Deutsche und polnische Auslegungs- und Argumentationskultur im Strafrecht: Eine vergleichende Analyse der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Oberstem Gericht [1 ed.] 9783428546688, 9783428146680

Im Rahmen dieser Untersuchung werden die Argumentationsstrategien der höchstrichterlichen Rechtsprechung Deutschlands un

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German Pages 513 Year 2015

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Deutsche und polnische Auslegungs- und Argumentationskultur im Strafrecht: Eine vergleichende Analyse der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Oberstem Gericht [1 ed.]
 9783428546688, 9783428146680

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Schriften zum Strafrecht Band 289

Deutsche und polnische Auslegungsund Argumentationskultur im Strafrecht Eine vergleichende Analyse der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Oberstem Gericht

Von

Maciej Małolepszy

Duncker & Humblot · Berlin

MACIEJ MAŁOLEPSZY

Deutsche und polnische Auslegungs- und Argumentationskultur im Strafrecht

Schriften zum Strafrecht Band 289

Deutsche und polnische Auslegungsund Argumentationskultur im Strafrecht Eine vergleichende Analyse der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Oberstem Gericht

Von

Maciej Małolepszy

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn.

Die Juristische Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14668-0 (Print) ISBN 978-3-428-54668-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84668-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit wurde im April 2013 von der Juristischen Fakultät der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt (Oder) als Habilitationsschrift angenommen. Sie ist für die Veröffentlichung auf den aktuellen Stand gebracht. Die Arbeit verdankt ihre Fertigstellung in erster Linie der engagierten Unterstützung meines verehrten Lehrers, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Jan C. Joerden, die im Rahmen dieses kurzen Vorwortes gar nicht angemessen gewürdigt werden kann. Außerdem erlauben es die schematischen Formen der Danksagung nicht, meine ehrliche Dankbarkeit in vollem Umfang zum Ausdruck zu bringen. Herr Joerden engagiert sich seit Langem im deutsch-polnischen Rechtsdialog, und auch die vorliegende Arbeit kann als eine der Brücken zwischen Deutschland und Polen angesehen werden, die er inspiriert hat. Die von Herrn Joerden einmal aufgestellte These, dass die deutsche und die polnische Auslegungs- und Argumentationskultur sich deutlich unterscheiden könnten, findet hier ihre Bestätigung. Niemand konnte jedoch voraussehen, dass die Unterschiede im Bereich der Argumentation auch auf der Ebene der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen so gravierend sind. Wie sich diese Unterschiede auf die Zusammenarbeit der deutschen und der polnischen Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte auswirken, bedarf zusätzlicher Untersuchungen, wie sie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) weiterhin durchgeführt werden. Ich hoffe, dass in diesem Kontext auch die vorliegende Arbeit zur Verbesserung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Kriminalität beitragen kann. Zumindest soll sie Verständnis für das zum Teil andere juristische Denken des ausländischen Partners ermöglichen. Ich danke zudem sehr herzlich Frau Prof. Dr. Gudrun Hochmayr und Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Andrzej J. Szwarc für die rasche Erstellung des Zweit- bzw. Drittgutachtens. Herrn Szwarc, der mich schon seit meiner Studienzeit, bei der Promotion und bis zum heutigen Tage mit Rat und Tat unterstützt hat, bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Mein Dank gilt auch meinen Mitarbeitern für ihre Hilfe beim Korrekturlesen der Arbeit. Besonders danke ich Herrn Michał Głuchowski für seine Unterstützung bei der Redaktion der vorliegenden Arbeit, wobei selbstverständlich alle verbliebenen Fehler in meine Verantwortung fallen. Für die Finanzierung der Drucklegung dieses Buches danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Diese Arbeit widme ich meiner Frau Iwona und meinen Kindern. Frankfurt (Oder), im Mai 2015

Maciej Małolepszy

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

A. Europäisierung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ermächtigung der EU zu kriminalstrafrechtlicher Rechtssetzung . . . . . . . II. Unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenarbeit der Justizorgane auf der europäischen Ebene . . . . . . . . . IV. Notwendigkeit einer europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 22 25 26 28

B. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

Teil 1 Theoretische Vorüberlegungen

34

A. Die möglichen Perspektiven der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

B. Methodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Soziologische Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsvergleichende Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40 41 41 43 45 46

C. Die Begriffe „Rechtskultur“ und „Topos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Begriff „Rechtskultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eigene Definition des Begriffes „Rechtskultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Begriff „Topos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Topoikatalog von Struck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Topoikatalog von Stelmach und Broz˙ek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Eigene Definition des Begriffes „Topos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 48 54 55 57 59 61

D. Forschungsfragen und Schwierigkeiten der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . I. Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schwierigkeiten der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 61 62

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen 74 I. Untersuchungen aus Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Untersuchungen aus Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 III. Rechtsvergleichende Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

8

Inhaltsverzeichnis

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historische Entwicklung der Methodenlehre (Überblick) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Klärende Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Derivative Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zweck der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Notwendigkeit der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Auslegungsmethoden in der deutschen und in der polnischen Literatur VI. Rangverhältnis der Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Rechts(neu)schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Besonderheiten auf dem Gebiet des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materielles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 106 108 109 114 117 119 121 122 123 128 129 134

G. Gegenwärtige Kritik der gerichtlichen Auslegungspraxis in der deutschen und in der polnischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I. Zur Diskussion in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 II. Zur Diskussion in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Teil 2 Empirische Analysen

145

A. Zur Darstellung des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 B. Material der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bearbeitung des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145 145 147 150

C. Allgemeine Charakteristik der in den Sammlungen veröffentlichten Begründungen des BGH und des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sprachstil der Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Struktur der Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Inhalt der Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152 152 155 155

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . I. Vorrangregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Terminologische Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Lege non distinguente, nec nostrum est distinguere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Per non est . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Exceptiones non sunt extendendae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rechts(neu)schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Sonstige Behauptungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158 159 177 181 183 184 185 189

Inhaltsverzeichnis

9

VIII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Katalog der Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Formalistische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. (Wertorientierte) Substantielle Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Katalog der Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Formalistische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sprachliche Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bezugnahme auf die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bezugnahme auf andere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. (Wertorientierte) Substanzielle Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teleologische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Außergesetzliche Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Allgemeine Charakteristik der Topoi und die Regeln ihrer Zuordnung zu einer bestimmten Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Formalistische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sprachliche Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bezugnahme auf Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bezugnahme auf andere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. (Wertorientierte) Substanzielle Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teleologische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Außergesetzliche Wertungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Qualitative und quantitative Analyse der Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Formalistische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sprachliche Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wortlaut (juristisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Wortlaut unter Verwendung eines Wörterbuchs . . . . . . . . . . . . . b) Systematische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bezugnahme auf die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

198 198 200 200 200 201 201 201 201 201 201 202 202 202 203 203 204 204 204 204 206 206 207 208 208 208 216 216 217 219 219 219 221 229 241 247 262 265

10

Inhaltsverzeichnis d) Bezugnahme auf die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eigene Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung (2) Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung in der jeweiligen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gesamtanzahl der Verweise auf zivilrechtliche Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Kontinuität der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Analyse der ausgewählten Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG/VG . . . . . . . . cc) Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR/EuGH . . . . . e) Sonstige Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. (Wertorientierte) Substanzielle Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beschleunigungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Grundsatz des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Sonstige verfassungsrechtliche Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teleologische Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Subjektive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Objektive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historische Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gesetzliche Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Außergesetzliche Analysekategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Außerrechtswissenschaftliches Fachwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundsatz des rationalen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272 274 277 289 306 307 309 309 312 316 324 331 337 341 346 347 363 374 376 380 386 387 389 396 405

F. Die Rechts(neu)schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Theoretische Vorüberlegungen (Begriffsbestimmung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine nationale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eine übernationale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Empirischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechts(neu)schöpfung in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . 2. Rechts(neu)schöpfung in der Rechtsprechung des OG . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

408 409 409 410 412 413 430 441

269 270 270 272

Schlussfolgerungen und Vorschläge für die nächsten Untersuchungen . . . . . . . . 443

Inhaltsverzeichnis

11

Anhang A: Struktur der Gerichtsbarkeit in Deutschland und Polen . . . . . . . . . . 448 I. Die Gerichtsbarkeit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 II. Die Gerichtsbarkeit in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Anhang B: Die wichtigsten Aufgaben des BGH und des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Aufgaben des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Aufgaben des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich der Aufgaben beider Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

452 452 454 458

Anhang C: Weitere Entscheidungen mit Relevanz für die vorliegende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verweise auf die eigene Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verweise auf die Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Subjektive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gesetzliche Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Sonstige Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

460 460 465 469 480 482 485

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Forschungsergebnisse der Inhaltsanalyse der BGH-Entscheidungen von Kudlich und Christensen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Tabelle 2: Argumenttypen in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in den Jahren 1999 bis 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Tabelle 3: Sprachliche Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . 220 Tabelle 4: Systematische Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des Obersten Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Tabelle 5: Bezugnahme auf die Literatur in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Tabelle 6: Bezugnahme auf die Rechtsprechung in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Tabelle 7: Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung in der Rechtsprechung des BGH und des OG ohne Anzahl der Verweise auf die ständige Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Tabelle 8: Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung in der jeweiligen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Tabelle 9: Bezugnahme auf die zivilrechtliche Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Tabelle 10: Gesamtanzahl der Verweise auf die ständige Rechtsprechung in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Tabelle 11: Die Anmerkungen des BGH in den Leitsätzen der Entscheidungen . . . . 276 Tabelle 12: Sonstige Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . . . . 307 Tabelle 13: Anzahl der Entscheidungen, in denen der BGH und das OG verfassungsrechtliche Topoi eingesetzt haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Tabelle 14: Verfassungsrechtliche Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG 309 Tabelle 15: Anzahl der verfassungsrechtlichen Topoi in der jeweiligen Entscheidung des BGH bzw. des OG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Tabelle 16: Teleologische Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . 347 Tabelle 17: Historische Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . . . . . 374 Tabelle 18: Außergesetzliche Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG . . 386

Tabellenverzeichnis

13

Tabelle 19: Das Verhältnis von Auslegung und Rechts(neu)schöpfung aus der Perspektive der jeweiligen Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Tabelle 20: Das Verhältnis von Auslegung und Rechts(neu)schöpfung aus der Perspektive der jeweiligen Rechtskultur und aus der Perspektive der übernationalen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

Abkürzungsverzeichnis a. a. O. Abs. AcP AEUV a. F. AG AK-GG AK-StGB AK-StPO Alt. ALV Anm. des Verf. AO AöR ARSP Art. AT AufenthG Aufl. AuslG AVG BAG BAGE BAnz BayObLG BayVerf BB Bd. Begr. Beschl. BGBl. BGH BGHR BGHSt BGHZ

am angegebenen Ort Absatz Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Appellationsgericht (in Polen)/Aktiengesellschaft Alternativkommentar zum Grundgesetz Alternativkommentar zum Strafgesetzbuch Alternativkommentar zur Strafprozessordnung Alternative Arzneiliefervertrag Anmerkung des Verfassers Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Allgemeiner Teil Aufenthaltsgesetz Auflage Ausländergesetz Abfallentsorgungs- und Verwertungsgesellschaft Köln GmbH Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundesanzeiger Bayerisches Oberstes Landesgericht Verfassung des Freistaates Bayern Betriebs-Berater Band Begründer Beschluss Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Systematische Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

Abkürzungsverzeichnis BRAO BR-Drucks. BSGE BT BT-Drucks. BtMG Buchst. BVerfG BVerfGE BVerfGK BVerwG BVerwGE bzw. ca. CDU CISG

CSU cz. ders. d. h. dies. DNA DÖV DRiZ DSM-IV

DtZ DVBl Dz. U. E 1962 ebd. e. g. EG EGGVG EGMR EG-Vertrag Einl. EMRK EPS ES

15

Bundesrechtsanwaltsordnung Bundesratsdrucksache Entscheidungen des Bundessozialgerichts Besonderer Teil Bundestagsdrucksache Betäubungsmittelgesetz Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise circa Christlich Demokratische Union Deutschlands United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods (Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf) Christlich-Soziale Union in Bayern cze˛s´c´ (Teil) derselbe das heißt dieselbe/dieselben Desoxyribonukleinsäure Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4th Edition (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen, 4. Auflage) Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsches Verwaltungsblatt Dziennik Ustaw (Gesetzblatt) Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1962 ebenda exempli gratia (zum Beispiel) Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung Europäische Menschenrechtskonvention Europejski Przegla˛d Sa˛dowy (Europäische Gerichtsrundschau) Entscheidungssammlung

16 etc. EU EuGH EWG f. FAZ FDP FeV ff. Fn. FS GA Gesamthrsg. GG ggf. GGK GVG GWB GwG H. h. A. HK-StPO HRRS Hrsg. ICD-10

i. d. F. i. e. S. InfAuslR insb. IPBPR i. S. i. S. v. i.V. m. JA jew. JGG JR JURA JuS JZ

Abkürzungsverzeichnis et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und folgende [Seite] Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Fahrerlaubnisverordnung und folgende [Seiten] Fußnote Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gesamtherausgeber Grundgesetz gegebenenfalls Grundgesetz-Kommentar Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Geldwäschegesetz Heft herrschende Ansicht Heidelberger Kommentar zur StPO Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht Herausgeber International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10th Revision (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Auflage) in der Fassung im engeren Sinne Informationsbrief Ausländerrecht insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Sinne im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter jeweils Jugendgerichtsgesetz Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung JuristenZeitung

Abkürzungsverzeichnis Kap. KG KK k.k. KKS KKW KMR

17

Kapitel Kammergericht Berlin Kodeks karny (Strafkodex) Kodeks karny (Strafkodex) Kodeks karny skarbowy (Steuerstrafkodex) Kodeks karny wykonawczy (Strafvollzugskodex) Kleinknecht/Müller/Reitberger (Kommentar zur Strafprozessordnung) KOM Dokumente der Kommission KPK Kodeks poste˛powania karnego (Strafprozesskodex) KPP Kwartalnik Prawa Prywatnego (Quartalszeitung des Privatrechts) KW Kodeks wykroczen´ (Übertretungskodex) Lfg. Lieferung lit. littera (Buchstabe) LK Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch LKW Lastkraftwagen LuftVG Luftverkehrsgesetz m. Anm. mit Anmerkung MDR Monatsschrift für deutsches Recht m. N. mit Nachweisen MP Monitor Polski (Polnischer Monitor) MRK [Europäische] Menschenrechtskonvention MünchKomm Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch MünchKommStGB Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch m.w. N. mit weiteren Nachweisen Nachw. Nachweis n. F. neue Fassung NJW Neue Juristische Wochenschrift NJW-RR Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report NP Nowe Prawo (Neues Recht) Nr. Nummer NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-RR Neue Zeitschrift für Strafrecht – Rechtsprechungs-Report NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NZV Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht OG Oberstes Gericht (in Polen) OLG Oberlandesgericht op. cit. opere citato (im angegebenen Werk) OSA Orzecznictwo Sa˛dów Apelacyjnych (Rechtsprechung der Appellationsgerichte) OSAG Orzecznictwo Sa˛dów Apelacji Gdan´skiej (Rechtsprechung der Gerichte im Gerichtsbezirk des Appellationsgerichts Gdan´sk)

18 OSNKW OSNP

OSNwSK OSPriP

OTK OTK-A

OTK ZU OVG OWiG PiP Pkt. PKW Pos. PrOVG PrStGB PS r. Rdn. Reichsanz RG RGBl RGSt Rn. RP RPEiS Rspr. S. s. SAC

Abkürzungsverzeichnis Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego – Izba Karna i Wojskowa (Rechtsprechung des Obersten Gerichts – Straf- und Militärsenat) Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego – Izba Pracy i Ubezpieczen´ Społecznych (Rechtsprechung des Obersten Gerichts – Arbeits- und Versicherungssenat) Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego w Sprawach Karnych (Rechtsprechung des Obersten Gerichts in Strafsachen) Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego, Sa˛dów Apelacyjnych, Naczelnego Sa˛du Administracyjnego i Trybunału Konstytucyjnego (Prokuratura i Prawo, dodatek) [Rechtsprechung des Obersten Gerichts, der Appellationsgerichte, des Obersten Verwaltungsgerichts und des Verfassungsgerichts (Staatsanwaltschaft und Recht, Zusatz)] Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego – Zbiór Urze˛dowy (Rechtsprechung des Verfassungsgerichts – Amtliche Sammlung) Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego – Zbiór Urze˛dowy, Seria A (Rechtsprechung des Verfassungsgerichts – Amtliche Sammlung, Serie A) Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego – Zbiór Urze˛dowy (Rechtsprechung des Verfassungsgerichts – Amtliche Sammlung) Oberverwaltungsgericht Ordnungswidrigkeitengesetz Pan´stwo i Prawo (Staat und Recht) Punkt Personenkraftwagen Position Preußisches Oberverwaltungsgericht Preußisches Strafgesetzbuch Przegla˛d Sa˛dowy (Gerichtliche Rundschau) rok (Jahr) Randnummer Deutscher Reichsanzeiger Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Randnummer Rzeczpospolita Polska (Republik Polen) Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny (Juristische, Ökonomische und Soziologische Rundschau) Rechtsprechung Satz/Seite siehe Supreme Administrative Court [Oberstes Verwaltungsgericht (in Polen)]

Abkürzungsverzeichnis SC SK SK-StGB SK-StPO SN sog. SPD StGB StPO StraFo StrRG st. Rspr. StV StVO StVollzG s. u. systemat. tzw. u. a. UA Urt. USA usw. UWG v. VerfRP VG VGH vgl. VRS vs. wistra Wok. WSA WStG zahlr. z. B. ZEuP ZEuS ZfStrVo

19

Supreme Court [Oberstes Gericht (in Polen)] Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung Sa˛d Najwyz˙szy (Oberstes Gericht) sogenannt Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafverteidiger Forum Gesetz zur Reform des Strafrechts ständige Rechtsprechung Strafverteidiger Straßenverkehrs-Ordnung Strafvollzugsgesetz siehe unten systematisch tak zwany (sogenannt) unter anderen Unterabsatz Urteil Vereinigte Staaten von Amerika und so weiter Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb von Verfassung der Republik Polen Verfassungsgericht (in Polen) Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verkehrsrecht-Sammlung versus (gegen) Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wokanda (Verhandlungsliste) Wojewódzki Sa˛d Administracyjny (Woiwodschaftsverwaltungsgericht) Wehrstrafgesetz zahlreich zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe

20 Ziff. ZIS ZJS ZRP ZStW zust. Anm.

Abkürzungsverzeichnis Ziffer Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für das Juristische Studium Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zustimmende Anmerkung

„Eine vergleichende Analyse der juristischen Argumentationskultur in unterschiedlichen gegenwärtigen Rechtsordnungen wird im Zeichen eines zusammenwachsenden Europas und einer fortschreitenden Globalisierung auch der rechtlichen Interaktionen eine der wesentlichen Aufgaben juristischer Grundlagenforschung sein.“ 1

Einleitung A. Europäisierung des Strafrechts Angesichts der kaum noch überschaubaren Zahl an theoretischen und empirischen Untersuchungen zur Auslegung und zur Argumentation im Recht scheint es so, als wäre schon alles zu dieser Problematik gesagt und als würden weitere Untersuchungen in diesem Bereich kaum neue Forschungsergebnisse erbringen. Diese Prognose wäre sicherlich zutreffend, wenn nicht der rasche Prozess der Europäisierung der nationalen Strafrechtssysteme („Europäisierungssog“ 2) völlig neue Forschungsperspektiven für die (Straf)rechtswissenschaft eröffnet hätte. In der heutigen Zeit wird das Strafrecht der EU-Mitgliedstaaten von der europäischen Ebene sehr stark beeinflusst. Als Konsequenz wurde schon auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts eine Reihe ausgewählter Tatbestände des Besonderen Teils an die europäische Rechtslage angeglichen. Auf dem Gebiet des Strafvollstreckungsrechts wurde das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in vielen rechtlichen Instrumenten eingesetzt.3 Gemäß diesem Prinzip muss eine in einem Mitgliedstaat rechtmäßig ergangene justizielle Entscheidung in jedem anderen Mitgliedstaat als solche anerkannt werden.4 Obwohl dieses Prinzip in den rechtswissenschaftlichen Diskussionen europaweit sehr heftig kritisiert wird,5 ist durch seine Aufnahme in Art. 67 Abs. 3 und Art. 82 Abs. 1 AEUV bestätigt worden, dass auch in der Zukunft die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung stattfinden wird. In diesem Zusammenhang darf auch die Entwicklung der europäischen Institutionen nicht übersehen werden. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung 1 U. Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, in: Arthur Kaufmann/ W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage, 2011, S. 347. 2 B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Auflage, 2012, § 1 Rn. 1. 3 M. Kaiafa-Gbandi, Aktuelle Strafrechtsentwicklung in der EU und rechtsstaatliche Defizite, in: B. Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006, S. 72. 4 Grundlegend zu diesem Prinzip: P. Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 2011. 5 Aus der letzten Zeit siehe B. Schünemann/B. Roger, Die Karawane zur Europäisierung des Strafrechts zieht weiter. Zur demokratischen und rechtsstaatlichen Bresthaftigkeit des EU-Geldsanktionengesetzes, ZIS 9/2010, S. 515 ff.

22

Einleitung

(„OLAF“), Europol, Eurojust, und das Europäische Justizielle Netz (EJN) spielen eine immer größere Rolle auf der EU-Ebene. Die im „Corpus Juris“ angelegte „Europäische Staatsanwaltschaft“ findet nun in Art. 86 AEUV ihre primärrechtliche Grundlage.6 Es wird vorgesehen, dass die Europäische Staatsanwaltschaft vor den nationalen Strafgerichten auftreten kann und dabei zumindest teilweise ein originäres europäisches Strafverfahrensrecht zur Anwendung kommen würde (Art. 86 Abs. 1 AEUV).7 Ihre Gründung wird sicherlich eine völlig neue Dimension des europäischen Strafrechts eröffnen. Diese zahlreichen rechtlichen Maßnahmen lassen den Willen der EU-Mitgliedstaaten zu einer engen Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet des Strafrechts erkennen. Diese Entwicklung begründet neue Fragen nicht zuletzt auf dem Gebiet der Auslegung und der Argumentation. Sie können sowohl auf der normativen als auch auf der empirischen Ebene, vor allem jedoch aus einer rechtsvergleichenden Perspektive formuliert und gestellt werden. Insbesondere liegt hier zunächst die allgemeine Frage nahe, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Rechtskulturen der EU-Staaten auf dem Gebiet der Auslegung und Argumentation gegeben sind. Die Antwort auf diese Frage kann in den nachfolgenden strafrechtlichen Kontexten relevant sein.

I. Ermächtigung der EU zu kriminalstrafrechtlicher Rechtssetzung Es ist allgemein anerkannt, dass die Europäische Union noch recht weit von einem einheitlichen Strafgesetzbuch8 bzw. von einer einheitlichen Strafprozessordnung entfernt ist, die die Strafgesetz- und die Strafprozessbücher der jeweiligen EU-Staaten ersetzen könnten. Bislang fehlen auch sonstige kriminalstrafrechtliche Vorschriften, die in allen Mitgliedstaaten einheitlich anwendbar wären.9 Nach Satzger gibt es jedoch starke Tendenzen zur Schaffung eines „Europäischen (Kriminal-)Strafrechts“.10 Zwar wird der EU heute eine supranationale Kriminalstrafgewalt abgesprochen, eine Ausnahme davon ist gleichwohl schon in Art. 325 Abs. 4 AEUV11 zu sehen, der durch den Lissabonner Vertrag 6

K. Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Auflage, 2014, § 13 Rn. 19. F. Zimmermann, Die Auslegung künftiger EU-Strafrechtskompetenzen nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JURA 11/2009, S. 845 f. 8 Ch. Calliess, Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Strafrecht? – Kompetenzgrundlagen und Kompetenzgrenzen einer dynamischen Entwicklung, ZEuS 1/2008, S. 41; namhafte Autoren wie z. B. Roxin sprechen jedoch schon heute von einem gesamteuropäischen Strafgesetzbuch. Vgl. C. Roxin, Grundlagen des polnischen Strafgesetzbuches im deutsch-polnischen Vergleich, in: FS für Szwarc, 2009, S. 90. 9 H. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Auflage, 2013, § 7 Rn. 2. 10 Ebenda. 11 Art. 325 Abs. 4 AEUV lautet: „Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sons7

A. Europäisierung des Strafrechts

23

neu gefasst wurde und nach einem Teil der deutschen Literatur den Weg zum Erlass supranationaler Straftatbestände zur Bekämpfung des EU-Betruges eröffnet hat.12 Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der „Betrügereien“ im Sinne des Art. 325 Abs. 4 AEUV nicht nur Handlungen im Sinne des deutschen § 263 Abs. 1 StGB erfasst, sondern in einem europäischen Sinn zu verstehen ist, „so dass für die Auslegung auf schon bestehendes europäisches Recht im Bereich der Betrugsbekämpfung zurückzugreifen ist, nämlich auf Art. 1 der sog. PIF-Konvention.“ 13 Es kann in diesem Zusammenhang argumentiert werden, dass sich die Unionskompetenz gemäß Art. 325 Abs. 4 AEUV auch auf weitere Handlungen mit Täuschungscharakter, wie z. B. Urkundendelikte, erstreckt.14 Der Wegfall des Vorbehalts und die Offenheit des neuen Art. 325 Abs. 4 AEUV lassen ebenfalls den Erlass von Verordnungen zu15, die unmittelbar gültig und in allen Mitgliedstaaten rechtlich verbindlich sind, ohne dass es hierzu nationaler Umsetzungsmaßnahmen bedarf.16 Satzger stellt heute die Prognose, dass es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis einzelne europäische Straftatbestände ertigen Stellen der Union beschließen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten.“ 12 Ch. Calliess, Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Strafrecht? – Kompetenzgrundlagen und Kompetenzgrenzen einer dynamischen Entwicklung, ZEuS 1/2008, S. 36; I. E. Fromm, EG-Rechtssetzungbefugnis im Kriminalstrafrecht, 2009, S. 64 ff.; F. Zimmermann, Die Auslegung künftiger EU-Strafrechtskompetenzen nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JURA 11/2009, S. 845 f.; S. Nürnberger, Die zukünftige Europäische Staatsanwaltschaft – Eine Einführung, ZJS 5/2009, S. 497; B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Auflage, 2012, § 4 Rn. 82; M. Mansdörfer, Das europäische Strafrecht nach dem Vertrag von Lissabon – oder: Europäisierung des Strafrechts unter nationalstaatlicher Mitverantwortung, HRRS 1/2010, S. 18; B. Noltenius, Strafverfahrensrecht als Seismograph der Europäischen Integration, ZStW 122 (3/2010), S. 618; E. Schramm, Acht Fragen zum Europäischen Strafrecht, ZJS 5/2010, S. 615 f.; H. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Auflage, 2013, § 8 Rn. 31; K. Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Auflage, 2014, § 9 Rn. 8. Mit Einschränkungen: M. Heger, Perspektiven des Europäischen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon, ZIS 8/2010, S. 416. 13 H. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Auflage, 2013, § 8 Rn. 25. 14 Siehe Art. 3 und 4 im Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug v. 11.7.2012, KOM (2012) 363; H. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Auflage, 2013, § 8 Rn. 25; F. Zimmermann, Die Auslegung künftiger EU-Strafrechtskompetenzen nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JURA 11/2009, S. 846. 15 Inzwischen wird schon eine Richtlinie erwogen. Siehe dazu Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug v. 11.7.2012, KOM (2012) 363. Man kann jedoch nicht ausschließen, dass in einem nächsten Schritt eine Verordnung erlassen werden wird. 16 B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Auflage, 2012, § 4 Rn. 51 und 83.

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Einleitung

lassen werden.17 Würde sich diese Prognose erfüllen, würde auch das Problem einer einheitlichen Auslegung des supranationalen Strafrechts – wie dies schon heute insbesondere auf dem Gebiet des Privatrechts der Fall ist – mit aller Schärfe auch auf dem Gebiet des Strafrechts aktuell werden. Die Vereinheitlichung des Rechts ist offensichtlich nur dann sinnvoll, wenn nicht nur gleich lautende Normen in den Rechtsordnungen der EU-Staaten gelten, sondern wenn sie auch ähnlich ausgelegt werden, d. h., ähnlich von den Rechtsanwendern aus unterschiedlichen Rechtsordnungen verstanden werden. Wie Vogenauer zutreffend bemerkt hat: „Die wirkliche Einheit des Rechts besteht nicht schon dann, wenn gleich lautende Normen erlassen werden, sondern erst dann, wenn ihre Anwendung auf gleiche Sachverhalte zu gleichen Ergebnissen führt.“ 18 Der Normtext ist aus dieser Perspektive ein Mittel zum Zweck; wichtiger als der Normtext ist das Ergebnis. In diesem Zusammenhang spielen die nationalen Auslegungskriterien eine entscheidende Rolle, da sie das Verstehen der juristischen Texte grundsätzlich determinieren. Sie bilden den Verstehenshorizont und die Denkkategorien der nationalen Rechtsanwender. Ohne sie kann kein Text verstanden und angewendet werden. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass mit der Wahl einer bestimmten Auslegungsmethode typischerweise auch ein bestimmtes Ergebnis gewählt wird.19 Werden somit in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche Auslegungsmethoden bevorzugt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass in diesen Ländern der einheitliche Normtext unterschiedlich verstanden werden wird. Dieses Problem kann durch die Rechtsprechung des EuGH, der für die Auslegung des Unionsrechts zuständig ist, entschärft, aber nicht völlig aufgehoben werden, weil – wie bereits hervorgehoben wurde – jede Rechtsanwendung das Verstehen der entsprechenden Rechtsnorm voraussetzt. Dieses Verstehen erfolgt traditionell in den nationalen Kategorien und daher kann es nicht überraschen, dass es Differenzen zwischen den Gerichten der EU-Staaten im Hinblick auf die Bereitschaft zur Anregung von Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH (Art. 267 AEUV) gibt.20 Was für das Gericht aus dem Staat A auslegungsbedürftig ist, muss nicht unbedingt auch für das Gericht aus dem Staat B auslegungsbedürftig sein. Die Erforschung der Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Auslegungskulturen der EU-Länder kann auch für den europäischen Gesetzgeber bei 17 H. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Auflage, 2013, § 8 Rn. 2. 18 S. Vogenauer, Eine gemeineuropäische Methodenlehre des Rechts – Plädoyer und Programm, ZEuP 2/2005, S. 235 f. 19 W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: FS für Jung, 2007, S. 247. Ähnlich S. Vogenauer, Eine gemeineuropäische Methodenlehre des Rechts – Plädoyer und Programm, ZEuP 2/2005, S. 235 f.; B. Rüthers, Hatte die Rechtsperversion in den deutschen Diktaturen ein Gesicht?, JZ 11/2007, S. 560. 20 Siehe dazu insbesondere S. Vogenauer, Eine gemeineuropäische Methodenlehre des Rechts – Plädoyer und Programm, ZEuP 2/2005, S. 238 f.

A. Europäisierung des Strafrechts

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der Formulierung der supranationalen Tatbestände hilfreich sein, falls er sich zukünftig für diesen Schritt entscheiden sollte. Bevor er diesen Schritt jedoch geht, sollte er sorgfältig die Auslegungskulturen der EU-Mitgliedstaaten rechtsvergleichend kennen lernen. Wie bereits festgestellt wurde, kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Rechtstext in allen EU-Mitgliedstaaten gleich verstanden werden wird. Dabei erscheint die These plausibel, dass je größer das Wissen des europäischen Gesetzgebers über die Auslegungskulturen der EU-Mitgliedstaaten ist, desto größer auch die Chance ist, dass er den Verständnisprozess in den EUMitgliedstaaten rational beeinflussen wird. Es ist inzwischen anerkannt, dass die Gesetzgebungstechnik die Auslegungskultur nicht außer Acht lassen darf. Wie Wronkowska und Zielin´ski zutreffend hervorgehoben haben, müssen die Formulierung der Gesetzestexte einerseits und ihre Auslegung andererseits kohärent bleiben, wenn Gesetzgebung, Rechtsanwendung und Auslegung rational sein sollen.21 Diese Feststellung lässt sich auch auf die europäische Ebene übertragen, wobei sich die Problematik der Kohärenz zwischen der Formulierung und der Auslegung eines Gesetzestextes auf der europäischen Ebene angesichts der sprachlichen Unterschiede zwischen den EU-Staaten noch deutlich verschärft.

II. Unionsrechtskonforme Auslegung Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verwaltungsgerichte nach Art. 4 Abs. 3 UA 2, 3 EUV i.V. m. Art. 288 UA 3 AEUV verpflichtet, insbesondere die der Umsetzung von Richtlinien dienenden Transformationsvorschriften, aber auch das sonstige Recht so weit wie möglich unionsrechts- bzw. richtlinienkonform auszulegen.22 Es ist dabei allgemein anerkannt, dass das Rechtsinstitut der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts gegenwärtig zu den bedeutsamsten Europäisierungsfaktoren gehört.23 Es sorgt zum einen für eine Anpassung der innerstaatlichen Rechtsanwendung an die Wertungsvorgaben des Unionsrechts und es ermöglicht zum anderen, den nicht unmittelbar in allen Mitgliedstaaten anwendbaren supranationalen Rechtsakten, insbesondere den Richtlinien, zu innerstaatlicher Beachtung zu verhelfen.24 Weiterhin ist hervorzuheben, dass dieses Rechtsinstitut gleichsam zur Schonung der nationalen Rechtsordnungen beiträgt, „wenn sich bereits durch eine den unionsrechtlichen Wertungen Rechnung tragende Rechtsinterpretation Kollisionen mit unmittelbar geltendem Unionsrecht und damit die Unanwendbarkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften vermeiden lassen.“ 25 21 S. Wronkowska/M. Zielin ´ski, O korespondencji dyrektyw redagowania i interpretowania tekstu prawnego, Studia Prawnicze 3–4/1985, S. 301; ähnlich L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 24. 22 B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Auflage, 2012, § 10 Rn. 81. 23 Ebenda, § 10 Rn. 1 m.w. N. 24 Ebenda. 25 Ebenda.

26

Einleitung

Es ist dabei zu beachten, dass die unionsrechtskonforme Auslegung auf europäischer Ebene immer mehr an Bedeutung gewinnt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Rechtssache Pupino hervorzuheben, in der der EuGH das Prinzip der unionsrechtskonformen Auslegung auf Rahmenbeschlüsse erweitert hat. Seit dieser Entscheidung muss das nationale Recht, und somit auch das Strafrecht, nicht nur im Lichte der Richtlinien, sondern auch vor dem Hintergrund der zahlreichen Rahmenbeschlüsse des Rates ausgelegt werden. Natürlich hängt in diesem Zusammenhang viel von der prinzipiellen Offenheit und Kreativität der Rechtswissenschaft und der justiziellen Organe des jeweiligen EU-Staates ab und dabei insbesondere von ihrer Bereitschaft, die Begriffe des nationalen Rechts im Lichte des Europäischen Rechts auszulegen. Dies ist keinesfalls selbstverständlich. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass je mehr sie dazu bereit sind, diese Aufgabe zu erfüllen, desto stärker wird das nationale Strafrecht europäisiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellt sich auf der vergleichenden Ebene die empirische Frage, welche Rolle die unionsrechtskonforme Auslegung bei der Auslegung von strafrechtlichen Gesetzen in der Praxis der EU-Länder spielt. Sind alle Gerichte in gleichem Ausmaß bereit, die europäischen Vorgaben bei der Auslegung der nationalen Gesetze zu berücksichtigen? Insbesondere liegt in diesem Zusammenhang die Frage nahe, welchen Rang die Praxis der unionsrechtskonformen Auslegung innerhalb der nationalen Auslegungskriterien einräumt. Diese und andere Fragen wurden bisher von der rechtsvergleichenden Strafrechtswissenschaft kaum aufgegriffen.

III. Zusammenarbeit der Justizorgane auf der europäischen Ebene Immer häufiger arbeiten auch Justizorgane und Strafjuristen auf der europäischen Ebene zusammen. Eine direkte Kommunikation zwischen Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten und anderen Personenkreisen ist angesichts des Zuwachses der Fälle mit internationaler Dimension heute keine Ausnahme mehr. Abgesehen von den sich ergebenden sprachlichen Problemen müssen sie auch andere Hürden bewältigen, die an dieser Stelle nicht alle ausführlich genannt werden können. Eine dieser Hürden ist jedenfalls der nationale Rechtsdiskurs, in dem die Betroffenen sozialisiert sind. Unter diesem durchaus problematischen Begriff ist in der vorliegenden Untersuchung der Kommunikationsprozess gemeint, der zwischen den handelnden Akteuren innerhalb des jeweiligen EU-Mitgliedstaates erfolgt. Im Rahmen dieses Diskurses werden bestimmte Begriffe, Definitionen, Konzepte, Kategorien, Deutungsmuster, Bedeutungszuweisungen, Topoi und Argumente etc. entwickelt, ohne die die Kommunikation zwischen den handelnden Akteuren nicht möglich wäre. Diese Basis der nationalen Kommunikation kann jedoch die internationale Kommunikation und vor allem Ver-

A. Europäisierung des Strafrechts

27

ständigung erheblich erschweren, insbesondere dann, wenn die handelnden Akteure eigene Vorstellungen von den Begriffen, Konzepten und Kategorien etc. auf die Akteure aus der anderen Rechtskultur projizieren. Diese Neigung kann naheliegender Weise nicht völlig ausgeschlossen werden. Sie kann allerdings dazu führen, dass die Äußerungen des ausländischen Partners aus der Perspektive der eigenen Rechtskultur als unverständlich erscheinen oder sogar als irrational interpretiert werden. Das Verständnis für die Rechtskultur des ausländischen Partners scheint in diesem Fall gefährdet zu sein, da seine Denkkategorien dem Kooperationspartner verborgen bleiben. Dies kann auch die Grundlage der justiziellen Zusammenarbeit in der EU gefährden und den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in Frage stellen. Demzufolge kann die Erforschung der Begriffe, der Konzepte, der Auslegungskategorien etc. der kommunizierenden Partner zur Bewältigung von Wissens- und vor allem von Verständnisdefiziten beitragen und die erfolgreiche Kommunikation zwischen den Justizbehörden der europäischen Länder fördern. Das folgende Beispiel aus der deutsch-polnischen Praxis zum Europäischen Haftbefehl verdeutlicht, wie nationale Auslegungskategorien die gegenseitige Verständigung erschweren können. Das Problem wurde im Rahmen von zwei Konferenzen unter Teilnahme von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten aus Deutschland und Polen erkannt und diskutiert.26 Nach der polnischen Strafprozessordnung (Art. 607t KPK) ist die Auslieferung eines polnischen Staatsangehörigen in einen EU-Staat nur dann möglich, wenn die betreffende Person nach Abschluss des Verfahrens im Falle einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zum Zwecke ihrer Verbüßung wieder nach Polen zurücküberstellt werden wird. Diese Vorschrift wird von der polnischen Seite buchstäblich interpretiert und dementsprechend fordert die polnische Seite in jedem Fall die Rücküberstellung des polnischen Bürgers nach einer Verurteilung im Ausland nach Polen. In der Praxis respektieren die Justizbehörden aus Berlin und Brandenburg diese Auslegung der Vorschrift nicht und verweigern die Rücküberstellung des polnischen Bürgers nach Polen, falls er seine Freiheitsstrafe in Deutschland verbüßen will. Nach der Auffassung der Behörden aus Berlin und Brandenburg dient Art. 607t KPK vor allem dem Schutz des Verurteilten und falls er auf diesen Schutz verzichtet, soll die Rücküberstellung nicht erfolgen. Zudem wird auf Art. 3 Abs. 1 lit. d des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 verwiesen. Angesichts dieser Praxis der Justizbehörden aus Berlin und Brandenburg haben die Justizbehörden aus Posen die Auslieferung von polnischen Bürgern nach Deutschland verweigert, es sei denn, die deutsche Seite sichert schriftlich im Voraus zu, dass der Täter nach der Verurteilung in Deutschland wieder nach Polen zurücküberstellt wird, unabhängig von seinem Willen. Da die Justizbehörden aus Berlin und Brandenburg eine solche Garantie nicht geben wollten, verweigerten die Gerichte aus Posen 26 Siehe dazu M. Małolepszy/G. Hochmayr/P. Nalewajko (Hrsg.), Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen Deutschland und Polen, 2012; dies., Auslieferung von eigenen Staatsangehörigen – Probleme in der Praxis der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in Strafsachen, 2013.

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Einleitung die Auslieferung der polnischen Bürger nach Deutschland. Diese Praxis der Gerichte aus Posen hat das polnische OG jedoch in zwei Beschlüssen27 beanstandet.

In diesem Fall hat die unterschiedliche Auslegung des Art. 607t KPK und die abweichende Rechtslage in beiden Ländern die Verständigung zwischen den Behörden aus Berlin und Brandenburg einerseits und aus Posen andererseits deutlich erschwert. Im Rahmen einer Diskussion zwischen den beiden Seiten wurde das Problem jedoch erkannt: „Im Laufe der Diskussion ergab sich, dass diesem Konflikt eine unterschiedliche Rechtskultur in beiden Ländern zugrunde liegt: Während in Polen bei eindeutigem Wortlaut des Gesetzes kein Raum mehr für andere Auslegungsmethoden besteht, ist dies in Deutschland nicht der Fall. Daher fühlen sich die polnischen Richter an den eindeutigen Wortlaut des Art. 607t gebunden und können nicht nachvollziehen, dass von deutscher Seite mit dem Sinn und Zweck der Regelung im Rahmenbeschluss über die Rücküberstellung des Verurteilten ins Heimatland zum Zweck der Strafvollstreckung argumentiert wird.“ 28

Die Feststellung einer unterschiedlichen Rolle des Wortlautkriteriums in beiden Rechtskulturen löst allerdings mitnichten das geschilderte Problem. Sie ermöglicht es jedoch, die Denkkategorien des ausländischen Partners besser kennen zu lernen. Durch die Erforschung seiner Perspektive können seine Entscheidungen durch den ausländischen Partner zumindest erklärt werden. Von diesem Ausgangspunkt kann dann nach Lösungen gesucht werden, die für beide Seiten angemessen sind.

IV. Notwendigkeit einer europäischen Methodenlehre In der methodischen Literatur wird immer häufiger das Postulat der Entwicklung einer europäischen Methodenlehre hervorgehoben.29 Dieses Postulat wird unter anderem mit dem Vorwurf einer mangelhaften Auslegungspraxis des EuGH begründet. Dem EuGH wird vorgeworfen, dass er bei der Auslegung von Unionsrecht willkürlich verfährt,30 dabei die anerkannten Regeln der Auslegung auf der Strecke bleiben31 oder methodische Grundlagen der Rechtsauslegung ignoriert werden.32 In der Literatur wird sogar die folgende Frage gestellt: 27 Beschluss (Postanowienie) vom 12.9.2012, V KK 238/12 und Beschluss (Postanowienie) vom 12.9.2012, V KK 223/12. 28 E. C. Rautenberg, Zusammenfassung der ersten Diskussion. Der Europäische Haftbefehl in der staatsanwaltlichen Praxis, in: M. Małolepszy/G. Hochmayr/P. Nalewajko (Hrsg.), Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen Deutschland und Polen, 2012, S. 38. 29 S. Vogenauer, Eine gemeineuropäische Methodenlehre des Rechts – Plädoyer und Programm, ZEuP 2/2005, S. 235 f.; B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 648a. 30 J. Jahn, Europarichter überziehen ihre Kompetenzen, NJW 25/2008, S. 1788 f. 31 B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 648a.

A. Europäisierung des Strafrechts

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„Es bleibt die abschließende Frage: Wie kommt es, dass Entscheidungen so hoch qualifizierter Richter solche methodischen Mängel aufweisen? Man kann die Ursachen nur vermuten: Das Zusammenwirken von Juristen aus doch sehr unterschiedlichen Rechtsordnungen und unterschiedlicher Provenienz begünstigt offenbar nicht gerade eine rationale, nachvollziehbare Entscheidungspraxis. Zwar bemüht sich der EuGH um Konsistenz, indem er sich stark auf seine frühere Entscheidungspraxis stützt und damit ein gewisses Maß an Berechenbarkeit schafft. Es gelingt ihm auch in vielen Spezialgebieten des Gemeinschaftsrechts. Aber sein Engagement für die Ziele der Union geht eben auch auf Kosten einer nachvollziehbaren juristischen Methodik. Methoden grammatikalischer und systematischer Rechtsauslegung – so scheint es – werden immer stärker zu Gunsten teleologischer Argumente vernachlässigt. Es entwickelt sich eine ,Rechtsfortbildung‘, die sich nicht mehr darauf beschränkt, die Lücken des Gemeinschaftsrechts zu schließen, sondern die den Gemeinschaftsgesetzgeber dadurch korrigiert, indem seine Gesetze zwar nicht als gemeinschaftsrechtswidrig, aber doch völlig anders ausgelegt werden, als Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der Vorschrift es eigentlich nahe legen würden. Die Techniken hierfür liegen mit dem Rückgriff auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip und allgemeine Rechtsgrundsätze bereit.“ 33

Diese Praxis des EuGH erweckt erhebliche und begründete Bedenken. Eine europäische Methodenlehre, die die Besonderheiten des Unionsrechts einerseits und die unterschiedlichen Traditionen der EU-Länder auf dem Gebiet der Auslegung andererseits berücksichtigen würde, könnte gewissermaßen dieser Praxis entgegenwirken. Dadurch könnte eine europäische Methodenlehre zur Erhöhung der Überzeugungskraft der Entscheidungen des EuGH beitragen. In diesem Zusammenhang spielen rechtsvergleichende Untersuchungen zu der Auslegungspraxis der EU-Staaten eine entscheidende Rolle. Dementsprechend argumentiert etwa Vogenauer, der für eine europäische Methodenlehre plädiert: „Aufgabe der Rechtsvergleichung ist also, die allgemeinen methodischen Grundsätze aufzuspüren, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Sollte sich herausstellen, dass ein gemeinsamer Methodenbestand bereits im Kern vorhanden ist, dass es schon zahlreiche inhaltliche Übereinstimmungen gibt, könnte die Entwicklung einer gemeineuropäischen Methodenlehre darauf aufbauen und müsste nicht bei Null beginnen. Erforderlich ist mithin eine gründliche, rechtvergleichende Bestandsaufnahme.“ 34

Dabei betont Vogenauer, dass die Rechtsvergleichung sich nicht auf nationale Gesetzgebungen und Lehrmeinungen beschränken darf, sondern das „lebende Recht“, d. h. die Vorgehensweise der Gerichte, berücksichtigen muss.35

32 K. Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, NJW 31/2004, S. 2187. 33 Ebenda, S. 2189. 34 S. Vogenauer, Eine gemeineuropäische Methodenlehre des Rechts – Plädoyer und Programm, ZEuP 2/2005, S. 247. 35 Ebenda, S. 248.

30

Einleitung

Die Beteiligung der (rechtsvergleichenden) Strafrechtswissenschaft an der Entwicklung einer europäischen Methodenlehre ist aus zumindest zwei Gründen notwendig. Zum einen kann jede Entscheidung des EuGH strafrechtliche Relevanz erlangen, unabhängig davon, in welcher Verfahrensart sie getroffen wurde.36 Insbesondere wirkt die Rechtsprechung des EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) auf die nationalen Strafverfahren ein. Es ist in dieser Hinsicht Hecker zuzustimmen, dass die vielfältigen unmittelbaren und mittelbaren Einflüsse des Unionsrechts auf nationale Straf- und Bußgeldbestimmungen nicht selten Auslegungsfragen beim Strafrichter aufwerfen, die einer Klärung durch den EuGH bedürfen.37 Die Auslegung des Unionsrechts, die der EuGH vornimmt, ist für das betreffende Gericht bindend. Zum anderen erfordert das Strafrecht angesichts seines belastenden Eingriffscharakters besondere Begrenzungen, die die europäische Methodenlehre berücksichtigen sollte. Als Beispiel dafür kann aus dem deutschen und dem polnischen Recht das Analogieverbot genannt werden. Eine europäische Methodenlehre sollte diesen Aspekt berücksichtigen, und in diesem Kontext liegt die Frage nahe, welche weiteren Besonderheiten des Strafrechts für eine europäische Methodenlehre von Bedeutung sind. Diese Frage wird sicherlich noch mehr an Brisanz gewinnen, falls sich die EU für den Erlass von supranationalen Tatbeständen zur Bekämpfung des EU-Betruges im Wege der Verordnung entscheiden sollte. Dann müsste der EuGH dieses Unionsrecht auslegen und dabei die spezifischen Anforderungen des Strafrechts beachten.

B. Gegenstand der Untersuchung Die vorangehende Darstellung der Entwicklung des europäischen Strafrechts zeigt, dass die Auslegungskulturen der EU-Staaten auch aus der strafrechtlichen Perspektive schon heute der wissenschaftlichen rechtsvergleichenden Durchdringung bedürfen. Dieser Aufgabe stellt sich die folgende Arbeit, wobei sie sich auf zwei Rechtsordnungen konzentriert, und zwar auf die deutsche und auf die polnische Rechtsordnung.38 Für die Auswahl dieser beiden Rechtsordnungen spricht der Umstand, dass beide Länder nicht nur zu den größten EU-Ländern gehören, sondern zugleich das Schicksal derjenigen europäischen Staaten teilen, die infolge des Zweiten Weltkrieges und der danach getroffenen Entscheidungen über viele Jahre unterschiedliche Ziele verfolgt haben. Während die Bundesrepublik Deutschland und andere westeuropäische Länder in den letzten 60 Jahren in ihrem Rechtssystem die Werte der Demokratie, des Liberalismus und des Rechtsstaates verkörpert haben, war dieser Weg den nicht souveränen Staaten des Ost36

B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Auflage, 2012, § 6 Rn. 1. Ebenda, § 6 Rn. 8. 38 Zu dem Vergleich der deutschen und der angelsächsischen Auslegungskultur siehe S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1 und 2, 2001. 37

B. Gegenstand der Untersuchung

31

blocks bis Ende der achtziger Jahre versperrt. Diese unterschiedliche geschichtliche Entwicklung musste ihre Spuren in den gegenwärtigen Rechtssystemen hinterlassen. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass Deutschland und Polen jeweils für beide Gruppen von Staaten gewissermaßen repräsentativ sind, wenn auch die erheblichen Unterschiede zwischen den Rechtssystemen innerhalb der jeweiligen Gruppe von west- und osteuropäischen Staaten nicht zu leugnen sind. Die Annahme der Repräsentativität beider Staaten kann nun auch in gewissem Rahmen zur Verallgemeinerung der Ergebnisse aus deutsch-polnischen rechtsvergleichenden Untersuchungen genutzt werden. So kann davon ausgegangen werden, dass die eventuellen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem polnischen Rechtssystem nicht nur Unterschiede zwischen diesen beiden Ländern zeigen, sondern zugleich Gründe für eine abweichende Rechtslage und Rechtsanwendung in den westeuropäischen Ländern einerseits und den osteuropäischen Ländern andererseits liefern können. Der so skizzierte Gegenstand der Untersuchung ist jedoch recht umfangreich und zwingt damit auch zur Einschränkung der untersuchten Materie. Denn eine Untersuchung der gesamten deutschen und polnischen Auslegungskultur ist hier nicht möglich. Demzufolge wird sich die vorliegende Analyse nur auf die höchstrichterliche Rechtsprechung in Strafsachen beider Länder konzentrieren. In Betracht gezogen wird die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Deutschland39 (im Folgenden: BGH) und des Obersten Gerichts in Polen40 (im Folgenden: OG). Diese Auswahl ist dadurch begründet, dass die Bedeutung des BGH und des OG nicht allein darin besteht, „das letzte Wort“ bei der Entscheidung von Einzelfällen zu haben, sondern dass die Rechtsprechung beider Gerichte vielmehr in hohem Maße auch die praktizierte Rechtskultur – das gelebte Recht – bestimmt.41 Dies ergibt sich sowohl aus der rechtlichen Bindungswirkung von Entscheidungen beider Gerichte als auch aus dem Umstand, dass die Richter der unteren Instanzen sich in aller Regel an der Spruchpraxis des BGH und des OG orientieren.42 Wie Barton zu Recht hervorgehoben hat, haben die vom BGH entschiedenen Fälle für das gesamte Strafrechtssystem maßstabsbildende Bedeutung;43 der BGH bestimmt die Wirklichkeit und Kultur der Strafrechtspraxis.44 39

Zu den Aufgaben des BGH siehe Anhang B Pkt. 1. Zu den Aufgaben des OG siehe Anhang B Pkt. 2. 41 Zu der Rolle des OG im Lichte des polnischen Strafprozesskodexes siehe insbesondere Z. Doda, Rola Sa˛du Najwyz˙szego w s´wietle nowego kodeksu poste˛powania karnego, PiP 9–10/1998, S. 136 ff. 42 S. Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen, 1999, S. 3. Für Polen siehe: P. Hofman´ski, Die Kassation im System der Rechtsbehelfe im polnischen Strafprozeß, in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Band 7, 2003, S. 173; W. Sanetra, Je˛zyk uzasadnien´ orzeczen´ Sa˛du Najwyz˙szego jako odmiana je˛zyka prawniczego?, in: W. Sanetra (Hrsg.), Sa˛d Najwyz˙szy wobec prawa i praktyki Unii Europejskiej, 2003, S. 139. 43 S. Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen, 1999, S. 4. 40

32

Einleitung

Diese Feststellung lässt sich ohne Einschränkungen auch auf die Rechtsprechung des OG übertragen.45 Beide Gerichte setzen auch die Maßstäbe für die Auslegung und Argumentation fest, die eine Orientierung für die Richter der Instanzgerichte bilden.46 Die Fragen, welche Auslegungsmethoden zulässig sind, welche Bedeutung den in der jeweiligen Rechtskultur verwendeten Auslegungsmethoden zuerkannt werden soll, welche Argumente in der Begründung einer justiziellen Entscheidung verwendet werden dürfen etc., werden von den Richtern der Instanzgerichte beider Länder auch in Bezug (manchmal unbewusst) auf die höchstrichterliche Rechtsprechung beantwortet. Kurz gesagt: Die Rechtsprechung beider Gerichte wirkt sich erheblich auf die Argumentations- und die Auslegungskultur47 beider Rechtsordnungen aus. Die Rechtsprechung prägt auch die Begründungskultur der jeweiligen Rechtsordnung. Dies trifft insbesondere auf die Rechtsprechung der höchstrichterlichen Gerichte zu, da zum einen bei schwierigen rechtlichen Problemen (hard cases)48 zwei oder mehr akzeptable Lösungen in Betracht kommen können, und zum anderen bei Rechtsfragen, die Wertungen zum Gegenstand haben, ein besonderer Argumentationsaufwand zu erwarten ist. Eine Begründung soll vor allem plausible Gründe dafür angeben, weshalb diese und nicht jene Lösung gewählt und weshalb diesem und nicht einem anderen Wert der Vorrang eingeräumt wurde. Angesichts dessen verschafft die Begründung einer Entscheidung Legitimation und spielt somit im Rechtsstaat eine zentrale Rolle.49 Sie erlangt insoweit auch immer größere Bedeutung auf der europäischen Ebene.50 Die höchsten Gerichte prägen nicht nur die Auslegungs- und Begründungskultur beider Länder, sondern entscheiden immer häufiger in denjenigen Fällen, in denen ein direkter Bezug zum europäischen Recht vorliegt. Beispielhaft können auf der deutschen Seite das viel diskutierte „Pyrolyse-Urteil“ vom 26.2.199151 44

Ebenda. Siehe auch W. Sanetra, Je˛zyk uzasadnien´ orzeczen´ Sa˛du Najwyz˙szego jako odmiana je˛zyka prawniczego?, in: W. Sanetra (Hrsg.), Sa˛d Najwyz˙szy wobec prawa i praktyki Unii Europejskiej, 2003, S. 138 ff. 46 Ähnlich M. Romanowicz, in: W. Stas ´ kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 427. 47 Zu diesem Begriff siehe R. Sarkowicz, Autorytet a obiektywna interpretacja tekstu, G. Ska˛pska/J. Czapska/K. Daniel/J. Górski/K. Pałecki (Hrsg.), Prawo w zmieniaja˛cym sie˛ społeczen´stwie, 1992, S. 199. 48 Zu diesem Begriff siehe: K. Opałek/J. Wróblewski, Prawo. Metodologia, filozofia, teoria prawa, 1991, S. 272 ff. 49 R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 19. 50 So stellt etwa Renzikowski zu Recht fest, dass Polen wegen Begründungsmängeln mehrfach vom EGMR verurteilt wurde. Siehe dazu: J. Renzikowski, Habeas Corpus – Probleme der Umsetzung von Art. 5 EMRK in Polen und in Deutschland, in: J. C. Joerden/A. J. Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, 2007, S. 333. 51 5 StR 555/90, BGHSt 37, 333. 45

B. Gegenstand der Untersuchung

33

und auf der polnischen Seite der Fall von Jakub Tomczak52 (siehe diesen Fall im Anhang C Pkt. 6. Fall OG 1) erwähnt werden. Insbesondere der Fall von Jakub Tomczak erforderte vom OG einen besonders hohen Argumentationsaufwand, da er sehr kompliziert war. In diesen und ähnlichen Entscheidungen prägen die höchsten Gerichte beider Länder zugleich das Modell des Umgangs mit dem europäischen Strafrecht. Es ist davon auszugehen, dass dieses Modell einen wesentlichen Anknüpfungspunkt für die Gerichte unterer Instanzen beider Länder bildet, wenn sie das europäische Recht bei ihren Entscheidungen berücksichtigen müssen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass beide Gerichte (der BGH und das OG) eine besondere Rolle in der Gerichtsbarkeit beider Länder spielen.53 Ihre ausstrahlende Wirkung prägt die Auslegungs-, Argumentations- und Begründungskultur beider Länder. Ferner setzen beide Gerichte Maßstäbe für den Umgang mit dem europäischen Strafrecht. Eine vergleichende Erforschung der Rechtsprechung des BGH und des OG ermöglicht daher die Aufstellung von vielfältigen Schlussfolgerungen im Hinblick auf die im Punkt A. dieser Einleitung genannten Kontexte.

