangenehmen Käsegeruch keine Spur. Auf ebenso rein­ lichen Gestellen sehen wir die bekannten holländischen Käse­ kugeln zum Trocknen und Altwerden niedergelegt. Eine kurze Treppe — die Häuser sind alle einstöckig — führt in die Wohnung der Familie, aus Schlafgemach, Eßstube und Salon bestehend. Aber hier wird unser Staunen noch Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

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größer: da ist eine Eleganz und ein Reichtum an alten, wohlrestaurierten Kästen, Kommoden und Bettladen, an Porzellan, Seide und Gesticktem, wie man es bei uns saunt bei einem Landedelmann aus bester Familie findet. Brock, freundlich an einer kleinen, von Kanälen und einem Flüßchen mit Wasser versehenen Bucht gelegen, ver­ dankt seinen Ruf dem Reichtum seiner Bewohner, ihrer Eigentümlichkeit und der von dieser bedingten Propretät seiner Häuser und Straßen. Mancher Amsterdamer Bürger und Kaufmann zog tut vorigen Jahrhundert nach Brock, um hier im Stillen seine Tage zu beschließen. Bisweilen kamen sie dann nach Amster­ dam zurück, um die Börse zu besuchen und um zu erfahren, wie die Aktien der ostindischen Kompagnie stünden, bei der sie ihre Tonnen Goldes angelegt hatten. Dieser Reichtum, verbunden mit einfachem Landleben, brachte bei den Einwohnern von Brock eine Art von erb­ licher Narrheit in Abgeschlossenheit und Engherzigkeit her­ vor. Sie glauben. Brock sei der einzige Fleck auf Erden, wo sich ruhig leben und sterben lasse, und haben eine wahre Manie, hier ein möglichst einfaches Leben zu führen und in ihren bunt angestrichenen Häusern, in denen selbst die Besenstiele bemalt sind, hinter den Jalousien ihrer Spiegel­ glasfenster zu vegetieren. Die eigentliche Haustüre wird nur bei außerordentlichen Gelegenheiten, bei Hochzeiten, Taufen, Begräbnissen geöffnet und die bewegliche Treppe herabgelassen. Die Straßen sind mit Klinkers, kleinen Back­ steinen, gepflastert und werden geputzt und gereinigt wie anderswo Parketböden. Früher durfte es keinem Fremden einfallen, ein Haus zu betreten; selbst Kaiser Joseph II. wurde der Eintritt in ein solches verweigert, und Alexander I. betrat nicht ohne lebhaftes Protestieren des Hausbesitzers ein solches. Fahren und Reiten war natürlich im Dorf verboten, Hunde wurden der Reinlichkeit halber keine gehalten, und das Wirtshaus für die Fremden außerhalb des Dorfes gelegt.

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Die Häuschen sind sich fast alle gleich, einstöckig, den Giebel nach vorne, mit niedrigem Holzhag umgeben und einigen Bäumen. Sie sind durchweg von Holz und sauber grün und weiß angestrichen; ihre Bewohner aber rein un­ sichtbar, die Jalousien sämtlich herabgelassen, man meint, es seien verlassene Villen. Unter einem offenen Fenster bemerkte ich Birnen und Äpfel zum Verkauf ausgestellt.

Die Verkäuferin war aber nicht zu sehen; meine Körper­ länge gestattete mir jedoch einen Blick in das Zimmer, welches ich ganz mit Teppichen belegt und mit alten, wohl­ polierten Kästen und Kommoden geschmückt fand. Diese Obsthändlerin wohnt besser, sagte ich, als bei uns die Frau eines Oberamtmanns. Weiter oben kommen wir auf einem kleinen, hellen Platz zur ebenfalls kleinen, unbedeutenden Kirche; sie ist geschlossen. Volkmann erzählt, es habe einst ein neuer Pastor von Brock lange nicht begreifen können, warum seine Ge­ meinde ihm so kalt begegnete, so oft er die Kanzel betrat. Endlich habe er in Erfahrung gebracht, die Unfreundlich­ keit hänge mit dem Reinlichkeitsgefühl der Brocker zusam­ men, und das habe er verletzt. Sein Vorgänger sei näm­ lich nie, wie er, mit den Schuhen, welche er über die Straße getragen, auf die Kanzel gegangen, sondern habe stets ein Paar Pantoffeln in der Sakristei bereit gehalten und diese angezogen. Der Prediger tat dies nun auch, und die Mienen der Bauern waren freundlich von Stund an. HanSjakob.

183. Niederländisches Heim. Blumenfreude verfolgen wir von den spiegelblanken Fenstern unserer friesischen Bauern durch die Niederlande bis unter die Flämen. Bei den Niederländern spricht sich in der fast leidenschaftlichen Neigung für die Zucht schön­ blühender Gewächse im Zimmer und im Garten- gleichwie in der Beschüttung der Gartenwege mit verschiedenfarbigen Steinchen wohl ein gewisser Kampf gegen den mürrischen

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Nebelhimmel der Heimat aus, der nur zu oft farbenneidisch die Landschaft grau verhüllt. In Belgien dagegen hat man es nicht nötig, den Kampf mit einer farbenfeindlichen Natur aufzunehmen; hier schmückt man sein Heim mit herrlichen Blattpflanzen und Blumen schon im Hausflur, um beim häuslichen Tagewerk die schöne Natur draußen nicht zu schmerzlich zu vermissen, und läßt den wenn auch noch so eng umschränkten Hofraum gartenhold erscheinen durch einen plätschernden Springbrunnen, Mandel- und Aprikosen­ bäume oder Weinreben am Spalier, deren Laub Statuet­ ten unlschmücken. Das ist überhaupt nicht der bedeutungs­ loseste Verwandtschaftszug, der sich durch die Städte der Flämen wie der Niederländer in unser nordwestliches Deutschland hinein verfolgen läßt, daß man so hohen Wert auf gemütliche Ausstattung des Wohnhauses legt. Dazu führt die hier treu erhaltene Sitte des Wohnens nur je einer Familie unter einem Dach. Hierdurch erst emp­ fängt das Wohnhaus die Weihe eines Familienheiligtums, von dessen Wänden Denkmale der Vorfahren auf die späten Enkel niederschauen; der Trieb, die Wohnräume so wohn­ lich wie irgendmöglich einzurichten, wird durch das Be­ wußtsein genährt, nicht für Fremde sich zu bemühen, son­ dern für sich und seine Nachkommen. In einem wohlhaben­ den Flämenhaus umfängt uns gleich beim Eintritt ein geräumiger Hausflur mit Büsten und Ölgemälden älterer Familienglieder, die einst da gewohnt haben; gewöhnlich benutzen ihn die Kinder der Familie bei ungünstiger Witte­ rung als Spielplatz. Der Eingangstür gegenüber erblicken wir im feinpolierten Mahagonikasten die Hausuhr, die mit wohltönendem Glockenschlag die Rolle der getreuen Zeit­ ordnerin aller häuslichen Verrichtungen spielt. Abends spendet das gedämpfte Licht einer Ampel, ebenfalls meistens ein altes Erbstück von künstlerischem Wert, dem Flur seine Helligkeit. Auch beim Mittelstand finden wir Speise-, Wohn- und Arbeitsstube zweckmäßig voneinander abgesondert, den Fußboden mit Teppichen belegt, das

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Mobiliar von solider Arbeit, wohl auch geschmackvoll mit Schmuck versehen, indessen vor allem praktisch auf Bequem­ lichkeit berechnet. Es fehlt selten eine kleine Hausbiblio­ thek; Schmucktische und Glasschränke weisen mitunter wahre Museuinsstücke an Kunstwerken auf, etwa solche in getrie­ bener Metallarbeit oder kostbare Glasbecher teils aus der spanischen, teils noch aus der burgundischen Zeit. Alles atmet Anhänglichkeit an den häuslichen Herd, an dem die blonde Jugend in derselben Zucht aufwächst, die den Wohl­ stand und die Ehre des Geschlechtes begründet und erhal­ ten hat. Kirchhoff.

Verschiedenes. 184. Das Märchen von den sieben Raben. Eine Mutter hatte acht Kinder, sieben Buben und ein Mädchen, die waren alle gesund und brav; nur wollten die sieben Buben immer mehr essen, als da war. Da fluchte ihnen die Mutter eines Tages und sagte ihnen: „Ihr wäret besser Raben!“ Da flogen sie als sieben Raben zum Fenster hinaus; die Mutter aber fiel vor Schreck tot zu Boden, und das arme Mädchen blieb allein zurück. Es lief den Raben nach bis tief in den Wald hinein, aber endlich verließen es die Kräfte, und es sank am Fuß einer hohlen Eiche zusammen. Aber eine gütige Fee hatte alles mitangesehen, die kam herbei, hob das Mäd­ chen auf und ließ es sein Leid klagen. Und als sie gehört hatte, was geschehen war, da sagte sie zu dem Mädchen: „Wenn du schwörst, sieben Jahre lang zu schweigen und schweigend sieben Hemden zu spinnen, jedes Jahr ein Hemd, so kannst du deine Brüder erlösen. Den Flachs will ich dir bringen“. Das hat das Kind von Herzen geschworen, wohnte sechs Jahre lang in der hohlen Eiche und spann schwei­ gend und ungestört. Sie nährte sich von Beeren und Wurzeln, und wie ihre Kleider zerfielen, da war ihr blondes Haar so lang gewachsen, daß sie sich hinein­ wickeln konnte, wie in eine warme Decke. Wie sie aber das siebente Hemd angefangen hatte, da trug es sich zu, daß der Königssohn ein großes Jagen anstellte, das war just in jener Gegend. Und wie er im Jagdeifer ganz allein einen Hirsch verfolgte bis tief in das Dickicht hinein, da erblickte er in einem

hohlen Baume ein seltsames Wild, nämlich ein wunder­ schönes Mägdelein, das saß da und spann. Ganz entzückt schaute der Königssohn hinauf, schamhaft und erschreckt schaute das Mädchen nieder.. Der Königssohn hob die Jungfrau herunter und trug sie auf seinen Armen bis zu seinem Roß, das er in der Nähe angebunden hatte. Die langen, blonden Haare umflossen ihre zarten Glieder, aber sie schwieg auf alle Fragen und legte nur den Finger auf den Mund, als wollte sie sagen: „Ich bin nicht taub, ich kann auch sprechen, aber ich darf nicht!“ Da blies der Königssohn in sein Horn, das hörten seine Jagdgesellen und kamen herbei, und alle zusammen ritten heim. Der Königssohn hatte die schöne Jungfrau vor sich auf sein Roß geschwungen und hielt sie fest. Unterwegs schon faßte er ein so herzliches Ver­ trauen zu ihr, daß er sie fragte, ob sie seine Gemahlin werden wollte. Da nickte sie freudig und doch unbe­ schreiblich traurig. Zu Hause aber übergab er sie seinen Schwestern, die legten ihr königliche Kleider an und schmückten sie herrlich, so daß ihre Schönheit alle über­ strahlte. Die Hochzeit wurde mit großer Pracht ge­ feiert, und wie sie in die Kirche gingen, da flogen sieben Raben über dem Hochzeitszuge her, als gehörten sie auch dazu, schlugen mit den Flügeln und krächzten: „Rah! Rah!" Die jungen Eheleute lebten glücklich und vergnügt, nur daß die junge Frau kein einziges Wort sprach. Ihre größte Freude fand sie im Wohltun, und wenn sie am Arme ihres Gemahls durch das Königreich ging und fand irgendwo ein armes Weib mit hungrigen Knäblein, da gedachte sie ihrer verzauberten Brüder und beschenkte die armen Leute reichlich. Wenn aber des Nachts der Mond schien, da stand die Königin aus ihrem Bette auf und spann an dem siebenten Hemde, denn ihr Gemahl sollte nichts davon wissen. Aber einmal merkte er es doch, stand auf und betrachtete sinnend die Spinnerin.

