Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen. Teil 6 Für das achte und neunte Schuljahr: Im Anschluß an die elfte Auflage des Lesebuches für höhere Mädchenschulen [Reprint 2020 ed.] 9783112350645, 9783112350638


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German Pages 551 [553] Year 1911

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Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen. Teil 6 Für das achte und neunte Schuljahr: Im Anschluß an die elfte Auflage des Lesebuches für höhere Mädchenschulen [Reprint 2020 ed.]
 9783112350645, 9783112350638

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Deutsches Lesebuch von

Karl Hessel.

Ausgabe für Mädchenschulen mit neunjährigem Lehrgang. Unter Mitwirkung von

Christian Hf er. Sechster Teil.

Für da- achte und neunte Schuljahr. Im Anschluß an die elfte Auflage des Lesebuches für höhere Mädchenschulen.

Bonn 1911. A. MarcuS und E. Webers Verlag.

Borwort. Der vorliegende 6. Teil ist für das 8. und 9. Schul­ jahr bestimmt (2. und 1. Klasse der Mädchenmittelschule). Man findet darin im wesentlichen die Stoffe des 7. Teils des Hesselschen Lesebuches für höhere Mädchenschulen, außer­ dem aus dem 8. Teil alles das, was für unsere Zwecke sich eignet. Ausgeschieden wurden vor allem auch die Über­ setzungen aus griechischen und römischen Klassikern, ebenso die kunstgeschichtlichen Aufsätze. Die Stoffe aus Geschichte, Erdkunde und Naturkunde sind genau nach den Lehrplänen für Mittelschulen ausgewählt. Der Anhang: „Poetik und Metrik" wurde beibehal­ ten, außerdem aber eine sehr gedrängte Übersicht über die Entwicklung der deutschen Literatur gegeben. An der Hand

dieses Anhangs kann gegen Ende der Schulzeit der früher nur gelegentlich verarbeitete literaturgeschichtliche Stoss übersichtlich durchgenommen werden. Um diesem literaturkundlichen Unterricht einen Abschluß auch in die Vergangenheit hinaus zu geben, sind eine Anzahl Pro­ ben aus altdeutschen und mittelhochdeutschen Dichtungen mitgeteilt, einiges wenige auch im Originaltext. Mit Hans Sachs und einigen Volksliedern mit Weise schließt dieser Abschnitt ab. Auf die Wichtigkeit der Sprech­ takte aufmerksam zu machen, schien uns gerade auch auf der Oberstufe noch wichtig; darum ist auch hier ein Stück (Die gute selige Frau von Möser, Nr. 251) in Sprech­ takten abgesetzt worden. (Näheres in meinem Artikel „Vor­ trag, mündlicher, und »seine Pflege im Schulunterricht", iil Reins Encyklopädischem Handbuch der Pädagogik, in

Vorwort.

IV

Sonderabdruck durch den Verlag dieses Lesebuches zu be­

ziehen. K. £>•) Auch bei diesem Bande leitete uns der Gedanke, daß selbst in den beiden zur Verfügung stehenden Jahren nicht

alles in den Unterrichtsstunden selbst gelesen werden könne; ein Teil der Stücke möge eine den Schülerinnen selbst hoffentlich erwünschte und von ihnen freudig begrüßte Privatlektüre sein. Die Volkslieder mit Weise sind für das Lesebuch für höhere Mädchenschulen von Herrn Metzen, Direktor des Realgymnasiums zu Opladen, ausgewählt worden, für das vorliegende Buch hat sie der Lehrer an der südstädtischen Mädchenmittelschule zu Elberfeld, Herr Gustav Kühn, Mit­ herausgeber des Liederbuches für mittlere und höhere Mäd­ chenschulen (Leipzig, Quelle u. Meyer, 1910) nochmals durchgesehen und vervollständigt. Wir sprechen ihm dafür

unsern verbindlichen Dank aus. Koblenz,

Elberfeld, im April 1911. Dr. Karl Hessel, Direktor der Hildaschule. Christian User,

Rektor der südstädtischen Mädchenmittelschule.

Erste Abteilung:

Gedichte. Ernst Moritz Arndt. 1. Baterlandslied. Der Gott, der Eisen wachsen ließ. Der wollte keine Knechte, Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß Dem Mann in seine Rechte, Drum gab er ihm den kühnen Mut, Den Zorn der freien Rede, Daß er bestände bis aufs Blut, Bis in den Tod die Fehde.

So wollen wir, was Gott gewollt. Mit rechten Treuen halten Und nimmer im Tyrannensold Die Menschenschädel spalten; Doch wer für Tand und Schande ficht. Den hauen wir zu Scherben, Der soll im deutschen Lande nicht Mit deutschen Männern erbm. O Deutschland, heilges Vaterland! O, deutsche Lieb und Treue! Du hohes Land! du schönes Land! Dir schwören wir aufs neue. Dem Buben und dem Knecht die Acht! Der speise Krähn und Raben! So ziehn wir aus zur Hermannsschlacht Und wollen Rache haben. Hessel und Ufer, Lesebuch 6.

M. 1

2

Arndt.

Laßt brausen, was nur brausen kann. In Hellen, lichten Flammen! Ihr Deutschen alle, Mann für Mann, Fürs Vaterland zusammen! Und hebt die Herzen himmelan Und himmelan die Hände, Und rufet alle, Mann für Mann: Die Knechtschaft hat ein Ende! Laßt wehen, was nur wehen kann, Standarten wehn und Fahnen! Wir wollen heut uns Mann für Mann Zum Heldentode mahnen! Auf! fliege, hohes Siegspanter, Boran dem kühnen Reihen! Wir siegen oder sterben hier Den süßen Tod der Freien.

2. Die Leipziger Schlacht. Wo kommst du her in dem roten Kleid Und färbst das Gras auf dem grünen Plan? Ich komme her aus dem Männerstreit, Ich komme rot von der Ehrenbahn. Wir haben die blutige Schlacht geschlagen. Drob müssen die Weiber und Bräute klagen. Da ward ich so rot.

Sag an, Gesell, und verkünde mir: Wie heißt das Land, wo ihr schlugt die SchlachtBei Leipzig trauert das Mordrevier, Das manches Auge voll Tränen macht; Da flogen die Kugeln wie Winterflocken, Und Tausenden mußte der Atem stocken Bei Leipzig der Stadt.

Wie hießen, die zogen ins Todesfeld Und ließen fliegende Banner aus? Die Völker kamen der ganzen Welt Und zogen gegen Franzosen aus,

Die Russen, die Schweden, die tapferen Preußen, Und die nach dem glorreichen Ostreich heißen, Die zogen all aus.

Wem ward der Sieg in dem harten Streit? Wer griff den Preis mit der Eisenhand? Die Welschen hat Gott wie die Spreu zerstreut. Die Welschen hat Gott verweht wie den Sand; Biel Tausende decken den grünen Rasen, Die übrig geblieben, entflohen wie Hasen, Napoleon mit. Nimm Gottes Lohn! habe Dank, Gesell! Das war ein Klang, der das Herz erfreut! Das Hang wie himmlische Zimbeln hell. Habe Dank der Mär von dem blutigen Streit! Laß Witwen und Bräute die Toten Hagen, Wir singen noch fröhlich in späten Tagen Die Leipziger Schlacht.

O Leipzig, freundliche Lindenstadt! Dir ward ein leuchtendes Ehrenmal: Solange rollet der Jahre Rad, Solange scheinet der Sonnenstrahl, Solange die Ströme zum Meere reisen. Wird noch der späteste Enkel preisen Die Leipziger Schlacht.

3. Grablied. Geht nun hin und grabt mein Grab! Denn ich bin des Wanderns müde, Bon der Erde scheid ich ab. Denn mir ruft des Himmels Friede, Denn mir ruft die süße Ruh Bon den Engeln droben zu.

Geht nun hin und grabt mein Grab! Meinen Lauf hab ich vollendet,

4

Arndt.

Lege nun den Wanderstab Hin, wo alles Jrdsche endet. Lege selbst mich nun hinein In das Bette sonder Pein. Was soll ich hienieden noch In dem dunkeln Tale machen? Denn wie mächtig, stolz und hoch Wir auch stellen unsre Sachen, Muß es doch wie Sand zergehn. Wann die Winde drüber wehn. Darum, Erde, fahre wohl, Laß mich nun in Frieden scheiden! Deine Hoffnung, ach! ist hohl. Deine Freuden sind nur Leiden, Deine Schönheit Unbestand, Eitel Wahn und Trug und Tand.

Darum letzte gute Nacht, Sonn und Mond und liebe Sterne! Fahret wohl mit eurer Pracht! Denn ich reis in weite Ferne, Reise hin zu jenem Glanz, Worin ihr erbleichet ganz.

Weinet nicht, daß nun ich will Von der Welt den Abschied nehmen. Daß ich aus dem Jrrland will, Aus den Schatten, aus den Schemen, Aus dem Eiteln, aus dem Nichts Hin ins Land des ewgen Lichts. Weint nicht! mein Erlöser lebt; Hoch vom finstern Erdenstaube Hell empor die Hoffnung schwebt. Und der Himmelsheld, der Glaube, Und die ewge Liebe spricht: Kind des Vaters, zittre nicht!

Otto Julius Bierbaum. 4. Oft in der Kille« Nacht. Oft in der stillen Nacht, Wenn zag der Atem geht Und sichelblank der Mond Am schwarzen Himmel steht. Wenn alles ruhig ist Und kein Begehren schreit. Führt meine Seele mich In Kindeslande weit. Dann seh ich, wie ich schritt Unfest mit Füßen klein. Und seh mein Kindesaug

Und seh die Hände mein. Und höre meinen Mund, Wie lauter, llar er sprach. Und senke meinen Kopf Und denk mein Leben nach:

Bist du, bist du allweg Gegangen also rein, Wie du gegangen bist Auf Kindesfüßen klein? Hast du, hast du allweg

Gesprochen also llar. Wie einsten deines Munds Lautleise Stimme war?

Sahst du, sahst du allweg

So llar ins Angesicht Der Sonne wie dereinst Der Kindesaugen Licht? Ich blicke, Sichel, auf

Zu deiner weißen Pracht;

Tief, tief bin ich betrübt Oft in der stillen Nacht.

6

Ehamisso.

Adelbert von Chamisso. 5. Schloß Boncourt. Ich träum als Kind mich zurücke Und schüttle mein greises Haupt; Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder, Die lang ich vergessen geglaubt?

Hoch ragt aus schattgen Ein schimmerndes Schloß Ich kenne die Türme, die Die steinerne Brücke, das

Gehegen hervor, Zinnen, Tor.

Es schauen vom Wappenschilde Die Löwen so traulich mich an, Ich grüße die alten Bekannten Und eile den Burghof hinan. Dort liegt die Sphinx am Brunnen, Dort grünt der Feigenbaum, Dort, hinter diesen Fenstern, Verträumt ich den ersten Traum. Ich tret in die Burgkapelle Und suche des Ahnherrn Grab, Dort ist's, dort hängt vom Pfeiler Das alte Gewaffen herab. Noch lesen, umflort, die Augen Die Züge der Inschrift nicht. Wie hell durch die bunten Scheiben Das Licht darüber auch bricht.

So stehst du, o Schloß meiner Väter, Mir treu und fest in dem Sinn Und bist von der Erde verschwunden; Der Pflug geht über dich hin.

Sei ftuchtbar, o teurer Boden! Ich segne dich mild und gerührt Und segn ihn zwiefach, wer immer Den Pflug nun über dich führt.

Chamisso.

7

Ich aber will auf mich raffen,

Mein Saitenspiel in der Hand, Die Weiten der Erde durchschweifen Und singen von Land zu Land.

6. Krisch ges««ge«. Hab oft im Kreise der Lieben in duftigeM.Grase geruht Und mir ein Liedlei« gesungen, und alles war hübsch und gut. Hab einsam auch mich gehärmet in bangem, düsterem Mut Und habe wieder gesungen, und alles war wieder gut.

Und manches, was ich erfahren, verkocht ich in stiller Wut. Und kam ich wieder zu singen, war alles auch wieder gut. Sollst nicht uns lange klagen, was alles dir wehe tut, Nur frisch, nur frisch gesungm! und alles wird wieder gut.

7. Die Kreuzscha«. Der Pilger, der die Höhen überstiegen, Sah jenseits schon das ausgespannte Tal In Abendglut vor seinen Füßen liegen.

Auf duftges Gras, im milden Sonnenstrahl Streckt er ermattet sich zur Ruhe nieder, Indem er seinem Schöpfer sich befahl. Ihm fielen zu die matten Augenlider, Doch seinen wachen Geist enthob ein Traum Ter irdschen Hülle seiner trägen Glieder.

Der SchUd der Sonne ward im Himmelsraum Zu Gottes Angesicht, das Firmament Zu seinem Kleid, das Land zu dessen Saum. ,-Du wirst dem, dessen Herz dich Vater nennt. Nicht, Herr, im Zorn entziehen deinen Frieden, Wenn seine Schwächen er vor dir bekennt.

Daß, wen ein Weib gebar, sein Kreuz hienieden Auch duldend tragen muß, ich weiß es lange; Toch sind der Menschen Last und Leid verschieden.

8

Chamisso. Mein Kreuz ist allzu schwer; sieh, ich verlange

Die Last nur angemessen meiner Kraft; Ich unterliege, Herr, zu hartem Zwange."

Wie er so sprach zum Höchsten kinderhaft. Kam brausend her der Sturm, und es geschah, Daß auswärts er sich fühlte hingerafft.

Und wie er Boden faßte, fand er da Sich einsam in der Mitte räumger Hallen, Wo ringsum sonder Zahl er Kreuze sah. Und eine Stimme hört er dröhnend hallen: „Hier aufgespeichert ist das Leid; du hast Zu wählen unter diesen Kreuzen allen!" Versuchend ging er da, unschlüssig fast, Bon einem Kreuz zum anderen umher. Sich auszuprüfen die bequemre Last.

Dies Kreuz war ihm zu groß und das zu schwer, So schwer und groß war jenes andre nicht, Toch scharf von Kanten drückt es desto mehr. Das dort, das warf wie Gold ein gleißend Licht,

Das lockt ihn, unversucht es nicht zu lassen; Dem goldnen Glanz entsprach auch das Gewicht. Er mochte dieses heben, jenes fassen, Zu keinem neigte noch sich seine Wahl, Es wollte keines, keines für ihn passen.

Durchmustert hatt' er schon die ganze Zahl —

Verlorne Müh! vergebens war's geschehen! Durchmustern mußt er sie zum zweiten Mal. Und nun gewahrt er, früher übersehen. Ein Kreuz, das leidlicher ihm schien zu sein. Und bei dem einen blieb er endlich stehen.

Ein schlichtes Marterholz, nicht leicht, allein Ihm Paßlich und gerecht nach Kraft und Maß: „Herr", rief er, „so du willst, dies Kreuz sei mein!"

Ehannsso.

Claudius.

Und wie er's prüfend mit den Augen matz — Es war dasselbe, das er sonst getragen, Wogegen er zu murren sich vermatz. Er lud es auf und trug's nun sonder Klagen.

Matthias Claudius. 8. Am Grabe meines Baters. Friede sei um diesen Grabstein her, Sanfter Friede Gottes! Ach, sie haben Einen guten Mann begraben. Und mir war er mehr:

Träufle mir von Segen, dieser Mann,

Wie ein milder Stern aus bessern Welten; Und ich kann's ihm nicht vergelten. Was er mir getan.

Er entschlief, sie gruben ihn hier ein. Leiser, süßer Trost, von Gott gegeben, Und ein Ahnen von dem ewgen Leben Düst um sein Gebein,

Bis ihn Jesus Christus, groß und hehr. Freundlich wird erwecken! — Ach, sie haben Einen guten Mann begraben. Und mir war er mehr.

9. «bendlied. Der Mond ist aufgegangen. goldnen Sternlein prangen Himmel hell und klar; Wald steht schwarz und schweiget. aus den Wiesen steiget weiße Nebel wunderbar.

Die Am Der Und Der

-

Wie ist die Welt so stille Und in der Dämmrung Hülle So traulich und so hold! Als eine stille Kammer, Wo ihr des Tages Jammer Verschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen Und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, Die wir getrost belachen. Well unsre Augen sie nicht sehn. Wir stolze Menschenkinder Sind ellel arme Sünder Und missen gar nicht viel; Wir spinnen Luftgespinste Und suchen viele Künste Und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, laß uns dein Hell schauen, Auf nichts Bergänglichs trauen. Nicht Eitelkeit uns freun! Laß uns einfältig werden Und vor dir hier auf Erden Wie Kinder fromm und fröhlich sein! Wollst endlich sonder Grämen Aus dieser Welt uns nehmm Durch einen sanften Tod! Und wenn du uns genommen. Laß uns in Himmel kommen, Du unser Herr und unser Gott! So legt euch denn, ihr Brüder, In Gottes Namen nieder! Kalt ist der Abendhauch.

Verschon uns, Gott! mit Strafen Und laß uns ruhig schlafen Und unsern kranken Nachbar auch!

10. EhrMane. Es stand ein Sternlein am Himmel, Ein Sternlein guter Art, Das tät so lieblich scheinen, So lieblich und so zart!

Ich wußte seine Stelle Am Himmel, wo es stand. Trat abends vor die Schwelle Und suchte, bis ich's fand;

Und blieb dann lange stehen. Hatt' große Freud in mir. Das Sternlein anzusehen. Und dankte Gott dafür. Das Sternlein ist verschwunden; Ich suche hin und her. Wo ich es sonst gefunden, Und find es nun nicht mehr.

11. Zwei Sprüche. 1. Die Liebe Und dringt Sie ist ohn Und schlägt

Die Liebe.

hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel durch alles sich; Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel sie ewiglich. 2.

Wohltaten.

Wohltaten, still und rein gegeben. Sind Tote, die im Grabe leben, Sind Blumen, die im Sturm bestehn, Sind Sternlein, die nicht untergehn.

12

Dach.

Simon Dach. 12. Liev der Freundschaft. Der Mensch hat nichts so eigen, so wohl steht ihm nichts an. Als daß er Treu erzeigen und Freundschaft halten kann, Wann er mit seinesgleichen soll treten in ein Band, Verspricht sich, nicht zu weichen, mit Herzen, Mund und Hand. Die Red ist uns gegeben, damit wir nicht allein Für uns nur sollen leben und fern von Leuten sein: Wir sollen uns befragen und sehn auf guten Rat, Das Leid einander Nagen, so uns betreten hat. Was kann die Freude machen, die Einsamkeit verhehlt? Das gibt ein doppelt Lachen, was Freunden wird erzählt. Der kann sein Leid vergessen, der es von Herzen sagt; Der muß sich selbst auffressen, der ingeheim sich nagt.

Gott stehet mir vor allen, die meine Seele liebt; Dann soll mir auch gefallen, der mir sich herzlich gibt. Mit diesen Bundsgesellen verlach ich Pein und Not, Geh auf den Grund der Höllen und breche durch den Tod.

13. Ännchen von Tharau. Annchen von Tharau ist, die mir gefällt, Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.

Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz Auf mich gerichtet in Lieb und in Schmerz. Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut, Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!

Käm alles Wetter gleich auf uns zu schlahn. Wir sind gesinnt, bei einander zu stahn; Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein Soll unsrer Liebe Berknotigung sein.

Recht als ein Palmenbaum über sich steigt. Je mehr ihn Hagel und Regen anficht,

So wird die Lieb in uns mächtig und grob Durch Kreuz, durch Leiden, durch allerlei Not. Würdest du gleich einmal von mir getrennt. Lebtest da, wo man die Sonne kaum kennt: Ich will dir folgen durch Wälder, durch Meer, Durch Eis, durch Eisen, durch feindliches Heer.

Ännchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn, Mein Leben schließ ich um deines herum.

Richard Dehmel. 14. Die stille Stadt. Liegt eine Stadt im Tale, Ein blasser Tag vergeht; Es ivird nicht lange dauern mehr. Bis iveber Mond noch Sterne, Nur Nacht am Himmel steht. Voll allen Bergen drücken Nebel auf die Stadt; Es dringt kein Dach, nicht Hof iwch Haus, Kein Laut aus ihrem Rauch heraus. Kaum Türme noch und Brücken. Doch als den Wanderer graute. Da ging ein Lichtlein auf im Grund, Und durch den Rauch und Nebel Begann ein leiser Lobgesang Aus Kindermund.

Ernst Dohm. 15. Die Schlacht von Metz. Das war eine Schlacht! Drei Tage lang, Vom Morgen bis zur sinkenden Nacht, Der männermordende Donner kracht Und des Todes mähende Sichel klang.

Das war eine Schlacht! Zwischen Kampf und Kampf Hat der Tod je einen Rasttag gemacht. Umnebelt vom schwebenden Pulverdampf, Satt und übersatt Des Blutes, das er zu gierig trank, Vom blutigen Mähen so müd und matt, Daß dem knöchernen Arm die Sichel entsailk.

Das war eine Schlacht! Und als des dritten Tages Gestirn Zur Rüste ging und von der Berge Firn Ihren Schattenschleier senkte die Nacht, Da lagen Freund und Feind, An die dreistigtausend! vereint, Im stummen Tode friedlich gesellt — Ein unabsehbar Leichenfeld. Und auf das klaffende Bölkergrab Lächelt der Mond vom Sternenzelt Schweigend des Todes Frieden herab. Das war eine Schlacht! Die ihr, das Vaterland Zu schützen vor Gewalttat und Schänd, Euch selber zum blutigen Opfer gebracht — Ihr treuen Toten, du und du. Die im Gefecht Mit dem Leben besiegelt Deutschlands Recht, Medergemäht von des Todes Mahd, Ausgesät als des Friedens Saat, Fahrt wohl, zur ewigen Ruh ! Das war eine Schlacht! Des Feindes Plan, so keck erdacht. Zu schänden gemacht, Zerrissen, zerschlissen, wie sein Heer! Er selbst nach knirschender Gegenwehr Zurückgeworfen in die Feste Metz!

Dort fest umsponnen mit ehernem Netz, Mit eiserner Klammer regungslos, An den Fels geschmiedet bewegungslos, Mer Hilf und alles Entrinnens bar. Aufbäumend in ohnmächtigem Schmerz — Und der deutsche Aar Stückweis ihm zerhackend das zuckende Herz! Das war eine Schlacht! Westwärts in wehender Fahnen Pracht, Mit klingendem Spiele, dran und drauf. In nimmer aufgehaltenem Lauf, Weit, weit übern Rhein Nach Frankreich hinein Deutschlands Banner tragend, sein tted&t und Ehr, Im Sturmmarschtritt, Im Siegesschritt Wälzt gen Paris sich das deutsche Heer.

Annette Freiin von Droste-Hülshoff. 16. Der Knabe im Moor. O, schaurig ist's, übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Heiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt — O, schaurig ist's, übers Moor zu gehn. Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Fest hält die Fibel das zitternde Kind Und rennt, als ob man es jage; Hohl über die Fläche sauset der Wind — Was raschelt drüben am Hage? Tas ist der gespenstige Gräberknecht, Ter dem Meister die besten Torfe verzecht;

Hu, hu! es bricht, wie ein irres Rind: Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor — Unheimlich nicket die Föhre, Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, Durch Riesenhalme, wie Speere; Und wie es rieselt und knittert darin! Das ist die unselige Spinnerin, Das ist die gebannte Spinn-Lenor, Die den Haspel dreht im Geröhre! Voran, voran! nur immer im Lauf! Boran! als woll es ihn holen; Nir seinem Fuße brodelt es auf. Es pfeift ihm unter den Sohlen, Wie eine gespenstige Melodei — Tas ist der Geigenmann ungetreu, Tas ist der diebische Fiedler Knauf, Ter den Hochzeitheller gestohlen! Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh! da ruft die verdammte Margret: „Ho, ho! meine arme Seele!" Der Knabe springt, wie ein wundes Reh: Wär nicht Schutzengel in seiner Näh, Seine bleichenden Knöchelchen fände spät Ein Gräber im Mvorgeschwele. Da mählich gründet der Boden sich. Und drüben neben der Weide Die Lampe flimmert so heimatlich. Der Knabe steht an der Scheide. Tief atmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirst er den scheuen Blick: „Ja, im Geröhre war's fürchterlich, O, schaurig war's in der Heide!"

17. Heivebttver. 1. Der Weiher.

Er liegt so still im Morgenlicht, So friedlich wie ein fromm Gewissen; Wenn Weste seinen Spiegel küssen. Des Ufers Blume füW es nicht; Libellen zittern über ihn, Blaugoldne Stäbchen und Karmin, Und auf des Sonnenbildes Glanz Die Wasserspinne führt den Tanz; Schwertlilienkranz am Ufer steht Und horcht des Schilfes Schlummerliede. Ein lindes Säuseln kommt und geht, Als flüstr es: Friede! Friede! Friede! 2. Kinder am Ufer.

„O, sieh doch! siehst du nicht die Blumenwolke Da drüben in dem tiefsten Weiherkolke? O, das ist schön! hätt ich nur einen Stecken! Schmalzweiße Kelch mit dunkelroten Flecken, Und jede Glocke ist frisiert so fein, Wie unser wächsern Engelchen im Schrein. Was meinst du, schneid ich einen Haselstab Und wat ein wenig in die Furt hinab? Pah! Frösch und Hechte können mich nicht schrecken! — Allein, ob nicht vielleicht der Wassermann Tort in den langen Kräutern hocken kann? Ich geh, ich gehe schon — ich gehe nicht — Mich dünkt, ich sah am Grunde ein Gesicht — Komm, laß uns lieber heim, die Sonne sticht!"

18

Ebner-Eschenbach.

Eichendorfs.

Marie von Ebner-Eschenbach. 18. Ein «eines Liev. Ein keines Lied!

Wie geht's nur an,

Daß man so lieb es haben kann,

Was liegt darin?

Erzähle!

Es liegt darin ein wenig Klang, Ein wenig Wohllaut und Gesang

Und eine ganze Seele.

19. Svruchverse. 1. Es ist noch jeder leicht durch diese Welt geschritten,

Der gut zu danken wußt und wußte gut zu bitten

2. Magst den Tadel noch so fein. Noch so zart bereiten.

Weckt er Widerstreiten. Lob darf ganz geschmacklos sein, Hocherfreut und munter

Schlucken sie's hinunter.

Joseph Freiherr von Eichendorfs. 20. Abschied. vo der Zingelgletscher an den Steinberg stößt, die Sonne brannte mitunter

sehr heiß. Wie stiegen bis zum Ausbruch des Zingelgletschers und noch höher hinauf, wo vor dem Zingelhorn aus dem Eise sich ein kleiner See formiert. Horn heißen sie hier den höchsten Gipfel eines Felsens, der meist mit Schnee und Eis bedeckt ist und in einer seltsamen Horngestalt oft in die Luft steht. Wir kamen gegen drei oben an, nachdem wir's uns vorher auf der Alpen hatten schmecken lassen. Es fällt mir un­ möglich, das Merkwürdige der Formen und Erscheinungen bei den Gletschern jetzt anschaulich zu machen, es ist vieles gut, was drüber geschrieben worden, das wir zusammen lesen wollen, und dann läßt sich viel erzählen. Wir verweilten uns oben, kamen in Wolken und Regen und endlich in die Nacht, zerstreut und müde in dem Pfarrhaus an. Montags den 11. gingen wir von Lauterbrunnen ab; da uns das Wetter hin­ derte, den obern Weg über die Berge zu nehmen, gingen wir unten durchs Tal in den Grindelwald. Der Regen hatte die Wege sehr schlimm gemacht. Herrliche Felsen und Felsen­ brüche. Die Sonne kam hervor, die Wolken hoben sich von den Bergen. Hier und da kam der schöne blaue Himmel hervor. Ilm 4 Uhr nachmittags kamen wir nach Grindelwald, sahen noch vor Tische eine prächtige Schnee- und Eishöhle, den so­ genannten untern Gletscher, der bis ins Tal dringt, und daran die herrliche Eishöhle, woraus das Eiswasser seinen Ablauf hat, und suchten Erdbeeren in dem Hölzchen, das gleich daneben steht. Hessel und User, Lesebuch«.

M.20

227. Die Krönung Josephs II. zum römischen König. Der Krönungstag brach endlich an, den 3. April 1764. Das Wetter war günstig und alle Menschen in Bewegung. Man hatte mir nebst mehreren Verwandten und Freun­ den in dem Römer selbst in einer der oberen Etagen einen guten Platz angewiesen, wo wir das Ganze vollkommen übersehen konnten. Mit dem frühsten begaben wir uns an Ort und Stelle und beschauten nunmehr von oben, wie in der Vogelperspektive, die Anstalten, die wir tags vorher in näheren Augenschein genommen hatten. Da war der neuerrichtete Springbrunnen mit zwei grosten Kufen rechts und links, in welche der Doppeladler auf dem Ständer weißen Wein hüben und roten Wein drüben aus seinen zwei Schnäbeln ausgießen sollte. Aufgeschüttet zu einem Haufen lag dort der Hafer, hier stand die große Bretterhütte, in der man schon einige Tage den ganzen fetten Ochsen an einem ungeheuern Spieße bei Kohlen­ feuer braten und schmoren sah. Alle Zugänge, die vom Römer aus dahin und von andern Straßen nach^ dem Römer führen, waren zu beiden Seiten durch Schranken und Wachen gesichert. Der große Platz füllte sich nach und nach, und das Wogen und Drängen ward immer stärker und bewegter, weil die Menge wo möglich immer nach der Gegend hinstrebte, wo ein neuer Auftritt erschien und etwas Besonderes angekündigt wurde. Was in dem Dome vorgegangen, die unendlichen Zeremonien, welche die Salbung, die Krönung, den Ritter­ schlag vorbereiten und begleiten, alles dieses ließen wir uns in der Folge gar gern von denen erzählen, die manches andere aufgeopfert hatten, um in der Kirche gegenwärtig zu sein. . . . Auf dem Platze war jetzt das Sehenswürdigste die fertig gewordene und mit rot-gelb- und weißem Tuch über­ legte Brücke, und wir sollten den Kaiser, bett wir zuerst

im Wagen, dann zu Pferde sitzend angestaunt, nun auch zu Fuße wandelnd bewundern; und sonderbar genug, auf das letzte freuten wir uns am meisten, denn uns deuchte diese Weise sich darzustesten so wie die natürlichste, so auch die würdigste. Nun verkündigte der Glockenschall und nun die vor­ dersten des langen Zuges, welche über die bunte Brücke ganz sachte einherschritten, daß alles getan sei. Die Auf­ merksamkeit war größer denn je, der Zug deutlicher als vorher, besonders für uns, da er jetzt gerade nach uns zuging. Wir sahen ihn sowie den ganzen volkserfüllten Platz beinahe im Grundriß. Nur zu sehr drängte sich am Ende die Pracht; denn die Gesandten, die Erbämter, Kaiser und König unter dem Baldachin, die drei geistlichen Kur­ fürsten, die sich anschlossen, die schwarzgekleideten Schöffen und Ratsherren, der goldgestickte Himmel, alles schien nur eine Masse zu sein, die, nur von einem Willen bewegt, prächtig harmonisch und soeben unter dem Geläute der Glocken aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges uns entgegenstrahlte. . . . Mehrere Tage vorher war durch öffentlichen Ausruf bekannt gemacht, daß weder die Brücke noch der Adler über dem Brunnen preisgegeben und also nicht vom Polke wie sonst angetastet werden solle. Es geschah dies, um manches bei solchen Anstürmen unvermeidliche Unglück zu verhüten. Allein um doch einigermaßen dem Genius des Pöbels zu opfern, gingen eigens bestellte Personen hinter dem Zuge her, lösten das Tuch von der Brücke, wickel­ ten es bahnenweise zusammen und warfen es in die Luft. Hierdurch entstand nun zwar kein Unglück, aber ein lächer­ liches Unheil; denn das Tuch entrollte sich in der Luft und bedeckte, wie es niederfiel, eine größere oder ge­ ringere Anzahl Menschen. Diejenigen nun, welche die En­ den faßten und solche an sich zogen, rissen alle die mitt­ leren zu Boden, umhüllten und ängstigten sie so lange, bis sie sich durchgerissen oder durchgeschnitten und jeder 20*

nach seiner Weise einen Zipfel dieses durch die Fußtritte der Majestäten geheiligten Gewebes davongetragen hatte. Dieser wilden Belustigung sah ich nicht lange zu, son­ dern eilte von meinem hohen Standorte durch allerlei Trepp­ chen und Gänge hinunter an die große Römerstiege, wo die aus der Ferne angestaunte so vornehme als herrliche Masse heraufwallen sollte. Das Gedränge war nicht groß, weil die Zugänge des Rathauses wohl besetzt waren, und ich kam glücklich unmittelbar oben an das eiserne Gelän­ der. Nun stiegen die Hauptpersonen an mir vorüber, in­ dem das Gefolge in den unteren Gewölbgängen zurückblieb, ilnd ich konnte sie auf der dreimal gebrochenen Treppe von allen Seiten und zuletzt ganz in der Nähe betrachtm. EMich kamen auch die beiden Majestäten herauf. Vater und Sohn waren wie Menächmen überein gekleidet. Des Kaisers Hausornat von purpurfarbner Seide, mit Perlen und Steinen reich geziert, sowie Krone, Zepter.und Reichsapfel fielen wohl in die Augen: denn alles war neu daran und die Nachahmung des Altertums geschmack­ voll. So bewegte er sich auch in seinem Anzuge ganz bequem, und sein treuherzig würdiges Gesicht gab zu­ gleich den Kaiser und den Vater zu erkennen. Der junge König hingegen schleppte sich in den ungeheuern Gewand­ stücken mit den Kleinodien Karls des Großen wie in einer Verkleidung einher, so daß er selbst, von Zeit zu Zeit seinen Vater ansehend, sich des Lächelns nicht enthalten konnte. Die Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes Dach vom Kopf ab. Die Dalmatika, die Stola, so gut sie auch angepaßt und eingenäht worden, gewährte doch keineswegs ein vorteilhaftes Aus­ sehen. Zepter und Reichsapfel setzten in Verwunderung; aber man konnte sich nicht leugnen, daß man lieber eine mächtige, dem Anzuge gewachsene Gestalt, um der gün­ stigern Wirkung willen, damit beNeidet und ausgeschmückt gesehen hätte. Kaum waren die Pforten des großen Saales hinter

diesen Gestalten wieder geschlossen, so eilte ich auf meinen »origen Platz, der, von andern bereits eingenommen, nur mit einiger Not mir wieder zuteil wurde. Es war eben die rechte Zeit, daß ich von meinem Fenster wieder Besitz nahm; denn das Merkwürdigste, was öffentlich zu erblicken war, sollte eben vorgehen. Alles Volk hatte sich gegen den Römer zugewendet, und ein abermaliges Vivatschreien gab uns zu erkennen, daß Kai­ ser und König an dem Balkonfenster des großen Saales in ihrem Ornate sich dem Volke zeigten. Aber sie sollten nicht allein zum Schauspiel dienen, sondern vor ihren Augen sollte ein seltsames Schauspiel vorgehen. Vor allen schwang sich nun der schöne, schlanke Erbmarschall auf sein Roß; er hatte das Schwert abgelegt; in seiner Rechten hielt er ein silbernes gehenkeltes Gemäß und ein Streich­ blech in der Linken. So ritt er in den Schranken auf den großen Haferhaufen zu, sprengte hinein, schöpfte das Ge­ fäß übervoll, strich es ab und trug es mit großem An­ stande wieder zurück. Der kaiserliche Marstall war nun­ mehr versorgt. Der Erbkämmerer ritt sodann gleichfalls auf jene Gegend zu und brachte ein Handbecken nebst Gießfaß und Handquehle zurück. Unterhaltender aber für die Zuschauer war der Erbtruchseß, der ein Stück von dem gebratnen Ochsen zu holen kam. Auch er ritt mit einer silbernen Schüssel durch die Schranken bis zu der großen Bretterküche und kam bald mit verdecktem Gericht loieder hervor, um seinen Weg nach dem Römer zu nehmen. Die Reihe traf nun den Erbschenken, der zu bent Springbrunnen ritt und Weill holte. So war nun auch die kaiserliche Tafel bestellt, und aller Augen warteten auf den Erbschatz­ meister, der das Geld auswerfen sollte. Auch er bestieg ein schönes Roß, dem zu beiden Seiten des Sattels an­ statt der Pistolenhalftern ein paar prächtige, mit dem kurpfälzischen Wappen gestickte Beutel befestigt hingen. Kanal hatte er sich in Bewegung gesetzt, als er in diese Taschen griff und rechts nnd links Gold- und Silbermünzen

freigebig ausstreute, welche jedesmal in der Luft als ein metallener Regen gar lustig glänzten. Tausend Hände zap­ pelten augenblicklich in der Höhe, um die Gaben aufzu­ fangen; kaum aber waren die Münzen niedergefallen, so wühlte die Masse in sich selbst gegen den Boden und rang gewaltig um die Stücke, welche zur Erde mochten gekom­ men sein. Da nun diese Bewegung von beiden Seiten sich immer wiederholte, wie der Geber vorwärts ritt, so war es für die Zuschauer ein höchst belustigender Anblick. Zum Schlüsse ging es am allerlebhaftesten her, als er die Beutel selbst auswarf und ein jeder noch diesen höch­ sten Preis zu erhaschen trachtete. Die Majestäten hatten sich vom Balkon zurückgezogen, iutb nun sollte dem Pöbel abermals ein Opfer gebracht werden, der in solchen Fällen lieber die Gaben rauben, als sie gelassen und dankbar empfangen will. In rohern und derbern Zeiten herrschte der Gebrauch, den Hafer, gleich nachdem der Erbmarschall das Teil weggenommen, den Springbrunnen, nachdem der Erbschenk, die Küche, nachdem der Erbtruchseß sein Amt verrichtet, auf der Stelle preiszugeben. Diesmal aber hielt man, um alles Unglück zu verhüten, so viel es sich tun ließ, Ordnung und Maß. Doch fielen die alten schadenfrohen Späße wieder vor, daß, >oenn einer einen Sack Hafer aufgepackt hatte, der.andere ihm ein Loch hineinschnitt, und was dergleichen Artig­ keiten mehr waren. Um den gebratenen Ochsen aber wurde diesmal wie sonst ein ernsterer Kampf geführt. Man konnte sich denselben nur in Masse streitig machen. Zwei In­ nungen, die Metzger und Weinschröter, hatten sich hergebrachtermaßen wieder so postiert, daß einer von beiden dieser ungeheure Braten zuteil werden mußte. Die Metz­ ger glaubten das größte Recht an einen Ochsen zu haben, den sie unzerstückt in die Küche geliefert; die Weinschröter dagegen machten Anspruch, weil die Küche in der Nähe ihres zunftmäßigen Aufenthalts erbaut war, mnd weil sie das letztemal obgesiegt hatten; wie denn aus dem ver-

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gitterten Giebelfenster ihres Zunft- und VersammlungsHauses die Hörner jenes erbeuteten Stiers, als Sieges­ zeichen hervorstarrend, zu sehen waren. Beide zahlreichen Innungen hatten sehr kräftige und tüchtige Mitglieder; wer aber diesmal den Sieg davongetragen, ist mir nicht mehr erinnerlich. Wie nun aber eine Feierlichkeit dieser Art mit etwas Gefährlichem und Schreckhaftem schließen soll, so war es wirklich ein fürchterlicher Augenblick, als die bretterne Küche selbst preisgemacht wurde. Das Dach derselben wimmelte sogleich von Menschen, ohne daß man wußte, wie sie hinauf­ gekommen; die Bretter wurden losgerissen und heruntergestiirzt, so daß man, besonders in der Ferne, denken mußte, ein jedes werde ein paar der Zudringlichen tot­ schlagen. In einem Nu war die Hütte abgedeckt, und ein­ zelne Menschen hingen an Sparren und Balken, um auch diese aus den Fugen zu reißen; ja, manche schwebten noch oben herum, als schon unten die Pfosten abgesägt waren, das Gerippe hin- und wiederschwankte und jähen Ein­ sturz drohte. Zarte Personen wandten die Augen hinweg, und jedermann erwartete sich ein großes Unglück; allein man hörte nicht einmal von irgend einer Beschädigung, und alles war, obgleich heftig und gewaltsam, doch glück­ lich vorübergegangen.