52 Beschluss des OG vom 3.3.2009, I KZP 30/08, OSNKW 2009, Nr. 4, S. 27. Zu dieser Entscheidung siehe M. Małolepszy, Kulturowe uwarunkowania procesu europeizacji prawa karnego na przykładzie orzecznictwa Sa˛du Najwyz˙szego, in: A. J. Szwarc/ J. Piskorski (Hrsg.), Unijna polityka karna w s´wietle polskiego prawa, 2010, S. 33 ff. 53 Zu der Struktur der Gerichtsbarkeit in Deutschland und Polen siehe Anhang A Pkt. 1. und 2.

Teil 1

Theoretische Vorüberlegungen A. Die möglichen Perspektiven der Untersuchung Die höchstrichterliche Rechtsprechung beider Länder kann aus verschiedenen Blickwinkeln erörtert werden. Bevor die für diese Untersuchung wichtigsten rechtlichen Perspektiven genannt werden, sollen im Folgenden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die vor allem in Betracht kommenden Perspektiven dargelegt werden. • Verfassungsrechtliche Perspektive Die Auslegungsproblematik gehört zu den fundamentalen Problemen einer Gewaltenteilung zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung. Da die juristischen Methodenfragen sehr oft mit Verfassungsfragen verknüpft sind und die Auslegungsmethode die Grenze der Machtverteilung zwischen Gesetzgebung und Justiz bestimmt1, darf die Untersuchung diese Perspektive keinesfalls außer Acht lassen. Sie lässt erkennen, welche Rolle die Verfassung beider Länder der Rechtsprechung zugewiesen hat und ob die Richter der höchstrichterlichen Gerichte diese Rolle akzeptieren. Die Richter können sich dabei entweder in der Rolle der „Diener“ oder der „Überwinder“ der Gesetze sehen.2 Die erste Rolle kommt insbesondere durch die Anwendung der grammatischen Methode zur Geltung. Die andere Rolle lässt sich durch die Anwendung der objektiv-teleologischen Auslegungsmethode charakterisieren. Ferner kann aus dieser Perspektive die Frage beantwortet werden, welche Rolle die verfassungskonforme und die verfassungsorientierte Auslegung3 in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der beiden Rechtsordnungen spielt. Daraus, inwieweit sich die Richter am Grundgesetz oder der Verfassung orientieren, lässt sich schließen, welche Rolle die Werte und die allgemeinen Rechtsprinzipien bei der Auslegung und der Argumentation spielen. Schließlich kann die verfassungs1 B. Rüthers, Hatte die Rechtsperversion in den deutschen Diktaturen ein Gesicht?, JZ 11/2007, S. 560. 2 Siehe dazu B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 8/2002, S. 365 ff.; G. Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 18/2007, S. 853 ff. 3 Zu Bedeutung beider Begriffe siehe: L. Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 1 ff.; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 178 ff.

A. Die möglichen Perspektiven der Untersuchung

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rechtliche Perspektive aufzeigen, welche Maßstäbe das deutsche Bundesverfassungsgericht und das polnische Verfassungsgericht in diesem Bereich festlegen, d. h., welche Auslegungsmethoden und welche Argumente im Lichte des deutschen Grundgesetzes bzw. der polnischen Verfassung zulässig sind. Es ist dabei davon auszugehen, dass der BGH und das OG4 sich an dieser verfassungsrechtlichen Rechtsprechung orientieren sollten, sie zumindest berücksichtigen müssen. • Rechtstheoretische Perspektive Methodenlehre und Argumentation gehören zu dem traditionellen Problemkreis der Rechtstheorie beider Länder. Ohne Berücksichtigung der rechtstheoretischen Perspektive beider Länder kann die höchstrichterliche Rechtsprechung wohl nicht vollständig analysiert werden. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung sich gewissermaßen an den Vorschlägen der jeweiligen nationalen Rechtstheorie orientiert, mitunter unbewusst, wobei deren Einfluss auf die höchstrichterliche Rechtsprechung beider Rechtsordnungen bisher noch nicht vollständig geklärt ist.5 Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass in beiden Rechtsordnungen viele methodische Konzepte miteinander konkurrieren, so dass sich das „herrschende Konzept“ nicht ohne Probleme bestimmen lässt. Aus diesem Blickwinkel ist vor allem die Frage zu beantworten, welche Auslegungsmethoden, Kategorien, Argumente, Direktiven und Deutungsmuster das „herrschende Konzept“ in beiden Ländern der Rechtsprechung zur Verfügung stellt und wie die angeführten Elemente miteinander verbunden werden. Insbesondere stellt sich hier die Frage, welche Bedeutung die Methodenlehre beider Länder den einzelnen Auslegungskriterien beimisst: Sind alle Kriterien gleichrangig oder wird einer bestimmten Auslegungsmethode der Vorrang eingeräumt? Die Antwort auf diese und andere Fragen kann zur Systematisierung, Strukturierung und vor allem zur Interpretation des empirischen Materials deutlich beitragen. • Rechtsphilosophische Perspektive Die Auslegungs- und Argumentationspraxis eines Landes steht in einer Beziehung zu den weltweit maßgebenden Strömungen. Zwei von diesen Strömungen 4 Zu dem Einfluss der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts auf die Rechtsprechung des OG siehe: T. Stawecki/W. Stas´kiewicz/J. Winczorek, Mie˛dzy policentrycznos´cia˛ a fragmentaryzacja˛, 2008. 5 Zu dieser Problematik gibt es in beiden Ländern nur vereinzelte Untersuchungen: P. Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, 1988; A. Municzewski, Reguły interpretacyjne w działalnos´ci orzeczniczej Sa˛du Najwyz˙szego, 1994; O. Bogucki/M. Zielin´ski, Wykładnia prawa we współczesnym orzecznictwie najwyz˙szych organów sa˛downiczych, in: O. Bogucki/J. Ciapała/ P. Mijal (Hrsg.), Standardy konstytucyjne a problemy władzy sa˛downiczej i samorza˛du terytorialnego, 2008; J. Wyrembak, Zasadnicza wykładnia znamion przeste˛pstw, 2009.

36

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

werden in der rechtsphilosophischen Literatur hervorgehoben und verdienen deshalb besondere Beachtung, und zwar zum einen die Abkehr von einem klassischen Subsumtionsmodell hin zu einem Argumentationsmodell und zum anderen die steigende (auch politische) Aktivität der Gerichte bei der Gestaltung der eigenen Rechtsordnungen („judicial“ activism).6 Es ist weitgehend anerkannt, dass für die europäischen Rechtsordnungen gegenwärtig die genannte Abkehr von dem klassischen Subsumtionsmodell hin zu einem Argumentationsmodell charakteristisch ist.7 Die Richter wollen die relevanten Sachverhalte nicht mehr nur unter geltende Rechtsnormen subsumieren, sondern fassen die maßgeblichen Argumente zusammen und wägen sie gegeneinander ab, was zu einem Ergebnis führt, das nach der Auffassung des Gerichtes gerecht ist. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses stellt sich die Frage, inwieweit sich die deutsche und die polnische höchstrichterliche Rechtsprechung an dieser Entwicklung beteiligen. Sehr interessant ist dabei die Frage, welches Modell in der gegenwärtigen Praxis der beiden Länder überwiegt. Ferner lässt sich weltweit eine größere Aktivität der Gerichte bei der Gestaltung der Rechtsordnungen feststellen.8 Die Gerichte, insbesondere die obersten Gerichte, schaffen neue Rechtsnormen, Rechtsinstitute etc., manchmal nehmen sie die Rolle des Gesetzgebers ein. Einige Autoren sprechen in Bezug darauf von einer Revolution, die sich in unserer Zeit ereigne.9 Andere Autoren stellen sogar die Frage, ob der Rechtsstaat noch existiert, oder ob er in einen Richterstaat umgewandelt wurde.10 Auch vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellt sich die Frage, inwieweit sich die deutsche und die polnische Rechtsprechung an diesem Prozess beteiligen. • Europarechtliche Perspektive Wie eingangs festgestellt wurde, muss sowohl die deutsche als auch die polnische Rechtsprechung bei der Auslegung der nationalen Gesetze die europäischen Vorgaben beachten. Die unionsrechtskonforme Auslegung stellt an die Gerichte 6 Die Literatur zu dieser Problematik ist bereits recht umfangreich: Siehe dazu Ch. Wolfe, Judicial Activism, 2. Auflage, 1997; R. O. Graef, Judicial Activism in Civil Proceedings, 1996; S. Harwood, Judicial Activism, 1996; F. P. Lewis, The Context of Judicial Activism, 1999; A. de Valk (Hrsg.), Judicial Activism, 2003; M. Kirby, Judicial Activism, 2004; R. Leishman, Against Judicial Activism, 2006; K. Roosevelt, The Myth of Judicial Activism, 2006; B. Dickson (Hrsg.), Judicial Activism in Common Law Supreme Courts, 2007. 7 L. Morawski, Główne problemy współczesnej filozofii prawa, 4. Auflage, 2005, S. 199. 8 Ebenda, S. 285; M. Smolak, Uzasadnienie sa˛dowe jako argumentacja z moralnos ´ci politycznej, 2003, S. 24. 9 A. Aarnio, Wegen Recht und Billigkeit, 1988, S. 33. 10 B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 8/ 2002, S. 365 ff.

A. Die möglichen Perspektiven der Untersuchung

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beider Länder besondere Anforderungen. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen stellt sich die Frage, welche Rolle die europäischen Vorgaben bei der Auslegung von Gesetzen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung beider Länder spielen. Ferner kann man aus normativer Perspektive danach fragen, ob das in der Praxis des BGH und des OG herrschende Auslegungsmodell angesichts der fortschreitenden Integration der europäischen Rechtssysteme (noch) angemessen ist.11 Dies erfordert die Herausarbeitung von Beurteilungskriterien. Aus deskriptiver Perspektive erscheint zudem die Frage berechtigt, ob sich dieses Modell unter dem Einfluss des europäischen Rechts verändert. • Logische Perspektive Die Begründungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung könnten auch aus einer logischen Perspektive heraus analysiert werden, wobei hier nicht zu erwarten ist, dass die höchsten (Fach-)Gerichte in Deutschland und Polen einfach unter die gesetzlichen Begriffe subsumieren. Dieser „juristische Syllogismus“ ist eher für die Arbeit der Gerichte der unteren Instanzen charakteristisch, die nach der Feststellung des Sachverhalts und der entsprechenden Regelungen die gesetzlich vorgesehenen Konsequenzen ziehen. Die Fälle, die zu den obersten Instanzen gelangen, sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass der Subsumtionsvorgang problematisch ist und das Gericht sich zur Entscheidung eines umstrittenen Falls veranlasst sieht. Ob dabei an die Logik angeknüpft wird, kann aus der logischen Perspektive geklärt werden, wobei hier verschiedene Schwerpunkte denkbar sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient insbesondere die Frage, welche Rolle „spezifisch juristische Schlüsse“ 12 in der Rechtsprechung des BGH und des OG spielen. Gemeint sind hier insbesondere der erst-recht-Schluss (argumentum a fortiori), der Analogieschluss (argumentum a simile) und der Umkehrschluss (argumentum e contrario). • Rechtsvergleichende Perspektive Die Auslegungspraxis beider Gerichte kann auch auf rechtsvergleichender Ebene untersucht werden. Dieses Vorhaben stellt gleichwohl eine besondere Herausforderung dar, wenn man die Schwierigkeiten berücksichtigt, die schon bei der Untersuchung der Auslegungspraxis einer Rechtsordnung deutlich werden. Die Komplexität der Entscheidungen der obersten Gerichte und vor allem ihre Heterogenität erschweren erheblich die Feststellung eines einheitlichen Musters, das sich in jeder Entscheidung feststellen ließe. Die Untersuchungsprobleme, die 11 M. Małolepszy, Kulturowe uwarunkowania procesu europeizacji prawa karnego na przykładzie orzecznictwa Sa˛du Najwyz˙szego, in: A. J. Szwarc/J. Piskorski (Hrsg.), Unijna polityka karna w s´wietle polskiego prawa, 2010, S. 33 ff. 12 J. C. Joerden, Logik im Recht, 2. Auflage, 2010, S. 351.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

auf der rein nationalen Ebene gegeben sind, verdoppeln sich zumindest auf der internationalen Ebene, denn hier kommen die kategorialen Hürden hinzu. Es stellt sich daher die Frage, wie sich etwas, das uneinheitlich und dynamisch erscheint, überhaupt vergleichen lässt. Ein Vergleich setzt eigentlich zumindest stabile Gegenstände voraus, die verglichen werden sollen, und wie bereits festgestellt wurde, lassen sich konsequente Muster in der Rechtsprechung der beiden obersten Gerichte nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten ermitteln. Die Leistungsfähigkeit der rechtsvergleichenden Methode ist somit auf das Gebiet der Auslegung und der Argumentation beschränkt. Gleichwohl lässt sich auf rechtsvergleichender Ebene die Frage stellen, welche Argumente und Auslegungsmethoden die beiden obersten Gerichte bei der Lösung der schwierigsten Auslegungsprobleme verwenden und ob in dieser Hinsicht überhaupt Unterschiede vorliegen. Ferner kann aus rechtsvergleichender Perspektive der Frage nach den Unterschieden in der Kategorisierung des Auslegungsprozesses nachgegangen werden. Insbesondere gewinnt in diesem Zusammenhang die Frage an Bedeutung, wie die Gerichte die Auslegung von der Rechtsfortbildung (in deutscher Terminologie) abgrenzen. Man kann auf dieser Ebene zudem noch versuchen, die Auslegungsergebnisse beider Gerichte bei ähnlichen Auslegungsproblemen vergleichend zu untersuchen. • Rechtssoziologische Perspektive Die Entscheidungsbegründung kann auch als Kommunikationsmittel betrachtet werden.13 In der Begründung werden bestimmte Inhalte kommuniziert, deren Funktion vor allem in der Überzeugung potenzieller Empfänger liegt. Aus der Art und Weise der Kommunikation lassen sich auch Folgerungen im Hinblick auf das soziale Zusammenleben in einer Gesellschaft ableiten. Man kann in diesem Kontext danach fragen, welche Rolle sich beide Gerichte zuweisen: Müssen sie mit einem erheblichen Aufwand argumentieren oder reicht es aus, arbiträr festzustellen, dass ein strittiger Sachverhalt unter eine bestimmte Vorschrift fällt oder nicht? Beide Begründungsmodi lassen auf die Position im Rechtssystem schließen, die sich beide Gerichte selbst zuweisen. Ferner lässt der soziologische Ansatz Perspektiven und Relevanzsysteme der handelnden Akteure erkennen. Dieser Ansatz ist besonders wichtig für die vorliegende Untersuchung, die zur Verbesserung der Kommunikation zwischen deutschen und polnischen Juristen beitragen soll. Wie bisher festgestellt wurde, kann die Erforschung der Perspektiven der auf beiden Seiten handelnden Akteure ihre wechselseitige Verständigung erleichtern. Hier stellt sich insbesondere die Frage, 13 U. Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, in: Arthur Kaufmann/ W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage, 2011, S. 343.

A. Die möglichen Perspektiven der Untersuchung

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welche Bedeutung die obersten Gerichte bestimmten Argumenten und Auslegungsmethoden zumessen. Entscheidend sind in dieser Hinsicht die subjektiven Sichtweisen der Gerichte, unabhängig von ihrer objektiven Richtigkeit. Der Vorteil des soziologischen Ansatzes liegt auch in einem entwickelten Instrumentarium, das zur Beantwortung der in dieser Untersuchung gestellten Fragen beitragen kann. Zwar kann auf dem Gebiet der Methodologie von einem allgemein geltenden Paradigma keine Rede sein, aber die bisher entwickelten Vorschläge bieten Anhaltspunkte auch für die juristisch orientierte Empirieforschung an. Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass auf dem Gebiet der vergleichenden Rechtssoziologie bisher nur spärliche Forschungsergebnisse vorliegen.14 • Rechtslinguistische Perspektive „Die Rechtsbegriffe und Rechtsvorstellungen haben in der realen Welt kein Gegenstück, lassen sich ohne Sprache zumeist nicht darstellen. Sie existieren durch Sprache und in Sprache.“ 15 Diese Feststellung, die inzwischen als evident erscheint, vernachlässigt die Bedeutung der Sprache nicht. Es scheint jedoch, dass Juristen im Allgemeinen deren Rolle eher unterschätzen und von der Rolle der Sprache in ihrer täglichen Arbeit nur wenig ahnen. Ihre Vorstellungen von der Sprache weichen dabei jedenfalls von dem gegenwärtigen Stand des linguistischen Wissens deutlich ab: „Während nun allerdings Linguisten sich keineswegs sicher sind, was Sprache überhaupt ist, kann das schweizerische Bundesgericht – ohne tiefere Reflexion – noch heute unter Berufung auf ,die Regeln der deutschen Sprache‘ Entscheide fällen, wobei es völlig verkennt, daß Sprachregeln nicht präskriptiv, sondern lediglich deskriptiv sind. Der Vorwurf an den Praktiker trifft jedoch eigentlich die Rechtstheorie bzw. deren Umgang mit der Sprache. Wie neuere rechtslinguistische Untersuchungen gezeigt haben, kann auch heute noch fast jeder juristischen Methodenlehre nachgewiesen werden, dass ihr ein Sprachverständnis zugrundegelegt wird, welches aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar und begründbar ist.“ 16

Diese deutlichen Worte dürfen nicht vernachlässigt werden und eröffnen eine wichtige Forschungsperspektive auch für die vorliegende Untersuchung. Insbesondere stellt sich hier die Frage, welche Rolle die beiden obersten Gerichte der Sprache zuweisen. Wie behandeln sie die Sprache? Betrachten sie die Sprache als Behälter der fertigen und stabilen Bedeutungen, die nur ermittelt werden müssen, oder haben sie eher bescheidene Erwartungen an diese Kommunikationsmittel? 14

Th. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 6. Auflage, 2013, S. 334. B. Großfeld, Sprache und Recht, JZ 1/1984, S. 3. 16 M. Baumann, Recht – Sprache – Medien oder die Notwendigkeit der interdisziplinären Öffnung der Rechtswissenschaft, Gesetzgebung heute 3/1995, S. 13. 15

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Lösen sie die Probleme vor allem auf der sprachlichen Ebene oder berücksichtigen sie zudem auch weitere außersprachliche Gesichtspunkte? Diese und andere Fragen sind für den linguistischen Ansatz von Bedeutung. Außerdem bietet die Sprachwissenschaft der Rechtswissenschaft ein wichtiges Hilfsmittel an, und zwar das Instrumentarium zur Analyse und zur Bewertung von Argumenten.17 Was ist ein Argument, welche Struktur hat es, welche Relation besteht zwischen bestimmten Argumenten und vor allem die Frage, wie bewertet man Argumente? Zur Beantwortung dieser Fragen kann linguistisches Wissen einen wesentlichen Teil beitragen.18 Da Gerichtsurteile vor allem aus Argumenten bestehen, ist das sprachwissenschaftliche Wissen in dieser Hinsicht nicht zu unterschätzen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurden alle bereits genannten Perspektiven berücksichtigt, wobei im Ergebnis die rechtsvergleichende und die rechtssoziologische Perspektive dominieren. Die Untersuchung versucht beide Perspektiven zu vereinigen, wobei andere Perspektiven nicht außer Acht gelassen wurden. Die Auswahl der dominanten Perspektiven ist indes nicht zufällig: Sie geht vor allem vom Gegenstand der Untersuchung und von den daraus resultierten Fragen (siehe Einleitung und Teil 1 Pkt. D. I.) aus. Die Kombination beider Aspekte eröffnet interessante Forschungsperspektiven, die in einer Zeit der Europäisierung der Strafrechtssysteme auch von der Strafrechtswissenschaft nicht vernachlässigt werden können. Durch die Auswahl der genannten Perspektiven leistet die Arbeit auch einen Beitrag zu einem interdisziplinären Ansatz, der in Zukunft auf dem Gebiet der Strafrechtswissenschaft eine größere Rolle als bisher spielen sollte.

B. Methodische Vorüberlegungen Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass die vorliegende Untersuchung einen rechtsempirischen Charakter haben soll. Deshalb darf sie an der damit verbundenen methodischen Problematik nicht vorbeigehen. Die bereits gewählten Perspektiven legen den Gedanken nahe, zunächst die Methodik der Sozialforschung (I.) und der Rechtsvergleichung (II.) zu befragen.19 Beide Forschungsbereiche haben in dieser Hinsicht viel zu bieten, wobei nicht zu erwarten ist, dass sie ein fertiges Konzept für die vorliegende Untersuchung liefern kön17 K. Szymanek, Sztuka argumentacji, 2001; K. Szymanek / K. A. Wieczorek /A. S. ´ wiczenia w badaniu argumentów, 2. AufWójcik (Hrsg.), Sztuka argumentacji. C lage, 2008; M. Tokarz, Argumentacja, Perswazja, Manipulacja, 2006; K. Bayer, Argument und Argumentation, 2. Auflage, 2007. 18 H. Wohlrapp (Hrsg.), Wege der Argumentationsforschung, 1995; J. Kopperschmidt, Methodik der Argumentationsanalyse, 1989. 19 Zum Verhältnis beider Disziplinen siehe: U. Drobnig/M. Rehbinder (Hrsg.), Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, 1977.

B. Methodische Vorüberlegungen

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nen. Sowohl auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung als auch auf dem Gebiet der Sozialforschung konkurrieren unterschiedliche Forschungsansätze, die sich nicht selten auf einander widersprechende Grundsätze stützen. Aus ihrem Bestand soll jedoch eine methodische Grundlage für die vorliegende Untersuchung gewonnen werden. Dabei soll die Herausarbeitung einer solchen Methode sowohl im Hinblick auf die Fragestellung als auch im Hinblick auf das Erkenntnispotential der Methode erfolgen.

I. Soziologische Forschungsmethoden 1. Allgemeines Es ist heute grundsätzlich anerkannt, dass die gegenwärtige Soziologie weitgehend empirisch orientiert ist.20 Zwar werden auch rein theoretische Untersuchungen durchgeführt, aber die Hauptströmung scheint sich empirisch zu orientieren. Dies setzt die Herausarbeitung und die ständige Verbesserung des methodischen Instrumentariums voraus. Und in der Tat ist die ältere und neuere methodische Literatur auf dem Gebiet der Soziologie sehr umfangreich. Von einem allgemeingültigen Paradigma kann jedoch bisher keine Rede sein. In der gegenwärtigen soziologischen Debatte konkurrieren zwei Forschungsansätze miteinander, die unter den Bezeichnungen einer „quantitativen“ und einer „qualitativen“ Sozialforschung firmieren,21 wobei diese auch bei einigen Ansätzen kombiniert werden.22 Beide Richtungen gehen von unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionen, Prämissen und Grundsätzen aus. Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, sollten alle Unterschiede zwischen ihnen genannt werden. Daher können nur die wichtigsten Unterschiede aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung hervorgehoben werden. Zunächst sind die unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Inspirationen zu betonen, die den beiden Forschungsansätzen zugrunde liegen. Während sich das quantitative Paradigma auf den Kritischen Rationalismus, den Logischen Positivismus und den Instrumentalismus stützt, liegen die Wurzeln des qualitativen Paradigmas in der Hermeneutik, der Phänomenologie und dem Konstruktivismus. Dies hat erhebliche wissenschaftstheoretische Implikationen. Eine von den wichtigsten Konsequenzen ist der Unterschied im Ziel der empirischen Forschung. Während die quantitative Sozialforschung sich vor allem um die Theorieprüfung kümmert, hat das qualitative Paradigma eine Theorieentwicklung bzw. Generie20 A. Büllesbach, Sind sozio- und psycholinguistische Methoden zur Rekonstruktion von Gerichtsurteilen verfügbar?, in: W. Hassemer/Arthur Kaufmann/U. Neumann (Hrsg.), Argumentation und Recht, ARSP-Beiheft n. F., Nr. 14 (1980), S. 127 ff. 21 S. Lamnek, Sozialforschung in Theorie und Praxis. Zum Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung, in: W. Clemens/J. Strübing (Hrsg.), Empirische Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis, 2000, S. 23 ff. 22 U. Flick, Jakos ´c´ w badaniach jakos´ciowych, 2011, S. 154 ff.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

rung von neuen Hypothesen zum Ziel. Es geht somit nicht darum, Bekanntes (etwa eine bereits vorab formulierte Theorie) zu überprüfen, sondern Neues zu entdecken und empirisch begründete Theorien zu entwickeln.23 Dies setzt unterschiedliches methodisches Vorgehen voraus. Der quantitativ orientierte Forscher geht von einer bestimmten Theorie aus, definiert auf ihrer Grundlage Begriffe, stellt zu Beginn seiner Untersuchung Hypothesen auf, die im Rahmen der quantitativen Untersuchung bestätigt bzw. falsifiziert werden sollen, setzt eine bestimmte Stichprobe fest und führt die Untersuchung durch, an die sich eine statistische Auswertung anschließt. Der Ausgangspunkt der qualitativen Forschung ist anders. Da es im Rahmen dieses Paradigmas nicht um die Prüfung einer bestimmten Theorie geht, sondern um die Entwicklung einer neuen Theorie bzw. die Aufstellung von neuen Hypothesen, wendet sich der Forscher zunächst dem empirischen Material mit einer Forschungsfrage zu, die im Laufe der Untersuchung (mehrmals) modifiziert werden kann, und auf deren Basis er Begriffe und Hypothesen formuliert, die im Laufe der Untersuchung getestet werden. Erweisen sie sich als falsch, werden sie modifiziert oder verworfen. In der qualitativen Methodologie tritt an die Stelle der Forderung nach einer Explizierung des Vorwissens in Form von Hypothesen „die Forderung nach einer Suspendierung dieses Vorwissens zugunsten einer größtmöglichen Offenheit gegenüber den spezifischen Deutungen und Relevanzsetzungen der Handelnden – einer Offenheit, die man durch die vorgängige Formulierung von Hypothesen gefährdet sieht“.24 Im Rahmen der qualitativen Sozialforschung werden somit theoretische Konzepte und Hypothesen nicht aufgrund von wissenschaftlichem und alltagsweltlichem Vorwissen formuliert, sondern durch kontrolliertes Fremdverstehen der von den Untersuchten verwendeten Alltagskonzepte generiert.25 Der Vorteil der qualitativen Methode liegt offenkundig darin, dass sie die Untersuchten selbst zu Wort kommen lässt. Sie hat den Anspruch, Lebenswelten „von innen heraus“ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben.26 Nicht das, was der Forscher für wichtig und relevant hält, steht im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern die Relevanzsysteme der Betroffenen determinieren Forschungsgegenstand, Forschungsablauf und Forschungsergebnisse. Auf andere Weise wird auch im Rahmen der qualitativen Sozialforschung eine Stichprobe gezogen. Die Stichprobengröße ist nicht vorab definiert. Sie kann lau23

U. Flick, Qualitative Sozialforschung, 2. Auflage, 2009, S. 24. W. Meinefeld, Hypothesen und Vorwissen in der qualitativen Sozialforschung, in: U. Flick/E. v. Kardorff/I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung, 9. Auflage, 2012, S. 266. 25 S. Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 5. Auflage, 2010, S. 462. 26 U. Flick/E. v. Kardorff/I. Steinke, Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick, in: U. Flick/E. v. Kardorff/I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung, 9. Auflage, 2012, S. 14. 24

B. Methodische Vorüberlegungen

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fend erweitert werden, um die notwendige Flexibilität des Forschungsablaufes zu garantieren. Am Ende der Untersuchung erfolgt die Auswertung der erhobenen Daten anhand des interpretativen Instrumentariums. Dabei ist zu beachten, dass in der gegenwärtigen methodischen Literatur die Auffassung überwiegt, dass es zurzeit keine verbindliche und einheitliche Methodologie qualitativer Sozialforschung gibt.27 Ferner ist hervorzuheben, dass beiden Forschungsansätzen ein unterschiedliches Wirklichkeitsverständnis zugrunde liegt. Das quantitative Paradigma nimmt eine objektive und autonom existierende Realität (Popper: Drei-Welten-Theorie) an; demgegenüber geht das qualitative Paradigma von der Annahme einer symbolisch strukturierten, von den sozialen Akteuren interpretierten und damit gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit aus.28 Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Gültigkeit der Forschungsergebnisse: „Wenn man soziale Realität als einen dauernd vor sich gehenden Konstruktionsprozess ansieht, an dem alle Gesellschaftsmitglieder in größerem und kleinerem Maße mitwirken, dann kann man nicht damit rechnen, dass es überhaupt eine Forschungsmethode gibt, die es gestattet, völlig eindeutige, längerfristig gültige, unwiderlegbare, zweifelsfrei wahre Aussagen über Elemente und Relationen der sozialen Realität zu machen.“ 29

Die vorliegende Untersuchung wird versuchen, beide Ansätze zu verbinden, wobei der Schwerpunkt auf dem qualitativen Paradigma liegen soll. Auf quantitative Elemente soll jedoch nicht vollkommen verzichtet werden. Dabei stellt sich die vorliegende Untersuchung vor allem die Aufgabe einer Generierung von neuen Hypothesen, die im Rahmen einer weiteren quantitativen Untersuchung überprüft werden könnten. Als Forschungstechnik kommt dabei insbesondere die Inhaltsanalyse in Betracht. 2. Inhaltsanalyse Die Inhaltsanalyse gehört zu den anerkannten Forschungstechniken der Sozialforschung.30 Sie ist nach einer weit gefassten Definition eine „Forschungstechnik, mit der man aus jeder Art von Bedeutungsträgern durch systematische und objektive Identifizierung ihrer Elemente Schlüsse ziehen kann, die über das einzelne analysierte Dokument hinaus verallgemeinerbar sein sollen.“ 31 Der Inhaltsanalyse liegt die Annahme zugrunde, dass in dem, was Menschen sprechen und schreiben, sie ihre Absichten, Einstellungen, Situationsdeutungen, ihr Wissen und 27

S. Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 5. Auflage, 2010, S. 25. Ebenda, S. 269. 29 E. Köckeis-Stangl, Methoden der Sozialisationsforschung, in: K. Hurrelmann/ D. Ulich (Hrsg.), Handbuch der Sozialisationsforschung, 1980, S. 363. 30 H. Kromrey, Empirische Sozialforschung, 12. Auflage, 2009, S. 300. 31 Ebenda, S. 301. 28

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

ihre stillschweigenden Annahmen über die Umwelt zum Ausdruck bringen. Diese Absichten, Einstellungen usw. sind dabei mitbestimmt durch das soziokulturelle System, dem die Sprecher und Schreiber angehören, und spiegeln deshalb nicht nur Persönlichkeitsmerkmale der Autoren, sondern auch Merkmale der sie umgebenden Gesellschaft wider – institutionalisierte Werte, Normen, sozial vermittelte Situationsdefinitionen usw. Die Analyse von sprachlichem Material erlaubt es aus diesem Grunde, Rückschlüsse auf die betreffenden individuellen und gesellschaftlichen, nichtsprachlichen Phänomene zu ziehen.32 Die Inhaltsanalyse kann sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht erfolgen. Bei einem quantitativen Verständnis von Inhaltsanalyse geht es um die „Klassifikation von symbolischem Material durch wissenschaftlich geschulte Beobachtung, die auf explizite Zuordnungs- und Verfahrensregeln gestützt, beurteilen soll, welche Teile des Textmaterials unter die Kategorien des Untersuchungsschemas fallen.“ 33 Aus einer solchen quantitativen Perspektive kann in der vorliegenden Untersuchung somit ermittelt werden, wie oft die Gerichte bei der Lösung der ihnen vorliegenden Probleme bestimmte Topoi berücksichtigt haben (Frequenzanalyse). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass je öfter bestimmte Topoi zur Anwendung kommen, ihnen eine desto größere Bedeutung in der Rechtsprechung zukommt. Weiterhin lässt sich aus dieser Perspektive erkennen, welchen Grad an Komplexität die Begründungen der Urteile aufweisen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass je mehr Topoi die Begründungen der Urteile aufweisen, diese umso komplexer sind. Eine quantitative Untersuchung kann auch zeigen, ob in der höchstrichterlichen Rechtsprechung beider Länder dieselben Topoi vorkommen oder ob bestimmte Topoi nur in einer der beiden Rechtsordnungen auftreten. Sollte sich herausstellen, dass ein Topos nur in einer Rechtsordnung auftritt, muss auf der Grundlage einer qualitativen Analyse geprüft werden, ob in der anderen Rechtsordnung dieses Argument eventuell unter einer anderen Bezeichnung Verwendung findet. Andere Aufgaben hat die Inhaltsanalyse im qualitativen Paradigma. Hier dient sie der Interpretation symbolisch-kommunikativ vermittelter Interaktionen in einem wissenschaftlichen Diskurs.34 In einer im strengeren Sinne interpretativen Sozialforschung ist die quantitative Inhaltsanalyse eine Strategie der Auswertung von zum Zweck der Analyse erstellter bzw. akzidenteller Dokumente ohne a priori formulierte theoretische Analysekriterien. Sie zielt darauf ab, den Inhalt selbst „sprechen zu lassen“ und aus ihm heraus die Analyse zu entfalten.35 Da im 32 R. Mayntz/R. Holm/P. Hübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, 5. Auflage, 1978, S. 151. 33 J. Ritsert, Inhaltsanalyse und Ideologiekritik, 1975, S. 17. 34 S. Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 5. Auflage, 2010, S. 435. 35 Ebenda, S. 462.

B. Methodische Vorüberlegungen

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Rahmen des qualitativen Paradigmas soziale Wirklichkeit kommunikativ-situativ hergestellt wird, muss auch die Inhaltsanalyse auf symbolisch-kommunikative Akte eingehen.

II. Rechtsvergleichende Methode Nach Zweigert und Kötz ist das methodische Grundprinzip der gesamten Rechtsvergleichung das Prinzip der Funktionalität.36 Aus diesem Prinzip sollen alle anderen Methodenlehrsätze – Auswahl des zu vergleichenden Rechts, Spannweite der Untersuchung, Systembildung etc. – abgeleitet werden.37 Danach liegt das Ziel der rechtsvergleichenden Arbeit vor allem darin herauszufinden, wie sich die betreffende Rechtsordnung mit einem bestimmten Problem, Interessenund/oder Prinzipienkonflikt umgeht.38 Es scheint so, als würde der funktionalistische Ansatz in der gegenwärtigen Rechtsvergleichung dominieren. Diese Methode kann sich auch für die vorliegende Untersuchung als nützlich erweisen. Insbesondere ist sie in der Lage zu zeigen, ob die dem Vergleich unterzogenen Rechtsordnungen bei ähnlichen Auslegungsproblemen zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Anhand von ausgewählten Begriffen (wie z. B. dem Begriff der „Waffe“) kann verglichen werden, wie die Rechtsprechung beider Länder diese Begriffe ausgelegt hat. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass sie in rechtsvergleichender Hinsicht den Aspekt beleuchten kann, wie die Praxis ein konkretes Auslegungsproblem gelöst hat. Man muss jedoch dabei beachten, dass der funktionalistische Ansatz auch seine Grenzen hat. Zwar kann er aufzeigen, ob ein Begriff ähnlich oder unterschiedlich in beiden Rechtsordnungen ausgelegt wird und wie die Gerichte zu einem bestimmten Auslegungsergebnis gekommen sind, aber er lässt die Frage unbeantwortet, welche Bedeutung die Gerichte bestimmten Argumenten, Auslegungskriterien, Topoi etc. beimessen. Dies festzustellen wäre nur dann möglich, wenn ein auslegungsbedürftiger Begriff in beiden Rechtsordnungen in dem gleichen „sprachlichen“, „systematischen“, „geschichtlichen“ und „teleologischen“ Umfeld vorkäme. Während die höchsten Gerichte beider Länder, wie noch gezeigt wird, sich jedoch bei der Auslegung von Gesetzen in verschiedenen Kontexten bewegen, müssten diese eigentlich gleich sein, um auf der Basis des funktionalistischen Ansatzes die Bedeutung der einzelnen Argumente zu ermitteln. Gleichheit des „Umfeldes“, in dem die jeweilige Auslegung stattfindet, kommt jedoch in der Realität nicht vor. Es reicht insofern an dieser Stelle aus, auf die ganz unterschiedliche geschichtliche Entwick36 K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Auflage, 1996, S. 33. 37 Ebenda. 38 Vgl. H. Jung, Grundfragen der Strafrechtsvergleichung, JuS 1/1998, S. 2 ff.; A. Eser, Funktionen, Methoden und Grenzen der Strafrechtsvergleichung, in: FS für Kaiser, Band 2, 1998, S. 1499 ff.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

lung des deutschen und des polnischen Rechtssystems hinzuweisen, um zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass dieses Element des „Umfelds“ in beiden Rechtssystemen durchaus sehr unterschiedlich ist. Auch andere Bezugspunkte können Probleme aufwerfen, wie z. B. die Sprache. Was im Polnischen eindeutig sein kann, muss es nicht unbedingt auch im Deutschen sein; und umgekehrt. Daraus geht hervor, dass der funktionalistische Ansatz bei der Analyse der Auslegungs- und Argumentationspraxis bei bestimmten Fragestellungen sogar unter Umständen untauglich sein kann.

III. Eigener Ansatz In der vorliegenden Untersuchung wird versucht, die Methodologie der Sozialforschung auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung nutzbar zu machen. Die Öffnung der Rechtsvergleichung in Richtung auf die Methodologie der Sozialforschung verspricht dabei viele Vorteile, insbesondere für diejenigen Untersuchungen, die sich auf die Erforschung der Rechtsanwendung konzentrieren. Nützlich kann sich dabei sowohl der quantitative als auch der qualitative Ansatz erweisen. Wie jedoch bereits gezeigt wurde, haben beide Ansätze ihre Vor- und Nachteile, die auch im Rahmen von rechtsvergleichenden Untersuchungen berücksichtigt werden müssen. Der Vorteil der qualitativen Sozialforschung liegt vor allem darin, dass sie den Akzent auf die Rekonstruktion der subjektiven Sichtweisen und der Deutungsmuster der sozialen Akteure legt.39 Es geht dabei weniger um Erklärung als um ein Verstehen, das sich im Sinne des „methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ definiert. Da gerade das Verstehen des Anderen im Mittelpunkt der qualitativen Sozialforschung steht, kann dieser Ansatz in Zeiten der engen Zusammenarbeit der Justizorgane der EU zur Lösung vieler Probleme beitragen, die gerade auch dadurch entstehen können, dass die Perspektive des ausländischen Partners unbekannt ist. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass die Missverständnisse, die in der internationalen Zusammenarbeit vorkommen, ihren Grund auch darin haben, dass die subjektiven Sichtweisen und die Deutungsmuster der kooperierenden Partner diesen wechselseitig unsichtbar bleiben. Was für den einen Partner wichtig ist, kann für den anderen Partner unwichtig sein und umgekehrt. Durch den qualitativen Ansatz lassen sich die Sichtweisen und die Deutungsmuster der auf der internationalen Ebene kooperierenden Akteure erforschen. Nach dem methodischen Grundprinzip der qualitativen Sozialforschung soll die Sichtweise des ausländischen Partners gleichwohl nicht aus einem objektiven Gesichtspunkt untersucht werden, sondern aus der Perspektive des handelnden Subjekts. Es geht dabei vor allem um das Verstehen seiner subjektiven Vorstellungen, 39 U. Flick/E. v. Kardorff/I. Steinke, Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick, in: U. Flick/E. v. Kardorff/I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung, 9. Auflage, 2012, S. 20.

C. Die Begriffe „Rechtskultur‘‘ und „Topos‘‘

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Interpretationen, Relevanzsysteme, Kategorien etc. Mit anderen Worten muss die Welt durch seine Augen gesehen werden. Damit kann sich die Rechtsvergleichung jedoch nicht begnügen. Sie muss diese „Welt“ in die Kategorien der anderen Rechtskultur „übertragen“, denn sie bilden den Rahmen, in dem die andere Rechtskultur überhaupt erst verstanden werden kann. Der Rechtsvergleicher wird somit in diesem Ansatz zu einem „Übersetzer“, der versucht, die Perspektive des Anderen in den Kategorien der eigenen Rechtskultur zugänglich zu machen. Dieser Ansatz kann selbstverständlich auch für die vergleichenden Untersuchungen zur Auslegungs- und Argumentationskultur nützlich sein. Er lässt vor allem die Perspektive der Interpreten aus den unterschiedlichen Rechtskulturen erkennen. Ihre Auslegungskategorien, Gesichtspunkte, Argumente und vor allem ihre Relevanzhorizonte können erforscht werden. Es liegt auf der Hand, dass der qualitative Ansatz auch auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung ähnlichen Gefahren ausgesetzt ist, wie sie auf dem Gebiet der Sozialforschung festgestellt wurden. Hier stellt sich insbesondere die Frage nach der Verallgemeinerungsfähigkeit der qualitativen Erkenntnisse und in diesem Zusammenhang scheint die Frage berechtigt, ob die qualitativen Aussagen wissenschaftlich nicht immer problematisch bleiben müssen.40 Sind die subjektiven Sichtweisen und die Deutungsmuster der untersuchten Subjekte überhaupt verallgemeinerungsfähig? Dieses Problem wird die vorliegende Untersuchung durch die Heranziehung einer relativ großen Stichprobe abzumildern versuchen.

C. Die Begriffe „Rechtskultur“ und „Topos“ Bevor die Forschungsfragen (siehe Pkt. D. I.) benannt werden, soll im Folgenden der theoretische Rahmen der Untersuchung skizziert werden. Da diese Untersuchung versucht, den qualitativen und den quantitativen Ansatz zu verbinden und die Stellung der Theorie in diesen beiden Paradigmen unterschiedlich ist, muss zunächst die Rolle der Theorie geklärt werden. Dabei muss zugleich das allgemeine Ziel der Untersuchung im Auge behalten werden. Es liegt – wie in der Einleitung im Pkt. B. gezeigt wurde – in der Erforschung der Auslegungsund der Argumentationskultur der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Strafsachen in Deutschland und in Polen, wie sie sich in den Sammlungen der betreffenden Entscheidungen darstellt. Diese Praxis wurde bisher grundsätzlich nur im Rahmen der jeweiligen Rechtskultur beschrieben (siehe Pkt. E. I. und II.) und demzufolge fehlt es an einer Theorie, die die deutsche und die polnische höchstrichterliche Auslegungs- und Argumentationspraxis rechtsvergleichend widerspiegelt. Daher muss zunächst diese Theorie entwickelt werden und dieser Aufgabe stellt sich das vorliegende Forschungsvorhaben. Es ist dabei weitgehend qualitativ orientiert, wobei auf quantitative Elemente allerdings nicht vollkom40

M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 8. Auflage, 2014, Rn. 53.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

men verzichtet werden soll. Die damit gestellte Aufgabe bedeutet jedoch nicht, dass theoretische Befunde vollkommen außer Acht gelassen werden sollen. Für die vorliegende Untersuchung sind sie aus drei Gründen wichtig. Zunächst können sie bei der Ausformulierung der Forschungsfragen helfen, wobei die Offenheit der Untersuchung für das empirische Material (vor allem für die Perspektiven der Interpreten) zu beachten ist. Zum anderen sind die theoretischen Befunde bei der Ordnung des empirischen Materials hilfreich. Schließlich werden sie bei der Interpretation der empirischen Befunde herangezogen. In diesem Sinne ist die vorliegende Untersuchung primär qualitativ orientiert.

I. Der Begriff „Rechtskultur“ Obwohl hinsichtlich des Begriffes „Rechtskultur“ 41 erhebliche terminologische Unklarheit in der Literatur herrscht, besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich zumindest im Hinblick auf die in einem Rechtssystem primär wirksame Art und Weise der juristischen Argumentation zwei grundlegende Vorstellungen unterscheiden lassen.42 Die eine, die die formalen Elemente in den Mittelpunkt stellt, wird als Kultur des Formalismus43 oder des Legalismus44 bezeichnet.45 Auf der anderen Seite stehen die wertbezogenen Rechtskulturen, die ein starkes Gewicht auf inhaltliche Elemente legen. Selbstverständlich lassen sich in dieser Hinsicht zudem unterschiedliche Facetten feststellen, die im Folgenden genannt werden. • Das Konzept von Vogenauer Nach Vogenauer sind für die formalistische Rechtskultur charakteristisch: – die Betonung der rechtsstaatlichen Prinzipien wie Rechtssicherheit und Normklarheit; – das Richterbild eines unparteiischen Anwenders eindeutiger Regeln; – Rechtsschöpfung bleibt dem demokratischen Gesetzgeber vorbehalten;

41 B. Valerius, Die Berücksichtigung kultureller Wertvorstellungen im Strafrecht, JA 7/2010, S. 481 ff. 42 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 223 m.w. N. 43 L. Enneccerus/H. K. Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, Halbband 1, 15. Auflage, 1957, S. 335; W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band 3, 1976, S. 312 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 24. 44 A. Aarnio, Reasoning Judicial Decisions, in: FS für Krawietz, 1993, S. 644; R. Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, Rechtstheorie 18 (1987), S. 405 f. 45 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 223 m.w. N.

C. Die Begriffe „Rechtskultur‘‘ und „Topos‘‘

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– das Recht soll von moralischen, sozialen und politischen Erwägungen getrennt werden; – im Bereich der Gesetzesauslegung sollen die grammatische und die systematische Interpretation den Vorrang haben.46 In den wertbezogenen Rechtskulturen spielen folgende Elemente eine primäre Rolle: – es wird starkes Gewicht auf moralische, soziale, ökonomische oder politische Erwägungen gelegt; – materielle Gerechtigkeit spielt eine besondere Rolle; – der nichtpositivistische Rechtsbegriff dominiert; – das Rechtssystem weist eine größere Zahl von Rechtsprinzipien auf, die gegeneinander abgewogen werden müssen; – für die klassische Subsumtion bleibt wenig Raum; – der Richter kann auch schöpferisch tätig werden; – in der Gesetzesauslegung haben grammatische und systematische Argumente nicht zwingend Vorrang vor inhaltlichen Erwägungen.47 Mit Recht betont Vogenauer, dass in der Praxis keine dieser beiden Konzeptionen in Reinform auftritt. In jedem Rechtssystem lassen sich sowohl formale als auch inhaltliche Elemente feststellen. Aus dem Verhältnis dieser Elemente zueinander ergibt sich jedoch, ob eine Rechtskultur stärker formalistisch oder eher wertbezogen geprägt ist. Vogenauer bezeichnet die deutsche Rechtsordnung als eine „gemäßigt wertbezogene“ Rechtskultur.48 Formale Elemente spielen zwar in der deutschen Rechtskultur eine erhebliche Rolle, ausschlaggebend sind aber eher die inhaltlichen Erwägungen.49 Die obige Unterscheidung korrespondiert in gewisser Hinsicht mit der Aufteilung, die in der Theorie der juristischen Argumentation erarbeitet wurde, in der zwischen Autoritätsargumenten auf der einen und Sachargumenten auf der anderen Seite unterschieden wird.50 Typische Autoritätsargumente sind etwa die Berufung auf den Willen des Gesetzgebers, der Verweis auf die herrschende Meinung und das Argument des Wortlauts; typische Sachargumente sind die Gerechtigkeit einer Regel, ihre Vernünftigkeit und die positiven Folgen ihrer Anwendung.51 46

Ebenda, S. 223 f. Ebenda. 48 Ebenda, S. 224. 49 Ebenda. 50 U. Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, in: Arthur Kaufmann/ W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage, 2011, S. 337 f. 51 Ebenda, S. 338. 47

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

• Das Konzept von Matczak Auch in der polnischen Literatur ist die Aufteilung der Rechtskulturen in formalistische und sachbezogene bekannt. Vor allem die Untersuchungen von Matczak verdienen in diesem Zusammenhang besondere Beachtung, weil sie sich mit der Problematik des Formalismus sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene ausführlich auseinandersetzten.52 Dabei ist zu betonen, dass diese Untersuchungen den Formalismus eher kritisch einschätzen. Nach einer Unterscheidung zwischen „altem“ und „neuem“ Formalismus,53 stellt Matczak folgende Merkmale fest, die das Phänomen des Formalismus charakterisieren: – die Auslegung hat einen logisch-technischen Charakter; sie stützt sich auf den Übergang von Prämissen zu Schlussfolgerungen, wobei Werturteile keine Rolle spielen können; – man postuliert zumindest eine der folgenden Formen des Reduktionismus bei der Rechtsanwendung, und zwar einen Reduktionismus des Standards54, einen Reduktionismus der Auslegungskriterien55 oder einen Reduktionismus der Aktualität des Gesetzestextes56; – man geht davon aus, dass der angenommene Reduktionismus und die Anwendung des (juristischen) Syllogismus den Auslegungsspielraum einschränken.57 Matczak hat dementsprechend in seiner empirischen Untersuchung, die er in Zusammenarbeit mit Galligan durchgeführt hat,58 eine Typologie von Argumenten entwickelt, die die formalistische Rechtsprechung kennzeichnen.59 • Das Konzept von Atiyah und Summers Der Begriff „Formalismus“ wird auch in der angelsächsischen Literatur verwendet. Sowohl die bereits dargestellte Systematik von Vogenauer als auch die 52

M. Matczak, Summa Iniuria, 2007. Ebenda, S. 53 ff. 54 Unter dem Begriff „Reduzierung des Standards“ versteht Matczak das Postulat, dass die Auslegung sich auf klar bestimmte Regeln stützen soll und nicht auf allgemeine Standards (Rechtsprinzipien). Ebenda, S. 67 m.w. N. 55 Darunter versteht man die Forderung nach der Einschränkung der Auslegung auf ein Auslegungskriterium, insbesondere auf die grammatische Auslegungsmethode, ohne Berücksichtigung der weiteren Auslegungsmethoden. Ebenda. 56 Dieser Reduktionismus bedeutet die Einschränkung der Zeitpunkte, in denen die Bedeutung eines Gesetzestextes festgestellt werden soll. Damit wird auch geleugnet, dass die Bedeutung eines Gesetzestextes sich mit dem Lauf der Zeit ändern kann. Ebenda, S. 68. 57 Ebenda, S. 70. 58 D. Galligan/M. Matczak, Strategies of Judicial Review, 2005. 59 Siehe dazu Pkt. E. II., wo auch die Ergebnisse dieser Untersuchung dargestellt werden. 53

C. Die Begriffe „Rechtskultur‘‘ und „Topos‘‘

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Systematik von Matczak basieren grundsätzlich auf der Literatur aus diesem Kulturkreis. In diesem Zusammenhang muss die grundlegende Arbeit von Atiyah und Summers erwähnt werden, die in ihrer umfangeichen rechtsvergleichenden Untersuchung zu der Problematik des Formalismus und des Substantialismus im angelsächsischen Recht eine erhebliche Anzahl an Unterschieden zwischen England und den USA in dieser Hinsicht festgestellt haben. Die Untersuchung von Atiyah und Summers beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Problematik der Auslegung von Gesetzen, sondern sie erfasst auch andere Bereiche wie z. B. die Ausbildung der Juristen, die Exekutive, die Rolle der Professoren etc. Die Verfasser wollen mit dieser Vorgehensweise möglichst viele Aspekte beider Rechtskulturen erfassen, um ein komplexes Bild skizzieren zu können. Es würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung überschreiten, sollten alle Ergebnisse dieses Forschungsprojekts vorgestellt werden. Daher ist eine Einschränkung notwendig, die ihre Grenzen in der in der vorliegenden Untersuchung angesprochenen Problematik findet. Die Anwendung der jeweiligen Auslegungsmethoden betrachten die Verfasser dabei als zentrale Eigenschaft einer Rechtskultur. Dazu Atiyah und Summers: „Few matters affect the style of legal system in a modern state more than the methods used to interpret statutes. (. . .), it is possible to discern two extreme polarities relating to statutory interpretation. At one polarity, the statutory wording is treated as having a single ,plain‘ or ,true meaning‘, which is to be ascertained by literal methods of construction without regard to the intention of the lawgiver (save insofar as they appear from the text itself) or to the result, the underlying rationale of the statute, or other substantive considerations which may seem relevant to the statutory scheme. Statutory reasoning in such a system has what we call high interpretative formality. At the other polarity, the statutory wording is treated as of relatively little importance in itself, the statute being treated largely as an authoritative source of certain purposes or rationales, or as a mere vehicle for the implementation of certain substantive policies which become even more important than the words. Here courts range freely and widely outside the wording to determine relevant purposes and rationales. Statutes are therefore interpreted in a much more substantive fashion, and the reasoning they generate has relatively low interpretative formality. Between these two polarities there are numerous variations, and of course the two approaches may sometimes merge to some extent, as in a case in which substantive purposes are entirely evident from the statute’s own plain meaning, and are invoked to cast light on the rest of the statute.“ 60

Aus diesem Zitat geht deutlich hervor, dass das Wortlautkriterium in der formalistischen Rechtskultur eine entscheidende Rolle spielt, was auch mit den bereits dargestellten Konzepten von Vogenauer und Matczak übereinstimmt. Demgegenüber wird in der substanziellen Rechtskultur dem Ziel einer Regelung oder der Rationalität einer Entscheidung der Vorrang eingeräumt. 60 P. S. Atiyah/R. S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 100.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Diese Unterschiede lassen sich auch im Hinblick auf die Geltung des Rechts feststellen. „In a formal vision, virtually all standards for the identification of valid law are conceived of as source-oriented, so that the substantive content of the law is thought to be almost entirely irrelevant to its validity. This conception may come to be so strongly held that it dominates understanding of the very nature of law, an understanding in which law is the formal act (enactment) of an authority on high. In a substantive vision, on the other hand, people think of the legal system as recognizing, in addition to source-oriented standards of validity, many content-oriented standards, requiring, in effect, that for law to be valid, it must also conform in some degree to common notions of what is substantively right, just, or good. Moreover, it is thought incumbent on the judges to recognize general moral principles that ,float‘ throughout the legal system, and which can be invoked as substantive reason, along with standards of validity and the law so identified, to influence the outcome of many particular cases.“ 61

Auch im Falle des Konflikts zwischen den verschiedenen Rechtsquellen kommt ein unterschiedlicher Ansatz in den beiden Rechtskulturen zum Ausdruck: „In a formal vision, conflicts between otherwise valid laws are thought to be resolved by reference to rules of hierarchical priority that leave little scope for the play of substantive considerations. In a substantive vision, such conflicts are expected to be resolved by a process of analysis that takes account not only of rules of hierarchical priority, but, in addition, of moral, policy-oriented, and other substantive considerations – which may or may not be very closely implicated in the rules of priority themselves.“ 62

Weiterhin unterscheiden sich die beiden Rechtskulturen nach der Auffassung von Atiyah und Summers bei der Erfassung des Rechts: „In a formal vision, the forms of law are very largely conceived of as determinate hard and fast mandatory rules, with a consequent high order of over-inclusion and under-inclusion. In a more substantive vision, the forms of valid law are believed to consist primarily of flexible legal rules granting discretion or incorporating general clauses and the like, or as broad legal principles, and thus as forms of law inviting major infusions of moral, policy-oriented, or other substantive reasoning at the point of application.“ 63

Auch werden in beiden Rechtskulturen unterschiedliche Erwartungen an den Gesetzgeber gerichtet: „In a formal vision, legislatures are assumed to enact precise, clear, and comprehensive statutory rules, and it is believed that most law consists of statute law. In more substantive vision, legislatures are thought to adopt very broad statutes which confer

61 62 63

Ebenda, S. 412 f. Ebenda, S. 413. Ebenda.

C. Die Begriffe „Rechtskultur‘‘ und „Topos‘‘

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upon courts power to develop the law in particular cases, in light of the substantive considerations arising in the circumstances.“ 64

Ferner weisen beide Autoren darauf hin, dass sich die Aufgaben der Gerichte in beiden Rechtskulturen voneinander deutlich unterscheiden. Während die formalistisch orientierten Gerichte vor allem ihre Aufgabe in der Auslegung von Gesetzen sehen, beziehen sich die substanziell orientierten Gerichte in ihren Entscheidungen auch auf substanzielle Gesichtspunkte: „In a formal vision, the function of the courts in dealing with statute law is seen as one of interpreting and applying statutory law relatively literally, and with little scope for expanding or developing principles of law out of the raw material supplied by the statutes.“ 65 „In a formal vision, courts are expected to interpret precedents strictly, and largely without reference to underlying moral, policy-oriented, or other substantive reasons. In a more substantive vision, courts are expected to interpret a precedent not strictly, but liberally, in light of the facts and the substantive reasons on which the precedent is based.“ 66

Die Unterschiede lassen sich auch in der Bindungswirkung von vorherigen Entscheidungen feststellen: „In a formal vision, the precedents of higher courts are believed to create ,binding‘ law, binding even on those courts. In a more substantive vision, precedents of courts are understood merely as prima-facie guides to the law, and are expected to be disregarded or overruled if they seem wrong or unjust or bad or obsolete.“ 67

Ein weiterer Unterschied liegt in der Rechtsanwendung: „In a formal vision, the almost exclusive task of the court is conceived to be that of applying pre-existing statutory, judge-made, and other valid law to resolve particular disputes, a task which is to be carried out even in the face of competing substantive considerations arising in the circumstances, and which outweigh the substantive considerations embodied in the formal law. The function of the appeal courts is perceived as that of merely correcting errors in the ruling of lower courts. In a more substantive vision, the primary task of the highest courts, and a major task of other appellate courts, is to examine and improve upon the substantive quality of the law involved in the appeal.“ 68

Atiyah und Summers weisen weiterhin darauf hin, dass in beiden Rechtskulturen verschiedene Erwartungen an die Gerichte in Hinblick auf die Rechtsschöpfung gestellt werden. „In a formal vision, it is expected that the courts will rarely make new law or reform old law, and thus seldom directly invoke substantive considerations; instead they will 64 65 66 67 68

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 414. Ebenda.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen leave the making of new law to the legislature. In a more substantive vision, the courts make new law when needed, and readily reform existing law. They defer to the legislature only when the proposed reform is beyond the implementive powers of courts.“ 69

Formalistische und substanzielle Rechtskulturen gestatten den Gerichten auch in einem unterschiedlichen Ausmaß von dem Gesetz abzuweichen. „In a formal vision, when factual disputes arise and the courts are called upon to resolve them, it is taken for granted that generally they will correctly ascertain the true facts and then apply the formal law, with the result that the law in books will translate into effective action. In a more substantive vision, it is assumed that the legal system allows courts in effect to evade the formal application of the law where it is believed that its application to the true facts would produce bad or unjust results, so that law in action frequently diverges from law in books.“ 70

Schließlich wird in beiden Rechtskulturen solchen Werten, wie z. B. der Rechtssicherheit und der Voraussehbarkeit des Rechts, unterschiedliche Bedeutung beigemessen. „In a formal vision, ,rule of law‘ values are stressed and highly respected, for example, the reduction of law to prospective general rules, clarity, certainty, predictability, equality before the law, and provision of a fair opportunity to obey. These values not only inform the content of many forms of law, but also generate ,floating‘ reasons of great weight which judges and officials invoke to justify their actions as necessary. In a more substantive vision, it is acknowledged that there will often have to be sacrifices of these ,rule of law‘ values in the pursuit of justice in the individual case.“ 71

Aus dieser Zusammenstellung geht deutlich hervor, dass und wie sich die beiden Rechtskulturen erheblich voneinander unterscheiden.