Er schüttelte den Kopf; aber wie sie ihn so bittend ansah und den Zeigefinger auf den Mund legte, da ließ er sie ruhig gewähren; denn er dachte, die Königin täte ja nichts Böses, und einmal würde das Geheimnis ja doch aufhören. Es geschah aber, daß die junge Königin zwei Knäbchen auf einmal bekam; und wie die Kinder in einem Badebüttchen gebadet worden waren und die Amme sie abtrocknen wollte, da flogen sie als junge Raben zum Fenster hinaus. Die Amme stand mit offenem Munde da, konnte sich nicht regen und wegen und sah nur immer zum Fenster hinaus, die Mutter der Kinder aber wollte gerade anfangen zu klagen und zu weinen, als sie die gütige Fee durchs Zimmer schweben sah, den Finger auf dem Munde, da wurde sie wieder stumm, und ihre Tränen versiegten. Aber die Prüfungszeit war noch nicht vorüber. Die Amme fand die Sprache wieder und erzählte überall, was geschehen war. Und es dauerte nicht lange, da kamen die Richter und fragten die Königin, ob sie eine Hexe sei. Da sie aber nur mit dem Kopfe schüttelte, jedoch kein Sterbenswörtchen sprach, da brachen die Richter einen Stab über ihr, das sollte heißen, jetzt wäre sie gerichtet und würde als eine Hexe verbrannt werden. Wie das Urteil dem König gebracht wurde, da war es ihm, als wollte ihm jemand das Herz abdrücken; aber er konnte den Richterspruch nicht aufheben, weil die Kö­ nigin auf alles schwieg, wessen sie verklagt wurde. So ward sie denn als Verbrecherin gefesselt und ging schweigend und gottergeben in den Kerker. Am andern Tag sollte sie zur Richtstätte geführt werden. Und wie des Nachts der Vollmond klar und rein durch das Gitter des Gefängnisses schien, da schwebte die gütige Fee vorüber und reichte ihr Flachs und Spinnrocken. Da saß sie denn die ganze Nacht und spann und spann, und der Mond leuchtete dazu; und sie

sah, wie die Fee eine Sanduhr in der Hand hielt, die war beinahe abgelaufen, zum Zeichen, daß das siebente Jahr bald herum wäre. Als des Morgens das Armesünder­ glöckchen läutete und der Henker die Königin abholte und sie auf dem Armesünderkarren zum Richtplatz fuhr, da schwebte noch einmal die Fee vorüber; die Königin warf ihr schnell alles zu, was sie gesponnen hatte, und die Fee flog damit dem Walde zu. Weinend und jam­ mernd drängten sich die armen Leute um den Karren und wollten die Räder zurückdrehen; denn sie wollten nicht dulden, daß man die Königin richte, die ihnen immer so viel Gutes getan hatte; aber es nutzte nichts. Gerade wie die treue Schwester oben auf dem Scheiterhaufen festgebunden wurde, war die letzte Stunde des letzten Jahres vorüber; und da ging es auch schon trab! trab! trab! als wie von Pferdehufen, und wie es näher kam, waren es sieben weiße Rosse, und darauf saßen sieben schöne Jünglinge und winkten. Das waren die erlösten Brüder. Nur der Jüngste hatte statt des linken Armes einen Rabenflügel; denn das siebente Hemd war nicht ganz fertig geworden. In den Lüften aber sah man die gütige Fee heranschweben, die hielt auf dem Arm zwei wunderschöne Zwillingsknäbchen und legte sie der Königin in die Arme. Die Mutter küßte die Knäbchen und weinte vor Freude und tat endlich ihren Mund auf, zum erstenmale nach sieben Jahren, und sagte: „Ich bin keine Hexe, das sind meine und des Königs liebe Kinder, und es sind keine Raben!“ Die Henker schlichen sich mit ihren Feuerbränden sachte davon, der König aber eilte auf den Holzstoß zu und band die Königin los. Dann warf er sich unter Tränen zu ihren Füßen nieder und bat sie, sie solle doch alles verzeihen. Er führte sie zurück in das Schloß, wo die Hochzeit zum zweitenmale in aller Prächtigkeit ge­ feiert wurde. Die sieben Brüder aber brauchten nicht mehr rab!

rab! zu krächzen und in der Luft zu flattern, sondern gingen mit in das Schloß und saßen mit zu Tische. Der Jüngste freilich behielt seinen Rabenflügel, solange er lebte.

185. Ein Trunk Wasser. In einer kleinen Stadt im Schweizerlande wohnte der alte Imhauf. Er war Fuhrmann gewesen, hatte sich wohl für seine alten Tage einen Notpfennig gespart, aber viel war es nicht, und sein Hunger durfte nicht sonderlich groß sein, wenn er satt werden wollte. Weib und Kind hatte er nicht, die für ihn sorgten, und da er alt und schwach geworden war, ließ ihn die Gemeinde umsonst wohnen in einem halbverfallenen Häuschen am Stadt­ tor. Und doch war der alte Mann reich, denn er hatte ein Herz voller Liebe, und es drängte ihn, andern zu geben und zu helfen. Aber wie soll man geben, wenn man selbst nichts hat, und wie soll man helfen, wenn man selbst der Hilfe bedarf? Hört, wie der Imhauf es trotz alledem fertig brachte, zu helfen und zu geben: Jeden Abend, wenn er vor der Tür seines Häuschens saß und die Leute müde vom Felde heimkehrten und auch ab und zu ein fremder Wanderbursch durchs Tor schlich und sich nach einer Herberge umsah, da hatte er einen Krug neben sich stehen, mit dem köstlichen frischen Wasser gefüllt, das im Hof seines Häuschens aus dem Brunnen quoll, und jedermann rief er an und bot ihm einen kühlen Trunk. Und weil das kühle Wasser so labte und so recht von Herzen gespendet ward, so war es bald eine feste Gewohnheit im Städtchen geworden, beim Vater Imhauf zu trinken, auch wohl ein Weilchen mit ihm zu verplaudern. Und mancher arbeitete noch ein Viertelstündchen länger auf dem Acker, weil er wußte, daß er am Tore erquickt wurde, und mancher vergaß ganz, schnell noch einmal ins Wirtshaus zu gehen, weil Ja Vater Imhauf seinen Durst schon gestillt und oben-

drein ihm noch manch gutes Wort auf den Weg gegeben hatte. Und wie der Alte gestorben war, da fehlte er allen, den Armen und den Vornehmen; denn er hatte sie alle getränkt, und alle hatten seine Liebe und Freund­ lichkeit oft erfahren. Da beschlossen die Bürger, dem armen Fuhrmann ein Denkmal zu errichten, aber eins nach seinem Sinn: da, wo er sonst gesessen neben seinem Krug, steht jetzt ein Brunnen, der sein lebendiges Wasser jedem Durstigen entgegensprudelt; oben aber prangen in Goldbuchstaben die Worte: Liebet einander!

186. Zweierlei Arbeit. Ein Fabrikherr besaß zwei Fabriken in zwei ver­ schiedenen Städten. Die Anlage an seinem Wohnort lei­ tete er selbst, die andere ein Geschäftsführer, dem ein Gehilfe zur Seite stand. Eines Tages kam der Herr in die entfernt liegende Fabrik, um sie zu besichtigen. Er tritt des Morgens früh um sieben Uhr in die Ge­ schäftsräume, findet den Geschäftsführer noch nicht, wohl aber den jungen Gehilfen, der ihm erzählt, er sei schon seit sechs Uhr an der Arbeit und arbeite täglich bis des Abends um acht Uhr; der Herr Geschäftsführer dagegen sei gestern Abend erst spät aus einer Gesell­ schaft heimgekehrt, da sei er noch müde und werde wohl erst später kommen. Das tue er öfters. Dabei beziehe der faule Geschäftsführer fünfmal soviel Gehalt als er, der fleißige Gehilfe. Der Fabrikherr schien das alles nur mit halbem Ohr zu hören, denn er hatte zum Fenster hinausgesehen, wo ein großer beladener Wagen stand, draußen auf der Landstraße. Diesen Wagen musterte er und fragte als­ bald den Gehilfen: „Was ist dort auf dem Wagen?“ — „Ich weiß es nicht.“ — „Bitte, sehen Sie doch einmal nach!“ — Der junge Mann geht und kommt zurück: „Es sind Brikette drauf“. — „Bitte, fragen Sie doch einmal, wem die Brikette gehören!“ sagt der Herr, und der Ge-

hilfe bringt ihm Bescheid. „Fragen Sie doch auch, wo­ her die Brikette stammen!“ Der Jüngling geht nochmals und bringt genaue Auskunft. „So, und nun fragen Sie gefälligst noch einmal, durch wen die Brikette zu be­ ziehen sind!“ Zum viertenmal stürzt der Gehilfe pflicht­ eifrig hinaus und erstattet Bericht. „So, und nun gehen Sie noch einmal und hören, ob wir in unserer Fabrik auch schon einmal solche Dinger verwandt haben. Oder wissen Sie das vielleicht schon?“ — „Nein, aber ich kann mich ja erkundigen.“ Zum fünften Male eilt der dienstfertige junge Mann zum Wagen. Er wäre noch öfter hin- und hergelaufen, wenn nicht inzwischen der Geschäftsführer erschienen wäre. Dieser grüßt und will sich wieder empfehlen, da gleich eine neue Maschine probiert werden solle, wo er dabei sein müsse. „Einen Augenblick, mein Verehrter!“ bittet der Fabrikherr, „sehen Sie doch eben, was da draußen auf dem Wagen ist!“ In kürzester Frist kommt der Weg­ geschickte wieder und meldet: „Es sind 10000 Braun­ kohlenbrikette von der Grube Ilse. Ich habe mich gleich nach dem Preis erkundigt, sie kosten das Tausend 3 Mark 50 Pfennig, sind geliefert vom Vertreter der Grube, Gottfried Schulz, machen sich auf der Fabrik von Franke gut bezahlt, entwickeln aber für unsere Dampfkessel zu viel Asche und sind daher für uns nicht zu verwerten“. Der Geschäftsführer grüßt nochmals und empfiehlt sich, da er durchaus die neue Maschine müsse arbeiten sehen. Der Fabrikherr aber sagt schmunzelnd, wie zu sich selbst: „Schade, daß Herr Buchholz fortgegangen ist, ich wollte ihm noch sagen, daß vom nächsten Monat ab sein Gehalt erhöht werden soll“ — und zu dem jungen Ge­ hilfen sich wendend, der die letzten Worte staunend mit angehört hat, fügt er ernst hinzu: „Sehen Sie, mein junger Freund, wenn Sie die Hälfte von dem arbeiten wollten, was Herr Buchholz schafft, müßten Sie den Tag mindestens 36 Stunden arbeiten, und bis Sie ein Viertel

von dem verdienen, was mein Geschäftsführer unserer Fabrik wert ist, haben Sie noch sehr, sehr viel zu lernen. Wenn zwei Leute auch dieselbe Arbeit tun, ist es doch zweierlei Arbeit!“ Der Jüngling aber schlich sich still und nachdenklich an sein Schreibpult. 187. Was General Göben vom Betteln dachte. Es war im Sommer 1866 während des Mainfeldzuges, ■da saßen in einem der vornehmsten Gasthäuser zu Frank­ furt am Main eine ganze Anzahl älterer preußischer Offi­ ziere in traulicher Tafelrunde bei ihrem hochverehrten Führer, dem General von Gäben. Das fein zubereitete Mahl hatte allen trefflich gemundet, und man war von dem feurigen und würzigen 1862 er Hochheimer zum Schaumwein übergegangen; das Gespräch wurde immer lebhafter und lauter; freimütiger als zuvor äußerte man sich über dies und jenes, ja, auch der meist so ver­ schlossene General Göben war diesmal ungewöhnlich mit­ teilsam. Und wie das Gespräch so hin- und herwogte, kam man auch auf die Belästigung durch Landstreicher und Bettler zu reden; darüber sprach sich insbesondere ein Oberst heftig und entrüstet aus. „Wenn es jeder so machte wie ich,“ so sagte er, „dann hätte diese Land­ plage bald ein Ende.“ — „Wie machen Sie es denn, Herr Oberst?“ fragte Göben. „Nun, ich gebe unter keinen Umständen einem Vagabunden etwas, nicht das Geringste gebe ich ihm. In unserer Zeit braucht niemand zu betteln. Wer in Not ist, findet überall Arbeit.“ — „Und wenn er krank ist?“ fragte Göben. „Wenn er krank ist, dann gibt es überall Wohltätigkeitsanstalten und Krankenhäuser, und vor allem: wer krank ist, soll daheim bleiben! Ich gebe keinem Bettler etwas, und zwar aus Grundsatz!“ „Haben Sie schon gebettelt, Herr Oberst?“ fragte plötzlich Göben. Die Frage an sich war schon seltsam genug, noch mehr aber der Ton, in dem sie vorgebracht