Elisabeth Goethe. 228. Brief an Goethe in Rom. Frankfurt, den 17. November 1786. Lieber Sohn. Eine Erscheinung aus der Unterwelt hätte mich nicht mehr in Verwunderung setzen können, als Dein Brief aus Rom. Jubilieren hätte ich vor Freude mögen, daß der Wunsch, der von frühester Jugend an in

Deiner Seele lag, nun in Erfüllung gegangen ist. Einen Menschen, wie Du bist, mit Deinen Kenntnissen, mit Deinem

großen Blick vor alles, was gut, groß und schön ist, der so ein Adlerauge hat, muß so eine Reise auf sein ganzes übriges Leben vergnügt und glücklich machen, und nicht allein Dich, sondern alle, die das Glück haben, in Deinem Wirkungskreis zu leben. Ewig werden mir die Worte der seligen Klettenbergern im Gedächtnis bleiben: „Wenn dein Wolfgang nach Mainz reiset, bringt er mehr Kenntnisse mit als andere, die von Paris oder London zurückkommen." Aber sehen hätte ich Dich mögen beim ersten Anblick der Peterskirche. Doch Du versprichst ja, mich in der Rückreise zu besuchen, das mußt Du mir alles haarklein erzählen. Vor ungefähr vier Wochen schrieb Fritz von Stein, er wäre Deinetwegen in großer Verlegenheit, kein Mensch, selbst der Herzog nicht, wüßten, wo Du wärest, jedermann glaubte Dich in Böhmen u. s. w. Dein mir so sehr lieber und interessanter Brief vom 4. November kam Mittwochs den 15. dito abends um 6 Uhr bei mir an. — Denen Beth­ männern habe ich ihren Brief auf so drollige Weise in die Hände gespielt, daß sie gewiß auf mich nicht raten.

Bon meinem innern und äußern Befinden folgt hier­ ein genauer und treuer Abdruck: Mein Leben fließt still dahin wie ein klarer Bach. Unruhe und Gekümmelt war von jeher meine Sache nicht, und ich danke der Vorsehung vor meine Tage. Tausend würde so ein Leben zu eintönig vorkommen, mir nicht; so ruhig mein Körper ist, so tätig ist das, was in mir denket — da kann ich so einen ganzen geschlagenen Tag ganz allein zubringen, erstaune, daß es Abend ist, und bin vergnügt wie eine Göttin, und mehr als vergnügt und zufrieden sein braucht man wohl in dieser Welt nicht. Das Neueste von Deinen alten Bekannten ist, daß Papa la Roche nicht mehr in Speier ist, sondern sich ein Haus in Offenbach gekauft hat und sein Leben allda zu beschließen gedenket. Deine übrigen Freunde sind alle noch, die sie waren, keiner hat so Riesenschritte wie Du gemacht. Wir waren aber auch immer die Lakaien, sagte einmal der verstorbene Max Mohrs. Wenn du herkommst.

so müssen diese Menschenkinder alle eingeladen und herrlich traktiert werden: Wildbrets, Braten, Geflügel, wie Sand am Meer — es soll eben pompos hergehen. Lieber Sohn, da fällt mir nun ein untertäniger Zweifel ein, ob dieser Brief wohl in Deine Hände kommen möchte: ich weiß nicht, wo Du in Rom wohnest, Du bist halb inkognito, wie Du schreibest. Wollen das Beste hoffen. Du wirst doch, ehe Du kommst, noch etwas von Dir hören lassen, so glaube ich, jede Postschäße brächte mir meinen einzig Geliebten — und betrogene Hoffnung ist meine Sache gar nicht. Lebe­ wohl, Bester! Und gedenke öfters an Deine treue Mutter Elisabethe Goethe.

229. «rief an Christiane. Den 23. September 1797. Liebe Freundin! Zwei-, ja dreifachen Dank bin ich Ihnen schuldig: vor die Huflandischen Bücher — vor die außerordentlichen schönen und wvhlgeratnen Strümpfe, die mir wie angegossen sind und mich diesen Winter vor der Kälte wohl beschützen sollen — und endlich, daß Sie mir doch ein klein Fünkchen Licht von meinem Sohn angezündet haben; vermutlich wissen Sie also, wo er ist. Gestern waren es vier Wochen, dast er von hier weggereist ist, und ich habe noch keine Zeile von ihm gesehen. Die Briefe, die nach seiner Abreise bei mir eingelaufen sind, liegen ruhig auf meinem Tisch, da ich nicht weiß, wo er ist — und ich sie also unmöglich ihm nachschicken kann. Da ich von Ihnen, liebe Freundin, höre, daß er wohl und vergnügt ist, so bin ich ruhig und will alles andere ge­ duldig abwarten. Unsere Messe ist diesmal außerordentlich brillant: königliche Bräute, zukünftige Kurfürstinnen, Prin­ zen, diw Prinzessinnen, Grafen, Barone mit und ohne Stern u. s. w. Es ist ein Fahren, Reiten, Gehen durcheinander, das spaßhaft anzuschauen ist. Mittlerweile wir nun hier

gaffen, klaffen und ein wahres Schlaraffenleben führen, sind Sie, meine Liebe, arbeitsam, sorgsam, wirtschaftlich, damit, wenn der Hätschelhans zurückkdmmt, er Kammern und Speicher angefüllt von allem Guten vorfinden wird. Neh­ men Sie auch dafür meinen besten Dank, denn ein wirt­ schaftliches Weib ist das edelste Geschenk vor einen Bieder­ mann, da das Gegenteil alles zerrüttet und Unglück und Jammer über die ganze Familie verbreitet. Bleiben Sie bei denen Ihnen beiwohnenden edlen Grundsätzen, und Gott und Menschen werden Wohlgefallen an Ihnen haben, auch wird die Ernte die Mühe reichlich belohnen. Grüßen Sie den lieben Augst und danken ihm durch einen Kuß vor seinen lieben Brief! Gott erhalte ihn zu unser aller Freude gesund und lasse ihn in die Fußstapfen seines Vaters treten! Amen. Behalten Sie mich indessen in gutem, liebevollem Andenken, und seien Sie versichert, daß ich bis ans Ende meiner Tage sein werde dero treue Mutter und Freundin Goethe.

Iakob Grimm und Wilhelm Grimm. 230. Marche« und Sage. Es wird dem Manschen von Heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was ihm Gutes dadurch widerführt, der mag es fühlen, wenn er die Grenze des Vaterlandes überschreitet, wo ihn jener verläßt. Diese wohltätige Be­ gleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichte, welche nebeneinander stehen und uns nach­ einander die Vorzeit als einen frischen und belebenden Geist

nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen eigenen Kreis. Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer; jenes stehet beinahe nur in sich selber fest, in seiner angeborenen Blüte und Vollendung; die Sage, von einer geringeren

Mannigfaltigkeit der Farbe, hat noch das Besondere, daß sie an etwas Bekanntem und Bewußtem hafte, an einem Ort oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen. Aus dieser ihrer Gebundenheit folgt, daß sie nicht, gleich dem Märchen, überall zu Hause sein könne, sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche sie bald gar nicht da, bald nur unvollkrmmener vorhanden sein würde. Kaum ein Flecken wird sich in ganz Deutschland finden, wo es nicht ausführliche Märchen zu hören gäbe, manche, an denen die Bvlkssagen nur dünn und sparsam gesät zu sein pflegen. Diese anscheinende Dürftigkeit und Unbedeutendheit zu­ gegeben, sind sie dafür innerlich auch weit eigentümlicher; sie gleichen den Mundarten der Sprache, in denen hin und wieder sonderbare Wörter und Bilder aus uralten Zeiten hangen geblieben sind, während die Märchen ein ganzes Stück alter Dichtung sozusagen in einem Zuge zu uns übersetzen. Die Märchen nähren unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich, oder der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen die Sagen schon zu einer stärkeren Speise dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere Farbe tragen und mehr Ernst und Nachdenken fordern. Der Geschichte stellen sich beide, das Märchen und die Sage, gegenüber, insofern sie das sinnlich Natürliche und Begreif­ liche stets mit dem Unbegreiflichen mischen. Die Kinder glauben an die Wirflichkeit der Märchen, aber auch das Volk hat noch nicht ganz aufgehört, an seine Sagen zu glauben, und sein Verstand sondert nicht viel darin; sie werden ihm aus den angegebenen Unterlagen genug bewiesen, d. h. das unleugbar nahe und sichtliche Dasein der

letzteren überwiegt noch den Zweifel über das damit ver­ knüpfte Wunder. Um alles menschlichen Sinnen Ungewöhnliche, was die Natur eines Landstrichs besitzt, oder wessen ihn die Ge­ schichte gemahnt, sammelt sich ein Duft von Sage und Lied, wie sich die Ferne des Himmels blau anläßt und zarter, feiner Staub um Obst und Blumen setzt. Aus dem Zu-

sammenleben und Zusammenwohnen mit Felsen, Seen, Trümmern, Bäumen, Pflanzen entspringt bald eine Art von Verbindung, die sich auf die Eigentümlichkeit jedes dieser Gegenstände gründet und zu gewissen Stunden ihre Wunder zu vernehmen berechtigt ist. Wie mächtig dies dadurch ent­ stehende Band sei, zeigt an natürlichen Menschen jenes herz­ zerreißende Heimweh. Ohne diese sie begleitende Poesie müßten edele Völker vertrauern und vergehen; Sprache, Sitte und Gewohnheit würde ihnen eitel und unbedeckt dünken, ja, hinter allem, was sie besäßen, eine gewisse Ein­ friedigung fehlen. Auf solche Weise verstehen wir das Wesen und die Tugend der deutschen Bolkssage, welche Angst und Warnung vor dem Bösen und Freude an dem Guten mit gleichen Händen austeilt. Noch geht sie an Orter und Stellen, die unsere Geschichte längst nicht mehr erreichen kann, vielmal aber fließen sie beide zusammen und untereinander; nur daß man zuweilen die an sich untrennbar gewordene Sage, wie in Strömen das aufgenommene grünere Wasser eines andern Flusses, noch lange zu erkennen vermag.

August Hagen. 231. Die Singeschitle der Nürnberger Meistersinger. sJn dem Buche Norica, d. h. Nürnberger Geschichten, läßt der Verfasser den Kaufmann Jakob Heller aus Frankfurt a. M., in dessen Auftrag Albrecht Dürer ein berühmtes Heiligenbild ge­ malt hat, seine Erlebnisse auf einer Reise nach Nürnberg erzählen, um das Jahr 1518. Unter anderm berichtet er Folgendess:

Ich ging in meiner Stube auf und ab, indem ich auf das Frühstück wartete. Ich sah durch das Fenster und erblickte ein Seil, das von St. Sebald nach dem Rathause gezogen war, und woran mitten ein gemaltes Schild hing. Alle Mühe, die ich mir gab, die Figuren darauf zu erkennen, war vergeblich, und ich war im Begriff, zum Schenkwirt hinunter zu gehn und mir Bescheid zu holen. In dem­ selben Augenblick trat in mein Zimmer Peter Bischer, der

jüngere. Er begrüßte mich und meldete mir, daß heute dem Kaiser zu Ehren eine Festschule gehalten würde. Ich sah ihn stutzig an, dann aber erinnerte ich mich, daß Peter Bischer der holdseligen Meistersingerkunst beflissen wäre, und ich wußte mir seine Worte zu erklären und zugleich, was es mit dem Aufhängen der Tafel für ein Bewenden hätte. Peter erzählte mir, daß durch das Schild alle, die an erbaulichen Festen teilnähmen, zu der Singeschule ein­ geladen würden. Unterdes war das Frühstück hereingetragen, und Vischer ließ es sich gefallen, dasselbe mit mir zu teilen. Er er­ zählte mit über die Entstehung und das Wesen der Meister­ singerkunst gar vieles, dem ich gern ein aufmerksames Ohr lieh: „Ter Meistersinger hohe Schule ist Mainz, und die Töchterschulen sind Nürnberg und Straßburg. Aber in Nürnberg ward seit lange die holdselige Kunst besser ge­ pflegt, als irgendwo. Wie vor fünfzig Jahren der Brief­ maler Hans Rosenplüt und der Barbier Hans Folz be­ rühmt war, so jetzt der Leineweber Leonhard Nunnenbeck und vor allen dessen Schüler, Hans Sachs, der Schuh­ macher." — „Was haben jene Figuren auf der Tafel zu bedeuten?" fragte ich ihn. „Auf der Tafel", erwiderte er, „seht Ihr oben ein Wappen mit einer Krone, das ist der Meistersinger Wappen, und darunter zwölf Männer, die einen Garten bestellen, deren Mühe aber ein wildes Tier zunichte macht. Die zwölf Männer sind die zwölf berühmten Sänger, die die erste Singeschule einrichteten, und das wilde Tier ist der Neid, der von außenher, und die Zwietracht, die von innenher ihrem Gedeihen schadet. Vom heiligen Beruf durchdrungen, sangen die zwölf Männer Lieder, die Gott wohlgefällig waren und den Menschen angenehm. Der Kaiser Otto der Große, erlauchten Andenkens, bestätigte ihren Bund und schenkte ihnen ein Wappen mit der Krone. Sie unterrichteten Jünglinge, und die Schüler wurden wieder Meister und so bis auf unsere Zeit. Wer die Kunst erlernen

will, der geht zu einem Meister, der wenigstens einmal in der Singehalle den Preis getiwnnen hat, und dieser unterweist ihn unentgeltlich. Er weiht ihn ein in die Ge­ heimnisse der Tabulatur, so nennen wir die Gesetze der Dichtkunst. Hat der Lehrling diese begriffen, so bittet er die Gesellschaft um seine Aufnahme, da er von löblichen Sitten sei und guten Willen zeige. Der Aufgenommene inuß alsdann den Singestuhl in der Kirche besteigen und eine Probe seiner Kunst ablegen. Gelingt sie ihm, so wird sein Wunsch gewährt. Feierlich gelobt er, der Kunst stets treu zu sein, die Ehre der Gesellschaft wahrzunehmen, sich stets friedlich zu betragen und kein Meisterlied durch Ab­ singen auf der Gasse zu entweihen. Dann zahlt er das Einschreibegeld und gibt zwei Maß Wein zum besten. Bei den gewöhnlichen Versammlungen der Meistersinger, lind wenn sie sich in der Schenke zusammenfinden, sind welt­ liche Lieder wohl erlaubt, nie aber in den Festschulen. Die Festschulen finden dreinral im Jahre statt, zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten in der Katharinenkirche. Hier werden nur Gedichte vorgetragen, deren Inhalt aus der Bibel oder den heiligen Sagen geschöpft ist. Wer am fehler­ freisten singt, wird hier mit einer goldenen Kette geschmückt, und mit einem Kranze, wer nach ihm am besten besteht. Wem grobe Fehler dagegen nachgewiesen werden, der muß es durch Strafgeld büßen. So fließt das Leben der Meister­ singer unter erbaulichen Gesängen hin, und wenn einer

aus dem frohen Kreise abgerufen wird, so versammeln sich seine Genossen um sein Grab und singen ihm das letzte Lied." Da jetzt die Ratsuhr schlug, so brach Bischer auf. Ich hatte gemeint, er würde mich zur Katharinenkirche führen. Allein Vischer versprach mir, um eine Stunde zurückzu­

kehren, da er erst andere Tracht anlegen müsse. Er hielt Wort und erschien jetzt ganz in schwarze Seide gehüllt, mit einem geschmackvollen Baret. Um das Fehlgehen hatte es keine Not, da man nur dem Zuge der Menschjen zu

folgen brauchte, die alle nach der Festschule strömten. Am Eingänge des kleinen Kirchleins hielt der Kirchner zu einem Trinkgelde die Mütze auf. Das geschah darum, daß nicht alles Gesindel sich hineindrängte und ehrliche Leute um die Erbauung brächte. Tie Kirche war im Innern schön aufgeputzt, und vom Chor, den der Kaiser einnehmen sollte, hing eine kostbare Purpurdecke herab. Gar feierlich nahm sich der Verein der edlen Meistersinger aus, so umher auf den Bänken saßen, teils langbärtige Greise, die aber noch alle rüstig erschienen, teils glatte Jünglinge, die aber alle so still und ernst waren, als wenn sie zu den sieben Weisen Griechen­ lands gehörten. Alle prangten in Seidengewändern grün, blau und schwarz mit zierlich gefalteten Spitzenkragen. Unter den stattlich gekleideten Meistern befand sich auch Hans Sachs und sein Lehrer Nunnenbeck. Größere Ruhe herrscht nicht beim Hochamte. Nur ich und Vischer sprachen, der mir alles erklären mußte. Neben der Kanzel befand sich der Singestuhl. Nur kleiner war er, sonst wie eine Kanzel, den die Meistersinger auf ihre Kosten hatten bauen lassen, und der heute mit einem bunten Teppich geschmückt war. Vorne im Chor sah man ein niedriges Gerüst auf­ geschlagen, worauf ein Tisch und ein Pult stand. Dies war das Gemerke, denn hier hatten diejenigen einen Platz, die die Fehler anmerken mußten, welche die Sänger in der Form, gegen die Gesetze der Tabulatur, und im Inhalt, gegen die Erzählung der Bibel und der Heiligenschichten begingen. Diese Leute hießen Merker, und ihrer gab es drei. Obgleich das Gemerk mit schwarzen Vorhängen um­ zogen war, so konnte ich doch von meinem Sitze aus alles beobachten, was hier vorging, und ich sah an der einen Seite des Gerüstes die goldene Kette mit vielen Schmuck­ stücken hangen, die der Davidsgewinner hieß, und den Kranz, der aus seidenen Blumen bestand. Jetzt rasselte es vor dem Eingänge, und der Kaiser Maximilian mit dem ganzen Gefolge erschien und zeigte

sich gar gnädig, indem er milde vom Chor hernieder sah. Aber er verweilte nicht lange, denn ihm schien die hold­ selige Singekunst nicht sonderlich zu behagen. Als der Kaiser sich zeigte, so geriet alles in lebhafte Bewegung. Ein greiser Meister betrat den Singestuhl, und vom Gemerke erscholl das Wort: Fanget an! Es war Konrad Nachtigall, ein Schlosser, der so sehnsüchtig und klagend sang, daß er seinen Namen wohl mit Recht führte. Bom himmlischen Jerusalem und von der Gründung des neuen sagte er viel Schönes in gar künstlichen Reiinen und Redensarten. Auf dem Gemerke sah ich, wie einer der Meister in der Bibel nachlas, der andere an den Fingern die Silben abzählte und der dritte aufschrieb, was diese beiden ihm von Zeit zu Zeit zuflüsterten. Aber auch die Meister unten waren aufmerksam und in stiller Tätigkeit. Alle trieben mit den Fingern ein närrisches Spiel, um genau die Versmaße wahrzunehmen. An ihrem Kvpfschütteln erkannte ich, daß der Sprecher hie und da ein Versehen begangen. Nach dem Meister Nachtigall kam die Reihe an einen Jüngling, Fritz Kothner, einen Glocken­ gießer, der hatte die Schöpfungsgeschichte zum Gegenstand seines Gedichtes gewählt. Aber hier hieß es nicht: Und Gott sahe, daß es gut war. Denn der Arme war verlegen es wollte nicht gehn, und ein Merker hieß ihm, den Singe­ stuhl zu verlassen. Der Meister hat versungen, raunte mit Bischer zu, und da ich ihn fragte, warum man ihn nicht hätte sein Stück zu Ende bringen lassen, so erklärte er mir, daß er ein Laster begangen. Mit diesem Namen be­ legten nämlich die Kenner der Tabulatur einen Verstoß gegen die Reime. Dergleichen wunderliche Benennungen für Fehler gab es viele, als blinde Meinung, Klebsilbe, Stütze, Milbe, falsche Blumen. Die Bezeichnungen der verschiedenen Tonweisen waren gar absonderlich, als die Schwarz-Tintenweise, die abgeschiedene Vielfraßweise, die Cupidinis Handbogen-Weise. In der Hageblüt-Weise ließ sich jetzt vom Singestuhl herab Leonhard Nunnenbeck ver-

nehmen, ein ehrwürdiger Greis im schwarzen Gewände. Sein Kopf war glatt, wie meine innere Hand, und nur das Kinn schmückte ein schneeweißer Bart. Alles bewunderte ihn, tote er gemäß der Apokalypse den Herrn beschrieb, an dessen Stuhl der Löwe, der Stier, der Adler und der Engel ihm Preis und Ehre und Dank gaben, der da thronet und lebet vvn Ewigkeit zu Ewigkeit, wie die vierundzwanzig Ältesten ihre Krone vor den Stuhl niederlegten und Preis imb Ehre und Dank ihm gaben, durch dessen Willen alle Tinge ihr Wesen haben und geschaffen sind, und wie sie ihre Kleider hell gemacht haben im Blute des Lammes, tote die Engel, die um den Stuhl, um die Ältesten und um die vier Tiere standen, auf ihr Angesicht niederfielen und Gott anbeteten. Als Nunnenbeck endigte, da waren alle voller Entzücken, und namentlich leuchtete aus Hans Sachsens Gesicht hell die Freude hervor. Er rühmte sich des Lehrers, wie der Lehrer sein. Mir gefiel auch das Gedicht, das aber wohl mehr erhaben als schön war. Da trat als der vierte und letzte Sänger wieder ein Jüngling auf. Was der sagte, war so recht nach meinem Sinn. Er gehörte auch zur Weberzunft und hieß Michael Behaim, der mancherlei Länder gesehn. Sein Vater hatte sich Behaim (Böhme) genannt, da er aus Böhmen nach Franken gezogen war. Mit rastloser Anstrengung übte sich unser Behaim in der Singkunst und verglich sich mit Recht mit einem Bergmanne, der mühsam gräbt und sucht, um edles Gold zu fördern. Nie war er früher in einer Fest­ schule aufgetreten, da er nicht anders als mit Ruhm den Singestuhl besteigen wollte. Sonder Zweifel hätte Michael Behaint den ersten Preis errungen, wenn nicht Nunnenbeck vorher gesungen. Da Michael Behaim das Gedicht vorgetragen hatte, so verließen die Merker ihren Sitz. Der erste trat zu Nunnenbeck, und mit einem langen Glückwunsch hing er ihm den Davidsgewinner um, und der zweite Merker zierte Hessel und Ufer, Lesebuch 6.

M.21

Hagen.

Heine.

Behaims Haupt 'mit dem Kranze, der ihm ganz wohl stand. Diese Gaben waren aber nicht Geschenke, sondern nur Aus­ zeichnungen für die Feier des Tages. Das Fest in der Kirche war beendigt, und alle drängten sich jetzt mit auf­ richtiger Teilnahme zu den Begabten, um ihnen freudig die Hände zu drücken.

Heinrich Heine. 232. Harzwanderung. 1. Aufstieg zum Brocken. Fröhlich stieg ich den Berg hinauf. Bald empfing mich eine Waldung himmelhoher Tannen, für die ich in jeder Hinsicht Respekt habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht gemacht worden, und sie haben es sich in der Jugend sauer werden lassen. Der Berg ist hier mit vielen großen Granitblöcken übersäet, und die meisten Bäume mußten mit ihren Wurzeln diese Steine umranken oder sprengen und mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung schöpfen können. Hier und da liegen die Steine, gleichsam ein Tor bildend, übereinander, und oben darauf stehen die Bäume, die nackten Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend und erst am Fuße derselben den Boden erfassend, so daß sie in der freien Luft zu wachsen scheinen. Und doch haben sie sich zu jener gewaltigen Höhe emporgeschwungen, und mit den umNammerten Steinen wie zusammengewachsen, stehen sie fester als ihre bequemen Kollegen im zahmen Forst­ boden des flachen Landes. So stehen auch im Leben jene großen Männer, die durch das Überwinden früher Hemmungen und Hindernisse sich erst recht gestärkt und be­

festigt haben. Auf den Zweigen der Tannen kletterten Eich­ hörnchen, und unter denselben spazierten die gelben Hirsche. Wenn ich solch ein liebes, edles Tier sehe, so kann ich nicht begreifen, wie gebildete Leute Vergnügen daran finden, es

zu hetzen und zu töten. Solch ein Tier war barmherziger als die Menschen und säugte den schmachtenden Schmerzenreich der heiligen Genoveva. Allerliebst schossen die goldenen Sonnenlichter durch das lichte Tannengrün. Eine natürliche Treppe bildeten die Baumwurzeln. Überall schwellende Moosbänke; denn die Steine sind fußhoch von den schönsten Moosarten wie mit hellgrünen Samtpolstern bewachsen. Liebliche Kühle und träumerisches Quellengemurmel. Hier und da sieht man, wie das Wasser unter den Steinen silberhell hinrieselt und die nackten Baumwurzeln und Fasern bespült. Wenn man sich nach diesem Treiben hinabbeugt, so belauscht man gleich­ sam die geheime Bildungsgeschichte der Pflanzen und das ruhige Herzklopfen des Berges. An manchen Orten sprudelt das Wasser aus den Steinen und Wurzeln stärker hervor und bildet kleine Kaskaden. Da läßt sich gut sitzen. Es murmelt und rauscht so wunderbar, die Vögel singen ab­ gebrochene Sehnsuchtslaute, die Bäume flüstern wie mit tausend Mädchenzungen, wie mit tausend Mädchenaugen, schauen uns an die seltsamen Bergblumen, sie strecken nach uns aus die wundersam breiten, drollig gezackten Blätter, spielend flimmern hin und her die lustigen Sonnenstrahlen, die sinnigen Kräutlein erzählen sich grüne Märchen, es ist alles wie verzaubert, es wird immer heimlicher und heim­ licher, ein uralter Traum wird lebendig, die Geliebte erscheint — ach, daß sie so schnell wieder verschwindet! Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghafter werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammenzuschrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rotbeersträuche und Bergkräuter übrig bleiben. Da wird es auch schon fühlbar kälter. Die wunderlichen Gruppen der Granitblöcke werden hier erst recht sichtbar; diese sind oft von erstaunlicher Größe. Das mögen wohl die Spiel­ bälle sein, die sich die bösen Geister einander zuwerfen in der Walpurgisnacht, wenn hier die Hexen auf Besenstielen und Mistgabeln einhergeritten kommen und die abenteuer-

lich verruchte Lust beginnt, wie die glaubhafte Amme es erzählt. In der Tat, wenn man die obere Hälfte des Brockens besteigt, kann man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocksberggeschichten zu denken und besonders an die große mystische deutsche Nativnaltragödie vom Doktor Faust. Mir war immer, als ob der Pferdefuß neben mir -inaufklettere und jemand humoristisch Atem schöpfe. Und ich glaube, auch Mephisto muß mit Mühe Atem holen, wenn er seinen Lieblingsberg ersteigt; es ist ein äußerst erschöpfender Weg, und ich war froh, als ich endlich das langersehnte Brocken­ haus zu Gesicht bekam.

2. Abstieg ins Jlsetal. Nun machten auch die Studenten Anstalt zum Abreisen, die Ranzen wurden geschnürt, die Rechnungen, die über alle Erwartung billig ausfielen, berichtigt; und so stiegen wir alle den Berg hinab, indem die einen den Weg nach Schierke einschlugen und die andern, ungefähr zwanzig Mann, wo­ bei auch meine Landsleute und ich, angeführt von einem Wegweiser, durch die sogenannten Schneelöcher hinabzogen nach Ilsenburg. Das ging über Hals und Kopf. Hallesche Studenten marschieren schneller, als die österreichische Landwehr. Ehe ich mich dessen versah, war die kahle Partie des Berges mit den darauf zerstreuten Steingruppen schon hinter uns, und wir kamen durch einen Tannenwald, wie ich ihn den Tag vorher gesehen. Die Sonne goß schon ihre festlichsten Strahlen herab und beleuchtete die buntgekleideten Burschen, die so munter durch das Dickicht drangen, hier verschwanden, dort wieder zum Vorschein kamen, bei Sumpfstellen über die quergelegten Baumstämme liefen, bei abschüssigen Tiefen an den rankenden Wurzeln kletterten, in den ergötzlichsten Tonarten emporjohlten und ebenso lustige Antwort zurückerhielten von den zwitschernden Waldvögeln, von den rauschenden Tannen, von den unsichtbar plätschernden

Quellen und von dem schallenden Echo. Wenn frohe Jugend und schöne Natur zusammenkommen, so freuen sie sich wechselseitig. Je tiefer wir hinabstiegen, desto lieblicher rauschte das unterirdische Gewässer, nur hier und da, unter Gestein und Gestrüppe, blinkte es hervor und schien heimlich zu lauschen, ob cs ans Licht treten dürfe, und endlich kam eine kleine Welle entschlossen hervorgesprungen. Nun zeigt sich die ge­ wöhnliche Erscheinung; ein Kühner macht den Anfang, und der große Troß der Zagenden wird plötzlich zu seinem eigenen Erstaunen von Mut ergriffen und eilt, sich mit jenem ersten zu vereinigen. Eine Menge anderer Quellen hüpften jetzt hastig aus ihrem Versteck, verbanden sich mit der zuerst hervorgesprungenen, und bald bildeten sie zusammen ein schon bedeutendes Bächlein, das in unzähligen Wasserfällen und in wunderlichen Windungen das Bergtal hinabrauscht. Das ist nun die Ilse, die liebliche, süße Ilse. Sie zieht sich durch das gesegnete Jlsetal, an dessen beiden Seiten sich die Berge allmählich höher erheben, und diese sind bis zu ihrem Fuße meistens mit Buchen, Eichen und gewöhnlichem Blattge­ sträuche bewachsen, nicht mehr mit Tannen und anderm Nadelholz. Denn jene Blätterholzart wird vorherrschend auf dem Unterharze, wie man die Ostseite des Brockens nennt, im Gegensatz zur Westseite desselben, die der Oberharz heißt und wirklich viel höher ist und also auch viel geeigneter zum Gedeihen der Nadelhölzer. Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivetät und Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuer­ lich gebildeten Felsstücke, die sie in ihrem Laufe findet, so daß das Wasser hier wild emporzischt oder schäumend über­ läuft, dort aus allerlei Steinspatten, wie aus tollen Gieß­ kannen, in reinen Bögen sich ergießt und unten wieder über die kleinen Steine hintrippelt, wie ein munteres Mädchen. Ja, die Sage ist wahr, die Ilse ist eine Prinzessin, die lachend und blühend den Berg hinabläuft. Wie blinkt im Sonnenschein ihr weißes Schaumgewand! Wie flattern im

Wind ihre silbernen Busenbänder! Wie funkeln und blitzen ihre Diamanten! Die hohen Buchen stehen dabei gleich ernsten Vätern, die verstohlen lächelnd dem Mutwillen des lieblichen Kindes zusehen; die meisten Birken bewegen sich tantenhaft vergnügt und doch zugleich ängstlich über die gewagten Sprünge; der stolze Eichbaum schaut darein wie ein verdrießlicher Oheim, der das schöne Wetter bezahlen soll; die Bögelein in den Lüften jubeln ihren Beifall, die Blumen am Ufer flüstern zärtlich: „O, nimm uns mit, nimm uns mit, lieb Schwesterchen!" — aber das lustige Mädchen springt unaufhaltsam weiter, und plötzlich ergreift sie den träumenden Dichter, und es strömt auf mich herab ein Blumenregen von klingenden Strahlen und strahlenden Klängen, und die Sinne vergehen mir vor lauter Herrlichkeit, und ich höre nur noch die flötensüste Stimme: „Ich bin die Prinzessin Ilse Und wohne im Jlsenstein; Komm mit nach meinem Schlosse, Wir wollen selig sein!

Dein Haupt will ich benetzen Mit meiner klaren Well, Du sollst deine Schmerzen pergessen. Du sorgenkranker Gesell!"