II. Eigene Definition des Begriffes „Rechtskultur“ Angesichts der Vielfalt der Konzepte, die das Phänomen des Formalismus und der Wertbezogenheit (Sachbezogenheit) der Rechtskulturen rekonstruieren, soll im Folgenden ein Konzept für die vorliegende Untersuchung entwickelt werden, das die oben dargestellten Überlegungen zusammenfasst. Es scheint so zu sein, dass für eine formalistische Rechtsprechung folgende Merkmale ihres Vorgehens charakteristisch sind: – Der grammatischen und der systematischen Auslegungsmethode wird große Bedeutung beigemessen. – Logische Folgerungen sowie Prioritätsregeln (Konkurrenz) spielen eine erhebliche Rolle. 69 70 71

Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 415.

C. Die Begriffe „Rechtskultur‘‘ und „Topos‘‘

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– Die Entscheidungsgrundlage wird aus dem Gesetz abgeleitet; die allgemeinen Rechtsprinzipien sowie verfassungsrechtlichen Regelungen spielen nur eine unterstützende Rolle. In diesem Sinne kann man von einem dominierenden positivistischen Rechtsbegriff sprechen. – Es wird oft auf Autoritätsargumente (frühere Rechtsprechung und Fachliteratur) Bezug genommen. – Die Rechtsschöpfung wird weitgehend dem Gesetzgeber überlassen. Die wertorientierte (substanzielle) Rechtsprechung legt ihre Schwerpunkte auf andere Elemente: – Die teleologische und die verfassungskonforme Auslegung spielen neben der grammatischen und der systematischen Auslegung eine erhebliche Rolle. – Es wird auch an die historische Auslegung angeknüpft, um die Intention des Gesetzgebers zu ermitteln. – Logische Schlussfolgerungen spielen eine geringe Rolle. – Die Entscheidungsgrundlage kann auch ohne Bezug auf das Gesetz unmittelbar aus allgemeinen oder verfassungsrechtlichen Grundsätzen abgeleitet werden. In diesem Sinne kann von einem nichtpositivistischen Rechtsbegriff gesprochen werden. – Es wird auch eine Abwägung zwischen Rechtsprinzipien vorgenommen. – Außergesetzliche Argumente spielen eine erhebliche Rolle bei der Auslegung und der Argumentation. Dabei ist zu beachten, dass jedes der erwähnten Elemente in der jeweiligen Rechtskultur mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Anwendung kommen muss, um die gesamte Rechtskultur des betreffenden Landes prägen zu können.

III. Der Begriff „Topos“ Ein weiterer Begriff mit Bedeutung für die vorliegende Untersuchung ist der Begriff des Topos. Er wird in diese Untersuchung eingeführt, weil er im Vergleich zu dem Begriff des Arguments72 enger ist und sich im Hinblick auf die sich stellenden Fragen für die vorliegende Untersuchung besser eignet. Der Begriff des Topos lässt sich jedoch nicht ohne Schwierigkeiten definieren, da er im Laufe der Zeit sowohl in der Philosophie als auch in der Rechtswissenschaft facettenreiche Bedeutungen gehabt hat.73 Üblicherweise wird die Topik als die 72 Zu dem Begriff des Arguments siehe: K. Szymanek, Sztuka argumentacji, 2001, S. 37 ff.; W. Gast, Juristische Rhetorik, 4. Auflage, 2006, Rn. 292; U. Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, in: W. Brugger/U. Neumann/S. Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 235 ff. 73 Dazu ausführlich: Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 14 ff.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Lehre von den „Orten“ oder den „Gemeinplätzen“ bezeichnet. Nach einem in Lexika dokumentierten Sprachgebrauch bezeichnet die Topik die von der griechischen und römischen Rhetorik gepflegte systematische Darstellung allgemein anerkannter Begriffe und Sätze, die beim Ausarbeiten von Reden zum Auffinden und zur Wahl von geeigneten Schlüssen und Argumenten dienen sollten.74 Nach Struck bemerkt man in der juristischen Literatur ein (scheinbares) Schwanken zwischen der Bedeutung „Gesichtspunkt“ und der Bedeutung „Standardargument“.75 Nach Viehweg, der das topische Denken mit seinem mehrfach aufgelegten Werk „Topik und Jurisprudenz“ (1. Auflage 1953) in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur belebt hat, sind Topoi „vielseitig verwendbare, überall annehmbare Gesichtspunkte, die im Für und Wider des Meinungsmäßigen gebraucht werden und zum Wahren hinführen können.“ 76 Im Anschluss an Aristoteles und Cicero bestimmt Viehweg die Topik als ein „besonderes Verfahren der Problemerörterung“, das durch die Verwendung gewisser, als feststehend angenommener allgemeiner Gesichtspunkte, Fragestellungen und Argumente, eben der „Topoi“, gekennzeichnet ist.77 Fischer versteht in seiner Untersuchung zu den Topoi der verdeckten Rechtsfortbildung unter diesem Begriff eine leerformelhafte Begründung und damit das jeweilige Argument, aber auch Überleitungsbegriffe, die erst den Zugang zu Bündeln von Einzelgesichtspunkten eröffnen, die als mögliche Begründung in Betracht kommen, also letztlich Suchformeln für Argumente sind.78 Stelmach und Broz˙ek betrachten als juristische Topik jedes Argument oder jeden Rechtsgrundsatz, die allgemein bekannt und akzeptiert und in der juristischen Tradition legitimiert sind.79 Aus dieser Zusammenstellung der Definitionen wird deutlich, dass ein allgemein geltender Begriff des Topos nicht existiert. In der Literatur beider Länder wurden jedoch Versuche unternommen, bestimmte Topoikataloge zusammenzustellen. Da auch in der vorliegenden Untersuchung ein Topoikatalog eine Rolle spielen wird, sollen die in der Literatur beider Länder herausgearbeiteten Kataloge möglichst ausführlich dargestellt werden, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen und dem in dieser Untersuchung verwendeten Katalog aufzuzeigen. Als Beispiele mögen die Topoikataloge von Struck, Stelmach/Broz˙ek und Fischer dienen.

74 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Auflage, 1978, Stichwort Topik; Brockhaus, 21. Auflage, Band 27, 2006, Stichwort Topik. 75 G. Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, S. 14. 76 Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Auflage, 1974 S. 24. 77 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 145. 78 Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 33. 79 J. Stelmach/B. Brozek, Metody prawnicze, 2. Auflage, 2006, S. 211. ˙

C. Die Begriffe „Rechtskultur‘‘ und „Topos‘‘

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1. Topoikatalog von Struck Struck hat den juristischen Topoi ein ganzes Werk80 gewidmet. In einem umfassenden Katalog fasst er folgende Topoi zusammen. – Lex posterior derogat legi priori. – Lex specialis derogat legi generali. – Ausnahmen müssen eng ausgelegt werden. – Res iudicata pro veritate accipitur. – De minimis non curat praetor. – Ne ultra petita. – Et audiatur altera pars. – Das Verbot des Richtens in eigener Sache. – In dubio pro reo. – Einmal ist keinmal. – Der immer mögliche und meist vorhandene Zweifel darf nicht ausschlaggebend sein; es muss genügen, wenn die richterliche Überzeugung zu einem für die Erfordernisse des praktischen Lebens ausreichenden Grad von Gewissheit . . . gelangt81. – Das Gebot, ohne rechtlichen Grund Erlangtes zurückzuerstatten. – Kompensation. – Im Zweifel zu gleichen Teilen. – Auf derselben Stufe steht das Losen als letzter Ausweg bei einer Teilung. – Nemo plus iuris transferre potest quam ipso haberet. – Das Verbot des Vertrages zu Lasten Dritten. – Wer begünstigt, benachteiligt auch. – Casum sentit dominus. – Veranlassungsprinzip. – Priorität. – Gleichheit. – Wer Schuld hat, muss für die Folgen einstehen. – Der Rechtsgedanke des § 254 BGB. – Schweigen verpflichtet zu nichts. – Privatautonomie. 80

G. Struck, Topische Jurisprudenz, 1971. Verweis auf den Leitsatz des Urteils des OLG Köln vom 9.11.1967, 10 U 93/67, NJW 5/1968, 202. 81

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

– Quisquis praesumitur bonus. – Venire contra factum proprium. – Jura scripta vigilanti bus. – Auch wer nicht will, will. – Der Rechtsgedanke des § 162 BGB. – Recht braucht Sanktionen. – Schikane ist verboten. – Sachwidrigkeit eines Kampfmittels. – Kein Gleichberechtigter darf einen anderen Gleichberechtigten endgültig ausschalten. – Standards. – Verkehrsschutz. – Favor legitimitatis. – Vertrauen verdient Schutz. – Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. – Angemessenheit. – Verhältnismäßigkeit. – Das Gebot des schonendsten Mittels. – Das Notwendige ist erlaubt. – Opportunes Handeln ist erlaubt. – Ausnahmen sind bei besonderen Härten erlaubt. – Rechtlich relevant ist nur Bestimmtes. – Praktikabilität. – Pauschalierung. – Tatsächliche Unmöglichkeit. – Willkür ist verboten. – Verwirkung. – Unzumutbares darf nicht verlangt werden. – Unerträgliches ist nicht rechtens. – Es dürfen nicht uferlose Ansprüche entstehen. – Missbrauchsgefahr. – Zweck. – Interesse. – Öffentliches Interesse. – Sozialer Schutz.

C. Die Begriffe „Rechtskultur‘‘ und „Topos‘‘

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– Volkswirtschaftliches Interesse. – Ordnungsprinzip. – Rechtssicherheit. – Bei Evidenz kann das Verfahren abgekürzt werden82. 2. Topoikatalog von Stelmach und Broz˙ek Stelmach und Broz˙ek haben im Gegensatz zu Struck eine differenziertere Systematik von Topoi herausgearbeitet. Zunächst unterscheiden sie zwischen den Argumenten und den Rechtsgrundsätzen. Im Anschluss an Perelman83 zählen sie die sechzehn wichtigsten Argumente auf: – Argumentum a simili. – Argumentum a contrario. – Argumentum a fortiori. – Argumentum ab exemplo. – Argument durch mittelbaren Beweis. – Argumentum a rarum natura. – Argumentum a loco communi. – Argumentum a loco specifici. – Argumentum a cohaerentia. – Argumentum a completudine. – Systematisches Argument. – Teleologisches Argument. – Psychologisches Argument. – Soziologisches Argument. – Historisches Argument. – Ökonomisches Argument.84 Die zweite Gruppe der juristischen Topik bilden die Rechtsgrundsätze, die nach Stelmach und Broz˙ek in allgemeine Grundsätze, Interpretationsgrundsätze und spezielle Grundsätze aufgeteilt werden können. Allgemeine Rechtsgrundsätze sind im Gegensatz zu speziellen Grundsätzen nicht mit bestimmten Rechtsgebieten verbunden.85 Die Interpretationsgrundsätze dienen vor allem der Aus-

82 83 84 85

G. Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, S. 20 ff. Ch. Perelman, Logika prawnicza, 1984, S. 90 ff. J. Stelmach/B. Broz˙ek, Metody prawnicze, 2. Auflage, 2006, S. 212 ff. Ebenda, S. 217 ff.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

legung. Nachfolgend wird die Systematik von Stelmach und Broz˙ek wiedergegeben. Allgemeine Grundsätze – Pacta sunt servanda. – Lex neminem cogit impossibilia. – Die Ausnahmen müssen eng ausgelegt werden und sind nur in besonderen Fällen zulässig. – Nemo iudex indoneus in propria causa. – Res iudicata pro veritate accipitur. – Audiatur et altera pars. – Nemini permittitur venire contra factum proprium. – Das Verfahren kann in offensichtlichen Fällen abgekürzt werden.86 Interpretationsgrundsätze – Clara non sunt interpretanda. – Lex retro non agit. – Ignorantia iuris nocet. – Lex non obligat nisi promulgate. – Lex superior derogat legi inferiori. – Lex posterior derogat legi priori. – Lex specialis derogat legi generali. – Lex posterior generalis non derogat legi priori speciali.87 Spezielle Grundsätze Nur im Zivilrecht: – Vertrauen verdient Schutz. – Impossibilium nulla obligatio est. – Verbot der Verträge zu Lasten Dritter. – Ne ultra petita. – Schaden muss wiedergutgemacht werden.

86 87

Ebenda. Ebenda, S. 218 f.

D. Forschungsfragen und Schwierigkeiten der Untersuchung

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– Was ohne Rechtsgrundlage erlangt wurde, muss zurückgegeben werden. – Nemo plus iuris ad alium transferre potest, quam ipse habet. Im Zivilrecht und im Strafrecht: – Quisquis praesumitur bonus. – In dubio pro reo oder in dubio pro libertate. Nur im Strafrecht: – Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. – Willkür ist verboten. – Nullum crimen, nulla poena sine lege poenali anteriori.88

IV. Eigene Definition des Begriffes „Topos“ In der vorliegenden Untersuchung wird unter dem Begriff des „Topos“ jedes Standardargument verstanden, das in dem jeweiligen (deutschen oder polnischen) Rechtsdiskurs (bzw. der jeweiligen Rechtstradition) als anerkannte Argumentationsfigur auftritt. Diese Definition nähert sich dem Verständnis, das auch neueren deutschen rechtswissenschaftlichen Untersuchungen zugrunde liegt.89 Sie wird jedoch enger gefasst als der Begriff des Arguments, der jede Aussage für oder gegen eine bestimmte These erfasst. Der Begriff des Topos unterscheidet sich in der vorliegenden Untersuchung von dem Begriff des Arguments dadurch, dass er typische juristische Argumentationsfiguren erfasst, die in der Literatur, Rechtstheorie, Dogmatik und Rechtsprechung des jeweiligen Landes ihren festen Platz haben. Daraus folgt, dass der Begriff des Arguments den Begriff des Topos umfasst.

D. Forschungsfragen und Schwierigkeiten der Untersuchung I. Forschungsfragen Nachdem die methodischen und theoretischen Rahmenbedingungen der Untersuchung präzisiert wurden, sollen nun die eigentlichen Forschungsfragen formuliert werden. Die Fragestellung gehört zu den entscheidenden Faktoren für Erfolg oder Scheitern einer qualitativen Untersuchung.90 Einerseits sollen sie klar und 88

Ebenda, S. 219 f. Über den Wandel des Toposbegriffs siehe: Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, 2007, S. 31. 90 U. Flick, Design und Prozess qualitativer Forschung, in: U. Flick/E. v. Kardorff/ I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung, 9. Auflage, 2012, S. 258. 89

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

möglichst früh formuliert werden, andererseits können sie im Laufe des Projekts immer wieder konkretisiert, fokussiert, weiter eingegrenzt und revidiert werden.91 Auch im Verlauf der Ausarbeitung der vorliegenden Untersuchung wurde die Fragestellung mehrmals verändert. Im Ergebnis wird das vorliegende Forschungsvorhaben vor dem Hintergrund der oben definierten Begriffe der Rechtskultur und des Topos darin bestehen, auf die folgende Hauptfrage Antworten zu skizzieren: Welche Auslegungs- und Argumentationskultur (formalistischer oder wertorientierter bzw. sachbezogener Art) prägt die höchstrichterliche Rechtsprechung der beiden Länder in den veröffentlichten Sammlungen? Um diese Hauptfrage zu beantworten, sollen die folgenden Nebenfragen gestellt und beantwortet werden: • Welche rechtlichen Topoi verwendet die höchstrichterliche Rechtsprechung in beiden Ländern bei der Auslegung von Gesetzen und wie oft verwendet sie diese Topoi? • Welche Bedeutung verleihen die Richter den einzelnen Topoi? • Sind beide Gerichte in gleichem Maße rechtsschöpferisch tätig? Falls sich beachtliche Unterschiede zwischen der Praxis beider Gerichte hinsichtlich der gestellten Fragen zeigen sollten, wird auf folgende Frage eingegangen: • Wie können sich die festgestellten Unterschiede auf die in der Einleitung (Pkt. A.) genannten Tendenzen der Europäisierung der Strafrechtssysteme beider Länder auswirken?

II. Schwierigkeiten der Untersuchung Wie bereits erläutert wurde, soll die vorliegende Untersuchung in ihrem empirischen Teil die in den amtlichen Sammlungen veröffentlichten Entscheidungen vergleichend analysieren. Dies stellt eine erhebliche Herausforderung dar und steht mit einer ganzen Reihe von Problemen in Zusammenhang, die vor und im Verlauf der Untersuchung festgestellt wurden. Sie seien im Folgenden benannt. • Strafsenate des BGH und die Abteilungen des OG (Wydziały Sa˛du Najwyz˙szego) Bei einer empirischen Untersuchung, die sich auf die strafrechtliche Rechtsprechung der höchsten Gerichte in Deutschland und Polen konzentriert, darf 91

Ebenda, m.w. N.

D. Forschungsfragen und Schwierigkeiten der Untersuchung

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nicht außer Acht gelassen werden, dass der BGH aus fünf Strafsenaten92 besteht und der Strafsenat des OG sich aus sechs Abteilungen93 zusammensetzt, die sich untereinander nicht nur in den konkreten Rechtsansichten unterscheiden,94 sondern auch in ihren methodischen Präferenzen divergieren können.95 Inwieweit diese Unterschiede in der Praxis beider Gerichte tatsächlich vorkommen, kann in dem vorliegenden Forschungsprojekt jedoch nicht näher erörtert werden,96 da ihm eine andere Aufgabenstellung zugrunde liegt. Wie bereits ausgeführt wurde, soll im Rahmen des vorliegenden Forschungsvorhabens auf die Frage eingegangen werden, welche Auslegungs- und Argumentationskultur die höchstrichterliche Rechtsprechung der beiden Länder in den veröffentlichten Sammlungen prägt. Die Fragestellung bewegt sich somit auf einer internationalen Ebene, die es nicht zulässt, alle Subtilitäten der jeweiligen Rechtsordnung zu berücksichtigen. Bei der rechtsvergleichenden Perspektive muss in Kauf genommen werden, dass bestimmte Details der in der Untersuchung herangezogenen Rechtsordnungen ausgeblendet bzw. grob behandelt werden müssen, um zu rechtsvergleichenden Ergebnissen zu gelangen. Diese unvermeidbaren Verallgemeinerungen (Vereinfachungen) müssen jedoch in der vorliegenden Untersuchung nicht dazu führen, dass jede Differenz zwischen den Strafsenaten des BGH bzw. zwischen den Abteilungen des Strafsenats des OG im Hinblick auf die methodischen Präferenzen unberücksichtigt bleibt. Auch darf der Umstand nicht völlig außer Acht gelassen werden, ob eine Entscheidung von einem Strafsenat oder vom Großen Senat des BGH für Strafsachen getroffen wurde, da beide Spruchkörper unterschiedliche Aufgaben und Kompetenzen haben. Bei völliger Ignorierung dieser Tatsache würde bei der Interpretation der betreffenden Entscheidungen eine Verzerrung der Ergebnisse drohen. Dasselbe betrifft die strafrechtliche Praxis des OG: So hat der Spruchkörper, der über die Begründetheit einer Kassation entscheidet, andere Aufgaben als die erweiterte Besetzung des Gerichts (sieben Richter), die auf der Grundlage des Art. 60 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht über die Differenzen in der Auslegung entscheidet (zu der abstrakten Rechtsfrage siehe im Anhang B Pkt. 2.). Diese Umstände bedürfen in der Untersuchung einer besonderen Hervorhebung und müssen möglichst weitgehend bei der Interpretation der Entscheidungen berücksichtigt werden.

92

Zu der Organisation des BGH siehe im Anhang A Pkt. 1. Zu der Organisation des OG siehe im Anhang A Pkt. 2. 94 Beispielhaft zur überlangen Verfahrensdauer siehe U. Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, 1991, S. 21 ff. 95 Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die Besetzung der einzelnen Strafsenate des BGH und der einzelnen Abteilungen des Strafsenats des OG nicht konstant bleibt, so dass sich die methodische Linie innerhalb eines Strafsenats des BGH und innerhalb einer Abteilung des Strafsenats des OG durchaus ändern kann. 96 Diese Frage ist sicherlich einer gesonderten Untersuchung wert. 93

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

• Dynamik der Auslegungs- und Argumentationspraxis Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei dem Kanon der Argumente (Topoi) um ein dynamisches Phänomen handelt, das sich im Laufe der Jahre ständig ändert. Daher kann man nicht davon ausgehen, dass ein Modell der Argumentation in einer Rechtskultur auf Dauer konstant bleibt, weshalb ein Vergleich deutlich erschwert wird. Diese Dynamik lässt sich sehr gut anhand der deutschen Rechtsprechung zeigen. So wurde in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg das Wortlautargument besonders stark betont.97 Aber schon in der Zeit der Weimarer Republik nahm das Gewicht teleologischer Argumente und außergesetzlicher Wertungsmaßstäbe stetig zu.98 Die Bedeutung des Gesetzestextes stieg in den ersten fünf Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder an.99 Von nun an nahm das Gewicht des grammatischen Kriteriums unaufhörlich ab, was seinen vorläufigen Höhepunkt in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts jedenfalls für das Zivilrecht mit dem Soraya-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts erreichte.100 Seitdem scheint das grammatische Kriterium wieder stärker an Gewicht zu gewinnen.101 Dieses Phänomen zwingt grundsätzlich zu einer Untersuchung nur der neuesten Rechtsprechung, denn nur diese Vorgehensweise garantiert, dass die gegenwärtige Praxis der höchsten Gerichte erfasst wird. In die vorliegende Untersuchung wurden daher fast ausschließlich die neuesten Entscheidungen des BGH und des OG herangezogen, die am Beginn der Untersuchung in den Sammlungen veröffentlicht wurden. Inzwischen wurden weitere Entscheidungen in den Sammlungen beider Gerichte publiziert. Sie konnten jedoch in der vorliegenden Untersuchung schon deshalb keine Berücksichtigung finden, weil sonst das Material ständig hätte aktualisiert werden müssen, was eine Durchführung der quantitativen und der qualitativen Analysen ausschließen würde. • Auslegungsmethoden als Domäne der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung Weiterhin gilt es zu beachten, dass weder das deutsche noch das polnische Strafrecht gesetzliche Normen enthalten, die bestimmte Auslegungsmethoden 97 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 154. 98 Ebenda, S. 154 f. 99 G. Less, Von Wesen und Wert des Richterrechts, 1954, S. 50 ff. m.w. N.; G. Reinicke/D. Reinicke, Die Bedeutung des Wortlauts bei der Auslegung von Gesetzen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, NJW 27/1952, S. 1033 ff.; S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, S. 155. 100 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 155. 101 Ebenda, S. 29.

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vorschreiben, um das Auslegungsziel zu erreichen. In Deutschland hat das BVerfG sogar ausdrücklich festgestellt, dass die Verfassung keine bestimmte Auslegungsmethode vorschreibt.102 Natürlich bedeutet das nicht, dass das in beiden Ländern weitgehend anerkannte Gesetzlichkeitsprinzip nicht die grammatischen Argumente bevorzugen würde. Besondere Grundsätze gelten zudem auf dem Gebiet des Strafrechts, z. B. das Analogieverbot. Gleichwohl schreiben die Strafgesetzbücher beider Staaten keine bestimmte Auslegungsmethode vor, der die Praxis folgen muss. Aber die Rechtswissenschaft (theoretisch) und die Rechtsprechung (praktisch) beider Länder setzen sich mit dem Problem der Auslegungsmethoden und der Argumentation durchaus auseinander. Dies erschwert einen Vergleich, weil in der Rechtswissenschaft sehr verschiedene Auffassungen geltend gemacht werden und die Rechtsprechung in ihrer Praxis nicht immer konsequent ist. Beide Probleme werden im Folgenden noch näher zu erörtern sein. • Unterschiede in der Literatur Die Auslegungsmethoden sind in beiden Rechtsordnungen weiterhin Gegenstand der Diskussion auch in der (straf-)rechtlichen Literatur. Von einem allgemeingültigen Paradigma kann dabei keine Rede sein.103 Die wichtigsten Grundsätze der Auslegung werden heftig diskutiert, was häufig dazu führt, dass zwei (oder mehrere) sich widersprechende Positionen in der Literatur vertreten werden. Demzufolge muss die vorliegende Untersuchung zumindest zwischen der herrschenden Meinung und der Mindermeinung differenzieren, wobei innerhalb der letzteren Kategorie durchaus verschiedene Auffassungen vertreten werden. Die Methodenlehre gehört somit zu einem Gebiet der Rechtswissenschaft, das noch immer Gegenstand der Diskussion ist, was zumindest bedeutet, dass eine allgemein befriedigende Lösung bisher nicht gefunden wurde. Ob es diese überhaupt gibt, muss an dieser Stelle dahingestellt bleiben. • Uneinheitliche Anwendung der Methodenlehre in der Rechtsprechung Das Fehlen einer allgemein anerkannten Metatheorie zur Auslegung und Argumentation in beiden Ländern hat weitgehende Konsequenzen auch für die Rechtsprechung. Zunächst zwingt dieses Fehlen die Gerichte dazu, das Problem der Auslegung und Argumentation selbst zu lösen. Zwar knüpfen die Gerichte bei

102 Beschluss vom 30.3.1993, 1 BvR 1045/89, 1 BvR 1381/90, 1 BvL 11/90, BVerfGE 88, 145, 166 f. 103 Für Deutschland siehe: R. Alexy/R. Dreier, Statutory Interpretation in the Federal Republic of Germany, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, 1991, S. 77.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

der Bewältigung dieses Problems an die verschiedenen Theorien an, was indes sehr oft zu einem Synkretismus führt. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass es in der Rechtsprechung beider Gerichte kein festes Rangverhältnis der Auslegungskriterien gibt, was allerdings nicht bedeuten muss, dass die Gerichte auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts wegen verfassungsrechtlicher Bindungen das Wortlautkriterium nicht bevorzugen. Die Folge einer solchen uneinheitlichen Praxis ist der Anschein der Willkür. Selbstverständlich drängt sich hier die Frage auf, wie die Auslegungs- und Argumentationspraxis der höchstgerichtlichen Rechtsprechung untersucht werden kann, wenn die Gerichte bei der Methodenauswahl uneinheitlich verfahren.104 In der Tat scheint es aus der nationalen Perspektive so zu sein, dass in der Praxis beider Länder auf dem Weg vom Gesetz bis zur Feststellung der Bedeutung einer Rechtsnorm ein Methodensynkretismus herrscht, der keine einheitliche Vorgehensweise erkennen lässt.105 Die vorliegende Untersuchung wird jedoch versuchen zu zeigen, dass die hier in Betracht gezogene Auslegungs- und Argumentationspraxis ihre spezifischen Bestandteile hat, die sie von der jeweils anderen Rechtsprechung abgrenzen. Auch der Methodensynkretismus ist somit kulturbedingt. Um ihn zu sehen, müssen jedoch die Bahnen des nationalen Denkens verlassen werden. Zu Recht stellen in diesem Zusammenhang Christensen und Kudlich fest: „Man muss Fremder sein, um die wichtigsten Selbstverständlichkeiten einer Kultur sehen zu können, da diese für den in dieser Kultur Sozialisierten den blinden Fleck der eigenen Wahrnehmung bilden.“ 106

104 Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Arthur Kaufmann/W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage, 2011, S. 136. Anders allerdings Hassemer, nach dem die Auslegungspraxis eines Rechtssystems keine zufällige Handlungsweise darstellt, sondern sich nach einem informellen Programm richtet, das die Gerichte bei der Gesetzesauslegung berücksichtigen. Siehe dazu W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: FS für Jung, 2007, S. 251. 105 Es ist anzumerken, dass die Literatur zur Begründung gerichtlicher Entscheidungen in Deutschland im Vergleich zu Polen wesentlich umfangreicher ist. Insbesondere lesenswert: R. H. Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, nach ihrer Nützlichkeit und Nothwendigkeit, so wie über ihre Auffindung, Entwickelung und Anordnung, 1826; H. Ohlmer, Richterfreiheit und Begründungspflicht, 1953; J. Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, 1971; F. Becker, Die Entscheidungsbegründung im deutschen Verwaltungs-, verwaltungsgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Verfahren, in: R. Sprung/B. König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 101 ff.; D. Buchwald, Zum Begriff der rationalen juristischen Begründung, in: R. Mellinghoff, H.-H. Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 61 ff.; S. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999; R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001; R. Alexy/H.-J. Koch/L. Kuhlen/H. Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003. 106 R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 23.

D. Forschungsfragen und Schwierigkeiten der Untersuchung

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• Überschneidung der Auslegungskriterien Das Fehlen einer allgemein anerkannten Metatheorie zur Auslegung in den beiden Ländern hat noch weitere Konsequenzen, und zwar eine methodische Verwirrung der Auslegungsmethoden. Bei einer näheren Untersuchung der höchstrichterlichen Rechtsprechung lässt sich feststellen, dass sich die verschiedenen Auslegungsargumente nicht klar voneinander abgrenzen lassen.107 So überschneidet sich oftmals die Argumentation aus der Geschichte einer Bestimmung mit der Untersuchung des entstehungszeitlichen Sprachgebrauchs. Besondere Probleme bereitet die Abgrenzung des Gesetzeszwecks von den übrigen Kriterien. Es gibt eine Reihe von Entscheidungen, in denen die Gerichte den Gesetzeszweck einfach dem Wortlaut, der Geschichte oder dem Zusammenhang der Norm entnehmen. Diese Überschneidung der Auslegungsmethoden erschwert die genaue Bestimmung der Objekte, die verglichen werden sollen. • Auseinanderklaffen der deklarierten Auslegungsmethoden und der Praxis Eine weitere Folge des Fehlens einer allgemein anerkannten Metatheorie lässt sich in Entscheidungen finden, in denen die Auslegungspraxis im Widerspruch zu den expliziten methodischen Äußerungen steht.108 So gibt es eine Reihe von Entscheidungen, in denen das Gericht zunächst den Wortsinn als Grenze der Auslegung bestätigt und danach diese Grenze überschreitet.109 Grundsätzlich vermeiden es jedoch die Strafsenate des BGH, auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts expressis verbis gegen den Wortlaut zu entscheiden.110 Es gibt auch Fälle, 107 Ausführlich dazu: A. Bielska-Brodziak, O rodzajach argumentów interpretacyjnych, in: W. Stas´kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 327 ff. 108 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 151. 109 Als Beispiel kann eine Entscheidung des BGH (Beschluss vom 3.4.1970, 2 StR 419/69, BGHSt 23, 239) angeführt werden, in der eine Verbindung nur zweier Personen als „Bande“ i. S. d. § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB betrachtet wurde. Wie Roxin zutreffend bemerkte, akzeptiert die Behauptung des Gerichts, dass der Wortsinn nicht zu einer anderen Auslegung zwingt, die Wortlautgrenze theoretisch, überschreitet sie jedoch praktisch – C. Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Auflage, 2006, § 5 Rn. 34. Nach der neuesten Rechtsprechung (Großer Senat des BGH) muss eine Bande jetzt aus zumindest drei Personen bestehen. Dazu u. a.: J. C. Joerden, Der Bandendiebstahl und seine Mitwirkenden – BGH NJW 2001, 2266, JuS 4/2002, 329 ff. 110 Als Ausnahme kann hier das Urteil vom 13.9.1957 (1 StR 338/57, BGHSt 10, 375) angeführt werden, in dem der 1. Strafsenat des BGH ein Kraftfahrzeug unter den Begriff „bespanntes Fuhrwerk“ subsumiert hat. Dabei führte der Strafsenat aus: „Dem bloßen Wortlaut nach fällt ein Kraftfahrzeug, wie es die Angeklagten zur Ausführung des Forstdiebstahls verwendet haben, allerdings nicht unter die Vorschrift, wohl aber nach ihrem Sinn.“ Nach Neumann hat der BGH auch in diesem Fall nicht gegen den möglichen Wortsinn argumentiert. Seine Argumentation, dass der Senat mit der angeführten Formulierung lediglich auf den „natürlichen Sprachgebrauch“ abstellen wollte

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

in denen sich nicht eindeutig sagen lässt, ob die Wortsinngrenze schon überschritten wurde. In diesem Zusammenhang klingt die Auffassung derjenigen Autoren plausibel, die zwischen Auslegung und Analogie keinen prinzipiellen Unterschied sehen, weil auch jede Auslegung in einem Ähnlichkeitsvergleich besteht.111 Alle diese Probleme erschweren erheblich die Herausarbeitung der Untersuchungsobjekte, die miteinander verglichen werden sollen. Jedenfalls darf die Untersuchung nicht lediglich darauf beruhen, was die Gerichte ausdrücklich sagen, sondern sie muss ihre konkrete Vorgehensweise berücksichtigen. Eine Diskrepanz zwischen beiden Aspekten kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden. • Komplexität der Entscheidungen Die Untersuchung wird erheblich dadurch erschwert, dass die Entscheidungen des BGH und des OG höchst komplexe Sachverhalte betreffen, die verschiedene Gesichtspunkte, Argumente, Topoi, Kriterien, Kategorien, Tatsachenbehauptungen112 und Maßstäbe umfassen. Wie Zippelius zutreffend bemerkt, „stellt sich die Gesetzesinterpretation als ein argumentativer Auswahl- und Entscheidungsprozess dar, der sich an verschiedenen, miteinander konkurrierenden Zielen orientiert und in der Regel einen Kompromiss zwischen konkurrierenden Interessen anstrebt, der als gerecht erscheint und mit dieser Bedingung den Nutzen optimiert.“ 113 Die höchstrichterliche Rechtsprechung in beiden Ländern beschäftigt sich meist mit sehr schwierigen strafrechtlichen Problemen (hard cases), die die unteren Instanzen nicht selbstständig bewältigen konnten. Der Grad der Schwierigkeit der behandelten Probleme führt teilweise zu hoch komplexen Begründungen der Entscheidungen, die verschiedene Gesichtspunkte zusammenstellen und den bevorzugten Argumenten (Topoi) den Vorrang einräumen. In diesem Sinne ist der These von Hassemer zuzustimmen, die er in Bezug auf die deutsche Rechtsprechung aufgestellt hat, dass nämlich die Komplexität des praktischen Handelns die Komplexität der juristischen Methodenlehre übersteigt.114 Diese These lässt sich durchaus auch auf die polnische höchstrichterliche Rechtsprechung beziehen. und seine Entscheidung noch mit dem äußersten Wortsinn der Bestimmung für vereinbar hält, überzeugt jedoch nicht. Siehe dazu U. Neumann, Der „mögliche Wortsinn“ als Auslegungsgrenze in der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH, in: U. Neumann/ J. Rahlf/E. v. Savigny (Hrsg.), Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 43. 111 Siehe dazu C. Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Auflage, 2006, § 5 Rn. 36. 112 Siehe dazu H. Rottleuthner, Plädoyer für eine empirische Argumentationstheorie, in: W. Hassemer/Arthur Kaufmann/U. Neumann (Hrsg.), Argumentation und Recht, ARSP-Beiheft n. F., Nr. 14 (1980), S. 87. 113 R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, 2012, S. 48. 114 W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: FS für Jung, 2007, S. 252.

D. Forschungsfragen und Schwierigkeiten der Untersuchung

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• Anzahl der Topoi Die Komplexität der Entscheidungen beider Gerichte wird auch in der Anzahl der Topoi sichtbar, an die beide Gerichte in ihren Entscheidungsgründen anknüpfen. Insgesamt wurden ungefähr 90 Topoi auf der Grundlage der qualitativen Inhaltsanalyse in der herangezogenen Stichprobe festgestellt. Angesichts dieser hohen Anzahl der ermittelten Topoi konnten sie nicht alle im Rahmen dieser Untersuchung ausführlich analysiert und interpretiert werden. Eine Auswahl war somit geboten. Als Auswahlkriterium galten vor allem zwei Gesichtspunkte. Zunächst wurden diejenigen Begründungen in die qualitative Analyse einbezogen, die ein Problem ans Licht bringen könnten. Zum anderen wurden diejenigen Entscheidungen ausgewählt, die die Unterschiede zwischen den Argumentationen beider obersten Gerichte besonders deutlich aufweisen lassen. • Herstellung versus Darstellung In der neueren Rechtstheorie wird prägnant der Unterschied zwischen der Herstellung und der Darstellung eines richterlichen Urteils betont, dem im Bereich der Naturwissenschaften die Differenzierung zwischen „context of discovery“ und „context of justification“ entspricht.115 Zu Recht geht man dabei davon aus, dass das, was in den Urteilsgründen steht (Darstellung), nicht notwendig das ist, was den Inhalt und das Ergebnis des Urteils produziert hat (Herstellung). Welches Verhältnis zwischen beiden Elementen besteht, ist jedoch unklar. Schneider geht davon aus, dass beide Komplexe nicht so getrennt sind, dass zwischen ihnen gar kein Zusammenhang bestünde.116 Demgegenüber argumentiert Schlüter, dass die Pflicht, seine Entscheidung später begründen zu müssen, den Richter von vorherein zwingt, sich jeden für die Entscheidungsfindung notwendigen Schritt sorgfältig zu überlegen.117 Man kann jedoch nicht ausschließen, dass die Gründe der Entscheidungen ganz anders waren, als die, die in der Begründung angeführt werden. Eine Untersuchung, die sich auf die Analyse der Begründungen der Entscheidungen konzentrieren will, muss daher in Kauf nehmen, dass die verdeckten Argumente, die in dem Entscheidungsprozess eine Rolle gespielt haben, in der Begründung nicht offenbart werden. Die vorliegende Untersuchung will jedoch nicht feststellen, auf welche Weise die Richter zu einem bestimmten Ergebnis gekommen sind (dies setzt die Anwendung anderer soziologischer und psycholo-

115 U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 4 f.; ders., Theorie der juristischen Argumentation, in: W. Brugger/U. Neumann/S. Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 236. 116 J. Schneider, Theorie juristischen Entscheidens, in: Arthur Kaufmann/W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage, 2011, S. 349. 117 W. Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 97.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

gischer Forschungsmethoden voraus), sondern wie sie das gefundene Ergebnis legitimieren; insbesondere, welche Argumente (Topoi) sie für die Begründung der Entscheidung als geeignet ansehen. Die Untersuchung wird sich somit nur auf die zweite Ebene (Darstellung) beziehen. • Vorverständnis Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung darf auch nicht die These übersehen werden, die davon ausgeht, dass die Ergebnisse des Rechtsfindungsprozesses jeweils schon feststehen, bevor sie für die Entscheidungsbegründung „methodengerecht“ abgeleitet werden.118 In der Tat kann man nicht ausschließen, dass die Argumente nur noch herangezogen werden, um das als angemessen erscheinende und schöpferisch gefundene Resultat nachträglich zu rechtfertigen.119 Der Zusammenhang zwischen „Vorverständnis und Methodenwahl“ 120 muss somit bei der Analyse der Rechtsprechung beider Länder berücksichtigt werden. Da die vorliegende Untersuchung sich nur auf die Ebene der Darstellung der Entscheidungen bezieht (siehe dazu den vorangehenden Punkt), bleibt dieser Umstand für die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung allerdings ohne weitergehende Bedeutung. • Bedeutung der Topoi Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass es angesichts der hohen Komplexität der Begründungen oft schwierig ist zu erforschen, welche Bedeutung die Richter den einzelnen Topoi beimessen. Falls das Gericht in seiner Begründung mehrere Topoi verwendet, um ein Auslegungsergebnis zu begründen, und dabei keine ausdrückliche Stellung zu der Bedeutung der einzelnen Topoi bezieht, so ist die Feststellung, welche Topoi in der Argumentationsstruktur entscheidend waren, fast unmöglich. Dies ist jedoch ein Beweis dafür, dass die Rechtsprechung eher topisch und nicht systematisch vorgeht, d. h., sie berücksichtigt verschiedene Gesichtspunkte, um ein Problem zu erörtern. Diese Vorgehensweise entfernt sich zudem deutlich vom einfachen Subsumtionsmodell, in dem der Sachverhalt schlicht unter die Tatbestandsmerkmale subsumiert wird.

118 W. Naucke, Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, in: FS für Engisch, 1969, S. 278 f. 119 R. Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 2011, S. 104 f., 219 f.; K. Mölter, Der Einfluß von Zweckmäßigkeits- und Billigkeitserwägungen auf die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 1965, S. 177, 180 f.; K. Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, 1963, S. 47 f.; S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 155. 120 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Auflage, 1972, S. 7, 121 ff., 136.

D. Forschungsfragen und Schwierigkeiten der Untersuchung

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Dabei ist jedoch davon auszugehen, dass jeder Äußerung des Gerichts eine bestimmte Bedeutung beizumessen ist. Bei der qualitativ orientierten Inhaltsanalyse darf kein Element des Textes vernachlässigt werden, weil es „Etwas“ über die Perspektive des Verfassers des Textes „sagt“. Sehr gefährlich ist in diesem Zusammenhang die Kategorisierung der Argumente als „Floskeln“ und deren Vernachlässigung.121 Diese „Floskeln“ mögen aus der Perspektive des Forschers keinen argumentativen Wert haben, aus der Sicht des Verfassers des Textes können sie jedoch durchaus von Bedeutung sein. Die Aufgabe des Forschers liegt gerade in der Ermittlung dieser Bedeutung. Hier soll das interpretative Paradigma zur Anwendung kommen, das es erlaubt, die Perspektive des Verfassers des Textes zu rekonstruieren. • Herausfiltern der Topoi aus der Begründung Ein weiteres Problem, das für die vorliegende Untersuchung von erheblicher Bedeutung ist, stellt das Herausfiltern der Topoi aus der Begründung dar. Dieses Problem wurde in der Literatur allerdings bereits deutlich erkannt und braucht hier nicht weiter vertieft zu werden.122 Da sich die vorliegende Arbeit nur auf die Untersuchung der Topoi (also der typischen, am meisten gebrauchten, Argumente) beschränkt, wird dieses Problem jedoch nicht so gravierend sein, wie in einer Untersuchung, die die gesamte Argumentationsstruktur der jeweiligen Entscheidung untersuchen will. Gleichwohl kann es in vielen Begründungen problematisch sein, ob ein bestimmter Topos vorliegt oder nicht. Dieses Problem taucht allerdings dann nicht auf, wenn das Gericht einen Topos (z. B. das argumentum a fortiori) ausdrücklich anwendet. Aber in einigen Entscheidungen kann diese Argumentationsfigur auch vorkommen, ohne expressis verbis genannt zu werden. In dieser Untersuchung wurde grundsätzlich auf eine feste Begrifflichkeit abgestellt, um vor allem die Objektivität der Erkenntnisse sicherzustellen und klare Vergleichsmaßstäbe zu bilden. Nicht selten wurden jedoch Synonyme und Umschreibungen berücksichtigt, wenn es keinen Zweifel gab, dass sie auf einen bestimmten Topos Bezug nehmen. So werden z. B. dem Topos des „Beschleunigungsgrundsatzes“ nicht nur diejenigen Teile der Begründung zugeordnet, in denen das jeweilige Gericht ausdrücklich diesen Topos erwähnt, sondern auch diejenigen Teile, in denen aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass das Gericht ein zügiges Verfahren im Blick hatte. Bei solchen kontextgebundenen Argumenten entsteht sicherlich die Gefahr, dass eine Äußerung des Gerichts auch einmal als Argument betrachtet wird, die einem Topos nicht zugehören sollte. Dieses Problem wurde durch den Einsatz einer (kleinen) begleitenden Mit121 Dabei ist es fast unmöglich, objektive Kriterien zu bilden, um die „wahren“ Argumente von den Floskeln abzugrenzen. 122 U. Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, in: W. Brugger/U. Neumann/S. Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 238.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

arbeitergruppe gewissermaßen entschärft.123 In manchen Fällen ließ sich jedoch ein dezisionistisches Moment nicht völlig vermeiden. • Terminologisch-sprachliche Probleme Die Untersuchung muss in einer bestimmten Sprache geschrieben werden. Diese auf den ersten Blick triviale Feststellung birgt jedoch viele potentielle Schwierigkeiten. Die wichtigste Hürde liegt darin, dass juristische Begriffe einen unterschiedlichen Inhalt und eine unterschiedliche Bedeutung für die Anwender der jeweiligen Rechtskultur haben können. Zum Beispiel muss der Begriff „Rechtsstaat“, an den die Gerichte in ihren Argumentationen anknüpfen, nicht das Gleiche in beiden Rechtskulturen bedeuten. Angesichts der wesentlich längeren Verwurzelung dieses Begriffes in der deutschen Rechtskultur im Vergleich zu der polnischen Rechtskultur kann man zumindest davon ausgehen, dass in der deutschen Rechtskultur im Vergleich zu der polnischen Rechtskultur mit diesem Begriff wesentlich mehr Inhalte assoziiert werden. Auch die verfassungsrechtlichen Topoi können ähnliche Unterschiede bergen, wenn man berücksichtigt, dass die verfassungsrechtliche Rechtsprechung in Deutschland im Vergleich zum polnischen Rechtssystem schon wesentlich länger existiert. Die Lösung dieses Problems könnte eventuell in der Verwendung einer Metasprache gefunden werden. Dies würde jedoch die Entwicklung einer solchen Metasprache voraussetzen, was in der vorliegenden Untersuchung nicht geleistet werden kann. Wichtig ist jedoch in Erinnerung zu rufen, dass die jeweilige Sprache in aller Regel auch ein bestimmtes Verständnis eines Begriffes impliziert. • Entwicklung eines Kategoriensystems Das vorstehend bereits erwähnte Problem erschwert auch erheblich die Bildung eines Kategoriensystems, das eine Grundlage jeder Inhaltsanalyse ist. Dieses Problem wird auch in der Sozialwissenschaft hervorgehoben: „Eine Inhaltsanalyse von Texten aus zwei oder mehr Ländern, in denen unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, gestaltet sich als besonders schwierig. Um systematische Vergleiche zu ermöglichen, müssen in beiden Ländern anhand des gleichen Kategoriensystems Texte codiert werden und analysiert werden. Die Entwicklung eines in beiden Ländern verwendbaren Kategoriensystems setzt voraus, dass möglichst in beiden Ländern eine doppelte Sprachfähigkeit vorhanden ist. Die gleichen Aussagen können in zwei Gesellschaften unterschiedliche Bedeutung haben; um dies herauszufinden, bedarf es bei der Entwicklung des Kategoriensystems einer engen Ko-

123 In einer kleinen Mitarbeitergruppe wurden die problematischen Fälle dahingehend erörtert, ob ein Topos nun vorliegt oder nicht. Dadurch stieg die Objektivität der Erkenntnisse. Die Verantwortung für die jeweilige Entscheidung verblieb allerdings jeweils beim Verfasser der vorliegenden Untersuchung.

D. Forschungsfragen und Schwierigkeiten der Untersuchung

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operation; die Entwicklung des verwendbaren Kategoriensystems muss am Material selbst erfolgen.“ 124

Die Lösung dieses Problems kann – wie in dem Zitat betont wurde – in einem induktiven Vorgehen gefunden werden. Dementsprechend werden die Kategorien nicht vorab definiert, sondern im Laufe der Untersuchung gebildet, verändert und ergänzt. Sie werden somit aus dem vorliegenden Material selbst gewonnen. • Subtilität der Unterschiede in der Auslegungspraxis Das deutsche und das polnische Strafrecht gehören zu demselben kontinentalen Rechtskreis und sie weisen deshalb viele Gemeinsamkeiten auf. Das römische Recht,125 das Christentum und die Aufklärung bilden den Hintergrund der Entwicklung beider Rechtsordnungen. Neben den ähnlichen Wurzeln des deutschen und des polnischen Strafrechts ist zudem zu berücksichtigen, dass die Rechtsgelehrten beider Länder seit vielen Jahren in immer engeren wissenschaftlichen Beziehungen stehen, die vor allem durch gemeinsame Konferenzen, Forschungsprojekte und persönliche Kontakte zur Geltung kommen.126 Sie tragen dazu bei, dass die Rechtsinstitute beider Länder einander gegenübergestellt und diskutiert werden. Es wird dabei auch ein Einfluss der deutschen Dogmatik auf die Gestaltung des polnischen Strafrechts sichtbar.127 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung wird man eher erwarten können, dass es zwischen den europäischen Ländern keine fundamentalen Unterschiede in der Anwendung der Auslegungsmethoden gibt.128 Die Annahme jedenfalls, dass die Gerichte die Gesetze völlig unterschiedlich auslegen, könnte sich bei näherer Betrachtung als unzutreffend erweisen. Dies bedeutet wiederum nicht, dass in den europäischen Rechtsordnungen die Gesetze völlig gleich interpretiert werden. Zwischen „völlig unterschiedlich“ und „völlig gleich“ erstreckt sich ein weiter Raum, der durch unterschiedliche Kombinationen der klassischen Auslegungskriterien und der dabei verwendeten Argumente eröffnet wird. Und gerade diese Kombinationen prägen das Modell der Auslegungs- und Argumentations124 J. Gerhards, Diskursanalyse als systematische Inhaltsanalyse, in: R. Keller/ A. Hirseland/W. Schneider/W. Viehöver (Hrsg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 2, 4. Auflage, 2010, S. 341. 125 Über den Einfluss des römischen Rechts auf die kontinentale Rechtsmethode siehe: G. Hager, Rechtsmethoden in Europa, 2009, S. 4 ff. 126 Insbesondere an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) ist diese Zusammenarbeit sehr fruchtbar. Aus der letzten Zeit siehe: J. C. Joerden/A. J. Szwarc (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland – rechtsstaatliche Grundlagen, 2007. 127 Siehe dazu insbesondere A. Wa˛sek, Der Einfluss der Lehre von Claus Roxin auf die polnische Strafrechtswissenschaft, in: FS für Roxin, 2001, S. 1457. 128 D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, 1991; dies., Interpreting precedents, 1997.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

praxis in einem Rechtssystem. Dabei handelt es sich zum Teil um subtile Unterschiede, die nicht immer konsequent verfolgt werden, die jedoch im Einzelfall eine enorme Rolle spielen können. Daher verwundert es nicht, dass diese wenig konsequenten Subtilitäten einen Vergleich deutlich erschweren und auch Raum für Kritik eröffnen. Diese Probleme, die einen Rechtsvergleich der höchstrichterlichen Rechtsprechung beider Länder wesentlich erschweren, wurden nicht genannt, um zu zeigen, dass eine Untersuchung zu dieser Problematik eigentlich von vornherein nicht erfolgversprechend ist, weil sichere Erkenntnisse eher unmöglich sein dürften. Sie wurden vor allem deshalb hervorgehoben, um die immanenten Grenzen der vorliegenden Untersuchung zu skizzieren. Ferner müssen die genannten Probleme bei der Analyse und Interpretation der erzielten Untersuchungsergebnisse jeweils berücksichtigt werden.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen Auch für die Planung einer qualitativen Studie ist es notwendig, die Publikationen zum jeweiligen Forschungsfeld zu kennen.129 Im Unterschied zu einer quantitativen Studie wird man jedoch bei qualitativer Forschung aus der Literatur zum Thema keine Hypothesen ableiten, um sie empirisch zu überprüfen.130 Die Literatur wird bei dem qualitativen Ansatz zum einen als Kontextwissen relevant, um das untersuchte Material besser einordnen zu können, zum anderen, um einschätzen zu können, was das Neue an der aktuellen Studie im Vergleich zum Stand der Forschung ist.131 Angesichts der kaum noch überschaubaren Zahl der Untersuchungen, die sich mit der Auslegung- und Argumentationsproblematik aus theoretischer Perspektive beschäftigen, muss verwundern, dass es bisher nur ansatzweise durchgeführte Versuche einer systematisierten Analyse juristischer Argumentationen gibt.132 Im Folgenden werden die aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung interessantesten Befunde der nationalrechtlichen und rechtsvergleichenden Untersuchungen zur Auslegung- und Argumentationsproblematik in gebotener Kürze dargestellt. Insbesondere sollen die methodischen Vorgehensweisen und die praktischen Befunde zur Argumentations- und Auslegungspraxis in Deutschland und Polen aufgezeigt werden. Zunächst wird auf die nationalrechtlichen Un-

129 130 131 132

U. Flick, Qualitative Sozialforschung, 2. Auflage, 2007, S. 74. Ebenda. Ebenda. So U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 112.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

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tersuchungen aus Deutschland (I.) und aus Polen (II.) näher eingegangen. Dann werden die Befunde der rechtsvergleichenden Untersuchungen dargestellt (III.). Die Forschungsergebnisse werden in der Reihenfolge ihres Erscheinens zusammengefasst.