wurde, so daß sie Aufsehen erregte und der ganze Kreis gespannt lauschte, was wohl weiter erfolgen werde. „Ich, gebettelt?“ sagte der Oberst, „wie sollte ich dazu kommen? Exzellenz belieben zu scherzen.“ — „Nein, ich scherze nicht, ich frage einfach: Haben Sie schon gebettelt, Herr Oberst?“ — „Nun denn: nein! gebettelt habe ich noch nicht,“ sagte der Oberst, halb lächelnd, halb verdutzt. „Dann sprechen Sie also, nehmen Sie es mir als Kameraden nicht übel, von etwas, was Sie nicht ver­ stehen. Wer nicht selbst gebettelt hat und nicht weiß, wie es einem armen Teufel zumute ist, der betteln muß, der darf nicht über das Betteln reden, denn davon ver­ steht er nichts.“ Der Oberst wollte etwas einwenden, aber Göben ließ ihn nicht zu Worte kommen. „Sehen Sie, meine Herren,“ sagte er rasch, „ich habe gebettelt. Nicht, was man wohl so scherzweise betteln nennt, kollektieren für einen wohltätigen Verein oder für eine arme Familie zu Weihnachten, nein, ich habe wirklich gebettelt!“ Der General machte eine Pause und blickte über all die fragenden und erwartungsvollen Gesichter in der Runde, dann fuhr er fort und erzählte wie folgt: „Wie ich vor mehr als dreißig Jahren als han­ növerischer Leutnant meinen Abschied genommen hatte, um auf Seiten der Karlisten in Spanien Kriegsdienste zu tun, da hatte mich außer der Liebe zu der Sache, für die dort gekämpft wurde, hauptsächlich auch das ju­ gendliche, ungestüme Verlangen geleitet, einmal einen richtigen, wirklichen Krieg mitmachen zu dürfen, wozu in dem tiefen Frieden, der damals in Deutschland herrschte, keine Gelegenheit war. Aber die Karlisten wurden leider besiegt und ich mit ihnen; man brachte mich an die Bidassoa, den Grenzfluß zwischen Spanien und Frankreich, und führte mich über die Bidassoabrücke hinüber auf die französische Seite. Da stand

ich nun in meiner abgetragenen Uniform, ohne einen Heller Geld. Es war heißer Sommer, und der grelle spanische Sonnenschein mitsamt dem Staub der Land­ straßen, dem Schweiß und Durst der heißen Kampfes­ tage hatten mir eine solche Augenentzündung zugezogen, daß ich glaubte, ich müßte blind werden. An Lesen und Schreiben war nicht zu denken, kaum unterschied ich Menschen von Bäumen, und nur ganz große Gegenstände in allernächster Nähe, wie Häuser, Flüsse, Straßen konnte ich zur Not erkennen. Ich hatte eine Baskenmütze auf, an die ich mir einen breiten Schirm befestigt hatte, der mir in etwa die Sonne abhielt. Da wankte ich denn meine Straße dahin, und da ich auch die süd­ französische Mundart schwer verstand, so setzte ich mich in den Dörfern an den Weg, streckte die Hand aus und flehte stammelnd um Gaben, oft auch zitternd und stumm, die Augen brannten und tränten mir, und meine Zunge klebte am Gaumen. Meist hieß es: Das ist auch so einer von den Karlisten! Was will der hier in unserm Lande? Der Kerl soll arbeiten! er ver­ stellt sich nur, dem fehlt ja gar nichts — und man schimpfte auch noch ärger. Aber manchmal gab es doch auch ein Stück Brot oder eine Frucht oder eine kleine Kupfermünze. Des Nachts schlief ich im Freien. So habe ich mich durchgebettelt bis nach Marseille. Das sind etwa 600 Kilometer in der Luftlinie, Herr Oberst, sehen Sie nur auf der Karte nach! Ich hatte damals keine Karte, und hätte ich eine besessen, dann hätte ich sie doch nicht lesen können. Darum machte ich manchen Umweg und habe mehrere Wochen gebraucht, bis ich nach Marseille kam. Dort gab es deutsche Konsulate, auf die hatte ich all meine Hoffnung gesetzt. Aber der Konsul, welchen ich auffand, glaubte sehr viel getan zu haben, wenn er dem angeblich früheren hannöverischen Leutnant, der aber keine Papiere hatte, womit er die Wahrheit dieser

Angabe beweisen konnte, zehn Franken Reisegeld gäbe. Die waren bald zu Ende, denn wie sahen meine Stiefel und meine Wäsche aus! Kurz und gut, da hieß es: weiter betteln! und so habe ich mich noch bis Genf durchgebettelt, da hatten meine Augen sich gebessert und fand ich endlich Landsleute, die meinen Angaben Glauben schenkten und sich meiner annahmen. Sehen Sie, meine Herren Kameraden, seitdem gebe ich jedem notleidenden Kerl, der mich anbettelt, einige Groschen, mich macht es nicht arm, und ihn macht es vielleicht unsäglich glücklich. Es kann ja sein, daß meine Gabe zehnmal jemand zuteil wird, der sie nicht verdient, aber das ist mir einerlei, ich gebe jedem Bettler etwas, und zwar aus Grundsatz!“ So sprach der große Feldherr, und der Oberst fühlte diese Lektion wohl, die ihm erteilt worden war, aber von Göben, dem allverehrten, allgefeierten General, ließ sich jeder gerne belehren.

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188. Sprichwörter. Allzuscharf macht schartig. Aus dem Regen in die Traufe. Bescheidenheit das schönste Kleid. Das Werk lobt den Meister. Den Esel kennt man an den Ohren und an den Worten den Toren. Denk nicht dran, so tut’s nicht weh. Den Mantel nach dem Winde hängen. Der letzte macht die Türe zu. Der Mensch denkt, Gott lenkt. Die Augen sind oft größer als der Magen. Einen fröhlichen Geb^r hat Gott lieb. Ein Esel schimpft den andern Langohr. Ein Mädchen muß nach einer Feder über drei Zäune springen.

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Ein Narr fragt mehr, als zehn Gescheite beant­ worten. Ein Narr würde auch weise geachtet, wenn er das Maul hielte. Ein Unglück kommt selten allein. Ein wenig zu spät ist viel zu spät. Erst besinn’s, dann beginn’s! Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Es ist keine Herde so klein, sie hat ein räudiges Schaf. Es ist nichts so bös, es ist zu etwas gut. Freunde in der Not gehn hundert auf ein Lot. Frisch gewagt ist halb gewonnen. Geben ist seliger denn Nehmen. Geduld überwindet alles. Gelegenheit macht Diebe. Getroffener Hund bellt. Gibt Gott Häslein, so gibt er auch Gräslein. Glück und Glas, wie leicht bricht das! Guter Rat kommt über Nacht. Gut Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Habich ist ein besserer Vogel als Hättich. Habsgehabt: ein armer Mann; Habsgewußt: ein dummer Mann. Heute mir, morgen dir. Heute rot, morgen tot. Hier geht’s nicht wie bei der Äpfelfrau, wo jedes aussucht, was es will. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Ich will dir zeigen, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat. Im Dunkeln ist gut munkeln. Kinder haben Lachen und Weinen in einem Säckchen. Kindermaß und Kälbermaß, das muß man wissen.

Hessel «nd User, Lesebuch 4.

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42. Lügen haben kurze Beine. 43. Man muß den Bock nicht zum Gärtner setzen. 44. Man muß nicht nach jeder Mücke schlagen. 45. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist. 46. Man soll nicht eher fliegen wollen, als bis man Federn hat. 47. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. 48. Mit Kleinem fängt man an, mit Großem hört man auf. 49. Mit Speck fängt man Mäuse. 50. Papier ist geduldig. 51. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. 52. Rein und ganz gibt schlechtem Kleide Glanz. 53. Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist.. 54. Steter Tropfen höhlt den Stein. 55. Unrecht Gut gedeihet nicht. 56. Unter Blinden ist der Einäugige König. 57. Unverhofft kommt oft. 58. Vereint sind auch die Schwachen mächtig. 59. Waghals bricht den Hals. 60. Was du tust, bedenke das Ende. 61. Was einer einbrockt, das muß er auch ausessen. 62. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. 63. Was man wünscht, das glaubt man gern. 64. Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen. 65. Wenn das Kind ertrunken ist, deckt man den Brunnen zu. 66. Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten. 67. Wer gut schmeert, der gut fährt. 68. Wer kaufen will, was er sieht, muß verkaufen, was er hat. 69. Wer sich nicht satt ißt, der leckt sich auch nicht satt. 70. Wer zuschaut, dem ist keine Arbeit zu viel. 71. Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen.

72. Wie die Saat, so die Ernte. 73. Wie du mir, so ich dir. 74. Wie man sich bettet, so schläft man auch. 75. Wo Tauben sind, da fliegen Tauben hin.

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189. Beispielsprichwörter. „Das ist ein Meisterstück,“ sagte der Zimmermann, hatte eine Hundehütte gemacht und das Loch ver­ gessen. „Das ist nicht wahr,“ sagte der Krebs, als die Schwalbe von ihrer Reise erzählte. „Das ist unruhig Volk,“ sagte der Bauer, der einen Wagen Frösche lud, „wenn ich einen wieder hinauf­ bringe, springt der andere wieder herunter“. „Das war ein Satz!“ sagte der Narr, als er über einen Strohhalm gesprungen war. „Dem kann man schon am Gesicht ansehen, daß er ein Mohr ist,“ sagte das Mädchen, da ging ein Neger vorüber. „Der Geschmack ist verschieden,“ sagte die Magd, da aß sie den Kaffeesatz und goß die Brühe weg. „Der Krug ist entzwei,“ sagte der Schusterjunge, „hätte ich nur meine Schläge schon!“ „Exempel sind die besten Lehren,“ sagte die alte Ente, da watschelte sie ihren Jungen voran. „Hier ist nicht gut Eier essen,“ sagte der Fuchs, als er den Hund vor dem Hühnerstalle sah. „Ich bin zwar lang gewachsen, aber kurz ge­ blieben," sagte der Zwerg von Uri. „Ich habe ein gutes Gedächtnis,“ sagte der Dieb, „ich fasse schnell, erinnere mich leicht und behalte lang“. „Ich habe ein Kunststück gemacht,“ sagte der Schusterjunge und zeigte ein Paar Schuhe ohne Sohlen.

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„Ich wäre bald gefallen,“ sagte Hans, da lag er auf der Nase. „Jedes Ding hat ein Ende,“ sagte der Bauer, „nur die Wurst hat zwei“. „Krieg ich nicht ein paar Rosinen ?“ sagte der Schusterjunge zum Krämer, und er hatte gefragt, wieviel Uhr es sei. „Laß mich in Frieden!“ sagte die Maus zur Katze. „Mutter, was ist die Welt so groß!“ sagte der Junge, da guckte er über den Gartenzaun. „Nur nicht ängstlich!“ sagte der Hahn zum Regen­ wurm, da fraß er ihn auf. „Was hilft flennen,“ sagte die Frau zur Magd, „wenn der Topf entzwei ist?“ „Was ich doch für Staub machen kann!“ sagte die Mücke, als sie auf dem Heuwagen saß.

Erläuterungen.