233. Deutsche Volkslieder und Nibelungenlied. I. Herr Klemens Brentano mag wohl jetzt 50 Jahre alt sein, und er lebt zu Frankfurt, einsiedlerisch zurück­ gezogen. Sein Name ist in der letzten Zeit fast verschollen, und nur wenn die Rede von den Volksliedern, die er mit seinem verstorbenen Freunde Achim von Arnim heraus­ gegeben, wird er noch zuweilen genannt. Er hat nämlich in Gemeinschaft mit letzterem, unter dem Titel: „Des Knaben Wunderhorn", eine Sammlung Lieder herausge­ geben, die sie teils noch im Munde des Volks, teils auch in fliegenden Blättern und seltenen Druckschriften gefunden

haben. Dieses Buch kann ich nicht genug rühmen; es ent­ hält die holdseligsten Blüten des deutschen Geistes, und wer das deutsche Volk von einer liebenswürdigen Seite kennen lernen will, der lese diese Volkslieder. In diesen» Augenblick liegt dieses Buch vor mir, und es ist mir, als röche ich den Duft der deutschen Linden. Die Linde spielt nämlich eine Hauptrolle in diesen Liedern, in ihrem Schatten kosen des Wends die Liebenden, sie ist ihr Lieb­ lingsbaum, und vielleicht aus dem Grunde, weil das Lin­ denblatt die Form eines Menschenherzens zeigt. Diese Be­ merkung macht« einst ein deutscher Dichter, der mir am liebsten ist, nämlich ich. Auf dem Titelblatte jenes Buches ist ein Knabe, der das Horn bläst; und wenn ein Deutscher in der Fremde dieses Bild lange betrachtet, glaubt er die wohlbekanntesten Töne zu vernehmen, und es könnte ihn wohl dabei das Heimweh beschleichen, wie den Schweizer Landsknecht, der auf der Straßburger Bastei Schildwache stand, fern den Kuhreigen hörte, die Pike von sich warf, über den Rhein schwamm, aber bald wieder eingefangeit und als Deserteur erschossen wurde. „Des Knaben Wun­ derhorn" enthält darüber das rührende Lied: Au Straßburg auf der Schanz Da ging meiii Trauern an; Da- Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen, Ins Vaterland mußt ich hinüber schwimmen, Da- ging nicht an.

Eine Stunde in der Rächt Sie haben mich gebracht; Sie führten mich gleich vor des Hauptmanns Hau-, Ach Gott, sie fischten mich im Strome auf, Mit mir ist's auS. Früh morgen» um zehn Uh« Stellt man mich vor da» Regiment; Ich soll da bitten um Pardon, Und ich bekomm doch meinen Lohm, Das weiß ich schon.

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Heine. Ihr Brüder allzumal, Heut ieht ihr mich zum letztenmal; Der Hirtenbub ist doch nur schuld daran, DaS Alphom hat mir solche» angetan, Da» Lag ich an.

Welch ein schönes Gedicht! Es liegt in diesen Volks­ liedern ein sonderbarer Zauber. Die Kunstpoeten wollen diese Naturerzeugnisse nachahmen, in derselben Weise, wie man künstliche Mineralwässer verfertigt. Wer wenn sie auch durch chemischen Prozeß die Bestandteile ermittelt, so entgeht ihnen doch die Hauptsache, die unersetzbare synrpathetische Naturkraft. In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volkes. Hier offenbart sich all seine düstere Heiterkeit, all seine närrische Vernunft. Hier

trommelt bet deutsche Zorn, hier pfeift der deutsche Spott, hier küßt die deutsche Liebe. Hier perlt der echt deutsche Wein und die echt deutsche Träne. Letztere ist manchmal doch noch köstlicher als ersterer; es ist viel Eisen und Salz darin. Welche Naivetät in der Treue! In der Untreue, welche Ehrlichkeit! Welch ein ehrlicher Kerl ist der arme Schwartenhals, obgleich er Straßenraub treibt! Hört ein­ mal die phlegmatisch rührende Geschichte, die er von sich selber erzählt: Ich tarn vor einer Frau Wirtin Hau», Man fragt mich, wer ich wäre: „Ich bin ein armer Schwartenhals, Ich «ß und trink so gerne." Man führt mich in die Stuben ein, Da bot man mir zu trinken, Die Augen, ließ ich umher gehn, Den Becher ließ ich sinken. Man fetzt' mich oben an den Tisch, Als ich ein'Kaufmann wäre, Und als e» an ein Zahlen ging. Mein Säckel stand mir leere.

Da ich des Nachts wollt schlafen gähn. Man wies mich in die Scheuer,

Da ward mir armen Schwartenhals Mein Lachen viel -u teuer. Und da ich in die Scheuer kam, Da hub ich an zu nisteln, Da stachen mich die Hagendorn, Dazu die rauhen Disteln.

Da ich zu Morgens früh aufstand, Der Reif lag auf dem Dache, Da mußt ich armer Schwartenhals Meins Unglücks selber lachen.

Ich nahm mein Schwert wohl in die Hand Und gürt eS an die Seiten; Ich armer mußt zu Fuße gehn, Weil ich nicht hatt zu reiten. Ich hob mich auf Und macht mich auf Mr kam ein reicher Sein Tasch mußt er

und ging davon die Straßen, Kaufmann-sohn, mir lassen.

Dieser arme Schwartenhals ist ter, den ich kenne. Welche Ruhe, herrscht in diesem Gedichte! Aber Mondschein, Mondschein und die ganze Seele übergießend,

der deutscheste Charak­ welche bewußte Kraft

die Hülle und Fülle strahlt in dem Liede:

Wenn ich ein Vöglein wär Und auch zwei Flüglein hätt,

Flög ich zu dir; Weills aber nicht kann sein, Bleib ich allhier.

Bin ich gleich weit von dir, Bin ich doch im Schlaf bei dir Und red mit dir; Wenn ich erwachen tu, Bin ich allein. Es vergeht kein Stund in der Nacht, Da mein Herze nicht erwacht Und an dich gedenkt: Daß du mir viel tausendmal Dein Herz geschenkt.

Fragt man nun entzückt nach dem Verfasser solcher Lieder, so antworten diese wohl selbst mit ihren Schluß­ worten: Wer hat das schöne Liebel erdacht? Es haben's drei Gäns übers Wasser gebrächt, Zwei graue und eine weiße.

Gewöhnlich ist es aber wanderndes Volk, Vagabun­ den, Soldaten, fahrende Schüler oder Handwerksburschen, die solch ein Lied gedichtet. Es sind besonders die Hand­ werksburschen. Gar oft auf meinen Fußreisen verkehrte ich mit diesen Leuten und bemerkte, wie sie zuweilen, an­ geregt von irgend einem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volkslied improvisierten oder in die freie Luft hinein­ pfiffen. Das erlauschten nun die Vögelein, die auf den Baumzweigen saßen; und kam nachher ein anderer Bursch mit Ränzel und Wanderstab vorbeigeschlendert, dann pfiffen sie ihm jenes Stücklein ins Ohr, und er sang die fehlenden Verse hinzu, und das Lied war fertig. Die Worte fallen solchem Burschen vom Himmel herab auf die Lippen, und er braucht sie nur auszusprechen, und sie sind dann noch poetischer als all die schönen poetischeir Phrasen, die wir aus der Tiefe unseres Herzens hervor­ grübeln. Der Charakter jener deutschen Handwerksburschen lebt und webt in dergleichen Volksliedern. Es ist eine merkwürdige Menschensorte. Ohne Sous in der Tasche, wandern diese Handwerksburschen durch ganz Deutschland, harmlos, fröhlich und frei. Gewöhnlich fand ich, daß drei zusammen auf solche Wanderschaft ausgingen. Bon diesen dreien war der eine immer der Räsonneur; er räsonnierte mit humoristischer Laune über alles, was vorkam, über joden bunten Bogel, der in der Luft flog, über jeden Musterreiter, der vorüberritt, und kamen sie gar in eine schlechte Gegend, wo ärmliche Hütten und zerlumptes Bettelvolk, dann bemerkte er auch wohl ironisch: Der liebe Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, aber seht ein­ mal, es ist auch eine Arbeit darnach ! Der zweite Weg-

geselle bricht nur zuweilen mit einigen wütenden Bemer­ kungen hinein; er kann kein Wort sagen, ohne dabei zu fluchen; er schimpft grimmig auf alle Meister, bei denen er gearbeitet; und sein beständiger Refrain ist, wie sehr er es bereue, daß er der Frau Wirtin in Halberstadt, die ihm täglich Kohl und Wasserrüben vorgesetzt, nicht eine Tracht Schläge zum Andenken zurückließ. Bei dem Wort „Halberstadt" seufzt aber der dritte Bursche aus tiefster Brust, er ist der Jüngste, macht zum erstenmal seine Aus­ fahrt in die Welt, denkt noch immer an Feinsliebchens schwarzbraune Augen, läßt immer den Kopf hängen und spricht nie ein Wort. II.

„Des Knaben Wunderhorn" ist ein zu merkwürdiges Denkmal unserer Literatur und hat auf die Lyriker der romantischen Schule, namentlich aus unseren vortrefflichen Herrn Uhland, einen zu bedeutenden Einfluß geübt, als daß ich es unbesprochen lassen durfte. Dieses Buch und das Nibelungenlied spielten eine Hauptrolle in jener Periode. Auch von letzterem muß hier eine besondere Ertvähnung geschehen. Es war lange Zeit von nichts an­ derem als vom Nibelungenlied bei uns die Rede, und die klassischen Philologen wurden nicht wenig geärgert, wenn man dieses Epos mit der Ilias verglich, oder wenn man gar darüber stritt, welches von beiden Gedichten das vorzüglichere sei. Und das Publikum sah dabei aus wie ein Knabe, den man ernsthaft fragt: Hast du lieber ein Pferd oder einen Pfefferkuchen? Jedenfalls ist aber dieses Nibelungenlied von großer gewaltiger Kraft. Ein Fran­ zose kann sich schwerlich einen Begriff davon machen. Und gar von der Sprache, worin es gedichtet ist. Es ist eine Sprache von Stein, und die Verse sind gleichsam ge­ reimte Quadern. Hie und da aus den Spalten quellen rote Blumen hervor, wie Blutstropfen, oder zieht sich der lange Efeu herunter, wie grüne Tränen. Von den Riesenleiden-

schäften, die sich in diesem Gedichte bewegen, könnt ihr kleinen artigen Leutchen euch noch viel weniger einen Be­ griff machen. Denkt euch, es wäre eine helle Sommer­ nacht, die Sterne, bleich wie Silber, aber groß wie Sonnen, träten hervor am blauen Himmel, und alle gotischen Dome von Europa hätten sich ein Rendezvous gegeben auf einer ungeheuer weiten Ebene, und da kämen nun ruhig herangeschritten der Straßburger Münster, der Glockenturm von Florenz, die Kathedrale von Rouen usw., und diese mach­ ten der schönen Notre-Dame-de-Paris ganz artig die Cour. Es ist wahr, daß ihr Gang ein bißchen unbeholfen ist, daß einige darunter sich sehr linkisch benehmen, und daß man über ihr verliebtes Wackeln manchmal lachen könnte. Mer dieses Lachen hätte doch ein Ende, sobald man sähe, wie sie in Wut geraten, wie sie sich untereinander würgen, wie Notre-Dame-de-Paris verzweiflungsvoll ihre beiden Steinarme gen Himmel erhebt und plötzlich ein Schwert ergreift und dem größten aller Dome das Haupt vom Rumpfe herunterschlägt. Aber nein, ihr könnt euch auch dann von den Hauptpersonen des Nibelungenlieds keinen Begriff machen; kein Turm ist so hoch, und kein Stein ist so hart wie der grimme Hagen und die rachgierige Chriemhilde. Wer hat aber dieses Lied verfaßt? Ebensowenig wie von den Volksliedern weiß man den Namen des Dich­ ters, der das Nibelungenlied geschrieben. Sonderbar! von den vortrefflichsten Büchern, Gedichten, Bauwerken und sonstigen Denkmälern der Kunst weiß man selten den Ur­ heber. Wie hieß der Baumeister, der den Kölner Dom erdacht? Wer hat dort das Altarbild gemalt, worauf die schöne Gottesmutter und die heiligen drei Könige so er­ quicklich abkonterfeit sind? Wer hat das Buch Hiob ge­ dichtet, das so viele leidende Menschengeschlechter getröstet hat? Die Menschen vergessen nur zu leicht die Namen ihrer Wohltäter; die Namen des Guten und Edlen, der für das Heil seiner Mitbürger gesorgt, finden wir selten im Munde der Völker, und ihr dickes Gedächtnis bewahrt

nur die Namen ihrer Dränger und grausamen Kriegs­ helden. Der Baum der Menschheit vergißt des stillen Gärt­ ners, der ihn gepflegt in der Kälte, getränkt in der Diirre und vor schädlichen Tieren geschützt hat; aber er bewahrt treulich die Namen, die man ihm in seine Rinde unbarm­ herzig eingeschnitten mit scharfem Stahl, und er über­ liefert sie in immer wachsender Größe den spätesten Ge­ schlechtern.

Alexander von Humboldt. A«S den Ansichten der Natm. 234. Tierleben in de« Steppen Südamerikas. Wenn unter dem senkrechten Strahl der nie bewölkten Sonne die verkohlte Grasdecke in Staub zerfallen ist, klafft der erhärtete Boden auf, als wäre er von mächtigen Erd­ stößen erschüttert. Berühren ihn dann entgegengesetzte Lust­ ströme, deren Streit sich in kreisender Bewegung ausgleicht, so gewährt die Ebene einen seltsamen Anblick. Als trichter­ förmige Wolken, die mit ihren Spitzen an der Erde hin­ gleiten, steigt der Sand dampfartig durch die luftdünne Mitte des Wirbels empor — gleich den rauschenden Wasser­ hosen, die der erfahrene Schiffer fürchtet. Ein trübes, stroh­ farbiges Halblicht wirft die nun scheinbar niedrigere Him­ melsdecke auf die verödete Flur. Der Horizont tritt plötz­ lich näher. Er verengt die Steppe, wie das Gemüt des Wanderers. Tie heiße, staubige Erde, die im nebelartig verschleierten Dunstkreise schwebt, vermehrt die erstickende Luftwärme. Statt Kühlung führt der Ostwind neue Glut herbei, wenn er über den langerhitzten Boden hinweht. Auch verschwinden allmählich die Lachen, welche die gelbgebleichte Fächerpalme vor der Verdünstung schützte. Wie im eisigen Norden die Tiere durch Kälte erstarren, so schlummert hier unbeweglich das Krokodil und die Boa-

schlänge, tief vergraben im trocknen Letten. Überall ver­ kündigt Dürre den Tod, und überall verfolgt den Dürsten­ den, im Spiele des gebogenen Lichtstrahls, das Trugbild des wellenschlagenden Wasserspiegels. In dichte Staub­ wolken gehüllt und von Hunger und brennendem Durste geängstigt, schweifen die Pferde und Rinder umher, diese dumpfaufbrüllend, jene mit langgestrecktem Halse gegen den Wind anschnaubend, um durch die Feuchtigkeit des Luftstroms die Nähe einer nicht ganz verdampften Lache zu erraten. Bedächtiger und verschlagener suchen die Maultiere auf andere Art ihren Durst zu lindern. Eine kugelförmige und dabei vielrippige Pflanze, der Melonenkaktus, verschlietzt unter seiner stachligen Hülle ein wasserreiches Mark. Mit dem Borderfuße schlägt das Maultier die Stacheln seitwärts und wagt es dann erst, die Lippen behutsam zu nähern und den kühlen Distelsaft zu trinken. Aber das Schöpfen aus dieser lebendigen vegetabilischen Quelle ist nicht immer gefahrlos; denn oft sieht man Tiere, welche von Kaktus­ stacheln am Hufe gelähmt sind. Folgt auf die brennende Hitze des Tages die Kühlung der gleichlangen Nacht, so können Rinder und Pferde selbst dann nicht der Ruhe sich erfreuen. Ungeheure Fledermäuse saugen ihnen während des Schlafes vampirartig das Blut aus oder hängen sich an dem Rücken fest, wo sie eiternde Wunden erregen, in welche Moskitos und eine Schar stechen­ der Insekten sich ansiedeln. So führen die Tiere ein schmerzvolles Leben, wenn vor der Glut der Sonne das Wasser auf dem Erdboden verschwindet. Tritt endlich nach langer Dürre die wohltätige Regen­ zeit ein, so verändert sich plötzlich die Szene in der Steppe. Das tiefe Blau des bis dahin nie bewölkten Himmels wird lichter. Kaum erkennt man bei Nacht den schwärzen Raum im Sternbild des südlichen Kreuzes. Wie ein entlegenes Gebirge erscheint einzelnes Gewölk im Süden. Nebelartig breiten die Dünste sich über den Zenith aus. Den beleben­ den Regen verkündigt der ferne Donner.

Kaum ist die Oberfläche der Erde benetzt, so überzieht sich die duftende Steppe mit mannigfaltigen Gräsern. Vom Lichte gereizt, entfalten krautartige Mimosen die schlum­ mernden Blätter und begrüßen die ausgehende Sonne, wie der Frühgesang der Vögel und die sich öffnenden Blätter der Wasserpflanzen. Pferde und Rinder weiden nun im frohen Genuß des Lebens. Im hochaufschießenden Grase versteckt sich der schöngefleckte Jaguar und erhascht die vorüberziehenden Tiere im leichten Sprunge, katzenartig, wie der asiatische Tiger. Bisweilen sieht man — so erzählen die Eingeborenen — an den Ufern der Sümpfe den befeuchteten Letten sich langsam und schollenweise erheben. Mit heftigem Getöse, wie beim Ausbruche kleiner Schlammvulkane, wird die auf­ gewühlte Erde hoch in die Luft geschleudert. Wer des An­ blicks kundig ist, flieht die Erscheinung; denn eine riesen­ hafte Wasserschlange oder ein gepanzertes Krokodil steigen aus der Gruft hervor, durch den ersten Regenguß aus dem Scheintode erwecket. Schwellen nun allmählich die Flüsse, welche die Ebene südlich begrenzen, der Arauca, der Apure und der Payara, so zwingt die Natur dieselben Tiere, welche in der ersten Jahreshälfte auf dem wasserleeren, staubigen Boden vor Durst verschmachteten, als Amphibien zu leben. Ein Teil der Steppe erscheint nun wie ein unermeßliches Binnen­ wasser. Tie Mutterpferde ziehen sich mit den Füllen auf die höheren Bänke zurück, welche inselförmig über dem Seespiegel hervorragen. Mit jedem Tage verengt sich der trockene Raum. Aus Mangel an Weide schwimmen die zusammengedrängten Tiere stundenlang umher und nähren sich kärglich von der blühenden Grasrispe, die sich über dem braungefärbten, gärenden Wasser erhebt. Viele Füllen ertrinken, viele werden von den Krokodilen erhascht, mit dem zackigen Schwänze zerschmettert und verschlungen. Nicht selten bemerkt man Pferde und Rinder, die, dem Rachen dieser blutgierigen Eidechsen entschlüpft, die Spur des spitzi­ gen Zahnes am Schenkel tragen.

Wo der seichte Strom eine Sandbank übrig läßt, da liegen mit offenem. Rachen, unbeweglich wie Felsstücke hingestreckt, oft mit Bögeln bedeckt, die ungeschlachten Körper der Kwkodile. Den Schwanz um einen Baumast befestigt, zusammengerollt, lauert am Ufer, ihrer Beute gewiß, die tigerfleckige Bvaschlange. Schnell vorgestreckt, ergreift sie in der Furt den jungen Stier oder das schwächere Wild­ bret und zwängt den Raub, in Geifer gehüllt, mühsam durch den schwellenden Hals.

Wenn aber in der Steppe Tiger und Krokodile mit Pferden und Rindern kämpfen, so sehen wir dagegen an ihrem waldigen Ufer, in den Wildnissen der Guyana, ewig den Menschen gegen den Menschen gerüstet. Mit unnatür­ licher Begier trinken hier ganze Völkerstämme das aus­ gesogene Blut ihres Feindes; andere würgen ihn, scheinbar waffenlos, und doch zum Morde vorbereitet, mit vergiftetem Daumennagel. Die schwächern Horden, wenn sie das sandige Ufer betreten, vertilgen sorgsam mit den Händen die Spur ihrer schüchternen Tritte. So bereitet der Mensch auf der untersten Stufe tierischer Roheit, so im Scheinglanze seiner höheren Bildung sich stets ein mühevolles Leben. So verfolgt den Wanderer über den weiten Erdkreis, über Meer und Land, wie den Geschichtsforscher durch alle Jahrhunderte das einförmige, trostlose Bild des entzweiten Geschlechts. Darum versenkt, wer im ungeschlichteten Zwist der Völker nach geistiger Ruhe strebt, gern den Blick in das stille Leben der Pflanzen und in der heiligen Naturkraft inneres Wirken: oder hingegeben dem angestammten Triebe, der seit Jahrtausenden der Menschen Brust durchglüht, blickt er ahnungsvoll aufwärts zu den hohen Gestirnen, welche in ungestörtem Einklang die alte, ewige Bahn vollenden.

235 Die Gruft eines vertilgten Bölkerftammes. Am

südlichen

Eingänge des Randals von Atures^),

am rechten Ufer des Flusses, liegt die unter den Indianern weit berufene Höhle von Ataruipe. Tie Gegend umher hat einen großen und ernsten Naturcharakter, der sie gleich­ sam zu einem Nationalbegräbnisse eignet. Man erklimmt mühsam, selbst nicht ohne Gefahr herabzurollen, eine steile, völlig nackte Granitwand. Es würde kaum möglich sein, auf der glatten Fläche festen Fuß zu fassen, träten nicht große Feldspatkristalle, der Verwitterung trotzend, zolllang aus denr Gesteine hervor. Kaum ist die Kuppe erreicht, so wird man durch eine weite Aussicht über die umliegende Gegend überrascht. Aus dem schäumenden Flußbette erheben sich mit Wald ge­ schmückte Hügel. Jenseit des Stromes, über das westliche Ufer hinweg, ruht der Blick auf der unermeßlichen Grasflur. Am Horizont erscheint, wie drohend aufziehendes Ge­ wölk, das Gebirge. So die Ferne; aber nahe umher ist alles öde und eng. Im tiefgefurchten Tale schweben einsam der Geier und die krächzenden Caprimulge (Ziegenmelker). An der nackten Felswand schleicht ihr schwindender Schatten hin. Tiefer Kessel ist von Bergen begrenzt, deren abge­ rundete Gipfel ungeheure Granitkugeln tragen. Ter Durch­ messer dieser Kugeln beträgt 40 bis 50 Fuß. Sie scheinen die Unterlage nur in einem einzigen Punkte zu berühren, eben als müßten sie bei dem schwächsten Erdstoße herabrollen. Ter hintere Teil des Felstals ist mit dichtem Laubholze bedeckt. An diesem schattigen Orte öffnet sich die Höhle von Ataruipe; eigentlich nicht eine Höhle, sondern

x) Der Raudal, so nennen die Spanier diese Art von Wasser­ fällen, wird durch einen Archipelagus von Inseln und Klippen ge­ bildet, welche das 8000 Fuß weite Flußbett des Orinoko dermaßen verengen, daß oft kaum ein 20 Fuß breites freies Fahrwasser übrig bleibt (Anmerkung des Verfassers). Hessrl und Ufer, L-feduch k.

M. 22

ein Gewölbe, eine weit überhängende Klippe, eine Bucht, welche die Wasser, als sie einst diese Höhe erreichten, aus­ gewaschen haben. Dieser Ort ist die Gruft eines vertilgten Bölkerstammes. Wir zählten ohngefähr 600 wohlerhaltene Skelette, in ebenso vielen Körben, welche von den Stielen des Palmenlaubes geflochten sind. Diese Körbe, die die Indianer Mapires nennen, bilden eine Art viereckige Säcke, die nach dem Alter des Verstorbenen von verschiedener Größe sind. Ihre Skelette sind so vollständig, daß keine Rippe fehlt. Neben den Mapires oder Körben findet man auch Urnen von halbgebranntem Tone, welche die Knochen von ganzen Familien zu enthalten scheinen. Die größern dieser Urnen sind 3 Fuß hoch und öl/3 Fuß lang, von angenehmer ovaler Form, grünlich, mit Henkeln in Gestalt von Krokodilen und Schlangen, an dem obern Rande mit Mäandern und Labyrinthen geschmückt. Diese Verzierungen sind ganz denen ähnlich, welche die Wände des mexikanischen Palastes bei Mitla bedecken. Man findet sie unter allen Zonen, auf den verschiedensten Stufen menschlicher Kultur; unter Griechen und Römern, wie auf den Schilder der Odrhaiter; überall, wo rhythmische Wiederholung regelmäßiger Formen dem Auge schmeichelte. Die Ursachen dieser Ähnlichkeiten beruhen mehr auf psychischen Gründen, auf der inneren Natur unserer Geistesanlagen, als sie Gleich­ heit der Abstammung und alten Verkehr der Völker beweisen. Unsere Dolmetscher konnten keine sichere Auskunft über das Alter dieser Gefäße geben. Die mehrsten Skelette schienen indes nicht über hundert Jahre alt zu sein. Es geht die Sage unter den Guareken-Jndianern, die tapferen Aturer haben sich, von menschenfressenden Kariben bedrängt, auf die Klippen der Katarakten gerettet; ein trauriger Wohnsitz, in welchem der bedrängte Völkerstamm und mit ihm seine Sprache unterging. In dem unzugänglichen Teile des Rau­ dals befinden sich ähnliche Grüfte; ja, es ist wahrscheinlich, daß die letzte Familie der Aturer erst später ausgestorben sei.

Denn in Maypures (ein sonderbares Faktum) lebt noch ein

alter Papagei, von dem die Eingeborenen behaupten, daß man ihn darum nicht verstehe, weil er die Sprache der Aturer rede. Wir verließen die Höhle bei einbrechender Nacht, nach­ dem wir mehrere Schädel und das vollständige Skelett eines bejahrten Mannes, zum größten Ärgernis unserer india­ nischen Führer, gesammelt hatten. Das Skelett ist, wie ein großer Teil unserer Sammlungen, in einem Schiffbruch untergegangen, der an der afrikanischen Küste unserm Freunde und ehemaligen Reisegefährten, dem jungen Franziskanermönch Juan Gonzalez, das Leben kostete. In ernster Stimmung entfernten wir uns von der Gruft eines untergegangenen Völkerstammes. Es war eine der heitern und kühlen Nächte, die unter den Wendekreisen so gewöhnlich sind. Mit farbigen Ringen umgeben, stand die Mondscheibe hoch im Zenith. Sie erleuchtete den Saum des Nebels, der in scharfen Umrissen, wolkenartig, den schäu­ menden Fluß bedeckte. Zahllose Insekten gossen ihr röt­ liches Phosphorlicht über die krautbedeckte Erde. Bon leben­ digem Feuer glühte der Boden, als habe die sternenvolle Himmelsdecke sich auf die Grasflur niedergesenkt. Rankende Bignonien, duftende Vanille und gelbblühende Banisterien schmückten den Eingang der Höhle, über dem Grabe rauschen die Gipfel der Palmen. So sterben dahin die Geschlechter der Menschen. Es verhallt die rühmliche Kunde der Völker. Doch wenn jede Blüte des Geistes welkt, wenn im Sturm der Zeiten die Werke schaffender Kunst zerstieben, so entsprießt ewig neues Leben aus dem Schoße der Erde. Rastlos entfaltet ihre Knospen die zeugende Natur — unbekümmert, ob der fre­ velnde Mensch, ein nie versöhntes Geschlecht, die reifende Frucht zertritt.

Karl Lebrecht Jmmermann. 236. Der Hofschulze. Im Hofe zwischen den Scheuren uni Wirtschafts­ gebäuden stand mit aufgekrempten Hemdärmeln der alte Hofschulze und schaute achtsam in ein Feuer, welches, zwischen Steinen und Kloben am Boden entzündet, lustig flackerte. Er rückte einen kleinen Amboß, der daneben stand, zurecht, legte sich Hammer und Zange zum Griffe bereit, prüfte die Spitzen einiger großen Radnägel, die er aus dem Brust­ stücke des vorgebundenen Schurzfelles zog, legte die Nägel auf das Bodenbrett des Leiterwagens, dessen Rad er aus­ bessern wollte, und drehte die Stelle des Rades, von welcher ein Stück Schiene abgebrochen war, achtsam nach oben, worauf er durch untergeschobene Steine das Rad in seiner Stellung festigte. Nachdem er wieder ein paar Augenblicke in das Feuergesehen hatte, ohne daß seine hellen und scharfen Augen davon zu blinzeln begannen, fuhr er rasch mit der Zange hinein, hob das rotglühende Stück Eisen heraus, legte es auf den Amboß, schwang den Hammer darüber, daß die Funken sprühten, schlug das noch immer glutrötliche um das Rad, da wo die Schiene fehlte, schlug und schweißte es mit zwei gewaltigen Schlägen fest und trieb dann die Nägel, welche es in seiner weichen Dehnbarkeit noch immer leicht hindurchließ, an ihre Plätze. Einige der stärksten und heftigsten Schläge gaben dem eingefügten Stücke das letzte Geschick. Der Schulze stieß mit dem Fuße die vor das Rad gelegten Steine hinweg, faßte den Wagen bei der Stange, um das geflickte Rad zu prüfen, und zog ihn ungeachtet seiner Schwere ohne Anstrengung quer über den Hof, so daß die Hühner, Gänse und Enten, welche sich ruhig gesonnt hatten, mit großem Geschrei vor dem rasselnden Wagen entflohen und ein Paar Schweine aus ihrem eingewühlten Lager grunzend auffuhren. Zwei Männer, von denen der eine ein Pferdehändler,

der andere ein Rendant oder Rezeptor war, hatten, unter der großen Linde am Tische vor dem Wohnhause sitzend und ihren Trunk verzehrend, der Arbeit des alten, rüstigen Mannes zugesehen. „Das muß wahr sein," rief jetzt der eine, der Pferdehändler, „Ihr hättet einen tüchtigen Schmied abgegeben, Hofschulze!" Der Hofschulze wusch in einem Stalleimer voll Wasser, welcher neben dem kleinen Amboße stand, sich Hände und Gesicht, goß dann das Feuer aus und sagte: „Ein Narr, der dem Schmied gibt, was er selbst verdienen kann." Er nahm den Amboß, als sei er eine Feder, auf und trug ihn nebst Hammer und Zange unter einen kleinen Schoppen zwischen Wohnhaus und Scheuer, in welchem Hobelbank, Säge, Stemmeisen und was sonst zu Zimmer- und Schreinergewerk gehört, bei Holz und Brettern mancher Art stand, lag oder hing. Indem der Alte sich unter dem Schoppen noch zu schaffen machte, sagte der Pferdehändler zu dem Rezeptor: „Wollen Sie glauben, daß er auch alle Pfosten- Türen und Schwellen, die Kisten und Kasten im Hause mit eigener Hand flickt, oder, wenn das Glück gut ist, auch neu zuschneidet? Ich meine, wenn er wollte, könnte er auch einen Kunst­ schreiner vorstellen und würde einen richtigen Schrank zu Wege bringen." „Da seid Ihr im Irrtum," sprach der Hofschulze, der das letzte gehört hatte und, das Schurzfell jetzt abgetan, im weißleinenen Kittel aus dem Schoppen trat. Er setzte sich zu den beiden Männern an den Tisch, eine Magd brachte ihm auch ein Glas, er tat seinen Gästen Bescheid und fuhr dann fort: „Zu einem Pfosten, zu einer Türe und Schwelle ge­ hören nur ein Paar gesunde Augen und eine firme Faust, aber ein Schreiner braucht mehr. Ich habe mich einmal vom Hochmut verleiten lassen und wollte, wie Ihr es nennt, einen richtigen Schrank zuwege bringen, weil mir Hobel und Meißel und Reißschiene auch bei dem Zimmerwerk durch die Hände gegangen waren. Ich maß und zeichnete und

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Jnrrnennann.

schnitt die Hölzer zu, auf Fuß und Zoll hatte ich alles ab­ gepaßt ; ja, als es nun an das Zusammenfügen und Leimen gehen sollte, war alles verkehrt. Die Wände standen wind­ schief und klafften, die Klappe vorne war zu groß und die Kasten für die Öffnungen zu klein. Ihr könnt das Gemächt noch sehen, ich habe es auf dem Sill stehen lassen, mich vor Versuchung künftig zu wahren, denn es tut dem Menschen immer gut, wenn er eine Erinnerung an seine Schwachheit vor Augen hat."

In diesem Augenblicke ließ sich ein lustiges Wiehern aus dem Pferdestalle gegenüber vernehmen. Der Pferde­ händler räusperte sich, spuckte aus, schlug sich Feuer an, blies dem Rezeptor eine starke Dampfwolke in das Gesicht, sah sehnsüchtig nach dem Stalle und dann gedankenvoll vor sich nieder. Hierauf spuckte er nochmals aus, nahm den lackierten Hut vom Kopfe, strich mit dem Arme über die Stirn und sagte: „Noch immer eine schwüle Witterung." — Dann schnallte er seine lederne Geldkatze vom Leibe, warf sie mit Getöse auf den Tisch, daß der Inhalt klang und klirrte, lösete die Riemen und zählle zwanzig blanke Gold­ stücke hin, bei deren Anblick die Augen des Rezeptors zu funkeln anfingen, und nach denen der alte Hofschulze gar nicht hinsah. „Hier ist das Geld!" rief der Pferdehändler, die Faust geballt auf den Tisch stemmend, „krieg ich die braune Stute dafür? Sie ist, weiß Gott, nicht einen Heller mehr wert." „Dann behaltet Euer Geld, damit Ihr nicht zu Schaden kommt!" versetzte der Hofschulze kaltblütig. „Sechsund­ zwanzig, wie ich gesagt habe, und keinen Stüber darunter. Ihr kennt mich nun die Jahre her, Herr Marx, und solltet daher wissen, daß das Dingen und Feilschen bei mir nicht verschlägt, weil ich nie von meiner Sprache abgehe. Ich begehre, was mir eine Sache wert ist, und tue niemalen Vor­ schlägen, und so könnte ein Posaunenengel vom Himmel dahergefahren Kimmen, er kriegte die Braune nicht unter

sechsundzwanzig."

„Aber, Gotts Sackerlot," schrie der Pferdehändler er­ bost, „aus Fordern und Bieten besteht doch der Handel, und meinen eigenen Bruder überfrage ich, und wenn kein Vor­ schlägen mehr in der Welt ist, so hört alles Geschäft auf!" „Im Gegenteil," erwiderte der Hofschulze, „das Ge­ schäft kostet dann weit weniger Zeit und ist schon um des­ halb profitlicher, aber auch außerdem haben beide Teile von einem Handel ohne Vorschlägen vielen Nutzen. Ich habe es immer erlebt, daß, wenn vorgeschlagen wird, sich die Natur erhitzt und zuletzt niemand mehr recht weiß, was er redet oder tut. Da läßt denn der Verkäufer, um nur dem Gehader ein Ende zu machen, die Ware oft unter dem Preise, den er im stillen bei sich festsetzte, und der Käufer seinerseits in der Begierde und Brunst des Bietens vertut sich eben so oftmals. Ist aber gar keine Rede von Ablassen, dann bleiben beide schön ruhig und wahren sich vor Schaden." „Da Ihr so vernünftig redet, so werdet Ihr meinen Antrag jetzt besser erwogen haben," hob der Rezeptor an. „Wie gesagt, die Regierung will alle Korngefälle der Höfe in hiesiger Gegend in Geld umwandeln. Sie hat allein den Schaden davon, denn Korn bleibt Korn, aber Geld ist heute soviel und morgen soviel wert, indessen ist es nun einmal ihr Wille, um der Last des Aufspeicherns quitt zu werden. Ihr tut mir also den Gefallen und unterschreibt diese neue, auf Geld lautende Urkunde, die ich zu diesem Behufe schon mitgebracht habe." „Durchaus nicht," antwortete der Hofschulze eifrig. „Es ist ein alter Glaube hier zu Lande, daß, wer seinem Hofe eine Last auflegt, dafür zur Strafe nach seinem Tode auf dem Hose umgehen muß. Ich weiß nicht, wie es damit beschaffen ist, aber das weiß ich: vom Oberhofe sind seit vielen hundert Jahren nur Körner an die Gotteszelle ge­ geben worden, und damit wolle sich also das Rentamt be­ gnügen, wie das Stift sich damit begnügt hat. Wächst Geld auf meinem Acker? Nein. Korn wächst darauf. Woher wollen Sie also das Geld nehmen?"