I. Untersuchungen aus Deutschland An vorderster Stelle ist ein Münchner Forschungsprojekt aus den Jahren 1977 bis 1980 „Argumentationstheoretische Aspekte höchstrichterlicher Rechtsprechungsänderungen“ 133 zu nennen, dessen Ergebnisse leider niemals das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben.134 Man verfügt zurzeit nur über bruchstückhafte Berichte,135 die sicherlich nicht alle Befunde dieser Untersuchung offenbaren. In dem Münchner Forschungsprojekt ging es vor allem um die Ermittlung von Rangfolgen zwischen unterschiedlichen Argumenttypen.136 Insbesondere wurde gefragt, wie die höchsten Bundesgerichte argumentieren, wenn sie von einer eigenen früheren Rechtsprechung abweichen, sie etwa sogar ganz aufheben.137 Um dieses Problem zu klären, wurden 112 Entscheidungen analysiert.138 Dabei wurde eine gesonderte Klassifikation von Argumenttypen entwickelt. Es wurde zwischen Wortlautargumenten, genetischen Argumenten, historischen Argumenten, Interessenargumenten, Prinzipienargumenten, teleologischen Argumenten, Argumenten der Verfassungswidrigkeit einer Regel, Rechtssicherheitsargumenten, Gerechtigkeitsargumenten, Folgenargumenten, Argumenten der Gesetzessystematik, Praktikabilitätsargumenten und paralogischen Argumenten unterschieden.139 Diesen Argumenten lag ein subjektiver Argumentbegriff zugrunde: Als Argument galt das, was von einem Autor als Argument vorgebracht wurde.140 133

Leiter des Projektes: Arthur Kaufmann, U. Neumann, J. Schneider. So W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: FS für Jung, 2007, S. 251. 135 Insbesondere U. Schroth, Eine Methode der formalen Rekonstruktion von Gerichtsurteilen, in: W. Hassemer/Arthur Kaufmann/U. Neumann (Hrsg.), Argumentation und Recht, ARSP-Beiheft n. F., Nr. 14 (1980), S. 119 ff.; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 112 ff.; Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999, S. 94 f. 136 U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 116. 137 Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999, S. 94 f. 138 Ebenda, S. 95. 139 U. Schroth, Eine Methode der formalen Rekonstruktion von Gerichtsurteilen, in W. Hassemer/Arthur Kaufmann/U. Neumann (Hrsg.), Argumentation und Recht, ARSP-Beiheft n. F., Nr. 14 (1980), S. 122 f.; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 116. 140 U. Schroth, Eine Methode der formalen Rekonstruktion von Gerichtsurteilen, in: W. Hassemer/Arthur Kaufmann/U. Neumann (Hrsg.), Argumentation und Recht, ARSP-Beiheft n. F., Nr. 14 (1980), S. 119 f. 134

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Um die Relationen zwischen den Argumenten zu erforschen, bildeten die Verfasser folgende Grundrelationen: 1. x bringt y als Argument für/gegen z, 2. x bringt y und y’ als gemeinsames Argument für/gegen z, 3. x bringt y als Argument dafür/dagegen, dass z mit u begründet/angegriffen werden kann, 4. x bringt y und y’ als gemeinsames Argument dafür/dagegen, dass z mit u begründet/angegriffen werden kann.141 Neumann fasst das Ergebnis der Untersuchung wie folgt zusammen: „Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich die von Kriele (1965) und Esser (1979) geforderte, teilweise auch bereits diagnostizierte Entwicklung von einer ,verdeckten‘ zu einer ,offenen‘ richterlichen Argumentation in einem erstaunlich weiten Ausmaß schon vollzogen hat. So werden, beispielsweise, Änderungen der Rechtsprechung der oberen Bundesgerichte ganz überwiegend mit Folgenargumenten im weiteren Sinne (unter Einschluß der Gerechtigkeits- und der Praktibilitätsargumente) begründet. Umgekehrt kommen Rechtsprechungsänderungen, denen Folgenerwägungen entgegenstehen würden, praktisch nicht vor.“ 142

Auch Arthur Kaufmann stellte fest, dass in der Rechtsprechung der oberen Gerichte neben den vier klassischen Kanones noch eine grundsätzlich unbegrenzte Zahl weiterer Argumentationstypen wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Rechtssicherheit, Praktikabilität, Folgen des Urteils und viele andere mehr zur Anwendung kommen.143 Außerdem konstatierte Kaufmann, dass die Gerichte besonders sorgfältig argumentieren, wenn sie von eigener früherer Rechtsprechung abweichen wollen. Dabei zeigte sich, dass bei derartigen Entscheidungen zumeist ein spezifischer Grund die Rechtsprechungsänderung veranlasst hat. Bemerkenswert ist, dass im Strafrecht öfter auf den Willen des historischen Gesetzgebers rekurriert wird als im Zivilrecht und im Arbeitsrecht. Demgegenüber wurde festgestellt, dass Folgenbewertungsargumente im Arbeitsrecht 40% ausmachten, im Zivilrecht 30%, im Strafrecht dagegen nur 14%. Das Argument der Gerechtigkeit stand bei 13 der 112 Entscheidungen im Vordergrund.144 Zu berücksichtigen ist ferner eine Untersuchung von Sobota, die die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verwaltungsgerichte auf der Grundlage eines rhetorischen (empirischen) Ansatzes analysiert hat.145 Sobota 141

Ebenda, S. 120 ff.; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 115 f. U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 117. 143 Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999, S. 94. 144 Ebenda, S. 95. 145 K. Sobota, Rhetorisches Seismogramm – eine neue Methode in der Rechtswissenschaft, JZ 5/1992, S. 231 ff.; dies., Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: J. Dyck/W. Jens/G. Ueding (Hrsg.), 142

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

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wollte insbesondere feststellen, wie oft sich das BVerfG in seinen schriftlichen Begründungen auf bestimmte Argumente bezieht, die sie jeweils den Kategorien des Logos, des Ethos und des Pathos zugerechnet hat. Als Logos-Argument gilt in der Untersuchung von Sobota eine Aussage oder Andeutung, die man ohne Sinnverlust nach dem Schema formulieren könnte: „Das ist so, weil . . .“ 146 Unter dem Begriff des Ethos wird in dieser Studie dreierlei subsumiert: Autoritätsargumente, Textargumente und Quellenangaben.147 Unter dem Begriff des Pathos werden nicht-argumentative Stilmittel erfasst, wie z. B. Lautfiguren, Wortfiguren wie die eindringliche Wiederholung, die Emphase etc.148 Sobota kommt zu der für das BVerfG wenig angenehmen Schlussfolgerung, dass das Verhältnis von Logos, Ethos und Pathos ein charakteristisches Muster in den Begründungen des BVerfG aufweist. Im Sachbericht dominiert dabei regelmäßig der Logos. Die entscheidenden Passagen in den eigentlichen Entscheidungsgründen werden demgegenüber mit hohem und höchstem Pathos vorgetragen.149 Ethos gilt nur als ergänzende Kraft.150 Dazu Sobota: „Damit bestätigen die bisherigen Analysen die Vermutung, daß Logos und Ethos zu Pathos in einem reziproken Verhältnis stehen: Viel Pathos – wenig Logos, wenig Pathos – viel Logos.“ 151

Bahlmann hat sich in seiner Untersuchung „Rechts- und kriminalpolitische Argumente innerhalb der Strafgesetzesauslegung und -anwendung“ 152 das Ziel gesetzt, anhand von ausgewählten Entscheidungen des BGH und einiger Landgerichte sowie der Literatur die Frage zu beantworten, was sich hinter den Etiketten „Rechts-“ bzw. „Kriminalpolitik“ verbirgt. Der Verfasser kam zu der Schlussfolgerung, dass es „das“ „rechts-“/„kriminalpolitische Argument“ oder „die“ „rechts-“/„kriminalpolitische Argumentation“ innerhalb der Strafgesetzauslegung und -anwendung in dem Sinne, dass unter diesen Stichworten jeweils dieselben Aspekte (wenn auch möglicherweise unterschiedlich konkretisiert) in die juristische Diskussion eingeführt werden, nicht gibt. Dieser Befund muss daher in der Jahrbuch Rhetorik, Band 15, 1996, S. 115 ff.; dies. (unter dem Namen K. Gräfin v. Schlieffen), Zur topisch-pathetischen Ordnung juristischen Denkens, in: K. D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Band 2, 2005, S. 405 ff. Zur Kritik an diesen Studien siehe: H. Wohlrapp, Argumente stehen in einem Text nicht wie Gänseblumen in der Wiese herum, in: K. D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Band 2, 2005, S. 549 ff. 146 K. Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: J. Dyck/W. Jens/G. Ueding (Hrsg.), Jahrbuch Rhetorik, Band 15, 1996, S. 120. 147 Ebenda, S. 121. 148 Ebenda. 149 Ebenda, S. 122 f. 150 Ebenda, S. 123. 151 Ebenda. 152 S. Bahlmann, Rechts- und kriminalpolitische Argumente innerhalb der Strafgesetzesauslegung und -anwendung, 1999.

78

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

vorliegenden Untersuchung, die die Auslegungs- und Argumentationspraxis der deutschen und der polnischen Rechtsprechung analysieren will, berücksichtigt werden. Weiterhin ist die Untersuchung von Kuhlen153 zur verfassungskonformen Auslegung von Strafgesetzen hervorzuheben. In dieser Untersuchung wurden „die wichtigsten Entscheidungen“ des BVerfG und des BGH zur verfassungskonformen Auslegung von Strafgesetzen berücksichtigt, wobei der Verfasser selbst betont, dass die Untersuchung keine Vollständigkeit beanspruche.154 Insgesamt wurden 14 Entscheidungen des BVerfG im Abschnitt III des Buches und 19 Entscheidungen des BGH zur verfassungskonformen Auslegungsproblematik im Abschnitt IV des Buches analysiert.155 Kuhlen kommt in dieser Untersuchung zu der Schlussfolgerung, dass die verfassungskonforme Auslegung in der gerichtlichen Praxis des BGH und des BVerfG „fest eingebürgert“ sei.156 Angesichts der überschaubaren Zahl der einschlägigen Entscheidungen bezeichnet Kuhlen jedoch die Praktizierung der verfassungskonformen Auslegung von Strafgesetzen durch den BGH als „zurückhaltend“.157 Diese Einschätzung wird jedoch erst dann verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Kuhlen in seiner Untersuchung die verfassungskonforme Auslegung von der verfassungsorientierten Auslegung unterschieden und nur die Erstere in den Mittelpunkt seiner Untersuchung gestellt hat. Besondere Beachtung für die vorliegende Untersuchung verdient auch das Buch von Simon „Gesetzesauslegung im Strafrecht“ 158 aus dem Jahre 2005, das sich ausführlich mit der Problematik der Gesetzesauslegung im Strafrecht beschäftigt. Eine ähnliche Arbeit auf dem Gebiet des polnischen Strafrechts liegt nicht vor. Der Verfasser hat die amtliche Sammlung in Strafsachen (BGHSt) komplett ausgewertet. Aus dieser Materialfülle hat Simon drei Arten von Entscheidungen berücksichtigt: Erstens diejenigen, die ausdrücklich zu Fragen der Methodenlehre Stellung bezogen haben, zweitens jene, aus denen sich implizit Präferenzregeln des Gerichts ergaben, und drittens solche, die sich intensiv mit Einzelfragen des Auslegungskanons beschäftigten.159 Als relevant erwiesen sich nach diesen Kriterien ca. 500 Entscheidungen,160 wobei Simon auf eine strenge 153 L. Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006. Rezension siehe Ch. Krehl, StV 6/2008, S. 331 ff. 154 L. Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 15. 155 Es ist zu beachten, dass der Verfasser sich in den einzelnen weiteren Abschnitten mit weiteren Entscheidungen (z. B. im Abschnitt VII mit dem Urteil vom 28.10.2004, 3 StR 301/03, BGHSt 49, 275) ausführlich befasst hat. 156 L. Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 39. 157 Ebenda, S. 41. 158 E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005. 159 Ebenda, S. 18. 160 Ebenda, S. 21.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

79

Anwendung soziologischer Forschungsmethoden verzichtet hat. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden später bei der Beschreibung der einzelnen Probleme noch näher dargestellt. Aus neuerer Zeit ist ein Ansatz von Joerden161 zu erwähnen, der die Lösung eines rechtlichen Problems durch den BGH und die Lehre mit Hilfe des von Ludwik Fleck entwickelten Konzepts des Denkstils162 analysiert hat. Fleck versuchte nachzuweisen, dass die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache sehr stark von gesellschaftlichen Determinanten (Denkstil, Denkkollektiv) abhängt, d. h., jeder Verstehenszusammenhang von kulturellen Hintergründen, die man mit Fleck als Denkstil innerhalb eines Denkkollektivs beschreiben mag, erheblich mitbestimmt wird.163 Joerden hat in seiner Untersuchung zu zeigen versucht, dass die Lösung strafrechtlicher Probleme auch von einem bestimmten Denkstil abhängt, der das Ergebnis determiniert. Im Vordergrund der Analyse stand das rechtliche Problem des „unvorsätzlichen Entfernens“ vom Unfallort und insbesondere die Frage, ob man auch ein „unvorsätzliches Entfernen“ vom Unfallort unter die gesetzlichen Begriffe „berechtigt oder entschuldigt vom Unfallort entfernt“ (§ 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB) subsumieren kann. Hierzu haben sich in Rechtsprechung und juristischer Lehre zwei sich diametral gegenüberstehende Ansichten herausgebildet. Die eine, und zwar in diesem Falle die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs164 mit Zustimmung eines Teils der Lehre, bejahte diese Frage, während viele Stimmen in der Lehre die Frage verneinten.165 Um diese zwei Positionen zu charakterisieren, unterscheidet Joerden zwei Denkstile und zwar den „paternalistischen“ und den „liberalistischen“ Denkstil, wobei die Argumentation des BGH den ersten Denkstil repräsentiere.166 Im Rahmen des „paternalistischen“ Denkstils werde versucht, auftretende Rechtsfragen „von ihrem Ergebnis her“, „väterlich fürsorgend“ zu entscheiden. Nach Joerden zielt derjenige, der diese Perspektive einnimmt, auf das materiell 161 J. C. Joerden, Zur Entstehung und Entwicklung einer rechtswissenschaftlichen Tatsache, in: B. Chołuj/J. C. Joerden (Hrsg.), Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion, 2007, S. 325 ff. 162 L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, L. Schäfer/Th. Schnelle (Hrsg.), 3. Auflage, 1994. 163 J. C. Joerden, Zur Entstehung und Entwicklung einer rechtswissenschaftlichen Tatsache, in: B. Chołuj/J. C. Joerden (Hrsg.), Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion, 2007, S. 327. 164 Der BGH entschied die Frage erstmals im Beschluss vom 30.8.1978, 4 StR 682/ 77, BGHSt 28, 129. 165 K. Lackner/K. Kühl, StGB, Kommentar, 28. Auflage, 2014, § 142 Rn. 25 m.w. N. 166 Die dem BGH entgegengesetzte Position eines „liberalistischen Denkstils“ vertrete – so J. C. Joerden, Zur Entstehung und Entwicklung einer rechtswissenschaftlichen Tatsache, in: B. Chołuj/J. C. Joerden (Hrsg.), Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion, 2007, S. 341 – inzwischen zu derselben Rechtsfrage das BVerfG; vgl. Beschluss vom 19.3.2007, 2 BvR 2273/06, NJW 23/2007, 1666.

80

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

gerechte Ergebnis und sieht im Wortlaut des Gesetzestextes eher eine ungefähre Orientierung auf dieses gerechte Ergebnis hin. Dieser Denkstil wolle primär materielle Gerechtigkeit herstellen und sei daher bereit, die Wortlautgrenzen der einschlägigen Vorschriften weit zu interpretieren. Dieser Denkstil stelle zentral auf Sinn und Zweck der Vorschrift ab.167 Demgegenüber gehe der „liberalistische“ Denkstil von dem Grundsatz in dubio pro libertate aus, d. h., wenn ein Verhalten dem Wortlaut der Vorschrift nicht klar subsumiert werden kann, sei die betreffende Vorschrift nicht anwendbar. Für diesen Denkstil seien die Grenzen der Interpretation eng zu fassen; jedenfalls komme eine Interpretation, die sich über den normalsprachlichen Sinn der Worte hinaus bewegt, nicht in Frage. Für diesen Denkstil stehe das Ziel materialer Gerechtigkeit nicht im Vordergrund, sondern eher die „formale Gerechtigkeit“, die darin bestehe, den Bürger keinesfalls mit einer Strafbarkeit zu überziehen, die nicht vorher klar angekündigt war.168 Der Vorzug der Untersuchung von Joerden liegt darin, dass sie mit der Hilfe des Konzepts von Fleck ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, das die Strukturierung von Argumentationstypen der obergerichtlichen Rechtsprechung erlaubt. Es stellt sich jedoch die grundlegende Frage, ob die Befunde dieser Untersuchung verallgemeinert werden können, d. h., ob der BGH seinen anderen Entscheidungen auch den „paternalistischen Denkstil“ zugrunde legt. Dies wäre bei dem Auftreten von Argumenten, die sich auf das Ergebnis, das Ziel und den Sinn der Vorschrift etc. beziehen, anzunehmen. Ferner müsste der BGH diesen Argumenten regelmäßig den Vorrang in Relation zu den Argumenten geben, die sich auf den Gesetzestext beziehen. Auf diese Fragen soll im Rahmen von Teil 2 Pkt. E. V. 2. b) bb) noch näher eingegangen werden. Eine weitere Arbeit, die in der vorliegenden Untersuchung auf jeden Fall berücksichtigt werden muss, wurde unter dem Titel „Die Methodik des BGH in Strafsachen. Eine medienwissenschaftliche Inhaltsanalyse von Entscheidungsgründen in Strafsachen samt rechtstheoretischen Ausschlussfragen“ im Jahre 2009169 veröffentlicht. Diese Arbeit entstand zum Teil in derselben Zeit wie die vorliegende Untersuchung. Den Verfassern ging es vor allem um die Frage „auf welche Argumente – auch über die klassischen Canones hinaus – und in welcher Häufigkeit der BGH in Strafsachen bei seinen Begründungen zurückgreift.“ 170 Diese Fragestellung ist mit der in der vorliegenden Untersuchung somit vergleichbar, wobei der Gegenstand der Untersuchung von Kudlich und Christensen

167 Man kann daher sagen, dass dieser Denkstil auch für eine wertbezogene Rechtskultur charakteristisch ist. 168 Daher entspricht dieser Denkstil eher der formalistischen Rechtskultur. 169 H. Kudlich/Ch. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009. 170 Ebenda, S. 3.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

81

auf die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung eingeschränkt wurde. Diese Erkenntnisse sollten die Entwicklung des methodischen Vorgehens des BGH bei den Entscheidungsgründen in dem Zeitraum Anfang der 50er Jahre und der jüngeren Vergangenheit aufzeigen.171 Kudlich und Christensen wollten demnach mit ihrer Untersuchung vor allem die Tendenz in der Argumentation des BGH darstellen und die gegenwärtige Vorgehensweise des BGH in methodischer Hinsicht rechtstheoretisch analysieren. Auf der Grundlage der gestellten Forschungsfragen wurden für die Stichprobe alle Entscheidungen des BGH aus vier Bänden (1, 2, 49, 50) der amtlichen Sammlung (BGHSt) ausgewählt.172 Insgesamt ca. 300 Entscheidungen (ca. 200 aus den Bänden 1 und 2 sowie ca. 100 aus den Bänden 49 und 50173) wurden in die Untersuchung einbezogen.174 Dabei haben zwei Forscher ca. 1.600 Seiten „doppelblind“ ausgewertet.175 Methodisch ist man nach den Grundsätzen der Inhaltsanalyse vorgegangen. Dementsprechend wurde am Beginn der Untersuchung eine Kriterienliste als Suchschema vorangestellt, die bereits bei einer vergleichbaren Untersuchung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs176 erarbeitet wurde. Dabei haben Kudlich und Christensen auch auf eigene „allgemeine methodische Erfahrung“ zurückgegriffen.177 Innerhalb der „Testphase“ wurde diese Liste noch weiter ausdifferenziert. Im Laufe der Analyse, die die Verfasser in Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitern durchgeführt haben, gelangten sie zu folgenden Ergebnissen:

171

Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 15. 173 In der vorliegenden Untersuchung wurden auch diese beiden Bände ausgewählt, wobei auch 21 Entscheidungen aus dem 51. Band zusätzlich herangezogen wurden. 174 H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 16. 175 „Doppelblind“ soll hier bedeuten, dass beide Forscher gesondert und unabhängig von einander die Entscheidungen analysiert haben. In diesem Sinne verwenden den Ausdruck auch offenbar H. Kudlich und R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 15. Dass der Ausdruck „doppelblind“ im Rahmen medizinischer Arzneimittelstudien anders verwendet wird, kann als bekannt vorausgesetzt werden. 176 M. Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004. 177 H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 16. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich erheblich von der in der vorliegenden Untersuchung gewählten Methode der Kategorienbildung. Gemäß dem qualitativen Paradigma wurden die Kategorien in der vorliegenden Untersuchung nicht vorab definiert, sondern auf der Grundlage der Analyse des Materials aus dem Inhalt der Begründungen gewonnen. 172

82

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen Tabelle 1 Forschungsergebnisse der Inhaltsanalyse der BGH-Entscheidungen von Kudlich und Christensen Band 1

Band 2

Band 49

Band 50

Allgemeiner Verweis auf den Wortlaut

36

27

29

28

Wortlaut-Zitat

28

17

15

12

Wortlaut unter Verwendung eines Wörterbuches

0

0

0

0

Systematik allgemein

39

28

19

14

Insb. systemat. Auslegung im Zusammenhang mit dem GG

2

1

38

41

Genetische Auslegung

28

14

55

75

Historische Auslegung

16

10

8

11

Teleologische Auslegung i. e. S.

39

52

30

25

Teleologische Auslegung mit Blick auf Realelemente

26

44

38

32

Verfassungskonforme Auslegung

1

0

7

20

Europarechtskonforme Auslegung

0

0

7

6

Rechtsvergleichende Auslegung

1

3

3

0

Rechtsprechung des BGH bzw. des RG

38/167

56/140

305/10

329/13

Abweichende Rechtsprechung des BGH und des RG

17

29

11

12

Bezugnahme auf Rspr. des BVerfG

0

0

36

79

Bezugnahme auf Rspr. des EuGH oder des EGMR

0

0

1

4

Literatur zustimmend bzw. abweichend

88/23

39/11

275/33

211/33

Verweis auf Strafrahmen

6

4

6

6

Bezug auf fragmentarischen Charakter bzw. Subsidiarität

0

0

2

0

Berufung auf „nulla poena“

2

1

6

8

Arbeit mit Vergleichsfällen

24

12

16

12

Arbeit mit logischen Operationen

6

12

9

8

Quelle: H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 23 f.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

83

Auf der Grundlage der oben dargestellten Daten kamen Kudlich und Christensen zu der allgemeinen Schlussfolgerung, dass – abgesehen von den Selbst- und Fremdreferenzen – die vier klassischen Kanones die dominanten Auslegungsformen in der Rechtsprechung des BGH sind, wobei keine klare Dominanz des Wortlautarguments zu erkennen ist.178 Dem kann angesichts der wiedergegebenen Daten schwerlich widersprochen werden. Es wurde weiter festgestellt, dass über die Hälfte der Entscheidungen kein einziges Mal explizit auf den Wortlaut zurückgreift und dass in den analysierten Entscheidungen kein einziges Mal der Rückgriff auf ein Wörterbuch zum Beleg für die Wortlautauslegung erfolgt ist.179 Der letzte Befund war für die Verfasser besonders überraschend.180 Diese Folgerung lässt jedoch keinen allgemeinen Schluss zu, dass der BGH bei der Auslegungsarbeit keine Wörterbücher verwendet. Angesichts der doch beachtlichen Anzahl von analysierten Entscheidungen lässt sich nach der Auffassung von Kudlich und Christensen die Vermutung aufstellen, dass der Rückgriff auf Wörterbücher „keine nennenswerte Rolle in der Begründungskultur spielt“.181 Ferner ist bei der Anwendung des Wortlautarguments eine sinkende Tendenz zu verzeichnen. Dies betrifft auch die systematische Auslegung (zwischen beiden Zeitabschnitten wurde eine Reduzierung um 50% festgestellt). Die historische Auslegung i. e. S. gehört nach Kudlich und Christensen zu der am wenigsten verwendeten Form innerhalb des klassischen Kanons.182 Demgegenüber wird die genetische Auslegung unter Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien in den Bänden 49 und 50 als die mehr oder weniger dominante Auslegungsmethode bezeichnet, die nach Ansicht der Verfasser damit zusammenhängt, dass dem BGH einerseits umfangreiche Gesetzgebungsmaterialien zur Verfügung stehen, andererseits diese dem BGH in elektronischer Form leicht zugänglich sind.183 Als wichtigste Form der klassischen Auslegungsmethoden erachten die Verfasser jedoch die teleologische Auslegung, wobei auch hier eine leicht sinkende Tendenz in dem analysierten Zeitabschnitt zu verzeichnen ist.184 Zwar wird die teleologische Auslegung in den Bänden 49 und 50 von der häufiger verwendeten genetischen Auslegung übertroffen, sie ist jedoch unter den übrigen Auslegungskriterien fast durchgehend dominant. Der Vorrang des teleologischen Auslegungskriteriums innerhalb des klassischen Auslegungskanons entspricht zwar nach Kudlich und Christensen dem Bild von der teleologischen Auslegung als „Krone der Auslegung“, sie mag

178 179 180 181 182 183 184

Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda. Ebenda, S. Ebenda. Ebenda.

24. 25. 29. 27.

84

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

jedoch auf dem Gebiet des Strafrechts zumindest auf den ersten Blick befremdlich erscheinen.185 Ferner hat diese Untersuchung ergeben, dass die „grundrechtsorientierte Auslegung“ 186 in den Bänden 49 und 50 „zu einem der wichtigsten Argumente“ aufgestiegen ist, obwohl sie in den Bänden 1 und 2 noch keine nennenswerte Rolle gespielt hat.187 Die Ursache dieser Wandlung kann darin gesehen werden, dass „die Neigung zur Einbeziehung des Grundgesetzes in die Argumentation bei einer Richtergeneration größer sein wird, die mit dem Gesetz ,juristisch sozialisiert‘ worden ist, d. h. mit dem Grundgesetz seit Beginn ihres Studiums vertraut war.“ 188 Zum anderen weisen Kudlich und Christensen darauf hin, dass der BGH die Grundrechte erst in den Bänden 49 und 50 sinnvoll heranziehen konnte, weil sie durch die Rechtsprechung des BVerfG bis dahin schon eine bestimmte Prägung erhielten, was in den fünfziger Jahren noch nicht der Fall war. Daher kann auch die Feststellung nicht überraschen, dass die Zahl der Bezugnahmen auf die Rechtsprechung des BVerfG in den Bänden 49 und 50 im Vergleich zu den Bänden 1 und 2 angestiegen ist.189 Außerdem hat diese Untersuchung gezeigt, dass der BGH nicht nur klassische Auslegungskriterien anwendet, sondern sich auch auf „Realelemente“ beruft. Darunter verstehen die Verfasser solche Überlegungen, die nicht Sprachwissen, sondern Weltwissen mobilisieren.190 Es geht hier vor allem um Praktikabilitätsund Beweislastüberlegungen sowie Folgenbetrachtungen.191 Die größte Rolle in der Rechtsprechung des BGH spielen jedoch die Selbstund Fremdreferenzen. Die klassischen und „avantgardistischen“ Argumentationsformen werden durch diese Argumentationsform weit übertroffen.192 Die Verfasser behaupten sogar, dass die Begründungen des BGH durch den Verweis auf die Literatur und (insbesondere eigene Rechtsprechung) „beherrscht“ werde, wobei die Tendenz stark zunehmend sei.193 Bemerkenswert ist zudem, dass frühere Entscheidungen nicht herangezogen werden, wenn die herkömmlichen Auslegungsinstrumente versagt haben. Sie sollen vielmehr als Verfeinerung von grammatischer und systematischer Auslegung dienen.194 Die Verfasser haben auch fest-

185

Ebenda, S. 28. Darunter verstehen die Verfasser eine systematische Auslegung unter Berücksichtigung des Grundgesetzes. Ebenda, S. 32. 187 Ebenda. 188 Ebenda. 189 Ebenda. 190 Ebenda, S. 35. 191 Ebenda. 192 Ebenda, S. 37. 193 Ebenda, S. 38. 194 Ebenda. 186

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

85

gestellt, dass abweichende Rechtsprechung im Vergleich zur „zustimmenden“ Rechtsprechung deutlich weniger zitiert wird.195 Aus jüngster Zeit stammt die Untersuchung von Reichelt, die den teleologischen Argumenten in der Zivilrechtsprechung gewidmet wurde.196 Insbesondere hat die Verfasserin erforscht, wie der Zweck des Gesetzes in der zivilrechtlichen Auslegungspraxis des BGH ermittelt wird.197 Die Auswahl der Entscheidungen wurde mit Hilfe von BGHZ-CD-ROM des Carl Heymanns Verlags getroffen. Abschließend ausgewertet wurden insgesamt 151 Entscheidungen, die sich unter dem Schlagwort „Gesetzeszweck“ finden ließen (Teilerhebung I).198 Außerdem wurden 47 Entscheidungen analysiert, die in unterschiedlichen Konstellationen unter den Begriffen • „Zweck des Gesetzes“ oder • „Sinn“/„Zweck“/„Auslegung“/„Norm“ und • „Gesetzesauslegung“/„Sinn“/„Zweck“ gefunden wurden (Teilerhebung II).199 Beide Stichproben mussten auch die weiteren von der Verfasserin aufgestellten Kriterien erfüllen. Im Ergebnis hat die Verfasserin als „Quelle“ der Ermittlung des Gesetzeszwecks folgende Kriterien angenommen: Wortlaut, historische Quelle (Bezug auf die Vorläufer der auszulegenden Norm), genetische Quelle (Bezug auf Gesetzesmaterialien), Systematik, Rechtsprechung und Literatur. Die Untersuchung ergab zudem, dass in ca. 75% der Entscheidungen aus beiden Stichproben eine Quelle angegeben wurde, wobei in einem Drittel der Entscheidungen mehrere Quellen angegeben wurden. Als dominante Quelle der Ermittlung der Gesetzesquelle wurden die genetische Quelle und die Rechtsprechung festgestellt. In 58 Entscheidungsbegründungen aus der Teilerhebung I wurden die Gesetzesmaterialien auch neben anderen Quellen erwähnt; dies entspricht 38,4% der 151 Entscheidungen, die ausgewertet wurden, und sogar 50,9% der 114 Entscheidungen, in denen überhaupt eine Quelle genannt wurde.200 Die Verfasserin stellte auch fest, dass 20 Entscheidungen, die Gesetzesmaterialien nicht erwähnen, über den „Umweg“ des Verweises auf die Rechtsprechung zu den Gesetzesmaterialien gelangen.201 Im Ergebnis verweisen 78 Entscheidungen auf die Gesetzesmaterialien (dies entspricht 51,7% der 151 ausgewerteten Entscheidungen und 68,4% der Entscheidungen, in denen eine Quelle genannt wurde).202 Rei195

Ebenda, S. 40. M. Reichelt, Die Absicherung teleologischer Argumente in der Zivilrechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 2011. 197 Ebenda, S. 24. 198 Ebenda, S. 88. 199 Ebenda, S. 90. 200 Ebenda, S. 100. 201 Ebenda. 202 Ebenda, S. 105. 196

86

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

chelt stellt im Ergebnis fest, dass, wenn überhaupt eine Quelle genannt wird, zumeist auf die Gesetzesmaterialien verwiesen wurde. Nach ihrer Auffassung kann dieser Befund als eine klare Absage an die rein objektive Theorie innerhalb der teleologischen Auslegung betrachtet werden.203 Neben den Gesetzesmaterialien nimmt der BGH bei der Zweckbestimmung relativ oft auf die Rechtsprechung Bezug. In 34,4% der Fälle (52 Entscheidungen aus der Teilerhebung I) wurde unter anderem auf diese Quelle verwiesen.204 Dies entspricht 45,6% der 114 Entscheidungen, in denen überhaupt eine Quelle genannt wurde.205 In 32 Entscheidungen (21,19%) wurde die Literatur herangezogen.206 Am seltensten wird der Gesetzeszweck mit Hilfe der historischen Quelle (11 Entscheidungen: 7,28% der Teilerhebung I) und der Systematik (6 Entscheidungen: 3,98% der Teilerhebung I) ermittelt.207 Aus alledem, und insbesondere aus der Untersuchung von Kudlich und Christensen, geht hervor, dass die strafrechtliche Rechtsprechung des BGH eher zu einem substanziellen Modell tendiert. Dafür spricht, wie der BGH die Akzente zwischen der grammatischen, der systematischen, der genetischen und der teleologischen Auslegungsmethode setzt. Auch die Rolle von Präjudizen ist nicht zu unterschätzen.

II. Untersuchungen aus Polen Auch in der polnischen Lehre ist das Interesse an der Erforschung der Auslegungs- und Argumentationspraxis der Gerichte beachtlich. Die durchgeführten Forschungsprojekte erfassen sowohl die Rechtsprechung des OG und des Verfassungsgerichts als auch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und der Instanzgerichte. Methodisch gehen diese Untersuchungen sehr unterschiedlich vor: Einige von ihnen stellen quantitative Aspekte, andere dagegen qualitative Elemente in den Vordergrund. Teilweise wird auch versucht, beide Ansätze zu kombinieren. Aus der Zusammenstellung der Ergebnisse dieser Untersuchungen lassen sich die Konturen der in Polen maßgeblichen Auslegungs- und Argumentationskultur skizzieren. Zunächst ist eine Untersuchung zu erwähnen, die die Rechtsprechung aller Senate des OG in den Mittelpunkt gestellt hat, und zwar die von A. Municzewski, die unter dem Titel „Reguły interpretacyjne w działalnos´ci orzeczniczej Sa˛du Najwyz˙szego“ 208 im Jahre 2004 veröffentlicht wurde. Allerdings wurde in dieser 203

Ebenda. Ebenda, S. 101. 205 Ebenda. 206 Ebenda, S. 102. 207 Ebenda, S. 100 f. 208 Die deutsche Übersetzung des Titels lautet: „Auslegungsregeln in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtes.“ 204

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

87

Untersuchung auf eine systematische Inhaltsanalyse verzichtet. Im Folgenden sollen die Ergebnisse dieser Untersuchung skizziert werden. Obwohl Municzewski zu der Schlussfolgerung kommt, dass das OG bei der Anwendung der Auslegungsmethoden eher nicht konsequent ist,209 stellt er die These auf, dass sich ein Modell der Auslegungspraxis des OG aus der Analyse der einzelnen Entscheidungen rekonstruieren lasse.210 Nach diesem Modell beginnt das OG die Auslegung mit der Feststellung der Vorschriften, die einer Auslegung bedürfen.211 Dann folge die erste Phase der Auslegung, und zwar die sprachliche Auslegung. Dabei bediene sich das OG in erster Linie der Legaldefinitionen, falls sie in dem Gesetz vorkommen, aus dem die auslegungsbedürftige Vorschrift stammt.212 Ist das nicht der Fall, dann suche das OG nach einer solchen Legaldefinition in anderen Gesetzen. Finde das OG keine Definition in anderen Gesetzen, greife es zur Fachsprache, um zu prüfen, ob der Begriff in dieser Sprache definiert wurde. Auf dem Gebiet des Rechts bediene sich das OG der juristischen Literatur, die sich mit der Auslegung bestimmter Begriffe befasst hat. Falls das OG keine Definition in der Fachliteratur finde, versuche es, mit Hilfe der Sprachregeln der polnischen Sprache den Begriff zu definieren. Bei der sprachlichen Auslegung eines Begriffes berücksichtige das OG auch den Kontext und die Systematik des Gesetzes.213 Das Ergebnis der sprachlichen Auslegung wird nach Municzewski durch die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode geprüft, und zwar unabhängig davon, ob das Ergebnis eindeutig war, oder nicht. In dem ersten Fall (eindeutiges Ergebnis) hätten die systematische und funktionelle Auslegungsmethode die Funktion einer Bestätigung. Falls sie das Ergebnis der Anwendung der sprachlichen Auslegungsmethode nicht bestätigten, komme es zur Überschreitung dieses Ergebnisses, wobei das OG betone, dass dies nur dann zulässig sei, wenn dafür „das Wertsystem des Gesetzgebers“ spreche. In dem zweiten Fall (uneindeutiges Ergebnis) dienten die systematische und die funktionelle Auslegung dem Ausschluss der Bedeutungen, die untereinander konkurrieren, um zu einer richtigen Bedeutung zu gelangen.214 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung, die die strafrechtliche Rechtsprechung des OG erforschen soll, darf dieses Modell nicht außer Acht gelassen werden. Für die hier beabsichtigte Analyse der Rechtsprechung des OG in Strafsachen hat weiterhin ein Forschungsbericht aus dem 2005 215, in dem die Rechtsprechung 209 A. Municzewski, Reguły interpretacyjne w działalnos´ ci orzeczniczej Sa˛du Najwyz˙szego, 2004, S. 211. 210 Ebenda, S. 216. 211 Ebenda. 212 Ebenda. 213 Ebenda, S. 217. 214 Ebenda, S. 218. 215 D. Galligan/M. Matczak, Strategie orzekania sa˛dowego, 2005. Englische Fassung: D. Galligan/M. Matczak, Strategies of Judicial Review, 2005. Beide Berichte können

88

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

der Verwaltungsgerichte in Steuer- und Wirtschaftssachen im Vordergrund stand, eine große Bedeutung. Obwohl diese Untersuchung sich nicht auf das Strafrecht bezog, enthält sie wichtige Hinweise, die die polnische Rechtskultur charakterisieren und demzufolge auf die Rechtsprechung des OG möglicherweise übertragbar sind. Die Untersuchung stützte sich auf die Frequenzanalyse von 807 Begründungen der Urteile der Verwaltungsgerichte aus den Jahren 1999 bis 2004.216 Nach der Auffassung der Verfasser erfasste die Untersuchung die wichtigsten Entscheidungen in Wirtschaftssachen aus dem untersuchten Zeitraum.217 Die Untersuchung bediente sich der quantitativen Methode und wollte vor allem die Frage beantworten, wie oft die Verwaltungsgerichte in ihren Begründungen bestimmte Argumenttypen verwenden. Die Verfasser unterschieden folgende Argumenttypen: Standards Internal to law218, Standards External to law219, Constitutional Standards220 und Standards from European law221. Aus der Untersuchung geht ein-

unter www.sprawnepanstwo.pl abgerufen werden (letzter Zugriff: 19.5.2015). Im Folgenden wird auf die englische Fassung Bezug genommen. 216 D. Galligan/M. Matczak, Strategies of Judicial Review, 2005, S. 17. 217 Ebenda, Fußnote 31. 218 Unter diesem Begriff verstehen die Verfasser „linguistic interpretation of legal texts, staying with the literal outcome of an interpretation (ban on interpreting an unambiguous text), systemic interpretation of the law (internal and external), rational lawmaker assumption (argumentum ad absurdum), consistency of the legal system, hierarchy of the legal system (interpretation consistent with a superior act, the lex superior derogat legi inferiori rule), conflict of laws rules related to the specific/general nature of provisions of law (lex specialis derogat legi generali), the essence (nature) of the regulation, references to previous judicial decisions (divided into references to previous decisions of administrative courts, the Supreme Court and the Constitutional Tribunal, references to legal literature (commentaries, articles, opinions), other internal standards.“ D. Galligan/M. Matczak Strategies of Judicial Review, 2005, Fußnote 34. 219 Unter diesem Begriff verstehen die Verfasser „the lawmaker’s intention, aim of the regulation, function of the regulation, the ,in dubio pro libertate‘ doctrine (in the event of doubt, one should judge in favour of freedom/admissibility of activity), prevention requirements (bad man approach), public (e. g. fiscal) interests, other external standards.“ D. Galligan/M. Matczak, Strategies of Judicial Review, 2005, Fußnote 36. 220 Zu diesen Standards schreiben die Verfasser: „In the table we used to note references to specific standards, each constitutional reference was noted, both a reference to the Constitution as a whole (e. g. where a judge referred to constitutional rights and freedoms without going into details) and to its specific provisions. By way of illustration, before starting the research, the table showed the following constitutional standards: interpretation consistent with the Constitution, proportionality principle, equality principle, protection of going concern, freedom of business, freedom of commercial speech, direct application of the Constitution, other constitutional standards.“ D. Galligan/M. Matczak Strategies of Judicial Review, 2005, Fußnote 39. 221 Zu diesen Standards schreiben die Verfasser: „(. . .) in the table we listed each reference to Community law, both specific acts and principles of Community law, or at least to the idea of European integration in general. By way of illustration, before the research was started, the table showed the following Community standards: interpreta-

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

89

deutig hervor, welche Argumenttypen die Verwaltungsgerichte in Polen bevorzugen. Die folgende Tabelle zeigt die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung. Tabelle 2 Argumenttypen in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in den Jahren 1999 bis 2004 Standards Internal to law

Standards External to law

Constitutional Standards

Standards from European law

2.427

267

201

25

83%

9%

7%

1%

Quelle: D. Galligan/M. Matczak, Strategies of Judicial Review, 2005, S. 23.

Die Verfasser der Untersuchung interpretierten die obigen Daten wie folgt: „The empirical results show that (i) judges relatively rarely justify their decisions by referring to general principles of law, including constitutional and Community law principles, and (ii) judges only occasionally justify their decisions by referring to standards outside the law, such as the social aim of a law, other of its functions or the specifics of the social and economic environment in which the parties to the proceedings operate. These trends persisted throughout the period under review. This is surprising given that the years 1999–2004 saw major changes in the legal environment, including the adoption of the Constitution and then the EU accession. We thus find that the judicial practice of Polish administrative courts closely resembles the traditional judicial model with little evidence of transition towards a principles-based model.“ 222

Aus dieser und der zuvor dargestellten Untersuchung von Municzewski geht hervor, dass in der polnischen Rechtskultur die sprachliche Auslegung eine zentrale Rolle spielt, d. h., der Text des Gesetzes steht eindeutig im Vordergrund. In dieser Hinsicht verdichten diese Untersuchungen die These, dass die polnische Rechtsprechung formalistisch orientiert ist, was Matczak sogar dazu bewog, eine kritische Studie über den Formalismus der polnischen Rechtsprechung zu schreiben.223 Bedauerlicherweise lässt sich aus diesen Untersuchungen aber nicht ableiten, welche Bedeutung diese Auslegungsmethoden für die Senate des OG in Strafsachen haben, weil sie sich nicht primär mit seiner Rechtsprechung befassen. tion consistent with Community law, the principle of non-discrimination in cross border transactions, the principle of proportionality in Community terms, other Community standards.“ D. Galligan/M. Matczak, Strategies of Judicial Review, 2005, Fußnote 40. 222 Ebenda, S. 27. 223 M. Matczak, Summa iniuria, 2007.

90

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Aus der neuesten Zeit stammt eine Untersuchung von Bogucki und Zielin´ski224, die ausgewählte Rechtsprechung des OG, des Verfassungsgerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts ab 2003 analysiert haben. Insgesamt 90 Entscheidungen wurden im Hinblick auf die gestellten Fragen ausgewählt.225 Aus dem veröffentlichten Aufsatz geht leider nicht hervor, welche Forschungsmethode (qualitative oder quantitative) die Forscher bevorzugt haben. Die Verfasser wollten insbesondere Antworten auf folgende Fragen finden: 1. Welche Rolle spielt die in der Rechtswissenschaft entwickelte Terminologie in der Rechtsprechung? 2. Welche Rolle spielen die modernen Auslegungskonzepte in der Rechtsprechung? 3. Welche Rolle spielt der Grundsatz clara non sunt interpretanda in der Rechtsprechung? 4. Welches Rangverhältnis innerhalb der einzelnen Auslegungsmethoden bevorzugt die Rechtsprechung? 5. Welche Bedeutung verleiht die Rechtsprechung der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode, wenn das Auslegungsergebnis auf der Grundlage der Verwendung der sprachlichen Auslegungsmethode nicht eindeutig ist? 6. Welche Bedeutung verleiht die Rechtsprechung der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode, wenn das Auslegungsergebnis auf der Grundlage der Verwendung der sprachlichen Auslegungsmethode eindeutig ist? 7. Welche Rolle spielt die historische Auslegung in der Rechtsprechung? 8. Welche Qualität weisen die Begründungen der Entscheidungen auf? 226 Aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung sind vor allem die Antworten auf die Fragen 3–7 relevant. Sie sollen daher im Folgenden kurz zusammengefasst werden. Im Hinblick auf die Frage 3 stellen die Verfasser fest, dass der Grundsatz clara non sunt interpretanda in der neuesten obergerichtlichen Rechtsprechung noch eine Rolle spielt, wobei die Gerichte diesen Grundsatz eher zurückhaltend verwenden.227 Ferner wurden allerdings Fälle festgestellt, in denen die Rechtsprechung das Auslegungsergebnis ausschließlich auf die sprach224 O. Bogucki/M. Zielin ´ski, Wykładnia prawa we współczesnym orzecznictwie najwyz˙szych organów sa˛downiczych, in: O. Bogucki/J. Ciapała/P. Mijal (Hrsg.), Standardy konstytucyjne a problemy władzy sa˛downiczej i samorza˛du terytorialnego, 2008, S. 29 ff. 225 Ebenda, S. 30. 226 Ebenda, S. 29 f. 227 Ebenda, S. 34.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

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liche Auslegungsmethode stützt, ohne die systematische oder die funktionelle Auslegungsmethode zu verwenden. Zusammenfassend stellen die Verfasser fest, dass der Grundsatz clara non sunt interpretanda in der Rechtsprechung verhältnismäßig selten zur Anwendung kommt. Was das Rangverhältnis innerhalb der einzelnen Auslegungsmethoden (Frage 4) betrifft, so konstatieren die Verfasser, dass die Rechtsprechung die sprachliche Auslegungsmethode im ersten Argumentationsschritt verwendet.228 Es gibt aber auch Entscheidungen, in denen die Gerichte sofort zu der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode gegriffen haben, was aus der Sicht der Verfasser kritisch zu bewerten ist.229 In Bezug auf die Frage 5 würdigen die Verfasser die Praxis der Gerichte, die stets die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode verwenden, wenn das Auslegungsergebnis auf der Grundlage der sprachlichen Auslegungsmethode nicht eindeutig ist.230 Falls das Auslegungsergebnis eindeutig ist (Frage 6), verfährt die Rechtsprechung uneinheitlich.231 In einigen Fällen greift sie zu der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode, um das Auslegungsergebnis zu stützen. In anderen Fällen schließt sie den Auslegungsprozess auf der Etappe der Verwendung der sprachlichen Auslegungsmethode ab (clara non sunt interpretanda), wobei diese Vorgehensweise nach der Einschätzung von Bogucki und Zielin´ski nicht übermäßig häufig vorkommt.232 In den analysierten Entscheidungen wurde auch die Verwendung der historischen Auslegungsmethode festgestellt (Frage 7). Die Verfasser unterscheiden dabei in der Rechtsprechung zwischen der historischen Auslegungsmethode, die sich auf den Prozess der Entstehung eines Gesetzes bezieht, und der historischen Auslegungsmethode, die die Entwicklung eines Rechtsinstitutes im Laufe der Zeit zeigt.233 Nach der Einschätzung von Bogucki und Zielin´ski scheint die zweite Variante in der Praxis mehr Bedeutung zu haben.234 Die letzte Frage betrifft die Problematik der Qualität der Begründungen (Frage 8). Hier stellen die Verfasser eine Reihe von Begründungen fest, in denen die Gerichte sowohl Argumente für als auch gegen eine bestimmte Lösung angeführt haben, was die Vermutung nahe legt, dass die Gerichte eher diskursiv vorgehen.235

228 229 230 231 232 233 234 235

Ebenda, S. Ebenda. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda.

36. 38. 40. 42. 43 ff. 48.

92

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Weiterhin ist auf die Untersuchung von Stawecki, Stas´kiewicz und Winczorek236 einzugehen. Im Mittelpunkt dieses Forschungsprojekts steht der Einfluss des polnischen Verfassungsgerichts auf die polnische Rechtsordnung. Die Forscher beabsichtigen auch festzustellen, welcher Einfluss das Verfassungsgericht auf die Rechtsprechung des OG und der Verwaltungsgerichte ausübt. In diesem Kontext braucht man nicht zu betonen, dass dieser Aspekt für die vorliegende Untersuchung von erheblicher Bedeutung ist. Um den Einfluss des Verfassungsgerichts auf das OG und die Verwaltungsgerichte zu beurteilen, haben die Forscher auch die Frage gestellt, ob das Verfassungsgericht im Vergleich zum OG und zu den Verwaltungsgerichten gleiche Auslegungsmethoden bei der Lösung derselben Auslegungsprobleme verwendet. Die Untersuchung wollte auch der Frage nachgehen, ob das Verfassungsgericht im Vergleich zum OG und zu den Verwaltungsgerichten bei der Auslegung der Vorschriften die Zwecke und die Motive (policies) berücksichtigt, die hinter den erlassenen Vorschriften stehen. Schließlich stellten sich die Forscher die Aufgabe herauszufinden, wie oft das Verfassungsgericht im Vergleich zum OG und zu den Verwaltungsgerichten die Vorschriften als Regel oder als Prinzipien behandelt. Um die Ergebnisse dieser Untersuchung möglichst präzise auf den Kontext der vorliegenden Untersuchung beziehen zu können, werden im weiteren Teil dieses Abschnittes nur diejenigen Ergebnisse präsentiert, die sich vor allem mit der Rechtsprechung des OG befassen. Methodisch sind die Forscher quantitativ vorgegangen. Sie haben dabei nur diejenigen Entscheidungen analysiert, in denen sowohl das Verfassungsgericht als auch das OG dieselben Vorschriften ausgelegt haben. Die Forschungsgruppe hat insgesamt 228 Entscheidungen des Verfassungsgerichts und 491 Entscheidungen des OG und der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die ab dem Jahre 1997 erlassen wurden, untersucht.237 Aus diesen Entscheidungen wurden jedoch nur diejenigen Teile in die Analyse einbezogen, die sich mit der Auslegungsproblematik beschäftigen. Diese Analyseeinheiten wurden von den Forschern als „These“ bezeichnet.238 Bei der Erörterung der gestellten Fragen haben die Forscher eine wichtige Unterscheidung zwischen den analysierten Vorschriften vorgenommen. Sie haben nämlich gesondert jene Vorschriften untersucht, die als Grundlage der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit239 dienen (im Folgenden: Gruppe A), und solche Vor-

236 T. Stawecki/W. Stas´kiewicz/J. Winczorek, Mie ˛dzy policentrycznos´cia˛ a fragmentaryzacja˛, 2008. 237 Ebenda, S. 15. 238 Ebenda, S. 14. 239 Es geht hier um die Vorschriften des Grundgesetzes, der internationalen Übereinkommen und der einfachen Gesetze, die als Grundlage für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit gelten können.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

93

schriften, die als Gegenstand der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit240 gelten (im Folgenden: Gruppe B). Diese Unterscheidung erweist sich als sinnvoll, weil sowohl das Verfassungsgericht als auch das OG in ihrer Praxis beide Arten der Vorschriften auslegen und sich in dieser Hinsicht, wie gezeigt wird, erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Gerichten feststellen lassen. Aus der behandelten Untersuchung geht hervor, dass das OG bei der Auslegung der Vorschriften aus der Gruppe A (vor allem Verfassung) die systematische (31% der Thesen) und die funktionelle Auslegungsmethode (26% der Thesen) bevorzugt. Die sprachliche Auslegungsmethode wurde nur in 23% der Thesen festgestellt.241 Aus diesen Daten ziehen die Forscher die Schlussfolgerung, dass das OG die Verfassung grundsätzlich mehrdimensional auslegt.242 Ein anderes Ergebnis erbrachte die Untersuchung der Vorschriften aus der Gruppe B (vor allem einfache Gesetze). Hier dominierte bei der Auslegung deutlich die systematische Auslegungsmethode, die in 60% aller Thesen festgestellt wurde.243 Auf dem zweiten Platz findet sich die funktionelle Auslegungsmethode (45% aller Thesen) und der letzte Platz wird von der sprachlichen Auslegungsmethode (33% aller Thesen) eingenommen.244 Auch in diesem Bereich liegt keine methodische Kohärenz mit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts vor. In dieser Untersuchung wurde auch auf die Frage eingegangen, wie oft das OG bei der Auslegung der Vorschriften die Zwecke und die Motive berücksichtigt, die hinter den erlassenen Vorschriften stehen (policies). Die Forscher stellten eindeutig fest, dass eine solche Vorgehensweise in der Praxis des OG sehr selten vorkommt. Leider werden dazu keine konkreten Daten angegeben. Dieses Phänomen zeugt nach Stawecki, Stas´kiewicz und Winczorek davon, dass nach der Auffassung des OG für die Gerichte vor allem das Gesetz maßgebend ist und nicht teleologische Aspekte bzw. die Effektivität des Rechts.245 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurden oben zunächst nur die Ergebnisse der Untersuchung in Hinblick auf die Rechtsprechung des OG dargestellt. Im Folgenden werden die Schlussfolgerungen skizziert, die auch einen Bezug zu der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und der Verwaltungsgerichte aufweisen, um die Beziehung zwischen diesen Gerichten und dem OG deutlich zu machen.

240 Unter dieser Kategorie verstehen die Verfasser vor allem einfache Gesetze und untergesetzliche Regelungen, z. B. Verordnungen. 241 T. Stawecki/W. Stas´kiewicz/J. Winczorek, Mie ˛dzy policentrycznos´cia˛ a fragmentaryzacja˛, 2008, S. 54. 242 Ebenda. Dabei stellen sie fest, dass das Verfassungsgericht bei dieser Gruppe von Vorschriften anders vorgeht. Darauf wird später noch näher einzugehen sein. 243 Ebenda, S. 55. 244 Ebenda. 245 Ebenda.

94

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Die Forscher bestätigen im Ergebnis die Auffassung von Łe˛towska, die die These aufgestellt hat, dass die polnische Rechtsordnung „multizentrisch“ sei, d. h., das Verfassungsgericht übt einen geringen Einfluss auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und des OG aus, soweit es sich um die Auslegung von Vorschriften handelt.246 Diese Hypothese bekräftigt auch der Umstand, dass das Verfassungsgericht bei Auslegungsproblemen vor allem Bezug auf die eigene Rechtsprechung nimmt, während das OG die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts in seinen Entscheidungsbegründungen nur in geringem Ausmaß berücksichtigt.247 Auch dann, wenn das OG dieselben Vorschriften wie das Verfassungsgericht auslegt, nimmt es auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nur sehr selten Bezug und, wenn dies einmal der Fall ist, dann werden diese Bezüge laut den Verfassern der Untersuchung eher nicht „vertieft“.248 Daraus folgern Stawecki, Stas´kiewicz und Winczorek, dass jedes der untersuchten Gerichte eine eigene Rechtsprechung entwickelt, was auf eine mangelnde Kommunikation zwischen diesen Gerichten hindeutet. Schließlich stellen die Forscher fest, dass sowohl das Verfassungsgericht als auch das OG durch die Bevorzugung der systematischen und der sprachlichen Auslegungsmethode ihre Auslegungsmacht bewusst einschränken und demzufolge einem Modell eine Absage erteilt haben, in dem sie an der Gestaltung der Rechtsordnung mit dem Gesetzgeber aktiv zusammenwirken.249 Als ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Auslegungskultur der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung in Polen kann die Untersuchung von BielskaBrodziak250 betrachtet werden. Dieses Forschungsvorhaben stützte sich auf 311 Entscheidungen der Verwaltungsgerichte251, die im Hinblick auf ihre Thesen zu der Auslegungsproblematik ausgewählt wurden.252 Dabei konzentrierte sich die Verfasserin vor allem auf die steuerrechtliche Rechtsprechung. Besonders erwähnenswert ist derjenige Abschnitt der Untersuchung von Bielska-Brodziak, in dem die Verfasserin den Versuch unternommen hat, das Rangverhältnis innerhalb der von den Verwaltungsgerichten verwendeten Auslegungsmethoden festzustellen. Auf der Grundlage von 106 Entscheidungen stellt sie fest, dass in 54 Entscheidungen die systematische Auslegungsmethode für das Ergebnis entscheidend ist.253 Das ist diejenige Methode, die die Verwaltungsge246

Ebenda, S. 59. Ebenda. 248 Ebenda. 249 Ebenda, S. 60. 250 A. Bielska-Brodziak, Interpretacja tekstu prawnego na podstawie orzecznictwa podatkowego, 2009. 251 Naczelny Sa˛d Administracyjny und wojewódzkie sa˛dy administracyjne. 252 A. Bielska-Brodziak, Interpretacja tekstu prawnego na podstawie orzecznictwa podatkowego, 2009, S. 17. 253 Ebenda, S. 209 f. 247

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

95

richte am häufigsten verwenden. (In dieser Hinsicht stimmt der Befund mit dem Ergebnis der vorangehenden Untersuchung von Stawecki, Stas´kiewicz und Winczorek überein, die auch in der Rechtsprechung des OG eine Dominanz der systematischen Auslegungsmethode festgestellt haben.) In 15 Entscheidungen stützten sich die Verwaltungsgerichte vor allem auf die sprachliche Auslegungsmethode. Die teleologische Methode spielt eine entscheidende Rolle lediglich in 14 Fällen. In 5 Entscheidungen gilt als wichtigstes Auslegungskriterium der Indubio-pro-tributario-Grundsatz.254 Innerhalb der systematischen Auslegungsmethode beziehen sich die Verwaltungsgerichte am häufigsten auf andere Vorschriften in dem Gesetz, in dem sich der auslegungsbedürftige Begriff befindet (23 Entscheidungen). In 14 Fällen spielt die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung eine entscheidende Rolle. Andere Gesetze entscheiden über das Ergebnis innerhalb der systematischen Auslegungsmethode in 8 Fällen. Die Verfassung ist für die Verwaltungsgerichte in 9 Fällen maßgebend.255 Bielska-Brodziak hat in ihrer Untersuchung darüber hinaus wichtige terminologische Feststellungen getroffen, die auch für die vorliegende Untersuchung hilfreich sind. Sie stellte z. B. fest, dass die Verwaltungsgerichte zwischen dem Begriff der funktionellen Auslegungsmethode (wykładnia funkcjonalna) und dem Begriff der teleologischen Auslegungsmethode (wykładnia celowos´ciowa) eher nicht differenzieren und beide Begriffe austauschbar verwenden.256 Eine besondere Beachtung in der vorliegenden Untersuchung verdient auch die Arbeit von Wyrembak257, die sich im Gegensatz zu den vorangehend genannten Untersuchungen ausschließlich mit der strafrechtlichen Rechtsprechung des OG beschäftigt. Ein Vorzug dieser Untersuchung liegt auch darin, dass der Verfasser die Stellung und die Bedeutung der sprachlichen Auslegungsmethode in der strafrechtlichen Rechtsprechung des OG untersucht hat. Der Gegenstand der Untersuchung beschränkt sich allerdings auf die Beschlüsse (Uchwały) des OG, in denen sich das OG mit den von den Rechtsmittelgerichten gestellten Auslegungsproblemen beschäftigt hat, die einer grundlegenden Auslegung bedürfen (siehe dazu Anhang B Pkt. 2.). Ferner wurden aus dieser Kategorie nur diejenigen Beschlüsse analysiert, in denen das OG die Tatbestandsmerkmale eines Delikts ausgelegt hat.258 Insgesamt wurden in diesem Projekt 90 Beschlüsse259 des OG untersucht, die vom 31.12.1989 bis zum 1.1.2008 erlassen wurden.260 254 255 256 257 258 259 260

Ebenda, S. 210. Ebenda. Ebenda, S. 126. J. Wyrembak, Zasadnicza wykładnia znamion przeste˛pstw, 2009. Die Übertretungen wurden nicht berücksichtigt. J. Wyrembak, Zasadnicza wykładnia znamion przeste˛pstw, 2009, S. 267. Ebenda, S. 240.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Wyrembak lässt sich von der Theorie von Wróblewski inspirieren261 (siehe dazu Teil 1 Pkt. F. II. 1.), nach der der sprachlichen Auslegungsmethode eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Auf der Grundlage dieser Theorie wurden die Hypothesen formuliert, die im Rahmen der empirischen Analyse überprüft worden sind. Die Untersuchung hat einen quantitativen Charakter, aber es sind auch qualitative Elemente vorhanden. Im Folgenden werden nur diejenigen Ergebnisse der Untersuchung dargestellt, die auch mit den in der vorliegenden Untersuchung formulierten Fragen im Zusammenhang stehen. Nach der von Wróblewski entwickelten Methodenlehre ist die Auslegung nur dann zulässig, wenn die Bedeutung einer Vorschrift zweifelhaft ist: lex non clara est. Falls die Bedeutung einer Vorschrift dagegen eindeutig ist, kommt nur ein unmittelbares Verständnis in Betracht. Die Untersuchung von Wyrembak hat gezeigt, dass das OG lediglich in 23 Beschlüssen (25,6% aller analysierten Entscheidungen) auf Bedenken hinsichtlich der Bedeutung der Vorschrift hingewiesen hat.262 Das bedeutet, dass das OG den Prozess der Auslegung in sämtlichen Fällen durchgeführt hat, ohne ausdrücklich auf die Bedenken hinsichtlich der Bedeutung einer Vorschrift einzugehen. Ferner sollen nach dem Konzept von Wróblewski bei der Auslegung einer mehrdeutigen Vorschrift zunächst die sprachlichen Direktiven der Auslegung zur Anwendung kommen. Die behandelte Untersuchung ergab, dass das OG eine solche Vorgehensweise nur in 13 Beschlüssen (14,4%) praktiziert hat.263 Nach der Auffassung von Wyrembak kann man die geringe Anzahl der Entscheidungen in diesem Bereich auf zweierlei Weise erklären. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass weder das Konzept von Wróblewski noch die Rechtstheorie der sprachlichen Auslegungsmethode einen absoluten Vorrang einräumt. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass das analysierte Material ausschließlich Vorschriften betrifft, die die Tatbestandsmerkmale einer Straftat bestimmen. Diese Vorschriften beinhalten sehr oft Generalklauseln bzw. wertende Tatbestandsmerkmale etc., die sich auf der Grundlage der sprachlichen Auslegungsmethode eher nicht näher konkretisieren lassen.264 Daher kann es nicht überraschen, dass die sprachlichen Direktiven der Auslegung in diesem Bereich eher selten in Anspruch genommen werden. Weiterhin fordert Wróblewski in seiner Methodenlehre, dass in jedem Auslegungsprozess das Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode dargestellt werden soll. Diese Forderung hat das OG nach der Auffassung von Wyrembak lediglich in 13 Urteilen (14,4% aller Entscheidungen) erfüllt. Außerdem wurde fest261

Ebenda, S. 250. Ebenda, S. 269. 263 Ebenda. Außerdem wurde festgestellt, dass in weiteren 13 Beschlüssen die sprachliche Auslegungsmethode zur Anwendung kam. 264 Ebenda, S. 293. 262

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

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gestellt, dass das OG in keinem Fall begründet hat, warum es von der Anwendung der sprachlichen Auslegungsmethode abgesehen hat, was Wróblewski in seiner Lehre ebenfalls fordert.265 Zusammenfassend stellte Wyrembak fest, dass die sprachliche Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des OG „deutlich“ ist, obwohl die statistische Analyse eine solche Schlussfolgerung eher nicht nahelegt. Wenn die sprachliche Auslegungsmethode zur Anwendung kommt, dann fast immer nach der von Wróblewski entwickelten Methodenlehre. Diese Behauptung betont die Bedeutung dieser Lehre in der polnischen Auslegungskultur. Außerdem stimmt Wyrembak mit der Auffassung von Stawecki266 überein, dass die Rechtsprechung des OG von einem epistemo-technischen Modell zu einem rhetorisch-topischen Modell tendiert.267 Fasst man den Überblick über die bisher vorgestellten Untersuchungen zusammen, so lässt sich feststellen, dass alle erwähnten Forschungsprojekte die besondere Rolle der sprachlichen und der systematischen Auslegungsmethode in der polnischen Rechtskultur hervorheben. Zwar genießen sie im Auslegungsprozess keinen absoluten Vorrang, aber sie sind Ausgangspunkt der Argumentation und Auslegung und üben auf diese Weise einen erheblichen Einfluss auf das gesamte Auslegungsergebnis aus. Keine der genannten Untersuchungen ist dagegen zu der Schlussfolgerung gekommen, dass die funktionelle Auslegungsmethode in der Rechtsprechung der polnischen Gerichte eine fundamentale Rolle spielt, was die Hypothese erhärtet, dass die polnische Auslegungskultur in dieser Hinsicht formalistisch ist. Im Gegensatz zu den Untersuchungen, die in Deutschland durchgeführt wurden (insbesondere die Untersuchung von Kudlich und Christensen), haben die in Polen durchgeführten Forschungsprojekte auch nicht gezeigt, dass das Richterrecht und die verfassungsrechtliche Argumentation eine besondere Rolle in der Rechtsprechung des OG spielen. Im Gegenteil legt die Untersuchung von Stawecki, Stas´kiewicz und Winczorek den Gedanken nahe, dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und des OG sich eher unabhängig voneinander entwickeln. Somit sind starke Tendenzen der polnischen Rechtsprechung in die Richtung einer formalistischen Kultur schwerlich zu leugnen.