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Erläuterungen. Zu Nr. 6 (C l a u d iu s, Abendlied e. Bauersmanns): Panzen ein norddeutscher Leckerbissen, geräucherter Tiermagen mit be­ sonders feiner Füllung, ähnlich wie anderswo Schwartemagen. — ordert für ordnet. Zu Nr. 8 (Claudius, Kartoffellied): däuen ungewöhnliche Form statt verdauen. Zu Nr. 14 (Förster, Kaiser Rudolf und der Freihart): ein Freihart ist ein Landstreicher. Zn Nr. 17 (Görres. St. Meinrads Raben): Der Etzel ist ein Berg im Kantyn Schwyz an der Südseite des Züricher­ sees; droben steht die St. Meinradskapelle. Zu Nr. 23 (Güll, Rätsel): Baum. Gewitter. Schiff. Schneeflocke. Wage. Zwiebel. Zu Nr. 24 (Hebel, Das Liedlein vom Kirschbaum): Bei Hebel fehlt die letzte Zeile, weil das Gedicht ursprünglich in ein Prosastück „Die Baumzucht" eingefügt war und der das Lied singt, am Schluß unterbrochen wird. Nach dem Reim­ wort und dem entsprechenden Schluß in der 1., 4. und 7. Strophe kann jedoch kein Zweifel sein, daß der Dichter obigen Schluß im Sinne hatte. Merkwürdigerweise pflegt dies in den Lesebüchern übersehen zu werden. Zu Nr. 33 (Kerne r. Der reichste Fürst): Gemeint ist der Reichstag zu Worms 1495, wo unter Kaiser Maximilian der ewige Landfriede angeordnet wurde. Man vgl. Teil 5, Nr. 99: Luther, Der reichste Fürst. Zu Nr. 35 (Kopisch, Der Jäger am Mummelsee): Dieser See liegt im Schwarzwald, mehr als 1000 Meter über dem Meere, er ist sehr tief und ganz von düsteren Tannen um­ geben. Die Liebste ist die Jägersfrau. Man vgl. Nr. 69 S ch n e z l e r, Die Lilien im Mummelsee. Zu Nr. 37 (K o p i s ch, Kaspars Löffel): Gnissau liegt bei Lübeck an der Trave, im oldenburgischen Amt Eutin. Zu Nr. 47 (Mose n, Aus der Fremde): Der Dichter war aus Marienei im sächsischen Boigtlande gebürtig, er schil­ dert in dem Lied seine eigene Heimat. Das Lied ist aus der Novelle: Das Heimweh. Ein Mädchen aus dem Boigtlande verheiratete sich nach New-Bork. Das Heimweh erfaßte sie dort, in einen Brief an ihre Eltern flicht sie das Lied ein. Die Novelle ist sehr lesenswert und in den Wiesbadener Volks­ büchern Nr. 30 für 15 $f. zu kaufen.

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Erläuterungen.

Zn Nr. 61 (Rückert, Das Wunder auf der Flucht): Abubeker, der Schwiegervater Mohameds, ward sein Nach­ folger (Khalif) im Prophetenamt. Zu Nr. 68 (Schiller, Rätsel): Der Dichter gibt in dem Schauspiel Turandot selbst die Auflösungen: Diese Schlange, der an Schnelle keine gleicht, Die aus der Höhe schießt, die stärksten Eichen Wie dünnes Rohr zerbricht, durch Schloß und Riegel dringt. Vor der kein Harnisch kann beschützen. Die sich in eignem Feuer selbst verzehrt, Es ist der Blitz, der aus der Wolke fährt.

Das alte, festgegründete Gebäude, Das Stürmen und Jahrhunderten getrotzt, Das sich unendlich, unabsehlich leitet Und Tausende beschirmt, die große Mauer ist's, Die China von d-er Tartarwüste scheidet.

Dies Ding von Eisen,, das nur wen'ge schätzen. Das Chinas Kaiser selbst in seiner Hand Zu Ehren bringt am ersten Tag des Jahrs, Dies Werkzeug, das, unschuldger als das Schwert, Dem frommen Fleiß den Erdkreis unterworfen — Wer ehrte nicht das köstliche Geräte, Das allen diesen Segen schuf — den Pflug? Zu Nr. 71 (Simrock, Habsburgs Mauern): Bischof Werner begann 1015 den Münsterbau zu Straßburg. Eine ähnliche Sage wird auch von der Wartburg und dem Landgrafen Ludwig bem Eisernen erzählt. Zu Nr. 77 (S u te r m e i st e r, Rätsel): Fluß; Jahr (zwei­ mal); Nagel; taube Nuß; Woche. Zu Nr. 92 (Rätsel): Pantoffeln. Nebel. Pilz. Kaffee. Auge. Ei. Nebel. Papier und Schrift. Schmetterling. Tauwind. Pflaumenbaum. Seinesgleichen. Das. Maulwurf. Glocke. Schuhnagel. Morgen. Pferd und Wagen. Woche. Und. Spinnrad. Wurmstichige Nuß. Fenster. Eiszapfen. Otto. Brücke. Frosch. Schuster, Schemel, Schinken und Hund. Zu Nr. 94 (Voß, Herbstlied): Zider (auch Cider ge­ schrieben) ist Obstwein, besonders Apfelwein. Zu Nr. 100 (Bäßler, Das Amen der Steine): Beda der Ehrwürdige starb 735, war Mönch in einem englischen Kloster und hat zahlreiche theologische und geschichtliche Werke geschrieben. Zu Nr. 108 (Eylert. Die Freiwilligen aus der Mark): Eylert war evangelischer Bischof und Hofprediger König Fried­ rich Wilhelms III. Enakskinder, ein im Alten Testament öfters erwähntes Riesenvolk im südlichen Palästina, das von den er-

Erläuterungen.

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obernden Israeliten besiegt ward. Der Hellweg ist das Land zwischen Ruhr und Lippe, das Sauerland (Süderland) der Teil der Mark südlich der Ruhr, mit Hagen, Iserlohn und Siegen. Zu Nr. 111 (Eylert, Die Gaben der Mennoniten): Die Sekte der Mennoniten oder Taufgesinnten ist von Menno, einem friesischen Priester, gestiftet, der 1561 starb. Sie verwerfen Kindertaufe und Eidschwur und betrachten sich sonst als evan­ gelische Christen. Zu Nr. 113 (Falkmann. Der Tag eines Jägers): Dohnen sind Schlingen aus Pferdehaar zum ^Vogelfang. Zu Nr. 122 (Grimm, Die Gänsemagd): schnatzen heißt in Hessen das Haar flechten. Falada, auf der ersten Silbe betont, ist das fahle Pferd, der Schimmel, der als dem Wuotan heiliges und weissagendes Tier galt. Rolands Pferd hieß Falerich; in der Geschichte der Haimonskinder kommt ein Roß Bolatin vor, in der Eifelsage ein Roß Falchert. Zu Nr. 123 (Grimm, Der 1000jährige Rosenstock): Heilig­ tümer sind Reliquien von Heiligen. Zu Nr. 124 (Grim in, Rodensteins Auszug): Hofraite ist der Hofraum bei einem landwirtschaftlichen Gebäude, nieder­ deutsch auch Hosride. Zu Nr. 130 (6 st uff, Der Bau des Reußensteines): Diese Sage findet sich in des Dichters Erzählung Lichtenstein. Zu Nr. 135 (Hebel, Kannitverstan): Immendingen, Tutt­ lingen, Gundelfingen sind Orte in der Nähe der Donauquelle. Zu Nr. 140 (Marshall, Anschluß der SSögeß: hierundo lunifrons bedeutet die Schwalbe mit der Mondstirn, nach der halbmondförmigen Zeichnung auf dem Kops. Zu Nr. 143 (Rosegger, Das Waldspinnlein): „Wir vergaßen auf das Tierchen" ist österreichische Ausdrucksweise. Zu Nr. 154 (Trojan, Eisenbahnfahrt): Fließ ist nord­ deutscher Ausdruck für Bach. Zu Nr. 164 (Eine Halliginsel): Fudschijama ist der auf japanischen Ansichten immer wiederkehrende mächtige Vulkan bei der Hauptstadt Tokio; Taifun der gefürchtete Wirbelsturm, der in den ostasischen Meeren so oft Unheil anrichtet. Zu Nr. 181 (Rheinfahrt von Düsseldorf bis Rotterdam): Die Schreibart Jjssel ist holländisch, wo wir meist Assel schreiben, die Aussprache ist ei, genauer = äi: Neder-Rijn ist also Nieder­ rhein; in Betuwe ist, wie stets im Holländischen, das u wie ü zu sprechen; Ruisdael zu sprechen: Reusdal. Zu Nr. 182 (Das Dors Broek): Der Laut u wird im Holländischen stets oe geschrieben: Malvasier, ein berühmter griechischer Wein aus Malvasia.

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Lebensabriß der Verfasser und Nachweis der Quellen.

Lebensabriß der Verfasser und Nachweis der Quellen. Allmers, Hermann, geb. 11. Febr. 1821 zu Rechtenfleth in der Ostersteder Marsch, t 9. März 1902 daselbst. Nr. 96 (Marschenbuch, 3. Aufl., Oldenburg, 1891). Arndt, Ernst Moritz, geb. 26. Dezember 1769 zu Schoritz auf Rügen, t 29. Januar 1860 zu Bonn. Nr. 1 (Gedichte, Leipzig, 1840). Aurbacher, Ludwig, geb. 26. August 1784 zu Türk­ heim, t 25. Mai 1847 zu München. Nr. 97. 98 ^Aus dem deutschen Spielmann, Bd. 4. 17). Baßler, Ferdinand, geb. 26. Januar 1816 zu Zeitz, t 3. Februar 1879 zu Pforta. Nr. 99—101 (Sagen aus allen Gauen des Vaterlandes, 2. Aufl., Berlin 1877, 98 und 100 gekürzt; Altchristliche Geschichten und Sagen, Leipzig, 1864). B e ch st e i n, Ludwig, geb. 24. Nov. 1801 zu Weimar, t 4. Mai 1860 zu Meiningen. Nr. 102. 103 (Märchenbuch, Prachtausgabe. Leipzig, o. I.; Altdeutsche Märchen, Sagen und Legenden, Leipzig, 1877). Becker, Karl Friedrich, geb. 1777 zu Berlin, t 15. März 1806 ebenda. Nr. 104—106 (Weltgeschichte für die Jugend, Bd. 8, 5. Aufl. Berlin, 1825). Becker, Nikolaus, geb. 15. Januar 1810 zu Geilen­ kirchen, f 28. August 1845 zu Hunshosen. Nr. 2 (Gedichte, Köln, 1841, dort mit dem Zusatz: An Alphons de Lamartine, 1840). Brentano, Klemens, geb. 8. Sept. 1778 zu Ehrenbreit­ stein, t 28. Juli 1842 zu Aschaffenburg. Nr. 107 (Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia, vollständige Ausgabe, Berlin, 1872, gekürzt, dach nicht geändert). v. .Chamisso, Adelbert, geb. 31. Januar 1781 auf Schloß Boncourt (Champagne), t 21. August 1838 zu Berlin. Nr. 3. 4 (Werke, 6 Bde., Leipzig, 1836—39). Claudius, Matthias, geb. 15. August 1740 zu Rein­ feld (Holstein), t 21. Januar 1815 zu Hamburg. Nr. 5—8 (Sämtl. Werke, 8 Teile, Wandsbeck, 1774—1812). Cornelius, Peter, geb. 24. Dezember >1824 zu Mainz, t 26. Oktober 1874 ebenda. Nr. 9. 10 (Gedichte, Leipzig, 1905). D i s s e l h o f f, August, geb. 25. November 1829 zu Arns­ berg, t 9. März 1903 zu Allstedt. Nr. 11 (Aus dem deutschen Spielmann). v. Eichendorfs, Josef, geb. 10. März 1788 zu Lubo-

Lebensabriß der Verfasser und Nachweis der Quellen.