„Ihr sollt ja nicht übervorteilt werden!" rief der Rezeptor. „Es mnß alles beim Alten bleiben," sagte der Hof­ schulze feierlich. „Das war noch eine gute Zeit, als die Tafeln mit den Verzeichnissen der Lasten und Abgaben der Bauerschaft in der Kirche hingen. Dazumalen stand alles fest, und kein Gezänk hat sich nimmer darüber begeben, wie neuer­ dings nur gar zu oft. Hernachher hieß es, die Tafeln mit den Hühnern und Eiern und Maltern und Sümmern schadeten der Andacht, und sie wurden hinweggetan. Im Gegenteil, sie hatten imrner zu Predigt und Gesang gehört, wie Amen und Segen; ich für mein Teil, wenn ich sie ansah, besonders beim dritten Teile oder der Nutzanwendung, hatte die erbaulichsten Gedanken bekommen, zum Exempel: Über­

hebe dich nicht, denn da steht geschrieben, wie viel Zins­ roggen und Schloßhafer du geben mußt, oder auch so: Wenn du draußen Lasten zu tragen hast, hier im Gotteshaus« bist du stet, und was dergleichen mehr war. Nun aber, als man auf die leeren Stellen sah, gingen die Gedanken immer wandern und suchen nach den Tafeln, und es dauerte ge­ raume Zeit, ehe und bevor die Menschheit wieder recht nach dem Pastor hinhörte." Er ging in sein Haus. — „Das ist ein alter Racker I" rief der Pferdehändler, als er seinen Handelsfreund nicht mehr sah, indem er den lackierten Hut verdrießlich wieder auf den Kopf stülpte. „Wenn der nicht will, so bringt ihn der Teufel nicht herum. Das schlimmste ist, daß der Kerl die besten Pferde in der Gegend zieht und sie int Grunde so zu sagen billig genug losschlägt." „Ein starres, widerhaariges Volk hier zu Lande," sagte der Rezeptor. „Ich bin erst vor kurzem aus Sachsen her­ versetzt und merke den Abstand. Dort wohnen die Leute beisammen, und deshalb müssen sie schon höflich und nach­ giebig und betulich mit einander sein. Aber hier sitzt ein jeder auf seinem Kampe, hat sein Holz, sein Feld, seinen Wiesenwachs um sich, als gäbe es sonst nichts in der Welt.

Darum halten sie auch auf ihre alten Schnurren und Faxen so steif, die anderwärts überall abgekommen sind. Was für Mühe habe ich schon mit den andern Bauern wegen der dummen Umschreibereien gehabt, aber dieser hier ist doch der schlimmste."

„Das kommt daher, Herr Rezeptor, weil er so reich ist," bemerkte der Pferdehändler. „Mich wundert, daß Sie es mit den andern in der Bauerschaft ohne ihn durchgesetzt haben, denn der hier ist ihr General und Advokat und alles, sie richten sich in jeglicher Sache nach ihm. Er bückt sich vor keinem. Borm Jahre kam ein Prinz hier durch; wie er den Hut vor dem abnahm, war es wahrhaftig, als wollte er sagen: Du bist der, und ich bin der. Der Mistfink! Für die Stute sechsundzwanzig Pistolen haben zu wollen! Aber das ist das Unglück, wenn der Bauer zuviel Vermögen kriegt. Wenn Sie dort durch das Eichholz hindurch sind, gehen Sie eine geschlagene halbe Glockenstunde durch seine Felder. Und alles bestellt, daß es nur so eine Art hat. Ich bin mit meiner Koppel vorgestern durch den Roggen und Weizen geritten, und Gott strafe mich, wenn was anderes als die Köpfe von den Pferden über die Ähren hinübersahen. Ich dachte, ich würde ersaufen." „Woher hat er's denn?" fragte der Rezeptor. „O!" rief der Pferdehändler, „da liegen hier mehrere solcher Höfe herum, man heißt sie Oberhöfe; wenn die nicht manchen Edelmann ausstechen, so will ich nicht Marx heißen. Das Erdreich ist von uralter Zeit zusammengeblieben. Und sparsam und fleißig ist der Nichtsnutz von jeher gewesen, das muß man ihm lassen. Sie sahen ja, wie er sich ab­ äscherte, um nur dem Schmied die paar Groschen Verdienst zu nehmen. Jetzt freit seine Tochter einen andern jungen Geldschlingel; die kriegt mit! Ich bin an der Leinwand­ kammer durchgegangen, der Flachs und das Garn, das Gebild, die Wäsche und alle mögliche Kramerei ist bis unter die Decke gestopft. Und dazu gibt ihr der alte Schabhals

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Jmmermann.

noch bare sechstausend Taler mit. Blicken Sie nur um sich; ist es nicht hier, als ob man bei einem Grafen wäre?" Während der letzten Reden hatte der verdrießliche Pferdehändler sacht in die Geldkatze gegriffen und den zwanzig Goldstücken, gleichsam gleichgültig tuend, noch sechs hinzu­ gefügt. Der Hofschulze trat wieder in die Türe, und der andre sagte brummend, ohne ihn anzusehen: „Da liegen die sechsundzwanzig, weil es einmal nicht anders sein soll." Der alte Bauer lächelte schalkhaft und sprach: „Ich wußte wohl, daß Ihr das Pferd kaufen würdet, Herr Marx, denn Ihr sucht für den Rittmeister in Unna eins zu dreißig Pistolen, und mein Bräunchen paßt Euch dazu, wie bestellt. Ich ging auch nur in das Haus, um die Goldwage zu holen, und konnte vorhersehen, daß Ihr Euch unterdessen besonnen haben würdet." Der Alte, welcher in seinen Bewegungen bald etwas ungemein Rasches, bald wieder die größte Bedächtigkeit zeigte, jenachdem das Geschäft war, was er trieb, setzte sich an den Tisch, wischte langsam und sorgfältig seine Brille ab, spannte sie über die Nase und fing nun an, die Goldstücke genau wägen. Zwei oder drei musterte er als zu leicht aus, worüber der Pferdehändler ein heftiges Gezeter erhob, welchem der Hofschulze schweigend und kaltblütig, die Wage in der Hand behaltend, zuhörte, bis der andre statt der verworfenen voll­ wichtige hervorholte. Endlich war die Sache beendigt, der Verkäufer packte bedächtig das Geld in ein Papier und ging mit dem Pferdehändler nach dem Stalle, um ihm das Pferd zu überliefern. Der Rezeptor wartete die Rückkehr der beiden nicht ab. „Mit solchem Klotz ist nichts anzufangen," sagte er, „aber wenn du uns nur nicht so ordentlich auf die Termine be­ zahltest, wir wollten dich." — Er Mlte nach seinen ur­ kundlichen Papieren in der Tasche, merkte an ihrem Knittern, daß sie noch darin seien, und schlich vom Hofe. Aus dem Stalle traten der Roßkamm, der Schulze und «in Knecht, welcher zwei Pferde, das des Roßkammes und

die erkaufte braune Stute, hinter sich herführte. Der alte Schulze sagte, indem er die letztere zum Abschied streichelte: „Es tut einem immer leid, wenn man eine Kreatur, die man aufzog, losschlägt, aber wer kann dawider? — Nun, halte dich brav, Bräunchen!" rief er und gab dem Tiere einen herzhaften Schlag auf die runden, glänzenden Schenkel. Der Pferdehändler war indessen aufgestiegen und sah mit seiner langen Figur und der kurzen Schoßjacke unter dem breitkrempigen lackierten Hute, mit seinen erbsengelben Hosen über den dürren Lenden und den hochhinaufreichenden ledernen Gamaschen, mit seinen Pfundsporen und mit seiner Peitsche wie ein Wegelagerer aus. Er ritt, ohne Lebewohl zu sagen, fluchend und wetternd davon, die Braune am Leit­ zaum nachziehend. Keinen Blick wandte er nach dem Ge­ höfte zurück, die Braune dahingegen drehte mehreremale den Hals um und wieherte wehmütig, als wollte sie klagen, daß ihre gute Zeit nun vorüber sei. Der Hofschnlze blieb, die Arme in die Seite gestemmt, mit dein Knechte stehen, bis der Zug durch den Baumgarten verschwunden war. Dann sagte der Knecht: „Das Vieh grämt sich." — „Warum sollte es nicht?" erwiderte der Hofschulze, „grämen wir uns doch auch. Komm aus den Futterboden, wir wollen Hafer messen."

237. Der Oberhof. Sehen wir uns im Oberhofe um! Wenn das Lob der Freunde immer ein sehr zweideutiges bleibt, so darf man dagegen dem Neide der Feinde vertrauen, und am glaub­ würdigsten ist ein Pferdehändler, der die guten Umstände eines Bauern herausstreicht, mit welchem er nicht des Handels einig werden konnte. Zwar ließ sich von dem Hofe nicht, wie der Roßkamm Marx sagte, behaupten, es sei darin, als ob man sich bei einem Grafen befinde, hingegen nahm man, wohin man blickte, bäurischen Wohlstand und einen Segen wahr, welcher dem hungrigsten Menschen zurufen mußte:

„Hier kannst du dich mit satt essen, die Schüssel ist immer­ dar voll." Der Hof lag ganz allein an der Grenze der frucht­ baren Börde, da, wo sie in das Hügel- und Waldland über­ geht. Die letzten Felder des Hofschulzen stiegen schon sacht die Anhöhe hinauf, und eine Meile von dort war Gebirg. Der nächste Nachbar der Bauerschaft wohnte eine Viertelstunde vom Hofe. Um diesen breitete sich alles Besitztum, welches eine große ländliche Wirtschaft nötig hat, aus: Feld, Wald, Wiese, unzerstückelt, in geschlossenem Zusammenhänge. Von der Anhöhe herab liefen die Felder durch die Ebene, bestens bestellt. Es war aber um die Zeit der Roggen­ blüte; der Rauch ging von den Ähren und wallte in den warmen Sommerlüften, ein Opfer der Scholle. Einzelne Reihen hochstämmiger Eschen oder knorrichter Rüstern, zu beiden Seiten der alten Grenzgräben gepflanzt, faßten einen Teil der Kornfelder ein und bezeichneten, von weitem her kenntlich, die Marken des Erbes, bestimmter, als Steine und Pfähle vermögen. Ein tiefer Weg zwischen auf­ geworfenen Erdwällen führte quer durch die Felder, mündete rechts und links an verschiedenen Orten in Seitenpfade aus und führte, wo das Getreide aufhörte, in ein kräftig bestandenes Eichenwäldchen, unter welchem sich erdgelagerte Säue gütlich taten, dessen Schatten aber auch für den Menschen erquicklich waren. Dieser Kamp, welcher dem Schulzen sein Holz lieferte, drang bis wenige Schritte vom Gehöfte vor, umfaßte es von beiden Seiten und gab so zu­ gleich gegen die Ost- und Nordwinde Schutz. Nur mit Stroh war das Wohnhaus, welches sich in seinen weiß und gelb angestrichenen Wänden von Fachwerk zweistöckig erhob, gedeckt; aber da diese Bedeckung immer sehr wohl in stand erhalten ward, so hatte sie nichts Dürftiges, verstärkte im Gegenteil den behaglichen Eindruck, den das Gehöft machte. Auf der andern Seite des Hauses liefen um einen geräumigen Hof Ställe und Scheunen, an denen auch das schärfste Auge keine schadhafte Stelle an Mauer und

Bewurf erspähen konnte. Große Linden standen vor der Hof­ türe; und dort, nicht nach der Wandseite zu, waren Ruhesitze angebracht. Denn der Hofschulze wollte, selbst wenn er rastete, seine Wirtschaft im Auge behalten.

Gerade dem Wohnhause gegenüber sah man durch ein Gittertor in den Baumgarten. Dort breiteten starke und gesunde Obstbäume ihre belaubten Zweige über frischen: Graswuchs, Gemüse- und Salatstücken aus; hier und da ernährte ein schmales Beet dazwischen rote Rosen und gelbe Feuerlilien. Doch waren solcher Beete nur wenige. In einer echten Bauerwirtschast bleibt der Boden dem Bedürf­ nisse gewidmet, selbst wenn dem Eigentümer seine Umstände Luxus mit der Natur verstatten. Deshalb haben wir in solchen Höfen eine Empfindung froher Ruhe aller Sinne, wie sie Prachtgärten, Parks und Villen nicht zu erregen ver­ mögen. Denn das ästhetisch« Landschaftsgefühl ist schon ein Produkt der Überfeinerung, weshalb es denn auch nie in eigentlich robusten Zeiten auftritt. Diese halten vielmehr die Stimmung zur Mutter Erde, als zu der Allernährerin, fest, wollen und verlangen nichts von ihr, als die Gabe des Feldes, der Viehweide, des Fischteiches, des Wildsorstes. Soweit das Auge über den Baumgarten hinausblickte, sah es auch nur Grün. Denn jenseits des Gartens lagen die Wiesen des Oberhofes, auf welchen der Schulze Raum und Futter für seine Pferde besaß. Ihre Zucht, mit Fleiß betrieben, gehörte zu den einträglichsten Nahrungsquellen des Erbes. Auch diese grünen Grasflächen waren von Hecken und Gräben umschlossen; eine derselben faßte einen Weiher ein, in welchem ausgefütterte Karpfen zugweise umher­ schwammen. Auf diesem reichen Hofe, zwischen vollen Scheuern, vollen Böden und Ställen hantierte der alte, weit und breit angesehene Hofschulze. Bestieg man aber den höchsten Hügel, zu dem sich seine Felder hinauferstreckten, so erblickte man von dort die Türrne dreier der ältesten Städte Westfalens. Es ging zu der Zeit, von welcher ich rede, auf elf

Uhr Vormittags, und der ganze weitläufige Hof war so still, daß sich fast nur das Rauschen der Lüfte in den Baumwipfeln des Kamps vernehmen ließ. Der Schulze maß dem Knechte Hafer zu, womit dieser, den Sack über der Schuster, langsamen Schrittes nach dem Pferdestalle ging; die Tochter zählte in der Linnen- und Garnkammer ihre Ausstattung nach; eine Magd besorgte die Küche. Was sonst von Menschen im Hofe lebte, lag und schlief; denn es ging gegen die Ernte, in welcher Zeit es bei den Bauern am wenigsten zu tun gibt und die Arbeiter jede Minute zu benutzen pflegen, um gewissermaßen auf Rechnung der herannahenden schweißund mühevollen Tage in voraus zu schlafen.

Theodor Körner. 238. Aus Körners Briefwechsel mit seinem Bater 1813. Wien, am 10. März 1813. Ich schreibe Dir dies­ mal in einer Angelegenheit, die, wie ich das feste Vertrauen zu Dir habe. Dich weder befremden noch erschrecken wird. Neulich schon gab ich Mr einen Wink über mein Vor­ haben, das jetzt zur Reif« gediehen ist. — Deutschland steht auf; der preußisch« Adler erweckt in allen treuen Herzen durch seine kühnen Flügelschläge die große Hoff­ nung einer deutschen, wenigstens norddeutschen Freiheit. Meine Kunst seufzt nach ihrem Vaterland« — laß mich ihr würdiger Jünger sein! Ja, liebster Vater, ich will Soldat werden, will das hier gewonnene glückliche und sorgenfreie Leben mit Freuden hinwerfen, um, sei's auch mit meinem Blute, mir ein Vaterland zu erkämpfen. — Nenn's nicht Übermut, Leichtsinn, Wildheit! Vor zwei Jahren hätte ich es so nennen lassen; jetzt, da ich weiß, welche Seligkeit in diesem Leben reifen kann, jetzt, da alle Sterne meines Glücks in schöner Milde auf mich niederleuchten, jetzt ist es, bei Gott, ein würdiges Ge-

fühl, das mich treibt, jetzt ist es die mächtigste Überzeugung, daß kein Opfer zu groß sei für das höchste menschliche Gut, für seines Volkes Freiheit. Vielleicht sagt Dein bestochenes, väterliches Herz: Theodor ist zu größeren Zwecken da, er hätte auf einem anderen Felde Wichtigeres und Bedeutendes leisten können, er ist der Menschheit noch ein großes Pfund zu berechnen schuldig. Aber, Vater, meine Meinung ist die: Zum Opfertode sür die Freiheit und für die Ehre seiner Nation ist keiner zu gut, wohl aber sind viele zu schlecht dazu! — Hat mir Gott wirklich etwas mehr als gewöhnlichen Geist eingehaucht, der unter Deiner Pflege denken lernte, wo ist der AugeMick, wo ich ihn mehr geltend machen kann? — Eine große Zeit will große Herzen, und fühl ich die Kraft in mir, eine Klippe sein zu können in dieser Bölkerbrandung, ich muß hinaus und dem Wogen­ sturm die mutig« Brust entgegendrücken. Soll ich in feiger Begeisterung meinen siegenden Brüdern meinen Jubel nachleiern? — Soll ich Komödien schreiben auf dem Spott-Theater, wenn ich den Mut und die Kraft mir zutraue, auf dem Theater des Ernstes mitzusprechen? — Ich weiß, Du wirst manche Unruhe erleiden müssen, die Mutter wird weinen! Gott tröste sie! ich kann's Euch nicht ersparen. Des Glückes Schoßkind rühmt ich mich bis jetzt, es wird mich jetzo nicht verlassen. Daß ich mein Leben wage, das gilt micht viel; daß aber dies Leben mit allen Blütenkränzen der Liebe, der Freundschaft, der Freude geschmückt ist, und daß ich es doch wage, daß ich die süße Empfindung hinwerfe, die mir in der Überzeugung lebte. Euch keine Unruhe, keine Angst zu bereiten, das ist ein Opfer, dem nur ein solcher Preis entgegengestellt werden darf. Sonnabends oder Montags reise ich von hier ab, wahr­ scheinlich in freundlicher Gesellschaft, vielleicht schickt mich auch H. als Kurier. In Breslau, als dem Sammelplätze, treffe ich zu den freien Söhnen Preußens, die in schöner Begeisterung sich zu den Fahnen ihres Königs gesammelt

haben. Ob zu Fuß oder zu Pferd, darüber bin ich noch nicht entschieden und kommt einzig auf die Summe Geldes an, die ich zusammenbringe. Wegen meiner hiesigen An­ stellung weiß ich noch nichts gewiß, vermutlich gibt mir der Fürst Urlaub, wo nicht, so hab ich doch das sichere Versprechen des Grafen Palfy, das in ökonomischer Hinsicht noch mehr Vorteile gewährt. — Toni*) hat mir auch bei dieser Ge­ legenheit ihre große, edle Seele bewiesen. Sie weint wohl, aber der geendigte Feldzug wird ihre Tränen schon trocknen. Die Mutter soll mir ihren Schmerz vergeben; wer mich liebt, soll mich nicht verkennen, und Du wirst mich Deiner würdig finden. Dein Theodor. Humboldts, Schlegels und die meisten meiner Freunde haben bei meinem Entschlusse zu Rate gesessen. Humboldt gibt mir Briefe. Ich schreibe Euch auf den Montag noch einmal.

Antwort des Vaters auf diesen Brief.

Witte März 1813.] Für jetzt nur ein paar Worte: Du hast Dich in mir nicht geirrt, wir sind einverstaichM. Für alle Deine Bedürfnisse wird unser alter schlesischer Freund oder der jüngere Freund, an den ich Dich in Berlin empfahl, sorgen, bis.ich es selbst unmittelbar tun kann. Gib uns bald Nachricht, entweder auf dem ordentlichen Wege, sobald Du gewiß überzeugt bist, daß die Kommuni­ kation wieder offen ist, oder durch den Better, indem Du Deinm Brief bloß „Patri" überschreibst. Der Better wird ihn schon weiter besorgen. Mes grüßt herzlichst, besonders die Mutter. Lebe recht glücklich! Dein treuer Vater. Der Vater an Theodor.

Töplitz, den 2. Juli 1813. Mein erster Gedanke ist heute an Dich, «in besseres Geburtstagsgeschenk konnte mir nicht zuteil werden, als daß ich Dich außer Gefahr und in der besten Pflege weiß. Ich kann Gott n,icht genug *) Körner war mit Antonie Adamberger aus Wien verlobt.

danken, daß er Dich aus einer der größten Gefahren auf eine fast wunderbare Weise errettet Hat. Von Dir und mir wird noch viel gefordert, da wir so große Wohltaten empfangen haben, wir wollen leisten, was unsere Kräfte vermögen.

239. Körner an Frau v. Pereira tu Wien. Breslau, den 22. März. Lassen Sie mich, jetzt eine Heine Beschreibung machen, wie Ihr Freund aussieht: ein schwarzer kurzer Waffenrock mit rotem Vorstoß, gleich­ farbige Pantalons mit Tschako, Schuhe und Gamaschen be­ decken den Körper notdürftig. Eine Büchse auf dem Rücken, Hirschfänger und Pistolen im Gürtel, Pulverhorn, Feld­ flasche und Dolch auf der Brust machen die Bewaffnung und Verproviantierung aus. Ein Schnurrbart gibt dem Gemälde die letzten militärischen Drucker; das Ränzel pnd der Mantel, auf dem Rücken bezeugen die Sorgsamkeit des Trägers. So ziehe ich heut aus gegen Zobten, das unser Hauptquartier ist. In wenig Tagen, vielleicht morgen schon, marschieren wir, und in Jehn Tagen stehen wir vor betrt Feind. Mein Herz dreht sich gewaltsam um, wo ich nur eine Büchse blinken sehe. Gott! was ist es für eine große, herrliche Zeit. Alles geht mit so freiem, stolzem Mute dem großen Kampfe fürs Vaterland entgegen, alles drängt sich, zuerst für die gute Sache bluten zu können. Es ist nur ein Wille, nur ein Wunsch in der ganzen Nation und das abgenutzte „Sieg oder Tod" bekommt neue, heilige Bedeutung! Zobten, den 26. März. Denken Sie sich einen Haufen von 1500 jungen Leuten, alle aus einem Trieb, aus Haß, aus Rache gegen den Tyrannen und voll der glühendsten Be­ geisterung für die gute Sache des Volks zu den Waffen ge­ eilt, die letzten sorglosen Minuten des ruhigen Lebens keck und frei genießend!------------- Der zweite Mann muß ver­ loren sein, ist der allgemeine Glaube, und das Schillersche: Hessel und Ufer, Lesebuchs.

M.23

Und kommt eS morgen, so laßt «nS heut Noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit wird geehrt und befolgt. Oft wird mir's doch zu wild, dann gehe ich in den Wald und denke an das liebe Wien, an so manchen Silberblick, der mir da vorüberleuchtete, und der nun in der Nebelgestalt der Erinnerung an mir vorüberzieht. — Was sage ich, Nebelgestalten? — O, es ist ein lebendiges, klares Wiederempfinden, Wiedergrüßen, die schönen Stunden kehren mir zurück und alle Stille und Freude meines Herzens; gewöhnlich kann ich mich dann nicht ent­ halten, die Wälder mit dem Liede: „Im Wqlde schleich ich still und wild," zu plagen. Es ist ein gar liebes, liebes Lied! Jauer, den 30. März. Eben erhalten wir die Nachricht, daß wir binnen acht Tagen vor dem Feinde stehen. Die Franzosen haben Dresden stark besetzt, machen Miene, es zu halten, und sollen ihre Borposten bis Bautzen vorgerückt haben. Wir werden mit aller Eile vorgewvrfen, und ich halte es für eine kleine Gunst des Schicksals, daß ich ent­ weder die heilige Erde meiner Heimat befreien helfen darf oder doch vor deu Mauern meiner väterlichen Stadt, wie ein ehrliches, deutsches Herz verbluten kann. Das walte Gott! ich bin bereit. — Eine große, herrliche Stunde habe ich am Sonnabend verlebt. Wir zogen in Parade aus Zobten nach Rogau, einem lutherischen Dorfe, wo die Kirche zur feierlichen Einsegnung der Freischar einfach, aber geziemend ausgeschmückt war. Nach Absingung eines Liedes, das Ihr Freund zu der Gelegenheit verfertigt hatte, hielt der Prediger des Orts, Peters mit Namen, eine kräftige, allgemein er­ greifende Rede. Kein Auge blieb trocken. Zuletzt ließ er uns den Eid schwören: für die Sache der Menschheit, des Vaterlandes und der Religion weder Gut noch Blut zu schonen, und zu siegen oder zu sterben für die gerechte Sache; wir schworen! — Darauf warf er sich auf die Kniee und flehte Gott um Segen für seine Kämpfer an. Bei dem Allmächtigen! es war ein Augenblick, wo in jeder Brust die Todesweihe flammend zuckte, wo alle Herzen Helden-

mütig schlugen. Der feierlich vorgesagte und von allen nachkgesprochene Kriegseid, auf die Schwerter der Offiziere ge­ schworen, und „eine feste Burg ist unser Gott" machte das Ende der herrlichen Feierlichkeit, die zuletzt noch mit einem donnernden Vivat! das die Krieger der deutschen Freiheit ausbrachten, gekrönt wurde, wobei alle Klingen aus der Scheide flogen und Helle Funken das Gotteshaus durchs sprühten. Diese Stunde hatte um so mehr Ergreifendes für uns, da die meisten mit dem Gefühl hinausgehen, es sei ihr letzter Gang. Ich weiß auch einige Gesichter in meinem Zuge, von denen ich's ganz deutlich voraus weiß: sie sind unter den ersten, die der Würgengel fordert. Es gleicht wohl nichts dem klaren, bestimmten Gefühle der Freiheit, das dem Besonnenen, im Augenblicke der Ge­ fahr, lächelnd entgegentritt. Kein Tod ist so mild, wie der unter den Kugeln der Feinde; denn was den Tod sonst ver­ bittern mag, der Gedanke des Abschieds von dem, was einem das Liebste, das Teuerste dieser Erde war, das verliert seinen Wermut in der schönsten Überzeugung, daß die Heilig­ keit des Untergangs jedes verwundete, befreundete Herz bald heilen werde.

Franz Kugler. 240. Friedrich der Große und der thüringische Kandidat. Die Gemütlichkeit und die Gewöhnung des Königs, sich auch in die Lage eines Geringeren teilnehmend zu versetzen, was ihm fort und fort so viele Herzen gewann — stellt wohl keine von den zahlreichen Anekdoten seines Lebens anschaulicher dar, als die Geschichte eines thüringi­ schen Kandidaten, der nach Berlin kam, um hier Ver­ sorgung zu suchen, aber durch die übertriebene Strenge der Zollbeamten unangenehmen Verlegenheiten ausgesetzt

ward. Die Erzählung trägt so ganz das Gepräge der ein­ samen Wahrheit, sie führt uns den König, seine Weise, sich in dergleichen Fällen zu benehmen, den ganzen Cha­ rakter der Zeit so lebendig entgegen, daß wir nicht umhin können, den vollständigen Bericht mit allen seinen klei­ nen Zügen, wie ihn jener Kandidat selbst handschriftlich hinterlassen hat, mitzuteilen. „Als ich zum ersten Male im Jahre 1766 nach Ber­ lin kam, wurden mir bei Visitierung meiner Sachen auf dem Packhofe 400 Reichstaler Nürnberger ganze Batzen weggenommen. Der König, sagte man mir, hätte schon etliche Jahre die Batzen ganz und gar verschlagen lassen, sie sollten in seinem Lande nichts gelten, und ich wäre so kühn und brächte die Batzen hierher, in die königliche Residenz — auf den — Packhof! — Kontrebande! — Kontrebande! — Das war ein schöner Willkommen! Ich entschuldigte mich mit der Unwissenheit: käme aus Thü­ ringen, viele Meilen Weges her, hätte mithin ja un­ möglich wissen können, was Seine Majestät in Dero Län­ dern verbieten lassen. Der Packhofsinspektor: Das ist keine Entschuldigung. Wenn man in eine solche Residenz reisen und daselbst ver­ bleiben will, so muß man sich nach allem genau erkun­ digen und wissen, was für Geldsorten im Schwange gehen, damit man nicht durch Einbringung verrufener Münze Gefahr laufe. — Ich: Was soll ich denn anfangen? Sie nehmen mir ja unschuldig die Gelder weg! Wie und wovon soll ich denn leben? — Packhofsinspektor: Da soll Er zu­ sehen, und ich will Ihm sogleich bedeuten: wenn die Sachen auf dem Packhofe visitiert worden, so müssen solche von der Stelle geschafft werden. Es wurde ein Schiebkärrner herbeigerufen, meine Effekten fortzufahren; dieser brachte mich in die Jüdenstraße in den weißen Schwan, warf meine Sachen ab und forderte vier Groschen Lohn. Die hatte ich nicht. Der Wirt kam herbei, und als er sah, daß ich ein gemachtes

Federbett, einen Koffer voll Wäsche, einen Sack voll Bücher und andere Kleinigkeiten hatte, so bezahlte er den Träger und wies mir eine kleine Stube im Hofe an. Da könnte ich wohnen, Essen und Trinken wolle er mir geben — und so lebte ich denn in diesem Gasthofe acht Wochen lang ohne efnen blutigen Heller, in lauter Furcht und Angst. In dem weißen Schwan spannen Fuhrleute aus und logieren da, und so kam denn öfters ein gewisser Advokat B. dahin und hatte sein Werk mit den Fuhr­ leuten ; mit diesem wurde ich bekannt und klagte ihm meine unglücklichen Fata. Er verobligierte sich, meine Gelder wie­ der herbeizuschaffen, und ich- versprach ihm für seine Be­ mühungen einen Louisdor. Den Augenblick mußte ich mit ihm fortgehen, und so kamen wir in ein großes Haus; da ließ B. durch einen Bedienten sich anmelden, und wir kamen vor den Minister. Der Wvokat trug die Sache vor und sagte unter anderem: „Wahr ist es, daß der König die Batzen ganz und gar verschlagen lassen; sie sollen in seinem Lande nicht gelten; aber das weiß der Fremde nicht. Ohnehin xxtendiert sich das Edikt nicht soweit, daß man den Leuten ihre Batzen wegnehmen soll" usw. — Hierauf fing der Minister an zu reden: „Monsieur, seid Ihr der Mann, der meines Königs Mandate durchlöchern will? Ich höre, Ihr habt Lust auf die Hausvogtei! Redet wei­ ter, Ihr sollt zu der Ehre gelangen" usw. — Was tat mein Advokat? Er ging zum Tempel hinaus; ich hinter ihm her, und als ich auf die Straße kam, so war B. über alle Berge; und so hatte er denn meine Sache ausgemacht bis auf die streitigen Punkte. Endlich wurde mir der Rat gegeben, den König an­ zutreten, das Memorial aber müsse ganz kurz sein. Ich konzipierte eins, mundierte es und ging damit mit dem Aufschlusse des Tores, ohne nur einen Pfennig Geld in der Tasche zu haben — o der Verwegenheit! —in Gottes Namen nach Potsdam, und da war ich auch so glücklich, sogleich den König zum ersten Male zu sehen. Er war

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auf dem Schloßplätze beim Exerzieren seiner Soldaten. Als dieses vorbei war, ging er in den Garten und die Soldaten auseinander; vier Offiziere aber blieben auf dem Platze und spazierten auf und nieder. Ich wußte vor Angst nicht, was ich machen sollte, und holte die Papiere aus der Tasche. Das war das Memorial, zwei Testimonia und ein gedruckter thüringischer Paß. Das sahen die Offi­ ziere, kamen gerade auf mich zu und fragten, was ich da für Briefe hätte. Ich kommunizierte solche willig und gern. Da sie gelesen hatten, so sagten sie: Wir wollen Ihm einen guten Rat geben. Der König ist heute extra­ gnädig und ganz allein in den Garten gegangen. Gehe Er ihm auf dem Fuße nach. Er wird glücklich sein. Das wollte ich nicht; die Ehrfurcht war zu groß; da griffen sie zu. Einer nahm mich beim rechten, der an­ dere beim linken Arm. Fort, fort in den Garten! Als wir nun dahin kamen, so suchten sie den König auf. Er war bei einem Gewächse mit den Gärtnern, bückte sich und hatte uns den Rücken zugewendet. Hier mußte ich stehen, und die Offiziere fingen an, in der Stille zu kommandie­ ren : Den Hut unter den linken Arm! — Den rechten Fuß vor! — Die Brust heraus! — Den Kopf in die Höhe! — Die Briefe aus der Tasche! — Mit der rechten Hand hochgehalten! — So steht! — Sie gingen fort und sahen sich immer um, ob ich auch so würde stehen bleiben. Ich merkte wohl, daß sie beliebten, ihren Spaß mit nur zu treiben, stand aber wie eine Mauer, voller Furcht. Die Offiziere waren kaum aus dem Garten hinaus, so richtete sich der König auf und sah die Maschine in ungewöhnlicher Positur dastehen. Er tat einen Blick aus mich; es war, als wenn mich die Sonne durchstrahlte; er schickte einen Gärtner, die Briefe abzuholen, und als er solche in die Hände bekam, ging er in einen andern Gang, wo ich ihn nicht sehen konnte. Kurz darauf kam er wie­ der zurück zu dem Gewächse, hatte die Papiere in der lin­ ken Hand aufgeschlagen und winkte damit, näher zu kom-

men. Ich hatte das Herz und ging gerade auf ihn zu. O, wie allerhuldreichst redete mich der große Monarch an: Lieber Thüringer! Er hat zu Berlin durch fleißiges In­ formieren der Kinder das Brot gesucht, und sie haben Ihm beim Visitieren der Sachen auf dem Packhofe Sein mit­ gebrachtes Thüringer Brot weggenommen. Wahr ist es, die Batzen sollen in meinem Lande nichts gelten; aber sie hätten auf "dem Packhofe sagen sollen: Ihr seid ein Frem­

der und wisset das Verbot nicht: wohlan, wir wollen den Beutel mit den Batzen versiegeln; gebt solche wieder zu­ rück nach Thüringen, und lasset Euch andere Sorten schicken! — aber nicht wegnehmen. Gebe Er sich zufrieden; Er soll sein Geld cum interesse zurück erhalten. Wer, lieber Mann, Berlin ist schon ein heißes Pflaster; sie verschen­ ken da nichts; Er ist ein fremder Mensch; ehe Er bekannt rvird und Information bekommt, so ist das bißchen Geld verzehrt; was dann? — Ich verstand die Sprache recht gut; die Ehrfurcht war aber zu groß, daß ich hätte sagen können: Ew. Majestät haben die Allerhöchste Gnade und versorgen mich. — Weil ich aber so einfältig war und ilm nichts bat, so wollte er mir auch nichts anbieten. — Und so ging er denn von mir weg, war aber kaum sechs bis acht Schritte gegangen, so sah er sich nach mir um und gab ein Zeichen, daß ich mit ihm gehen solle. — Und so ging denn das Examen an: Der König: Wo hat Er studiert? Ich: Ew. Majestät, in Jena. Der König: Ging es denn zu Seiner Zeit noch so toll in Jena her, wie ehedem die Studenten sich ohne Unterlaß miteinander katzbalgten, daher der bekannte Vers kommt: Wer von Jena kommt ungeschlagen, Der hat von großem Glück zu sagen?

Ich: Diese Unsinnigkeit ist ganz aus der Mode ge­ kommen, und man kann dort anjetzt so wohl als auch auf anderen Universitäten ein stilles und ruhiges Leben führen.