III. Rechtsvergleichende Untersuchungen Der Nachteil von lediglich nationalen Untersuchungen liegt darin, dass sie in den nationalen Kategorien durchgeführt werden und keine rechtsvergleichenden Maßstäbe liefern, die die Unterschiede zwischen beiden Nachbarländern zeigen 265

Ebenda, S. 269. J. Stawecki, Interpretacja prawa w orzecznictwie Sa˛du Najwyz˙szego, in: J. Stelmach (Hrsg.), Filozofia prawa wobec globalizmu, 2003, S. 105. 267 J. Wyrembak, Zasadnicza wykładnia znamion przeste˛pstw, 2009, S. 312. 266

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

würden. Sie charakterisieren lediglich die nationale Argumentations- und Auslegungskultur und lassen deshalb keine rechtsvergleichenden Schlussfolgerungen zu. Diesen Mangel versuchen die internationalrechtlichen Untersuchungen zu beheben, in denen die Auslegungskulturen mehrerer Länder miteinander verglichen werden. Bisher wurde allerdings weder in Polen noch in Deutschland eine Untersuchung durchgeführt, die sich ausschließlich auf die Argumentations- oder Auslegungspraxis beider Länder konzentriert. Dies ist angesichts der methodischen Schwierigkeiten verständlich, lässt jedoch einen wichtigen Bereich des Rechtsvergleichs unbeachtet. Wie wichtig dieser Punkt allerdings für die Rechtsvergleichung ist, lässt sich den nachfolgenden Untersuchungen entnehmen, die auch auf die Praxis Bezug nehmen. In erster Linie ist dabei das monumentale fünfbändige Werk von W. Fikentscher zu nennen, das unter dem Titel „Methodenlehre des Rechts in vergleichender Darstellung“ veröffentlicht wurde. Im ersten Band werden die Methoden des Rechts aus einer historisch-vergleichenden Perspektive dargestellt.268 Der zweite Band ist dem anglo-amerikanischen Rechtskreis gewidmet.269 Im dritten Band konzentriert sich der Verfasser auf den mitteleuropäischen Rechtskreis, wobei die Rechtsordnungen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs im Vordergrund stehen.270 Im vierten Band setzt sich Fikentscher mit den dogmatischen Problemen auseinander.271 (Der letzte Band beinhaltet das Inhaltsverzeichnis, das Abkürzungsverzeichnis und die Nachträge.272) Weiterhin ist auch eine internationale Untersuchung von MacCormick und Summers hervorzuheben.273 In diesem Projekt haben Wissenschaftler aus neun Staaten274 den gleichen Katalog von Fragen zur Auslegungsproblematik beantwortet, wobei die Auslegungspraxis der jeweils obersten Gerichte im Vordergrund stand. Der Vorzug dieser Untersuchung liegt darin, dass sie viele Rechtssysteme berücksichtigt; der Nachteil besteht darin, dass sie auf einem hohen Abstraktionsniveau durchgeführt werden musste, so dass viele Einzelheiten der Rechtssysteme unberücksichtigt blieben. An dieser Untersuchung nahmen auch Wissenschaftler aus Deutschland und Polen teil und es ist für die vorliegende 268 W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band 1: Frühe und religiöse Rechte. Romanischer Rechtskreis, 1975. 269 W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band 2: Anglo-Amerikanischer Rechtskreis, 1975. 270 W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band 3: Mitteleuropäischer Rechtskreis, 1976, S. 3. 271 W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band 4: Dogmatischer Teil, 1977. 272 W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band 5: Nachträge-Register, 1977. 273 D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, 1991. 274 Argentinien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, Polen, Schweden, Großbritannien und den USA.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen

99

Untersuchung von besonderem Interesse, wie sie die Auslegungspraxis des jeweiligen Landes charakterisieren. Deshalb sei im Folgenden ein Teil des Abschnittes über die Eigenschaften der Rechtskultur des jeweiligen Landes wiedergegeben werden – zunächst ein Teil des deutschen Berichtes. Alexy und Dreier schreiben: „In general, the German legal culture is substantive and value-oriented to a significant degree. Its basic values are (. . .) defined by the constitution. However the German legal culture also is to a high degree characterized by the systematizing achievements of writings of legal dogmatics, and in this sense it has a pervasive formal feature. Both aspects have partly conflicting, partly complementary influence on statutory interpretation and gap-filling. Moreover there is, in practice as well as in theory, a fundamental conflict between two conceptions of legal argumentation which may be termed ,constitutionalist‘ and ,legalist‘. Constitutionalism emphasizes the value content of the constitution and intends to realize it through the judiciary, in cases of doubt even against the legislature. Legalism emphasizes parliamentary sovereignty and restrains the extent of judicial power. In terms of legal theory, this conflict is manifest in the dichotomies of rule vs. value or principle and of subsumption vs. weighing (. . .).“ 275

Demgegenüber charakterisiert Wróblewski die polnische Rechtskultur wie folgt: „By ,formalism‘ one may understand a stress on arguments of the linguistic and systemic types, linked with a commitment to the idea that interpretation ought to stick to determination of meaning and hold back from judicial creativity. Thus understood, it describes well the general climate of justification of operative interpretational decision in Poland. (. . .) But this formalism is upheld only so long as the pressure of functional arguments is not too strong.“ 276

Die Unterschiede sind eindeutig. Während Alexy und Dreier die Wertorientierung in der deutschen Rechtskultur betonen, hebt Wróblewski die Bedeutung der sprachlichen Argumente (Formalismus) in der polnischen Rechtskultur hervor. Dabei ist zu beachten, dass die Feststellung von Wróblewski mit dem Befund von Galligan und Matczak (siehe oben Punkt II.) übereinstimmt, die ebenfalls ein Übergewicht der sprachlichen Argumenttypen in der Rechtsprechung der polnischen Verwaltungsgerichte festgestellt haben. Interessant sind auch die Schlussfolgerungen, die Summers und Taruffo in dem rechtsvergleichenden Teil der Arbeit gezogen haben. Die erste Hauptthese lautet: „Our first main thesis is ,universalist‘ in tenor. This thesis is that basic features of justificatory practice appearing in the published opinions of the higher courts in the nine countries within our study share important similarities. These similarities con275 R. Alexy/R. Dreier, Statutory Interpretation in the Federal Republic of Germany, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, 1991, S. 117. 276 J. Wróblewski, Statutory Interpretation in Poland, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, 1991, S. 305.

100

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

sist of: (1) a set of major types of arguments that figure in the opinions; (2) the materials incorporated into the content of such of arguments; (3) the main patterns of justification involved; (4) the modes of settling conflicts between types of arguments; and (5) the role of precedents interpreting statutes.“ 277

Die zweite Hauptthese lautet: „But we have also found significant differences, too. Our second main thesis is that these differences appear to be rational explicable. At the least, we think they are consistent with the hypothesis that they are both explained by and rationally grounded in such factors as: difference of political theory, for example with regard to the relative roles of courts and legislatures; differences of institutional structure; differences of conceptual framework; and differences of personnel (including training and background).“ 278

Ein Verdienst dieser Untersuchung kann zudem auch darin gesehen werden, dass sie einen Katalog der wichtigsten Argumente zusammengestellt hat, die von den obersten Gerichten der untersuchten Länder verwendet werden. Die Verfasser der rechtsvergleichenden Analyse unterscheiden die folgenden 11 Argumenttypen: „1. Arguments from a standard ordinary meaning of ordinary words used in the specific section of the statutory text being interpreted. 2. Arguments from standard technical meaning of ordinary words or of technical words, legal or not-legal. 3. Contextual-harmonization arguments. 4. Arguments invoking precedents already interpreting the statute at hand. 5. Arguments based on statutory analogies. 6. Arguments of a logical-conceptual type in which implications are drawn from recognized general legal concepts. 7. Arguments appealing to general legal principles potentially or actually operative within field in which the interpretational issue arises. 8. Arguments from any special history of the reception and evolution of the statute. 9. Arguments from statutory purpose to the effect that a given possible meaning of the statute best serves that purpose. 10. Arguments consisting of substantive reasons the weight or force of which is not essentially dependent on any authoritativeness that the reason may also have. 11. Arguments to the effect that the legislature intended that the words have a given meaning.“ 279 277 R. S. Summers/M. Taruffo, Interpretation and Comparative Analysis, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, 1991, S. 462. 278 Ebenda, S. 463.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen 101

MacCormick und Summers haben noch eine andere wichtige Untersuchung veröffentlicht, die speziell den Präjudizen gewidmet wurde.280 Auch an diesem Projekt haben Wissenschaftler aus Deutschland und Polen teilgenommen, so dass uns die entsprechenden Berichte zur Verfügung stehen. Für die vorliegende Untersuchung ist dabei von besonderem Interesse, wie die Wissenschaftler aus beiden Ländern den Stil der Entscheidungen des jeweiligen Landes charakterisiert haben. Zunächst soll ein Abschnitt des polnischen Berichtes zitiert werden. Morawski und Zirk-Sadowski schreiben: „Making a general evaluation of the way of justifying judicial decisions in Poland, we may formulate the thesis that the prevailing style of opinions is deductive, legalistic and magisterial in style. The domination of the deductive style over the discursive one is quite visible in judicial decisions of SC (Oberstes Gericht – Übersetzung vom Verfasser) and SAC (Oberstes Verwaltungsgericht – Übersetzung vom Verfasser). These courts first of all present their point of view and give the reason for it by referring to the content of legal rules. The domination of arguments pro over arguments contra is one of the characteristic features of this style. The court submits arguments confirming its thesis in the first place and pays less attention to analysing arguments which could shake it. The discursive and polemic elements are manifested in the strongest way in those fragments of the justification of the decision in which the court criticizes the position of a lower court or arguments of the defeated party.“ 281

Und weiter heißt es: „In the justifications of all the courts, the domination of the legalistic style over the substantive one is clear. The reasons are formulated in professional legal language, and legal arguments predominate in them. (. . .) However, it would be misleading to say that courts formulate their reason only on the basis of legal arguments and give up substantive arguments. Referring to ethical and to economic reason, and to the rules of rationality or social consequences, is a popular practice in the jurisdiction of Polish courts.“ 282

Und schließlich: „The tendency to regard judicial decisions rather as the only correct solution than as the choice of the best alternative is also clearly visible, which seems to be connected with the domination of the deductive style over the discursive in the jurisdiction of Polish courts. This attitude also finds its justification in the ideology of the rule of law, accepted in Poland, which seems to assume that the law should give only one correct answer for every situation.“ 283

279

Ebenda, S. 464 f. D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents, 1997. 281 L. Morawski/M. Zirk-Sadowski, Precedent in Poland, in: D. N. MacCormick/ R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents, 1997, S. 225. 282 Ebenda. 283 Ebenda, S. 226. 280

102

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Demgegenüber charakterisieren Alexy und Dreier den Stil der deutschen Entscheidungen wie folgt: „The style of German courts is in principle deductive, legalistic and magisterial, but at the same time to a high degree discursive, substantive and argumentative. All in all, it is somewhere in the middle between the polarities mentioned. The style is deductive, legalistic and magisterial insofar as it is duty of the courts to apply statutes in case there are any which can be applied. The style becomes more discursive, substantive and argumentative the more problems exist in interpreting the law. It is one of the main tasks of higher and highest courts to solve interpretational questions. Therefore the style of the highest courts is rather discursive, substantive and argumentative. It has all these characteristics, the more controversial the question to be decided.“ 284

Selbstverständlich lassen sich aus der Zusammenstellung dieser beiden Berichte keine weitgehenden rechtsvergleichenden Schlussfolgerungen ziehen, denn die Verfasser haben ihre Aussagen auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau formuliert. Diese Feststellungen legen jedoch den Gedanken nahe, dass in der deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung im Gegensatz zur Rechtsprechung der polnischen höchsten Gerichte der „diskursive, substantielle und argumentative Stil“ überwiegt. Weiterhin ist eine zweibändige umfangreiche Untersuchung von Vogenauer aus dem Jahre 2001 zu nennen, der die Auslegungspraxis der deutschen, der französischen und der englischen Gerichte miteinander verglichen hat.285 Dabei wurde auch die Gesetzesauslegung im Recht der Europäischen Gemeinschaft mitberücksichtigt. Dieser Untersuchung lag keine systematische Inhaltsanalyse der gerichtlichen Urteile zugrunde, sondern sie beruhte vor allem auf der Zusammenstellung und dem Vergleich der Befunde zur Auslegungspraxis, die in den verglichenen Rechtsordnungen gewonnen wurden. Vogenauer wollte in seiner Untersuchung vorrangig den vier gängigen rechtsvergleichenden Thesen widersprechen, die nach seiner Ansicht in der Auslegungspraxis der untersuchten Länder keine Grundlagen finden. Zum einen wollte Vogenauer die These angreifen, wonach die Auslegungspraxis englischer und kontinentaleuropäischer Gerichte erheblich voneinander abweicht.286 Zum zweiten zweifelte er daran, dass diese Unterschiede auf den Rechtsquellendualismus in England zurückzuführen sind.287 Die dritte herkömmliche These besagt, der Übergang zur zweckorientierten These lasse sich darauf zurückführen, dass die englischen Richter die kontinentaleuropäischen Methoden nach dem Beitritt des 284 R. Alexy/R. Dreier, Precedents in the Federal Republic of Germany, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents, 1997, S. 21. 285 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1 und 2, 2001. 286 Ebenda, Band 1, S. 5. 287 Ebenda, Band 1, S. 11 f.

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen 103

Vereinigten Königreichs zur EG schrittweise übernommen hätten.288 Die vierte gängige These zur Gesetzesauslegung in England und auf dem Kontinent behauptet, die englischen Methoden seien den kontinentalen Methoden der Gesetzesauslegung unterlegen.289 Diesen Thesen stellt Vogenauer die folgenden vier rechtsvergleichenden Thesen entgegen: – die These von der fundamentalen Einheit, – die Rechtskulturthese, – die Gemeinrechtliche Rezeptionsthese und – die Gleichwertigkeitsthese. Es würde den Rahmen dieser kurzen Zusammenfassung sprengen, alle diese Thesen näher zu erläutern. Für die vorliegende Untersuchung sind aber die folgenden Befunde von besonderer Bedeutung, die deshalb hervorgehoben seien. Zunächst stellt Vogenauer fest, dass es in allen von ihm untersuchten Rechtsordnungen zu einer Abkehr von der formalistischen Rechtskultur gekommen ist. Formalistische Rechtskulturen räumten dem Wortlautkriterium besonders starkes Gewicht ein. Stärker wertbezogene Rechtskulturen würden dagegen dem hinter einer Norm liegenden Zweck und weiterführenden Zweckmäßigkeits-, Vernunftsund Gerechtigkeitserwägungen hohe Bedeutung zumessen.290 Ferner hebt Vogenauer in seiner Untersuchung hervor, dass die Gerichte fast identische Argumente verwenden. Neben dem Wortlaut, der Geschichte, dem Zusammenhang und dem Zweck der Norm tauchen überall Erwägungen der Zweckmäßigkeit, der Vernunft und der Gerechtigkeit auf.291 Ferner argumentiert Vogenauer, dass die Vorgehensweisen der englischen und der kontinentalen Gerichte bei der Gesetzesauslegung weitgehend identisch sind.292 Die Unterschiede, soweit sie auftreten, ließen sich als graduelle, nicht jedoch als prinzipielle Unterschiede bezeichnen.293 Sie seien zwischen den kontinentalen Rechtsordnungen und dem englischen Recht nicht größer als zwischen den verschiedenen kontinentalen Rechtsordnungen untereinander.294 Schließlich ist eine Untersuchung von Melin zu erwähnen, der die Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland miteinander verglichen hat.295 Diese Analyse war nicht primär auf die Auslegungspraxis beider Länder gerichtet; sie

288 289 290 291 292 293 294 295

Ebenda, Band 1, S. 13. Ebenda, Band 1, S. 14 f. Ebenda, Band 2, S. 1293. Ebenda, Band 2, S. 1295. Ebenda, Band 2, S. 1300. Ebenda, Band 2, S. 1301. Ebenda, Band 2, S. 1334. P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland, 2005.

104

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

bezog sich jedoch oftmals auf die Praxis der Gerichte, weshalb sie auch in der vorliegenden Untersuchung zu erwähnen ist. Melin stellte eine erhebliche Zahl an Unterschieden und Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Auslegungspraxis zwischen den USA und Deutschland fest. Dabei können hier nicht alle Unterschiede und Gemeinsamkeiten angesprochen werden; daher sei nur der auffälligste Unterschied hervorgehoben. Abgesehen von Unterschieden in der Art der Darstellung der Auslegungsmethoden und der begrifflichen Unterschiede kam Melin zu der wichtigen Schlussfolgerung, dass es durch den in den USA einflussreichen new textualism in jüngerer Zeit zu einer Neuorientierung in der amerikanischen Auslegungsmethode gekommen ist, die von der deutschen Vorstellung signifikant abweicht.296 „Die ,new textualists‘ propagieren eine objektiv-historische Auslegungsmethode – maßgeblicher Zeitpunkt soll die Entstehungszeit, maßgebliche Auslegungsfaktoren sollen nicht der (subjektive) Wille des historischen Gesetzgebers, sondern objektive Faktoren, nämlich insbesondere der Text des Gesetzes sein. (. . .). Konkrete methodologische Konsequenzen sind insbesondere die Betonung des Wortlauts als vorrangigem Auslegungskriterium und der Versuch, die Gesetzesmaterialien als unzulässige Auslegungsmittel zu deklarieren oder zumindest deren Zulässigkeit zu beschränken. In Deutschland dagegen wird eine objektiv historische Methode nicht vertreten, die Bedeutung des Wortlauts schätzt man weithin eher gering ein und die Gesetzesmaterialien werden uneingeschränkt als zulässige Auslegungsmittel anerkannt.“ 297

Es lohnt sich, den letzten Satz zu betonen, in dem Melin festgestellt hat, dass die Bedeutung des Wortlauts in Deutschland eher gering eingeschätzt werde. Aus der neueren Zeit stammt eine rechtsvergleichende Untersuchung von Cullmann, die den Autoritätsargumenten in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und des englischen Court of Appeal298 gewidmet wurde. Unter den Autoritätsargumenten versteht der Verfasser die Verweise auf die höchstrichterliche Rechtsprechung, auf die unteren Instanzen, auf die Rechtslehre und auf die Gesetzgebung.299 Der Verfasser hat insgesamt 20 Entscheidungen beider Gerichte verglichen, um die jeweilige Anzahl der Autoritätsargumente in den untersuchten Entscheidungen zu ermitteln.300 Ferner will der Verfasser feststellen, ob die verwendeten Argumente bestimmten Formen und Regelmäßigkeiten folgen.301 Dazu wurde ein Komplex von Fragen formuliert, anhand derer die quantitative und qualitative Urteilsanalyse durchgeführt wurde. Insbesondere hat Cullmann folgende Fragen gestellt: 296

Ebenda, S. 309. Ebenda, S. 306 f. 298 T. Cullmann, Autoritätsargumente in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und des englischen Court of Appeal, Berlin 2009. 299 Ebenda, S. 135. 300 Ebenda. 301 Ebenda. 297

E. Auslegungs- und Argumentationspraxis in vorangehenden Untersuchungen 105

– Beziehen sich das BVerwG und der Court of Appeal eher auf höchstrichterliche Rechtsprechung, oder wird in gleicher Weise auf die unteren Instanzen und die Rechtslehre zurückgegriffen? – An welchen Stellen finden sich die Autoritätsargumente? Im Mittelpunkt der Entscheidung oder an anderen Stellen? – Braucht das Gericht die Autoritätsargumente für die Lösung des Falles oder nicht, d. h., kommt den Autoritätsargumenten eine Entscheidungsfunktion zu? – Welches Vorbringen unterstützen die Autoritätsargumente, das des Klägers oder das des Beklagten?302 Im Ergebnis kommt Cullmann zu der auf den ersten Blick überraschenden Schlussfolgerung, dass beide Gerichte in ihrer Rechtsprechung in identischem Umfang auf Autoritätsargumente zurückgreifen. Wenn man jedoch die Entscheidungen des Court of Appeal um die Voten des ersten und des zweiten Richters – diese werden in den Appeal Urteilen des BVerwG nicht wiedergegeben – bereinigt, so ergibt sich, dass das BVerwG im Vergleich zum Court of Appeal in noch größerem Ausmaß Bezug auf Autoritätsargumente nimmt.

IV. Zwischenergebnis Fasst man die Befunde der dargestellten nationalen und internationalen Untersuchungen zusammen, so ist festzuhalten: • Die Befunde der polnischen Literatur zur Auslegungspraxis stärken die These, dass in der polnischen Rechtskultur die sprachlichen und die systematischen Argumente im Auslegungsprozess die primäre Rolle spielen, während in der deutschen Rechtskultur auch dem teleologischen und dem historischen Kriterium ein großes Gewicht beigemessen wird. • In der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH spielen das Richterrecht und die Rechtsprechung des BVerfG eine erhebliche Rolle; die in Polen durchgeführten Untersuchungen lassen eine entsprechende Schlussfolgerung nicht zu. • Den bisherigen Untersuchungen lässt sich allerdings nicht entnehmen, welche konkreten Unterschiede in Bezug auf die Auslegung und die Argumentation zwischen beiden Rechtsordnungen gegeben sind. Aus der Feststellung, dass die deutsche Rechtskultur wertorientiert ist (Alexy, Dreier und Vogenauer) und dass die polnische Rechtskultur eher einen formalistischen Charakter hat (Wróblewski), lässt sich noch nicht ableiten, welche konkreten Unterschiede in der Anwendung der Auslegungsmethoden und der Argumente zwischen Deutschland und Polen bestehen.

302

Ebenda.

106

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht I. Einführung Für die vorliegende Untersuchung ist es auch notwendig, die herrschenden Konzepte auf dem Gebiet der Methodenlehre in beiden Ländern einzubeziehen. Die auf dem Gebiet der Methodenlehre dominierenden Theorien können für die Ermittlung der Kategorien behilflich sein, in denen sich der Auslegungsdiskurs des BGH und des OG bewegt, wobei nicht davon ausgegangen werden kann, dass die strafrechtliche Auslegungspraxis beider Gerichte sich ausschließlich an den in der jeweiligen Methodenlehre entwickelten Kategorien und Wertungen orientiert. Inwieweit die Methodenlehre beider Länder die Auslegungspraxis der obersten Gerichte überhaupt beeinflusst, ist in beiden Ländern bisher eher unerforscht. Erste Ansätze lassen sich jedoch in der polnischen Lehre (Untersuchung von Wyrembak, siehe dazu oben Pkt. E. II.) feststellen, in der versucht wird, den Einfluss der Methodenlehre von Wróblewski auf die strafrechtliche Rechtsprechung des OG zu untersuchen. Eine ähnliche Untersuchung wurde in Deutschland im Jahre 1988 veröffentlicht (P. Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung). In beiden Ländern werden somit Untersuchungen durchgeführt, die den Einfluss der Methodenlehre auf die Rechtsprechung in den Mittelpunkt des Forschungsvorhabens stellen. Bei der Darstellung der Methodenlehre beider Länder muss jedoch ein Aspekt besonders beachtet werden. Während in Deutschland die Standardwerke zur Methodenlehre von Wissenschaftlern geschrieben wurden, die sich in ihrer beruflichen Aktivität nicht ausschließlich mit der Thematik der Rechtstheorie bzw. Rechtsphilosophie befassten, sind (waren) die einflussreichsten Methodenlehrer in Polen die Lehrstuhlinhaber für Rechtstheorie bzw. Rechtsphilosophie. Dieser Unterschied beruht auf der unterschiedlichen Struktur der juristischen Fakultäten in Deutschland und Polen. An den juristischen Fakultäten in Deutschland gibt es im Gegensatz zu Polen grundsätzlich keine Lehrstühle, denen ausschließlich die Aufgaben der Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie anvertraut wären. Diese Problematik wird vielmehr regelmäßig von den Lehrstuhlinhabern für Strafrecht, Zivilrecht und Öffentliches Recht neben ihren Hauptgebieten behandelt. Daher kann es nicht überraschen, dass die Standardwerke zur Methodenlehre in Deutschland von Verfassern geschrieben wurden, die sich zugleich mit dem Zivilrecht (z. B. K. Larenz, C.-W. Canaris, R. Wank, B. Rüthers, W. Fikentscher) oder mit dem Öffentlichen Recht (z. B. R. Alexy, R. Zippelius) oder mit dem Strafrecht (z. B. K. Engisch, Arthur Kaufmann, U. Neumann) befasst haben.303 Als Ausnahme kann das Buch „Allge303 Diese Zusammenstellung macht deutlich, dass die Zivilrechter zumindest quantitativ auf dem Gebiet der Methodenlehre im deutschen Rechtssystem dominieren.

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht

107

meine Rechtslehre“ von K. F. Röhl (Lehrstuhlinhaber für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie) betrachtet werden.304 Demgegenüber konnten sich die namhaften polnischen Methodenlehrer (z. B. L. Morawski, J. Wróblewski, Z. Ziembin´ski und M. Zielin´ski305) ausschließlich den Problemen der Rechtstheorie oder (und) der Rechtsphilosophie widmen. Welche Konsequenzen dieser Unterschied zwischen beiden Ländern für die Entwicklung der Methodenlehre hat, bedarf offenkundig einer näheren Untersuchung. Man kann jedoch die Vermutung aufstellen, dass die unterschiedlichen Konzepte, die im Rahmen der Methodenlehre in Deutschland entwickelt wurden, eine spezifische Prägung durch das Fach erfahren haben, mit dem sich der jeweilige Verfasser zugleich befasst hat. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass die erwähnten Verfasser in ihren Werken diesen Zusammenhang nicht ausdrücklich betont haben. Ihre Arbeiten erwecken im Gegenteil den Eindruck, dass ihre Konzepte die Geltung für alle Rechtsgebiete (Zivilrecht, Strafrecht und öffentliches Recht) beanspruchen. Die strafrechtliche Problematik wird jedoch in ihren Werken regelmäßig nur am Rande behandelt. Schließlich ist noch auf einen Unterschied zwischen beiden Rechtssystemen hinzuweisen. Im deutschen Rechtsdiskurs wird im Gegensatz zum Polnischen gegenwärtig eine gewisse Spannung zwischen der Methodenlehre und der Praxis betont. Nach Hassemer kann man heute keine andere Ebene der Berührung von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis feststellen, auf der noch „mit solchen Kanonen geschossen“ wird.306 So wird z. B. der obergerichtlichen Rechtsprechung Verfassungsfeindschaft wegen der Bevorzugung der objektiven Methode vorgeworfen. Diese Spannung führt zu folgendem Zustand: „(. . .) Die Wissenschaft erwartet von der Praxis methodisch nichts als spontane Dummheiten und beobachtet sie eher mit pädagogischem und sarkastischem Interesse. Die Praxis nimmt die methodologische Wissenschaft nicht zur Kenntnis; sie stellt, wenn nötig, ihre methodischen Bausteine ad hoc selber her, beruft sich, wenn es hoch kommt, auf frühere Judikate und umgeht die Theorie wie der Teufel das Weihwasser.“ 307

Ob die Diagnose von Hassemer letztlich zutreffend ist, kann in der vorliegenden Untersuchung nicht geprüft werden, denn sie verfolgt andere Ziele. Auf die Kritik der obergerichtlichen Rechtsprechung wird jedoch noch im Pkt. G. näher eingegangen. Im Folgenden sollen nun ausgewählte Teile der deutschen und der polnischen Methodenlehre dargestellt werden.

304

Der Mitautor des Buches (H. Ch. Röhl) ist jedoch Staatsrechtler. Diese Wissenschaftler haben die Fragen der Methodenlehre in den Vordergrund ihrer wissenschaftlichen Interessen gestellt. 306 W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: FS für Jung, 2007, S. 249. 307 Ebenda, S. 250 f. 305

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

II. Historische Entwicklung der Methodenlehre (Überblick) Die gegenwärtige Methodenlehre beider Länder ist das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung, die eine unterschiedliche Gestalt in beiden Rechtssystemen aufweist und eine gesonderte rechtsvergleichende Untersuchung erfordert. Sollten alle Theorien, Konzepte und Ideen, die in beiden Rechtsordnungen im Laufe der letzten hundert Jahre entwickelt worden sind, nur in einem kurzen Abschnitt dargestellt werden, würde dies zu einer inakzeptablen Oberflächlichkeit der Ausführungen führen, die keinen Nutzen für die vorliegende empirisch orientierte Untersuchung bringen würde. Insbesondere auf der deutschen Seite lässt sich ein vielfältiger Reichtum von Ideen feststellen, dessen Beschreibung im Standardwerk308 von Larenz ungefähr 160 Seiten einnimmt. Um den Vorwurf der Oberflächlichkeit zu vermeiden, musste im Rahmen der vorliegenden Untersuchung eine Auswahl getroffen werden. Da die Arbeit sich primär an den deutschsprachigen Leser richtet, scheint insbesondere die Darstellung der Konzepte geboten, die in der polnischen Methodenlehre in der Nachkriegszeit entwickelt worden sind. Auch auf diesem Gebiet lässt sich gleichwohl ein Reichtum von Konzepten feststellen.309 Daher werden im Folgenden lediglich die herrschenden Theorien dargestellt, die auch die gegenwärtige Diskussion in Polen dominieren. Was die Entwicklung der Methodenlehre in Deutschland betrifft, sei der deutsche Leser auf das schon erwähnte Buch von Larenz verwiesen. Die polnische Methodenlehre entwickelte sich – wie bereits festgestellt wurde – im Vergleich zu der deutschen Methodenlehre deutlich unterschiedlich. Abgesehen von den älteren Konzeptionen310 haben sich in Polen in der Nachkriegszeit zwei dominante Theorien herauskristallisiert.311 Diese Konzepte finden sich in der Literatur unter der Bezeichnung „klärende Theorie“ (teoria klaryfikacyjna) und „derivative Theorie“ 312 (teoria derywacyjna). Als Begründer der klärenden Theorie wird J. Wróblewski angesehen. Sie wird heute vor allem in den Werken von L. Morawski vertreten. Die Begründung der derivativen Theorie wird dagegen Z. Ziembin´ski zugerechnet, wobei sie ihre gegenwärtige Gestalt primär den Arbeiten von M. Zielin´ski verdankt. Beide Theorien haben viel gemeinsam313, jedoch unterscheiden sie sich voneinander auch in wichtigen 308

K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991. Siehe dazu M. Zielin´ski, Wykładnia prawa, 6. Auflage, 2012, Rn. 135 ff. 310 Hier sind insbesondere das Konzept von E. Was ´kowski und das Konzept von S. Frydman zu erwähnen. 311 M. Zielin ´ski, Wybrane zagadnienia wykładni prawa, PiP 6/2009, S. 4. 312 „Derivieren“ wird hier in der Bedeutung von „ableiten“ verwendet. 313 Zu den Gemeinsamkeiten siehe: M. Zielin ´ski/O. Bogucki/A. Chodun´ /S. Czepita/ B. Kanarek/A. Municzewski, Zintegrowanie polskich koncepcji wykładni prawa, RPEiS 4/2009, S. 23. 309

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht

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Punkten.314 Im Folgenden sollen beide Theorien in ihren Grundzügen dargestellt werden. 1. Klärende Theorie Diese in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts begründete Theorie315 entwickelte sich im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte und erreichte ihre vollständige Fassung im Werk „Rozumienie prawa i jego wykładnia“ 316, wobei der Verfasser sie auch in dieser Arbeit lediglich als Grundriss bezeichnete. Die folgenden Ausführungen werden sich auf dieser Arbeit stützen. Grundlegend für die Theorie von Wróblewski ist die Differenzierung zwischen dem „unmittelbaren Verständnis eines Textes“ und dem „mittelbaren Verständnis durch Auslegung“.317 Diese Differenzierung setzt voraus, dass es Texte gibt, die „unmittelbar“ verständlich sind. Bezüglich der Gesetzestexte erfasst diese Kategorie diejenigen Fälle, in denen ein bestimmter Sachverhalt unter eine bestimmte Vorschrift zweifellos subsumiert werden kann. Es läge somit der Fall der Isomorphie vor. Bestehen hingegen Bedenken in dieser Hinsicht, entsteht die Notwendigkeit der Auslegung. In diesem Fall sollen sogenannte Auslegungsdirektiven zur Anwendung kommen, um die Zweifel auszuräumen.318 Wróblewski unterscheidet zwei Gruppen von Auslegungsdirektiven: Die Auslegungsdirektiven des ersten und des zweiten Grades. Die Auslegungsdirektiven des ersten Grades erfassen wiederum drei Typen: die sprachlichen, die systematischen und die funktionellen Auslegungsdirektiven. Dagegen bestimmen die Direktiven des zweiten Grades zum einen die Reihenfolge der Anwendung der Direktiven des ersten Grades (Verfahrensdirektiven) und zum anderen die Vorgehensweise bei Kollisionen von einander abweichender Auslegungsergebnisse, die die Direktiven des ersten Grades nahe legen (Vorrangdirektiven).319 Auf der Grundlage der bereits dargestellten Prämissen entwickelt Wróblewski das sogenannte Auslegungsmodell, das aus fünf Etappen besteht und folgende Schritte vorsieht: 1. Feststellung eines Zweifels im Hinblick auf die Bedeutung eines Gesetzestextes. Nur in solch einem Fall ist eine Auslegung legitim (lex non clara est). 2. Die Anwendung der Direktiven des ersten Grades nach der Reihenfolge, die die Direktiven des zweiten Grades vorschreiben.

314 315 316 317 318 319

M. Wyrembak, Zasadnicza wykładnia znamion przeste˛pstw, 2009, S. 103. J. Wróblewski, Zagadnienia teorii wykładni prawa ludowego, 1959. J. Wróblewski, Rozumienie prawa i jego wykładnia, 1990. Ebenda, S. 58. Ebenda. Ebenda, S. 77.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

3. Der Vergleich der Auslegungsergebnisse, die die Direktiven des ersten Grades nahe legen. 4. Falls abweichende Auslegungsergebnisse festgestellt werden sollten, soll die Kollision zwischen ihnen mit Hilfe der Direktiven des zweiten Grades gelöst werden. 5. Begründung und Formulierung des Auslegungsergebnisses.320 Aus diesem Modell geht hervor, dass die Theorie von Wróblewski Wertungen des Interpreten nicht ausschließt. Sie kommen in drei Punkten zur Anwendung. Erstens muss der Interpret entscheiden, ob die Notwendigkeit einer Auslegung überhaupt vorliegt. Nur in solch einem Fall ist eine Auslegung auch möglich. Kommt der Interpret zu der Schlussfolgerung, dass der Text klar ist, liegt ein Fall der Isomorphie vor, die eine Auslegung ausschließt. Zweitens setzt die Anwendung der Direktiven des ersten und des zweiten Grades vielfältige Wertungen des Interpreten voraus. Er muss entscheiden, welche Direktiven des ersten Grades in Anspruch genommen werden sollen und wie der Konflikt zwischen den abweichenden Ergebnissen gelöst wird, die diese Direktiven gegebenenfalls erbringen. Drittens zwingt die Art und Weise der Formulierung der Direktiven den Interpreten zu unterschiedlichen Wertungen. Neben dem Auslegungsmodell hat Wróblewski auch Direktiven präzisiert, die das Wesen der sprachlichen, der systematischen und der funktionellen Auslegungsdirektiven (Direktiven des ersten Grades) bestimmen. Im Folgenden sollen diese Direktiven näher erläutert werden. Im Rahmen der sprachlichen Auslegung hat Wróblewski folgende Direktiven unterschieden: – Ohne fundierte Gründe soll eine rein juristische Bedeutung des Gesetzestextes nicht bevorzugt werden (Vermutung der Umgangssprache). – Ohne fundierte Gründe soll denselben Begriffen keine unterschiedliche Bedeutung beigemessen werden. – Ohne fundierte Gründe soll unterschiedlichen Begriffen nicht dieselbe Bedeutung beigemessen werden. – Es darf nicht eine solche Bedeutung des Gesetzestextes angenommen werden, die Teile einer Vorschrift entbehrlich machen würde. – Die Bedeutung von zusammengesetzten Redewendungen soll gemäß den Syntaxregeln der diesbezüglichen Sprache ermittelt werden.321

320 321

Ebenda. Ebenda, S. 79 f.

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht

111

Die systematische Auslegung sieht nach der Konzeption von Wróblewski folgende Direktiven vor: – Es soll einer Rechtsregel keine Bedeutung beigemessen werden, die in einem Widerspruch zu einer anderen Rechtsregel steht. – Es soll einer Rechtsregel keine Bedeutung beigemessen werden, die mit anderen Rechtsregeln inkohärent ist. – Es soll einer Rechtsregel diejenige Bedeutung beigemessen werden, die mit anderen Rechtsregeln am meisten übereinstimmt. – Es soll derjenigen Rechtsregel keine Bedeutung beigemessen werden, die im Widerspruch mit einem Rechtsgrundsatz steht oder mit einem Rechtsgrundsatz inkohärent ist. – Es soll einer Rechtsregel diejenige Bedeutung beigemessen werden, die am meisten mit einem oder mehreren Rechtsgrundsätzen übereinstimmt. – Ohne fundierte Gründe soll einer Rechtsregel keine Bedeutung beigemessen werden, die mit der Systematik der Rechtsakte nicht übereinstimmt, in der sich die auslegungsbedürftige Rechtsregel befindet.322 Die funktionelle Auslegung sieht folgende Direktiven vor: – Falls Zwecke, Werte und außerrechtliche Regeln bei der Auslegung der Rechtsregel berücksichtigt werden, sollen diese Zwecke, Werte und außerrechtlichen Regeln auf alle Rechtsregeln gleichermaßen Anwendung finden, aus denen sich ein Rechtsinstitut bildet. – Die auslegungsbedürftige Rechtsregel soll mit dem Zweck des Rechtsinstitutes übereinstimmen, zu dem die auslegungsbedürftige Rechtsregel gehört. – Bestehen Bedenken bezüglich der Bedeutung einer Rechtsregel, die zu einem Rechtsinstitut gehört, so soll ihre Bedeutung mit der Funktion des Rechtsinstitutes übereinstimmen. – Kommen unterschiedliche Bedeutungen einer Rechtsregel in Betracht, soll diejenige Bedeutung gewählt werden, die mit den Wertungen des axiologischen Systems am meisten übereinstimmt. – Der auslegungsbedürftigen Rechtsregel soll der Zweck beigemessen werden, der mit dem Willen des historischen Gesetzgebers übereinstimmt. – Der auslegungsbedürftigen Rechtsregel soll der Zweck beigemessen werden, der mit dem Willen des aktuellen Gesetzgebers übereinstimmt. – Der auslegungsbedürftigen Rechtsregel soll der Zweck beigemessen werden, der mit dem Willen des Interpreten übereinstimmt. 322

Ebenda, S. 80 ff.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

– Der auslegungsbedürftigen Rechtsregel soll die Bedeutung beigemessen werden, die mit der von dem historischen Gesetzgeber anerkannten Moral übereinstimmt. – Der auslegungsbedürftigen Rechtsregel soll die Bedeutung beigemessen werden, die mit der von dem aktuellen Gesetzgeber anerkannten Moral übereinstimmt. – Der auslegungsbedürftigen Rechtsregel soll die Bedeutung beigemessen werden, die mit der von dem Interpreten anerkannten Moral übereinstimmt.323 Wie bereits erwähnt, sieht die Theorie von Wróblewski neben den bereits genannten Direktiven des ersten Grades auch Direktiven des zweiten Grades vor, die die Reihenfolge der Anwendung der Direktiven des ersten Grades regeln (Verfahrensdirektiven). Wróblewski lässt in dieser Hinsicht zwei Möglichkeiten zu, die den Grundsatz interpretatio cessat in claris unterschiedlich zur Geltung bringen: Erste Möglichkeit: – Es sollen zunächst die sprachlichen, dann die systematischen und abschließend die funktionellen Direktiven angewandt werden. Der Auslegungsprozess soll jedoch dann abgebrochen werden, wenn die Bedeutung einer Rechtsregel keine Zweifel mehr erweckt, d. h., in einem konkreten Auslegungsprozess müssen nicht alle Direktiven des ersten Grades zur Anwendung kommen. Zweite Möglichkeit: – Die Bedeutung einer Rechtsregel soll immer auf der Grundlage der sprachlichen, der systematischen und der funktionellen Direktiven festgestellt werden, und das Auslegungsergebnis, das auf der Grundlage einer Direktive gefunden wurde, soll jeweils mit Hilfe der erwähnten Direktiven geprüft werden. In dieser Variante kommen immer alle Direktiven des ersten Grades zur Anwendung.324 Wróblewski betonte, dass die Wahl zwischen den beiden oben genannten Möglichkeiten keinesfalls ideologisch neutral ist, denn die zweite Möglichkeit postuliert die Anwendung der funktionellen Auslegungsdirektiven in jedem Fall.325 Falls die Direktiven des ersten Grades unterschiedliche Bedeutungen nahe legen, soll die zweite Art der Direktiven, d. h. die des zweiten Grades (Vorrangsdi-

323 324 325

Ebenda, S. 84 ff. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 87.

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rektiven), zur Anwendung kommen. Nach der Auffassung von Wróblewski wurden jedoch die Vorrangsdirektiven in der juristischen Literatur nicht näher analysiert.326 Historisch gesehen geht es hier um die Gegenüberstellung der einschränkenden Auslegung (interpretatio restrictiva) und der erweiternden Auslegung (interpretatio extensiva). Dementsprechend kann der Interpret zu einem einschränkenden oder einem erweiternden Auslegungsergebnis gelangen, falls die funktionellen Direktiven eine andere Bedeutung als die sprachlichen bzw. die systematischen Auslegungsdirektiven nahe legen.327 Wróblewski betont zudem, dass das Rangverhältnis zwischen den Direktiven des ersten Grades primär von der geltenden Auslegungsideologie abhängt. In dieser Hinsicht sind unterschiedliche Konstellationen denkbar. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Theorie von Wróblewski aus einer erheblichen Anzahl von Direktiven zusammensetzt, die in ihrer Gesamtheit ein komplexes Verfahrenssystem der Auslegung bilden. Zwar leugnet Wróblewski nicht, dass eine subjektive Wertung des Interpreten nicht völlig ausgeschlossen sei, jedoch tendiert die von ihm entwickelte Theorie in die Richtung, diese subjektive Wertung einzuschränken. Der Theorie liegt mithin die unausgesprochene Annahme zugrunde, dass je größer die Anzahl der Direktiven und vor allem ihr Präzisierungsgrad, desto geringer ist der Wertungsspielraum des Interpreten. Damit kann die herrschende Rolle des Gesetzes gesichert werden. Schließlich gilt es noch zu betonen, dass die Theorie der Auslegung von Wróblewski (sowie die Kritik an dieser Theorie) einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der gegenwärtigen polnischen Rechtstheorie ausgeübt hat und sie einen Bezugspunkt für fast alle nachfolgenden Untersuchungen zur Auslegung darstellt.328 Diese Theorie findet ihre Fortsetzung insbesondere in dem Konzept von Morawski, dessen Standardwerk (Zasady wykładni prawa) sich vor allem auf die von Wróblewski zusammengestellten Direktiven stützt. Auch in der strafrechtlichen Rechtsprechung des OG sind die Auswirkungen der Theorie von Wróblewski sichtbar, was im Laufe der vorliegenden Untersuchung noch näher gezeigt werden wird. Es ist ebenfalls hervorzuheben, dass sich die von Ziembin´ski und Zielin´ski entwickelte derivative Theorie keinesfalls als Gegensatz zu der klärenden Theorie definiert. Nach Zielin´ski integriere sogar die derivative Theorie viele Elemente der klärenden Theorie, aber sie vermeide einige gravierende Mängel, die in der klärenden Theorie vorhanden seien. Im Folgenden sollen nun die Grundzüge der derivativen Theorie dargelegt werden.

326

Ebenda. Ebenda. 328 M. Zirk-Sadowski, Wprowadzenie do filozofii prawa, 2. Auflage, 2011, S. 89. Ähnlich K. Płeszka, Wykładnia rozszerzaja˛ca, 2010, S. 78. 327

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

2. Derivative Theorie Zunächst ist zu betonen, dass die derivative Theorie die Kategorie des „unmittelbaren Verstehens“ zurückweist, die in dem von Wróblewski entwickelten Konzept – wie bereits gezeigt wurde – eine primäre Rolle spielt. Nach Zielin´ski muss jede Rechtsvorschrift ausgelegt werden und der Verzicht auf Auslegung kann nicht damit begründet werden, dass der Rechtsanwender die Rechtsvorschrift „unmittelbar“ verstanden hat, d. h., er keine Bedenken hat, dass ein bestimmter Sachverhalt unter eine bestimmte Rechtsvorschrift fällt oder nicht fällt.329 Es ist auch nicht zu übersehen, dass beide Theorien den Zweck der Auslegung unterschiedlich definieren. Während für die klärende Theorie lediglich die Ermittlung der wirklichen Bedeutung einer in Rechtsvorschriften verkörperten Rechtsnorm im Mittelpunkt steht,330 stellt sich die derivative Theorie außer diesem Ziel auch die Ermittlung der in den Rechtsvorschriften verkörperten Rechtsnormen mit der Perzeption ihres Inhalts zur Aufgabe.331 Nach der derivativen Theorie sind die Rechtsnormen schon in den Rechtsvorschriften vorhanden. Sie sind jedoch dem Rechtsanwender nicht direkt wie die Vorschriften zugänglich; sie müssen im Wege eines Verfahrens, das sich nach bestimmten Grundsätzen, Regeln und Hinweisen richten soll, aus den Rechtsvorschriften abgeleitet werden. Die Rechtsnormen definiert Zielin´ski als die durch das zuständige Organ erlassenen (bzw. erkannten) Handlungsnormen.332 Der für diese Theorie zentrale Begriff der „Handlungsnorm“ (norma poste˛powania) muss im Folgenden allerdings näher bestimmt werden. Unter diesem Begriff versteht Zielin´ski eine Äußerung, die einem bestimmten Subjekt unter bestimmten Umständen ein bestimmtes Verhalten eindeutig gebietet oder verbietet.333 Jede Handlungsnorm muss somit den Empfänger, die Umstände, das Gebot bzw. Verbot und das Verhalten bestimmen. Um sie zu konstruieren, bedarf es manchmal eines Rückgriffs auf viele Vorschriften, die erst in ihrer Gesamtheit eine Handlungsnorm ermitteln lassen. Andererseits können jedoch aus einer Vorschrift auch mehrere Handlungsnormen abgeleitet werden. Die Ableitung darf jedoch nicht beliebig erfolgen, sondern muss sich – wie bereits erwähnt – nach bestimmten Grundsätzen, Regeln und Hinweisen richten, die Zielin´ski auf 31 Seiten334 seines Werkes präzise beschreibt. Es würde den Rahmen dieses Abschnitts sprengen, sollten alle methodischen Nuancen dieser hoch differenzierten Konzeption dargestellt werden; daher muss hier ein kurzer Grundriss ausreichen. 329 M. Zielin ´ski, Podstawowe zasady współczesnej wykładni prawa, in: P. Winczorek (Hrsg.), Teoria i praktyka wykładni prawa, 2005, S. 118 f. 330 J. Wróblewski, Wykładnia prawa a terminologia prawna, PiP 5–6/1956, S. 843. 331 M. Zielin ´ski, Wykładnia prawa, 6. Auflage, 2012, Rn. 451. 332 Ebenda, Rn. 10. 333 Ebenda. 334 Ebenda, Rn. 567 ff.

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Grundsätzlich unterscheidet Zielin´ski drei Phasen der Auslegung: die vorbereitende Phase (faza porza˛dkuja˛ca), die rekonstruierende Phase (faza rekonstrukcyjna) und die Perzeptionsphase (faza percepcyjna).335 Die Grundätze, die Regeln und die Hinweise, die sich auf die vorbereitende Phase beziehen, dienen vor allem der Feststellung der Geltung der Rechtsvorschrift, die interpretiert werden soll. Dazu empfiehlt Zielin´ski in erster Linie die Heranziehung der amtlichen Quellen.336 Eine sachliche Arbeit beginnt jedoch erst in der rekonstruierenden Phase. Man kann sogar behaupten, dass in dieser Phase die Feststellung der in der Vorschrift (bzw. in den Vorschriften) verkörperten Rechtsnorm beginnt.337 Diese Phase zielt jedoch noch nicht darauf ab, die Rechtsnorm vollständig zu ermitteln. Der Zweck dieser Phase liegt nur in der Rekonstruktion eines normgestaltenden Ausdruckes (wyraz˙enie normokształtne), der den jeweiligen Empfänger, die Umstände, das Verbot/Gebot und das Verhalten bestimmen soll.338 Dazu ist die Feststellung der entsprechenden Vorschriften (Haupt- und Nebenvorschriften) notwendig, auf deren Grundlage der normgestaltende Ausdruck rekonstruiert wird. Der Sinn der konkreten Worte, aus denen der normgestaltende Ausdruck besteht, wird gleichwohl erst in der Perzeptionsphase festgestellt. Am Beginn dieser Phase sind somit schon der Empfänger, die Umstände, das Verbot/Gebot und das Verhalten bestimmt. Es bleibt nur noch zu ermitteln, welchen Sinn die einzelnen Worte und der normgestaltende Ausdruck in seiner Ganzheit haben.339 Die Ermittlung des Sinnes der einzelnen Worte sollte vor allem auf der Grundlage sprachlicher Direktiven erfolgen. Daher empfiehlt Zielin´ski, in erster Linie Bezug auf die Legaldefinitionen zu nehmen, soweit sie überhaupt vorhanden sind.340 Falls keine Legaldefinition zur Verfügung steht, sollen nach dem Verfasser dieser Konzeption die bisherigen Auslegungsergebnisse der zuständigen Organe Anwendung finden, soweit diese bindend sind.341 Im nächsten Schritt wäre das Auslegungsergebnis zu berücksichtigen, das in der Literatur und in der Rechtsprechung (juristischer Wortlaut) anerkannt ist.342 Ist der auszulegende Begriff strittig, sollen die unterschiedlichen Wörterbücher zur Anwendung kommen.343 Danach ist der Kontext zu berücksichtigen, in dem der Begriff steht.344 Bringen diese Maßnahmen kein eindeutiges Ergebnis, sollen die systematische und die funktionelle Auslegungsdirektive (außersprachliche Auslegungsdirekti335 336 337 338 339 340 341 342 343 344

Ebenda, Rn. Ebenda, Rn. Ebenda, Rn. Ebenda. Ebenda, Rn. Ebenda, Rn. Ebenda, Rn. Ebenda, Rn. Ebenda, Rn. Ebenda, Rn.

567. 585 ff. 606. 622 f. 628. 635. 636. 640. 645.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

ven) behilflich sein.345 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die außerrechtlichen Direktiven nur dann berücksichtigt werden sollten, wenn die sprachlichen Auslegungsdirektiven kein eindeutiges Ergebnis gebracht haben. Die funktionellen Auslegungsdirektiven sollen in jedem Fall in Anspruch genommen werden.346 Generieren sie dasselbe Ergebnis wie die sprachlichen Auslegungsdirektiven, wird die Aussagekraft der gesamten Auslegung verstärkt. Sollten jedoch die funktionellen Auslegungsdirektiven ein abweichendes Ergebnis verlangen, dann muss geprüft werden, ob das auf der Grundlage der sprachlichen Direktiven gefundene Ergebnis in einem Konflikt mit grundlegenden Annahmen über die Rationalität des Gesetzgebers oder mit fundamentalen Werten gerät. Ist das der Fall, dann soll das Ergebnis der sprachlichen Auslegungsdirektiven dementsprechend modifiziert werden, wobei Zielin´ski einige Ausnahmen nennt, die diese Korrektur ausschließen.347 Die bereits skizzierte Methodologie der Auslegung von Zielin´ski könnte den Eindruck erwecken, dass der gesamte Prozess etwas Mechanisches an sich hat und eigentlich jeder Interpret bei der Anwendung dieser Methodologie zu einem von vielen denkbaren Ergebnissen kommen kann. Zielin´ski betont jedoch ausdrücklich, dass in jeder Phase der Auslegung mehrere Entscheidungen von dem Interpret getroffen werden müssen, die den nachfolgenden Prozess erheblich determinieren. Daher kann von einem richtigen Ergebnis keine Rede sein. Die Entscheidungen, die der Interpret in der jeweiligen Phase trifft, müssen allerdings ausdrücklich begründet werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die derivative Theorie viele Gemeinsamkeiten mit der klärenden Theorie aufweist. Beide Theorien sind komplex und versuchen, möglichst genaue Auslegungsdirektiven zu präzisieren, wobei das Konzept von Zielin´ski im Vergleich zum Konzept von Wróblewski in dieser Hinsicht wesentlich komplexer und ausdifferenzierter ist. Wenn jedoch beide Theorien mit der Entwicklung der Methodenlehre in Deutschland verglichen werden, so muss festgestellt werden, dass ähnliche Konzeptionen in Deutschland nicht entstanden sind. Die Standardwerke zur Methodenlehre in Deutschland348 stellen lediglich die wichtigsten klassischen Auslegungskriterien dar und schlagen ein bestimmtes Rangverhältnis zwischen ihnen vor, das jeweils variieren kann (subjektive versus objektive Auslegung). Eine normative Theorie, die den Auslegungsvorgang vom Anfang bis zum Ende präzise und komplex beschreiben würde – wie dies in Werken von Wróblewski und Zielin´ski der Fall 345

Ebenda, Rn. 646. Ebenda, Rn. 666. 347 Ebenda, Rn. 667 ff. 348 Gemeint sind: K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991; R. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Auflage, 2011; B. Rüthers/Ch. Fischer/ A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013. 346

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ist349 –, lässt sich in der deutschsprachigen Literatur nicht feststellen. Die Entwicklung der Methodenlehre in Deutschland scheint in eine andere Richtung zu gehen. Hier muss primär der Umstand berücksichtigt werden, dass auf die moderne Gestalt der Auslegungslehre in Deutschland vor allem die Epoche der Interessenjurisprudenz (Heck) einen erheblichen Einfluss ausübte.350 Esser charakterisierte die Interessenjurisprudenz als „größter Einbruch des Problemdenkens“ in die deutsche Begriffsaxiomatik.351 Nach Larenz hat die Interessenjurisprudenz die Rechtsanwendung revolutioniert, „indem sie mehr und mehr die Methode einer lediglich formallogisch begründeten Subsumtion unter die starren Gesetzesbegriffe durch die der abwägenden Beurteilung eines komplexen Sachverhalts und einer Bewertung der dabei in Betracht kommenden Interessen nach den der Rechtsordnung eigenen Bewertungsmaßstäben ersetzt hat.“ 352 Die in der heutigen deutschen Methodenlehre herrschende Strömung wird als Wertjurisprudenz bezeichnet, die sich als Weiterentwicklung der Interessenjurisprudenz versteht.353 In welchen Punkten sich die Theorien von Wróblewski und Zielin´ski von der Interessenjurisprudenz (Wertjurisprudenz) unterscheiden, liegt auf der Hand. Auf der einen Seite steht die Abwägung von Interessen (Werten) im Vordergrund, auf der anderen Seite postuliert man die Anwendung von möglichst präzisen Auslegungsdirektiven, die in einer bestimmten Reihenfolge zur Anwendung kommen sollen, um ein vom Gesetz abgeleitetes Ergebnis zu sichern. Im Folgenden werden weitere Unterschiede hervorgehoben.