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Witz in Oberschlesien, f 26. November 1857 zu Neiße. Nr. 12. 13 (Gedichte, 9. Aufl., Leipzig, 1875). Eylert, Nulemann Friedrich, geb. 5. April 1770 zu Damm, Westfalen, t 3. Februar 1852 zu Potsdam. Nr. 108 bis 112 (Charakterzüge aus dem Leben des Königs von Preußen Friedrich Wilhelm III. 2. Aufl. Magdeburg, 1843—45, an manchen Stellen gekürzt). Falkmann, Ferdinand Christian, geb. 2. Juli 1782 zu Schöttmar (Lippe), t 11. Februar 1844 zu Detmold. Nr. 113. 114 (Stilistisches Elementarbuch, 8. Aufl., Leipzig, 1862). Fick, Wilhelm, g-eb. 20. April 1861 zu Geisweid ber Siegen, lebt zu Elberfeld. Nr. 115 (Erdkunde, 2. Bd., Leip­ zig, 1907, danach vom Berfasser als Originalbeitrag für vor­ liegendes Buch bearbeitet). F ö r st e r, Karl, geb. 3. April 1784 zu Naumburg, f 18. Dezember 1841 zu Dresden. Nr. 14 (Gedichte, Berlin^ 1845). Fouqub, Friedrich Baron de la Motte, geb. 12. Febr. 1777 zu Brandenburg, f 23. Januar 1843 zu Berlin. Nr. 15(Gedichte, 2 Bde., Stuttgart, 1817). G e i b e l, Emanuel, geb. 18. Oktober 1815 zu Lübeck, t 6. April 1886 daselbst. Nr. 16 (Gesammelte Werke, 8 Bde.^ Stuttgart, 1883). Glaubrecht, Otto (Rudolf Cf er), geb. 13. Oktober 1806 zu Gießen, t 13. Oktober 1859 zu Lindheim (Wetterau). Nr. 116 (Erzählungen, Glogau, o. I., 2. Aufl.). G ö r r e s, Guido, geb. 28. Mai 1805 zu Koblenz, t 14. Juli. 1852 zu München. Nr. 17 (Festkalender von Görres und $occiA neue Ausg. Freiburg, 1885). Goethe, Johann Wolfgang, geb. 28. August 1749 zu Frankfurt a. M., t 22. März 1832 zu Weimar. Nr. -18 (Werke, 36 Bde., Stuttgart, o. I.). Greif, Martin, geb. 18. Juni 1839 zu Speier, lebt in München. Nr. 19. 20 (Gedichte, 5. Aufl., Stuttgart, 1889). Brüder Grimm: 1. Jakob, geb. 4. Januar 1785 zu Hanau, f 20. November 1863 zu Berlin. 2. Wilhelm, geb. 24. Februar 1786 zu Hanau, f 16. Dezember 1859 zu Berlin. Nr. 117—127 (Kinder- und Hausmärchen, große Ausgabe, 18. Aufl., Berlin, 1882; Deutsche Sagen, '2. Aufl., Berlin, 1865bis 1866). Grün, Anastasius (Anton Graf Auersperg), geb. 11. April 1806 zu Laibach (Kram), t 12. September 1876 zu Graz. Nr. 21 (Gedichte, 2. Aufl., Leipzig, 1838). Gude, Karl, geb. 28. Februar 1814 zu Hasserode (Harz)^ t 23. November 1898 zu Magdeburg. Nr. 128 (Erläuterungen deutscher Dichtungen, 5. Aufl., Leipzig, 1875).

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Lebensabriß der Verfasser und Nachweis der Quellen.

G ü l l, Friedrich, geb. 1. April 1812 zu Ansbach, t 23. De­ zember 1879 zu München. Nr. 22. 23 (Kinderheimat, Güters­ loh, 1875). Günther, Friedrich, geb. 23. Sept. 1843 zu Andreas­ berg im Harz, lebt als Schulinspektor zu Claustal. Nr. 129 (Der Harz, Hannover, 1888). Hansjakob, Heinrich, geb. 19. August 1837 zu Hasbach (Baden), lebt in Freiburg i. Breisgau. Nr. 182 (In den Niederlanden). Hauff, Wilhelm, geb. 29. November 1802 zu Stuttgart, t 18. November 1827 daselbst. Nr. 130 (Werke, 12 Bde., Berlin, o. I.). Hebel, Johann Peter, geb. 10. Mai 1760 zu Basel, 7 22. Sept. 1826 zu Schwetzingen. Nr. 24. 25. 131—135 (Schatz­ kästlein des rheinischen Hausfreundes, kritische Ausgabe von Behaghel, Berlin, Bd. 142 der Nationalliteratur von Kürschner). Hofsmann von Fallersleben, August Heinrich, geb. 2. April 1798 zu Fallersleben (Hannover), t 19. Januar 1874 zu Corvey a. d. Weser. Nr. 26—30 (Kinderlieber. Erste voll­ ständige Ausgabe, herausgegeben von Donop, Berlin, 1887). v. H o l t e i, Karl, geb. 24. Januar 1797 zu Breslau, t 12. Febr. 1880 daselbst. Nr. 31 (Lenore. Vaterländisches Schauspiel, Berlin, 1829). Hölty, Ludwig Heinrich Christoph, geb. 21. Dezember 1748 zu Mariensee bei Hannover, t 1. September 1776 zu Hannover. Nr. 32 (Gedichte, herausgegeben von Halm, Leipzig, 1869). Kerner, Justinus, geb. 18. September 1786 zu Ludwigs­ burg, t 22. Februar 1862 zu Weinsberg. Nr. 33 (Ausgewählte poetische Werke, 2 Bde., Stuttgart, 1878). Kirchhoff, Alfred, geb. 23. Mai 1838 zu Erfurt, t 8. Februar 1907 zu Mockau b. Leipzig. Nr. 164. 183 .(Die deutschen Landschaften und Stämme). Klein, Karl, geb. 31. Mai 1838 zu Hirschland (Elsaß), t 29. April 1898 zu Kaufbeuren (Bayern). Er war Pfarrer zu Fröschweiler und andern Orten. Nr. 136 (Fröschweiler Chronik. Die Ergänzung von v. d. Smissen aus den Mennonitischen Blättern, Altona, September 1909). Kopisch, August, geb. 26. Mai 1799 zu Breslau, t 6. Februar 1853 zu Berlin. Nr. 34—39 (Werke, Bd. 1, Berlin, 1856). Krummacher, Friedrich Adolf, geb. 13. Juli 1767 zu Tecklenburg, t 4. April 1845 zu Bremen. Nr. 40 (Festbüchlein, Essen, 1846). Kugler, Franz, geb. 19. Januar 1808 zu Stettin, t 18. März 1858 zu Berlin. Nr. 41 (Skizzenbuch, Berlin, 1830).

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Leander (Richard v. Bolkmann), geb. 17. August 1830 zu Leipzig, t 28. November 1889 zu Halle. Nr. 137 (Träumereien an französischen Kaminen, 19. Aufl., Leipzig, 1890). Leuthold, Heinrich, geb. 9. August 1827 zu Wetzikon (Kanton Zürich), f 1. Juli 1879 zu Burghölzli (Schweiz). Nr. 42 (Aus dem deutschen Spielmann). L i n g g, Hermann, geb. 22. Jan. 1820 zu Lindau, Boden­ see, f 18. Juni 1905 >zu München. Nr. 43 (Gedichte, Stutt­ gart, 1868). Löns, Hermann, geb. 29. September 1866 zu Kulm (West­ preußen), lebt zu Bückeburg. Nr. 138. 139 (Meerwarth, Lebens­ bilder aus der Tierwelt, Bd. 1, Leipzig, 1908, Die Kürzungen mit Zustimmung des Verfassers). L ö w e n st e i n, Rudolf, geb. 20. Februar 1819 zu Breslau, t 5. Januar 1891 zu Berlin. Nr. 44 (Kindergarten, 5. Aufl., Berlin, o. I.). Marshall, William, geb. 6. September 1845, t 16. September 1907 zu Leipzig. Nr. 140 (Spaziergänge eines Natur­ forschers, Leipzig, 1888). Mörike, Eduard, geb. 8. September 1804 zu Ludwigs­ burg, t 4. Juni 1875 zu Stuttgart. Nr. 45. 46 (Gedichte, 12. Aufl., Stuttgart, 1897). Mose n, Julius, geb. 8. Juli JL803 zu Marienei (Voigtland), 's 10. Oktober 1867 zu Oldenburg. Nr. 47 (Sämt­ liche Werke, 6 Bde., Leipzig, 1880). Mül len ho ff, Karl Viktor, geb. 8. September 1818 zu Marne (Ditmarschen), t 19. Februar 1884 zu Berlin. Nr. 141 (Sagen aus Schleswig-Holstein. Kiel, 1845). Müller, Wilhelm, geb. 7. Oktober 1794 zu Dessau, t 30. September 1827 daselbst. Nr. J48—50 (Gedichte, 2 Teile, Berlin, 1874). v. Niebusch, K. (Über sein Leben war nichts zu ermitteln, nicht einmal über seinen Vornamen.) Nr. 51 (Aus dem deut­ schen Spielmann). P f e f f e l, Gottlieb Konrad, geb. 28. Juni 1736 zu Kolmar (Elsaß), t 1. Mai 1809 daselbst. Nr. 52 (Fabeln und poetische Erzählungen, Stuttgart, 1840, Bd. 1). Ramler, Karl Wilhelm, geb. 15. Februar 1725 zu Kolbepg, t 11. April 1798 zu Berlin. Nr. 53 (Aus dem Lieder­ buch für altmodische Leute, Leipzig, 1887). Ratzel, Friedrich, geb. 30. August 1844 zu Karlsruhe, t 9. August 1904 zu Ammerland, Bayern. Nr. 142 (Deutsch­ land, Leipzig, 1898). Reinick, Robert, geb. 22. Februar 1805 zu Danzig, t 7. Februar 1852 zu Dresden. Nr. 54 (Märchen-, Lieder- und Geschichtenbuch, 7. Aufl., Bielefeld, 1884).

332

Lebensabriß der Verfasser und Nachweis der Quellen.

Rosegger, Peter, geb. 31. Juli 1843 zu Alpel (Steier­ mark), lebt zu Graz. Nr. 143 (Meine Ferien, Wien, 1883). Rückert, Friedrich, geb. 16. Mai 1788 zu Schweinfurt, t 31. Januar 1866 zu Neuseß bei Koburg. Nr. 55—62 (Ge­ sammelte poetische» Werke in 12 Bänden, Frankfurt a. M., 1882). Ruß, Karl, geb. 14. Januar 1833 zu Baldenberg (Pom­ mern), f 30. September 1899 zu Berlin. Nr. 144—146 (Meine Freunde, Lebensbilder aus der Tierwelt, 2. Ausl., Berlin, 1878). v. Sallet, Friedrich, geb. 20. April 1812 zu Neiße, t 21. Februar' 1843 zu Reichau (Schlesien). Nr. 63 (Gedichte, Königsberg, 1843). Schiller, Friedrich, geb. 10. November 1759 zu Mar­ bach am Neckar, t 9. Mai 1805 zu Weimar. Nr. 64—68 (Aus Tell, Macbeth und Turandot). S ch n e z l e r, August, geb. 4. August 1809 zu Freiburg i. B., t 11. April 1852 zu München. Nr. 69. 70 (Gedichte, Karlsruhe, 1846). Schwartz, Wilhelm, geb. 4. September >1821 zu Berlin, t 16. Mai 1899 ebenda. Nr. 147. 148 (Sagen der Mark Brandenburg, 5. Ausl., Stuttgart und Berlin, 1909). Seidel, Heinrich, geb. 25. Juni 1842 zu Perlin (Mecklen­ burg), t 7. November 1906 zu Gr.-Lichterfelde. Nr. 149—152 (Wintermärchen, Glogau, o. I.; Naturbilder, Berlin, 1909). Simrock, Karl, geb. 18. August 1802 zu Bonn, f 18. Juli 1876 daselbst. Nr. 71—73 (Rheinsagen, 10. Ausl., Bonn, 1891). Spyri, Johanna, geb. 12. Juni 1827 zu Hirzel bei Zürich, t 8. Juli 1901 zu Zürich. Ihr Familienname war Heußer. Nr. 74 (Aus dem deutschen Spielmann). Stöber, Karl, geb. 30. November 1796 zu Pappenheim (Bayern), t 6. Januar 1865 ebenda. Nr. 153 (Aus dem deutschen Spielmann, Bd. 18). v. Strachwitz, Graf Moritz, geb. 13. März 1822 zu Peterwitz (Schlesien), t H. März 1847 zu Wien. Nr. 75 (Ge­ dichte, Leipzig, Reclam, o. I.). Sutermeister, Otto, geb. 27. Sept. 1832 zu Zu­ fingen (Schweiz), t 19. August 1901 zu Aarau. Nr. 76. 77 (Frisch und Fromm, Aarau, 1863). Trojan, Johannes, geb. 14. August 1837 zu Danzig, lebt 511 Warnemünde (Mecklenburg). Nr. 78—85. 154—156 (Gedichte, Leipzig, 1883). Uhland, Ludwig, geb. 26. April 1787 zu Tübingen, T 13. November 1862 daselbst. Nr. 86. 87 (Gedichte, Stutt­ gart, o. I.).