Und da schlug die Glocke Eins. Nun muß ich fort, sagte der König, sie warten auf die Suppe. — Und da wir aus dem Garten kamen, waren die vier Offiziere noch gegenwärtig und auf dem Schloßplätze, die gingen mit dem Könige ins Schloß hinein, und kam keiner wieder zurück. Ich blieb auf dem Schloßplätze stehen, hatte in 27 Stunden nichts genossen, nicht einen Dreier zu Brote und war in einer vehementen Hitze vier Meilen im Sande gewatet. Da war's wohl eine Kunst, das Heulen zu verbeißen. In dieser Bangigkeit meines Herzens kam ein Kam­ merhusar aus dem Schlosse und fragte: Wo ist der Mann, der mit meinem Könige in dem Garten gewesen? Ich antwortete: Hier! Dieser führte mich ins Schloß in ein großes Gemach, wo Pagen, Lakaien und Husaren waren. Der Husar brachte mich an einen kleinen Tisch, der war gedeckt und stand darauf: eine Suppe, ein Gericht Rind­ fleisch, eine Portion Karpfen mit einem Gartensalat, eine Portion Wildpret mit einem Gurkensalat. Brot, Messer, Gabel, Löffel, Salz war alles da. Der Husar präsentierte mir einen Stuhl und sagte: Die Essen, die hier auf dem Tische stehen, hat Ihm der König auftragen lassen und befohlen, Er soll sich satt essen, sich an niemand kehren, und ich soll servieren. Nun also frisch daran! — Ich war sehr betreten und wußte nicht, was zu tun sei, am wenig­ sten wollte mir's in den Sinn, daß des Königs Kammer­ husar auch mich bedienen sollte. — Ich nötigte ihn, sich zu mir zu setzen; als er sich weigerte, tat ich, wie er ge­ sagt hatte, und ging frisch daran, nahm den Löffel und fuhr tapfer ein. Der Husar nahm das Fleisch vom Tische und setzte es auf die Kohlenpfanne; ebenso kontinuierte er mit Fisch und Braten und schenkte Wein und Bier ein. Ich aß und trank mich recht satt. Den Konfekt, dito einen Teller voll großer schwarzer Kirschen und einen Teller voll Birnen packte mein Bedienter ins Papier und senkte mir solche in die Tasche, auf dem Rückwege eine Erfrischung

zu haben. Und so stand ich denn von meiner königlichen Tafel auf, dankte Gott und dem König von Herzen, daß ich so herrlich gespeiset worden. Der Husar räumte auf. Den Augenblick trat ein Sekretarius herein und brachte ein verschlossenes Reskript an den Packhof nebst meinen Testimoniis und dem Passe zurück, zählte auf den Tisch fünf Schwanz-ukaten und einen Friedrichsdor: Das schicke mir der König, daß ich wieder zurück nach Berlin kommen könnte. Hatte mich nun der Husar ins Schloß hinein­ geführt, so brachte mich der Sekretarius wieder bis vor das Schloß hinaus. Und da hielt ein königlicher Pro­ viantwagen mit sechs Pferden bespannt; zu dem brachte er mich hin und sagte: Ihr Leute, der König hat be­ fohlen, Ihr sollt diesen Fremden mit nach Berlin fahren, aber kein Trinkgeld von ihm nehmen! Ich ließ mich durch den Sekretarium noch einmal untertänigst bedanken für alle königliche Gnade, setzte mich auf und fuhr davon. Als wir nach Berlin kamen, ging ich sogleich auf den Packhof, gerade in die Expeditionsstube, und überreichte das königliche Reskript. Der Oberste erbrach es; bei Lesung desselben verfärbte er sich bald bleich, bald rot, schwieg still und gab es dem zweiten. Dieser nahm eine Prise Schnupftabak, räusperte und schneuzte sich, setzte eine Brille auf, las es, schwieg still und gab es weiter. Der letzte endlich regte sich, ich sollte näher kommen und eine Quittung schreiben, daß ich für meine 400 Reichstaler ganze Batzen so viel an Brandenburger Münzsorten, ohne den min­ desten Abzug, erhalten. Meine Summe wurde mir so­ gleich richtig zugezählt. Darauf wurde der Schaffner ge­ rufen, mit der Ordre: er sollte mit mir auf die Jüdenstraße in den weißen Schwan gehen und bezahlen, was ich schuldig wäre und verzehrt hätte. Dazu gaben sie ihm 24 Taler, und wenn das nicht zureichte, solle er kommen und mehr holen. Das war es, daß der König sagte: Er soll seine Gelder cum interesse wiederbekommen! — daß der Packhof meine Schulden bezahlen mußte. Es waren

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aber nur zehn Taler, vier Groschen, sechs Pfennige, die ich in acht Wochen verzehrt hatte, und so hatte denn die betrübende Historie ihr erwünschtes Ende. —

Wilhelm Lacmann. 241. Im Urwald von Südbrasilien. Mit wundersamer Pracht umfängt uns der subtropische Wald. Da reckt die schlanke Palmite den zierlichen Blätter­ strauß gen Himmel, da ragen starkstämmige Zedern, Tajuben, Figueiren, Kanellen und wie sie alle heißen, die stolzen Riesen der Wildnis. Dazwischen wuchert ein Wirrsal von hochgeschossenem Holz, vielgestaltigem Grün. Wildes Ran­ kenwerk schlingt sich darein. Gleich festgespannten dicken Seilen legt es sich da und dort um einen der Waldriesen und würgt ihn zu Tode; „Baummörder" nennt man die kückischen Schlingen. Am Boden grünt mannigfaltiges Ge­ wächs, ein mächtiges, breitgeformtes Blattwerk zumal, das Kadelblatt, und hier und dort stattliches Farnkraut. Jetzt erhebt zu unserer Linken und Rechten undurchdringlich dichtes Taquara-Rohr die mächtigen grünen Stengel. Sein Auftreten deutet, von dem „Taquara mansa" abgesehen, ebenso wie das der wilden Bananen, auf fruchtbaren Boden. Ein Stück Wegs weiter, und das Bild hat sich geändert. Es ist lichter geworden im Walde. Farnbäume überwiegen allen andern Pflanzenwuchs. Ihr zierliches Blattwerk bietet, namentlich wo der Baum in so großen Mengen auftritt, einen prachtvollen Anblick. Und doch wird er noch übertroffen von dem Bild, das sich uns bald darauf eröffnet, einem Waldbestand, den statt des Farns verschiedene Pal­ menarten, Palmiten, Zwergpalmiten, Dachblattpalmen, mit den wunderbaren, federzarten Wipfeln beherrschen. Hundertfältiges Leben ist im Walde. Hundertfältige Stimmen werden laut, vom krächzenden Schrei des Tukans, dem schallenden Hämmern der Spechte, gellendem Papagei-

ruf bis zum Schwirren und Zirpen winziger Kolibris, die schillernden Nachtfaltern gleich um duftende Blüten gaukeln. Sie bieten einen wunderbar lieblichen Anblick, diese bun­ ten Wesen, die zum Teil nicht größer als eine Hummel und dabei an Gestalt und Färbung — wie Buffon sich ausdrückt — das Meisterwerk der Natur sind. — Schon fesselt etwas Neues unsern Blick. Über den Pfad bewegt sich ein langer Zug von Ameisen. In geordneten Kolonnen ziehen sie dahin. Zur Seite haben die Führer Aufstellung genommen und packen den Flügelmann einer jeden Abtei­ lung an. Sie scheinen durch das Tastwerk ihrer Fühler ihm einen Befehl zu geben oder eine Meldung entgegen zu nehmen. Jede der vorüberziehenden Ameisen schleppt ein kleines Blattstück mit sich. Die Stückchen sind an den Rändern welk, sie haben wohl einem alten Bau angehört, den das Volk jetzt verläßt, um eine neue Heimat zu grün­ den. Ich hebe eins der Tiere samt dem Blättchen, das es trägt, in die Höhe. Wie ich es wieder niedersetze, läßt es seine Last liegen und eilt weiter. Ich lege ihm das Blättchen in den Weg und ziehe die Hand schnell zurück. Das Tier setzt seinen Weg in der Richtung auf das Laub­ stück fort; wie es aber daran kommt, biegt es aus und läuft, jedenfalls von irgend einer abergläubischen Vorstel­ lung geplagt, voll Entsetzen davon.

Da raschelt etwas zur Seite des Pfades. Eine arm­ lange Jararaque wird sichtbar, eine der gefährlichsten unter den Giftschlangen, die hier im Santa Katharinenser Wald dem Ansiedler bisweilen verhängnisvoll werden. Schnell mit dem Waldmesser einen langen derben Zweig abgehauen und entblättert — ein paar kräftige Hiebe über den grauen Rücken, und der Giftzahn tut keinem mehr weh. —

Dann und wann schiebt sich eine Kolonie in den Ur­ wald ein. An diesen Stellen ist der Wald gelichtet, und bisweilen öffnet sich über die Lichtung hinweg ein freier Blick auf die Fluten des Rio Hercilio. Sie brausen bald weißschäumend über die Felsgefälle des Flußbettes und um

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mhrtenüberwachsene Klippen, bald wieder ziehen sie fried­ lich ihres Weges, ein blinkender Spiegel der waldbedeckten Ufer, der busch- und palmenbestandenen Inseln. Über den Fluß hinüber schweift das Auge zu den blauen Höhen der Serra do Mirador, des „wunderlichen Gebirges". Ihre Höhen bieten alle den gleichen Anblick. Sie steigen aus der einen Seite steil an und verlieren sich in einem langge­ streckten Kamm. Daher kommt die Bezeichnung des Ge­ birges als des „wunderlichen", weil der Wanderer sich immer wieder dem gleichen Berge gegenüber zu sehen glaubt. Eben führt unser Weg an eine der Kolonien heran. Inmitten sprossender grüner Pflanzungen, verkohlter, schwarzer Waldtrümmer, frisch geschlagener Rodung grüßt das grüne Dach der Palmitenhütte. Über die Waldlichtung hinweg zieht gerade ein Flug Papageien mit gellendem Gekreisch. Sie fliegen hoch, hoch über uns; sonst würde sich ein Schuß verlohnen, denn Papageiensuppe ist nicht zu verachten. Doch da erklingt der Ruf eines Tukans. Er kommt drüben her von dem halbverbrannten kahlen Baume am Rande der Rossa. Ein paar leise Schritte, dann sind wir in Schußweite. Ein Knall, und der Vogel stürzt schwer herab ins Gestrüpp. Doch er ist gleich gefunden, und wir können den Gesellen in Augenschein nehmen. Eigenartig genug sieht er aus, der Pfefferfresser: kohlschwarz gefie­ derter Leib, weißer Hals, ein mächtiger gelber Schnabel mit schwarzer Spitze und roter Kante — ein wahres Un­ getüm von einem Schnabel, mehr als halb so lang wie der ganze Rumpf des Vogels und von gewaltiger Breite. Wir nehmen den Tukan mit; er wird einen guten Braten geben. Unterwegs begegnen uns Kolonisten, einige zu Pferd, die meisten zu Fuß. Dem Auge des Europäers bieten diese Gestalten einen abenteuerlichen Anblick, Hemd, Hose und breitkrämpiger Hut bilden bei der Arbeit in der Rossa und bei Gängen durch den Wald die ganze BeUeidung des Ansiedlers; im Ledergurt steckt das lange Waldmesser,

aus der Tasche oder dem Gürtel hervor schaut der Revolver. Bei längeren Gängen fehlt selten die Flinte, denn oftmals gibt es etwas zu schießen, einen Tukan oder einen Jacutingo, vielleicht auch ein Waldhuhn, ein Wildschwein oder eins jener, kaninchenhaft flinken Nagetiere, die man Paea nennt und deren Wildbret als das beste des südbrasiliani­ schen Urwalds gilt. Allmählich treffen wir immer weniger Menschen und menschliche Niederlassungen mehr an. Jetzt verlassen wir das Gebiet der Kolonie und biegen in eine verlassene schmale Pikode. Tiefe Einsamkeit ist um uns her. Ein dämmerhaftes Licht webt über der tausendfältigen grünen Herrlichkeit. Es ist wie der Zauber eines fremdartigen Märchens. Doch wie er uns mehr und mehr umstrickt, da wirkt er schier unheimlich, der Urwaldmärchenzauber, und das Herz sehnt sich aus seinem Bann hinaus zu Tannen, Buchen und Eichen, zu Amsel- und Finkenschlag, hinaus auf freie luftige Gipfel, in den Sonnenschein der Heimat, der hier nur tropfenweise durchs Duster sickert wie ein scheuer Gruß aus einer lichteren Welt.

Gotthold Ephraim Lessing. 242. Einige Fabeln. 1. Der Esel mit dem Löwen. Als der Esel mit dem Löwen, der ihn statt seines Jäger­ horns brauchte, nach dem Walde ging, begegnete ihm ein anoerer Esel von seiner Bekanntschaft und rief ihm zu: „Guten Tag, mein Bruder!" — „Unverschämter!" war die Antwort. „Und warum das?" fuhr jener Esel fort, „bist du des­ wegen, weil du mit einem Löwen gehst, besser als ich? mehr als ein Esel?"

2. Der Löwe mit dem Esel.

Ms der Löwe mit dem Esel, der ihm durch seine fürchter­ liche Stimme die Tiere sollte jagen helfen, nach dem Walde

ging, rief ihm eine naseweise Krähe von dem Baume zu: „Ein schöner Gesellschafter! Schämst du dich nicht, mit einem Esel zu gehen?" — „Wen ich brauchen kann," versetzte der Löwe; „dem kann ich ja wohl meine Seite gönnen." So denken die Großen alle, wenn sie einen Niedrigen ihrer Gemeinschaft würdigen.

3. Die Pfauen und die Krähen.

Eine ftölje Krähe schmückte sich mit den ausgefallenen Federn der farbigen Pfauen und mischte sich kühn, als sie ge­ nug geschmückt zu sein glaubte, unter diese glänzenden Vögel der Juno. Sie ward erkannt, und schnell sielen die Pfauen mit scharfen Schnäbeln aus sie, ihr den betrügerischen Putz auszureißen. „Lasset nach!" schrie sie endlich, „ihr habt nun alle das eurige wieder!" Doch die Pfauen, welche einige von den eigenen, glänzenden Schwingfedern der Krähe bemerkt hatten, versetzten: „Schweig, armselige Närrin; auch diese können nicht dein sein!" — und hackten weiter.

4. Der Rabe und der Fuchs.

Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der er­ zürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort. Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: „Sei mir ge­ segnet, Vogel des Jupiters!" — „Für wen siehst du mich an?" fragte der Rabe. — „Für wen jch dich ansehe?" er­ widerte der Fuchs, „bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf diese Eiche herab kömmt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?" Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. Jch muß, dachte er, den Fuchs aus

diesem Irrtume nicht bringen. — Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon. Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte. Möchtet ihr euch nie etwas andres als Gift erloben, ver­ dammte Schmeichler! 5. Der Wolf auf dem Todbette.

Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden Blick auf sein vergangenes Leben zurück. „Ich bin. freilich ein Sünder," sagte er; „aber doch, hoffe ich, keiner von den größten. Ich habe Böses getan, aber auch viel Gutes. Einstmals, erinnere ich mich, kam mir ein blökendes Lamm, welches sich von der Herde verirrt hatte, so nahe, baß ich es gar leicht hätte würgen können, und ich tat ihm nichts. Zu eben dieser Zeit hörte ich die Spöttereien und die Schmähun­ gen eines Schafes mit der bewundernswürdigsten Gleichgültig­ keit an, ob ich schon keine schützenden Hunde zu fürchten hatte." „Und das alles kann ich dir bezeugen," fiel ihm FreundFuchs, der ihn zum Tode bereiten half, ins Wort. „Denn ich erinnere mich noch gar wohl aller Umstände dabei. Es war zu eben jener Zeit, als du dich an dem Beine so jämmerlich würgtest, das dir der gutherzige Kranich hernach aus dem Schlunde zog." 6. Herkules. Als Herkules in den Himmel ausgenommen ward, machte er seinen Gruß unter allen Göttern der Juno zuerst. Der ganze Himmel und Juno erstaunte darüber. „Deiner Fein­ din," rief man ihm zu, „begegnest du so vorzüglich?" — „Ja, ihr selbst," erwiderte Herkules, „nur ihre Verfolgungen sind es, die mir zu den Taten Gelegenheit gegeben, womit ich den Himmel verdient habe." Der Olymp billigte die Antwort des neuen Gottes, undJuno ward versöhnt.

7. Die Sperlinge. Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige Nester gab, ward ausgebessert. Ms sie nun in ihrem neuen Glanze da stand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen

zu suchen. Allein sie fanden sie alle vermauert. „Zu was," schrieen sie, „taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen!" 8. Der Dornstrauch. „Aber sage mir doch," fragte die Weide den Dorn­ strauch, „warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden Menschen so begierig bist. Was willst du damit? Was können sie dir helfen?" „Nichts!" sagte der Dornstrauch. „Ich will sie ihm auch nicht nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen."

243. Aus den Abhandlungen über die Fabel. Ein gewisser Kunstrichter sagt: „Man darf nur im Hol» und im Feld, insonderheit aber auf der Jagd, auf alles Be­ tragen der zahmen und der wilden Tiere aufmerksam sein, und so oft etwas Sonderbares und Merkwürdiges zum Vorschein kommt, sich selber in den Gedanken fragen, ob es nicht eine Ähnlichkeit mit einem gewissen Charakter der menschlichen Sitten habe und in diesem Falle in eine symbolische Fabel ausgebildet werden könne. Die Mühe, mit seinem Schüler auf die Jagd zu gehen, kann sich der Lehrer ersparen, wenn er in die alten Fabeln selbst eine Art von Jagd zu legen weiß, indem er die Geschichte derselben bald eher abbricht, bald weiter fortführt, bald diesen oder jenen Umstand der­ selben so verändert, daß sich eine andere Moral darin er­ kennen läßt. Z. E. die bekannte Fabel von dem Löwen und Esel fängt sich an: Der Löwe pnd der Esel gingen zusammen auf die Jagd. — Hier bleibt der Lehrer stehen. Der ltzsel in Gesell­ schaft des Löwen? Wie stolz wird der Esel auf diese Gesell­ schaft gewesen sein! Der Löwe in Gesellschaft des Esels? Und

hatte sich denn der Löwe dieser Gesellschaft nicht zu schämen? Und so sind zwei Fabeln entstanden, indem man mit der Ge­ schichte der alten Fabel einen kleinen Ausweg genommen, der auch zu einem Ziele, aber zu einem andern Ziele führt, als Äsopus sich dabei gesteckt hatte.

Oder man verfolgt die Geschichte einen Schritt weiter: Die Fabel von der Krähe, die sich mit den ausgefallenen Fe­ dern anderer Vögel geschmückt hatte, schließt sich: Und die Krähe war wiederum eine Krähe. Vielleicht war sie nun auch etwas Schlechteres, als sie vorher gewesen war. Vielleicht hatte man ihr auch ihre eigenen glänzenden Schwingfedern mit ausgerissen, weil man sie gleichfalls für fremde Federn gehalten? So geht es dem Plagiarius. Man ertappt ihn hier, man ertappt ihn da, und endlich glaubt man, daß er auch das, was wirklich sein eigen ist, gestohlen habe. Oder man verändert einzelne Umstände in der Fabel. Wie, wenn das Stück Fleisch, welches der Fuchs dem Raben aus dem Schnabel schmeichelte, vergiftet gewesen wäre? Oder man nimmt auch den merkwürdigsten Umstand aus der Fabel heraus und baut auf denselben eine ganz neue Fabel. Dem Wolfe ist ein Bein in dem Schlunde stecken ge­ blieben. In der kurzen Zeit, da er sich daran würgte, hatten die Schafe also vor ihm Friede. Aber durfte sich der Wolf die gezwungene Enthaltung als eine gute Tat anrechnen? Herku­ les wird in den Himmel ausgenommen und unterläßt, dem Plutus seine Verehrung zu bezeigen. Sollte er sie wohl auch seiner Todfeindin, der Juno, zu bezeigen unterlassen haben? Oder würde es dem Herkules anständiger gewesen sein, ihr für ihre Verfolgung zu danken? Ich breche ab! denn ich kann mich unmöglich zwingen, einen Kommentar über meine eigenen Versuche zu schreiben.

Theodor Lindner. 244. Drei Heerführer im Kriege 1870. 1. Der Kronprinz. Der König war seit 1829 vermählt mit der Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar, einer hochgebildeten Fürstin, die später der Krankenpflege und milden Stiftungen hin­ gehende Tätigkeit zuwandte. Die Ehe war mit zwei Kindern gesegnet, einem Sohn und einer Tochter Luise, die 1856 dcu Großherzog Friedrich von Baden heiratete. Der Kron­ prinz Friedrich Wilhelm, geboren am 18. Oktober 1831, erhielt neben der militärischen Ausbildung eine sorgfältige wissenschaftliche Erziehung, und sein vielseitiger Geist öffnete sich gern dem Leben in allen seinen Erscheinungen. Besondere Vorliebe hegte er für die Geschichte, namentlich seines Staates und dessen großer Fürsten. Seine Gemahlin, die englische Prinzeß Viktoria, teilte diese Neigungen und verband mit ihnen eine eifrige Pflege der Künste. Während in König Wilhelm die eine Seite des hohenzollerischen Wesens, die treue Fürsorge für Haus und Staat, verkörpert war, gehörte der Kronprinz mehr zu den selt­ neren Charakteren dieser Familie, in denen sich das strenge Pflichtgefühl mit einer gewissen Weichheit und lebhaften Enipfindung paarte. Daher waren Vater und Sohn nicht von gleicher Art, und obgleich der edle Sinn beider keine Störung aufkommen ließ, dachte der Kronprinz in manchen Beziehungen anders. Fühlte sich der König stets in erster Linie als Preuße, war der Sohn für Deutschland begeistert. Überall schlug dem Thronfolger warme Liebe entgegen. Sein aus wahrer Liebenswürdigkeit entspringendes leutseliges Wesen, die ungezwungene Weise sich zu geben, seine mensch­ liche Teilnahme gewannen ihm alle Herzen. Ein hochge­ wachsener, schlanker Mann, das regelmäßige Gesicht von blondem Vollbart umrahmt, erschien er als das Ideal männ­ licher Schönheit. Seitdem seine Armee die Schlacht von

Königgrätz entschieden hatte, schmückte den glücklichen Feld­ herrn auch der Lorbeer des Sieges, aber die Vertrauten wußten, einen wie tief schmerzlichen Eindruck der blutige Jammer 1wr Schlachtfelder auf den bewunderten Helden gemacht hatte. In ihm schien sich alle Trefflichkeit har­ monisch zu vereinen. 2. Moltke.

Der geistvolle Kopf des Heeres war der Chef des Eeneralstabes, Helmut von Moltke. Einem alten mecklen­ burgischen Adelsgeschlecht entstammend, am 26. Oktober 1800 in Parchim geboren, empfing er, da sein Vater dänische Dienste genommen hatte, den ersten Unterricht in Kopen­ hagen, trat aber bald in die preußische Armee über. Schon als junger Offizier, nicht mit Glücksgütern, dafür mit glück­ lichster Begabung ausgestattet, erregte Moltke auf der Kriegs­ schule Aufmerksamkeit und wurde früh in den Generalstab versetzt, in dem er seine ganze Dienstzeit verblieb. Der lange, hagere Herr mit dem bartlosen, feingeschnittenen Gesicht, das int Alter zahllose kleine Falten durchfurchten, mit den festgeschlossenen Lippen und dem scharfen, klugen Blicke barg hinter seiner schlichten, anspruchslosen Erscheinung weiteste Kenntnisse, tiefsten Geist und regstes Verständnis für alles Schöne. Ein Meister der Feder, selbst ein sinniger Dichter, handhabte Moltke auch das Wort sicher und überzeugend, stets kurz und bündig, aber in den wenigen Worten Gedanken­ reichtum ausstreuend; der in seinem Amt und über seine Entwürfe Schweigsame konnte ein anregender und witziger Unterhalter sein. Wie in ihm ein Künstler steckte, faßte er auch die Krieg­ führung als eine nicht zu erlernende Wissenschaft, sondern als eine Kunst auf. Die Lehren eines Scharnhorst und Clause­ witz mit selbständigem Geiste ergreifend, stellte Moltke die Einzelheiten eines Feldzugsplanes nicht gleich auf weit hin­ aus bindend fest, sondern paßte im Verlaufe die Ausführung den wechselnden Lagen an; der besonnen überdachten, dann

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rasch entschlossenen Handlung innerhalb der Gesamtidee ließ er freien Raum. Wagemutig, mit stählernen Nerven, konnte er alles an die Erringung eines vollständigen Sieges setzen. Jede für einen Krieg erforderliche Maßnahme ließ er sorg­ fältig vorbereiten. Der Generalstab hatte stets für alle Fälle die Pläne fertig, um die Eisenbahnen zum ersten Aufmarsch auszunützen; die fremden Länder, ihre Straßen und Hilfs­ mittel wurden studiert. Durch seine sichere Beobachtung und unparteiische Auswahl erfreute sich das Heer einer so großen Anzahl ausgezeichneter Führer. Seit 1858 Chef des Großen Generalstabes, hatte Moltke auch den österreichischen Krieg vorbereitet und die Pläne für ihn aufgestellt. Erst durch diese Siege wurde sein Name allgemein bekannt, doch vor dem großen Strategen lag trotz seiner siebzig Jahre noch der höchste Gipfel des Ruhmes. 3. Bismarck. Das schneidigste Werkzeug des Heeres hatte im Dienste des Königs sein erster Minister in Bewegung gesetzt. Ge­ boren am 1. April 1815 zu Schönhausen, trat Bismarck zuerst als schärfster Vorfechter für ein machtvolles Königtum in die Öffentlichkeit. Anfangs dem Zusammengehen mit Österreich geneigt, erkannte er, seit 1851 Gesandter beim Deutschen Bunde in Frankfurt, wie wenig von Österreich für die gerechtfertigten Wünsche Preußens und für die Besse­ rung der elenden deutschen Zustände zu hoffen war; als Gesandter in Petersburg und nachher in Paris gewann er tiefen Einblick in die großeuropäische Politik. Überzeugt von dem Rechte seines Königs, trat er auch deswegen für die Neuordnung des Heeres ein, weil Preußen stark sein mußte, um die ihm gehörenden Aufgaben für sich und damit für das deutsche Volk durchzuführen. Bismarck war gleich gewaltig an Leib wie an Geist. Eine Hünengestalt, ein rechter deutscher Recke, schwer und breitschulterig, das mächtige Haupt stolz erhoben, aus den stark überbuschten Augen feurig blickend, sah er wie ein

Krieger aus, und mit Vorliebe trug er später die Kürassier­ uniform. In der Tat war er auch ein unerschrockener Kämpe; die Gefahr wägend, dann furchtlos wagend, der vorsichtig ausbog, um desto entschlossener vorzugehen, und sich nie überraschen ließ, denn stets hatte er alle Möglichkeiten er­ wogen., und war schlagfertig für jeden Fall. Auch in Herz und Sinn ein rechter Deutscher, war er stolz auf die Kraft des Volkes, dem er angehörte, und verzweifelte nie an dem Siege des gesunden Sinnes. Gern nahm er an den Freuden des Lebens Anteil, Feld und Wald waren ihm der liebste Aufenthalt. Zu seinem Könige hielt er wie ein Gefolgs­ mann der alten Zeit, in persönlicher Treue und ehrfurchts­ voller Liebe, und in seinem Herrn erblickte er zugleich den Hort des gesamten Vaterlandes. Mit starker Leidenschaft ausgerüstet, fühlte Bismarck leicht in sich die deutsche Wut entbrennen, und dann konnte er hintreten mit furchtbarer Gewalt. Seine Rede floß nicht glatt, sondern wuchtig dahin, bald die Einwürfe der Gegner vor sich hinst-oßend, wie ein Wildbach die Felsblöcke, bald die schwierigsten Fragen mit unentwegter Ruhe behandelnd. Reich an Bildern, an glücklich und geistreich ergriffenen Beispielen aus Geschichte und Leben, trafen seine Worte sicher und fest. Ebenso glänzend waren die diplomatischen Roten. Oft sprach der Verfasser seine Absichten mit ver­ blüffender Offenheit aus, ganz anders, als man es in der Politik gewohnt war. Bismarck konnte so sprechen und schreiben, weil er die Dinge erkannte und beherrschte, wie kaum je ein Staatsmann. Sein Sinn war auf den Kern ge­ richtet, der Schein blendete ihm den klaren Blick nicht. Richt auf Reden, sondern auf die machtvolle Tat kam es ihm an. Daher überwand er üt sich den Grundfehler der Deutschen. Bismarck hat einmal gesagt, er Habe von Natur mehr das Bedürfnis, nicht zu gehorchen, als zu herrschen be­ sessen, und derselbe Zug hatte die Deutschen politisch herunter­ gebracht. Er aber erkannte, daß ohne Macht, ohne feste Leitung, ohne Einheit nichts zu tun sei. Daher hielt er fest

an der königlichen und staatlichen Autorität, als dem eigent­ lichen Grunde alles politischen und wirtschaftlichen Be­ standes, darum aber wußte er auch, daß Deutschland nicht mit schönen Hoffnungen, sondern nur mit Blut und Eisen geeinigt werden könnte.

248. Kriegsleben 1870 und 1871. 1. In der Schlacht. Wenn die Schlacht beginnt, dann pocht jedes Männer­ herz an die Rippen. Die Geschütze brüllen den Eröffnungs­ gruß, den der Feind erwidert. Heulend fliegen hoch durch die Luft die Granaten heran, krachend platzen sie beim Ein­ schlagen, durch das aufsteigende weiße Pulverwölkchen sausen die scharfzackigen Sprengstücke herum. Nichts ist schwerer zu ertragen, als Granatfeuer in harrender Untätigkeit; am Boden liegend, sucht der Soldat seiner Furchtbarkeit zu entgehen. Endlich erschallt das Signal zum Vorgehen, die Leute springen auf wie Erlöste, obgleich nun erst der rechte Ernst beginnt. Schützenschwärme voran, dahinter die ge­ schlossene Kolonne, wird vormarschiert. Da pfeifen und surren die Gewehrkugeln rechts, links, überall; hier und da schallt aus den Reihen ein klatschender Ton, ein Auf­ schrei, die Getroffenen stürzen. Doch weiter, weiter! Nun ist die rechte Schußnähe erreicht; die Schützen suchen Deckung, knieend, liegend, hinter Baumstämmen, Erdaufwürfen oder in Vertiefungen, wie Gelegenheit ist. Es geht wieder vor­ wärts, die Offiziere mit geschwungenem Degen voran, mit ihnen die Kühnsten und Schnellsten, die übrigen in langer Kette folgend, bis von neuem Fuß gefaßt wird. Da rückt eine starke feindliche Truppe heran; die Ko­ lonne, die Schützen zur Seite, wartet, das Gewehr bereit, bis der rechte Augenblick da ist. „Legt an, Feuer!" — eine ge­ schlossene Salve sprüht dem Angreifer entgegen, Schnellfeuer knattert nach. Er weicht zurück, rasch hinter ihm her geht die Jagd. Plötzlich prasselt dem Verfolger ein Hagel von

Kartätschen oder Mitrailleusengeschvssen entgegen. Bor oder zurück? Doch besser hinan mit dem Bajonett durch den wal­ lenden Dampf gegen die Feuerschlünde! Sie werden genomnien oder ziehen sich in schneller Flucht zurück. Endlich steht die letzte Linie des Feindes in aller Stärke vor; erst Schnell­ feuer, dann drauf mit gefälltem Bajonett unter lautem Hurra und rasselndem Trommelschlag, die Fahnen hoch im Winde flatternd. Hält der Gegner stand, dann gilt es heißes Ringen Mann an Mann; Bajonett, Kolben, Säbel, selbst das Messerarbeiten. Wilder Ruf, lautes Jammergestöhn. Doch nur kurz ist der wütende Zusammenstoß: der Feind flieht, der Sieger ordnet seine Truppen und setzt die letzten Kräfte zur Verfolgung ein. Ist der Kampf zu Ende, so geben die Hörner das willkommene Signal: Stopfen! das Ganze sam­ meln! zur Einstellung des Gefechts. So geht es bei allen Truppenteilen, die nebeneinander fechten. Der einzelne, mit sich beschäftigt, weiß kaum, wie es beim Nachbar steht; die Oberleitung muß den Zusammen­ hang halten. Nur macht es sich nicht immer so schnell; stundenlang zieht sich manchmal das Feuergefecht hin, und ein Mann nach dem andern wird kampfunfähig. Nur ein Fuß breit vorwärts wird da schon zum schwer erkauften Ge­ winn. Oft muß der bereits gewonnene Boden wieder ge­ räumt werden, und neue Opfer sind nötig, ihn zurück­ zuerobern. Ringsum tobt betäubend der Lärm der Hölle; es dröhnt, knallt, rasselt, rollt, schwirrt, zischt; der Ruf der Anführer, das Kriegsgeschrei, das Jammern der Verwundeten, die dumpfstöhnende Klage der getroffenen Rosse, die Signale schrillen durcheinander. Der Erdboden bebt, grauer Pulver­ dampf, durchzuckt von den aus ehernen Mündern flam­ menden Feuerströmen, umhüllt schwer und dicht das grausige Bild. 2. Auf dem Marsch. Der Überlebende freut sich des rosigen Lichts und zieht munter seine Straße, der neuen Todesgefahr entgegen. Nicht

allein ihr, sondern auch harten Beschwerden. Denn nicht in dem Kampfe liegt die eigentliche Last des Krieges; schnell ist er überstanden und das Schicksal des Augenblicks, ob Leben oder Tod, entschieden. Täglich zehren am Körper die Anstrengungen des Marsches und die Entbehrungen und erschlaffen auf die Dauer auch den feurigsten Geist. Da zeigen sich erst die rechte Zucht und der Mannessinn. Da­ mals wechselten glühende Hitze und starke Regengüsse. Auf den rauhen Gebirgswegen durch die Vogesen brachen viele unter der Sonnenglut schweißgebadet zusammen, freilich nur, um nach kurzer Rast erholt nachzueilen. Gar bald, nach den ersten Märschen, sieben sich die Schwachen aus der Truppe aus; was dann bleibt, ist unverwüstlich. Wie oft wurde am frühen Morgen angetreten, und erst die Nacht brachte ein Ende des Weges. Eine marschierende Kolonne zieht sich weithin; die Leute, die es sich nach Möglichkeit bequem machen und die Klei­ dung lüften, gehen in Reihen an den Rändern der Straße, um weniger Staub aufzurühren und Wagen und Pferde durchzulassen. Zu Anfang ertönen lustige Lieder, mit der Zeit verstummen sie. Nötigt ein Hindernis, etwa eine vor­ überziehende Artillerie- oder Trainkolonne, zum Stillstand, dann wirft sich jeder Mann hin in den Graben, auf' das Feld, in den Staub, diese wenigen Minuten der Ruhe, selbst mit raschem Schlaf, zu genießen. Wenigstens war jetzt gestattet, auf dem Marsche zu trinken; vorausreitende Offiziere ließen in den Dörfern gefüllte Gefäße auf die Straße stellen, aus denen die Leute im Vorbeigehen schöpften. Um Mittag wird im freien Felde abgekocht. Das klingt schön, war es aber nicht immer. Wenn trockenes Holz fehlt und grünes genommen werden muß, dann dauert es lange, ehe eine brauchbare Flamme aus dem beißenden Qualm herausschlägt, und manchmal ist alle Mühe umsonst. Das Fleisch, fast immer frisch, oft einem erst an Ort und Stelle abgeschlachteten Tiere entnommen, bleibt zäh und unschmack­ haft; dann tröstet man sich mit der Brühe, der Kartoffeln

und Brot festem Bestand geben. Daß der Rauch iu das Kochgeschirr hineinschlägt und seine brenzlige Würze mit­ teilt, nimmt der Hungrige gleichmütig hin. Wenn es nur überhaupt etwas zu kochen gibt! Will es das böse Geschick, dann ertönt, während das Geschäft noch im besten Gange ist, das'Signal zum Aufbruch, und wer sich nicht Mund und Magen verbrennen mag, muß die schöne Brühe wegschütten. Sind jedoch einmal gute Zeiten und reichliche Lieferungen, dann zeigen die Kochkünstler stolz ihre Fertigkeit in der Zu­ richtung von Feldleckerbissen. Die Nachtrast, oft in stau­ bigen Scheunen, bietet wenig Erquickung, ein Biwak im Freien auf reichlichem Stroh ist bei heiterem Wetter vor­ zuziehen. Im Regen auf feuchter Wiese oder in wasser­ gefüllten Ackerfurchen macht es allerdings wenig Freude, und der Marsch in den nassen, schweren Kleidern auf schlüpf­ rigem Wege ermüdet erst recht. Die Trommel und die gellende Querpfeife wirkten dabei oft Wunder, und wenn zuletzt vor dem Abrücken in die Einzelquartiere an dem gerade Höchstbefehlenden in Parademarsch vorbeigezogen wurde, streckten sich die müden und wunden Beine so stramm, als wenn sie nur einen Spaziergang hinter sich hätten. Die Verpflegung genügte nicht immer. Gar manchmal quälte der Hunger, und der Durst tat weh, doch der Kaffee, die Haupterquickung, war immer vorhanden. Obgleich jede Kompanie einige Kaffeemühlen besitzt, macht es sich kürzer, die Bohnen mit dem Gewehrkolben oder darüber gerolltem Flaschenbauch zu zerquetschen. Ob auch die Stücke ziemlich groß bleiben, und kein Sieb vorhanden ist, ob Milch und Zucker, den der Soldat sehr liebt und teuer bezahlt, fehlen, das warme Getränk schmeckt und belebt immer. Der Koch­ geschirrdeckel nützt zu allen möglichen Zwecken, als Wasch­ napf, als Tasse, als Suppenschüssel, als Teller; man nimmt es eben im Felde nicht so genau. Der Soldat lerut auch den Hunger zu bezwingen und den Leibriemen eng anzuzieheu, wenn es nicht so lange dauert, daß die Kräfte schwinden.