III. Zweck der Auslegung Es scheint, dass in der gegenwärtigen deutschen und polnischen Methodenliteratur der Zweck der Auslegung unterschiedlich definiert wird. In der polnischen Methodenlehre wird stärker die Bedeutung einer Rechtsvorschrift (Rechtsnorm) betont; in diesem Zusammenhang steht die Frage im Vordergrund, was eine Rechtsvorschrift bzw. eine Rechtsnorm genau bedeutet.354 Demgegenüber betont die deutsche Methodenlehre den Zweckgedanken. Auf der einen Seite dominiert somit die Semantik, auf der anderen Seite stehen teleologische Kriterien im Vordergrund. 349 Die Theorie von R. Alexy (Theorie der juristischen Argumentation, 1983) kann mit den Theorien von Wróblewski und Zielin´ski nicht verglichen werden, da die Theorie von Alexy sich auf die Argumentation konzentriert. 350 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland, 2005, S. 215 ff. 351 J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Auflage, 1990, S. 80. 352 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 58. 353 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland, 2005, S. 231. 354 Insbesondere L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 15.

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Nach Morawski liegt der Zweck der Auslegung in der Ermittlung der Bedeutung einer Vorschrift oder eines Teiles einer Vorschrift.355 Wróblewski definiert den Zweck der Auslegung als „die Feststellung der realen Bedeutung der in den Vorschriften verkörperten Rechtsnormen“.356 Auch Zielin´ski sieht das Ziel der Auslegung in der Ermittlung der Bedeutung einer Rechtsnorm, die in den Rechtsvorschriften verkörpert ist.357 Die von ihm entwickelte Konzeption präzisiert und modifiziert ihre Bestimmung durch die Feststellung, dass das Ziel der Auslegung in der Ermittlung der in den Vorschriften verkörperten Rechtsnormen mit der Perzeption ihrer Inhalte liegt.358 Diese Auffassung geht somit noch einen Schritt weiter, weil sie zudem die Feststellung einer vollständigen Handlungsnorm fordert. In der Ermittlung der Bedeutung einer Rechtsvorschrift sieht auch das polnische Verfassungsgericht das Ziel der Auslegung: „Im Allgemeinen liegt das Wesen der Auslegung, wie dies am häufigsten angenommen wird, in der Feststellung (Erklärung) der Bedeutung einer Rechtsvorschrift, die aus unterschiedlichen Gründen Zweifel bei der Rechtsanwendung hervorruft.“ 359

In der deutschen Lehre dominieren, wie ausgeführt, die teleologischen Kriterien, die die Bedeutung der strittigen Vorschrift bestimmen sollen. Zwei Ansätze scheinen die Diskussion zu beherrschen, die unter den Kategorien einer „subjektiven“ bzw. „objektiven“ Theorie firmieren. Nach der ersten dieser beiden Theorien hat der Interpret den Willen des Gesetzgebers festzustellen, wobei zumeist auf den Zeitpunkt der Normsetzung Bezug genommen wird.360 Nach der Auffassung von Rüthers geht es vor allem um die Beantwortung der folgenden beiden Fragen: Was wollten die Normsetzer mit der Rechtsnorm bewirken? Welchen typischen Lebenssachverhalt wollten sie wie und mit welchem Gestaltungsziel regeln?361 Diese Formulierungen machen deutlich, dass die Frage nach dem historischen Normzweck zum Zeitpunkt des Erlasses der Norm im Mittelpunkt der „subjektiven“ Theorie steht.362 Nach der „objektiven“ Theorie, die auch teleologische Gesichtspunkte betont, besteht das Ziel der Auslegung darin, den von der gesetzgeberischen Vorstellung

355

Ebenda. J. Wróblewski, Wykładnia prawa a terminologia prawna, PiP 5–6/1956, S. 843. 357 M. Zielin ´ski, Wykładnia prawa, 6. Auflage, 2012, Rn. 451. 358 Ebenda. 359 Beschluss (Postanowienie) vom 26.3.1996, W 12/95, OTK 1996, Nr. 2, Pos. 16. 360 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 28 m.w. N. 361 B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 720. 362 Ebenda. 356

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losgelösten, objektiven Gesetzessinn zu ermitteln.363 Es kommt dabei nicht auf den Willen des Gesetzgebers an, sondern auf den Willen des Gesetzes.364 Dieser Gedanke spiegelt die häufig in der deutschen Literatur zitierte Redewendung „Das Gesetz ist klüger als der Gesetzgeber“ wider. Dabei betont die objektive Theorie eine teleologische Auslegungsmethode, „die sich nicht darauf beschränkt, Mittel zur Verwirklichung eines vorgegebenen Gesetzeszwecks zu suchen, sondern sich in der Bestimmung dieses Zwecks selbst gegenüber dem Gesetzgeber frei fühlt.“ 365 Als Hauptvertreter dieser Theorie wird Larenz angesehen. Ob Auslegungsziel die Ermittlung des Willens des historischen Gesetzgebers oder eines dem Gesetz innewohnenden objektiven Sinnes ist, war eine der Hauptfragen der rechtsphilosophischen und methodologischen Diskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts366 und scheint auch heute noch die Diskussion in Deutschland zu prägen. Eine vergleichbare Diskussion in der polnischen Lehre lässt sich nicht feststellen.

IV. Notwendigkeit der Auslegung In der deutschen Literatur ist überwiegend die These anerkannt, dass jede Rechtsnorm der Auslegung bedarf.367 Zwar wurde die „sens-clair-doctrine“ seit altersher (auch vom BVerfG 368 und vom BGH 369) mehrfach vertreten, ist aber nach heute ganz überwiegender Ansicht aus unterschiedlichen Gründen unhaltbar.370 Gegen diese Doktrin wird zunächst der Einwand erhoben, dass sprachliche Formulierungen niemals dauerhaft „eindeutig“ sind, „weil sie ihren Aussagehalt mit dem Wandel des Umfeldes, in dem sie formuliert und später rezipiert werden, verändern können.“ 371 Außerdem wird betont, dass ein scheinbar eindeutiger Wortlaut mit anderen Vorschriften desselben Gesetzes im Widerspruch stehen oder den Gebotsgehalten später erlassener oder höherrangiger Rechtsvor-

363 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 28. 364 Beschluss des BVerfG vom 14.2.1973, 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 288. 365 K. F. Röhl/H. Ch. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage, 2008, S. 629. 366 R. Schlothauer, Gesetzesrecht – Richterrecht, StraFo 11/2011, S. 462. 367 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 312 ff.; H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage, 1996, S. 153; B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 731; K. F. Röhl/H. Ch. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage, 2008, S. 606. 368 Beschluss vom 9.11.1955, 1 BvL 13/52, 1 BvL 21/52, BVerfGE 4, 331. 369 Urteil vom 19.6.1956, I ZR 104/54, NJW 42/1956, 1553. 370 B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 732. 371 Ebenda.

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schriften widersprechen kann.372 Endlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass „eindeutig“ formulierte Gesetzesvorschriften Redaktionsversehen oder Wertungswidersprüche der normsetzenden Instanz enthalten können.373 Diese sollen bei der Anwendung der Vorschriften korrigiert oder zumindest berücksichtigt werden.374 Demgegenüber wird in einem Teil der polnischen Literatur immer noch die Auffassung vertreten, dass für die Auslegung einer Vorschrift nur dann Raum ist, wenn der Sinn der Vorschrift Bedenken hervorruft (Clara non sunt interpretanda).375 Nach dieser Auffassung ist der Sinn der Vorschrift dann zweifelhaft, wenn eine Partei den Vorwurf erhebt, dass sich nicht unstrittig feststellen lässt, ob die Vorschrift bzw. ein Teil der Vorschrift den Sachverhalt erfasst oder nicht und in der Literatur sowie in der Rechtsprechung das Auslegungsproblem bisher nicht gelöst wurde.376 Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Formulierung einer Vorschrift unklar, unscharf oder unvollständig ist oder wenn zwischen den Vorschriften Widersprüche bestehen bzw. die Vorschrift mehrdeutig ist.377 Seine Begründung findet der Grundsatz Clara non sunt interpretanda vor allem in der Pragmatik.378 Die Forderung nach Auslegung auch eindeutiger Vorschriften in jedem Fall wäre nach der Ansicht von Morawski reine Zeitverschwendung und würde die Funktionstüchtigkeit der Institutionen gefährden.379 Morawski betont jedoch die Notwendigkeit von Vorsicht bei der Handhabung dieses Grundsatzes, denn eine Vorschrift, die prima facie eindeutig erscheint, kann nach der Berücksichtigung des systematischen und des funktionellen Kontextes strittig werden. Daher empfiehlt Morawski, auch diejenigen Vorschriften auszulegen, die die Vermutung nahe legen, dass der systematische und funktionelle Kontext den Sinn der Vorschrift verändern kann.380 Diese Auffassung wird jedoch von den Vertretern der derivativen Theorie heftig kritisiert. Gegen den Grundsatz Clara non sunt interpretanda spricht nach Zielin´ski der Umstand, dass das Verstehen von Texten Reflexität voraussetzt.381 Der angesprochene Grundsatz kann dabei von den rechtsanwendenden Institutio372

Ebenda. Ebenda. 374 Ebenda. 375 Dafür mit Einschränkungen L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 51 ff. Dagegen P. Hofman´ski/S. Zabłocki, Elementy metodyki pracy se˛dziego w sprawach karnych, 2. Auflage, 2011, S. 244. Eingehend dazu T. Spyra, Granice wykładni prawa, 2006, S. 72 ff. 376 L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 51 f. 377 Ebenda, S. 52. 378 Ebenda, S. 54. 379 Ebenda. 380 Ebenda, S. 56. 381 M. Zielin ´ski, Wykładnia prawa, 6. Auflage, 2012, Rn. 93. 373

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nen missbraucht werden, weil er zulässt, den Auslegungsprozess ohne Begründung abzulehnen.382 Zielin´ski überzeugen auch die pragmatischen Gründe nicht, die Morawski angeführt hat, denn das Verfahren könne noch erheblich länger dauern, wenn die höhere Instanz das Auslegungsergebnis beanstandet, das von dem Organ der unteren Instanz auf der Basis des Grundsatzes Clara non sunt interpretanda gewonnen wurde.383

V. Die Auslegungsmethoden in der deutschen und in der polnischen Literatur Die Auslegungsmethoden zusammenzufassen, die in der deutschen und in der polnischen Literatur vertreten werden, fällt aufgrund ihrer Heterogenität besonders schwer. Es scheint jedoch, dass in der polnischen Literatur folgendes Schema überwiegt: • Die sprachliche Auslegungsmethode. • Die systematische Auslegungsmethode. • Die funktionelle Auslegungsmethode. Demgegenüber werden in der deutschen Literatur die Auslegungsmethoden üblicherweise wie folgt eingeteilt: • Die grammatische Auslegungsmethode. • Die systematische Auslegungsmethode. • Die historische Auslegungsmethode. • Die teleologische Auslegungsmethode. Schon aus diesen beiden Übersichten wird deutlich, dass die Anzahl und die Bezeichnung der angewandten Auslegungsmethoden in beiden Ländern unterschiedlich sind. Diese Unterschiede dürfen auf keinen Fall vernachlässigt werden, weil sie den Gedanken nahe legen, dass im jeweiligen theoretischen Diskurs unterschiedliche Gesichtspunkte den Vorrang genießen. Der Umstand, dass die polnische Literatur der historischen Auslegungsmethode keinen selbstständigen Platz einräumt, legt zudem die Vermutung nahe, dass historische Argumente im Auslegungsvorgang hier eher eine untergeordnete Rolle spielen. Nach Morawski soll allerdings die historische Auslegung im Rahmen der Anwendung der funktionellen Auslegungsmethode durchgeführt werden.384

382 383 384

Ebenda. Ebenda, Rn. 96. L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 163 ff.

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VI. Rangverhältnis der Auslegungsmethoden Grundsätzlich existiert innerhalb der Auslegungsmethoden in der Methodenlehre beider Rechtsordnungen kein festes Rangverhältnis in dem Sinne, dass die Ergebnisse einer Auslegungsmethode in jedem Fall die Entscheidung determinieren.385 Diese Feststellung bedeutet jedoch nicht, dass sich keine Präferenzen erkennen ließen. In einem Teil der polnischen Literatur werden der Vorrang der sprachlichen Methode und die Subsidiarität sämtlicher sonstiger Auslegungsmethoden betont.386 In einem Teil der deutschen Literatur wird dagegen die besondere Bedeutung der teleologischen Auslegung hervorgehoben. Die sprachliche Auslegungsmethode hat eine besondere Stellung in der Methodenlehre von Morawski. Unter allen Auslegungsmethoden spielt sie eine grundlegende Rolle.387 Nach Morawski soll sogar der Auslegunsprozess nicht fortgesetzt werden, wenn die sprachliche Auslegungsmethode zu einem klaren und eindeutigen Ergebnis führt.388 Dieser Vorschlag wird jedoch durch die Feststellung relativiert, dass der Interpret jedenfalls die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode berücksichtigen soll, wenn er nicht sicher ist, ob das Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode zutreffend ist.389 Demzufolge kann der Grundsatz des Vorranges der sprachlichen Auslegung jedenfalls nicht als absolut angesehen werden. In der deutschen Literatur wird dagegen eine deutliche Präferenz für die teleologischen Kriterien sichtbar. Nach Larenz sind die teleologischen Kriterien entscheidend, wenn innerhalb der durch den möglichen Wortsinn und den Kontext gezogenen Grenzen noch mehrere Auslegungen möglich sind.390 Canaris räumt ihnen den „höchsten Rang unter den Auslegungsmitteln“ ein.391 Auch nach Vogenauer ist der Vorrang der teleologischen Auslegungsmethode in der deutschen Rechtsordnung fast unbestritten.392 Die objektiv-teleologische Methode wird ebenfalls in der strafrechtlichen Literatur besonders geschätzt.393 In dem heute

385

Zu den Besonderheiten auf dem Gebiet des Strafrechts siehe Pkt. VIII. Insbesondere L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 97. 387 Ebenda. 388 Ebenda. 389 Ebenda. 390 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 345. 391 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Auflage, 1983, S. 91. 392 S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Band 1, 2001, S. 154. 393 R. Maurach/H. Zipf, Strafrecht AT 1, 8. Auflage, 1992, § 9 Rn. 15, 22; H.-J. Rudolphi, in: SK-StGB, 26. Lfg., 1997, § 1 Rn. 32; H. Tröndle, in: LK, Band 1, 10. Auflage, 1985, § 1 Rn. 46. 386

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schon klassischen Lehrbuch von Jescheck wird sogar behauptet, dass „die Krone der Auslegungsverfahren“ der teleologischen Methode gebührt.394 Ähnliche Äußerungen im Hinblick auf teleologische Kriterien lassen sich in der polnischen Literatur nicht feststellen. Es wird sogar behauptet, dass die ratiolegis-Problematik in der polnischen Rechtstheorie und -philosophie bisher nicht näher analysiert wurde.395 Andererseits wird der Umstand betont, dass die außersprachlichen Auslegungsmethoden (d. h. die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode) in der Zeit nach der Transformation ständig an Bedeutung gewinnen.396

VII. Rechts(neu)schöpfung Auch im Bereich der Rechts(neu)schöpfung lassen sich erhebliche kategoriale Unterschiede zwischen beiden Rechtsordnungen feststellen. Grundsätzlich geht die polnische Lehre von einem Verbot der Rechts(neu)schöpfung durch die Rechtsprechung (zakaz działalnos´ci prawotwórczej) aus.397 Auch der Begriff „rechtsschöpferische Entscheidung“ hat in der polnischen Rechtskultur eine pejorative Konnotation.398 Für die Schaffung neuen Rechts ist nur der Gesetzgeber zuständig; die Aufgaben der Rechtsprechung bestehen allein in der Gesetzesanwendung. Auch das polnische Verfassungsgericht hat eine schöpferische Funktion der Gerichte ausdrücklich abgelehnt, indem es im Beschluss (Uchwała) vom 7.3.1995 ausgeführt hat, dass eine Auslegung keine Schöpfung neuer Rechtsnormen bedeutet und das Gericht lediglich mit Hilfe von verfassungsrechtlichen Grundsätzen und anerkannten Auslegungsmethoden das richtige Verständnis der Inhalte von Rechtnormen feststellt, die in den gesetzlichen Vorschriften verkörpert sind.399 Im Beschluss (Postanowienie) vom 26.3.1996 hat das Verfassungsgericht deklariert, dass die Auslegung einer Vorschrift ihr nichts hinzufügen oder weglassen darf. Die Auslegung erkläre lediglich den Inhalt und die Bedeutung einer Vorschrift.400 Diese eindeutigen Behauptungen des Verfassungsgerichts zum deklaratorischen Charakter der Auslegung sind jedoch in der Literatur auf 394 H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage, 1996, S. 156. Von der „Krone aller Regeln der Gesetzesauslegung“ spricht auch W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: FS für Jung, 2007, S. 243. 395 A. Borowicz, Argumentacja oparta na odwoływaniu sie ˛ do racji normy prawnej, PiP 3/2009, S. 48. 396 M. Smolak, Zmiana paradygmatu interpretacyjnego w okresie transformacji ustrojowej w Polsce, RPEiS 3–4/1998, S. 24. 397 L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 21; M. Królikowski, Problemy wykładni w prawie karnym, Edukacja Prawnicza 12/2007, S. 5; S. Majcher, W kwestii tzw. prawotwórstwa sa˛dowego, PiP 2/2004, S. 69. 398 M. Zirk-Sadowski, Precedens a tzw. decyzja prawotwórcza, PiP 6/1980, S. 72. 399 W 9/94, OTK 1995, Nr. 1, Pos. 20. 400 W 12/95, OTK 1996, Nr. 2, Pos. 16.

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Widerstand gestoßen,401 und dem Verfassungsgericht wird vorgeworfen, dass viele seiner Entscheidungen durchaus einen schöpferischen Charakter haben.402 Eine ähnliche Behauptung wurde auch im Hinblick auf die strafrechtliche Rechtsprechung des OG aufgestellt.403 Die rechtsschöpferischen Tendenzen der zivilrechtlichen Rechtsprechung des OG wurden schon in der Zeit der Volksrepublik Polen festgestellt.404 Dabei wird auch betont, dass die Gerichte, insbesondere die höchstrichterlichen Gerichte, rechtsschöpferisch tätig sein müssten, ganz unabhängig von ihrem Willen.405 Das prinzipielle Verbot der gerichtlichen Rechtsneuschöpfung findet seine Einschränkung in der Kategorie der Abweichung vom Auslegungsergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode. Wie oben gezeigt wurde, hat der Auslegungsprozess in der polnischen methodischen Literatur den Charakter eines schrittweisen Vorgehens, d. h., die Auslegung sensu stricto besteht grundsätzlich aus drei Schritten. Im ersten Schritt kommt die sprachliche Auslegungsmethode zur Anwendung. Führt diese zu einem eindeutigen Ergebnis, erfüllen die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode entweder eine „bestätigende“ oder eine „korrigierende“ Funktion. Im Hinblick auf den zweiten Fall kann von einem schöpferischen Charakter der Auslegung gesprochen werden. Dies bleibt jedoch weiterhin eine Auslegung, auch wenn der Wortlaut einer Vorschrift das Auslegungsergebnis nicht decken kann. Eine weitere Einschränkung des Verbots der Rechts(neu)schöpfung lässt sich in der kategoriellen Unterscheidung zwischen „Auslegung sensu stricto“ und „Auslegung sensu largo“ feststellen.406 Unter dem Begriff „Auslegung sensu stricto“ wird vor allem die Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden (der sprachlichen, der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode) erfasst. Dagegen werden der „Auslegung sensu largo“ primär Kollisionsregeln407 und logische Folgerungen408 zugeordnet. 401 T. Gizbert-Studnicki, Teoria wykładni Trybunału Konstytucyjnego, in: Teoria prawa. Filozofia prawa. Współczesne prawo i prawoznawstwo, 1998, S. 83. 402 Dazu: L. Morawski, Kilka uwag w sprawie se ˛dziowskiego aktywizmu, in: W. Stas´kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 96; J. Stelmach, Dyskrecjonalnos´c´ se˛dziowska w pozytywistycznych i niepozytywistycznych koncepcjach prawa, in: W. Stas´kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 55. 403 S. Majcher, W kwestii tzw. prawotwórstwa sa˛dowego, PiP 2/2004, S. 69. 404 A. Stelmachowski, Prawotwórcza rola sa˛dów (w s ´wietle orzecznictwa cywilnego), PiP 4–5/1967, S. 623. 405 L. Morawski, Kilka uwag w sprawie se ˛dziowskiego aktywizmu, in: W. Stas´kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 94; ders., Precedens a wykładnia, PiP 10/1996, S. 9 f. 406 So auch L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 26. 407 Lex superior derogat legi inferiori, lex posterior derogat legi priori, lex specialis derogat legi generali. 408 Analogie, argumentum e contrario, argumentum a fortiori.

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht

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Aus alledem ergibt sich, dass der polnischen methodischen Literatur die begriffliche Differenzierung zwischen der Auslegung einerseits und der Rechtsfortbildung andererseits unbekannt ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die polnische Literatur eine Überschreitung des Wortlauts völlig ausschließt. Angesichts des prinzipiellen Verbots der Rechts(neu)schöpfung in der polnischen Rechtskultur weist die Zulassung der Rechts(neu)schöpfung in der deutschen Rechtskultur, die mit dem Begriff „Rechtsfortbildung“ bezeichnet wird, auf einen erheblichen Unterschied hin, wobei in der deutschen Lehre betont wird, dass dieser Begriff sehr facettenreich sei und sich nicht einfach definieren lasse.409 Fischer behauptet sogar, dass es kein allgemeines oder auch nur überwiegend anerkanntes fachsprachliches Begriffsverständnis von Rechtsfortbildung gebe.410 Gleichwohl ist die Rechtsfortbildung in der deutschen Methodenlehre anerkannt411 und es ist unbestritten, dass Rechtsfortbildung grundsätzlich dann zulässig ist, wenn eine Gesetzeslücke vorliegt. Dabei unterscheidet man zwischen „unbewussten Lücken“ und „bewussten Lücken“, zwischen „offenen Lücken“ und „verdeckten Lücken“. Die Lückenschließung erfolgt dabei durch Analogie (Gesetzesanalogie, Rechtsanalogie)412, durch die Schlüsse a maiore ad minus sowie a minore ad maius, durch Umkehrschluss, durch Berufung auf Rechtsprinzipien und durch teleologische Reduktion. Der Begriff der „teleologischen Reduktion“ ist in der deutschen Methodenlehre eine relativ neue sprachliche Schöpfung.413 Diese Kategorie erfasst jedoch das Phänomen, das bisher als „einschränkende Auslegung“, als „Gesetzeseinschränkung“, als „restriktive Interpretation“, als „wertende Gebotsberichtigung“ oder auch als „Restriktion“ bezeichnet worden ist.414 Nicht eindeutig geklärt wurde jedoch bisher, was unter diesem Begriff gefasst sein soll. Während die teleologische Reduktion nach Larenz nicht nur die Einschränkung der Norm durch den Sinn und Zweck der einzuschränkenden Norm selbst erfasst, sondern auch durch den Zweck einer anderen Norm, durch die „Natur der Sache“ oder durch ein vorrangiges Prinzip,415

409 Zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland siehe: Ch. Hillgruber, „Neue Methodik“ – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland, JZ 15–16/2008, S. 745 ff. 410 Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildung im Zivilrecht, 2007, S. 37. 411 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 366 ff.; R. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5. Auflage, 2011, S. 81 ff.; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, 2012, S. 67 f.; B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 822 ff. 412 Im Strafrecht allerdings im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB nur zugunsten des Angeklagten. 413 Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 49. Die Etablierung dieses Begriffes wird Larenz zugeschrieben. Siehe dazu: K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Auflage, 1960, S. 296 ff. 414 Ch. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 50. 415 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 392.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

wendet die abweichende Meinung diese Kategorie nur für die Einschränkung des Wortlauts nach dem erkennbaren Normzweck der einschränkenden Norm an.416 Aus dem bisher Gesagten geht hevor, dass die Kategorien der Analogie, der Argumentation a fortiori und e contrario jedenfalls nach der polnischen Terminologie als Auslegung sensu largo gelten. Die teleologische Reduktion wird in der Lehre von Morawski als „einengende Auslegung“ (wykładnia zwe˛z˙aja˛ca) bezeichnet. In der deutschen Methodenlehre wurde auch eine Kategorie der „gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung“ entwickelt. In diesem Fall fehlt ein Anhaltspunkt im Gesetz und eine Lücke wird vor dem Hintergrund eines nur abstrakt gewählten Prinzips festgestellt. Eine Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzes hinaus soll durch folgende Faktoren gerechtfertigt werden: Das Bedürfnis des Rechtsverkehrs, die Natur der Sache und ein rechtsethisches Prinzip.417 Die Rechtsschöpfung hat nicht nur in der deutschen Methodenlehre einen festen Platz, sondern ist auch in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt. In „seinem leading case zur richterlichen Rechtsfortbildung, dem Soraya-Beschluss aus dem Jahre 1973“ 418 hat das BVerfG ausgeführt: „Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, daß die Rechtsprechung an ,Gesetz und Recht‘ gebunden ist (Art. 20 Abs. 3). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur un-

416 B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 903 f. 417 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 413 ff. 418 M. Jestaedt, Rechtsprechung und Rechtsetzung – eine deutsche Perspektive, in: W. Erbguth/J. Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen: Europarecht und nationales Recht, 2005, S. 28.

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht

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vollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den ,fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft‘ (BVerfGE 9, 338 [349]). Diese Aufgabe und Befugnis zu ,schöpferischer Rechtsfindung‘ ist dem Richter – jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes – im Grundsatz nie bestritten worden (vgl. etwa R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 100 [1971], und dazu Redeker, NJW 1972, S. 409 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen). Die obersten Gerichtshöfe haben sie von Anfang an in Anspruch genommen (vgl. etwa BGHZ 3, 308 [315]; 4, 153 [158]; BAG 1, 279 [280 f.]). Das Bundesverfassungsgericht hat sie stets anerkannt (vgl. etwa BVerfGE 3, 225 [243 f.]; 13, 153 [164]; 18, 224 [237 ff.]; 25, 167 [183]). Den Großen Senaten der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat der Gesetzgeber selbst die Aufgabe der ,Fortbildung des Rechts‘ ausdrücklich zugewiesen (s. z. B. § 137 GVG). In manchen Rechtsgebieten, so im Arbeitsrecht, hat sie infolge des Zurückbleibens der Gesetzgebung hinter dem Fluß der sozialen Entwicklung besonderes Gewicht erlangt.“ 419

Wenn man diese Worte mit den oben wiedergegebenen Zitaten des polnischen Verfassungsgerichts zusammenstellt, so wird der Unterschied sofort deutlich. In der neueren Rechtsprechung des BVerfG zeichnet sich allerdings eine zurückhaltendere Tendenz ab. So hat das BVerfG in einer weiteren Entscheidung420 ausgeführt, dass der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) es ausschließt, „dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die von der Verfassung dem Gesetzgeber übertragen worden sind, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen (vgl. BVerfGE 96, 375 [394]; 109, 190 [252]; 113, 88 [103 f.]). Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt (vgl. BVerfGE 82, 6 [12]; BVerfGK 8, 10 [14]).“ 421

Diese eindeutige Einschränkung der richterlichen Gewalt findet ihre Grenzen jedoch in dem folgenden Teil der Begründung: „Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter allerdings nicht, das Recht fortzuentwickeln. Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der of-

419

Beschluss vom 14.2.1973, 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 286 ff. Beschluss vom 25.1.2011, 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193. 421 Ebenda, S. 210. Siehe dazu: B. Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, NJW 26/2011, S. 1856. 420

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

fenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben der Dritten Gewalt (vgl. BVerfGE 49, 304 [318]; 82, 6 [12]; 96, 375 [394]; 122, 248 [267]). Der Aufgabe und Befugnis zur ,schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung‘ sind mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung jedoch Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE 34, 269 [288]; 49, 304 [318]; 57, 220 [248]; 74, 129 [152]). Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen (vgl. BVerfGE 84, 212 [226]; 96, 375 [395]). Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BVerfGE 118, 212 [243]).“ 422

VIII. Besonderheiten auf dem Gebiet des Strafrechts Angesichts erheblicher Unterschiede zwischen dem Strafrecht und anderen Rechtsbereichen ist es in beiden Rechtsordnungen anerkannt, dass die Methodenlehre auf dem Gebiet des Strafrechts spezifischer Modifizierungen bedarf. Das Strafrecht greift in einem besonders erheblichen Ausmaß in die Freiheiten des Individuums ein und der belastende Charakter dieses Vorgehens muss auch bei der Auslegung von Gesetzen Berücksichtigung finden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Elemente der allgemeinen Methodenlehre an die Bedürfnisse des Strafrechts in beiden Ländern angepasst wurden. Ganz im Gegenteil: Die strafrechtliche Literatur stützt sich größtenteils auf die Grundsätze, Kategorien, Wertungen etc., die im Rahmen der Methodenlehre beider Länder entwickelt wurden, zugleich betont es aber die fachspezifischen Besonderheiten, die bei der Auslegung von Gesetzen berücksichtigt werden müssen. Dazu verpflichten sowohl das GG (Art. 103 Abs. 2) und die Verfassung (Art. 42 Abs. 2423) als auch die Strafgesetzbücher beider Länder (§ 1 StGB, Art. 1 § 1 KK), die den Grundsatz nullum crimen sine lege in beiden Rechtsordnungen statuieren und dadurch spezielle Auslegungsfragen auf dem Gebiet des Strafrechts entstehen lassen. Diese Fragen kreisen in beiden Rechtssystemen grundsätzlich um die Problematik des Rangverhältnisses innerhalb der Auslegungskriterien und knüpfen in diesem Zusam-

422

BVerfGE 128, 210. Art. 42 Abs. 2 VerfRP lautet: „Strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann nur, wer eine Tat begeht, die durch ein während deren Begehung geltendes Gesetz mit Strafe bedroht ist. Dieser Grundsatz hindert nicht daran, eine Tat zu bestrafen, die während der Begehung eine Straftat im Sinne des Völkerrechts war.“ 423

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht

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menhang an den Topos des „Analogieverbotes“ an.424 Im Folgenden sollen beide Debattenpunkte aus einer rechtsvergleichenden Perspektive näher dargestellt werden. Da jedoch auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts und des Verfahrensrechts andere Schwerpunkte gesetzt werden, ist es angebracht, beide Gebiete gesondert zu behandeln. 1. Materielles Strafrecht Sowohl in der deutschen als auch in der polnischen strafrechtlichen Literatur wird dem Wortlautkriterium auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts eine besondere Stellung beigemessen. Angesichts des bereits gezeigten verfassungsrechtlichen Hintergrundes kann dieser Befund nicht überraschen. Dementsprechend wird in beiden Rechtsordnungen anerkannt, dass die Auslegung der strafrechtlichen Vorschriften mit ihrem Wortlaut beginnen sollte. Die Sprache bildet somit in beiden Rechtssystemen den Ausgangspunkt der Auslegung. Nach der herrschenden Lehre in Deutschland setzt der Wortlaut einer Vorschrift zugleich auch den Rahmen der Auslegung fest. In diesem Zusammenhang wurde die Kategorie des „möglichen Wortsinns“ bzw. die Kategorie des „möglichen umgangssprachlichen Wortsinns“ entwickelt, die den Rahmen der Auslegung bestimmen. Innerhalb dieses Rahmens sollen sämtliche andere Auslegungsmethoden (die systematische, die historische und die teleologische Auslegungsmethode) zur Anwendung kommen.425 Einige Verfasser setzten dabei den Schwerpunkt auf die teleologische Methode, „weil nur sie unmittelbar auf das eigentliche Ziel aller Auslegung zusteuert, die Zweck- und Wertgesichtspunkte herauszuarbeiten, aus denen der maßgebliche Gesetzessinn letztlich bindend zu erschließen ist.“ 426 Es ist dabei überwiegend anerkannt, dass eine Interpretation, die durch den möglichen Wortsinn einer Strafvorschrift nicht mehr gedeckt ist, als eine unzulässige strafbegründende Analogie betrachtet werden muss.427 Das generelle Verbot der Überschreitung der Wortsinngrenze beansprucht jedoch nach den ausgewählten Stimmen in der deutschen Strafrechtswissenschaft keine absolute Geltung. Jescheck und Weigend lassen z. B. die Berichtigung der 424 Es werden selbstverständlich auch andere Probleme diskutiert, die jedoch in dieser Arbeit nicht näher behandelt werden können. So wird in dem deutschen Schrifttum und in der Rechtsprechung behauptet, dass die angedrohten Strafen und ihr gegenseitiges Verhältnis zueinander einen wichtigen Anhaltspunkt für die Auslegung bieten können, insbesondere als Maßstab für die gesetzgeberischen Wertungen. Siehe dazu A. Eser/B. Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, § 1 Rn. 49 m.w. N. 425 A. Eser/B. Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, § 1 Rn. 37 ff.; V. Krey/R. Esser, Deutsches Strafrecht AT, 5. Auflage, 2012, Rn. 80; G. Gribbohm, in: LK, Band 1, 11. Auflage, 2003, § 1 Rn. 82; J. Wessels/W. Beulke/H. Satzger, Strafrecht AT, 44. Auflage, 2014, Rn. 57; C. Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Auflage, 2006, § 5 Rn. 28. 426 H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage, 1996, S. 156. 427 C. Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Auflage, 2006, § 5 Rn. 28.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

sog. Redaktionsfehler zu. Dann kann vom möglichen Wortsinn abgesehen werden.428 Soweit es weder um Strafbegründung noch um Strafschärfung geht, lässt man die Analogie zugunsten des Täters unbeschränkt zu. Allgemein anerkannt ist demnach eine Analogie zugunsten des Täters auf dem Gebiet der Rechtfertigungs-, Strafmilderungs- und Strafaufhebungsgründen.429 Außerdem ist eine entsprechende analoge Anwendung von Vorschriften des Besonderen Teils des StGB zulässig, soweit dies zur Einschränkung von Strafe beziehungsweise Strafbarkeit führt.430 Nicht einheitlich wird die Frage beantwortet, ob das Analogieverbot auch für die Maßregeln der Besserung und Sicherung gilt.431 Diejenigen Verfasser, die die Zulässigkeit der unmittelbaren Anwendung des Analogieverbotes auf dem Gebiet der Maßregeln der Besserung und Sicherung verneinen, behaupten gleichwohl zugleich, dass der allgemeine Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts eine belastende Analogie auf dem Gebiet der Maßregeln der Besserung und Sicherung verbietet.432 Wie anfangs ausgeführt wurde, wird auch in der polnischen strafrechtlichen Literatur dem Wortlautkriterium eine entscheidende Rolle auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts beigemessen. Es lassen sich dabei Konzepte in der polnischen strafrechtlichen Literatur feststellen, die mit der im deutschen Schrifttum herrschenden Lehre vom möglichen Wortsinn viele Gemeinsamkeiten aufweisen. So schlägt z. B. Zoll vor, dass die sprachlichen Regeln den Anwendungsbereich der gesetzlichen Begriffen abstecken und die Ergebnisse der sämtlichen anderen Auslegungsmethoden (der systematischen, der historischen und der teleologischen Auslegungsmethode) in dem durch den möglichen Wortsinn abgesteckten Bereich liegen müssen.433 Ein ähnliches Konzept vertreten Zawłocki und Królikowski.434 Andere Verfasser betonen einfach den Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode und die Subsidiarität der sämtlichen anderen Auslegungsmethoden.435

428

H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage, 1996, S. 156, 160. A. Eser/B. Hecker, in: Schönke/Schröder, 29. Auflage, 2014, § 1 Rn. 31. 430 Ebenda, § 1 Rn. 32. 431 Dafür H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage, S. 134; G. Gribbohm, in: LK, Band 1, 11. Auflage, 2003, § 1 Rn. 82; Th. Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 62. Auflage, 2015, § 1 Rn. 22; A. Eser/B. Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, § 1 Rn. 28 mit Verweis auf Rn. 24. 432 C. Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Auflage, 2006, § 5 Rn. 40; V. Krey/R. Esser, Deutsches Strafrecht AT, 5. Auflage, 2012, Rn. 97. 433 A. Zoll, in: A. Zoll (Hrsg.), Kodeks karny. Cze ˛s´c´ ogólna, 4. Auflage, 2012, Art. 1 Rn. 79. 434 M. Królikowski/R. Zawłocki, in: M. Królikowski/R. Zawłocki (Hrsg.), Kodeks karny. Cze˛s´c´ ogólna, Band 1, 3. Auflage, 2015, Vor Art. 1 Rn. 101. 435 A. Marek, Prawo karne, 10. Auflage, 2011, Rn. 88. 429

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht

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In der polnischen strafrechtlichen Literatur ist ebenfalls allgemein anerkannt, dass eine Analogie auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts zu Ungunsten des Täters unzulässig ist.436 Gemeint sind sowohl analogia legis als auch analogia iuris. Dieses Verbot erfasst auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung (Polnisch: s´rodki zabezpieczaja˛ce). Demgegenüber wird eine Analogie zugunsten des Täters grundsätzlich anerkannt, insbesondere dann, wenn eine Gesetzeslücke vorliegt.437 Die begünstigende Analogie ist jedoch nicht zulässig, wenn aus der Vorschrift eindeutig hervorgeht, dass der Gesetzgeber das betreffende Rechtsinstitut nur auf die Fälle erstrecken wollte, die er in der Vorschrift explizit genannt hat.438 Zulässig ist jedoch die Analogie auf dem Gebiet der Rechtfertigungs-, Strafaufhebungs- und Strafausschließungsgründe, wobei bei ihrer Anwendung Vorsicht geboten ist, um nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers einzugreifen.439 Warylewski sieht einen Anwendungsbereich für die Analogie auch noch in denjenigen Fällen, in denen die analoge Anwendung einer Vorschrift die Lage des Täters weder verbessert noch verschlechtert.440 Neben dem Analogieverbot betont man in der polnischen Literatur das Verbot der ausdehnenden Auslegung (Polnisch: wykładnia rozszerzaja˛ca) auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts.441 Einige Autoren setzen die ausdehnende Auslegung mit der Analogie gleich.442 Nur wenige Autoren definieren jedoch diesen

436 R. Góral, Kodeks karny. Praktyczny komentarz, 5. Auflage, 2007, S. 12; A. Zoll, in: A. Zoll (Hrsg.), Kodeks karny. Cze˛s´c´ ogólna, 4. Auflage, 2012, Art. 1 Rn. 74; A. Marek, Prawo karne, 10. Auflage, 2011, Rn. 62 f.; R. A. Stefan´ski, Prawo karne materialne. Cze˛s´c´ ogólna, 2008, S. 53; J. Warylewski, Prawo karne. Cze˛s´c´ ogólna, 5. Auflage, 2012, Rn. 204; M. Bojarski/J. Giezek/Z. Sienkiewicz, Prawo karne materialne. Cze˛s´c´ ogólna i szczególna, 5. Auflage, 2012, Rn. 30; L. Gardocki, Prawo karne, 18. Auflage, 2013, Rn. 31; M. Królikowski/R. Zawłocki, in: M. Królikowski/R. Zawłocki (Hrsg.), Kodeks karny. Cze˛s´c´ ogólna, Band 1, 3. Auflage, 2015, Vor Art. 1 Rn. 98; W. Wróbel/A. Zoll, Polskie prawo karne. Cze˛s´c´ ogólna, 2. Auflage, 2012, S. 118; A. Wa˛sek/M. Kulik, in: M. Filar (Hrsg.), Kodeks karny. Komentarz, 4. Auflage, 2014, S. 17; T. Bojarski, in: T. Bojarski (Hrsg.), Kodeks karny, 6. Auflage, 2013, S. 28; Ł. Pohl, Prawo karne. Wykład cze˛s´ci ogólnej, 2. Auflage, 2013, Rn. 33; P. Kozłowska-Kalisz, in: M. Mozgawa (Hrsg.), Kodeks karny. Praktyczny komentarz, 6. Auflage, 2014, Art. 1 Rn. 7. 437 R. A. Stefan ´ski, Prawo karne materialne. Cze˛s´c´ ogólna, 2008, S. 53. 438 A. Zoll, in: A. Zoll (Hrsg.), Kodeks karny. Cze ˛s´c´ ogólna, 4. Auflage, 2012, Art. 1 Rn. 76. 439 Ebenda. 440 J. Warylewski, Prawo karne. Cze ˛s´c´ ogólna, 5. Auflage, 2012, Rn. 204. 441 A. Stefan ´ski, Prawo karne materialne. Cze˛s´c´ ogólna, 2008, S. 53; M. Bojarski/ J. Giezek/Z. Sienkiewicz, Prawo karne materialne. Cze˛s´c´ ogólna i szczególna, 5. Auflage, 2012, Rn. 30; M. Królikowski/R. Zawłocki, in: M. Królikowski/R. Zawłocki (Hrsg.), Kodeks karny. Cze˛s´c´ ogólna, Band 1, 3. Auflage, 2015, Vor Art. 1 Rn. 98; P. Kozłowska-Kalisz, in: M. Mozgawa (Hrsg.), Kodeks karny. Praktyczny komentarz, 6. Auflage, 2014, Art. 1 Rn. 7. 442 L. Gardocki, Prawo karne, 18. Auflage, 2013, Rn. 31.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Begriff näher. Zu den Ausnahmen gehören Zoll und Wróbel, die eine ausdehnende Auslegung schon dann annehmen, wenn das Auslegungsergebnis über das Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode hinausgeht. Keine ausdehnende Auslegung liegt demgegenüber vor, wenn aus zwei Ergebnissen, die eine sprachliche Auslegungsmethode abdeckt, dasjenige bevorzugt wird, das eine weitergehende Strafbarkeit vorsieht, insbesondere wenn dafür wichtige systematische oder funktionelle Argumente sprechen. Nach Pohl liegt eine ausdehnende Auslegung dann vor, wenn der Interpret von dem eindeutigen Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode ohne ausreichende axiologische Begründung abweicht.443 Nach Warylewski knüpft die ausdehnende Auslegung immer an einen konkreten Begriff im Gesetz; dagegen bezieht sich die Analogie auf eine Situation, die im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat.444 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass man dem Wortlautkriterium und dem Analogieverbot in beiden Rechtsordnungen eine große Bedeutung auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts beimisst. Dieses Ergebnis muss jedoch im Hinblick auf die deutsche Rechtsordnung verfeinert werden. Gemeint ist insbesondere diejenige Strömung in der deutschen Strafrechtswissenschaft, die das Wortlautkriterium auf dem Gebiet des Strafrechts deutlich relativiert. Nach diesen Ansichten ist der Richter an den Wortlaut des Gesetzes im Strafrecht nicht gebunden.445 Diese Auffassung wird mit zwei Argumenten untermauert. Zum einen wird behauptet, dass zwischen Auslegung und Analogie kein logischer Unterschied bestehe. Nach dieser Auffassung besteht jede Auslegung in einem Ähnlichkeitsvergleich. Dazu Kaufmann: „Was man in der Jurisprudenz traditionell Analogie nennt, unterscheidet sich von der ,normalen‘ Rechtsfindung und namentlich von der sog. ,teleologischen Interpretation‘ nur durch den Grad der extensio, aber nicht durch die logische Struktur des Verfahrens. Auch die ,gewöhnliche‘ Subsumtion ist eine Analogie. Man könnte Subsumtion und Analogie nur dann voneinander logisch scheiden, wenn es eine logische Grenze zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit gäbe. Aber diese Grenze gibt es nicht, denn materiale Gleichheit ist immer nur Ähnlichkeit, und formale Gleichheit kommt in der Wirklichkeit nicht vor, sie ,existiert‘ nur im Bereich mathematischer (logischer) Zahlen und Zeichen. An dieser Sachlage scheitert jegliches ,Analogieverbot‘, mag man es auch, da es sachlich nicht zu begründen ist, umso emphatischer beschwören.“ 446

443

Ł. Pohl, Prawo karne. Wykład cze˛s´ci ogólnej, 2. Auflage, 2013, Rn. 38. J. Warylewski, Prawo karne. Cze˛s´c´ ogólna, 5. Auflage, 2012, Rn. 201. 445 W. Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, 1953, S. 147 ff., 152 ff.; Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Auflage, 1982, S. 4 ff., 40; W. Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 162 ff., 165; E. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Auflage, 1984, Kap. 3 Rn. 52 f.; G. Stratenwerth/L. Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Auflage, 2011, § 3 Rn. 32. 446 Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Auflage, 1982, S. 40. 444

F. Grundriss der Methodenlehre im deutschen und im polnischen Recht

133

Ähnlich argumentieren Stratenwerth und Kuhlen: „Auslegung und Analogie bilden jedoch keinen Gegensatz. Gesetzesauslegung ist ohne Analogie nicht möglich. Schon eine so einfache Zweifelsfrage wie die, ob Früchte auf dem Halm im Sinne des Diebstahlstatbestandes (§ 242), anders als im Zivilrecht, ,bewegliche‘ Sachen sind, erfordert die Feststellung, dass dieser Fall den zweifelsfrei gemeinten in wesentlicher Hinsicht, nämlich unter dem Gesichtspunkt der tatsächlichen ,Bewegbarkeit‘ des Tatobjekts entspricht: das heißt analog ist. Analogie bedeutet Ähnlichkeit, und ähnlich ist einander nur, was teilweise übereinstimmt, teilweise nicht. Da sich juristisch relevante Sachverhalte niemals völlig gleichen, gehört es zum eigentlichen Geschäft des Juristen, Übereinstimmung und Verschiedenheit aufzudecken, also Analogien festzustellen. Damit wird zugleich deutlich, das nicht die Analogie als solche verboten sein kann, die Grenze der zulässigen Auslegung also auf andere Weise bestimmt werden muss.“ 447

Nach anderer Auffassung ermöglicht der Wortlaut angesichts der Unbestimmtheit der Sprache keine brauchbare Abgrenzung. Er kann den Rahmen der Auslegung nicht abstecken. So argumentiert z. B. Jakobs: „Zur Lösung wird verbreitet versucht, den Interpreten an den Begriffsinhalt bei umgangssprachlichem Wortgebrauch (Sprachgebrauch des täglichen Lebens, natürlicher, allgemeiner Sprachgebrauch etc.) zu binden. Das führt aber zu keinem verwertbaren Ergebnis; denn es gibt nicht nur eine einzige Umgangssprache, die Begriffsinhalte produziert. Vielmehr bildet sich die Umgangssprache in einer Fülle regionaler, beruflicher und sonstiger Bereichssprachen, ohne daß sich einer der Bereiche als strafrechtlich maßgeblich herausheben würde. Deshalb kann für alle nicht ganz selten verwendeten Wörter in der Regel ein so umfangreiches Arsenal von umgangssprachlichen Bedeutungen angeboten werden, daß die strafrechtliche Begriffsbildung nicht nennenswert begrenzt wird.“ 448

Ähnlich argumentieren Christensen und Kudlich: „,Wortlautgrenze‘ ist nicht im Gesetz ,auffindbar‘, ist keine durch die Norm gegebene Grenze. Und sie steht auch nicht in Wörterbüchern und Kommentaren. Der Rechtsanwender muss sie selbst ziehen. Oder anders: Das Gericht muss die Säulen, die als Wortlaut seine Entscheidung tragen sollen, erst errichten. Sie tragen nicht das Spiel – sie sind im Spiel. Die Grundparadoxie des Rechts, dass sich juristische Textarbeit die Grenze erst selbst zu ziehen hat, der sie unterworfen und an der sie zu messen ist, lässt sich nur auflösen, wenn sie im Streit des Verfahrens entfaltet wird.“ 449

Man geht noch weiter und stellt sogar die Tauglichkeit des Analogieverbotes in Frage. Dazu Hassemer: „Auch das Analogieverbot hat sich als nicht effektive Begrenzung richterlicher Freiheit erwiesen, weil sich die Grenzen der Strafbarkeit nicht jenseits der richterlichen 447

G. Stratenwerth/L. Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Auflage, 2011, § 3 Rn. 33. G. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Auflage, 1993, S. 84. 449 H. Kudlich/R. Christensen, Wortlaut, Wörterbuch und Wikipedia, JR 4/2011, S. 151. 448

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Auslegungstätigkeit aus dem Wortlaut des Strafgesetzes ergeben. Der Richter selbst konstruiert diese Grenze, und es gibt keine tauglichen Kriterien, die eine Überschreitung richterlicher Entscheidungsbefugnisse zweifelsfrei markieren könnten.“ 450

Wie bereits eingangs erwähnt wurde, relativieren diese Zitate deutlich die Bedeutung des Wortlautkriteriums. Es muss betont werden, dass alle diese Auffassungen von den Strafrechtlern geäußert wurden, die in der deutschen Rechtskultur hohes Ansehen genießen. Von diesem Hintergrund muss festgestellt werden, dass in der polnischen strafrechtlichen Literatur ähnliche Behauptungen bisher nicht aufgestellt wurden. Die Dominanz des Wortlautkriteriums auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts sowie das Analogieverbot sind unbestrittene Dogmen. Hier zeichnet sich somit ein deutlicher Unterschied in den strafrechtlichen Diskursen beider Länder ab. 2. Strafverfahrensrecht Sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Literatur ist anerkannt, dass die Analogie zu Gunsten des Beschuldigten (Angeklagten) im Strafverfahrensrecht grundsätzlich zulässig ist.451 Ein Unterschied zeichnet sich jedoch im Hinblick auf die Anwendung der Analogie zu Ungunsten des Beschuldigten (Angeklagten) ab. In der deutschen strafrechtlichen Literatur ist diese Art der Analogie grundsätzlich auch zulässig.452 Man fordert jedoch eine vorsichtige Auslegung derjenigen Prozessvoraussetzungen, die den objektiven Strafbarkeitsbedingungen oder den Strafausschließungsgründen des materiellen Strafrechts nahe stehen. In diesen Fällen ist immer zu prüfen, ob das Analogieverbot aus rechtsstaatlichen Gründen zur Anwendung kommen sollte.453 Das Analogieverbot gilt auch für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (Grundrechtseingriffe) aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes.454 Man schließt die Anwendung der Analogie zu Lasten des Beschuldigten (Angeklagten) auch bei der Anwendung von Ausnahmevorschriften aus.455 In der polnischen Literatur ist im Allgemeinen anerkannt, dass eine Analogie nicht zulässig ist, wenn ihre Anwendung: • den Anwendungsbereich von Zwangsmitteln (z. B. Untersuchungshaft) oder den Anwendungsbereich von pekuniären Sanktionen (z. B. Geldbußen), die im Strafverfahren verhängt werden können, erweitern würde; 450 W. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: Arthur Kaufmann/W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie der Gegenwart, 8. Auflage, 2011, S. 260. 451 L. Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage, 2014, Einl Rn. 198. 452 A. Eser/B. Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, § 1 Rn. 34. 453 C. Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Auflage, 2006, § 5 Rn. 43. 454 V. Krey/R. Esser, Deutsches Strafrecht AT, 5. Auflage, 2012, Rn. 97 Fn. 136. 455 A. Eser/B. Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, § 1 Rn. 34.

G. Gegenwärtige Kritik der gerichtlichen Auslegungspraxis

135

• zur Einschränkung oder Minderung der Rechte der Verfahrensteilnehmer führen würde, insbesondere dann, wenn diese Rechte Garantiefunktionen erfüllen; • zu Ungunsten des Beschuldigten (Angeklagten) wirken würde; • den Anwendungsbereich von Ausnahmevorschriften erweitern würde.456 Es fällt auf, dass in der polnischen Lehre im Gegensatz zu der in Deutschland herrschenden Meinung die Analogie zu Ungunsten des Beschuldigten (Angeklagten) grundsätzlich verboten ist. Einige Verfasser schränken jedoch dieses Verbot ein. Nach Marszał soll die Analogie nur dann nicht zulässig sein, wenn sie sich auf die für den Angeklagten ungünstigen Vorschriften bezieht.457 Andere Verfasser plädieren für eine abstrakte Handhabung des Analogieverbotes – ihrer Meinung nach soll das Verbot nur dann gelten, wenn die betreffenden Vorschriften von ihrer Natur für den Beschuldigen (Angeklagten) oder eine andere Partei nachteilig sind. Sein Anwendungsbereich bezieht sich jedoch nicht auf diejenigen Vorschriften, die aus der Natur der Sache neutral sind, deren konkrete Anwendung für den Beschuldigten oder eine Partei aber ungünstig sein kann.458

G. Gegenwärtige Kritik der gerichtlichen Auslegungspraxis in der deutschen und in der polnischen Literatur Ein interessantes Licht auf die Thematik der vorliegenden Untersuchung werfen auch diejenigen Stimmen in der Literatur beider Länder, die sich kritisch mit der gerichtlichen Auslegungspraxis, insbesondere der höchstrichterlichen Rechtsprechung, auseinandersetzen. Die kritischen Stimmen sind für die vorliegende Untersuchung deshalb so wichtig, weil sie sich auf die Hauptprobleme der Auslegungspraxis des jeweiligen Landes konzentrieren, die aus der Sicht der betreffenden Rechtskultur Kritik verdienen. Es scheint, als seien die Kritikpunkte in beiden Ländern unterschiedlich. Während in Deutschland die von den obersten Gerichten verwendete objektiv-teleologische Methode im Brennpunkt der Kritik steht, werden in Polen Vorwürfe gegen den Formalismus der polnischen Rechtsprechung erhoben. 456 K. Marszał, Proces karny. Zagadnienia ogólne, 2. Auflage, 2013, S. 45; Z. S´wida, in: J. Skorupka (Hrsg.), Poste˛powanie karne. Cze˛s´c´ ogólna, 2012, S. 24; S. Waltos´ / P. Hofman´ski, Proces karny, 11. Auflage, 2013, Rn. 257; S. Steinborn, in: J. Grajewski (Hrsg.), Prawo karne procesowe – cze˛s´c´ ogólna, 3. Auflage, 2011, Rn. 32; T. Grzegorczyk/J. Tylman, Polskie poste˛powanie karne, 9. Auflage, 2014, Rn. 155; Z. Sobolewski/ M. Rogalski, in: G. Artymiak/M. Rogalski (Hrsg.), Proces karny. Cze˛s´c´ ogólna, 2. Auflage, 2012, S. 36. 457 K. Marszał, Proces karny. Zagadnienia ogólne, 2. Auflage, 2013, S. 45. 458 S. Steinborn, in: J. Grajewski (Hrsg.), Prawo karne procesowe – cze˛s ´c´ ogólna, 3. Auflage, 2011, Rn. 32; S. Waltos´ /P. Hofman´ski, Proces karny, 11. Auflage, 2013, Rn. 257.

136

Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

I. Zur Diskussion in Deutschland Die Kritik an der Rechtsprechung des BGH durch die Literatur hat in Deutschland eine lange Geschichte. Dem BGH wird dabei primär vorgeworfen, dass er die Wortlautgrenze nicht beachte.459 Eine ausführliche Darstellung dieser Problemfälle kann jedoch in der vorliegenden Untersuchung nicht geleistet werden.460 Es mag daher ausreichen, (aus der älteren Rechtsprechung) eine im Schrifttum461 rege diskutierte Entscheidung des BGH (BGHSt 1, 1462) zu erwähnen, in der sich der BGH mit der Frage auseinandersetzte, ob ein chemisches Angriffsmittel (Salzsäure) eine „Waffe“ i. S. v. §§ 223a, 250 Abs. 1 Nr. 2 (a. F.) StGB sein kann oder für die Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals eine mechanische Einwirkung vorausgesetzt werden muss. In diesem Fall lässt der BGH die Subsumtion von Salzsäure unter das Tatbestandsmerkmal der „Waffe“ im Ergebnis nicht scheitern. Ähnliche Bedenken ruft der Fall des „unvorsätzlichen Entfernens“ vom Unfallort hervor, der in der strafrechtlichen Rechtsprechung463 bisher unter die gesetzlichen Begriffe „berechtigt oder entschuldigt vom Unfallort entfernt“ (§ 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB) subsumiert wird. Erst das BVerfG464 hat dieser Rechtsprechung vor kurzem ein Ende gesetzt.465 Ein weiterer problematischer Fall kann in der Subsumtion eines PKW unter den Begriff der „Waffe“ nach § 113 Abs. 2 Nr. 1 StGB gesehen werden. Auch dieser Rechtsprechung hat sich das BVerfG vor kurzem widersetzt.466 Danach sei ein Personenkraftwagen „vom möglichen Wortsinn des Begriffs der ,Waffe‘ in § 113 II 2 Nr. 1 StGB nicht mehr 459 Siehe dazu insbesondere U. Scheffler, Die Wortsinngrenze bei der Auslegung. Ist der Verlust der Empfängnisfähigkeit von § 224 StGB umfaßt?, JURA 6/1996, S. 507; ders., Gedanken zur Rechtsbeugung, NStZ 2/1996, S. 67 ff. 460 Siehe dazu E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 100 ff. 461 G. Reinicke/D. Reinicke, Die Auslegungsgrundsätze des Bundesgerichtshofes, NJW 18/1951, S. 681 ff.; J. Baumann, Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im Strafrecht, MDR 6/1958, S. 394 ff.; Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999, S. 80; R. Schmitt, Anmerkung zu BGH JZ 1969, 303 (= BGHSt 22, 235), JZ 9/1969, 304; K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Auflage, 2010, S. 258; W. Hassemer, in: AK-StGB, Band 1, 1990, § 1 Rn. 92; B. Rüthers/ Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 168; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 324; A. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Auflage, 2010, § 1 Rn. 56; H.-H. Jescheck/ Th. Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage, 1996, S. 160; C. Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Auflage, 2006, § 5 Rn. 29. 462 Urteil vom 21.11.1950, 4 StR 20/50. 463 Beschluss des BGH vom 30.8.1978, 4 StR 682/77, BGHSt 28, 129, 134; Urteil des OLG Köln vom 1.2.1977, Ss 661/76, NJW 49/1977, 2275, 2275; Urteil des BayObLG vom 3.11.1978, RReg. 1 St 285/78, NJW 9/1979, 436, 437 f.; Beschluss des BayObLG vom 23.12.1981, RReg. 1 St 295/81, NJW 19/1982, 1059, 1059. 464 Beschluss vom 19.3.2007, 2 BvR 2273/06, NJW 23/2007, 1666. 465 Näher dazu: H. Kudlich, „Gesetzesumgehung“ und andere Fälle teleologischer Lückenschließung im Strafrecht, in: FS für Stöckel, 2010, S. 96 ff. 466 Beschluss vom 1.9.2008, 2 BvR 2238/07, NJW 50/2008, 3627.