Lebensabriß der Verfasser und Nachweis der Quellen.

333

Biebig, Klara, verheiratete Cohn, geb. 17. Juli 1860 zu Trier, lebt in Berlin. Nr. 157 (Kinder der Eifel, 10. Aufl., Berlin, 1909). Bogel, Walther, geb. 19. Dezember 1880 zu Chemnitz, lebt in Berlin. Nr. 181 (aus „Meereskunde", Berlin, 1910). Volkstümlich, Nr. 88—93 (88—91 aus des Knaben Wunderhorn, Heidelberg, 1808, Nr. 89 um 7 Strophen, Nr. 90 um eine Strophe, Nr. 91 erheblich gekürzt, Nr. 92 aus Simrock, Rätselbuch, Frankfurt a. M., o. I., aus Seidel, Buntes a. d. Leben, Stuttgart, o. I., aus Wolgast, Rätsel­ reime in „Quellen", München, o. I., Bonus, Rätsel, Mün­ chen, 1907 und mündlich, Nr. 93 aus Deutsche Inschriften an Haus und $erät, Berlin, 1888). Boß, Johann Heinrich, geb. 20. Febr. 1751 zu Sommersselde (Mecklenburg), f 29. März 1826 zu Heidelberg. Nr. 94 (Gedichte, Berlin, o. I., um eine Strophe gekürzt). Wolf, Johann Wilhelm, geb. 23. April 1817 zu Köln, t 29. Juni 1855 zu Hofheim (Hessen). Nr. 158 (Aus dem deutschen Spielmann, Sommer). Zeitz, Karl, geb. 26. Oktober 1844 zu Bad Salzungen (Sachsen-Meiningen), lebt in Meiningen. Nr. 159 (Kriegs­ erinnerungen eines Feldzugsfreiwilligen aus den Jahren 1870 und 1871, Altenburg, 1905). Zirbes, Peter, geb. 20. Januar 1825 zu Niederkail bei Trier, f 24. November 1901 daselbst. Nr. 95 (Eifelsagen und Gedichte, 4. Aufl., Koblenz, 1902). Deutsche Landschaft und Verschiedenes. Nr. 160—162. 165. 166. 168 von K. H., 167 Originalbeitrag von Maria Hessel; 164 und 183 von Kirchhoff; 169 bis 175 aus den Sagen und Geschichten des Rheintals von K. Hessel, Bonn, 1904. Nr. 176 aus den bergischen Sagen von Camilla Schieferdecker und Olga Schillmann, Elberfeld, o. I. Nr. 177—179 aus „Lustige Geschichten aus Schwaben" vom Württembergischen Lehrer-Unterstützungsverein, 2. Auflage, Stuttgart, o. I., Nr. 180 aus Simrock, Volksbuch von Eulen­ spiegel. Nr. 181, I von Walther Bogel; II von K. H. Nr. 182 von Hansjakob. Nr. 184 nach Moritz v. Schwinds Gemälden erzählt von K. H. Nr. 163. 185. 186 aus Zeitungen. Nr. 187 nach mündlicher Mitteilung des Ohrenzeugen, Oberst von Dobbelstein in Koblenz. Nr. 188 aus Simrock. Nr. 189 meist aus Herzog, Beispielsprichwörter, Aarau, 1882 und Höfer, Wie das Volk spricht, Stuttgart, 1866.

334

Inhalt I.

Inhalt I. Die Gedichte sind durch * bezeichnet.

A. Anordnung nach dem Inhalt. 1. Häusliches Leben. Feste. ©eite *5. Claudius, An einem Maimorgen.............................. 5 *6. „ Abendlied eines Bauersmanns..................... 6 ♦8. „ Kartoffellied...................................................... 8 ♦47. Mosen, Aus der Fremde......................................................49 ♦42. Leuthold, Meines Kindes Abendgebet............................. 45 *9. Cornelius, Christbaum......................... ........................ 9 ♦10. „ Die Könige..................................................... 9 *13. Eichendorfs, Weihnachten................................................ 11 ♦76. Sutermeister, Tannenbäumchcns Geschichte .... 79 *19. Greif, Der Sunnwendmann.................................................19 *26. Hoffmann, Sonntag.............................................................27 *74. Spyri, Morgen ist's Sonntag ............................................ 77

2. Weisheit. Gottvertrauen. ♦29. Hoffmann, Wo wohnt das Glück? ................................. 28 79 Trojan, Sechse und einer ......................................................83 ♦83. „ Zum Blumenpslücken .............................................. 85 ♦78. „ Das Kornfeld.............................................................. 82 *93. Inschriften an Gerät und Haus................................................ 98 103. Bechstein, Die arme Mutter u. d. reiche Sohn . . . 113 120. Grimm, Die Boten des Todes.......................................... 155 153. Stöber, Der kleine Friedensboie...................................... 238 156. Trojan, Kleinigkeiten.......................................................... 246 185. Ein Trunk Wasser........................................................................ 314 186. Zweierlei Arbeit............................................................................315 187. Was General Göben vom Betteln dachte ........................... 317 188. Sprichwörter................................................................................ 325 189. Beispielsprichwörter ....................................................................323

♦75. 123. ♦71. *14. 173. 174. 169. 170. 171.

3. Deutsche Sage und Geschichte. Sage. Strachwitz, Rolands Schwanenlied ................................. 78 Grimm, Der tausendjährige Rosenstock zu Hildesheim 168 Simtod, Habsburgs Mauern .............................................. 74 Förster, Kaiser Rudolf und der Freihart......................... 12 Kaiser Rudolf in Mainz (Rhein)........................................... 286 Die tapfere Besatzung (Rhein) ............................................... 2S7 Der Korporal Spohn (Rhein).............................................. 279 Die Schwanenkirche auf dem Maifelde (Rheinland) . . . 280 Die Legende von der heiligen Genoveva (Rheinland) . . 281

Inhalt I.

335 Seite

172. 175. 125. ♦72. 176. ♦35. *69. 124. *73. *95. 177. 178. 130. 179. 97. 180. 147. 148. 99. 141. *37. 127.

Drei Saget: aus dem Siebengebirge (Rhein)....................... 283 Das Wappen der Stadt Köln (Köln)....................................289 Grimm, Richmodis von Aducht (Köln) ............................169 @ im rod, Der Schmied von Solingen (Rheinland) . . 75 Wie die Wupper entstand (Rheinland)....................................290 Kopisch, Der Jäger am Mummelsee (Schwarzwald^ . 34 Schnezler, Die Lilien im Mummelsee (Schwarzwald) 72 Grimm, Rodensteins Auszug (Odenwald)........................168 Simrock, Die 9 in der Wetterfahne (Frankfurt) ... 76 Zirbes, Das verlorene Schühlein (Eifel) ........................100 Der Spion von Aalen (Schwaben)........................................ 291 Der Ulmer Spatz (Schwaben) ................................................ 293 Hauff, Der Bau des Reußensteins (Schwaben) .... 178 Ein kluger Schwabenstreich (Schwaben) . ............................295 Aurbacher, Die verwüstete Alp (Oberbayern) .... 105 Eulenspiegel (Braunschweig; Helmstedt; Bremen)................... 297 Schwartz, Selbergedan u. d. Wassernix (Brandenburg) 226 „ Der Schmied zu Jüterbog (Brandenburg) . 227 Baßler, Wineta (Pommern)................................................ 107 Müllenhofs, Das Licht der treuen Schwester (Holstein) 215 Kopisch, Kaspars Löffel (Holstein)......................................36 Grimm, Der einkehrende Zwerg (Schweiz)........................ 172

Geschichte. ♦33. Kerner, Der reichste Fürst.......................................................31 *43. Lingg, Der Fahnenträger...................................................... 46 *20. Greif, Die Friedenseiche .......................................................19 108. Eylert, Die Freiwilligen aus d. Mark b. Friedrich d. Gr. 127 ♦32. Hölty, Das Feuer im Walde .............................................. 30 109—111. Eylert, Drei Geschichten v. d. Königin Luise v. Preußen 129 *15. Fouque, Brandenburgisches Erntelied.................................. 13 ♦1. Arndt, Das Lied vom Feldmarschall ............................. 1 *55. Rückert, Blücher in London.................................................. 56 112. Eylert, Bom alten Heim.....................................................133 187. Was General Göben vom Betteln dachte ............................317 136. Klein, Aus der Fröschweiler Chronik................................ 191 159. Zeitz, Drei Kameraden ........................................................ 259 4. Sage und Geschichte anderer Bätter. *61. Rückert, Das Wunder aus der Flucht.................................. 66 104. Becker, Aus dem Leben Alexanders.................................... 114 105. „ Diogenes...................................................................... 116 106. „ Der Triumph des Amilius Paulus .................... 119

r *11. ♦51. *54. s 113. 114. j 160.

5/Deutsches Land und Bott. Disselhoff, Abschied von der Heimat.............................. 10 Niebusch, Mein Heimatland...................................................53 Reinick, Deutscher Rat........................................................... 55 Falkmann, Der Tag eines Jägers ................................ 135 „ Die Mühle........................................................... 137 Eisenbahnfahrt von Metz bis Berlin........................................ 253

336

Inhalt I. Sette

167. *2. 166. 165. 157. 115. 129. 142. *41. *47. 161. 154. 116. 155. 162. 163. 164. 96.

Die Rodelbahn.............................................................................271 Becker, Der deutsche Rhein ............................................. 2 Rheinische Weinlese.................................................................... 266 Trier................................................................................................264 Biebig, Am Totenmaar........................................................ 247 Fick, Das Wuppergebiet...........................................................138 Günther, Bergmannsleben im Harz................................ 176 Ratzel, Wanderung im Unstruttal........................................216 Kugler, Rudelsburg (Saale).................................................. 45 Mosen, Aus der Fremde (Thüringen).................................. 49 Dresden und die sächsische Schweiz........................................257 Trojan, Eisenbahnfahrt durch dienorddeutsche Ebene . 241 Glaubrecht, Der Jmmeker................................................ 142 Trojan, Der Königsschuß in Mecklenburg........................244 Hamburg......................................................................................... 260 Am Nordseestrande .....................................................................262 Eine Halliginsel.............................................................................263 Allmers, Sturmflut.............................................................102

*64. *65. *66. 181. 182. 183.

Schiller, Fischerknabe ...........................................................69 „ Alpenjäger............................................................... 69 „ Alpenhirt....................................................................69 Rheinfahrt von Düsseldorf bis Rotterdam ............................300 Das Dorf Broek bei Amsterdam ............................................ 305 Niederländisches Heim.................................................................307

138. 139. 140. *30. *52. *91. *90. 144. 145. 146. 151. 152. *28. *59. *85. 143. *78. *83. *56. *82. ♦44. *24. *40.