Schließlich siegen doch der Eifer und die unverwüstliche gute Laune über alles Ungemach. Es ist der Vorzug des Sol­ daten, daß ihm die Lustigkeit nicht ausgeht. Sie äußert sich manchmal recht derb, aber sie ist unendlich viel wert, und die verständigen Vorgesetzten suchen sie zu erhalten. In jeder Kompanie, in jeder Korporalschaft gibt es Spaßvögel, die stets einen empfänglichen Boden bei den Kameraden finden. Wohl muß auch manchmal ein Ungeschickter oder Dummer als Zielscheibe herhalten, und er tut dann am besten, mitzulachen. Die Witze werden leicht ständig, und einmal aufgebrachte Schlagwörter halten lange vor, aber zünden immer. Wenn die müden Beine kaum noch vor­ wärts können, der leere Magen knurrt und die Truppe mühselig und stumm daherschleicht, dann ertönt oft plötzlich ein lautes Scherzwort aus den Reihen und pflanzt sich fort; gleich geht es wieder frischer. Das Neue, was der Soldat zu sehen bekommt, regt auch an, und er übersetzt es sich leicht in seine Denkweise. Sehr liebt er seltsame Mumurereien. Die Zipfelmützen der französischen Bauern machteil

im Nachtquartier viel Spaß, ebenso französische Uniform­ stücke. Nach den Schlachten trugen ganze Kompanien weiße Baumwollhandschuhe, die sie in den abgeworfenen Tornistern der Franzosen fanden. Als bei Wörth im Gepäck franzö­ sischer Oberoffiziere auch Frauenkleider erbeutet wurden, warfen sie die Soldaten in einem Augenblick der Ruhe noch während der Schlacht über und vergnügten sich an einem raschen Tänzchen.

Hermann Löns. 246. Die Otter. „Jetzt wird es schön!" denkt die Maus, die in dem krausen Stechpalmenbusch wohnt, der unter der breit­ ästigen Hüteeiche steht. Ein feines Versteck hat sie da. Die Hütejungen haben

sich dort eine Moosbank gemacht, in der eine Maus schon wohnen kann, vorzüglich, weil sich dort nebenbei immer allerlei zu fressen findet, das es anderswo nicht gibt: Brot­ krümchen, Wursthaut, Käsebrocken, Apfelschale, Pflaumen­ kerne und sonst noch allerlei. Es ist darum kein Wunder, daß die Waldmaus so kugelrund aussieht, trotzdem der Winter hart und lang war. Es wächst ja soviel Pfeifengras auf dem Damme, am Grabenrand wuchert die Heide; beider Samen finden sich in Masse. Der Wald ist nicht weit, und da liegen die Früchte von Fichte und Erle, Kiefer und Birke und dürre Beeren aller Art, und an allerlei Geziefer ist auch kein Mangel. „Wie schön warm es heute ist!" denkt das rote Mäuschen und macht vor Freude einen Hopser nach dem andern. „Sitzt da nicht ein fetter Käfer? natürlich!" Schwupp, hat sie ihn, beißt ihn tot, reißt Flügel und Beine ab und verspeist ihn, auf den Keulen sitzend und die Beute in den Vorderfüßchen haltend. „Und das da, das ist ja eine von den saftigen, bekömmlichen Raupen! Ach ja, die gute Zeit ist da!" Genau dasselbe denkt das Ungetüm, das breit und faul unter dem Stechpalmenbusche liegt und sich von der Aprilsonne bescheinen läßt. Schon seit einer Stunde liegt die Kreuzotter da und läßt die Maus nicht aus den Augen. So, wie sie daliegt, sieht sie wie eine braune, mit schwarzen Moospolsterchen bewachsene Kiefernwurzel aus, und nur die roten Mörderaugen und die ab und zu hervorzuckende Zunge zeigt, daß es ein Wesen von Fleisch und Blut ist. Vom Herbste bis zum Frühling lag sie steif und starr unter der Moosbank, und über ihr wohnte die Maus. Als die Sonne wieder warm schien, im Graben frisches Grün auftauchte und die Zitronenfalter flogen, erwachte die Otter, kroch aus ihrem Verstecke, trank sich am Tau satt und wärmte sich an der Sonne, bis sie wieder geschmeidig wurde. Dann kroch sie so lange zwischen den Heidkrautstengeln umher, bis ihre alte Haut als silbergraues Netz-

werk darin hängen blieb, erholte sich von der Anstrengung und merkte dann, daß sie sehr hungrig war. „Sieh da, sieh da, eine Maus!" denkt sie. Eben war sie da, jetzt ist sie dort. Mäuse sind flink, Ottern sind langsam; aber Mäuse sind unvorsichtig, und Ottern haben Zeit. Die roten Augen gehen immer dahin, wo die Maus ist. Ganz langsam schiebt die Otter sich vorwärts, dahin, wo die Maus eben hinsprang. Sie weiß, sie kommt den­ selben Weg wieder zurück. Da ist sie auch schon. EiN'e Fliege mit verkrüppelten Flügeln hüpft hilflos im Sande hin und her. Das lockt die Maus. Ein Sprung, und sie hat die Fliege, und die Mahlzeit beginnt. Langsam hebt die Otter den Kopf, blitzschnell läßt sie ihn nach der Maus zucken und schlägt ihr die Giftzähne in den Nacken. Das Mäuschen piept auf, läßt die Fliege fallen, macht einen Sprung und noch einen, fällt um, zittert und verendet. Langsam kriecht die Schlange näher, bezüngelt ihre Beute, reißt den Rachen auf, umfaßt den Kopf der Maus und würgt sie hinab. Dann kriecht sie auf ihren Lauerplatz zurück. Eine Stunde liegt sie fast regungslos da, dann aber kommt wieder Leben in ihre Augen. Ein Sumpfmeisenpärchen turnt in dem Schlehen­ busch umher, der an der anderen Seite der Eiche steht. Behutsam schiebt das Untier sich voran; sind auch die Meisen oben im Busch, vielleicht kommen sie tiefer.

„Sieh! sieh da! da!" ruft das Meisenmännchen und pickt ein Räupchen nach dem andern aus den Blüten­ knospen. Aber da unten, dicht über der Erde, sind die Knospen schon aufgeblüht, und aus jeder dritten läßt sich ein dickes, fettes Räupchen an einem Faden in das Moos hinab. Immer tiefer turnen die beiden grauen, schwarzmützigen Vögelchen, und jetzt huscht das eine auf den Boden und pickt die Räupchen aus dem Moose. „Piep!" sagt es auf einmal, flattert in die Höhe, fällt herunter, schlägt mit den Flügeln, zittert und bleibt tot liegen. Ent­ setzt fliegt das Männchen näher, jammert schrecklich und

flattert hin und her, und schließlich fliegt es zu dem Weib­ chen hin. Da schnellt der Otterkopf noch einmal aus dem welken Grase heraus, und gleich darauf liegt auch das Männchen tot da.

Zwei Tage und zwei Nächte verdaut die Otter, dann bekommt sie neuen Hunger. Eine Wasserspitzmaus, die ant Grabenrande nach Raupen sucht, fällt unter den Gistzäh­ nen, und ein Moorfrosch, der sich an der Sonne freut und auf Mücken jagt, hat dasselbe Schicksal. Auch das Zaunkönigweibchen, das in dem Schlehenbusche nach Spin­ nen sucht, stirbt einen schnellen Tod, und die Feldmaus, die hastig durch das alte Laub huscht, hält mitten im Laufen inne, piept auf und fällt um. Die alte Otter war gar nicht dumm, als sie sich diese Stelle hier als Stand

wählte; Feld, Moor, Weide und Wald stoßen hier zu­ sammen, und so gibt es Beute von aller Art, Feldmäuse, Waldmäuse, Zwergmäuse, Spitzmäuse, vielerlei Frösche für den Notfall und so manchen kleinen Vogel. Es läßt sich hier schon leben. Das meinen die Hütejungen auch, die mit ihren Kühen angesungen kommen. Da ist der Wald, in dem es später allerlei Beeren und auch Nüsse gibt; hier ist der Teich, darin kann man baden, wenn es sehr heiß ist. Und dort ist die Moosbank, auf der es sich so weich sitzt, und von der aus man, ein tüchtiges Butterbrot in der Hand, so weit über die Feldmark und das Moor bis zu dem blauen Walde sehen, den Storch in der grünen Wiese und den Bussard am blauen Himmel beobachten kann. Hasen kom­ men an, Rehe ziehen vorüber, Kiebitze, Krähen und Elstern zeigen sich, am Graben huschen Eidechsen, quaken Frösche. Bunte Käfer rennen hastig über den Sandweg; wenn sie auffliegen, blitzen sie wie Edelsteine. Allerlei Schmetter­ linge fliegen und rote Wespen, die Spinnen und Raupen in ihre Erdlöcher schleppen. Es ist sehr viel los an dieser Stelle.

Aber die Moosbank ist über Winter etwas baufällig

geworden; sie muß ausgebessert werden. Konrad geht Moos holen, und Krischan räumt das alte Laub und das ver­ welkte Gras fort. Gerade als Konrad mit dem alten Sack, der ihm als Regenmantel dient, voller Moos zurückkommt, schreit Krischan auf und hält seinem Bruder mit kreide­ bleichem Gesicht die Hand entgegen. Er ist der Otter zu nahe gekommen, und sie hat ihn in den Finger gebissen. Im Sturmschritt rennen beide Jungen dem Dorfe zu. Der Vater unterbindet die Wunde, die Mutter macht einen Umschlag von dicker Milch, der Knecht spannt an, und der Vater fährt, so schnell die Pferde nur laufen können, zum Kirchdorfe, wo der Arzt wohnt. Der schneidet den Finger an, macht Einspritzungen, und nach vierzehn Tagen kann Krischan den Arm wieder bewegen; wenn aber ein Ge­ witter heraufzieht, tut ihm der Arm noch sehr weh. Es war ein schwüler Maitag gewesen, als die Otter den Jungen biß, einer von den Tagen, an denen die Ottern Heißhunger haben. Da nun die Jungens bei der Moosbank so viel Unruhe gemacht hatten, ließ sich weder Maus noch Vogel blicken, und da es mit der Anstands­ jagd nichts wurde, ging die Schlange auf die Pürsche. Sie war schon dicht bei dem Waldrande, in dessen Vorbüschen sie Jungvögel nach Futter piepen hörte, da flog ein großer Vogel aus der Zitterpappel. Es war der Bussard, der hier auf Mäuse lauerte. Froh über die fette Beute, stieß er herab, faßte die Otter hinter den Kopf und über den Rücken, biß ihr den Kopf entzwei und flog gerade auf, um sie seinen Jungen zuzutragen, da kam der Jäger um die Ecke, riß das Gewehr an den Kopf und schoß den guten Vogel tot. Als er ihn aber aufnahm, sah er, daß der eine Kreuz­ otter in den Fängen hielt, und da schämte er sich doppelt; denn im vorigen Sommer war ihm seine Teckelhündin an dem Bisse einer Otter eingegangen.

Luise, Königin von Preußen. 247. Brief an ihren Vater aus dem Jahre 1809. Bester Vater! Mit uns ist es aus, wenn auch nicht für immer, doch für jetzt. Für mein Leben hoffe ich nichts mehr. Ich habe mich ergeben, und in dieser Ergebung, in dieser Fügung des Himmels bin ich jetzt ruhig und in solcher Ruhe, wenn auch ni,cht irdisch glücklich, doch, was .mehr sagen will, geistig glückselig. Es wird mir immer klarer, daß alles so kommen mußte, wie es gekommen ist. Die göttliche Vorsehung leitet unverkennbar neue Weltzustände ein, und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat und in sich selbst als abgestorben zusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeern Friedrichs des Großen, welcher, der Herr seines Jahr­ hunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns. Das siehet niemand klarer ein als der König. Noch eben hatte ich mit ihm darüber eine lange Unterredung, und er sagte in sich gekehrt wiederholentlich: „Das muß auch bei uns anders werden!" Gewiß wird es besser werden: das verbürgt der Glaube an das vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon Bonaparte fest und sicher auf seinem jetzt freilich glänzenden Thron ist. Er ist von seinem Glück geblendet, und er meint alles zu vermögen. Dabei ist er ohne alle Mäßigung, und wer nicht Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht und fällt. Ich glaube fest an Gott, also auch an eine sittliche Weltordnung. Diese sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin ich der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird. Diese hoffen, wünschen und erwarten alle bessern Menschen, und durch die Lobredner der jetzigen und ihres großen Helden darf man sich nicht irre machen lassen. Ganz

unverkennbar ist alles, was geschehen ist und geschieht, nicht das Letzte und Gute, wie es werden und bleiben soll, sondern nur die Bahnung des Weges zu einem bessern Ziele hin. Dieses Ziel scheint aber in weiter Entfernung zu liegen, wir werden es wahrscheinlich nicht erreicht sehen und darüber hinsterben. Wie Gott will! alles, wie er will! Aber ich finde Trost, Kraft und Mut und Heiterkeit in dieser Hoff­ nung, die tief in meiner Seele liegt. Ist doch alles in der Welt nur Übergang! Wir müssen durch. Sorgen wir nur dafür, daß wir mit jedem Tage reifer und besser werden. Hier, lieber Vater, haben Sie mein politisches Glaubens­ bekenntnis, so gut ich als eine Frau es formen und zu­ sammensetzen kann. Sie sehen wenigstens daraus, daß Sie auch im Unglück eine fromme, ergebene Tochter haben, und daß die Grundsätze christlicher Gottesfurcht, die ich Ihren Belehrungen und Ihrem frommen Beispiele verdanke, ihre Früchte getragen haben und tragen werden, so lange Odem in mir ist. Gern werden Sie, lieber Vater, hören, daß das Un­ glück, welches uns getroffen, in unser eheliches und häus­ liches Leben nicht eingedrungen ist, vielmehr dasselbe be­ festigt und uns noch werter gemacht hat. Der König, der beste Mensch, ist gütiger und liebevoller, als je. Oft glaube ich in ihm den Liebhaber, den Bräutigam zu sehen. Mehr

in Handlungen, wie er ist, als in Worten ersehe ich die Aufmerksamkeit, die er in allen Stücken für mich hat, und noch gestern sagte er schlicht und einfach, mit seinen treuen Augen mich ansehend, zu mir: „Du, liebe Luise! bist mir im Un­ glück noch werter und lieber geworden. Nun weiß ich aus Erfahrung, was ich an dir habe. Mag es draußen stürmen — wenn es in unserer Ehe nur gut Wetter ist und bleibt. Weil ich dich so lieb habe, habe ich unser jüngst geborenes Töchterchen Luise genannt. Möge es eine Luise werden!" — Bis zu Tränen rührte mich diese Güte. Es ist mein Stolz, meine Freude und mein Glück, die Liebe und Zu­ friedenheit des besten Mannes zu besitzen, und weil ich ihn

von Herzen wieder liebe und wir so miteinander eins sind, daß der Wille des einen auch der Wille des andern ist, wird es mir leicht, dies glückliche Einverständnis, welches mit den Jahren inniger geworden ist, zu erhalten. Mit einem Wort, er gesällt mir in allen Stücken, und ich gefalle ihm, und uns ist am wohlsten, wenn wir zusammen sind. Ver­ zeihen Sie, lieber Vater^ daß ich dies mit einer gewissen Ruhmredigkeit sage; es liegt darin der kunstlose Ausdruck meines Glückes, welches keinem auf der Welt wärmer am Herzen liegt, als Ihnen, bester, zärtlicher Vater! Gegen andere Menschen, auch das habe ich von dem Könige gelernt, mag ich davon nicht sprechen; es ist genug, daß wir es wissen. Unsere Kinder sind unsere Schätze, und unsere Angen ruhen voll Zufriedenheit und Hoffnung auf ihnen. Der Kronprinz ist voller Leben und Geist. Er hat vorzügliche Talente, die glücklich entwickelt und gebildet werden. Er ist wahr in allen seinen Empfindungen und Worten, und seine Lebhaftigkeit macht Verstellung unmöglich. Er lernt mit vorzüglichem Erfolge Geschichte, und das Große und Gute zieht seinen idealischen Sinn an sich. Für das Witzige hat er viel Empfänglichkeit, und seine komischen, über­ raschenden Einfälle unterhalten uns sehr angenehm. Er hängt vorzüglich an der Mutter, und er kann nicht reiner sein, als er ist. Ich habe ihn sehr lieb und spreche oft mit ihm davon, wie es sein wird, wenn er einmal König ist.

Unser Sohn Wilhelm (erlauben Sie, ehrwürdiger Groß­ vater, daß ich Ihre Enkel nach der Reihe Ihnen vorstelle), wird, wenn mich nicht alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig. Auch in seinem Äußern hat er die meiste Ähnlichkeit mit ihm; nur wird er, glaube ich, nicht so schön. Sie sehen, lieber Vater, ich bin noch in meinen Mann verliebt. Unsere Tochter Charlotte macht mir immer mehr Freude; sie ist zwar verschlossen und in sich gekehrt, verbirgt aber, wie ihr Vater, hinter einer scheinbar kalten Hülle ein warmes, teilnehmendes Herz. Scheinbar gleich­ gültig geht sie einher; hat aber viel Liebe und Teilnahme. Hessel und Ufer, Lesebuch 6. M. 25

Daher kommt es, daß sie etwas Vornehmes in ihrem Wesen hat. Erhält sie Gott am Leben, so yhne ich für sie eine glänzende Zukunft. Karl ist gutmütig, fröhlich, bieder und talentvoll; körperlich entwickelt er sich ebensogut als geistig. Er hat oft naive Einfälle, die uns zum La-chen reizen. Er ist heiter und witzig. Sein unaufhörliches Fragen setzt mich oft in Verlegenheit, weil ich sie nicht beantworten kann und darf; doch zeugt es von Wißbegierde — zuweilen, wenn er schlau lächelt, auch von Neugierde. Er wird, ohne die Teilnahme an dem Wohl und Wehe anderer zu ver­ lieren, leicht und fröhlich durchs Leben gehen. — Unsere Tochter Alexandrine ist, wie Mädchen ihres Alters und Naturells sind, anschmiegend und kindlich. Sie zeigt eine richtige Auffassungsgabe, viel Verstand, eine lebhafte Ein­ bildungskraft und kann oft herzlich lachen. Für das Komische hat sie viel Sinn und Empfänglichkeit. Sie hat Anlage zunr Satirischen und siehet dabei ernsthaft aus, doch schadet das ihrer Gemütlichkeit nicht. Von der kleinen Luise läßt sich noch nichts sagen. Sie hat das Vrofil ihres redlichen Vaters und die Augen des Königs, nur etwas Heller. Sie heißt Luise; möge sie ihrer Ahnfrau, der liebenswürdigen und frommen Luise von Oranien, der würdigen Gemahlin des großen Kurfürsten, ähnlich werden! Ta habe ich Ihnen, geliebter Vater, meine ganze Galerie vorgeführt. Sie werden sagen: das ist mal eine in ihre Kinder verliebte Mutter, die an ihnen nur Gutes siehet und für ihre Mängel und Fehler keine Augen hat. Und in Wahrheit, böse Anlagen, die für die Zukunft besorgt machen, finde ich an allen nicht. Sie haben, wie andere Menscheri­ kinder, auch ihre Unarten; aber diese verlieren sich mit der Zeit, so wie sie verständiger werden. Umstände und Ver­ hältnisse erziehen den Menschen, und für unsere Kinder mag es gut sein, daß sie die ernste Seite des Lebens schon in ihrer Jugend kennen lernen. Wären sie im Schoße des Überflusses und der Bequemlichkeit groß geworden, so würden sie meinen, das müsse so sein. Daß es aber anders kommen

kann, sehen sie an dem ernsten Angesicht ihres Vaters und der Wehmut und den öfteren Tränen der Mutter. Be­ sonders wohltätig ist es dem Kronprinzen, daß er das Un­ glück schon als Jüngling kennen lernt; er wird das Glück, wenn, wie ich hoffe, künftig für ihn eine bessere Zeit koinmen toiii), um so höher schätzen und um so sorgfältiger be­ wahren. Meine Sorgfalt ist meinen Kindern gewidmet für und für, und ich bitte Gott täglich in meinem sie einschließen­ den Gebete, daß er sie segne und seinen guten Geist nicht von ihnen nehmen möge. Mit dem trefflichen Hufeland sympathisiere ich auch in diesen Stücken. Er sorgt nicht bloß für das physische Wohl meiner Kinder, auch für das geistige derselben ist er bedacht; und der biedere, freimütige Borowsky, den der König gern sieht und lieb hat, stärkt darin. Erhält Gott sie uns, so erhält er meine besten Schütze, die niemand mir entreißen kann. Es mag kommen, was da will, mit und in der Vereinigung mit unsern guten Kindern werden wir glückselig sein. Ich schreibe Ihnen dies, geliebter Vater, damit Sie mit Beruhigung an uns denken. Ihrem freundlichen An­ denken empfehle ich meinen Mann, auch unsere Kinder alle, die dem ehrwürdigen Großvater die Hände küssen; und ich bin, und ich bleibe, bester Vater, Ihre dankbare Tochter Luise.

Helmut Graf von Moltke. 248. Eine Fahrt auf dem Tigris. Dschesireh am Tigris, den 1. Mai 1838. Am 15. April setzten v. M. und ich uns mit zwei wohlbewaffneten Agas des Paschas, unsern Dragomans und Bedienten, auf ein Fahrzeug, welches so konstruiert war, wie man es schon zu Cyrus Zeiten verstand, auf ein Floß nämlich von aufgeblasenen Hammelhäuten. Die Türken halten die Jagd für unrecht, verschmähen das Wild und

verachten Rindfleisch, dagegen verzehren sie eine große Menge von Schafen und Ziegen; die Häute dieser Tiere werden so wenig wie möglich vorn an der Brust zerschnitten und sorgfältig abgezogen, dann zusammengenäht und die Extremitäten zugebunden. Wird nun der Schlauch auf­ geblasen (was schnell und ohne den Mund unmittelbar daran zu bringen geschieht), so hat er eine große Tragfähigkeit und kann fast nicht zu gründe gehen; vierzig bis sechzig werden dann unter ein leichtes Gerüste von Baumzweigen in vier oder fünf Reihen so zusammengebunden, daß das Floß vorn etwa acht, hinten achtzehn Schläuche breit ist; darüber wird etwas Laub, dann eine Matte und Teppiche gebreitet, und so fährt man ganz gemächlich den Fluß hinab. Bei der Schnelligkeit der Strömung sind die Ruder nicht nötig, um vorwärts zu kommen, sondern nur um das Fahr­ zeug zu lenken, es mitten in der Bahn zu erhalten und gefährliche Wirbel zu vermeiden. Obwohl wir dieser Stellen wegen des Nachts bis zum Aufgang des Mondes liegen bleiben mußten, so machten wir doch den 88 Stunden wei­ ten Weg in viertehalb Tagen. Die Schnelligkeit des Stroms muß daher durchschnittlich fast eine Meile in der Stunde betragen; sie ist aber an einigen Stellen weit größer, an andern geringer........... .... Man kann nicht bequemer reisen, als wir es taten: auf weiche Polster hingestreckt, mit Lebensmitteln, Wein, Tee und einem Kohlenbecken versehen, glitten wir schnell und ohne Anstrengung mit der Schnelligkeit einer Extrapost vorwärts. Aber das Element, welches uns be­ förderte, verfolgte uns in anderer Gestalt; der Regen strömte seit unserer Abreise von Diarbehir unaufhörlich vom Himmel, unsere Schirme schützten uns nicht mehr, und Kleider, Mäntel und Teppiche waren durchweicht. Am Osterfeiertag, als wir Dschesireh wieder verließen, war die Sonne hervorgebrochen und durchwärmte unsere erstarrten Glieder; nun liegen aber eine halbe Stunde unterhalb der Stadt die Trümmer einer zweiten Brücke über den Tigris,

und ein Pfeiler derselben verursacht bei hohem Wasserstaud einen gewaltigen Strudel; alle Anstrengung der Ruderer half nichts, unwiderstehlich zog diese Charybdis unsere kleine Arche an sich, wie ein Pfeil schoß sie in den tiefen Schlund hinab, und eine hohe Welle ging über unsere Köpfe fort. Das Wasser war eisig kalt, und als das Fahrzeug im nächsten Augenblick ohne umzuschlagen schon harmlos weiter tanzte, konnten wir das Lachen über die trübselige Gestalt nicht zurückhalten, welche jeder von uns zur Schau trug. Das Kohlenbecken war über Bord gegangen, ein Stiefel schwamm neben uns her, und jeder fischte noch eine Kleinigkeit im Strom. Wir landeten auf einem Eiland, und da unsere Mantelsäcke ebenso durchnäßt waren, wie wir selbst, so blieb nichts übrig, als uns auszuziehen und die gesamte Toilette, so gut es gehen wollte, an der Sonne zu trocknen. In geringer Entfernung, auf einer andern Sandbank, saß ein Schwarm Pelikane, die, als wollten sie uns verhöhnen, ebenfalls ihr weißes Gewand sonnten; plötz­

lich merkten wir, daß unser Floß sich losgemacht und auf und davon schwamm, der eine Aga stürzte sich sogleich ins Wasser und erreichte es noch glücklich, sonst wären wir im Naturzustande auf der wüsten Insel zurückge­ blieben. Nachdem wir uns notdürftig getrocknet, setzten wir unsere Reise fort, aber neue Regengüsse machten die Arbeit unnütz; die Nacht war so finster, daß wir aus Besorgnis, in neue Strudel zu geraten, anlegen mußten. Trotz der empfindlichsten Kälte und durchnäßt bis auf die Haut, wagten wir nicht, ein Feuer anzuzünden, weil wir sonst die Araber herbeigelockt hätten; wir zogen unser Floß in aller Stille unter einen Weidenbaum und erwarteten sehn­ süchtig, daß die Sonne hinter dem persischen Grenzgebirge emporsteigen möchte, uns zu erwärmen. Von Dschesireh an tritt der Tigris wieder in die Ebene und entfernt sich von dem hohen prachtvollen Dschüdid-Gebirge, auf dessen leuchtenden Schneegipfeln

nach der Sage des Volks Noah mit seiner gemischten Ge­ sellschaft debarkiert haben soll. Die Gegend wird nun sehr einförmig, selten entdeckt man ein Dorf, und die mehrsten derselben sind unbewohnt und zerstört; man erkennt, daß man in den Bereich der Araber getreten ist; nirgends er­ blickt man einen Baum, und wo sich ein kleiner Strauch erhalten, da ist er „Sirareth" oder Heiligtum und mit zahllosen Fetzen von Kleidern bedeckt, denn die Kranken glauben zu genesen, wenn sie einen Teil ihres Anzuges dem Heiligen weihen. Auf einem isolierten Berg von bedeutender Erhebung sahen wir schon aus großer Ferne die Trümmer einer alten Stadt; wir umschifften diese Höhe an ihrem nördlichen, östlichen und südlichen Fuß; ich vermute, daß dies das alte Bazabde gewesen ist, von welchem berichtet wird, daß es in der Wüste gelegen, auf drei Seiten vom Tigris um­ flossen war............ .... An den Trümmern des sogenannten alten Mossul schifften wir vorüber und entdeckten gegen Abend die Minarehs von Mossul; dies ist der östlichste Punkt, den ich erreicht habe.

249. Der Araber tinb sein Pferd. Ein türkischer Kavallerie-General, Dano-Pascha zu Mardin, stand schon seit lange in Unterhandlung mit einem arabischen Stamme wegen einer edlen Stute vom Geschlecht Meneghi; endlich vereinigte man sich zu dem Preise von 60 Beuteln oder nahe an 2000 Talern. Zur verabredeten Stunde trifft der Häuptling des Stammes mit seiner Stute int Hofe des Paschas ein; dieser versucht noch zu handeln, aber der Scheich erwidert stolz, daß er nicht einen Para hcrablasse. Verdrießlich wirft der Türke ihm die Summe hin mit der Äußerung, daß 30000 Piaster ein unerhörter Preis für ein Pferd sei. Der Araber blickt ihn schweigend an und bindet das Geld ganz ruhig in seinen weißen Mantel, dann steigt er in den Hof hinab, um Abschied von seinem

Tiere zu nehmen; er spricht ihm arabische Worte ins Ohr, streicht ihm über Stirn und Augen, untersucht die Hufe und schreitet bedächtig und musternd rings um das aufmerk­ same Tier. Plötzlich schwingt er sich auf den nackten Rücken des Pferdes, welches augenblicklich vorwärts und zum Hofe hinausschießt. In der Regel stehen hier die Pferde tags und nachts mit dem Palam oder Sattel aus Filzdecken. Jeder vor­ nehme Mann hat wenigstens ein oder zwei Pferde im Stall bereit, die nur gezäumt zu werden brauchen, um sie zu be­ steigen ; die Araber aber reiten ganz ohne Zaum, der Halfter­ strick dient, um das Pferd anzuhalten, ein leiser Schlag mit der flachen Hand auf den Hals, es links oder rechts zu lenken. Es dauerte denn auch nur wenige Augenblicke, so saßen die Agas des Paschas im Sattel und jagten dem Flüchtling nach. Der unbeschlagene Huf des arabischen Rosses hatte noch nie ein Steinpflaster betreten, und mit Vorsicht eilte es den holprigen, steilen Weg vom Schlosse hinunter. Die Türken hingegen galoppieren einen jähen Abhang mit scharfem Ge­ röll hinab, wie wir eine Sandhöhe hinan; die dünnen, ring­ förmigen, kalt geschmiedeten Eisen schützen den Huf vor jeder Beschädigung, und die Pferde, an solche Ritte ge­ wöhnt, machen keinen falschen Tritt. Am Ausgange des Orts haben die Agas den Scheich beinahe schon ereilt: aber jetzt sind sie in der Ebene, der Araber ist in feinem Elemente und jagt fort in gerader Richtung, denn hier hemmen weder Gräben noch Hecken, weder Flüsse noch Berge seinen Lauf. Wie ein geübter Jockey, der beim Rennen führt, kommt es dem Scheich darauf an, nicht so schnell, sondern so langsam wie möglich zu reiten; indem er be­ ständig nach seinen Verfolgern umblickt, hält er sich auf Schußweite von ihnen entfernt; dringen sie auf ihn ein, so beschleunigt er seine Bewegung, bleiben sie zurück, so verkürzt er die Gangart des Tiers, halten sie an, so reitet er Schritt. In dieser Art geht die Jagd fort, bis die glühende

Sonnenscheibe sich gegen Abend senkt; da erst nimmt er alle Kräfte seines Rosses in Anspruch; er lehnt sich vornüber, stößt die Fersen in die Flanke des Tiers und schießt mit einem lauten Jallah! davon. Der feste Rasen erdröhnt unter dem Stampfen der kräftigen Hufe, und bald zeigt nur noch eine Staubwolke den Verfolgern die Richtung an, in welcher der Araber entfloh. Hier, wo die Sonnenscheibe fast senkrecht zum Horizont hinabsteigt, ist die Dämmerung äußerst kurz, und bald ver­ deckt die Nacht jede Spur des Flüchtlings. Die Türken, ohne Lebensmittel für sich, ohne Wasser für ihre Pferde, finden sich wohl zwölf oder fünfzehn Stunden von ihrer Heimat entfernt in einer ihnen ganz unbekannten Gegend. Was war zu tun? als — umzukehren und dem erzürnten Herrn die unwillkommene Botschaft zu bringen, daß Roß und Reiter und Geld verloren. Erst am dritten Abend treffen sie, halb­ tot vor Erschöpfung und Hunger, mit Pferden, die sich kaum noch schleppen, in Mardin wieder ein; ihnen bleibt nur der traurige Trost, über dieses neue Beispiel von Treu­ losigkeit eines Arabers zu schimpfen, wobei sie jedoch ge­ nötigt sind, dem Pferde des Verräters alle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und einzugestehn, daß ein solches Tier nicht leicht zu teuer bezahlt werden kann. Am folgenden Morgen, als eben der Jman zum Früh-gebet ruft, hört der Pascha Hufschlag unter seinen Fenstern, und in den Hof reitet ganz harmlos unser Scheich. „Sidi!" ruft er hinauf, „Herr! willst du dein Geld oder mein Pferd?"

250. Bon der Belagerung von Paris. (Aus einem Briefe an seinen Bruder Adolf.)

Versailles, den 22. Dezember 1870. Lieber Adolf!... Die allgemeine Sehnsucht nach Beendigung dieses furchtbaren Krieges läßt in der Heimat vergessen, daß er erst fünf Monate dauert, man hofft alles von einem Bombardement von Paris. Daß dieses nicht

schon erfolgt, schreibt man zarter Rücksicht für die Pariser oder gar dem Einfluß hoher Persönlichkeiten zu, während hier nur das militärisch Mögliche und Zweckmäßige ins Auge gefaßt wird. Von drei Seiten sind mir schon die Verse zugeschickt: ■■ Guter Moltke, gehst so stumm Immer um das Ding herum; Bester Moltke, sei nicht dumm. Mach doch endlich bum bum bum!

Was es heißt, eine Festung anzugreifen, zu deren Ver­ teidigung eine Armee bereit steht, das hätte man doch aus Sewastopol lernen können. Sewastopol wurde erst Festung während des Angriffes, alles Material konnte zur See herangeschafft werden. Die Vorbereitungen dauerten zehn Monate, der erste Sturm kostete 10 000, der zweite 13 000 Menschen. Um Paris zu bombardieren, müssen wir erst die Forts haben. Es ist auch zur Anwendung dieses Zwangsmittels nichts versäumt; ich erwarte aber weit mehr von dem lang­ sam, aber sicher wirkenden Hunger. Wir wissen, daß seit Wochen in Paris nur noch einzelne Gaslaternen brennen, daß in den meisten Häusern trotz des ungewöhnlich frühen und strengen Winters, bei völligem Mangel an Kohlen, nicht geheizt wird. Ein Schreiben des Generals V. an seine Gemahlin, mit Ballon aufgesangen, gibt folgende Preise an: ein Pfund Butter 20 Franken, ein Huhn 20 Franken, une dinde non truffee, bien entendu, 60 bis 70 Franken; hübsch beschreibt er sein Souper: Hering mit Mostrichsauce, außerdem ein reizendes kleine? filet de boeuf dont on faisait fete. Paul, le cuisinier, avait fait des bassesses pour l’avoir, il a promis au boucher Mr. et madame M. un sauf conduit pour un des forts pour tächer de voir les Prussiens. Diese vertraulichen Mitteilungen zwischen Mann und Frau charakterisieren die wirkliche Lage besser als alle Zei­ tungsberichte, die nach der einen oder andern Richtung

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Moltke. Möser.