G. Gegenwärtige Kritik der gerichtlichen Auslegungspraxis

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umfasst“.467 Weitere Beispiele468 wären die Subsumtion eines LKW unter „bespanntes Fuhrwerk“ 469, die Bezeichnung von zwei Personen als „Bande“ 470, des versuchten Suizides als „Unglücksfall“ 471, das Anlassen des Motors als „Führen eines Fahrzeugs“ 472, der Verzögerung der Bestrafung als „Strafvereitelung“.473 Die Liste der problematischen Fälle ließe sich noch verlängern. In diesem Zusammenhang ist die heftige Diskussion in Deutschland zu erwähnen, die Rüthers (Autor des Werkes „Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus“, 5. Auflage, 1997) mit einer Reihe von kritischen Artikeln474 ausgelöst hat. Diese Kritik betrifft nicht die einzelnen Fälle des BGH, die aus methodischer Sicht problematisch sind, sondern stellt die obergerichtliche Rechtsprechung in Deutschland (auch die Rechtsprechung des BGH) generell in Frage. Schon die Überschriften dieser Artikel weisen darauf hin, dass Rüthers eine aus seiner Sicht gefährliche Tendenz in der obergerichtlichen Rechtsprechung festgestellt hat. Dass diese Vorwürfe ernst genommen wurden, zeigt der Widerhall in der Literatur (G. Hirsch, W. Hassemer, C.-W. Canaris), was schon deshalb nicht verwundert, weil Rüthers den obersten Bundesgerichten schwere Vorwürfe gemacht hat. Fasst man die Kritik von Rüthers zusammen, so hat er der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte vor allem vorgeworfen, dass sie unter dem Etikett der objektiven Auslegungsmethode ihre subjektiven Regelungsvorstellungen realisiert.475 Mit den Worten von Rüthers bewirkt die sog. objektive Auslegung: „(. . .), wie inzwischen rational kaum noch zu bestreiten ist, das Gegenteil dessen, was sie mit ihrem Namen zu sein vorgibt. Sie eröffnet den subjektiven Regelungsvorstellungen der jeweiligen gerichtlichen Spruchkörper weite, bisweilen nahezu belie-

467

Ebenda, S. 3628. Siehe dazu insbesondere U. Scheffler, Die Wortsinngrenze bei der Auslegung. Ist der Verlust der Empfängnisfähigkeit von § 224 StGB umfaßt?, JURA 6/1996, S. 507. 469 Urteil des BGH vom 13.9.1957, 1 StR 338/57, BGHSt 10, 375. 470 Beschluss des BGH vom 3.4.1970, 2 StR 419/69, BGHSt 23, 239. 471 Beschluss des BGH vom 10.3.1954, GSSt 4/53, BGHSt 6, 147; anders Urteil des BGH vom 12.2.1952, 1 StR 59/50, BGHSt 2, 150, 151. 472 Urteil des BGH vom 28.4.1955, 3 StR 13/55, BGHSt 7, 315; anders Beschluss des BGH vom 27.10.1988, 4 StR 239/88, BGHSt 35, 390. 473 Urteil des BGH vom 16.12.1958, 1 StR 456/58, BGHSt 12, 277. 474 B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 8/ 2002, S. 365 ff.; ders., Geleugneter Rechtsstaat und vernebelte Richtermacht, NJW 38/ 2005, S. 2759 ff.; ders., Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2/2006, S. 53 ff.; ders., Zwischenruf aus der methodischen Wüste: „Der Richter wird’s schon richten“(?), JZ 19/2006, S. 958 ff.; ders., FAZ 26.10.2006; ders., Hatte die Rechtsperversion in den deutschen Diktaturen ein Gesicht?, JZ 11/2007, S. 556 ff.; ders., Fortgesetzter Blindflug oder Methodendämmerung der Justiz? Zur Auslegungspraxis der obersten Bundesgerichte, JZ 9/2008, S. 446 ff. 475 B. Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2/2006, S. 54; ders., Rechtswissenschaft ohne Recht?, NJW 7/2011, S. 434. 468

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

bige Durchsetzungsmöglichkeiten. Die Richter entscheiden im Zweifelsfall, welche Antworten auf die anstehenden Rechtsfragen aus ihrer Sicht ,objektiv vernünftig‘ sind. Daß diese objektive Vernünftigkeit untrennbar von ihren subjektiven Vorverständnissen abhängt, wird übersehen und verdrängt.“ 476

Die angeblich objektive Methode fördert nach Rüthers den Verfassungswandel vom Rechtsstaat zum Richterstaat, was auch gern übersehen und geleugnet werde.477 Ferner wirft Rüthers den Gerichten der letzten Instanz vor, dass sie dort, wo die Gesetzgebung schweigt, unvermeidlich zu „Ersatzgesetzgebern“ werden.478 Dabei kann man eine Veränderung des Rechtsbegriffes konstatieren: Geltendes Recht ist – nach Rüthers – in Deutschland das, was die letzten Instanzen sagen.479 Die objektive Methode verwandle die obersten Bundesgerichte unvermeidlich, insbesondere das BVerfG, von Dienern zu Herren der Rechtsordnung.480 Dabei spricht Rüthers den obersten Bundesgerichten das Recht zur Rechtsfortbildung nicht generell ab. Sie sei wegen der rasanten Entwicklung der gesellschaftlichen Gegebenheiten und der schnellen „Alterung“ überkommener Gesetze legitim und unvermeidbar.481 Gegenstand seiner Kritik ist vielmehr die Verschleierung der normsetzenden Aktivität der Gerichte unter dem Etikett der „Auslegung“. Ferner stellt Rüthers die wachsende Bedeutung des Richterrechts auf allen Gebieten des Rechts fest. Nach seiner Auffassung ist der überwiegende Teil des heute geltenden Rechts nicht mehr das Gesetzesrecht, sondern das Richterrecht der letzten Instanzen.482 Dadurch sei die Rechtsordnung die Domäne von Juristen geworden: „In diesem Bereich kann die Bundesrepublik nur noch sehr eingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnet werden. Die Normsetzung ist zu erheblichen Teilen in die Hände einer ,Juristenaristokratie‘, besser: ,Richteraristokratie‘ gewandert.“ 483

Dabei ist nach Rüthers nicht zu übersehen, dass die obersten Bundesgerichte eine feste und absolute Führungsrolle für die Entwicklung der Rechtsordnung und der Rechtsdogmatik übernommen haben.484 Diese Entwicklung gehe soweit, 476

B. Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2/2006, S. 54. Ebenda, S. 56. 478 B. Rüthers, Fortgesetzter Blindflug oder Methodendämmerung der Justiz? Zur Auslegungspraxis der obersten Bundesgerichte, JZ 9/2008, S. 447. 479 Ebenda. 480 B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 8/ 2002, S. 368. 481 B. Rüthers, Rechtswissenschaft ohne Recht?, NJW 7/2011, S. 434. 482 B. Rüthers, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluß des Richterrechts, 2003, S. 18. 483 Ebenda, S. 19. 484 Ebenda, S. 21. 477

G. Gegenwärtige Kritik der gerichtlichen Auslegungspraxis

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dass die Gerichte in dieser Funktion zu Konkurrenten der Gesetzgebung geworden seien, „nicht selten zu überlegenen Konkurrenten“.485 In den Worten von Hirsch486 wirft Rüthers „den Richtern vor, nicht selten aufgrund eigener Gerechtigkeitsvorstellungen mit Hilfe geeigneter ,Auslegungs-‘, besser ,Einlegungsstrategien‘, von den vorhandenen gesetzlichen Wertungen abzuweichen, also den Gesetzesgehorsam zu verweigern. Er konstatiert einen verfassungspolitisch bedeutsamen Wandlungsprozeß weg vom traditionellen Vorrang des Gesetzesrechts hin zum Vormarsch des Richterrechts auf nahezu allen Rechtsgebieten. Das Instrument, mit dem die Richter ihre ,verdeckte Normsetzungsanmaßung gegen das Gesetz und die Verfassung‘ bewerkstelligen, sieht Rüthers in der von ihnen praktizierten objektiven Methode der Gesetzesauslegung. Sie ermögliche den Richtern, sich von Dienern der Gesetze zu Herren der Rechtsordnung aufzuschwingen nach dem Motto: Im Zweifel alle Macht den Interpreten. Der reale Wille des Gesetzgebers bleibe auf der Strecke, ja, die Richter könnten (und wollten?) bei dieser Arbeitsweise nicht einmal erkennen, daß und warum sie vom Regelungswillen der Gesetzgebung abweichen.“ 487 Hassemer hat die Diagnose von Rüthers in fünf Punkten zusammengefasst: • Ein Schattendasein der juristischen Methodenlehre in der Juristenausbildung. • Ein wucherndes Richterrecht. • Eine Verschleierung und Umdeutung von Systemwechsel und Systemideologie. • Ein naives und ahistorisches Verständnis juristischer Methodenlehre in der rechtswissenschaftlichen Literatur, vor allem aber in der Rechtsprechung. • Und endlich ein Siegeszug der „objektiven Methode“, die den Rechtsanwendern beliebige und verschleierte Abweichungen von den erkennbaren Regelungszielen und Normzwecken der Gesetzgebung erlaube.488 Aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung ist insbesondere derjenige Kritikpunkt von Rüthers interessant, der der obergerichtlichen (auch strafrechtlichen) Rechtsprechung vorwirft, dass sie von den vorhandenen gesetzlichen Wertungen abweiche, indem sie eine objektive Methode der Auslegung anwendet. Wäre dieser Vorwurf zutreffend, so würde dies bedeuten, dass die obergerichtliche Rechtsprechung eher antiformalistisch ist; denn nach dem formalistischen Ansatz steht die enge Haftung am Gesetz im Vordergrund. 485

Ebenda. G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003; ders., Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 18/2007, S. 853 ff. 487 G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003, S. 1. 488 W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: FS für Jung, 2007, S. 232 f. 486

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Es ist schwer, der Diagnose von Rüthers zu widersprechen. Die von ihm festgestellte Tendenz ist jedoch auch in anderen Ländern vorhanden (siehe dazu im Pkt. A. „Rechtsphilosophische Perspektive“). Die zunehmende Aktivität der Gerichte bei der Gestaltung der eigenen Rechtsordnungen („judicial activism“) ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Diese Tendenz wurde auch in der polnischen Literatur beobachtet,489 aber dem OG wurde ein darauf gestützter Vorwurf bisher erspart. Hirsch (ehemaliger Präsident des BGH), der die Bedenken von Rüthers nicht teilt, beginnt seine Argumentation mit einem Hinweis auf das Grundgesetz. Als Hauptargument wird Art. 20 Abs. 3 GG herangezogen, der besagt, dass die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht gebunden“ ist, was in den Worten des BVerfG bedeutet, „dass sich Gesetz und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken“.490 Damit lehne das Grundgesetz nach Hirsch einen „wertungsfreien Gesetzespositivismus“ ab und eröffne die Möglichkeit, den Grundsatz der materialen Gerechtigkeit höher zu werten als die Geltung des positiven Gesetzes.491 Der „Rechtsstaat“ sei eben etwas anderes als ein „Gesetzesstaat“.492 Ferner wird das Argument verwendet, dass die deutsche Rechtsordnung sowohl jenseits von Naturrecht als auch von Rechtspositivismus angesiedelt sei.493 Hirsch stimmt mit Rüthers darin überein, dass sich in der deutschen Rechtsprechung die objektive Methode durchgesetzt habe, nach der der Wille des historischen Gesetzgebers zwar als ein wesentlicher Aspekt bei der Auslegung zu berücksichtigen ist, im Kollisionsfall jedoch objektiv-teleologischen Aspekten zu weichen habe.494 Diese Praxis sei jedoch nicht zu beanstanden, da das Gesetz mitunter klüger sein könne als der Gesetzgeber.495 Ferner hebt Hirsch hervor, dass der Richterstaat die Konkretisierung des Rechtsstaates sei, und dieser Begriff keinen negativen Beigeschmack verdiene.496 In einem Rechtsstaat sei die Kompetenz der Richter zur Auslegung und Fortbildung des Rechts keine gegen den Gesetzgeber gerichtete, schon gar keine

489 L. Morawski, Główne problemy współczesnej filozofii prawa, 4. Auflage, 2005, S. 285. 490 G. Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 18/2007, S. 854 mit Verweis auf den Beschluss des BVerfG vom 14.2.1973, 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269, 286. 491 Ebenda, mit Verweis auf das Urteil des BVerfG vom 18.12.1953, 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225, 232. 492 Ebenda. 493 Ebenda. 494 Ebenda, S. 855. 495 Ebenda, mit Verweis auf G. Radbruch und den Beschluss des BVerfG vom 29.1. 1974, 2 BvN 1/69, BVerfGE 36, 342, 362. 496 Ebenda, S. 856.

G. Gegenwärtige Kritik der gerichtlichen Auslegungspraxis

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usurpierte Macht, sondern das Hausgut der Dritten Gewalt und ein Konstruktionselement der Teilung der Gewalten.497 Schließlich verlagert Hirsch die Diskussion auf die europäische Ebene und wirft Rüthers vor, dass er diesen Aspekt völlig außer Acht lasse. Nach Hirsch sind die Zeiten, in denen die Richter innerhalb eines geschlossenen nationalen Rechtssystems Normen lediglich des innerstaatlichen Gesetzgebers auszulegen hatten, vorbei.498 Angesichts der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben sei in vielen Bereichen der nationalen Gesetzgebung die Suche nach dem wirklichen Willen des Gesetzgebers nicht mehr möglich.499 Nach Hassemer dagegen überschätzte Rüthers sowohl Verbindlichkeit als auch Leistungskraft der juristischen Methodenlehre gewaltig. Diese Lehre sei als alleiniger Maßstab rechtsstaatlicher Rechtsfindung in einem kodifizierten Rechtssystem untauglich; für dieses Ziel stünden andere Mittel bereit.500 Die Äußerungen von Rüthers haben auch Canaris zu einer Antwort veranlasst. Er wirft Rüthers einen „unverantwortlichen Umgang mit den Texten“ 501 vor und führt aus, dass Rüthers ihn und Larenz zu Unrecht als Repräsentanten der „objektiv-teleologischen Methode der Rechtsanwendung“ betrachte, denn sie würden eine Misch- oder Kombinationstheorie vertreten, nach welcher die „subjektive“ Theorie den Ausgangspunkt bilde und „objektive“ Kriterien nur unter – näher anzugebenden – Voraussetzungen ergänzend und mitunter hinzutreten.502 Kürzlich hat sich gegen die Art und Weise der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH auch Schlothauer gewendet, der in seinem Aufsatz die ausgewählte neueste Rechtsprechung des BGH vor dem Hintergrund der dargestellten Kriterien als unzulässige Rechtsfortbildung bezeichnet.503 Im Mittelpunkt seiner Kritik steht die höchst problematische Rechtsprechung des BGH zur Zulässigkeit einer Protokollberichtigung,504 zur Stellung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung,505 zur Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung506 und zur Kompensation 497

Ebenda. Ebenda, S. 857. 499 Ebenda. 500 W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: FS für Jung, 2007, S. 233. 501 C.-W. Canaris, „Falsches Geschichtsbild von der Rechtsperversion im Nationalsozialismus“ durch ein Porträt von Karl Larenz? Wider einen Versuch „unbegrenzter Auslegung“ eines wissenschaftlichen Textes, JZ 18/2011, S. 887 (Fn. 18). 502 Ebenda, S. 887. 503 R. Schlothauer, Gesetzesrecht – Richterrecht, StraFo 11/2011, S. 459 ff. 504 Beschluss vom 23.4.2007, GSSt 1/06, BGHSt 51, 298. 505 Beschluss vom 9.5.2007, 1 StR 32/07, BGHSt 51, 333; Beschluss vom 23.9.2008, 1 StR 484/08, BGHSt 52, 355. 506 Beschluss vom 20.5.2010, 1 StR 577/09, BGHSt 55, 180. 498

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

der Folgen überlanger Verfahrensdauer507. In der Tat kann man dem Verfasser darin zustimmen, dass diese Entscheidungen erhebliche Zweifel an der Angemessenheit der diesbezüglichen Rechtsprechung aufkommen lassen. Die sachlichen Vorwürfe von Schlothauer können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden; es genügt jedoch, seine Schlussfolgerungen wiederzugeben. Bei der Zulässigkeit der Protokollberichtigung zitiert Schlothauer zustimmend die abweichende Meinung der Richter des BVerfG Voßkuhle, Di Fabio und Osterloh, die behauptet haben: „Der Große Senat für Strafsachen des BGH hat seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen überschritten.“ 508

Im Zusammenhang mit der Stellung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung stellt Schlothauer fest: „Das Fristenmodell des BGH widerspricht dem Normtext des § 246 Abs. 1 StPO und überschreitet damit die Grenze zulässiger Konkretisierung des Verfahrensrechts. Sie ist contra legem und verletzt den rechtsstaatlichen Vorrang des Gesetzes.“ 509

Im Hinblick auf die bereits erwähnte Rechtsprechung des BGH zur Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung führt der Verfasser aus: „Mag der Sinn von obiter dicta auch darin bestehen, dem Gesetzgeber Steilvorlagen für künftige Gesetze zu liefern – die Vorwegnahme erst noch zu schaffender Gesetze in Gestalt eines vorauseilenden Richterrechts ist aber die schlecht getarnte Usurpation gesetzgeberischer Funktionen durch die Rechtsprechung.“ 510

Schließlich bewertete Schlothauer die letzte Rechtsprechung des BGH zur Kompensation der Folgen der überlangen Verfahrensdauer: „Der Große Senat hat in seiner Entscheidung zur Vollstreckungslösung deshalb keine Rechtsfortbildung betrieben, sondern hat rechtsschöpferisch ein Thema gestaltet, das dem Gesetzgeber vorbehalten war.“ 511

Die Vorwürfe von Schlothauer gehören offenkundig zu den am schwersten wiegenden Argumenten, die gegen eine obergerichtliche Rechtsprechung vorgebracht werden können. Sie unterstützen sicherlich die Kritik von Rüthers, die bereits dargestellt wurde. Dabei bedauert der Verfasser den Methodennihilismus oder -agnostizismus der modernen Theorien richterlicher Entscheidungsfindung.512 Im Ergebnis plädiert er für den Vorrang des Gesetzesrechts über das Richterrecht.513

507 508 509 510 511 512 513

Beschluss vom 17.1.2008, GSSt 1/07, BGHSt 52, 124. R. Schlothauer, Gesetzesrecht – Richterrecht, StraFo 11/2011, S. 465. Ebenda, S. 466. Ebenda, S. 467. Ebenda, S. 468. Ebenda, S. 470. Ebenda.

G. Gegenwärtige Kritik der gerichtlichen Auslegungspraxis

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II. Zur Diskussion in Polen Eine ähnliche Kritik der höchstrichterlichen Rechtsprechung wie in Deutschland lässt sich in der polnischen Literatur nicht feststellen. Selbstverständlich wird auch dem OG gelegentlich der Vorwurf gemacht, dass er seine Zuständigkeitsgrenzen überschreite, aber Kritik, wie sie Rüthers gegenüber der obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland geäußert hat, kommt nicht vor. Dieser Unterschied muss nicht unbedingt bedeuten, dass das OG keine methodischen „Sünden“ begangen hat und sich immer an dem Wortlaut und dem Willen des Gesetzgebers orientiert. Die Zurückhaltung der polnischen Lehre kann ihre Ursache auch in den unterschiedlichen Beurteilungskriterien haben, die in beiden Rechtskulturen gelten. Diese Problematik müsste allerdings in einer vertieften vergleichenden Analyse untersucht werden, die in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann. Die Praxis der Gerichte in Polen wird jedoch in einem anderen Punkt kritisiert. Den polnischen Gerichten wird im Hinblick auf die Anwendung der Auslegungsmethoden der Vorwurf gemacht, dass sie sich zu streng an der sprachlichen Auslegungsmethode orientieren und andere Auslegungsmethoden außer Acht lassen. So hat sich Łe˛towska (Professorin und ehemalige Richterin am Verfassungsgericht) gegen den Reduktionismus der Auslegungsmethoden gewendet, wie er nach ihrer Einschätzung in der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung vorkommt.514 Sie hat eindeutig konstatiert, dass die polnischen Gerichte die sprachliche Auslegungsmethode als „Königin der Auslegung“ 515 betrachten und ihr im Auslegungsvorgang eine primäre Rolle einräumen. Diese Vorgehensweise lässt keinen Raum für Analogien, was Łe˛towska eher negativ beurteilt.516 Die Verfassungsrichterin kritisiert den Reduktionismus der Auslegungskriterien auch aus der Perspektive der Europäisierung der polnischen Rechtsordnung.517 Eine weitere Kritik an der methodischen Vorgehensweise der Gerichte in Polen hat Koncewicz geäußert. Schon der Titel seines Aufsatzes „Die Grenzen unseres Denkens über die Rolle der Gerichte“ bringt seine kritische Meinung gegenüber der Auslegungspraxis der polnischen Gerichte zum Ausdruck. Auch nach seiner Einschätzung halten sich die polnischen Gerichte streng an den Gesetzestext und bevorzugen die sprachliche Auslegungsmethode, die eine entscheidende Rolle bei der Entscheidungsfindung spielt, unabhängig davon, welche ungerechten und absurden Folgen sie damit bewirkt.518 514 E. Łe ˛towska, Redukcjonizm interpretacyjny jako skutek nieprawidłowego posługiwania sie˛ wykładnia˛ je˛zykowa˛ (na tle oceny przesłanek wpisu w trybie uproszczonym na liste˛ radców prawnych), EPS 5/2011, S. 41 ff. 515 Ebenda, S. 42. 516 Ebenda, S. 43. 517 Ebenda, S. 44. 518 T. T. Koncewicz, Bariery naszego mys ´lenia o roli sa˛dów (cz. 1), Palestra 9–10/ 2011, S. 188.

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Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen

Die Praxis der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung wird von Galligan und Matczak aus der methodischen Perspektive ebenfalls sehr kritisch betrachtet. Die Befunde ihrer Untersuchung wurden in dieser Arbeit schon dargestellt (siehe Pkt. E. II.). Ihr Haupteinwand liegt darin, dass die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung sehr selten an allgemeine Rechtsprinzipien, einschließlich der Verfassungs- und Gemeinschaftsgrundsätze, bei der Auslegung von Gesetzen anknüpft.519 Selten würden auch das Ziel und die Funktion des Rechts sowie das soziowirtschaftliche Umfeld berücksichtigt.520 Diese Vorgehensweise der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung könnte sich nach der Auffassung von Galligan und Matczak auf das wirtschaftliche Wachstum und die internationale Konkurrenzfähigkeit Polens negativ auswirken.521 Matczak hat sich jedoch nicht damit begnügt, eine formalistische Tendenz in der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung festzustellen. Er veröffentlichte auch eine kritische Studie,522 in der der Formalismus aus verschiedenen Gesichtspunkten kritisch gewürdigt wird. Im Ergebnis postuliert Matczak einen holistischen Ansatz, der sich als Gegensatz zu der formalistischen Haltung definiert.523 Stellt man die kritischen Stimmen aus der deutschen und der polnischen Literatur nebeneinander, so entsteht der Eindruck, dass die Gerichte aus unterschiedlichen Positionen kritisiert werden. Dem BGH wird vor allem vorgeworfen, dass er seine Befugnisse überschreitet und die Rolle des Gesetzgebers übernimmt. Angesichts der gezeigten Beispiele kann dieser Vorwurf nicht als völlig unbegründet bezeichnet werden. Der polnischen (verwaltungsrechtlichen) Rechtsprechung wird dagegen in erster Linie eine zu strenge Handhabung der sprachlichen Auslegungsmethode und ein Reduktionismus der Auslegungsmethoden zum Vorwurf gemacht.

519 520 521 522 523

M. Matczak, Summa iniuria, 2007, S. 48. Ebenda, S. 48 f. D. Galligan/M. Matczak, Strategie orzekania sa˛dowego, 2005, S. 40. M. Matczak, Summa iniuria, 2007. Ebenda, S. 217 ff.

Teil 2

Empirische Analysen A. Zur Darstellung des Materials Um die empirischen Befunde möglichst klar zu schildern, sei der Gang der Darstellung knapp skizziert. Zunächst wird das empirische Material (Stichprobe) dargestellt, das zur Analyse verwendet wurde. Dem folgt die Erläuterung der Art und Weise seiner Bearbeitung (B.). In einem weiteren Abschnitt dieses Teils werden die zur Untersuchung herangezogenen Begründungen beider Gerichte allgemein charakterisiert (C.). Danach sollen die wichtigsten Ergebnisse der empirischen Untersuchung zusammengestellt werden. Sie bilden den Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung und werden demzufolge möglichst eingehend veranschaulicht. In erster Linie werden die expliziten Äußerungen beider Gerichte zur Auslegungsproblematik präsentiert (D.). Nachfolgend wird auf die Topoi eingegangen, die in der Rechtsprechung des BGH und des OG ermittelt wurden (E.). Abschließend wird die Problematik der Rechts(neu)schöpfung in der Rechtsprechung beider Gerichte näher behandelt (F.). Alle diese Aspekte werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Auslegungs- und Begründungskultur der beiden obersten Gerichte verdeutlichen.

B. Material der Untersuchung I. Einführung In einem ersten Schritt soll erläutert werden, auf welche Weise die Entscheidungen des BGH und des OG ausgewählt wurden, die die Grundlage der vorliegenden Untersuchung bilden. Angesichts der erheblichen Anzahl der Entscheidungen, die die höchstrichterliche Rechtsprechung beider Länder jährlich trifft, kommt eine Analyse der gesamten Rechtsprechung nicht in Betracht. Allein der BGH erlässt jährlich ungefähr 3.000 Entscheidungen in Strafsachen.1 Beim OG 1 Über Revisionen wurde im Jahre 2007 in 142 Fällen durch Urteil entschieden. 2.751 Revisionen wurden im Beschlussverfahren gemäß § 349 StPO erledigt. In 79 Fällen erkannten die Strafsenate auf Aufhebung des Urteils nach § 349 Abs. 4 StPO, in 382 Fällen auf Aufhebung des Urteils nach § 349 Abs. 2 und Abs. 4 StPO. 2.252 Revisionen wurden gemäß § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet verworfen. In 86 Fällen wurde die Revision zurückgenommen. Sonstige Erledigungsarten spielen daneben keine nennenswerte Rolle. Bezogen auf die Gesamtzahl der erledigten Revisio-

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Teil 2: Empirische Analysen

wurden jährlich ungefähr 1.800 Kassationen beantragt. Viele dieser Entscheidungen sind für die vorliegende Untersuchung nicht von Interesse, weil sie sich sehr kurzgefasst mit formalen Angelegenheiten beschäftigen. Daher beschränkt sich die Untersuchung auf eine bestimmte Anzahl von Entscheidungen. Auch die bereits von anderen Autoren durchgeführten Untersuchungen, die sich auf die Analyse der jeweiligen nationalen Rechtsprechung konzentrierten, mussten eine repräsentative Auswahl treffen. Allerdings darf eine solche Auswahl nicht auf einer arbiträren Entscheidung beruhen, vielmehr müssen dabei methodische Grundsätze der Sozialforschung eine wesentliche Rolle spielen. Die zutreffende Auswahl der Stichproben ist sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen2 Sozialforschung von Bedeutung, wobei beiden Paradigmen in dieser Hinsicht unterschiedliche Grundsätze zugrunde liegen. Während im quantitativen Paradigma die repräsentative Stichprobe nach dem Zufallsprinzip schon zu Beginn der Untersuchung bestimmt werden muss, ist die Stichprobengröße im qualitativen Paradigma nicht vorab definiert.3 Die Stichprobenelemente werden erst im Verlauf der Untersuchung nach jeweils neu festzulegenden Kriterien bestimmt.4 Für die qualitativ orientierte Sozialforschung ist dabei weniger von Interesse, wie ein Problem statistisch verteilt ist, sondern vielmehr, welche Probleme es tatsächlich gibt und wie sie beschaffen sind.5 Es geht hier somit nicht um eine große Anzahl von Fällen, sondern um für die Fragestellung typische Fälle. Repräsentativität ist dabei kein entscheidendes Kriterium. Die Fälle können sogar willkürlich unter einem Aspekt ausgewählt werden, um eine neue Theorie zu entwickeln bzw. zu erweitern.6 Dabei ist bei den komparativen Untersuchungen die Vergleichsgruppenbildung wesentlicher Bestandteil der Auswahlentscheidungen. In diesem Bereich ist zu klären, auf welcher Ebene Vergleiche angestellt werden sollen: zwischen Personen, zwischen Situationen, zwischen Institutionen oder zwischen Phänomenen. Dabei wird in der methodischen Literatur betont, dass die Auswahl so zu treffen ist, dass jeweils mehrere Fälle in einer Vergleichsgruppe enthalten sind.7 nen entfallen auf die Urteile 4,7%, auf die Aufhebung nach § 349 Abs. 4 StPO (einschließlich der Beschlüsse nach § 349 Abs. 2 und 4 StPO) 15,4% und auf die Verwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO 75,3%. Siehe dazu: Übersicht über den Geschäftsgang bei den Strafsenaten des Bundesgerichtshofes im Jahre 2007, http://www.bundesge richtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/DerBGH/StatistikStraf/jahresstatistikStrafsena ja2007.pdf (letzter Zugriff: 19.5.2015). 2 U. Flick, Projektowanie badania jakos ´ciowego, 2010, S. 77. 3 S. Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 5. Auflage, 2010, S. 168. 4 Ebenda. 5 Ebenda. 6 Ebenda, S. 172 f. 7 U. Flick, Methodologie qualitativer Forschung, in: U. Flick/E. v. Kardorff/I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung, 9. Auflage, 2012, S. 262; ders., Projektowanie badania jakos´ciowego, 2010, S. 78.

B. Material der Untersuchung

147

II. Stichprobe Die Stichprobe für die vorliegende Untersuchung wurde aus den wichtigsten Entscheidungssammlungen beider Länder gezogen. In Deutschland kam dafür die im Carl Heymanns Verlag veröffentlichte Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (BGHSt) in Betracht, die zwar keine amtliche Sammlung im strengen Sinne ist, aber ihrem Charakter nach als eine solche Sammlung angesehen werden kann. Für diese Wahl spricht, dass vor allem die Richter und Richterinnen des Bundesgerichtshofs die Entscheidungen für diese Sammlung auswählen. Gemäß § 18 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Bundesgerichtshofes vom 3.3.19528 werden in diese Entscheidungssammlung alle Entscheidungen der Großen Senate und der Vereinigten Großen Senate aufgenommen. Auch werden alle Urteile der einzelnen Senate und diejenigen Beschlüsse der einzelnen Senate, die der betreffende Senat wegen ihrer besonderen rechtlichen Bedeutung mit dem Vermerk „ES“ (= Entscheidungssammlung) versieht, publiziert.9 In dieser Sammlung werden pro Jahr ungefähr 45 Entscheidungen veröffentlicht. In Polen werden die wichtigsten Entscheidungen des OG in einer amtlichen Sammlung veröffentlicht. Die Rechtsgrundlage dafür findet sich in Art. 7 des Gesetzes vom 23.11.2002 über das Oberste Gericht.10 Die Grundsätze der Veröffentlichung bestimmt der Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts (Pierwszy Prezes Sa˛du Najwyz˙szego) gemäß dem Beschluss der Richterversammlung des Obersten Gerichts vom 1.12.2003 über der Geschäftsordnung des Obersten Gerichts11 im Wege der Anordnung. Die Entscheidungen werden grundsätzlich monatlich publiziert. Jährlich werden ungefähr 100 Entscheidungen veröffentlicht. Für diese Auswahl sprechen vor allem die folgenden Erwägungen: • Beide Sammlungen konzentrieren sich auf die für die jeweilige Praxis wichtigsten Entscheidungen; • bei der Auswahl der Entscheidungen wirken Richter und Richterinnen des BGH bzw. des OG mit. Dies erlaubt es, gerade ihre Perspektiven zu erfassen;

8

BAnz Nr. 83 S. 9. Reichelt hat bei der Untersuchung der zivilrechtlichen Rechtsprechung des BGH festgestellt, dass die Annahme einer Entscheidung in die BGHZ-Sammlung mangels gültiger Richtlinien nach dem Ermessen der Richter erfolgt. Nach der Auffassung des Präsidenten des BGH solle jedoch die ausgewählte Entscheidung für die Rechtsentwicklung von Bedeutung sein oder sie solle rechtshistorischen Wert haben. M. Reichelt, Die Absicherung teleologischer Argumente in der Zivilrechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 2011, S. 86. 10 Ustawa z dnia 23 listopada 2002 r. o Sa˛dzie Najwyz ˙ szym, Dz. U. 2013 Pos. 499. 11 Uchwała Zgromadzenia Ogólnego Se ˛dziów Sa˛du Najwyz˙szego z dnia 1 grudnia 2003 r. w sprawie Regulaminu Sa˛du Najwyz˙szego, MP 2003, Nr. 57, Pos. 898. 9

148

Teil 2: Empirische Analysen

• die Entscheidungen sind recht umfangreich, so dass man leichter auf die Argumentationsweise der Richter schließen kann; • die Entscheidungen befassen sich mit den schwierigsten rechtlichen Problemen (hard cases), die in Rechtsprechung und Literatur beider Länder Kontroversen hervorgerufen haben; • die Entscheidungen erfassen sowohl Fälle des materiellen als auch des Verfahrensrechts, so dass die Argumentationsformen untersucht werden können, die auf beiden Gebieten maßgeblich sind,12 wobei dieser Umstand bei der Interpretation der Entscheidungen beachtet werden muss13; • die Entscheidungen beeinflussen die Rechtsentwicklung beider Rechtskulturen; • sie wirken sich auf die Auslegungs- und die Argumentationskultur beider Rechtsordnungen aus. In der vorliegenden Untersuchung werden jeweils 100 Entscheidungen aus beiden Rechtsordnungen analysiert (daher insgesamt 200). Durch eine so relativ große Anzahl, wie sie für eine qualitative Untersuchung eher untypisch ist, lässt sich sicherstellen, dass die Untersuchung gewisse Regelmäßigkeiten erfassen kann, die in der jeweiligen Begründungskultur in Erscheinung treten. Dadurch kann der Einwand entschärft werden, dass die Ergebnisse nicht verallgemeinerungsfähig seien. Zum deutschen Recht werden alle Entscheidungen aus den Bänden 49 bis 50 sowie 21 Entscheidungen aus dem Band 51 der Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (BGHSt) berücksichtigt. Dieses Material erfasst die Entscheidungen aus dem Zeitraum von Anfang des Jahres 2004 bis zum Anfang des Jahres 2007, also insgesamt 3 Jahre. Es handelt sich fast ausschließlich um Revisionsentscheidungen der Strafsenate, die sowohl das materielle Recht als auch das Verfahrensrecht betreffen. Nur drei der Entscheidungen sind Entscheidungen des Großen Senats in Strafsachen.

12 Die Untersuchung will möglichst viele Topoi erfassen, die in der Rechtsprechung beider Gerichte zur Anwendung kommen. Daher würde die Einschränkung auf das materielle Strafrecht alle Topoi außer Acht lassen, die für das Strafverfahrensrecht spezifisch sind, wie z. B. der Beschleunigungsgrundsatz. Diese breite Perspektive ermöglicht es jedoch nicht, alle Topoi ausführlich zu analysieren. Die Analysen können in weiteren Untersuchungen durchgeführt werden, die sich auf die ausgewählten Aspekte konzentrieren. 13 Angesichts der Bedeutung des Analogieverbotes im materiellen Strafrecht kann man erwarten, dass dieses Verbot sich auch auf die Auslegung von materiellrechtlichen Gesetzen auswirkt. In der Untersuchung kann jedoch nur eingeschränkt auf den Unterschied zwischen der Auslegung von materiellen und prozessualen Vorschriften in der Rechtsprechung beider Gerichte eingegangen werden, weil in dieser Arbeit andere Schwerpunkte gesetzt wurden.

B. Material der Untersuchung

149

Zum polnischen Recht werden alle Hefte der Rechtsprechung des OG in Strafsachen aus dem Jahre 2007 (Hefte 1–12) und 6 Entscheidungen aus dem ersten Heft des Jahres 2008 zugrunde gelegt. Diese Hefte enthalten die Entscheidungen des OG vom Ende des Jahres 2006 bis zum Ende des Jahres 2007, also ungefähr von einem Jahr. Etwa ein Drittel der untersuchten Entscheidungen (36 Fälle) betreffen Kassationsverfahren (siehe dazu im Anhang B Pkt. 2.). Den größten Teil der ausgewählten Stichprobe (41 Fälle) bilden Entscheidungen, die sich auf die Beantwortung von konkreten Rechtsfragen (siehe im Anhang B Pkt. 2.) beziehen. Die übrigen Entscheidungen bilden keine homogene Gruppe (23 Entscheidungen). Aus dem Vorstehenden wird deutlich, dass der Untersuchung der Entscheidungen der höchsten Instanzgerichte beider Länder unterschiedliche Zeiträume zugrunde liegen. Es ist jedoch zu betonen, dass diese Zeiträume sich verzahnen und die zeitliche Verschiebung geringfügig ist. Das liegt zum einen daran, dass die Entscheidungen des OG in Strafsachen im Vergleich zu den Entscheidungen des BGH in Strafsachen jeweils schneller veröffentlicht werden. Weil sich die Untersuchung auf die neuesten veröffentlichten Entscheidungen aus beiden Ländern konzentrieren sollte, die am Beginn der Unterschung zur Verfügung standen, war die erwähnte zeitliche Verschiebung unvermeidbar und die daraus resultierenden Unterschiede müssen in Kauf genommen werden. Der Vorteil der hier verfolgten Methode liegt jedoch, wie bereits ausgeführt, darin, dass bei der Auswahl der Entscheidungen die Richter selbst mitgewirkt haben und demzufolge in der vorliegenden Untersuchung die aus ihrer Sicht wichtigsten Entscheidungen verglichen werden können. Auch andere Untersuchungen, wie oben im Teil 1 Pkt. E. I. und II. gezeigt wurde, konzentrierten sich regelmäßig auf die jeweiligen amtlichen Sammlungen. Zum anderen werden in der deutschen Sammlung (BGHSt) jährlich weniger Entscheidungen14 im Vergleich zur polnischen Sammlung veröffentlicht, was die Hypothese nahe legt, dass bei der Auswahl der Entscheidungen zur Veröffentlichung für die deutsche Sammlung andere Kriterien gelten als in Polen. Dieser Umstand muss bei der Interpretation der Daten auch berücksichtigt werden. Andererseits ist zu beachten, dass es sich bei den deutschen Entscheidungen vorrangig um Revisionsentscheidungen handelt, die eigentlich tendenziell weniger mit reiner Auslegung zu tun haben sollten als diejenigen Entscheidungen des polnischen OG, die die Beantwortung einer konkreten Rechtsfrage zum Gegenstand haben. Wie im Anhang B Pkt. 2. gezeigt wurde, löst das OG im Rahmen der ihm gestellten konkreten Rechtsfragen die rechtlichen Probleme, die einer grundsätzlichen Auslegung bedürfen.

14

Weniger als 50.

150

Teil 2: Empirische Analysen

Für die Vergleichbarkeit der Stichproben spricht auch der Umstand, dass sie in ihrem Umfang ähnlich sind. Die 100 ausgewählten Entscheidungen des BGH aus den Bänden 49–5115 wurden auf insgesamt 965 Seiten veröffentlicht und die 100 Entscheidungen des OG aus den Heften 1–12 (Jahr 2007)16 und aus dem Heft 1 (Jahr 2008)17 auf 812 Seiten.

III. Bearbeitung des Materials Das ausgewählte Material wurde gemäß den Grundsätzen der qualitativen Forschung ohne feste Kategorien zunächst mehrmals von dem Verfasser der vorliegenden Untersuchung gelesen. Diese Vorgehensweise garantierte eine relativ große Offenheit für die Ermittlung möglichst vieler Argumentationsformen, die in der Rechtsprechung beider Gerichte zur Anwendung kommen, wobei ein Vorverständnis des Verfassers, der sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Rechtskultur sozialisiert ist, in dieser Phase der Untersuchung nicht völlig ausgeschlossen werden konnte. Am Anfang der Untersuchung war jedoch noch nicht genau klar, welche Topoi und wie oft sie in der Rechtsprechung beider Gerichte überhaupt auftreten.18 Im Laufe der ersten Lesungen wurden auf der Grundlage der theoretischen Vorüberlegungen (siehe dazu Teil 1 Pkt. C.) die Topoi aus den Begründungen der Gerichte herausgefiltert (erster Schritt) und in einem Katalog strukturiert (zweiter Schritt). Diese Vorgehensweise schloß die Anwendung von Computerprogrammen aus, da ein Computer nur dann sinnvoll eingesetzt werden kann, wenn die Suchkriterien am Anfang der Untersuchung genau bestimmt sind. In der vorliegenden Untersuchung wurden auch die Suchkriterien (Regel der Zuordnung) mehrmals geändert, was eine mehrmalige Bearbeitung des empirischen Materials in der Anfangsphase erforderte. 15 In den ausgewählten Bänden wurden jeweils veröffentlicht: Im Band 49 insgesamt 40 Entscheidungen auf 393 Seiten, im Band 50 insgesamt 39 Entscheidungen auf 387 Seiten und im Band 51 insgesamt 21 Entscheidungen auf 185 Seiten. Die übrigen Entscheidungen aus dem Band 51 wurden nicht in Betracht gezogen. 16 In den ausgewählten Heften wurden jeweils veröffentlicht: Im Heft 1 insgesamt 9 Entscheidungen auf 62 Seiten, im Heft 2 insgesamt 11 Entscheidungen auf 74 Seiten, im Heft 3 insgesamt 9 Entscheidungen auf 50 Seiten, im Heft 4 insgesamt 7 Entscheidungen auf 73 Seiten, im Heft 5 insgesamt 8 Entscheidungen auf 84 Seiten, im Heft 6 insgesamt 9 Entscheidungen auf 66 Seiten, im Heft 7–8 insgesamt 6 Entscheidungen auf 77 Seiten, im Heft 9 insgesamt 9 Entscheidungen auf 65 Seiten, im Heft 10 insgesamt 7 Entscheidungen auf 83 Seiten, im Heft 11 insgesamt 9 Entscheidungen auf 73 Seiten, im Heft 12 insgesamt 9 Entscheidungen auf 66 Seiten. 17 In diesem Heft wurden 6 Entscheidungen auf 33 Seiten veröffentlicht. Die übrigen Entscheidungen wurden nicht berücksichtigt. 18 Die Untersuchung von Kudlich und Christensen (Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009) wurde erst veröffentlicht, als der Katalog der Topoi der vorliegenden Untersuchung schon herausgearbeitet worden war. Eine ähnliche Untersuchung wie die von Kudlich und Christensen wurde in Polen zu dem Tag der Veröffentlichung dieser Arbeit nicht durchgeführt.

B. Material der Untersuchung

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Stand der Katalog der Topoi fest und wurden die Regeln der Zuordnung herausgearbeitet, wurden zwei weitere Mitarbeiter19 eingesetzt, um gemäß den Grundsätzen der quantitativen Forschung auf der Grundlage des Topoi-Katalogs und der herausgearbeiteten Regeln der Zuordnung das empirische Material noch einmal zu analysieren. Ihre Aufgabe lag in der Ermittlung der Topoi in den beiden Stichproben. Die fraglichen Stellen wurden diskutiert. In problematischen Fällen hat der Verfasser der vorliegenden Untersuchung eine endgültige Entscheidung getroffen. In einem weiteren Schritt wurden die Topoi in eine ExcelTabelle übertragen. In der nächsten Phase wurden alle Topoi gezählt und in den Tabellen vergleichend zusammengestellt. Die quantitativen Analysen haben gezeigt, welche Topoi besonders häufig von Gerichten in Anspruch genommen werden. Auf der Grundlage dieser Datei wurden die ausgewählten Entscheidungen zur qualitativen Analyse herangezogen. Zur qualitativen Analyse wurden ebenfalls diejenigen Entscheidungen ausgewählt, die Rückschlüsse auf den Inhalt der behandelten Argumentationsform zuließen. In dieser Phase stand die Frage im Vordergrund, was die Gerichte unter einem bestimmten Topos verstehen, welche Inhalte sie mit dem behandelten Topos assoziieren. An einigen Stellen werden daher die Entscheidungen sehr ausführlich dargestellt, um alle Facetten der Argumentation des jeweiligen Gerichts und die Kontexte zu zeigen, in denen die Topoi festgestellt wurden. Nicht selten werden auch Zitate, insbesondere aus der Rechtsprechung des BGH, in Anspruch genommen, weil sie sehr deutlich den Inhalt der Argumentation illustrieren. Die Interpretation der ausgewählten Zitate bildete die abschließende Phase der Untersuchung. Die Untersuchung konzentriert sich primär auf die rechtlichen Topoi, die in der Rechtsprechung beider Gerichte zur Anwendung kommen. Im Laufe der ersten Phase der Untersuchung wurde jedoch festgestellt, dass die Gerichte auch die Auslegungsproblematik in ihren Entscheidungen im unterschiedlichen Ausmaß thematisieren. Auch inhaltliche Differenzen fielen auf. Diese Divergenzen waren am Anfang der Untersuchung dem Verfasser völlig unbekannt. Da sie jedoch für die Beantwortung der gestellten Fragen nicht irrelevant sind, wurden ebenfalls die Äußerungen beider Gerichte zur Methodik näher analysiert (siehe dazu Pkt. D.). Eine gesonderte Analyse erforderte auch die Problematik der Rechts(neu)schöpfungen in der Rechtsprechung beider Gerichte. Die Kategorie des „Wortlauts“ [siehe dazu Pkt. E. V. 1. a) aa)] hat sich im Laufe der Untersuchung als zu eng erwiesen, um dieses Phänomen zu erfassen. Daher musste die Problematik in einem gesonderten Abschnitt behandelt werden (siehe dazu Pkt. F.).

19

Sie arbeiteten unabhängig und gesondert.

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Teil 2: Empirische Analysen

C. Allgemeine Charakteristik der in den Sammlungen veröffentlichten Begründungen des BGH und des OG Die allgemeine Betrachtung der analysierten Entscheidungen des BGH und des OG lässt auf folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede schließen.

I. Sprachstil der Begründungen Zunächst lässt sich festhalten, dass sowohl die Begründungen des BGH als auch die Begründungen des OG primär in einer juristischen Fachsprache formuliert sind, die eher nur für Juristen verständlich ist.20 Um die Argumentationsstruktur beider Gerichte zu verstehen, muss man zumindest strafrechtliches, verfassungsrechtliches und methodisches Basiswissen haben. Es scheint daher so zu sein, dass sowohl der BGH als auch das OG mit ihren Begründungen primär die Fachwelt überzeugen wollen und nicht die Nicht-Juristen.21 Man kann deshalb ohne Gefahr der Übertreibung feststellen, dass beide Gerichte davon ausgehen, dass die Laien nicht unbedingt verstehen müssen, warum das Gericht in dem behandelten Fall so und nicht anders entschieden hat. Es ist auch hervorzuheben, dass das OG wesentlich öfter zu lateinischen Wörtern22 und Maximen greift, während der BGH dies sehr selten oder gar nicht tut. Wendungen wie lege non distinguente nec nostrum est distinguere, per non est, ratio legis etc. werden nicht selten vom OG verwendet. Dies schränkt die Ver20 Zu dem Problem der Verständlichkeit der Gesetze siehe: F. E. Schnapp, Warum können juristische Laien Gesetze nicht „verstehen“?, JURA 6/2011, S. 422 ff. 21 Ähnlich im Bezug auf die polnische Rechtsprechung: E. Łe ˛towska, Trudnos´ci w przyswajaniu w Polsce praktyki pan´stwa prawa, in: S. Wronkowska (Hrsg.), Zasada demokratycznego pan´stwa prawnego w Konstytucji RP, 2006, S. 226. 22 So z. B. res iudicata, passim, a contrario, expressis verbis, lege artis, notorium, tertium non datur, in concreto, lex severior retro non agit im Beschluss (Uchwała) vom 26.1.2007, I KZP 34/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 5; meritum im Beschluss (Postanowienie) vom 20.12.2006, I KZP 32/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 16; das Gericht a quo im Beschluss (Postanowienie) vom 8.11.2006, III KK 83/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 29; iter delicti und cogitationis poenam nemo patitur sowie in concreto im Urteil vom 5.12.2006, III KK 273/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 39; ex tunc, modus operandi im Beschluss (Postanowienie) vom 11.12.2006, V KK 131/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 47; sensu stricto im Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2007, I KZP 36/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 7; gravamen im Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2007, I KZP 37/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 12; ex auctoritate im Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007, I KZP 39/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 8; rebus sic stantibus im Urteil vom 8.3.2007, I KZP 30/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 32; superfluum im Beschluss (Postanowienie) vom 14.2.2007, II KK 381/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 46; iudex suspectus im Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007, I KZP 9/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 40; argument relata refero im Beschluss (Postanowienie) vom 7.2.2007, III KK 243/06, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 76; ex delicto, propter falsa im Beschluss (Postanowienie) vom 7.5.2007, V KZ 24/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 65; damnum emergens, lucrum cessans im Beschluss (Postanowienie) vom 15.6.2007, I KZP 13/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 42.

C. Allgemeine Charakteristik der Begründungen des BGH und des OG

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ständlichkeit der Begründung für Laien weiter ein und erhärtet die oben aufgestellte These. Ein deutlicher Unterschied lässt sich auch im Hinblick auf die Verwendung der Ausdrücke feststellen, die beide Gerichte in Bezug auf die Verlautbarungen des Gesetzgeber und die von den Verfahrenssubjekten (Instanzgerichte, Staatsanwälte und Rechtsanwälte) präsentierten Auffassungen gebrauchen. Während der BGH in seinen Begründungen in einer sehr gedämpften Art und Weise zu den Behauptungen dieser Rechtssubjekte Stellung nimmt, verwendet das OG auch durchaus scharfe Formulierungen. Es gibt mehrere Beispiele dafür. So schreibt das OG in einer Begründung, dass der Rechtsanwalt oder das Instanzgericht „etwas verwischt“ 23 habe oder die Behauptung „kurios“ 24 sei. In einer anderen Entscheidung stellt das OG fest, dass das Petitum der Kassation „evident fehlerhaft“ formuliert wurde.25 Im Urteil vom 6.12.200626 führt das OG aus, dass die dargestellte Auffassung „offensichtlich unzutreffend“ sei, denn sie stütze sich „auf einen wesentlichen Denkfehler“.27 In einer weiteren Entscheidung wird die Behauptung des Kassationsverfassers als „Missverständnis“ bezeichnet.28 Einem anderen Verfasser einer Kassation wurde vorgeworfen, dass er den Antrag fehlerhaft (niepoprawnie) formuliert habe.29 In einer weiteren Entscheidung wird dem Bezirksgericht „Unkenntnis des Rechts“ unterstellt.30 Im Beschluss (Postanowienie) vom 26.7.2007 nimmt dagegen das OG an, dass die Argumente sich auf vollkommen fehlerhafte Thesen stützen, obwohl sie generell formuliert wurden.31 Einen Höhepunkt bei der Verwendung solcher Ausdrücke erreicht das OG im Beschluss (Postanowienie) vom 11.12.200632. Hier stellt es zunächst fest, dass die Kassationsvorwürfe als „offensichtliches Missverständnis“ betrachtet werden müssen.33 Ferner wirft das OG dem Antragsteller der Kassation vor, dass er die Konstruktion der Vorschrift des Art. 435 KPK nicht verstanden hat und dass er unredlich ist. Auch die Vorwürfe des Missbrauchs und der Willkür wurden dem 23 Z. B. im Beschluss (Uchwała) vom 20.12.2006, I KZP 29/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 7. 24 Beschluss (Postanowienie) vom 4.7.2007, V KK 361/06, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 45. 25 Urteil vom 5.12.2006, III KK 273/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 39. 26 III KK 181/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 45. 27 Ebenda, S. 57. 28 Beschluss (Postanowienie) vom 12.10.2006, IV KK 199/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 25. 29 Beschluss (Postanowienie) vom 27.2.2007, II KK 310/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 52 f. 30 Beschluss (Postanowienie) vom 7.2.2007, III KK 236/06, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 50. 31 I KZP 16/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 15. 32 V KK 131/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 41. 33 Ebenda, S. 48.

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Teil 2: Empirische Analysen

Verteidiger nicht erspart. Außerdem wird ihm unterstellt, dass er die Begründungen der Urteile oberflächlich gelesen habe. Seinen Auffassungen fehle zudem nach der Ansicht des OG die Logik bei der Darstellung und sie seien „grob naiv“ sowie „fern von Rationalität“ 34 etc. Auch im folgenden Beschluss (Postanowienie) vom 4.7.200735 sieht sich das OG dazu veranlasst, zu scharfen Ausdrücken zu greifen: „Die Unrichtigkeit, ja die Kuriosität der dargestellten Argumentation geht daraus hervor, dass, (. . .).“ 36 „Es ist offensichtlich, dass der Kassationsträger den normativen Inhalt des Art. 309 irrtümlich (. . .) auslegt.“ 37 „Man muss nochmal betonen, dass der Vorwurf der Verletzung des Art. 309 (. . .) auf der Grundlage einer offensichtlich fehlerhaften, sogar naiven, Auslegung dieser Vorschrift erhoben wurde.“ 38

Auch der Gesetzgeber gerät in der Rechtsprechung des OG in die Kritik. So behauptet das OG an einer Stelle, dass ihm in dem behandelten Fall die „Vorstellungskraft fehlte“.39 Sicherlich hätte das OG dieselbe Mitteilung anders zum Ausdruck bringen können, z. B. dass der Gesetzgeber diese Situation nicht vorgesehen hat. Das OG sieht sich jedoch nicht daran gehindert, den Gesetzgeber in deutlichen Worten zu kritisieren. Der Unterschied zwischen beiden Gerichten in der Verwendung dieser Ausdrücke legt nahe, dass beide Rechtsprechungsorgane sich im Verhältnis zu den am Verfahren beteiligten Subjekten und dem Gesetzgeber unterschiedliche Positionen zuschreiben. Das OG versteht sich als „Autorität“, das auch in deutlichen Worten die Auffassungen anderer Subjekte kritisieren darf. Ferner kann man diese Äußerungen des OG als Ausdruck des Gedankens interpretieren, dass es für jedes Auslegungsproblem nur eine richtige Lösung gibt und das OG dabei das Monopol für ihre Ermittlung hat. Außerdem erhärten die Darlegungen den Eindruck, dass nach der Vorstellung des OG in den Gesetzestexten eine „objektive Bedeutung“ existiert und das kritisierte Subjekt „die richtige Lösung“ gefunden hätte, wenn es sich nur mehr Mühe bei der Ermittlung dieser Lösung gegeben hätte. Da es diese Erwartungen nicht erfüllt hat, verdient es Kritik. Diese Thesen bedürfen sicherlich einer vertieften qualitativen Untersuchung, die in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht geleistet werden kann, weil sie andere Schwerpunkte hat.

34 35 36 37 38 39

Ebenda, S. 48 ff. V KK 361/06, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 41. Ebenda, S. 45. Ebenda. Ebenda, S. 46. Beschluss vom 26.4.2007, I KZP 9/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 47.