Löns, Die Zwergmaus ........................................................ 204 „ Der Kantor ................................................................. 208 Marshall, Anschluß der Vögel an die Kultur .... 214 Hoffmann, Des Vögleins Dank.......................................... 28 Pfeffel, Die Stufenleiter.......................................................54 Das Federspiel............................................................................... 92 Wachtelwacht....................................................................................91 Ruß, Der gefangene Zaunkönig............................................ 221 „ Die Haubenlerche............................................................. 223 „ Ein Rebhühnerv ölkchen.....................................................225 Seidel, Der Gesang des Buchfinken................................ 236 „ Lerchenlieder............................................................. 237 Hoffmann, Libellentanz.......................................................27 Rückert, Die verspätete Biene.............................................. 63 Trojan, Die Käferwage...........................................................86 Rosegger, Das Waldspinnlein............................................ 219 Trojan, Das Kornfeld .......................................................... 82 „ Zum Blumenpflücken..............................................85 Rü ckert, Vom Bäumlein, das spazieren ging .... 57 Trojan, Die Schönste............................................................... 85 Löwenstein, Die wilde Kastanie ...................................... 47 Hebel, Das Liedlein vom Kirschbaum.................................. 23 Krummacher, Das Lied vom Samenkorn......................43

6. Aus der Fremde.

7. Lierleben und Pflanzenleben.

Inhalt I.

337 Sette

96. *48. ♦12. ♦21. ♦24. ♦5. ♦44. ♦45. *50. ♦80. *81. ♦86. ♦25. ♦94. ♦29. 113. ♦6. ♦22. *7.

8. Leben der Erde. Jahreszeiten. Tageszeiten. Allmers, Sturmflut........................................................... 102 Müller, Wohin ......................................................................50 Eichendorff, Der frohe Wandersmann .........................11 Grün, Zwei Heimgekehrte..................................................... 20 Hebel, Das Liedlein vom Kirschbaum................................ 23 Claudius, An einem Maimorgen................................ 5 Löwen st ein, Die wilde Kastanie ..................................... 47 Mörike, An den Mai..............................................................48 Müller, Frühlingseinzug ..................................................... 52 Trojan, Neues von draußen................................................. 83 „ Frühlingsarbeil...........................................................84 Uhland, Frühlingsruhe......................................................... 88 Hebel, Der Sommerabend..................................................... 25 Boß, Herbstlied.......................................................................... 99 Hoffmann, Des Vögleins Dank.........................................28 Falkmann, Der Tag eines Jägers ............................... 135 Claudius, Abendlied eines Bauersmanns................... 6 Güll, Der erste Schnee ..........................................................21 Claudius, Ein Lied hinterm Ofen zu fingen .... 7

*27. *49. ♦67. ♦46.

Hoffmann, Morgenlied ..................................................... 27 Müller, Morgenlied ............................................................. 51 Schiller, Pförtners Morgenlied......................................... 70 Mörike, Elfenlied..................................................................... 48

B. Anordnung nach der Form.

Lehrhaftes (Didaktisches). *52. *58. ♦60. ♦62. 189. ♦23. ♦57. *68. ♦77. ♦92.

9. Fabel. Parabel. Spruch. Rätsel. Pfesfel, Die Stufenleiter.......................................................54 Rückert, Parabel: Der Nagel...............................................63 „ Katerstolz und Fuchses Rat....................................... 63 „ Der Perlenkranz............................................................ 67 Berspielsprichw örter ................................................................... 323 Güll, Rätsel ................................................................................22 Rückert, Die Rätselder Elfen.................................................61 Schiller, Rätsel......................................................................... 70 Sutermeister,Rätsel..............................................................81 Rätsel................................................................................................ 94

Erzählendes (Episches). ♦56. 98. 102. 107.

10. Marche«. Rückert, Bom Bäumlein, das spazieren ging .... 57 Aurbacher, Der Schneider im Mond ............................ 106 Bechstein, Aschenbrödel......................................................... 110 Brentano, Gockel, Hinkel und Gackeleia........................ 121

Hessel und Ufer, Lesebuch 4.

M. 22

338

Inhalt L Seite

117. 118. 119. 120. 121. 122. 137 149. 184.

Grimm, König Drosselbart.....................................................144 „ Frau Holle .............................................................. 149 „ Die kluge Else.......................................................... 152 „ Die Boten des Todes.............................................. 155 „ Sechse kommen durch die ganze Welt .... 156 „ Die Gänsemagd ...................................................... 162 Leander, Der Wunschring .................................................199 Seidel, Der Zwerg und die Gerstenähre....................... 229 Das Märchen von den sieben Raben ....................................310

*38. ♦46. ♦63. ♦84. 126. 158. ♦61.

11. Sage. Legende. Kopisch, Des kleinen Volkes Überfahrt..............................38 Mörike, Elfenlied.......................................................................48 Sollet, Elfenwirtschaft ...........................................................67 Trojan, Zwergwanderschaft.................................................. 85 Grimm, Die Füße der Zwerge............................................ 170 Wolf, Der Zwerglein Hilfe.................................................... 249 R^ü cfett, Das Wunder auf der Flucht..................................66

Die deutschen Sagen, die sich an bestimmte Personen oder Ört­ lichkeiten knüpfen, findet man unter 3 verzeichnet.

Legenden: *17. Görres, St. Meinrads Raben...............................................15 *100. Bäßler, Das Amen der Steine ........................................ 108 171. Die Legende von der heiligen Genoveva................................281

12. Erzählungen, ernste und heitere, in Poesie und Prosa. ♦16. Geibel, Bon des Kaisers Bart.............................................. 13 *18. Goethe, Die wandelnde Glocke .......................................... 18 *32. Hölty, Das Feuer im Walde .............................................. 30 ♦34. Kopisch, Wie Ralf dem Riesen half .................................. 32 *36. „ Die Wahrheit ohne Herberge ..............................35 ♦39. „ Kleen Männeken.......................................................41 *53. Ramler, Der Junker und der Bauer.................................. 55 *55. Rückert, Blücher in London...................................................56 *87. Uhland, Die Rache................................................................... 88 101. Bäßler, Wie Eulenspiegel ein Schneider wird .... 109 103. Bech stein, Die arme Mutter und der reiche Sohn . . 113 128. Gude, Der Löwe ist los! ..................................................... 173 131. Hebel, Der Star von Segringen........................................ 181 132. „ Der geheilte Patient................................................. 183 133. „ Die Wachtel..................................................................185 134. „ Ist der Mensch einwunderliches Geschöpf . . . 187 135. „ Kannitverstan ............................................................189 153. Stöber, Der kleine Friedensbote........................................ 238 163. Am Nordseestrande ..................................................................... 262 180. Vom Eulenspiegtzl......................................................................... 297 185. Ein Trunk Wasser......................................................................... 314 188. Sprichwörter.............................................................................. 320 189. Beispielsprichwörter..................................................................... 323

Inhalt L

339 Seite

Gefühle und Gedanken (Lyrisches). 13. Lied.

*1. *6. ♦7. *8. *15. *24. *27. *31. *40. *46. *48. *49. *67. *89. *90. *94.

Volkslied.

Geistliches Lied.

Arndt, Das Lied vom Feldmarjchall ............................. 1 Claudius, Abendlied eines Bauersmanns ................. 6 „ Ein Lied Hinterm Ofen zu fingen.................. 6 „ Kartoffellied ....................................................... 8 Fouque, Brandenburgisches Erntelied.................................. 13 Hebel, Das Liedlein vomKirschbaum.................................... 23 Hoffmann, Morgenlied..........................................................27 Holtei, Lied des alten Unteroffiziers Wallheim ... 29 Krumm acher, Das Lied vomSamenkorn......................43 Mörike, Elsenlied....................................................................... 45 Müller, Wohin?....................................................................... 50 „ Morgenlied ............................................................... 48 Schiller, Pförtners Morgenlied.......................................... 70 Born Wasser und vom Wein.......................................................89 Wachtelwacht....................................................................................91 Boß, Herbstlied............................................................................99

Handlung (Dramatisches). 14. Gespräch.

*36. *49. *60. *63. *88. *89. *31.

Selbstgespräch.

Kopisch, Die Wahrheit ohne Herberge .............................. 35 Müller, Morgenlied ............................................................... 51 Rückert, Katerstolz und Fuchses Rat.................................. 65 Sallet, Elfenwirtschaft ........................................................... 67 Wettstreit des Kuckucks mit der Nachtigall ..............................88 Born Wasser und vom Wein.......................................................89 Holtei, Lied des alten Unteroffiziers Wallheim . . 29

340

Inhalt II

Inhalt II. Erste Ubteiluug:

Gedichte. 1. 2.

3. 4. 5. 6. 7. 8.

9. 10. 11.

12. 13. 14. 15.

16. 17.

18. 19. 20.

21.

22. 23.

Arndt: Sette Das Lied vorn Feldmarschall (1813) . 1 Becker: Der deutsche Rhein.................................................................. 2 Chamisso: Tragische Geschichte.................................................................. 3 Die Weiber von Weinsberg ................................................. 4 Claudius: An einem Maimorgen.............................................................. 5 Abendlied eines Bauersmanns ............................................. 6 Ein Lied Hinterm Ofen zusingen........................................... 7 Kartosfellied .............................................................................. 8 Cornelius: Christbaum.................................................................................. 9 Die Könige.................................................................................. 9 Disselhosf: Abschied von der Heimat................................................................... 10 Eichendorfs: Der frohe Wandersmann...............................................................11 Weihnachten ................................................................................... 11 1 : Förster: Kaiser Rudolf und der Freihart.................................................. 12 Fouque: Brandenburgisches Erntelied ...................................................... 13 Geibel: Bon des Kaisers Bart....................................................................... 13 Görres: St. Meinrads Ruben ................................................................... 15 Goethe: Die wandelnde Glocke...................................................................18 Greif: Der Sunnwendmann ................................................................... 19 Die Friedenseiche...........................................................................19 Grün: Awei Heimgekehrte .......................................................................20 Güll: Der erste Schnee........................................................................... 21 Rätsel............................................................................................... 22

Inhalt II.

341 Sette

24. 25.

26. 27. 28. 29. 30. 31.

32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40.

41. 42. 43.

44.

45. 46.

47. 48. 49. 50.

51. 52. 53.

54. 55. 56.