übertreiben. Die Hungersnot ist noch nicht da, aber ihre Vorläuferin, die Teuerung. Tie Rotschild und die Pereire haben noch immer ihr dindon truffe, die untersten Klassen sind von der Regierung bezahlt und ernährt, aber der ganze Mittelstand darbt und zwar schon seit lange. Solche Zu­ stände sind auf die Dauer nicht haltbar. Freilich setzt es voraus, daß wir in der Feldschlacht alle die Heere schlagen, die sich immer von neuem gegen uns zusammenballen. Wohl nur der Schreckensherrschaft der Advokaten ist es möglich, solche Heere aufzutreiben, schlecht organisiert, ohne Fuhr­ wesen sie der rauhen Witterung auszusetzen, selbst ohne Ambulanzen und Ärzte. Die unglücklichen Menschen, bei allem Patriotismus und bei aller Tapferkeit sind sie nicht imstande, unsern festgefügten, braven Truppen zu wider­ stehen, das Elend des Biwaks dezimiert sie schonungslos, und die Verwundeten liegen zu hundert an dem Wege, ohne jede Hilfe, bis unsere Ambulanzen, auf welche die Franzosen schießen, sie finden. Die Franktireurs sind der Schrecken aller Ortschaften, sie beschwören das Verderben über diese herauf. Doch genug der traurigen Dinge. Gott schenke einen baldigen, glücklichen Ausgang, und an dem zweifle ich nicht. . . . . Wenn ich das Ende dieses Krieges erlebe, so möchte ich gleich nach Gastein gehen. Wenn die tägliche Anspan­ nung aufhört, so brechen die Nerven zusammen, und gerade eine Winterkur in Gastein ist mir sehr empfohlen...........

Justus Möser. 251. Die gute selige Frau. Ich habe meine Frau | im vierzigsten Jahre verloren, und meine Umstände erfordern, daß ich mich wieder ver­ heirate. Allein so viele Mühe | ich mir auch dieserhalb bereits gegeben, so kann ich doch keine finden, die mir ansteht | und der lieben Seligen einigermaßen gleich ist.

Ich höre von keiner, oder man sagt mir sogleich: „Diese Person hat sehr vielen Verstand, eine schöne Lektüre | und ein überaus zärtliches Herz. Sie spricht französisch, auch wohl englisch und italienisch, spielt, singt und tanzt vor­ trefflich | und ist die artigste Person von der Welt." Zu meinem Unglück | ist mir aber mit allen diesen Vollkommenheiten | gar nichts gedient. Ich wünsche eine rechtschaffene, christliche Frau | von gutem Herzen, gesun­ der Vernunft, einem bequemen, häuslichen Umgänge | und lebhaftem, doch eingezogenem Wesen; eine fleißige und emsige Haushälterin, eine reinliche, verständige Köchin | und eine aufmerksame Gärtnerin. Und diese ist es, welche ich jetzt nirgends mehr finde. Der Himmel weiß, daß ich es nie verlangt habe, allein meine Selige | stand alle Morgen um fünf Uhr auf, und ehe es sechse schlug, war das ganze Haus aufgeräumet, jedes Kind angezogen | und bei der Arbeit, das Gesinde in seinem Beruf | und des Winters | an manchem Morgen | oft schon mehr Garn gesponnen, als jetzt in man­ chen Haushaltungen | binnen einem ganzen Jahr gewon­ nen wird. Das Frühstück ward nur beiläufig eingenom­ men; jedes nahm das seinige in die Hand | und arbeitete seinen Gang fort. Mein Tisch war zu rechter Zeit ge­ deckt | und mit zween guten Gerichten, welche sie selbst | mit Wahl und Reinlichkeit | simpel, aber gut zubereitet hatte, besetzt. Käse und Butter, Äpfel, Birnen und Pflaumen, frisch oder trocken, waren von ihrer Zubereitung. Kam ein guter Freund zu uns, so wurden einige Gläser mit Eingemach­ tem aufgesetzt, und sie verstand alle Künste, so dazu ge­ hörten, ohne es eben | mit einer Menge von Zucker | ver­ schwenderisch zu zwingen; was nicht davon genossen wurde, blieb in dem sorgfältig bewahrten Glase. Ihre Pickels | übertrafen alles, was ich jemals gegessen habe; und ich weiß nicht, wie sie den Essig | so unvergleichlich machen konnte. Sie machte alle Jahr ein Bitters für den Ma-

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Möser.

gen, wogegen Dr. Hills und Stoughtons Tropfen | nichts sind. Ihren Hollundersaft | kochte sie selbst, und in keinem Nonnenkloster | fand man besseres Krauseminzmwasser | als das ihrige. In unserem ganzen Ehestände | hat keines aus dem Hause | dem Apotheker einen Groschen gebracht, und wenn sie etwas Lächerliches nennen wollte, so war es ein Kräutertee aus der Apotheke. Auf jedes Stück Holz, das ins Feuer kam, hatte sie acht. Nie ward ein großes Feuer gemacht, ohne mehrere Absichten auf einmal zu er­ füllen. Sie wußte, wieviel Stunden | das Gesinde | von einem Pfund Tran brennen mußte. Ihre Lichter zog sie selbst | und wußte des Morgens an den Enden genau, ob jedes | sich zu rechter Zeit | des Abends niedergelegt hatte. Das Bier ward im Hause gebraut, das Malz selbst ge­ macht | und der Hopfen daheim besser gezogen, als er von Braunschweig eingeführet wird. Der Schlüssel zum Keller | kam nicht aus ihrer Tasche. Sie wußte genau, wie lange ein Faß laufen | und wieviel ein Brot wiegen mußte. Butter und Speck | gab sie selbst aus, und ohne geizig zu sein, bemerkte sie das Gesinde so genau, daß nichts davon verbracht werden konnte. Ebenso machte sie es mit der Milch. Sie kannte jedes Huhn, das legte, und füt­ terte | nach der Jahreszeit | so, daß kein Korn | zu viel oder zu wenig gegeben wurde. Das Holz kaufte sie zu rechter Jahreszeit | und ließ die Mägde | des Winters |

alle Tage zwei Stunden sägen, um sie bei einer heilsamen Bewegung zu bewahren. Im Sommer | ward des Abends nie warm gegessen. Die warmen Suppen | schienen ihr eine lächerliche Erfindung der Franzosen; und bei dem kalten Essen | konnte das Geschirr j auch mit kaltem Wässer ge­ waschen werden. Man brauchte alsdann kein Feuer, und bei Winterabenden | ward bei dem letzten Feuer im Ofen gekocht. Was in der Dämmerung geschehen konnte, ge­ schah nicht bei Lichte, und die Arbeit war darnach abge­ paßt. Ihre schmutzige Wäsche | untersuchte sie alle Sonn­ abend | und hing solche des Winters einige Tatze auf Lei-

MN, damit sie nicht zu feucht weggelegt | und stockig wer­

den möchte. Wenn die Bettücher | in der Mitte zu sehr abgenutzt schienen, schnitt sie solche los | und kehrte die Außenseite gegen die Mitte. Auch die Hemden | wußte sie auf eine ähnliche Art umzukehren | und die Strümpfe zwei bis dreimal anzuknütten. Alles, was sie und ihre Kin­ der trugen, ward im Hause gemacht, und sie verstand sich auch sehr gut | auf einen Mannsschlafrock. Sie konnte ihn in einem Tage | mit eigener Hand fertig machen. Im Stopfen ging ihr keine Frau vor; alle Jahre | wurden einige Stücke Linnen in der Haushaltung gemacht | und einige greis zugekauft, welche sie hernach zusammen bleichen ließ. Sie bükete solches selbst | und bewahrte es so viel wie möglich | vor der gewaltsamen Behandlung des Blei­ chers. Das Garn zu einem Stücke | mußte von einer Hand I und von einer Art Flachs gesponnen sein. Von dem besten ward gezwirnt, und keine Nadel oder Nähnadel | konnte verloren gehen, weil nicht ausgefegt werden durfte, ohne daß sie zugegen war. Ihr Garten | war zu rechter Zeit | und mit selbstge­ zogenem Samen bestellt. Im Frühjahr | erholte sie sich in demselben | von der langen Winterarbeit, indem sie säete und jätete. Die Früchte | lachten dem Auge entgegen, ob sie gleich kaum den halben Dünger gebrauchte, den ihre Nachbarn | ohne Verstand untergruben. Da sie allem Un­ kraut zeitig widerstand, so hatte sie nicht die halbe Ar­ beit. Alles, was sie pflanzte, geriet recht wunderbarlich, und ihr Vieh | gab bei kluger Fütterung | bessere und mehr Milch, als andere | mit doppeltem Futter erhalten konn­ ten. Keine Feder wurde verloren, und kein Brocken fiel auf die Erde. > Das Bewußtsein ihrer guten Eigenschaften | gab ihr einen ganz vortrefflichen Anstand. Alles, was bei Tische mit Appetit gegessen wurde, war die schmeichelhafteste Lob­ rede für sie. Das Tischzeug | konnte nicht bewundert wer­ den, ohne daß nicht der Ruhm davon auf sie fiel. Ihre

emsigen, reinlichen und munteren Kinder | verkündigten der Mutter Lob | vor allen Augen; und die Ordnung im Hause, die Fertigkeit, womit alles von statten ging, und die Zu­ friedenheit, womit sie vieles ohne Beschwerde geben konnte, erheiterten ihre Blicke dergestalt, daß alle Gäste davon ent­ zückt wurden. Keiner Frau ist mehr geschmeichelt | und keiner weniger Schmeichelhaftes gesagt worden. Ihr Blick | breitete Lust und Zufriedenheit | über alles aus, und ich kann es nicht genug sagen, wie artig sie jede Gesell­ schaft | mit in den Plan ihrer Arbeiten ziehen konnte. In der Dämmerung | schälten wir Äpfel mit ihr | oder pflück­ ten Hopfen, und wer sein ihm zugeteiltes Werk zuerst fer­ tig hatte, bekam von ihr einen Kuß. Man glaube es oder nicht, der eine hielt den Zwirn, der andere wickelte ihn auf, der dritte las Erbsen | oder andere Samen aus, der vierte machte Dochte zu Lichtern, und ich glaube, wir hätten ihr zu Gefallen | gern mitgesponnen, wenn wir es verstan­ den hätten. „Spinnen," sagte sie uns oft, „gibt allezeit warme Füße | und würde sehr gut gegen die Hypochondrie sein." Wenn wir unsere Arbeit gut gemacht hatten, setz­ ten wir uns, nachdem die Jahreszeit war, an das Darren­ feuer | und tranken ein Glas Septemberbier, welches da­ mals noch nicht so schwach gebraut wurde, daß es in dem ersten Monat sauer werden mußte, oder wir taten uns sonst | mit Plaudern etwas zu gute. Nach ihrem Tode — ach, ich kann ohne Tränen nicht daran denken — fand ich die Brautwagen | für unsere vier Töchter fertig; und wie ich alles, was sie während unserm sechzehnjährigen Ehestände | in der Haushaltung erzeugt hatte, überschlug, belief es sich höher, als das Geld, was sie in aller Zeit von mir empfangen hatte. So vieles | hatte sie durch Fleiß, Ordnung und Haushaltung ge­ wonnen. ' : r- ' ' ' 1 '

Joachim Nettelbeck. 252. Nettelbeck beim Preutzischen Königspaar (1809). (Als das preußische Königspaar im Dezember 1809 nach Berlin zurückkehrte, hielten sie am 21. in Stargard einen Rast­ tag. Sobald die Nachricht davon am 19. Dezember nach Kol­ berg gelangt war, machte sich, am selben Abend, der alte Nettel­ beck mit dem Kaufmann Gölckel auf den Weg, um dem Mo­ narchen den Dank der Stadt darzubringen für den Erlaß der Kriegssteuer von beinahe 200 000 Talern. Nettelbeck trug seine preußische Seemannsuniform. Er wurde zum König vorgclassen. Hören wir ihn nunmehr selbst erzählen:)

Oben fanden wir zwei schwarzgekleidete Männer, Depu­ tierte von der Kaufmannschaft von Stettin, vor der offenen Flügeltür, die zu des Königs Audienzzimmer führte. Der General wies sie vor uns hinein, und wir folgten dann nach. Das ganze große Zinrmer war erfüllt von Generalen, Damen und Standespersonen. Alles blitzte von Ordens­ zeichen jeder Art und Gattung, und es gab eine feierliche Stille, bis der König hercintrat samt seiner königlichen Gemahlin und die Anwesenden ihnen nach der Reihe vorge­ stellt wurden. Vor uns traten die genannten beiden Depu­ tierten vor, die etwas beklommen schienen und überaus leise sprachen, so daß uns von ihren mancherlei Beschwerden wenig oder nichts hörbar wurde. Als sie geendigt hatten, erwiderte der König ganz verdrießlich: „Ich kann euch nicht helfen, ich habe gehört, daß ihr einen so gütigen fran­ zösischen Kommandanten habt, den laßt euch helfen!" Sie zogen sich darauf zurück, und beide hohe Personen wandten sich zu uns, und mich anblickend, fragte der König: „Nicht wahr, der alte Nettelbeck aus Kolberg?" — und dann, während wir unsere Verbeugung machten, zu meinem Ge­ fährten gekehrt: „Die Kolberger sind mir willkommen." Wir hatten im voraus verabredet, uns, wenn es dahin käme, in unsern Vortrag zu teilen, damit wir nicht beide durcheinander sprächen. Ich hub demnach an: Ew. Majestät geruhen gnädigst, uns zu erlauben, daß wir im Namen

unserer Mitbürger Ihnen fußfällig unsern Dank bringen für die große Gnade und Wohltaten, die Sie unserer guten Vaterstadt haben angedeihen lassen. Wir haben dafür kein anderes Opfer, als die abermalige Versicherung unserer un­ erschütterlichen Treue: nicht allein für uns, sondern auch für unsere spätesten Nachkommen, denen wir mit gutem Beispiel vorangegangen sind. Stets soll es ihnen in Herz und Seele geschrieben bleiben: Liebt Gott und euren König, und seid getreu dem Vaterlande! Hierauf wandte sich der König halb gegen uns und halb gegen die hinter ihn: stehende

glänzende Versammlung und sprach in lebendiger Bewegung die Worte: „Kolberg hat sich bereits im siebenjährigen Kriege treu gehalten und dadurch die Liebe meines Großoheims erworben. Auch jetzt hat es das seinige getan: und wenn ein jeder so seine Pflicht erfüllt hätte, so wäre es nicht so unglücklich ergangen." Jetzt nahm mein Freund das Wort und äußerte, wie nahe es uns gehen würde, wenn unsere Gegenwart bei Sr. Majestät eine unangenehme Erinnerung aufregte; allein die Gefühle unserer dankbarsten Verehrung hätten uns nicht zurückbleiben lassen wollen, und ganz Kolberg teile unsere Gesinnungen. Der König erwiderte darauf: „Ich weiß es, wenn früh oder spät einmal es die Umstände gebieten, werden die Kolberger auch gern wieder für mich auftreten." Hier fing ich Feuer und brach begeistert aus, indem ich mit der Hand auf mein Herz schlug: Ew. Majestät, dazu lebt der freudige Mut in uns und unsern Kindern, und ver­ flucht sei, wer seinem König und Vaterlande nicht treu ist! — „Das ist recht! das ist brav!" versetzte der Monarch; und als er darauf fragte, wie wir sonst in Kolberg lebten, gab ich zur Antwort: Gut, Ew. Majestät! Kleinigkeiten machen wir unter uns ab, und ist es was Bedeutendes und wir können nicht durchkommen, da wenden wir uns geradezu an Ew. Majestät. Wir hoffen. Sie werden uns nicht sinken lassen. „Nein, nicht sinken lassen, nicht sinken laß ich euch!"

rief der König, wobei er mir die Hand entgegenbot, „wendet euch nur an mich, und was zu erfüllen möglich ist, soll geschehen!" Dann fragte er, ob wir eigentlich dieserhalb gekommen wären, oder ob uns andere Geschäfte nach Star­ gard führten. — Kein anderes Geschäft als der Auftrag der Unsrigen, entgegnete ich, und eben dadurch wird dieser Tag der glücklichste unsers Lebens. Jetzt beurlaubte uns der König mit den Worten: „Ich danke euch! Grüßt euere guten und braven Mitbürger und sqgt ihnen: auch ihnen danke ich für die Treue und An­ hänglichkeit, die sie mir erwiesen haben. Haltet immer auf Religion und Moralität!" — Ms wir uns darauf ver­ beugten und Miene zum Abtreten machten, sagte der König : „Sie bleiben noch hier!" worauf auch bald hernach die Königin sich uns näherte, neben ihren Gemahl trat und sich mit gütigem Lächeln und der Bemerkung zu uns wandte: „Wir haben uns heute schon gesehenund der Monarch fiel ihr ein: „Nicht wahr? ich hatte doch recht geraten?" — So ergab sich's denn, daß ich oder meine Uniform dem königlichen Paare bereits im Borbeifahren aufgefallen sein mußte. Sie aber fuhr fort zu mir: „Ich bin gewiß recht froh. Sie hier zu sehen und persönlich kennen zu lernen." — Und ich, war meine Antwort, ich banke Gott dafür, daß er mich den Tag hat erleben lassen, wo meine Augen den guten König und unsere allgeliebte Königin in solchem Wohlsein erblicken. Der Name des Herrn sei dafür gelobt! — Sv erhielten wir nunmehr unsere gnädige Entlassung, eilten nach unserm Gasthofe zurück und waren von Herzen froh, unser Geschäft so wohl und mit solchen Ehren abgetan zu haben. Indes hatte mein Freund sich entfernt, um einige Be­ suche in der Stadt bei seinen Bekannten abzustatten, als etwa nach einer Stunde ein königlicher Page, der uns lange vergeblich gesucht, zu mir eintrat, um uns zur königlichen Tafel einzuladen. Es war spät, mein Gefährte war ab­ wesend, und ich mußte mich entschließen, ohne ihn zu gehen. «esfei uni Ufer, Sefebu« 6.

M.26

Im Tafelzimmer hatte auch schon alles seine Plätze ein­ genommen. Als ich dann mich dem König präsentierte, fragte er nach meinem Mitdeputierten, und als ich darauf nichts Genügendes zu erwidern wußte, fiel ein ungnädiger Blick auf den Pagen, der noch nächst der Tür stand, daß er seinen Auftrag so unvollständig ausgerichtet. Ein Kammer­ herr führte mich zu meinem Sitze hin, wo rechts der General von Pirch und links der Generalchirurgus Görke meine Tischnachbarn waren. Beide unterhielten sich mit mir wäh­ rend der Tafel aufs freundlichste, und erster erbot sich, heute Abend zu dem großen Ball, der von der Stadt ver­ anstaltet worden, seinen Wagen zu meiner Abholung bei mir vorfahren zu lassen, was mit herzlichem Dank ange­ nommen wurde. Nach aufgehobener Tafel machte ich, wie ich es die an­ dern tun sah, dem königlichen Paar das stumme Zeichen meiner Verehrung und war im Begriff, gleich jenen mich zu entfernen, als der König mich noch bleiben hieß und dann der Königin einen Wink gab. Hierauf kam dieselbe herbei und führte mich in ein besonderes Nebengemach, wo ich nun mit einer freudigen Überraschung mich ohne Zeugen dem hohen Paar gegenübergestellt fand. Beide taten eine Reihe von Fragen an mich, die ich nach bestem Vermögen beantwortete, deren Inhalt aber nicht in diese Blätter ge­ hört. Mein Herz geriet dabei je mehr und mehr in eine hohe Bewegung. Als etwa nach einer halben Stunde eine kleine Stockung in dem Gespräch entstand und ich dem König so recht zuversichtlich in die Augen sah, befiel mich plötzlich eine über alles schmerzliche Empfindung. Gott! dachte ich — wie unglücklich ist doch mein König! — und unwillkürlich erhuben sich meine Blicke sowie meine gefalteten Hände gen Himmel. Mein Atem stockte. Da legte mir der König seine Hand auf die Schulter und fragte mit unendlicher Güte: „Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?" — denn aus meinem seltsamen Benehmen mochte er schließen, daß ich vielleicht noch etwas zu erbitten wünschte. — Nun aber

brachen meine Gedanken in Worte aus: Ach, wenn ich Ew. Majestät und meine gute Königin jetzt so vor mir sehe und bedenke das Unglück, was Sie noch immer so schwer zu tragen haben, dann ist mir's, als müßte mir das Herz aus dem Leibe entfallen. Gott erhalte Ew. Majestäten und gebe Ihnen Kraft und Stärke, daß Sie diese harte Schicksalsprüfung bald und glücklich überstehen mögen! Bei diesen meinen Worten senkte der König sein Haupt auf die Brust, und die hellen Tränen entfielen seinen Augen; die Königin aber streichelte ihm still die Wangen und weinte auch. Dieser erschütternde Anblick lockte auch mir die Zähren in die alten Augen, und mein Herz ward immer weiter, und ich sprach zu der hohen, herrlichen Frau: Ja, Gott erhalte auch Sie, meine gute Königin! zum Troste meines Königs; denn ohne Sie wäre er schon vergangen in seinem Unglück. — So standen wir beiderseits noch einige Minuten in herz­ inniger Bewegung, ohne daß unsere Augen trocken wurden. Nachdem ich mich jedoch ein wenig gefaßt hatte, drückte ich Ihren Majestäten meinen gerührten Dank aus für so viel erwiesene Gnade, und noch im Abgehen rief der König mir nach: „Halten Sie bei Ihrer guten Bürgerschaft auf Sitte und gute Ordnung!" — und mit der Antwort: Daran soll es wahrlich nicht mangeln! — schied ich von dannen.

Wilhelm Oncken. 283. Wie König Wilhelm deutscher Kaiser wurde. (18. Januar 1871.)

Der Kronprinz war Feuer und Flamme, als der 18. Januar, der Krönungstag der Könige von Preußen, zum Festtag der Einweihung des neuen Kaisertums bestimmt ward. Von ihm war der Plan selbst ausgegangen, sein Werk war der Entwurf des Festverlaufs, die Festansage, die am 16. Januar an die um Paris lagernden Regimenter erging, um die Vertretung derselben durch Abordnungen

brachen meine Gedanken in Worte aus: Ach, wenn ich Ew. Majestät und meine gute Königin jetzt so vor mir sehe und bedenke das Unglück, was Sie noch immer so schwer zu tragen haben, dann ist mir's, als müßte mir das Herz aus dem Leibe entfallen. Gott erhalte Ew. Majestäten und gebe Ihnen Kraft und Stärke, daß Sie diese harte Schicksalsprüfung bald und glücklich überstehen mögen! Bei diesen meinen Worten senkte der König sein Haupt auf die Brust, und die hellen Tränen entfielen seinen Augen; die Königin aber streichelte ihm still die Wangen und weinte auch. Dieser erschütternde Anblick lockte auch mir die Zähren in die alten Augen, und mein Herz ward immer weiter, und ich sprach zu der hohen, herrlichen Frau: Ja, Gott erhalte auch Sie, meine gute Königin! zum Troste meines Königs; denn ohne Sie wäre er schon vergangen in seinem Unglück. — So standen wir beiderseits noch einige Minuten in herz­ inniger Bewegung, ohne daß unsere Augen trocken wurden. Nachdem ich mich jedoch ein wenig gefaßt hatte, drückte ich Ihren Majestäten meinen gerührten Dank aus für so viel erwiesene Gnade, und noch im Abgehen rief der König mir nach: „Halten Sie bei Ihrer guten Bürgerschaft auf Sitte und gute Ordnung!" — und mit der Antwort: Daran soll es wahrlich nicht mangeln! — schied ich von dannen.

Wilhelm Oncken. 283. Wie König Wilhelm deutscher Kaiser wurde. (18. Januar 1871.)

Der Kronprinz war Feuer und Flamme, als der 18. Januar, der Krönungstag der Könige von Preußen, zum Festtag der Einweihung des neuen Kaisertums bestimmt ward. Von ihm war der Plan selbst ausgegangen, sein Werk war der Entwurf des Festverlaufs, die Festansage, die am 16. Januar an die um Paris lagernden Regimenter erging, um die Vertretung derselben durch Abordnungen

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Duden.

und Fahnen zu sichern. An demselben 16. Januar erschien der Hofprediger Rogge, Divisionspfarrer der 1. Gardedi­ vision, bei König Wilhelm, der ihn in seinem einfachen Arbeitszimmer empfing und hinter seinem Schreibtisch stehend zu ihm sagte: „Ich habe Sie rufen lassen, da am 18. Januar, unserm Krönungstage, die Proklamation der Kaiserwürde vorgenommen werden soll und ich den Akt durch eine kurze kirchliche Feier eingeleitet sehen möchte. Da ich den Kaiser­ titel einmal annehmen soll, so habe ich diesen Gedenktag der preußischen Geschichte dafür gewählt. Ich hoffe, daß Sie Ihre Aufgabe auch diesmal gut lösen werden. — Aber von mir dürfen Sie nicht reden." Der Geistliche erwiderte, diesmal werde es unmöglich sein, die Person des Monarchen außer Betracht zu lassen. „Nun denn, aber so wenig als möglich! Nicht ich habe es so gemacht, sondern Gott hat es so gefügt. Es wird mir recht schwer, mich in den neuen Titel zu finden, und ich hätte gewünscht, ihn für meine Person vermeiden zu können. Ich habe immer gedacht, daß erst mein Sohn ihn dereinst führen solle. Aber die Ver­ hältnisse haben sich nun einmal so gestaltet, daß ich die Annahme nicht umgehen kann." Was der König sonst noch tat für die Vorbereitung des Festes, beschränkte sich darauf, der Feier ihr einfach religiös-militärisches Gepräge zu wahren und alles fern­ zuhalten, was ihr das Ansehen des Herausfordernden und Prunkhaften hätte geben können. Einen Thron wollte man ihm bauen, aber das lehnte er ab; nur einen einfachen Feld­ altar ließ er zu, der sollte in der Mitte des Saales stehen, hier sollte der Geistliche sein Weihegebet sprechen, hier wollte er selber stehen, „um diese neue, schwere Verpflichtung zu übernehmen." Als ein Gottesdienst war die Feier gedacht, und statt­ gefunden hat sie als ein Gottesdienst, bei welchem eine Versammlung von 5—600 Offizieren sich um den König, die Fürsten und die Prinzen scharte, als eine große, an­ dächtige Gemeinde. Der Gottesdienst begann mit dem Ge-

sang des 66. Psalms, den der König selbst für die Feier ausgewählt. Der Soldatensängerchor trug ihn mit Kraft und Wohllaut vor; ihm folgte der Gesang des ChoralS: Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, _ Dem Vater aller Güte, Dem Gott, der große Wunder tut, Dem Gott, der mein Gemüte, Mit seinem reichen Trost erfüllt. Dem Gott, der alle» Jammer stillt: Gebt unserm Gott di« Ehre!

Während des Gesangs stand der König, den Helm in der Linken, in dem Halbrund gegenüber dem Altar, rechts der Kronprinz, links Graf Bismarck, hinter ihm die Fürsten und die Prinzen. Die Blicke hatte er zu Boden gefenft und schlug sie auch während der ganzen folgenden Predigt nicht auf. Der Weihepredigt folgte der Choral: „Nun danket alle Gott!" in den die ganz« Versammlung einstimmte, den insbesondere auch der Kronprinz und Bismarck mit kräftiger Stimme mitsangen, dem Choral folgte der Segen des Geist­ lichen, das dreifache Amen des Chors schloß die kirchliche HaMung, und nun erst schaute der König auf. Bis dahin war er in demütige Andacht versunken gewesen, und nun erblickte er an der einen Schmalseite des Saales auf der Stusenbühne, auf welcher die Mannschaften mit den Fah­ nen und Standarten aufgepflanzt waren, mitten unter diesen auch die Fahnen seines 1. Garde-Regiments zu Fuß, bei dem er in die Armee eingetreten war, die Fahne seines Greiadier-Regiments und die des Garde-Landwehr-Bataillons, dessen Kommandeur er so lange gewesen, und diesem Anblick widerstand er nicht. Ursprünglich hatte er auch während der Handlung, die nun folgen mußte, an dem Altar stehm bleiben wollen, aber als er jetzt „seine Fahnen" sah, da inderte er seinen Entschluß. Er verließ den Altar und schritt auf jene Stufenbühne zu, „denn," so sagte er am 20. Januar zum Geh. Hofrat Schneider, „wo meine Fahnen sind da bin ich auch". Die Fürsten folgten ihm, er ließ sie zierst hinauftreten, stellte sich dann mitten unter sie dicht

vor seine Fahnen hin, und hier — umrauscht von den Ruh­ mesfahnen des siegreichsten aller Heere, umweht von den Geistern großer Zeiten, großer Menschen und großer Taten, legte der Kaiser und König Wilhelm sein Kaisergelübde ab. Mit lauter, im entferntesten Winkel des Saales ver­ nehmbarer Stimme verlas er die Urkunde über die Ver­ kündung der Wiederherstellung des Deutschen Reichs und die Annahme der deutschen Kaiserwürde und ließ dann den Grafen Bismarck die Ansprache verlesen, welche er „an das deutsche Volk" erließ, und in der er sagte: „Wir über­ nehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seine Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermütigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherheit gegen er­ neute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unsern Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, all­ zeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriege­ rischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung!" Und dann vernahm er zum erstenmal ein jubelndes Kaiserhoch. Der Grobherzog Friedrich von Baden, selbst einer der edelsten Pioniere auf deni dornenvollen Wege zum Kaiser und zum Reich, brachte es aus in den Worten: „Seine Kaiserliche und Königliche Majestät Kaiser Wilhelm lebe hoch! hoch! hoch!" Dreimal fiel die Versammlung ju­ belnd in diesen Zuruf ein. Die Helme wurden geschwenkt, die Arme wie zum Schwur erhoben; die Tränen der Rüh­ rung und der Freude erglänzten in den Augen. Die Fahnen senkten sich dem Kaiser zu Häupten, „Heil dir im Siegerkranz !" schmetterte ihm die Musik entgegen, und von fernher dröhnte der Kanonendonner des Mont Valerien in den

Jubel herein. Bei der Tafel teilte er dem Kronprinzen mit, daß er von nun an „Kaiserliche Hoheit" heiße; der Kronprinz aber schrieb am Abend in sein Tagebuch: „Die langjährigen Hoffnungen unserer Voreltern, die Träume deutscher Dichtungen sind erfüllt, und befreit von den Schlacken des heiligen römischen Unsegens, steigt ein an Haupt und Gliedern reformiertes Reich unter dem alten Namen und dem tausendjährigen Abzeichen aus sechzigjäh­ riger Nacht hervor."

Matthäus Rascher. 254. Urwald in Baining auf Neu-Guinea. Auf eüt Hektar kann man zuweilen bis zu hundert Arten von Bäumen und Gewächsen zählen. Wieviele Arten es überhaupt gibt, ist auch noch nicht annähernd zu be­ stimmen. Ich habe mich der Mühe unterzogen, ihre Namen aufzuzeichnen. Obgleich ich schon die Zahl von 500 bei­ nahe erreicht habe, begegnen mir noch neue Arten. Die meisten Bäume sind vom Fuß bis zur Krone von Lianen und Schmarotzern bedeckt, welche teils gerade, teils spiral­ förmig am Stamm emporklettern und ihre Ranken wie ein Netz von Telegraphendrähten von einem Baum zum andern ausspannen und in feinen, dünnen Strängen vom Wipfel herab bis auf den Boden hängen. Die wirr durch­ einander rankenden Gewächse bilden mit ihrer Fülle von Blättern in den Zweigen und Ästen der Bäume ein natür­ liches Dach, das nur einzelne Sonnenstrahlen in das ge­ heimnisvolle Dunkel des Waldes eindringen läßt. Von den Früchten der Urwaldbäume werden nur wenige von den Eingeborenen gegessen; sie dienen größten­ teils nur den fliegenden Hunden und Vögeln zur Nah­ rung und fallen ab und werden am Boden von Wild­ schweinen und Kasuaren verspeist. Nur vereinzelt findet man mitten im Walde die eigentlichen Fruchtbäume der

Eingeborenen, wie Brotfruchtbäume, Malaische Apfel und Kaddengo, eine Art Kirschen u. a. m. Wahrscheinlich sind die Samen von Vögeln dahin verpflanzt worden. Die Blütenentwicklung der Waldbäume fällt wenig ins Auge, und ein Vergleich mit unseren blühenden Fruchtbäumen im Frühjahr würde zugunsten dieser aus­ fallen. Unvergleichlich schön ist aber der Anblick der blühen­ den Schlingpflanzen am Saume des Waldes, die die ganze Krone eines Baumes wie mit einem schneeigen Netze und scharlachrotem Teppich Überspannen. So heiter uns der Urwald erscheint bei Hellem Wetter, wenn einzelne Sonnenstrahlen durch das dichte Laubdach dringen und auf den zitternden Blättern des Unterholzes ihr Licht und Farbenspiel treiben, so unbehaglich ist es darin bei bedecktem Himmel und Regenwetter. Am freudig­ sten stimmt der Urwald am Morgen und des Abends einige Zeit vor dem Untergange der Sonne. Da herrscht Leben über uns im Laubgewölbe und unten am Boden im Halb­ dunkel. Ein sanftes Wehen zieht durch das Baumgewirr, das Blattwerk glänzt, und auf den Blättern funkeln die Tautropfen. Papageien, in den verschiedensten Farben schillernd, und weiße Kakadus flattern kreischend über den Wipfeln; große bunte Tauben girren und halten behag­ lich im nächsten Gipfel eines Fruchtbaumes ihr Frühstück; mächtige Nashornvögel fliegen geräuschvoll auf und lassen schmetternd ihren Ruf ertönen. Ganz in unserer Nähe am Boden lockt und scharrt das Buschhuhn. Von dem Gipfel eines riesige'» Ficus ertönt nach kurzen Pausen das hohle, surchterregende „Huhu" der Kamukelster, das dem Gebell des Hundes ähnlich ist. Freilich fehlt es an Singvögeln, die den Wanderer mit ihren Weisen zur Freude stimmen und in der menschlichen Seele frohe Empfindungen wecken. Das Waldkonzert ist mehr ein mutwilliges Lär­ men, eine übersprudelnde Lebenslust, die auf die Dauer die Nerven reizt. Je höher die Sonne steigt, desto mehr nimmt das

Leben im Walde ab. Düstere Schwüle brütet überall. Die Bogelwelt hat ihr Konzert abgebrochen und hält sich nun in den Laubkronen verborgen; nur die Myriaden von In­ sekten, Zikaden, Grillen, Bienen, Wespen usw. zirpen, surren und pfeifen weiter. Endlich, wenn die Sonne im Westen steht, atmet die Tier- und Bogelwelt wieder auf und unterbricht die Ruhe und Stille, die während der heißen Tageszeit im Walde geherrscht hat. Düster und schweigend sind die Nächte im Urwald. Totenstille überall; es regt sich kein Hauch, nur der nahe Wildbach rauscht und tost, und von den zahllosen Insekten erhebt das eine oder andere seine Stimme. Erst nach. Mitternacht erwacht die Vogelwelt. Der Kau,, ein Better unseres Kuckucks, doch größer von Gestalt und von vor­ nehmen Bewegungen, beginnt zuerst sein Morgenlied; „Kiak, kiak, kiak," und wiederholt es so lange, bis bei eintretender Morgendämmerung die übrigen Bögel sich dem Konzert anschließen. Furchtbar aber wird der Aufenthalt im Urwald, wenn, ein Gewitter über ihm steht, wenn unheimliches Dunkel ihn überzieht und schreckliche Donnerschläg« rollend wider­ hallen, wenn der Wind einsetzt und die Waldriesen schüttelt, daß sie ächzen und sich beugen. Doch schreckenerregender als ein Gewitter ist der Losbruch des Nordwestmonsuns,, wenn der Himmel ringsum mit grauen Wolken verhüllt ist und der Sturm und Regen Tage und Nächte ohne Unter­ brechung anhält. Mit gewaltigem Zorne stürmt er in die dichten Laubkronen und zerrt sie hin und her und reißt ihre Blätter ab. Morsche Äste und Zweige, mit prächtigen Schmarotzerpflanzen geschmückt, fallen dumpf dröhnend heiab, Baumkronen brechen, Bäume werden entwurzelt undhauen sich dröhnend beim Fallen in den Boden. Dabei herrscht ein Getöse, Sausen und Rauschen, daß man in den allenthalben herrschenden Aufruhr kaum weiß, wohin sich wenden. Eine Unzahl Bäume fällt so dem ersten An­ stürme des Nordwests zur Beute. Aus dem wilden Gewirre-

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Rascher. Ratzel.

gestürzter Bäume ragt hier und da ein kronenloser Stamm hervor, an dem zerfetzt die Schlingpflanzen herabhängen. Dazwischen prasselt unaufhörlicher Regen hernieder und

macht die Fußpfade zu Pfützen. Wer nicht gerade vom Orkan überrascht wird, und wen nicht dringende Geschäfte treiben, der wagt sich nicht in den Urwald, wo alsdann die Natur im Aufruhr ist und der Tod von allen Seiten droht. Nach Tagen und Wochen langer Stürme sieht es im Walde wie auf einem Schlachtfelde aus. Bäume und Äste liegen kreuz und quer übereinander gebettet und ver­ sperren den Weg. Doch die Wunden vernarben schnell. Gin Monat genügt, um das Totenfeld wieder zu beleben, ein Beweis von der unversiegbaren Kraft der tropischen Natur.