Hebel: Das Liedlein vom Kirschbaum .................................................. 23 Der Sommerabcnd .......................................................................25 Hoffmann: Sonntag........................................................................................... 27 Morgenlied.......................................................................................27 Libellentanz ...................................................................................27 Wo wohnt das Glück?...................................................................28 Des Vögleins Dank.......................................................................28 Holtei: Lied des alten Unteroffiziers Wallheim an seinen Mantel 29 Hölty: Das Feuer im Walde...................................................................30 Kerner: Der reichste Fürst...........................................................................31 Kopisch: Wie Ralf dem Riesen half.......................................................... 32 Der Jäger am Mummelsee.......................................................... 34 Die Wahrheit ohne Herberge...................................................... 35 Kaspars Löffel ...............................................................................36 Des kleinen Volkes Überfahrt...................................................... 38 Kleen Männeken............................................................................... 41 Krummacher: Das Lied vom Samenkorn.......................................................... 43 Kugler: Rudelsburg.......................................................................................45 Leuthold: Meines Kindes Abendgebet.......................................................... 45 Lingg: Der Fahnenträger...........................................................................46 Löwen st ein: Die wilde Kastanie ...................................................................... 47 Mörike: An den Mai................................................................................... 48 Elfenlied...........................................................................................48 Mosen: Aus der Fremde 49 M ü ller: Wohin? ........................................................................................... 50 Morgenlied.......................................................................................51 Frühlingseinzug...............................................................................52 Niebusch: Mein Heimatland...........................................................................53 Pfeffel: > Die Stufenleiter ...........................................................................54 Ramler: Der Junker und der Bauer ...................................................... 55 Reinick: Deutscher Rat...................................................................................55 Rückert: Blücher in London ......................................................................56 Vom Bäumlein, das spazieren ging........................................ 57

342

Inhalt II. Seite

Die Rätsel der Elfen .................................................................61 Parabel: Der Nagel.......................................................................63 Die verspätete Biene ................................................................. 63 Katerstolz und Fuchses Rat............................................................ 65 Das Wunder auf derFlucht........................................................ 66 Der Perlenkranz ...........................................................................67 Sallet: 63. Elfenwirtschaft ............................................................................... 67 Schiller: 64. Fischerknabe ................................................................................... 69 65. Alpenjäger........................................................................................69 66. Alpenhirt............................................................................................69 67. Pförtners Morgenlied................................................................... 70 68. Rätsel................................................................................................70 Schnezler: 69. Die Lilien im Mummelsee.......................................................... 72 70. Heimweh............................................................................................73 Simrock: 71. Habsburgs Mauern .......................................................................74 72. Der Schmied von Solingen ...................................................... 75 73. Die 9 in der Wetterfahne .......................................................... 76 3 o b st n n st Spyri: 74. Morgen ist's Sonntag...................................................................77 Strachwitz: 75. Rolands Schwanenlied...................................................................78 Suter ni ei st er: 76. Tannenbäumchens Geschichte...................................................... 79 77. Rätsel................................................................................................81 Trojan: 78. Das Kornfeld................................................................................... 82 79. Sechse und einer........................................................................... 83 80. Neues von draußen....................................................................... 83 81. Frühlingsarbeil............................................................................... 84 82 Die Schönste................................................................................... 85 83. Zum Blumenpflücken ................................................................... 85 84. Zwergwanderschast........................................................................... 85 85. Die Käferwage............................................................................... 86 Uhlan'd: 86. Frühlingsruhe................................................................................... 88 87. Die Rache........................................................................................88 Volkstümlich: 88. Wettstreit des Kuckucksmit der Nachtigall ................................ 88 89. Vom Wasser und vomWein......................................................... 89 90. Wachtelwacht................................................................................... 91 91. Das Federspiel............................................................................... 92 92. Rätsel................................................................................................94 93. Inschriften an Gerätund Haus.................................................... 98 Boß: 94. Herbstlied............................................................................................99 Zirbes: 95. Das verloreneSchühlein,................................... 100

57. 58. 59. 60. 61. 62.

Inhalt II.

343

Zweite Abteilung:

Prosa. 96. 97. 98.

99. 100. 101.

102. 103.

104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112.

113. 114. 115.

116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123. 124. 125. 126. 127.

A l l m e r s: Seite Sturmflut ....................................................................................102 Aurbacher: Die verwüstete Alp..................................................................... 105 Der Schneider im Mvnd.......................................................... 106 Baßler: Wineta............................................................................................107 Das Amen der Steine............................................................... 108 Wie Eulenspiegel ein Schneider wird ................................... 109 Bech stein: Aschenbrödel ............................................................................... 110 Die arme Mutter und der reiche Sohn ............................... 113 Becker: Aus dem Leben Alexanders des Großen............................... 114 Diogenes........................................... 116 Der Triumph des Amilius Paulus ....................................... 119 Brentano: Wie Gockel, Hinkel und Gackeleia verzaubert erwachen . . 121 Eylert: Die Freiwilligen a. d. Mark bei Friedrich dem Großen . 127 Drei Geschichten von der Königin Luise: Darf ich das nicht mehrtun?......................................................129 Die Oberhofmeisterin ............................................................... 130 Die Gaben der Mennoniten ................................................... 131 Born alten Heim....................................................................... 133 Falkmann: Der Tag eines Jägers............................................................... 135 Die Mühle....................................................................................137 Fick: Das Wuppergebiet .................................................................... 138 Glaubrecht: Der Jmmeker................................................................................ 142 Grimm: König Drosselbart........................................................................ 144 Frau Holle................................................................................... 149 Die kluge Else ........................................................................... 152 Die Boten des Todes............................................................... 155 Sechse kommen durch die ganze Welt ....................................156 Die Gänsemagd............................................................................ 162 Der tausendjährige Rosenstock zu Hildesheim....................... 168 Rodensteins Auszug.................................................................... 168 Richmodis von Aducht................................................................169 Die Füße der Zwerge................................................................170 Der einkehrende Zwerg ............................................................172

344

Inhalt II. Seite

128.

129. 130.

131. 132. 133. 134. 135. 136. 137. 138. 139.

140. 141. 142.

143. 144. 145. 146.

147. 148. 149. 150. 151. 152.

153. 154. 155. 156.

157. 158. 159.

Gude: Der Löwe ist los.........................................................................173 Günther: Bergmannsleben im Harz ........................................................ 176 Hauff: Der Bau des Reußensteins........................................................ 178 Hebel: Der Star von Segringen ..................................................... 181 Der geheilte Patient................................................................. 183 Die Wachtel ............................................................................. 185 Ist der Mensch ein wunderliches Geschöpf........................... 187 Kannitverstan............................................................................. 189 Klein: Aus der Fröschweiler Chronik.................................................... 192 Leander: Der Wunschring.............................................................................199 Löns: Die Zwergmaus............................................................................ 204 Der Kantor.................................................................................... 208 Marshall: Anschluß der Bögel an die Kultur........................................... 214 Müllenhoff: Das Licht der treuen Schwester................................................215 Ratzel: Wanderung im Unstruttal............................................................216 Rosegger: Das Waldspinnlein ....................................................................219 Ruß: Der gefangene Zaunkönig ........................................................ 221 Die Haubenlerche........................................................................ 223 Ein Rebhühnervölkchen................................................................ 225 Schwartz: Selbergedan und der Wassernix............................................... 226 Der Schmied von Jüterbog........................................................227 Seidel: Der Zwerg und die Gerstenähre ........................................... 229 Der Eisvogel.................................................................................233 Der Gesang des Buchfinken ....................................................236 Lerchenlieder.................................................................................237 Stöber: Der kleine Friedensbote............................................................ 238 Trojan: Eisenbahnsahrt durch die norddeutsche Ebene....................... 241 Der Königsschuß in Mecklenburg ............................................244 Kleinigkeiten ................................................................................ 246 Klara Biebig: Am Totenmaar .............................................................................247 Wolf: Der Zwerglein Hilfe.................................................................... 249 Zeitz: Drei Kameraden .........................................................................250

Inhalt II.

345 veile

Deutsche Landschaft: Eisenbahnfahrt von Metz nachBerlin ...................................... 253 Dresden und die sächsische Schweiz........................................257 Hamburg................................................................. 260 Am Nordseestrande .................................................................... 262 Eine Halliginsel (Kirchhoff)........................................................ 264 Trier .............................................................................................265 Rheinische Weinlese.................................................................... 267 Die Rodelbahn (M. H.)............................................................ 272 Der Strom im Winter................................................................ 276 Deutsche Sagen: 169. Der Korporal Spohn ................................................................ 279 170. Die Schwanenkirche auf dem Maifelde....................................280 171. Die Legende von der heiligenGenoveva.................................. 281 172. Drei Sagen aus dem Siebengebirge........................................ 283 173. Kaiser Rudolf in Mainz............................................................ 286 174. Die tapfere Besatzung................................................................ 287 175. Das Wappen der Stadt Köln ............................................... 289 176. Wie die Wupper entstand ........................................................ 290 177. Der Spion von Aalen................................................................ 291 178. Der Ulmer Spatz.........................................................................293 179. Ein kluger Schwabenstreich........................................................ 295 180. Vom Eulcnspiegel.........................................................................297 Aus den Niederlanden: 181. Rheinfahrt von Düsseldorf bis Rotterdam(Vogel; K. H.) . 300 182. Das Dorf Broek bei Amsterdam (Hansjakob)........................305 183. Niederländisches Heim (Kirchhoff)............................................ 307 Verschiedenes: 184. Das Märchen von den sieben Raben .................................... 310 185. Ein Trunk Wasser.........................................................................314 186. Zweierlei Arbeit.............................................................................315 187. Was General Göben vom Betteln dachte ............................. 317 188. Sprichwörter................................................................................. 320 189. Beispielsprichwörter.....................................................................323 160. 161. 162. 163. 164. 165. 166. 167. 168.

346

Anfangsworte der Gedichte.

Anfangöworte der Gedichte. Die Ansangsworte der Rätsel Nr. 23, 77, 92 und Inschriften Nr. 93 sind nicht angeführt. Sette

Seite

Als Blücher durch die . . 56 Ihr Matten, lebt wohl ... 69 An der Saale Hellem ... 45 Im Mummel fee................. 72 Aus jener Flucht......................66 Im Schank z. goldnenTraube 13 Bei Erfurt steht...................... 19 In Aargau steht ................... 74 Beim Etzel in dem .... 15 Kleen Männeken .... 41 Bei Nacht im Dorf .... 48 Kommt, Kinder, wischt ... 5 Brichst du Blumen .... 85 König Karl der hielt .... 78 Markt und Straßen ... 11 Das Bäumlein stand im . 57 Das schöne große Taggestirne 6; Nun ade, du mein ... 10 Dem Frühling Gott der Herr 23 £ frag mich nicht .... 28 Der erste Hohenstaufen ... 4 £ legt mich nicht ins ... 88 Der Frühling kommt ... 84 C sieh, wie ist die Sonne 25 Der Jäger trifft nicht ... 34 Preisend mit viel .... 31 Der Kaiser zog......................... 121 Schier dreißig Jahre ... 29 Der Knecht hat erstochen . . 881 's geht draußen.......................... 83 Der Sämann streut .... 431 Sie sollen ibn nicht haben . 2 Der Sonntag ist gekommen . 27 ! Steh auf, steh (ins .... 38 Der Sunnwendmann ... 19! 's war einer, dem's zu Herzen 3 Der Tag ist um......................... 45 Nnter allen Schlangen . . 70 Vernimm vom Katerstolz . 65 Der Winter ist ein rechter Mann 7 * Die Elfen sitzen im Felsenschacht 61 ! Verschwunden ist die finstre . 70 Die ersten Sonnenstrahlen . 63; Viel Pa stet und Leckerbrot . 8 Tie Fenster auf..........................52 Bier Königstöchter .... 67 Tie Halm und Ähren winken 13 i Bon des Rheines Strand. . 53 Die Sterne sind erblichen. . 27 Bor allem eins, mein Kind . 55 Was blasen die Trompeten 1 Drei Kön'ge wandern ... 9 Ei, du liebe, liebe Zeit. . 21 Was ist schöner......................... 82 Ein Bauer trat.....................55 Was schleicht da drunten . . 100 Ein Gebäude steht da ... 71 Wem Gott will rechte Gunst. 11 Ein schlauer Sperling ... 541 Wenn der Schnee......................73 Einsmals in einem tiefen . 88 Wenn der Winter......................85 Ein Tannenbäumchen ... 79 Wer klopft bei solchem ... 35 Es blühn schon die Nelken . 77 Wer schlägt so rasch .... 51 Es donnern die Höhen ... 69 Wer Zwergen etwas nimmt. 36 Es geht ein Männlein ... 85 Wie heißt das Ding .... 71 Es ist doch im April .... 48 Wie schön geschmückt .... 9 Es kommen sechs ernsthafte . 83 Winter ist entflogen .... 47 Es lächelt der See .... 69 Wir Libellen............................. 27 Wo auf hohen Tannenspitzen 49 Es ritt ein Herr ................ 63 Es war ein Kind......................18 Wohlauf, ihr klein..................... 92 Hans Winkelsee..................... 76 Wohl ist der Herbst .... 99 Hoch über den Burgen . . 46 Wollten Käferchen......................86 Hört iey nicht ein Vöglein . 28 Wo sind sie nur alle .... 67 Zu Solingen..........................75 Hört, wie der kleine Knirps. 32 Hört, wie die Wachtel ... 91 Zween Knaben liefen ... 30 Ich hört ein Bächlein . . 50 Zwei Wanderer......................... 20 Ich weiß ein Liedlein ... 89' Druck von Juttus Bel-, Hofbuchdrucker, Langensalza.