Friedrich Ratzel. 255. Die überseeischen Nachbarn. Auch die Länder, die jenseits der deutschen Meere lie­ fen, sind unsere Nachbarn, wie oft haben sie sich mit ihren Kriegs- und Kaperschiffen und Landungstruppen viel un­ bequemer gezeigt als die Landnachbarn, deren Kräfte von schwerfälligerer Bewegung sind. Man spricht gewöhnlich nicht von Nordseeinächten, weil die Nordsee zu wenig ge­ schlossen, mehr nur Durchgangsmeer ist. Wer Englands Beziehungen zu Deutschland suchen den Weg über die Nord­ see. Die Nordsee kreuzten einst die Angeln und Sachsen, bie nach England übersetzten, und die Hansekaufleute, die jahrhundertelang den englischen Handel beherrschten. Als England selbständiger geworden war, erschien ihm das durch s>ie Nordsee von ihm getrennte Deutschland weit hinter dem näher gelegenen Frankreich und den einst seemächtigen Niederlanden. Schwer gewöhnte es sich seit 1870 an die Vorstellung eines zweiten mächtigen Nachbars. Seitdem ist aber Deutschland immer größer am Nordhorizont «mporgestiegen; es nimmt heute auch mehr als jedes andre

europäische Land von der englischen Ausfuhr auf. Die Niederlande dagegen, an demselben Südufer der Nordsee gelegen, standen stets näher bei Deutschland; in friedlicher Wechselwirkung und in scharfen Wettbewerb knüpfte sich ein Band tieferer Gemeinschaft. Es liegt auch darin be­ gründet, daß Deutschland von dem Augenblick an, wo es die in seiner Nordseelage gegebenen Machtmittel kräftiger nützt, in die Stelle einrückt, die der Niederlande Nieder­ gang offen gelassen hat. Immer bleibt die Nordsee für Deutschland der Weg zum Ozean, und insofern hat die Nordsee für Deutsch­ land eine größere Bedeutung als für irgend eine andere Macht der Welt. Die Ostseemächte sind eine viel geschlossenere Gesell­ schaft. Man hat die Ostsee mit dem Mittelmeer verglichen. Das ist zu viel; denn an d'e Ostsee grenzen nicht Kon­ tinente, und durch die Ostsee führt keine Weltstraße, wie die, die den Isthmus von Suez schneidet. Die Ostsee ist auch siebenmal kleiner als das Mittelmeer. Daher ist sie ein dänisches, ein hansisches, ein schwedisches Meer gewesen. Deutschland und Rußland sind heute durch die Ausdeh­ nung der Küste und des Hinterlands und die Stärke ihrer Flotten die ausschlaggebenden Ostseemächte. Dänemark ist iwch immer durch den Besitz der Straße nach der Nord­ see wichtig. Aber der Nordostseekanal hat Deutschlands Stellung an der Nordsee mit seiner Ostseestellung in Ver­ bindung gesetzt und macht es möglich, daß Deutschland nun ein weitaus größeres Gewicht in die Wagschale der Ostsee­ interessen legen kann als irgend eine andre Macht. Längst sind die Zeiten vorbei, wo England oder die Niederlande int Seeverkehr der Ostsee die ersten waren. Schweden pflegt vom Norden her, wohin es durch die kräftige Entfaltung Preußens aus seinen Pommern und Mecklenburg beherrschen­ den Südstellungen zurückgedrängt worden ist, heute mit Deutschland «inen weit lebhafteren Verkehr als mit allen andern Ostseeländern.

Nord- und Ostsee sind Ausläufer des Ozeans. Deutsch­ land ist also auch eine atlantische Macht. Wer da es nicht an den offenen Ozean grenzt, führen die Wege seiner Häfel» zum Ozean alle an den Küsten der Niederlande, Belgiens, Frankreichs, Englands oder Schottlands und Norwegens vorbei. Unsere Bremer und Hamburger Ozeandampfer haben bei der Fahrt aus der Elbe und aus der Weser nach den atlantischen Häfen Nordamerikas ein volles Zehntel ihres Wegs in der Nordsee und im Kanal zurückzulegen. Das bedeutet bei der Natur dieser Meeresteile nicht bloß Zeitverlust, sondern auch vermehrte Gefahr. Diese Lage hinter den eigentlichen atlantischen Mäch­ ten ist in der Natur gegeben; dagegen wurzelt in der trau­ rigen Geschichte Norddeutschlands seit dem Niedergang der Hanse die Zurückdrängung Deutschlands nach bem Fest­ lande. Weder in der Nordsee, noch in der Ostsee hat Deutsch­ land vorgeschobne Besitzungen. Die Zeiten sind lange vor­ bei, wo die Hanse auf Bornholm und Gotland saß. Daruni haben wir in der Erwerbung Helgolands eine große Tot gesehen; denn es war der erste Schritt aus dieser Zurück­ drängung heraus. Vergessen wir nicht der Zeiten, wo Dä­ nen, Engländer, Schweden und Polen die Inseln, Fluß­ mündungen und Küstenstrecken der deutschen Meere uns entfremdet, das Reich verstümmelt hatten, wo die Nation verkümmerte.

256. Die Landschaften der Oft« und Nordsee. Die Landschaften der Nordsee haben einen heroischen, die der Ostsee einen idyllischen Charakter. Das liegt zunl Teil an der Farbe und Bewegung des Wassers, zum Teil aber auch an den Gestadeformen. Die Uferbildung der Ost­ see stellt Felsen, Schutt oder Dünensand dem Meere gegen­

über, und der Wfall des Landes ist in der Regel ziemlich steil. Da die Ostsee außerdem weniger stürmisch ist als die Nordsee, liegt sie klarer und abgeschlossener vor den«

Beschauer, der besonders in tiefen Buchten manchmal den Eindruck eines stillen blauen Landsees gewinnen mag. Das ist aber eine lichtere Farbe als das dem salzreichen Wasser des Mittelmeers oder des Golfstroms eigne glänzende tiefe Blau, und sie ist einer reichen Wstufung der Töne fähig. Die Nordsee ist grün mit den gelblichen und grauen Bei«lischungen eines stürmischen, unaufhörlich den Grund auf­ wühlenden und die Ufer benagenden Meeres. Die Watten sehen wie ein Niederschlag der Stoffe aus, die das Meer­ grün der Nordseewellen graulich färben. Sie sind grau, und silbergrau schimmern die Fluttümpel hervor. Noch

bezeichnender ist für die Nordseelandschaft die frischgrüne Marsch, die dem Meer keinen Felsen und keine Schutt­

bank entgegenstellt, sondern fast in gleicher Höhe mit den« Meeresspiegel Flächen eines ungemein saftigen Pflanzen­ wuchses ausbreitet, Wiesen, Getreidefelder, gelbe Raps­ felder, von zahllosen Kanälen durchschnitten, die fast bis zum Rande gefüllt sind. Bon dem dunkelbraunen Schlainmoder Moorboden dieser Kanäle leuchtet kein einziger Kiesel­ stein herauf, ihr Wasser bewegt sich unmerklich, und oft breiten Seerosen eine dichte Decke drüber hin. Nur die aus roten Backsteinen auf künstlichen Hügeln, Werften oder Wurten erbauten Wohnstätten der Menschen ragen über die tiefe Horizontlinie hervor, und der Anschein eines Wald­ saumes erzeugt sich nur dort, wo die alten Bäume um diese Höfe im Fernblick zu einer dunklen Reihe verschmelzen. Es sind sehr friedliche Bilder, die sich dem Beschauer hier darbieten; aber ein Blick auf die geraden einander schnei­ denden Linien der Deich« und Kanäle erinnert ihn immer daran, daß nur die unablässige Arbeit und Wachsamkeit der Bewohner die Brandung abhält, diesen Frieden zu ertränken. Das innige Jneinandergreifen von Land und Meer macht in einem vorwiegend flachen Lande das überall große, weite Meer zur Herrin. Zum Meere kommen noch die breiten Wasserflächen der Ströme, Seen, Buchten und

Haffe. Die Städte scheinen aus dem Wasser hervorzutauchen. Stralsund schwimmt auf dem Meere wie Venedig, die Marienburg spiegelt sich in der Nogat, die Häuser friesischer Städte sind direkt ins Wasser gebaut wie die Amsterdams. So steigert sich am Ufer des Meeres die Eigentümlichkeit der Städtebilder des Tieflandes, sich als Silhouetten vom Himmel abzuheben. Die Städtebilder wir­ ken einheitlich und groß. Denn um die Buchten und Fluß­ mündungen drängen sich die Städte zusammen, umgeben sich mit Mauern und Dämmen und stellen den weiten Flächen hohe Türme gegenüber. Um so lebhafter wirken die Dör­ fer und die zerstreuten Einzelhöfe. Der Ton ihrer hohen, bräunlichroten Ziegelbauten paßt hier wie in der friesischen und holländischen Landschaft besser zu Nebel und Meergrün, als zu Blau und Sonne. Vor einer braunen türmereichen Silhouette, wie der von Stralsund, wie lebendig und hei­ ter liegt da das fröhliche Gelb und Grün der welligen Ufer von Rügen mit der milden Röte seiner Ziegelhäuser, die wie zufällig in behaglicher Regellosigkeit am Strande hin­ gewürfelt sind.

Ludwig Richter. 257. Kleinbürger des 18. Jahrhunderts. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist ein Besuch bei Großpapa Müller, der ein kleines Kaufmannslädchen und ein Haus mit sehr großem Garten auf der Schäferstraße besaß. Auf dem Wege zu den Großeltern waren wir bei einen« Hause vorübergekommen, vor welchem ein schöner Rasenplatz mit vielen blauen Gloiken- und weißen Sternblumen meine Aufmerksamkeit so gefesselt hatte, daß ich kaum von der Stelle zu bringen war. Als ich aber bei den Großeltern angelangt und reguliert worden war und vor dem Hause herum­ trippelte — ich zählte damals etwa drei Jahre — fielen mir die wunderschönen Sternblumen wieder ein, und ich wackelte in gutem Vertrauen fort durch mehrere einsame

Gassen und gelangte auch richtig zu dem Gehöfte mit dem schönen Rasenplatz, wo ich denn für Großpapa einen prächtigetl Strauß pflückte und wieder fortmarschierte. Da ich aber nur vertrauensvoll meiner Nase nachging und diese vermutlich damals ein noch zu kleiner Wegweiser war, so brachte sie inich nach der entgegengesetzten Richtung auf »Vei­ ten, weiten Wegen in die Stadt. Ich war sehr verwundert, daß Großpapas Haus auch gar nicht kommen wollte, trotz­ dem es Abend wurde. Lebhaft erinnerlich ist mir's, >vie ich kleines Wurm, den Blumenstrauß fest in der Hand, um Mitternacht auf dem im Mondschein ruhenden Altmarkt stand, ein so winzig kleines Figürchen auf dem großen, öden Platze; da ka>» der Rcttungsengel in Gestalt eines Ratswächters, den Dreimaster auf dem Kopfe und den Säbel an der Seite, von dem im Schatten liegenden Rathause herüber, fragte mich und trug mich zu der in Todesängste« schlvebenden Mutter; denn man hatte das verlaufene Kind bereits auf dem Rathause gemeldet, und mein wirNicher Schutzengel hatte mich glücklich davorgeführt. Ich will aber jetzt auf die Großeltern zurückkommen. Beide, sowohl die von väterlicher wie mütterlicher Seite, repräsentierten noch die alte Zeit, das vorige Jahrhundert, imd zwar in seiner kleinbürgerlichen Gestalt. Mir haben sich die Bilder von ihnen und ihrer Umgebung bis auss kleinste lebendig erhalten; denn es waren charakteristisch ausgeprägte Typen bürgerlichen Kleinlebens, während die Dinge im elterlichen Hause in meiner Erinnerung viel mehr verblaßt sind, denn sie trugen das modern nüchterne Gepräge der neuen Zeit und übten unendlich weniger poetischen Reiz. Die Müller-Großeltern wurden oft besucht. Das kleine Kaufmannslädchen, durch welches man den Eingang in das noch lleinere und einzige Stübchen nehmen mußte, war ein höchst interessantes Heiligtum. Das Fenster, außen garniert mit hölzernen, gelb und orange bemalten Kugeln, welche Zi­ tronen und Apfelsinen vorstellten, die aber in natura nie­ mals vorhanden waren und bei der armen Kundschaft auch

keine Käufer gefunden haben würden; dann der große, blanke Messingmond, vor welchem abends die Lampe angezündet wurde, >md der dann mit seinem wunderbar blendenden Glanze das Lädchen in einen Feenpalast verwandelte; die vielen verschlossenen Kästen, der anziehende Syrupständer, dessen Inhalt so oft in den schönsten Spirallinien auf das untergehaltene Dreierbrot sich ergoß, die Büchsen mit bunten Zucker- und Jngwerplätzchen, Kalmus, Johannisbrot und schließlich der Duft dieser Atmosphäre: welch ahnungsvolle Stätte voll Herrlichkeit! Endlich der Kaufherr selbst, mit baumwollener Zipfelmütze und kaffeebrauner Ladenschürze geschmückt, wie hastig und eifrig fuhr er in die Kästen, langte dem Barfüßler für 1 Pf. Pfeffer, 1 Pf. Ingwer, 1 Pf. neue Würze und 3 Pf. Baumöl freundlichst zu, und die Klingel an der Tür bimmelte unaufhörlich der ab- und zugehenden Kundschaft vor und nach. Die Großmama, ein phlegmatische, etwas stolze Frau, ging ab und zu und bewegte sich gemächlich aus dem Stüb­ chen zur Küche und aus der Küche in das Stübchen, und selten war sie anderswo zu erblicken; ich kann mich aber nicht erinnern, daß sie mit mir oder überhaupt viel ge­ sprochen oder das Gesicht einmal in andere Falten gezogeu hätte; deshalb interessierte sie mich auch nicht, mehr aber der alte Stahl, ein Holländer und Landsmann der Groß­ mama, die eine geborene van der Berg war. Dieser er­ hielt einige Tage in der Woche den Tisch bei Müllers, saß dann tagsüber am Fenster, ließ die Daumen umeinander kreisen, und ich stellte mich gern vor ihn hin und bewunderte feine Perücke mit dem ehrwürdigen großen Haarbeutel und besonders die blitzenden Stahlknöpfe auf dem hechtgrauen Frack. Er war Zeuge der Pariser Revolution gewesen, hatte bei der Schweizergarde gedient, und als diese am 10. August 1792 in Versailles bei Verteidigung des Königs größtenteils niedergemetzelt wurde, war Stahl einer der wenigen, welche glücklich entkamen. Er hatte sich mehrere Tage in eine Schleuse verkrochen und in Gesellschaft der

Natten zugebracht, bis er sich nachts zu einem Freunde retten konnte. Das Entsetzlichste indes, was er erzählte, war für mich die Mitteilung, daß man in seinem Baterlande Käse

sogar in die Suppe schütte. Ein Hauptvergnügen verschaffte mir der dicke Stoß Bilderbogen, welche im Laden zum Verkauf lagen, und die ich alle mit Muße betrachten konnte. Außer der ganzen sächsischen Kavallerie und Infanterie waren da auch „die verkehrte Welt" mit herrlichen Reimen darunter, das Gänse­ spiel, die Kaffeegesellschaft, Jahreszeiten u. dgl., alle in derbem Holzschnitt, grell und bunt bemalt. Endlich der von den Nebengebäuden eingeschlossene Hof, mit dem daranstoßenden, sehr großen Garten, welch ein Schauspiel süßester Freuden! Da wurde mit der Jugend der Nachbarschaft ein Vogelschießen veranstaltet, am Johannis­ tag um eine hohe Blumenpyramide von Rosen und weißen Lilien getanzt, oben die herrlich duftende Vorratskammer

besucht, wo die süßen Zapfenbirnen und anderes frisches und trockenes Obst in Haufen lagen, unten der Schweinestall mit seinen Insassen rekognosziert, und welch ein Festtag, wenn das Tier geschlachtet wurde! Zwar durfte ich bei dieser Exekution nicht zugegen sein und hörte die durch­ dringenden Seufzer nur von ferne; aber dann sah ich das schöne Fleisch gar appetitlich zerlegen, das Wellfleisch kochen, und das kleine einfenstrige Wohnstübchen war für den Metz­ germeister zum Wurstmachen hergerichtet. Ein Geruch von süßem Fleisch, kräftigem Pfeffer und Majoran durchwürzte die Luft, und welche Wonne, zu sehen, wie die hellen, langen Leberwürstlein samt den teils schlanken, teils untersetzten oder gar völlig korpulenten Blut- und Magenwürsten in dem Brodeln des großen Kessels auf- und untertauchten und endlich herausgefischt und probiert wurden. Wie lebendig wurde es dann im Lädchen! die Klingel bimmelte ohne Aufhören, denn „Müllers hatten ein Schwein geschlachtet", und so kamen die Kinder in Scharen mit Töpf­ chen und Krügen, und immer wiederholte sich die Bitte: Hessel und Ufer, Lesebuch 6.

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„Schenken Sie mir ein bißchen Wurstbrühe, Herr Müller!" Der cholerische, sonst gute Herr Müller konnte sich der Scharen gar nicht mehr erwehren, die Klingel bimmelte völlig Sturm, mit immer größeren Schritten lief er hinter der Ladentafel scheltend und polternd einher und glich so wegen der Kürze des Raumes einem im Käfig herumtraben­ den gereizten Tiger. Endlich stand die Zipfelmütze bolzen­ gerade in die Höhe, und das Wetter brach los: „Ihr Racker, jetzt packt euch alle, sonst kommt die Hetzpeitsche!" und im Nu stürzte und polterte die ganze kleine Bande zur Laden­ tür hinaus, und der gute, alte Müller stand mit der drohenden Hetzpeitsche, wie der Donnergott Zeus, unter der offen ge­ bliebenen Tür und schloß diese dann eigenhändig, wenn die Schar sich verlaufen hatte. Der Garten bot anderes. Noch bis heute berührt mich der Anblick der Blumen, aber nur der bekannten, welche ich üt der Jugend sah, ganz eigentümlich und tief. In der Farbe und Gestalt, im Geruch und Geschmack mancher Blu­ men und Früchte liegt für mich eine Art Poesie, und ich habe die Früchte mindestens ebenso gern nur gesehen, als gegessen. Der Garten hatte Rosenbüsche in Unzahl. Wie oft guckte ich lange, lange in das kühle, von der Sonne durchleuchtete Rot eines solchen Rosenkelches, und der her­ ausströmende Dust mitsamt der himmlischen Rosenglut zau­ berte mich in ein fernes, fernes Paradies, wo alles so rein, so schön und selig war! Es stand am Ende des Gartens ein uralter Birnbaum, zwischen dessen mächtigen Ästen ich mir einen Sitz zurecht­ gemacht hatte. Manche Stunde verbrachte ich träumerisch in dem grünen Gezweig, um mich die zwitscherudeu Finken und Spatzen, mit welch letzteren ich zur Zeit der Reife die Birnen teilte, die der alte Baum in Unzahl trug. Bon diesem verborgenen Aufenthalt überblickte man den ganzen Garten mit seinen Johannis- und Stachelbeersträuchern, den Reihen wild durcheinanderwachsender Rosen, Feuer­ lilien, brennender Liebe, Lack und Levkojen, Hortensien und

Eisenhut, Nelken und Fuchsschwanz, wer nennt alle ihre Namen? Dann zur Seite die Gemüsebeete, und über die Gartenmauer hinüber die gelben Kornfelder und die fernen Höhen von Roßthal und Plauen! Das war nun mein Be­ reich, wo sch mich einsam oder in Gesellschaft von Spiel­ genossen oder tätig beim Begießen der Gurken, des Kopf­ salats, der Zwiebeln und Bohnen beschäftigte.

Wilhelm Heinrich Riehl. 258. Hausinschriften. Ich getraute mir wohl ein kleines Büchlein zusammen­ zustellen voll sinniger Weisheit aus dem Volksmund, voll beschaulicher und erbaulicher, naiver und drolliger Verse, die alle nur von Haustüren und Innen- und Außenwänden deutscher Bauernhäuser abgeschrieben sein sollten. So schrieb der gottesfürchtige Bauersmann vor Zeiten an sein neues Haus: Wo Gott nicht gibt zum Haus sein Gunst, Da ist all unser Baun umsunst;

Oder: Wir bauen hier so feste Und sind doch fremde Gäste; Wo wir sollen ewig sein, Bauen wir so wenig ein.

Ein dritter setzte einfach den Spruch über seine Tür: Der Herr segne unsern Eingang und Ausgang!

Ich kann mich des Gedankens nicht entschlagen, daß in den hundert Jahren, seit eine solche Inschrift etwa steht, nicht wenigstens ein Mann aus- oder eingegangen sei mit einer Spitzbüberei im Sinne, die er beim zufälligen Blick auf diesen Spruch habe bleiben lassen. Das beliebteste Thema weltlicher Verse an den Bauern­ häusern gilt dem Protest gegen unbefugte Kritik des Haus­ baues.

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Riehl. Was stehet ihr für diesem Haus Und laßt die bösen Mäuler aus? Ich hab gebaut, wie mir's gefällt. Mich hat's gekost mein gut Stück Geld.

Oder: Wer da bauet an Markt und Straßen, Muß Neider und Narren reden lassen.

Hierher gehört der schöne plattdeutsche Hausspruch: Wat frag ik na de Lü? Gott helpet mi.

Als Seitenstück dazu mag folgender oberdeutscher Spruch dienen, den ich im Elsast an einer einsamen Mühle fand, in knorrigen, wie mit dem Dreschflegel geschriebenen Lapidarversen: Tu Recht! steh fest! kehr dich nicht dran. Wenn dich auch tadelt manch ein Man»; Der muß noch kommen auf die Welt, Der tut, was jedem Narrn gefällt.

Zn manchen Gegenden dehnt sich diese Spruchpoesie auch auf die Nebengebäude des Hauses aus, namentlich sind mitunter die Gemeindebackhäuser ganz bedeckt von Bersen voll derben Humors. Eine einfach schöne Inschrift für Scheunen und Wirtschaftsgebäude ist die mittelalterliche: „Gott, ver­ sieh die Deinen!" welche sich an den Ruinen des Klosters

Otterberg in der Pfalz findet. Am reichsten und mannigfaltigsten ist der Schatz dieser Hausepigramme noch da, wo auch die Wohnstube an pas­ sender Stelle mit Inschriften geschmückt ist. Als Probe dieser meist erbaulichen oder humoristischen Poesie der Fa­ milienhalle möge hier ein Bers stehen, der über dem un­ geheuern altväterlichen Ofen einer Bauernstube im Iller­ tal angebracht ist: Wenn Haß und Neid Brenneten wie ein Feuer, Dann wär das Holz in dieser Zeit Nicht gar so teuer.

An alten, großen Standuhren in unsern Bauernstuben kann man das tiefsinnige Wort lesen:

So geht die Zeit Zur Ewigkeit.

Es sind aber die meisten dieser Hausverse ein wirkliches Gemeingut des Volkes, denn sie finden sich in mancherlei Varianten oft in den entlegensten Gegenden wieder. So kann man z. B. jenen Vers aus dem Illertal« auch in der Pfalz über Haustüren lesen, wo er sich wohl auf das teuere Bauholz beziehen soll und dann noch zu der Würde einer Haustüren-Jnschrift erhoben wird durch den moralischen Zusatz: Ob's aber auch gibt der Neider gar viel. So geschieht doch alles, wie Gott will.

Sind nun solche Sprüche nicht ein köstliches Ornament des deutschen Hauses, auch des städtischen, dem sie früher nicht fremd waren? Wer aber hat den Mut, einen schönen Vers und ein schönes Bild wieder über seine Haustüre setzen zu lassen?

Julius Rodenberg. 259. Edenhall. Die Grafschaft Cumberland ist mit Northumberland die nördlichste in England. Sie stößt auf die Grenze von Schottland und hat in ihrem Aussehen viel Ähnlichkeit mit demselben. Hier, auf diesen Plateaux, welche an einigen Stellen mit ihren schroffen, kaum ersteigbaren Felswän­ den natürlichen Festungen gleichen, hat sich lange ein Rest der ersten Ansiedler Englands, der sogenannten Kymrus oder Kumrier, und bis auf unsere Zeit ihr Name in dem­ jenigen der Grafschaft, Cumberland, erhalten, nachdem ihre keltische Ursprache, ja diese Völkerschaft selber in der eng­ lischen untergegangen ist. Das breite „u", welches der Reisende an den Ufern der Seen von Cumberland vernimmt, erinnert ihn an die dunkle Klangfarbe der alten Kelten­ sprache. Das Schloß Pendragon, indem es den fabelhaften Uther, den Vater Arthurs, in sein Gedächtnis zurückruft.

beschwört mit einemmal die ganze Merlinspoesie vor seinem Blick herauf; „König Arthurs Rundtafel", eine von den zahlreichm druidischen Überresten in diesen abge» schlossenen Berggegenden, dem letzten Asyle jener düstern Form des Heidentums, läßt den ritterlichen König und seine tapfern, sagenhaften Genossen mit allen Erinnerungen an Ginevra und den hnligen Graal vor unsern Augen erstehen. Lange war uns kein Mensch, kein Wagen begegnet, und wie in einem ausgestorbenen und von allen lebenden Wesen verlassenen Lande waren wir unter der schweigend brennenden Sonne gewandert, immer steigend und steigend, bis wir ein Gitter erreichten, welches den Weg abschloß, mit einigt Hütte dahinter, aus welcher auf unser Rufen ein altes Weib trat, um uns die schlagbaumartige Ver­ sperrung zu öffnen. Vor der Tür dieser Hütte pflegt jedes

Fahrzeug zu halten, welches vorbeikommt; denn, wie eine kleine Tafel über derselben sagt, „dies ist das höchste be­ wohnte Haus in England". Vorwärts ging's in dem nun schwächer werdenden Glanz der Sonne; wie wir vorhin zu­ weilen auf beängstigende Weise gestiegen waren, so flogen wir jetzt in noch beängstigenderer Weise bergab, zuweilen so schmal am Abhang hin oder so scharf um vorspringende Felskanten biegend, daß ein Kopfüberstürzen fast die ein­ zige Möglichkeit des Weiterkommens schien. Allein der Mann redete mir zu, mich festzuhalten, keine Angst zu haben und das Pferd laufen zu lassen; und da ich diese drei Vorschriften, so viel an mir lag, erfüllte, so ging denn in der Tat auch alles gut. Allmählich wird der Charakter der Landschaft, je tiefer der Weg sich senkt, um so sanfter; der Fuß der Berge bewaldet sich, und der freundliche Abendsonnenschein beleuchtete sanfte Rasen­ flächen und liebliche Waldpartieen, zwischen denen rote Dächer und ein Wasser Seraufglänzten. Es war das Dörf-

lein Patterdale, welches sich fast bis zum Rande des Sees Ulleswater hinabzieht. Nun ward auch der See in seiner

vollen Abendglorie sichtbar. Die Ufer der andern Seite bildeten Felsen, kühngegipfelt, von Wind und Wetter zer­ rissen und nur um den Futz von grünen Wald- und Rasen­ streifen gesäumt. Aber auf unserer Seite umschlossen Wald­ berge das in der Abendsonne flimmernde Wasser. Und hier, auf einem großen, dichten Rasen, der wie ein Teppich am Rande des Sees ausgebreitet ist, liegt das Wirtshaus. Nichts Reizenderes ist zu denken, als dies Wirtshaus, wie es mit seinen Blumenbeeten und seinem Rasen dicht un­ ter der Waldschlucht und dicht an dem See liegt; wie es mit seinen Hellen Fenstern hier in die kühle Blätternacht und dort auf das spiegelklare Wasser sieht. Als am andern Morgen die Sonne aufging, befand ich mich schon auf dem Wege. Aber noch ein letzter Ab­ schiedsblick der Romantik sollte mir vergönnt sein, bevor das Land der Seen sich mir geschlossen hätte. Da stand ein stattliches Schloß, still unter dem jungfräulichen Mor­ genduft der Bäume, auf weitem, taufrischem Rasen, sein mächtiges Zinnen- und Zackenwerk klar abzeichnend auf dem immer stärker glühenden Golde des anbrechenden Tages. Da ist der Stammsitz der Musgraves, und der Name des Schlosses ist Edenhall. Wer denkt nicht an eine der schönsten Balladen Uhlands, wenn er diesen Namen hört — „das Glück von Edenhall"? Nun, mich ergriff es, wie ein starkes Heimat-Erinnern, wie ein voller Klang aus der Jugendzeit, als ich diesen Schauplatz eines meiner Lieb­ lingsgedichte vor mir sah, und unwillkürlich bewegten sich meine Lippen: Von Edenhall der junge Lord Läßt schmettern Festdrommetenschall, Er hebt sich an des Tisches Bord Und ruft in trunkner Gäste Schwall: Nun her mit dem Glücke von Edenhall!

Die Sage, wie sie am Orte selbst erzählt wird, lautet: Der Schenk von Edenhall kam einst in alten Zeiten an den dem Schlosse benachbarten Brunnen des heiligen

Cuthbert, als eben eine Schar von Feen den Ringelreihen im Grase tanzte. Erschreckt flohen die luftigen Wesen, aber sie ließen ihr Trinkglas zurück. Eine kam hierauf zurück, um es zu holen; aber als sie sah, daß es sich in den Händen des Schenken befand, da flog sie traurig fort und sang: Jf that glaß should breat or fall, Farewell the lud of Edenhall!

Oder tote Uhland es hat: Kommt die- MaS zu Fall, Fahr wohl dann, o Glück von Edenhall!

Die Musgraves sind eins der ältesten Geschlechter von England; sie leiten ihren Stammbaum von einem der Waffengefährten Wilhelms des Eroberers ab. Wacker in Krieg und Frieden haben sie sich während der langen Zeit gehalten, sind Sherifs ihrer Grafschaft und Mitglieder des Parlaments gewesen; stolz auf ihre Familientraditionen von mehr als.800 Jahren — ein Alter, mit dem sich keins von den titeltragenden Häusern Englands auch nur ent­ fernt messen kann — sitzen sie noch dort oben in ihrem Stammschloß Edenhall, unter den Bergen von Cumber­ land ; und dort, mit andern Reliquien, wird auch der durch Sang und Sage berühmte Pokal, „the luck of Edenhall", als ein Palladium der Familie bewahrt. Er steckt in einem ledernen Behälter, welcher mit Rollen von WeiMättern verziert ist und auf dem Deckel die Buchstaben I. H. C. hat. Der Pokal selber ist von grünem Glase, mit Laub­ werk und Emaille von verschiedenen Farben verziert; er ist tief, eng, faßt etwa ein englisches Pint und scheint, dem Stil seiner Ornamente nach, aus dem 15. Jahrhundert zu stammen. In der Ballade unsers Uhland springt das Glas bei einem Gelage, und sogleich springt auch das Gewölbe, die Flamme dringt aus dem Riß, die Gäste zerstieben, der Feirch stürmt ein und erschlägt den jungen Lord, der in der Hand noch „das zersprungene Glück von Edenhall"

hält.

Am Morgen irrt der Schenk allein und sucht die

Scherben des Pokales: ^Die Steinwand" — spricht er, — „springt zu Stück, Die hohe Säule muß zu Fall, Glas ist der Erde Stolz und Glück, In Splitter fällt der Erdenball Einst gleich dem Glücke von Edenhall."

So, mit einem Gedanken an den deutschen Dichter^ damals nicht ahnend, wie bald er uns entrissen werden sollte, beschloß ich meine Herbsttage an den englischen Seen.

Friedrich Schiller. 260. Brief an Goethe. Jena, den 31. August 1794.

Unsere späte, aber mir manche schöne Hoffnung er­ weckende Bekanntschaft ist mir abermals ein Beweis, wieviel besser man oft tut, den Zufall machen zu lassen, als ihm durtch zu viele Geschäftigkeit vorzugreifen. Wie lebhaft auch immer mein Verlangen war, in ein näheres Verhältnis zu Ihnen zu treten, als zwischen dem Geist des Schrift­ stellers und seinem aufmerksamsten Leser möglich ist, so begreife ich doch nunmehr vollkommen, daß die so sehr ver­ schiedenen Bahnen, auf denen Sie und ich wandelten, uns nicht wohl früher, als gerade jetzt, mit Nutzen zusammen­ führen konnten. Nun kann ich aber hoffen, daß wir, so viel

von dem Wege noch übrig sein mag, in Gemeinschaft durch­ wandeln werden, und mit um so größerm Gewinn, da die letzten Gefährten auf einer langen Reise sich immer am meisten zu sagen haben. Erwarten Sie bei mir keinen großen materialen Reich­ tum an Ideen; dies ist es, was ich bei Ihnen finden werde. Mein Bedürfnis und Streben ist, aus wenigem viel zu machen, und wenn Sie meine Armut an allem, was man erworbene Kenntnis nennt, einmal näher kennen sollten^

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Schiller.

so finden Sie vielleicht, daß es mir in manchen Stücken damit mag gelungen sein. Weil mein Gedankenkreis Neiner ist, so durchlaufe ich ihn eben darum schneller und öfter und kann eben darum meine kleine Barschaft besser nutzen und eine Mannigfaltigkeit, die dem Inhalte fehlt, durch die Form erzeugen. Sie haben ein Königreich zu regieren, ich nur eine etwas zahlreiche Familie von Begriffen, die ich herzlich gern zu einer kleinen Welt erweitern möchte.

Jena, den 7. September 1794. Mit Freuden nehme ich Ihre gütige Einladung nach Weimar an, doch mit der ernstlichen Bitte, daß Sie in keinem einzigen Stück Ihrer häuslichen Ordnung auf mich rechnen mögen, denn leider nötigen mich meine Krämpfe -gewöhnlich, den ganzen Morgen dem Schlaf zu widmen, weil sie mir des Nachts keine Ruhe lassen, und überhaupt wird -es mir nie so gut, auch den Tag über auf eine bestimmte Stunde sicher zählen zu dürfen. Sie werden mir also er­ lauben, mich in Ihrem Hause als einen völlig Fremden zu betrachten, auf den nicht geachtet wird, und dadurch, daß ich mich ganz isoliere, der Verlegenheit zu entgehen, jemand anders von meinem Befinden abhängen zu lassen. Die Ord­ nung, die jedem andern Menschen wohl macht, ist mein gesährlichster Feind, denn ich darf nur in einer bestimmten Zeit etwas Bestimmtes vornehmen müssen, so bin ich sicher, haß es mir nicht möglich sein wird.

261. Aus einem Briefe an Körner. Weimar, 9. September 1802. Du hast vielleicht schon im vorigen Jahre davon reden hören, daß ich einen Wilhelm Tell bearbeite: denn selbst vor meiner Dresdener Reise wurde deshalb aus Berlin und Hamburg hei mir angefragt. Es war mir niemals in den Sinn gekommen. Weil aber die Nachfrage