C. Allgemeine Charakteristik der Begründungen des BGH und des OG

155

Ein kategorialer Unterschied zwischen der Rechtsprechung des BGH und des OG liegt auch im Bereich der Verwendung des Begriffes „Auslegung“. Während der BGH in den in Betracht gezogenen 100 Entscheidungen diesen Begriff eher einheitlich verwendet, unterscheidet das OG zwischen „grundsätzlicher Auslegung“ (zasadnicza wykładnia) und „Auslegung“. Unter einer „grundsätzlichen Auslegung“ versteht das OG die Interpretation von grundsätzlicher Bedeutung, die fundamental ist für die Rechtsauffassung und Rechtspraxis. Die Probleme, die im Rahmen einer „grundsätzlichen Auslegung“ gelöst werden dürfen, müssen dabei Präzedenzcharakter aufweisen. Sie müssen auch strittig sein.40

II. Struktur der Begründungen Ein weiterer deutlicher Unterschied lässt sich zudem in der Strukturierung der Begründungen feststellen. Der BGH verwendet in seinen Begründungen Punkte und Unterpunkte, die überwiegend klar einzelne Argumente (Topoi) trennen und dadurch eine größere Übersichtlichkeit der Argumentation sicherstellen. Das OG verzichtet grundsätzlich auf eine ähnliche Strukturierung,41 was das Veranschaulichen der Argumentationsstruktur deutlich erschwert. Es fällt weiterhin auf, dass das OG im Vergleich zum BGH den Zulässigkeitsfragen wesentlich mehr Raum in seinen Begründungen widmet. Während sich der BGH mit dieser Problematik regelmäßig nur kurz befasst, setzt sich das OG in vielen Entscheidungen mit diesem Punkt gründlich auseinander. Dabei lässt sich eine Besonderheit feststellen: In einigen Begründungen42 verneint das OG die Zulässigkeit der grundlegenden Auslegung einer Vorschrift im Sinne des Art. 441 § 1 KPK (konkrete Rechtsfrage), um anschließend dann doch ausführlich zu der Auslegungsfrage Stellung zu beziehen.

III. Inhalt der Begründungen Zunächst ist festzustellen, dass die Begründungen beider Gerichte höchst komplexe Argumentationsstrukturen aufweisen, die sehr unterschiedliche Elemente umfassen. Für eine Lösung werden fast immer mehrere Gründe angeführt; sehr selten wird einem bestimmten Argument eine ausschlaggebende Rolle zugewiesen. Eine Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten findet ebenfalls statt. 40 Beschluss (Postanowienie) vom 15.6.2007, I KZP 13/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 36. 41 Eine von den Ausnahmen bildet der Beschluss vom 3.3.3009, I KZP 30/08, OSNKW 2009, Nr. 4, S. 27. Diese Entscheidung gehört jedoch nicht zu der Stichprobe. Sie wird jedoch ausführlich im Anhang C Pkt. 6 OG Fall 1 dargestellt. 42 Z. B. Beschluss (Postanowienie) vom 20.12.2006, I KZP 31/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 10; Beschluss (Postanowienie) vom 26.1.2007, I KZP 33/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 13; Beschluss (Postanowienie) vom 26.1.2007, I KZP 35/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 23.

156

Teil 2: Empirische Analysen

Von einer einfachen Subsumtion kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Die Begründungen haben im Ergebnis einen diskursiven Charakter. Dabei ist nicht zu übersehen, dass sowohl in der Rechtsprechung des BGH als auch in der Rechtsprechung des OG keine allgemein geltende Argumentationsstruktur feststellbar ist, der die Gerichte in jeder Entscheidungsbegründung gefolgt wären. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich kein Modell rekonstruieren ließe, das schließlich in einer beachtlichen Anzahl der Begründungen vorliegt. Darauf wird später noch im Einzelnen eingegangen. Zum anderen ist festzustellen, dass die Begründungen beider Gerichte den Eindruck erwecken, dass sich jedes Auslegungsergebnis aus dem Gesetz ableiten lässt. Extrem selten wird ausdrücklich behauptet, dass das Gesetz lückenhaft bzw. systemwidrig sei oder der Gesetzgeber den zu beurteilenden Sachverhalt bei dem Erlass des Gesetzes nicht berücksichtigt habe. Diese Vorgehensweise beider Gerichte muss angesichts des Charakters der Fälle (hard cases), die zu den Höchstgerichten gelangen, verwundern. Diese Begründungsart pflegt jedoch den positivistischen Mythos, dass das Rechtssystem vollständig ist und das Gesetz für jede Frage eine Antwort bereithält. Man muss eventuell mehrere Gesetze bei der Auslegung berücksichtigen, manchmal auch die verfassungsrechtlichen Normen in Anspruch nehmen, aber im Ergebnis lässt sich jedes Auslegungsproblem auf der Grundlage der Gesetze befriedigend und plausibel lösen. Hier sei noch auf eine Besonderheit hingewiesen, die grundsätzlich nur in der Rechtsprechung des BGH vorliegt. Nicht selten löst der BGH den Fall anhand von Grundsätzen (er verwendet diese Formulierung auch expressis verbis), die er in der betreffenden Entscheidung herausarbeitet. Hier nur einige Beispiele (nicht alle) aus dem 49. Band. BGH Fall 1 „Nach diesen Grundsätzen war der Geschädigte in dem Zeitpunkt, als der Angeklagte W. erstmals auf ihn einwirkte, nicht mehr Führer des Taxis.“ 43

BGH Fall 2 „b) Ausgehend von diesen Grundsätzen halten die Erwägungen des Landgerichts zur Täuschung durch den Angeklagten N. rechtlicher Prüfung nicht stand.“ 44

BGH Fall 3 „Diese Grundsätze gelten auch für die ergänzende (nicht ersetzende) Inaugenscheinnahme der Bild-Ton-Aufzeichnung der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung.“ 45 43 44 45

Urteil vom 20.11.2003, 4 StR 150/03, BGHSt 49, 8, 15. Beschluss vom 25.11.2003, 4 StR 239/03, 4 StR 239/03, BGHSt 49, 17, 21. Beschluss vom 12.2.2004, 1 StR 566/03, BGHSt 49, 68, 70.

C. Allgemeine Charakteristik der Begründungen des BGH und des OG

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BGH Fall 4 „Diese für die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts entwickelten Grundsätze müßten – falls der Entscheidung BGHSt 45, 203 zu folgen wäre – für die Gestattung der Verwertung früherer Aussagen in gleicher Weise gelten.“ 46

BGH Fall 5 „Nach den vom Bundesgerichtshof (BGHZ 126, 63) und vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 95, 322 = NJW 1997, 1497 f. und BVerfGE 97, 1 = NJW 1998, 743) entwickelten Grundsätzen zur Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG muß die Zuständigkeit innerhalb des Spruchkörpers eines Gerichts und der darin bestehenden Sitzgruppen durch Mitwirkungsgrundsätze generell im voraus nach objektiven Merkmalen der anhängigen Sache bestimmt sein.“ 47

BGH Fall 6 „Eine Verwertung der Aussage Mirsads bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung durch Vorführung der Videoaufzeichnung war – entgegen der Auffassung des Generalbundesstaatsanwalts – auch nicht mit Blick auf die in der Entscheidung BGHSt 45, 203 entwickelten Grundsätze zulässig.“ 48

BGH Fall 7 „bb) Ob das Landgericht diese Grundsätze bei allen Angeklagten zutreffend angewendet hat, (. . .), kann dahinstehen.“ 49

Diese Zitate erhärten die These, dass der BGH (zumindest in diesen Entscheidungen) die Vorschriften nicht nur auslegt, sondern Grundsätze zusammenstellt bzw. etabliert, die für die Lösung des Falles behilflich sein können. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der BGH durch die Verwendung des Wortes „entwickeln“ (Fälle 4–6) die schöpferische Funktion seines Vorgehens selbst betont. „Entwickeln“ setzt eine aktive Beteiligung des handelnden Subjekts voraus. Dadurch bringt das höchste Fachgericht in Deutschland deutlich zum Ausdruck, dass es die Vorschriften nicht nur auslegt und die Sachverhalte unter die maßgeblichen Tatbestandsmerkmale subsumiert, sondern auch „Grundsätze“ entwickelt, die für die betreffende Entscheidung maßgebend sind. Es wirkt somit aktiv an der Gestaltung der Rechtsordnung mit. Die Verwendung des Begriffes „Grundsätze“ ermöglicht es dem BGH zudem, von einem „entwickelten Grundsatz“ in Zukunft abzuweichen, wenn er dafür gewichtige Gründe in der nächsten Entscheidung findet. Das Wesen des Grundsat-

46 47 48 49

Urteil vom 12.2.2004, 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 76. Urteil vom 4.3.2004, 4 StR 377/03, BGHSt 49, 128, 133. Urteil vom 12.2.2004, 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 75. Urteil vom 17.6.2004, 3 StR 344/03, BGHSt 49, 177, 185.

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Teil 2: Empirische Analysen

zes liegt gerade darin, dass er Ausnahmen zulässt. In der Tat macht der BGH, wie später noch gezeigt wird, von dieser Möglichkeit Gebrauch. Im Gegensatz zu der Rechtsprechung des BGH lassen sich in der Rechtsprechung des OG ähnliche Formulierungen (wie „Grundsätze“) im Allgemeinen nicht feststellen. Das OG konzentriert sich auf eine Vorschrift und versucht in der Begründung ihre Bedeutung (grundsätzlich anhand der klassischen Auslegungsmethoden) klar festzustellen. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass beide Gerichte in ihren Begründungen ausnahmsweise den Gerichten der unteren Instanz Hinweise dafür erteilen, wie sie weiter im Verfahren vorgehen sollen (so z. B. das OG in dem Urteil vom 5.12.200650 oder der BGH im Beschluss vom 11.11.200451).

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG Die Inhaltsanalyse ergab – insbesondere in der Rechtsprechung des OG – eine nicht geringe Anzahl an ausdrücklichen Äußerungen zur Auslegungsmethodik.52 Es scheint so zu sein, dass diese Äußerungen einen festen Platz in der Begründungskultur des OG haben. Dies rechtfertigt es, diese Äußerungen in der vorliegenden Arbeit näher zu untersuchen. Der Erkenntniswert dieser Äußerungen ist auch darin zu sehen, dass sie die Perspektive beider Gerichte im Hinblick auf die Auslegungsproblematik deutlicher werden lassen. Selbstverständlich dürfen diese Stellungnahmen nicht ohne weiteres als Abbild der tatsächlichen Praxis beider Gerichte betrachtet werden, denn es könnte sein, dass die Gerichte in ihrem Alltag anders vorgehen, als sie dies nach außen kundtun. Dieses (sicherlich interessante) Problem muss jedoch in dieser Arbeit ausgeklammert werden. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die entsprechenden Kategorien gemäß der Grundsätze der qualitativen Forschung nicht vorab definiert, sondern aus dem empirischen Material gewonnen wurden. Im Laufe der Untersuchung wurde somit jede Äußerung, die sich auf die Probleme der Auslegungsmethodik bezog, hervorgehoben und einer Kategorie zugeordnet. Die Kategorien wurden auf diese Weise im Laufe der Untersuchung gebildet. Die Inhaltsanalyse des in der Untersuchung herangezogenen empirischen Materials hat folgende Kategorien von methodischen Äußerungen ergeben:

50

III KK 273/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 39 ff. 5 StR 299/03, BGHSt 49, 317, 343. 52 Grundsätzlich ist der These von Rüthers zuzustimmen, dass klare Aussagen der Spruchkörper der Bundesgerichte (einschließlich der Strafsenate des BGH) zur eigenen Methodenpraxis äußerst selten sind. B. Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, NJW 26/2011, S. 1856. 51

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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1. Vorrangregel. 2. Terminologische Konsequenz. 3. Lege non distinguente, nec nostrum distinguere. 4. Per non est. 5. Exceptiones non sunt extendendae. 6. Rechts(neu)schöpfung. 7. Sonstige Behauptungen, die keine homogene Gruppe bilden. Im Folgenden werden diese Äußerungen im Einzelnen dargestellt.

I. Vorrangregel Bevor die Ergebnisse der Inhaltsanalyse dargestellt werden, mag daran erinnert werden, dass für eine formalistische Rechtskultur der Vorrang der sprachlichen (grammatischen) und der systematischen Auslegungsmethode charakteristisch ist. Demgegenüber spielt die teleologische Auslegungsmethode nur in einer substanziellen Rechtskultur eine entscheidende Rolle. Ferner ist zu beachten, dass die polnische Methodenlehre zwischen der sprachlichen, systematischen und funktionellen Auslegungsmethode unterscheidet, demgegenüber ist in der deutschen Methodenlehre die grammatische, systematische, historische und teleologische Auslegungsmethode allgemein anerkannt (siehe dazu Teil 1 Pkt. F. V.). Diese kategorialen Unterschiede müssen bei der Analyse beachtet werden, weil sie – wie noch gezeigt werden wird – in dem empirischen Material ihren Ausdruck finden. Beginnt man die Analyse mit der quantitativen Perspektive, so ist zunächst festzustellen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland im Gegensatz zum OG in Polen die Auseinandersetzung mit dem Problem einer Vorrangregel innerhalb der Auslegungsmethoden grundsätzlich vermeidet. Nur in drei Entscheidungen hat der BGH an diese methodische Problematik angeknüpft. Im Unterschied hierzu kommt die Problematik des Rangverhältnisses der Auslegungsmethoden in der Rechtsprechung des OG mehrfach zum Ausdruck. In 22 Entscheidungen der hiesigen Stichprobe hat das OG sich mit dieser Problematik auseinandergesetzt. In diesem Zusammenhang ist jedoch zunächst die Zurückhaltung des BGH gegenüber der Vorrangregel im Rahmen der Auslegungspraxis interessant. Diese Zurückhaltung kann nicht als Zufall angesehen werden. Sie bedarf vielmehr einer Erklärung und darf in der vorliegenden Untersuchung schon deshalb nicht vernachlässigt werden, weil sie ein wichtiges Phänomen offenbaren kann. Angesichts der zahlreichen Konzepte zum Rangverhältnis innerhalb der Auslegungsmethoden, die in der methodischen Literatur dargestellt worden sind, hätte man erwarten können, dass der BGH an der methodischen Diskussion teilnehmen und seine Stellungnahme dazu abgeben würde. Es gibt aber durchaus Gründe, die den

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Teil 2: Empirische Analysen

BGH zu einem weitgehenden Schweigen über die Vorrangregel innerhalb der Auslegungsmethoden veranlassen. Dieses Phänomen (Schweigen des BGH zum Rangverhältnis innerhalb der Auslegungskriterien) wurde auch schon in der deutschen Lehre festgestellt und die vorliegende Untersuchung kann diese Feststellung bestätigen. So stellt Simon in seiner umfangreichen Untersuchung zur Gesetzesauslegung im Strafrecht, die seinerzeit die komplette amtliche Sammlung in Strafsachen (BGHSt) erfasste, nur 100 „methodisch besonders interessante“ Entscheidungen fest.53 Noch geringer war der Anteil der Lehrstücke zur Methodenlehre oder derjenigen Entscheidungen, in denen sich der BGH explizit zu Methodenaussagen hinreißen ließ.54 Bedauerlicherweise lässt sich nicht feststellen, wie viele ausdrückliche Aussagen zum Rangverhältnis innerhalb der Auslegungsmethoden Simon in seiner Untersuchung genau herausgefunden hat. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass weniger als 100 feststellbar waren; das erscheint nicht allzu viel, wenn man berücksichtigt, dass Simon die komplette amtliche Sammlung in Strafsachen untersucht hat. Dabei hat Simon festgestellt, dass in der Rechtsprechung des BGH eine rückläufige Tendenz in der Formulierung methodologischer Reflexionen auftritt.55 Dazu Simon: „Betrachtet man die amtliche Sammlung im ganzen, ist freilich eine rückläufige Tendenz in der Formulierung methodologischer Reflexionen zu beobachten, vor allem in der Grundsatzproblematik ,objektive/subjektive Theorie‘, die zu Anfang zahlreiche Aussagen provoziert hat. Schwer zu beantworten ist, ob darüber hinaus das Interesse der Rechtsprechung an methodologischen Fragestellungen generell gesunken ist. Eher wird man größere Vorsicht und Zurückhaltung vor prinzipiellen Stellungnahmen konstatieren können. Das Selbstbewußtsein scheint geschwunden, denn die ,großen‘ und mit viel Pathos vertretenen (aber kaum durchhaltbaren) Grundsatzaussagen stammen bemerkenswert häufig aus der frühen Nachkriegszeit. Vielleicht hat sich – womöglich unter dem Einfluß der seit den 1970er Jahren verstärkt aufkommenden methodenkritischen Diskussion – die Erkenntnis durchgesetzt, daß in Methodenfragen überzeitliche Einsichten kaum zu gewinnen sind. Gerade auch deshalb mag man daran zweifeln, ob eine Bindungswirkung in Methodenfragen überhaupt erstrebenswert wäre.“ 56

In der Tat scheint die These von Simon überzeugend zu sein, dass der BGH gegenüber überzeitlichen Einsichten in Methodenfragen eher skeptisch ist. Man kann jedoch auch die These aufstellen, dass der BGH kein festes Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmethoden festlegen will, um sich in den kommenden Entscheidungen nicht die Hände zu binden.57 Ein eindeutiges Konzept würde die 53 54 55 56 57

E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 18, 21. Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 588. Ebenda. So N. Luhmann, Recht der Gesellschaft, 1997, S. 326 (Fn. 57).

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Entscheidungsmacht des BGH sicherlich erheblich beschränken, weil das Konzept in jedem Fall konsequent zur Anwendung kommen müsste, was die Auslegungsmöglichkeiten erheblich beschränken könnte. Dieser Befund stützt die Thesen derjenigen Kritiker, die dem BGH vorwerfen, dass er gegenwärtig verstärkt in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers eingreift.58 Setzt man die Analyse auf der qualitativen Ebene fort, sollen zunächst die Äußerungen des BGH näher interpretiert werden. In der ersten Entscheidung, die das materielle Strafrecht betrifft, stellt der BGH fest: BGH Fall 1 „Sowohl der Wortsinn, wie er sich aus dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Norm gestellt ist, als auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift gebieten eine einschränkende Auslegung des Tatbestandes im vorgenannten Sinne. a) Nach der Begriffsbestimmung des § 184 f Nr. 2 StGB n. F. sind sexuelle Handlungen vor einem anderen, wie sie § 176 Abs. 3 Nr. 1 StGB a. F. und § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB n. F. unter Strafe stellen, nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt. Diese Begriffsbestimmung sagt nichts dazu, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Handelnde die Wahrnehmung durch einen anderen in sein Tun einbeziehen muß (vgl. Lenckner/Perron a. a. O. § 184c Rdn. 20). Wegen des nicht eindeutig gefaßten Wortlauts kann diese Frage nur anhand der Entstehungsgeschichte und unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks der Regelung beantwortet werden.“ 59

Aus dieser Äußerung geht zunächst hervor, dass die Kategorie der „Eindeutigkeit“ der Vorschrift dem BGH nicht fremd ist. Ferner kann ihr entnommen werden, dass diese Kategorie eine besondere Stellung hat, denn sie kann grundsätzlich den Auslegungsprozess selbstständig abschließen. Man kann diese Äußerung auch so verstehen, dass Methoden der historischen und der teleologischen Auslegung nur dann zur Anwendung kommen können, wenn die Vorschrift nicht eindeutig ist. Sehr interessant ist jedoch in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der BGH in dieser Äußerung die systematische Methode nicht erwähnt, die in der deutschen Methodenlehre (siehe dazu Teil 1 Pkt. F. V.) durchaus einen festen Platz hat. Warum der BGH die Anwendung der historischen und der teleologischen Methode postuliert und die systematische Methode außer Acht lässt, ist völlig unklar. Nun stellt sich die Frage, ob die bereits erwähnte Äußerung des BGH eine Ausnahme ist oder der Fall einer Regel, die in der behandelten Stichprobe keinen entsprechenden Ausdruck gefunden hat. Nach Simon postuliert der BGH diesen

58 B. Rüthers, Hatte die Rechtsperversion in den deutschen Diktaturen ein Gesicht?, JZ 11/2007, S. 556 ff. 59 Urteil vom 14.12.2004, 4 StR 255/04, BGHSt 49, 376, 378.

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Teil 2: Empirische Analysen

Auslegungsgrundsatz „hin und wieder“ 60 und er zitiert folgende Beispiele aus der Rechtsprechung des BGH: „Da der Gesetzeswortlaut nicht eindeutig ist, müssen auch die Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Strafbestimmung bei der Auslegung herangezogen werden.“ 61 „Die Begründung des Gesetzes kann hier zur Auslegung herangezogen werden, weil der Wortlaut bezüglich der hier zu entscheidenden Frage nicht eindeutig ist, (. . .).“ 62 „Läßt aber, wie hier, der vom Gesetzgeber verwendete Wortlaut mehrere Auslegungsmöglichkeiten zu, so ist zur Auslegung der gesetzgeberische Wille mit heranzuziehen (. . .).“ 63 „Gibt der Wortlaut des Gesetzes danach keinen eindeutigen Aufschluß, so ist zur Erforschung von Sinn und Zweck der gesetzlichen Neufassung auf die Gesetzesmaterialien zurückzugreifen.“ 64 „Der Begriff der ,sonstigen Stelle‘ ist allerdings nicht eindeutig; er bedarf der Auslegung.“ 65

Diese Passagen zeugen davon aus, dass die in dieser Untersuchung festgestellte Äußerung des BGH keine Ausnahme ist, und sie lassen sich auch in anderen Entscheidungen des BGH feststellen. Sie sprechen auch dafür – wie Simon zutreffend betont – dass der BGH theoretisch die „sens-clair-doctrine“ anerkennt (ob er ihr auch in praxis folgt, ist eine andere Sache).66 Dabei ist nicht zu übersehen, dass auch in den von Simon dargestellten Fällen der BGH die systematische Methode außer Acht lässt und sofort den Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien postuliert. In der nächsten Entscheidung67 (Verfahrensrecht), in der die Problematik der Vorrangregel angesprochen ist, hat der BGH ausgeführt: BGH Fall 2 „Allerdings kann der Anwendungsbereich des § 54 Abs. 1 StPO, der eher eine rein statusrechtliche Betrachtung der Dienststellung des Zeugen nahe zu legen scheint, nach dem reinen Wortlaut der Norm nicht zuverlässig bestimmt werden. Vielmehr ist die Auslegung der Vorschrift maßgeblich auch nach ihrem Zweck vorzunehmen, die öffentlichen Geheimhaltungsinteressen zu wahren. Es ist daher eine funktionale Betrachtung geboten und in den Blick zu nehmen, ob die jeweils in Rede stehende Person Aufgaben des öffentlichen Dienstes wahrnimmt, in diesem Zusammenhang mit 60 61 62 63 64 65 66 67

E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 58. Urteil vom 17.10.1957, 4 StR 523/57, BGHSt 11, 47, 49. Beschluss vom 12.9.1974, B Ausl 2/74, BGHSt 25, 374, 379. Urteil vom 4.11.1976, 4 StR 255/76, BGHSt 27, 45, 50. Beschluss vom 8.6.1983, 3 StR 476/82 (S), BGHSt 32, 1, 4. Urteil vom 19.12.1997, 2 StR 521/97, BGHSt 43, 370, 375. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 59. Urteil vom 15.12.2005, 3 StR 281/04, BGHSt 50, 318.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

163

geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen in Kontakt kommt und es ihr aufgrund eingegangener Verpflichtung obliegt, über diese Verschwiegenheit zu bewahren.“ 68

Auch in dieser Äußerung hat der BGH ausgeführt, dass die Bedeutung der Vorschrift auf der Grundlage des „reinen Wortlauts“ nicht festgestellt werden kann, und auf teleologische Kriterien zurückgegriffen werden muss. Diese Äußerung betont wieder die Bedeutung der teleologischen Auslegung und lässt die systematische Methode außer Acht. In dieser Entscheidung ist nicht zu übersehen, dass der BGH die Kategorie des „reinen Wortlauts“ verwendet. Diese Äußerung suggeriert, dass es zwei Arten von Wortlaut gibt: „Wortlaut“ und „reinen Wortlaut“. In der letzten Entscheidung (materielles Strafrecht), in der in der ausgewählten Stichprobe69 die Vorrangproblematik thematisiert ist, hat der BGH festgestellt: BGH Fall 3 „Zwar läßt es der Wortlaut von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) StGB zu, kommunale Mandatsträger in der Ausübung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit eigner Art als Träger eines öffentlich-rechtlichen Amts zu verstehen (vgl. Rübenstahl HRRS 2006, 23, 33). Einem solchen Verständnis stehen jedoch historische, systematische und teleologische Argumente entgegen.“ 70

In dieser Entscheidung wurde das Ergebnis der grammatischen Auslegung dem Ergebnis der sonstigen Auslegungskriterien gegenübergestellt. Der BGH hat sich für das Ergebnis ausgesprochen, das die historische, die systematische und die teleologische Auslegungsmethode nahe legen. Der Vorrang dieser Auslegungskriterien in dieser Entscheidung muss jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass das Ergebnis der grammatischen Auslegungsmethode im Widerspruch zu den sonstigen Auslegungskriterien steht. Das hängt offenkundig vom Konzept des Wortlautes ab, das der BGH entwickelt. Denkbar sind zwei Möglichkeiten: Der Wortlaut kann entweder eine oder mehrere Bedeutungen haben. In dem zweiten Fall (mehrere Bedeutungen) können sonstige Auslegungsmethoden als Eliminierungsinstrumente zur Anwendung kommen. Es scheint, dass dieses Konzept die behandelte Entscheidung verwirklicht. Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass der BGH sich nur selten und allenfalls am Rande mit der Problematik des Rangverhältnisses auseinandersetzt. Keinesfalls lassen diese kurzen Zitate Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine vom BGH bevorzugte Auslegungsmethode zu. Es ist jedoch bemerkenswert, dass der BGH in 100 Entscheidungen, die das materielle und das prozesuale Strafrecht betreffen, den Vorrang der sprachlichen Auslegungsme-

68 69 70

Ebenda, S. 326 f. Urteil vom 9.5.2006, 5 StR 453/05, BGHSt 51, 45. Ebenda, S. 49.

164

Teil 2: Empirische Analysen

thode nicht ausdrücklich betont hat. Zwar hat der BGH im Fall 3 festgestellt, dass der Wortlaut von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) StGB eine bestimmte Auslegung zulässt, aber im Ergebnis hat er den historischen, den systematischen und den teleologischen Kriterien den Vorrang eingeräumt. Im Gegensatz zum BGH thematisiert das OG die Problematik des Rangverhältnisses innerhalb der Auslegungsmethoden in seinen Entscheidungen wesentlich öfter (22 Fälle) und in einem breiteren Umfang. Bevor die betreffenden Passagen aus den Begründungen des OG interpretiert werden, seien sie angesichts ihrer Bedeutung für die nachfolgende Analyse zunächst vollständig zitiert. Da für die Interpretation des empirischen Materials von Bedeutung ist, ob das betreffende Zitat aus dem Gebiet des materiellen Strafrechts oder des Strafverfahrensrechts kommt, wird bei jedem Zitat das Rechtsgebiet angegeben, zu dem das angeführte Zitat gehört. OG Fall 1 (materielles Strafrecht) „Es ist davon auszugehen, dass die Auslegungsproblematik sich nicht auf die sprachlichen Aspekte beschränken darf, denn die Rechtsvorschriften dienen bestimmten Zielen, die im Zuge der Auslegung erreicht werden sollten. Daher darf die Auslegung einer Rechtsvorschrift nicht zu einem solchen Ergebnis führen, das im Hinblick auf die ratio legis der Rechtsnorm dysfunktional wäre und demzufolge keine axiologische Begründung hätte.“ 71

OG Fall 2 (materielles Strafrecht) „Angesichts der normativen Eindeutigkeit des Art. 55 Abs. 1 des Gesetzes ist die Verwendung weiterer Argumente, die an die historische und die teleologische Auslegung sowie an die von Polen ratifizierten internationalen Konventionen betreffend Betäubungsmittel, psychotrope Substanzen sowie ihren illegalen Verkehr anknüpfen, entbehrlich.“ 72

OG Fall 3 (materielles Strafrecht) „Angesichts des terminologischen Chaos ist die Schlussfolgerung begründet, dass sowohl auf der Grundlage der sprachlichen Analyse der Strafgesetze (im weiteren Sinne) als auch auf der Grundlage des ganzen Rechtssystems in Polen es sich nicht genau feststellen lässt, ob sich der Gesetzgeber im Art. 178a KK des Begriffes ,Betäubungsmittel‘ im weiteren oder im engeren Sinne bedient hat. Demzufolge müssen andere Auslegungsmethoden – systematische und funktionelle Auslegungsmethode – zur Anwendung kommen.“ 73

71

Urteil vom 4.12.2006, V KK 360/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 35 f. Beschluss (Postanowienie) vom 20.12.2006, I KZP 31/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 13 f. 73 Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2007, I KZP 36/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 6. 72

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

165

OG Fall 4 (Strafverfahrensrecht) „Der Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 KPK ist eindeutig, so dass die Anwendung anderer Auslegungsmethoden als die sprachliche Auslegungsmethode ausscheidet.“ 74

OG Fall 5 (materielles Strafrecht) „Es ist unstrittig, dass der Auslegende bei der Auslegung eines in der Rechtssprache geschriebenen Textes sich zunächst auf die sprachliche Methode stützen soll und erst dann, wenn diese die vorliegenden Zweifel nicht beheben kann, er die systematische Methode anwenden darf. Auch zu der funktionellen Methode darf er nur dann greifen, wenn die systematische Methode die vorliegenden Zweifel nicht beheben kann (L. Morawski: Główne problemy współczesnej filozofii prawa. Prawo w toku przemian, Warszawa 1999, S. 235). Von einem klaren Ergebnis der grammatischen Methode darf man nur dann abweichen und sich auf die systematische Methode stützen, wenn dafür gewichtige Gründe sprechen. Auch die funktionelle Auslegungsmethode darf zur Anwendung kommen, wenn gewichtige Gründe für ein Abweichen vom klaren Ergebnis der grammatischen und der systematischen Methode sprechen (L. Morawski: Wste˛p do prawoznawstwa, Warszawa 1996, S. 150).“ 75

Und weiter: „In Bezug auf dieses Argument muss man feststellen, dass dieser Auslegungsvorschlag die herrschende Meinung missachtet, die der sprachlichen Auslegungsmethode im materiellen Strafrecht den Vorrang einräumt und die Subsidiarität der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode zu Gunsten des Angeklagten betont. (. . .) [L. Morawski: Wykładnia w orzecznictwie sa˛dów. Komentarz, Torun´ 2002, S. 82; S. Majcher: W kwestii tzw. prawotwórstwa sa˛dowego (na przykładzie orzecznictwa SN w sprawach karnych), PiP 2004, Nr. 2, S. 70].“ 76

OG Fall 6 (Strafverfahrensrecht) „Diese Auffassung ist jedoch unhaltbar, denn sie steht in einem Widerspruch zum Wortlaut des Art. 469 S. 2 KPK, dessen Auslegung außer einer Anwendung der sprachlichen Auslegungsmethode keiner besonderen Vorgehensweise bedarf.“ 77

OG Fall 7 (Strafverfahrensrecht) „Ohne Zweifel wird der sprachlichen Auslegungsmethode in der polnischen Rechtsordnung gemäß den allgemein anerkannten Direktiven der Auslegung der Vorrang eingeräumt. (. . .). Dabei ist es jedoch zu beachten, dass der Vorrang der grammatischen Methode nicht zu der Erkenntnis führen darf, dass der Interpret die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode vollkommen ignorieren dürfte (M. Zielin´ski: Wykładnia prawa. Zasady, reguły, wskazówki, Warszawa 2002, S. 275).

74

Urteil vom 1.3.2007, V KK 4/07, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 71 f. Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007, I KZP 39/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 13. 76 Ebenda, S. 15 f. 77 Beschluss (Postanowienie) vom 21.3.2007, I KZP 1/07, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 40. 75

166

Teil 2: Empirische Analysen

Man kann sich leicht klar machen, dass der klare Sinn der Vorschrift nach der Konfrontierung mit anderen Vorschriften und mit dem Ziel der Regelung zweifelhaft wird. Das stärkste Argument für die Richtigkeit der Auslegung liegt dann vor, wenn sowohl die sprachliche, die systematische als auch die funktionelle Auslegungsmethode zu einem einheitlichen Ergebnis führen. In jedem Fall, in dem der Verdacht besteht, dass das Ergebnis der sprachlichen Methode sich als inadäquat erweisen kann, soll der Interpret es mit der systematischen und der funktionellen Auslegung konfrontieren. Bei der Ermittlung des Wortsinnes einer Vorschrift soll auch der systematische und der funktionelle Hintergrund, und zwar andere Vorschriften, der Wille des Gesetzgebers und der Zweck der Regelung berücksichtigt werden (L. Morawski: Zasady wykładni prawa, Torun´ 2006, S. 74).“ 78

Und weiter: „Vor allem ist zu betonen, dass in der Literatur und der Rechtsprechung anerkannt ist, dass der Interpret von dem sprachlichen Sinn einer Vorschrift insbesondere dann abweichen darf, wenn er evident mit den verfassungsrechtlichen Werten unvereinbar ist und die Aufhebung der Vorschrift in einem konkreten Moment unmöglich oder unzweckmäßig wäre oder wenn die sprachliche Auslegungsmethode zu einem Ergebnis führt, das im Lichte der allgemein anerkannten Werte als krass unbillig, ungerecht, irrational und der ratio legis einer Vorschrift widersprechend angesehen werden müsste (L. Morawski, op. cit., S. 78). Obwohl der Interpret nach der Auffassung des Verfassungsgerichts sich vor allem auf den sprachlichen Sinn einer Vorschrift stützen soll, bedeutet das nicht, dass die Auslegungsgrenze, die die sprachliche Bedeutung eines Textes markieren kann, absolut unüberschreitbar ist. Dies bedeutet lediglich, dass zu der Überschreitung dieser Grenze eine starke axiologische Begründung notwendig ist, die sich vor allem auf die verfassungsrechtlichen Werte stützt (Urteil des Verfassungsgerichts vom 28. Juni 2000, K 25/99, OTK 2000, Nr. 5 Pos. 141). Das Oberste Gericht hat schon mehrmals darauf hingewiesen, dass ,in den Situationen, in denen eine strikt buchstabengetreue Interpretation einer gesetzlichen Vorschrift die Anwendung dieser Vorschrift unmöglich macht oder zur Entstellung und Verzerrung ihres Inhalts führt, das Organ, das das Recht anwendet, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, andere Auslegungsmethoden zu verwenden‘ (Beschluss vom 18.10.2001, I KZP 22/01, OSNKW 2001, H. 11–12, Pos. 86; Urteil vom 8. April 2001, V KKN 281/00, OSNKW 2002, H. 7–8, Pos. 56). In dem behandelten Fall findet die Überschreitung der Grenze, die die sprachliche Bedeutung der Vorschrift des Abs. 15 Art. 19 des Gesetzes über die Polizei markieren könnte, ihre Rechtfertigung in der Notwendigkeit einer möglichst geringen Einschränkung der verfassungsrechtlichen Rechte und Freiheiten, insbesondere hinsichtlich des Rechts auf den rechtlichen Schutz des Privatlebens, des Rechts auf die Unverletzlichkeit der Wohnung sowie der Freiheit der Kommunikation. Außerdem würde die buchstabengetreue Auslegung dieser Vorschrift zu ihrer Unvereinbarkeit mit der Verfassung führen.“ 79 78 Beschluss (Postanowienie) vom 26.4.2007, I KZP 6/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 13. 79 Ebenda S. 16 f.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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OG Fall 8 (materielles Strafrecht) „Wenn die sprachliche Auslegungsmethode nicht zu einem eindeutigen Verständnis führt, dann sollen andere Auslegungsmethoden, insbesondere die systematische Auslegungsmethode und die historische Methode, zur Anwendung kommen. Durch die Letztere soll die ratio legis einer Vorschrift ermittelt werden.“ 80

OG Fall 9 (materielles Strafrecht) „Man muss darauf hinweisen, dass die Anwendung der funktionellen Auslegungsmethode nur dann begründet ist, wenn die sprachliche Auslegungsmethode (. . .) und die systematische Auslegungsmethode keine eindeutigen Ergebnisse bringen (. . .).“ 81

OG Fall 10 (materielles Strafrecht) „(. . .), es muss daran erinnert werden, dass die sprachliche Auslegungsmethode nach den allgemein anerkannten Präferenzregeln der Auslegung den Vorrang hat. Man kann sich jedoch darüber bewusst werden, dass der Sinn der Vorschrift, der an sich sprachlich klar erscheint, nach der Konfrontierung mit anderen Vorschriften und dem Zweck der Vorschrift zweifelhaft werden kann. Bei der Ermittlung der Bedeutung einer Vorschrift soll man daher auch den systematischen und funktionellen Hintergrund berücksichtigen, und zwar andere Vorschriften, den Willen des Gesetzgebers und den Zweck der Regelung (L. Morawski: Zasady wykładni prawa, Torun´ 2006, S. 74).“ 82

OG Fall 11 (Strafverfahrensrecht) „(. . .) die Bedeutung einer Vorschrift soll in erster Linie auf der Grundlage der sprachlichen Auslegungsmethode festgelegt werden. Falls sie die Zweifel nicht beseitigt, sollen die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode zur Anwendung kommen.“ 83

Und weiter: „Das richtige Verständnis einer Vorschrift und ihr funktioneller Anwendungsbereich lassen sich somit auf der Grundlage der sprachlichen Auslegungsmethode feststellen.“ 84

Und weiter: „Die sprachliche Auslegungsmethode dieser Vorschrift gibt keine rationalen Gründe für eine Suche nach ,verborgenen‘ Inhalten oder zur Annahme einer Funktion dieser Vorschrift außer der, die klar aus dem grammatischen Verständnis dieser Vorschrift hervorgeht.“ 85 80

Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007, I KZP 7/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 33. Beschluss (Uchwała) vom 15.6.2007, I KZP 14/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 9. 82 Beschluss (Uchwała) vom 29.8.2007, I KZP 19/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 5. 83 Beschluss (Postanowienie) vom 26.7.2007, I KZP 16/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 14. 84 Ebenda, S. 16. 85 Ebenda. 81

168

Teil 2: Empirische Analysen

OG Fall 12 (materielles Strafrecht) „Ausgehend von dem Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode, die aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip hervorgeht, nach dem die Bürger sich darauf verlassen können, was der Gesetzgeber in einem Rechtstext gesagt hat, und nicht darauf, was er sagen wollte oder was er gesagt hätte, wenn er die neuen Umstände gekannt hätte, muss festgestellt werden, dass die Bedeutung der Vorschriften des Art. 42 § 1 und 2 KK im Hinblick auf die gestellte Rechtsfrage keine Zweifel erweckt. Hier kommt der Grundsatz zur Anwendung, nach dem eine klare Vorschrift keiner grundlegenden Auslegung bedarf. Dieser Grundsatz wird gewöhnlich so verstanden, dass die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode nicht zur Anwendung kommen, wenn die sprachliche Auslegungsmethode die Bedenken bei der Auslegung ausgeräumt hat (siehe A. Redelbach, S. Wronkowska, Z. Ziembin´ski: Zarys teorii pan´stwa i prawa, Warszawa 1992, S. 205).“ 86

OG Fall 13 (materielles Strafrecht) „Zunächst ist hervorzuheben, dass die Literatur den Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode und die Subsidiarität der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode zu Gunsten des Angeklagten sowie das Verbot der Analogie zu Ungunsten des Angeklagten im materiellen Strafrecht betont [J. Wróblewski: Rozumienie prawa i jego wykładnia, Wrocław 1990, S. 86; M. Zielin´ski: Wykładnia prawa. Zasady, reguły, wskazówki, Warszawa 2002, S. 317; L. Morawski: Wykładnia w orzecznictwie sa˛dów. Komentarz, Torun´ 2002, S. 82; S. Majcher: W kwestii tzw. prawotwórstwa sa˛dowego (na przykładzie orzecznictwa SN w sprawach karnych), PiP 2004, H. 2, S. 70; P. Grzesikowski in: L. Morawski, Hrsg.: Wykładnia prawa i inne problemy filozofii, Torun´ 2005, S. 112–113; L. Morawski: Zasady wykładni prawa, Torun´ 2006, S. 67; T. Bojarski: Polskie prawo karne. Zarys cze˛s´ci ogólnej, Warszawa 2006, S. 67)].“ 87

Und weiter heißt es in derselben Entscheidung: „In der Rechtstheorie wird betont, dass im Auslegungsverfahren in der Perzeptionsphase alle Auslegungsdirektiven (d.h. die sprachliche Direktive, die systematische und die funktionelle Direktive) zur Anwendung kommen sollten, unabhängig davon, ob früher schon ein eindeutiges Ergebnis erzielt worden ist (vgl. M. Zielin´ski: Podstawowe zasady współczesnej wykładni prawa, in: P. Winczorek, Hrsg.: Teoria i praktyka wykładni prawa, Warszawa 2005, S. 118). Auch in der Rechtsprechung überwiegt die Auffassung, dass die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode auch dann zur Anwendung kommen sollten, wenn die sprachliche Methode zu einem befriedigenden Ergebnis geführt hat (M. Zielin´ski: Wykładnia prawa . . ., S. 227–228).“ 88

86 Beschluss (Postanowienie) vom 29.8.2007, I KZP 23/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 47. 87 Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007, I KZP 27/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 4. 88 Ebenda, S. 6.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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OG Fall 14 (materielles Strafrecht) „Auch wenn die sprachliche Auslegungsmethode schon zur Klarheit der Vorschrift führt und demzufolge die Anwendung der anderen Auslegungsdirektiven ausgeschlossen sein könnte (so: L. Morawski: Wykładnia w orzecznictwie sa˛dów. Komentarz, Torun´ 2002, S. 117), muss der vom erkennenden Gericht hervorgehobene Umstand, dass der Gesetzgeber in der vorangehenden Fassung der Vorschrift das Wort ,welcher‘ grammatisch fehlerhaft verwendet hat, zur Anwendung der systematischen Auslegungsmethode führen, um das Ergebnis der grammatischen Auslegungsmethode zu prüfen und es eventuell zu bestätigen (M. Zielin´ski, in: M. Safjan, Hrsg.: System prawa prywatnego. Prawo cywilne – cze˛s´c´ ogólna, Warszawa 2007, Band 1, S. 447–464).“ 89

OG Fall 15 (Verfassung) „Es ist tatsächlich so, dass die grammatische Auslegungsmethode, die als grundlegende Auslegungsmethode gilt, zu einem eindeutigen Ergebnis führt.“ 90

OG Fall 16 (materielles Strafrecht) „Die Lösung der in der Rechtsfrage gestellten Probleme kann und soll schon auf der Grundlage der sprachlichen Auslegungsmethode erfolgen. Der Vorrang dieser Auslegungsmethode im Auslegungsprozess ist unbestritten (siehe z. B. L. Morawski: Zasady wykładni prawa, Torun´ 2006, S. 87 und S. 270).“ 91

OG Fall 17 (Strafverfahrensrecht) „Zu dieser Folgerung führt eine einfache Perzeption, die den Rahmen der sprachlichen Auslegungsmethode nicht überschreitet.“ 92

Und weiter: „Die Suche nach der weiteren Zuständigkeit des Gerichts im Wege der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode (. . .) wäre nur dann gerechtfertigt, wenn im Falle des Fehlens einer gesetzlichen Norm eine Rechtslücke vorläge. Es wurde gezeigt, dass eine solche nicht vorliegt.“ 93

Und weiter: „Im Rechtsstaat darf man von einem eindeutigen Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode nicht abweichen. Nur ausnahmsweise darf die Grenze dieser Auslegungsmethode überschritten werden, wenn dafür wichtige axiologische Gründe sprechen, die in der Verfassung verwurzelt sind, und das Ergebnis der Auslegungsme-

89

Beschluss vom 20.9.2007, I KZP 30/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 22 f. Beschluss (Uchwała) vom 20.8.2007, I KZP 21/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 4. 91 Beschluss (Postanowienie) vom 25.10.2007, I KZP 32/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 37. 92 Beschluss (Uchwała) vom 20.12.2007, I KZP 35/07, OSNKW 2008, Nr. 1, S. 10. 93 Ebenda, S. 11. 90

170

Teil 2: Empirische Analysen

thode mit diesen Gründen im Widerspruch steht. Hier liegt eine solche Situation nicht vor.“ 94

OG Fall 18 (materielles Strafrecht) „(. . .), der Generalstaatsanwalt weist zu Recht darauf hin, dass sich die normative Analyse des Inhalts der betreffenden Vorschrift nicht auf die Anwendung der grammatischen Auslegungsmethode beschränken darf. Selbstverständlich kann für die Auslegung des Art. 42 § 2 KK der Wortlaut in einem bestimmten Bereich ausreichend sein. So z. B. führt die sprachliche Auslegungsmethode zu der einzig richtigen Schlussfolgerung, dass (. . .). Dieselbe Auslegungsmethode wird völlig ausreichen, um festzustellen, dass (. . .). Die Situation ist jedoch nicht so klar, wenn man entscheiden soll, inwieweit (. . .). Auf der Grundlage der grammatischen Auslegungsmethode scheint die Schlussfolgerung begründet, dass (. . .). Die Akzeptanz des Ergebnisses der grammatischen Auslegung des Art. 42 § 2 KK würde jedoch zu einer absurden Situation führen. (. . .) Angesichts dessen ist die Auffassung des Generalstaatsanwalts zutreffend, die in der Begründung der Kassation zum Ausdruck gekommen ist, dass für das richtige Verständnis des Art. 42 § 2 KK die Bezugnahme auf die ratio legis dieser Rechtsnorm nicht nur zweckmäßig, sondern auch notwendig ist. (. . .) Die teleologische Auslegung, die zur Feststellung des richtigen normativen Inhalts des Art. 42 § 2 KK in dem behandelten Fall notwendig ist, führt zu der Schlussfolgerung, dass (. . .).“ 95

OG Fall 19 (Strafverfahrensrecht) „Das Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode findet eine starke Unterstützung in der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode.“ 96

OG Fall 20 (materielles Strafrecht) „Es ist festzustellen, dass das Oberste Gericht in dem behandelten Beschluss der Auffassung über die mildernde Wirkung der Gesamtstrafe das Ergebnis der grammatischen Auslegungsmethode entgegenstellt, also eine sprachlich eindeutige Rechtslage behauptet.“ 97

OG Fall 21 (Verfahrensrecht) „Die sprachliche Auslegungsmethode des § 8 des Art. 77 des Gesetzes über die Verfassung der ordentlichen Gerichtsbarkeit führt somit zu einer eindeutigen Schlussfolgerung, die keine Bedenken entstehen lässt, dass (. . .).“ 98 94

Ebenda, S. 13. Urteil vom 10.1.2007, III KK 437/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 46 ff. 96 Beschluss (Postanowienie) vom 26.10.2007, V KZ 61/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 66. 97 Urteil vom 21.8.2007, II KK 96/07, OSNKW 2008, Nr. 1, S. 35. 95

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Und weiter: „Unabhängig von der Überzeugung über die genügende Überzeugungskraft der obigen Argumentation scheint sicherlich die Feststellung richtig, dass die Bezugnahme auf die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode die bisher dargestellten Schlussfolgerungen lediglich bestätigt.“ 99

OG Fall 22 (materielles Strafrecht) „Ohne Zweifel ist bei der Auslegung dieser Formulierung, unabhängig von ihrer sprachlichen Eindeutigkeit, die telelogische Auslegungsmethode nicht außer Acht zu lassen, die sich auf den Inhalt der Rechtsakte der Europäischen Union bezieht, wenn diese Vorschrift in das nationale Gesetz zur Implementierung des in der Rechtsakte der Europäischen Union vorgesehenen Rechtsgedankens eingeführt wurde.“ 100

Dieses umfangreiche empirische Material lässt vielfältige Schlussfolgerungen zu. Die Anzahl und vor allem der Umfang der Äußerungen des OG zum Rangverhältnis innerhalb der Auslegungskriterien, und zwar sowohl auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts als auch auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts, legen zunächst die These nahe, dass die in der polnischen Rechtskultur anerkannten Auslegungsmethoden einen wichtigen Entscheidungshorizont für das OG bilden. Abgesehen davon, welcher Auslegungsmethode das OG im Ergebnis den Vorrang einräumt, fühlt es sich jedenfalls dazu genötigt, die Bedeutung einer Auslegungsmethode zu betonen oder sich mit dem Problem des Rangverhältnisses innerhalb der Auslegungsmethoden auseinanderzusetzen. Ferner ist festzustellen, dass das OG der in der Lehre herausgearbeiteten Aufteilung der Auslegungsmethoden (siehe dazu Teil 1 Pkt. F. V.) in die sprachliche, die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode grundsätzlich folgt. In den Fällen Nr. 3, 5, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 17, 19, 21 hat es ausdrücklich an diese Aufteilung angeknüpft. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch andere Kategorien in den übrigen Entscheidungen zur Anwendung kommen. In den Fällen 1, 7, 8 und 18 erscheint die Kategorie „ratio legis“. Im Fall 2 und 8 nimmt das OG auf die historische Auslegungsmethode Bezug. Nur in drei Entscheidungen (Fall 2, 18 und 22) wird die teleologische Auslegungsmethode erwähnt. Weitere Kategorien, die einen festen Platz in der Rechtsprechung des OG haben, sind die Kategorie der „Eindeutigkeit“ (Fall 2, 4, 8, 9, 13, 15, 17, 20, 21, 22) und die Kategorie der „Klarheit“ (Fall 5, 11, 12, 14). Insgesamt hat das OG in 14 Äußerungen entweder an die eine oder die andere der beiden erwähnten Kategorien angeknüpft. Diese Anzahl legt den Gedanken nahe, dass diese Kategorien in 98

Urteil vom 22.8.2007, III KK 197/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 34. Ebenda, S. 35. 100 Beschluss (Postanowienie) vom 27.8.2007, V KK 388/06, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 43. 99

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Teil 2: Empirische Analysen

der Rechtsprechung des OG eine wichtige Rolle spielen. Diese Kategorie hat das OG auch bei der Auslegung der Verfassung (Fall 15) verwendet. Im Rahmen des nächsten Abschnitts [E. V. 1. a) aa)] soll geprüft werden, wie oft diese Kategorien in allen in Betracht gezogenen Entscheidungen zur Geltung gebracht werden. Aus den oben zitierten Äußerungen geht hervor, dass das OG sich auch der Kategorie des „Zweifels“ bedient. Sie kommt in vier methodischen Aussagen des OG (Fall 7, 10, 11, 12) zur Anwendung. Diese Kategorie und die Kategorie „inadäquat“ (Fall 7) sowie die bereits dargestellten Kategorien der „Eindeutigkeit“ und der „Klarheit“ erlauben dem OG den Übergang von der sprachlichen Methode zur systematischen und funktionellen Methode. Was genau mit diesen Kategorien gemeint sein soll, ist jedoch unklar. Es entsteht der Eindruck, dass sich hinter diesen Kategorien die subjektiven Wertungen des OG verbergen, das selbstständig entscheidet, ob der Auslegungsvorgang schon in der Phase der Anwendung der sprachlichen Auslegungsmethode beendet werden soll oder ob die weiteren Auslegungsmethoden, insbesondere die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode, zusätzlich zur Anwendung kommen sollten. Ferner ist zu betonen, dass das OG die jeweiligen Auslegungsmethoden (insbesondere die sprachliche, die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode) als getrennte Elemente des Auslegungsprozesses betrachtet, die in einer bestimmen Reihenfolge zur Anwendung kommen sollten.101 Dabei geht das OG davon aus, dass jede von diesen Auslegungsmethoden schon ein bestimmtes Auslegungsergebnis hervorbringen kann, das als ein Bezugspunkt für die anderen Auslegungsmethoden gelten kann. Weiterhin ist hervorzuheben, dass sich auf der Grundlage der oben zitierten Äußerungen kein konsequentes und festes Rangverhältnis innerhalb der Auslegungsmethoden feststellen lässt, dem das OG folgt. Insbesondere fällt auf, dass die sprachliche Auslegungsmethode keinen absoluten Vorrang in dem Auslegungsprozess in dem Sinne hat, dass die sprachliche Auslegungsmethode in jedem Fall den Vorrang genießt.102 Dementsprechend lässt sich folgern, dass das OG einen strengen Formalismus ausdrücklich ablehnt. Das bedeutet jedoch nicht, dass für das OG alle Auslegungsmethoden den gleichen Rang genießen. Die zitierten Aussagen legen vielmehr den Gedanken nahe, dass die sprachliche Auslegungsmethode eine besondere Stellung im Auslegungsprozess hat, insbesondere auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts. Diese These findet ihre Begründung in folgenden Punkten. 101 Ähnlich Bielska-Brodziak in Bezug auf die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung. Siehe dazu: A. Bielska-Brodziak, O rodzajach argumentów interpretacyjnych, in: W. Stas´kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 326. 102 Diese Feststellung schließt sicherlich nicht aus, dass es Fälle gibt, in denen die sprachliche Auslegungsmethode einen absoluten Vorrang hat, z. B. bei der Auslegung zu Lasten des Betroffenen. Siehe dazu weitere Ausführungen in diesem Teil der Arbeit.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Zum einen betont das OG in einigen Entscheidungen die Bedeutung der sprachlichen Auslegungsmethode ausdrücklich. In 7 Fällen (Nr. 5, 7, 10, 12, 13, 15, 16) hat das OG zum Ausdruck gebracht, dass der sprachlichen Auslegungsmethode bei dem Auslegungsvorgang der Vorrang gebührt. Es ist nicht zu übersehen, dass diese Äußerungen grundsätzlich das materielle Strafrecht (Fall 5, 10, 12, 13, 16) betreffen. Angesichts der besonderen Rolle des Wortlautkriteriums auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts kann der Inhalt dieser Zitate in der strafrechtlichen Rechtsprechung des OG nicht überraschen. Aber auch bei der Auslegung eines Begriffes aus dem Strafverfahrensrecht (Fall 7103) hat sich das OG genötigt gesehen, die besondere Rolle der sprachlichen Auslegungsmethode hervorzuheben. Was eher überraschen mag, ist die Unterstreichung der besonderen Rolle der sprachlichen Auslegungsmethode auf dem Gebiet des Verfassungsrechts (Fall 15). Zum anderen darf die Auswahl der Worte, in denen das OG den Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode präsentiert, nicht außer Acht gelassen werden. Eine besondere Hervorhebung verdienen in diesem Zusammenhang diejenigen Äußerungen des OG, in denen es zum Ausdruck bringt, dass der Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode in der polnischen Rechtsordnung allgemein anerkannt sei (Fall 5, 7 und 10, 16). So führt das OG im Fall 5 (materielles Strafrecht) aus, es sei „unstrittig“, dass der Auslegende sich bei der Auslegung eines in der Rechtssprache geschriebenen Textes auf die sprachliche Methode stützen soll. Im Fall 7 (Strafverfahrensrecht) wird die Bedeutung der sprachlichen Auslegungsmethode mit dem Ausdruck „ohne Zweifel“ betont, wobei die Bedeutung der sprachlichen Auslegungsmethode in dem weiteren Teil der Begründung relativiert wird. Weiterhin führt das OG im Fall 10 (materielles Strafrecht) aus, „dass die sprachliche Auslegungsmethode nach den allgemein anerkannten Präferenzregeln der Auslegung den Vorrang hat“. Schließlich bringt das OG im Fall 16 (materielles Strafrecht) zum Ausdruck, dass der Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode im Auslegungsprozess „unbestritten“ sei. Die Verwendung der Worte „unstrittig“, „ohne Zweifel“, „allgemein anerkannt“ legt nahe, dass der Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode ein fester Bestandteil der Auslegungskultur des OG ist, der allgemein akzeptiert ist. Drittens wird die oben formulierte These von denjenigen Ausführungen des OG bestätigt, in denen es die Subsidiarität der systematischen und der funktionel103 Dieser Fall ist in dem behandelten Zusammenhang sehr interessant, weil das OG einen großen Aufwand erbracht hat, um die Abweichung vom Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode zu begründen. Dieser Aufwand kann verwundern, wenn man berücksichtigt, dass die Abweichung vom Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode zu Gunsten des Betroffenen vorgenommen wurde. Aus der Perspektive der in dem behandelten Fall erkennenden Richter müssen die Abweichungen vom Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode auch im Strafverfahrensrecht und zu Gunsten des Betroffenen sehr sorgfältig und ausführlich begründet werden.

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Teil 2: Empirische Analysen

len Auslegungsmethoden ausdrücklich betont (Fall 5, 13; beide Fälle betreffen das materielle Strafrecht). In keinem Fall hat das OG ausgeführt, dass die sprachliche Auslegungsmethode nur subsidiär zur Anwendung kommen soll. Viertens zeugen von der besonderen Stellung der sprachlichen Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des OG auch diejenigen Ausführungen, in denen das OG es für notwendig hält, die Anwendung der anderen Auslegungsmethoden zu rechtfertigen. Im Fall 1 (materielles Strafrecht) bringt das OG zum Ausdruck, dass die Rechtsvorschriften bestimmten Zielen dienen, so dass die Auslegung einer Rechtsvorschrift nicht zu einem Ergebnis führen darf, das im Hinblick auf die ratio legis der Rechtsnorm dysfunktional wäre und das demzufolge keine axiologische Begründung hätte. Im Fall 3 (materielles Strafrecht) wird die Anwendung der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode mit einem terminologischen Chaos begründet. Im Fall 7 (Strafverfahrensrecht) wird ausgeführt, dass der klare Sinn der Vorschrift nach der Konfrontierung mit anderen Vorschriften und mit dem Ziel der Regelung zweifelhaft sein kann, was die Anwendung der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode erfordere. Ähnlich hat das OG im Fall 11 (Strafverfahrensrecht) argumentiert. In den Fällen 8 und 9 (beide Fälle betreffen materielles Strafrecht) wird die Anwendung der anderen Auslegungsmethoden damit gerechtfertigt, dass die sprachliche Auslegungsmethode nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führen würde. Im Fall 13 (materielles Strafrecht) wird dagegen die Anwendung der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode gefordert, unabhängig davon, ob zuvor schon ein eindeutiges Ergebnis erzielt wurde oder nicht. Ähnlich geht das OG im Fall 14 (materielles Strafrecht) vor, obwohl in diesem Fall nur die Anwendung der systematischen Auslegungsmethode begründet wird. In allen diesen Ausführungen fühlte sich das OG offenbar genötigt, neben der Anwendung der sprachlichen Auslegungsmethode, die Anwendung anderer Auslegungsmethoden zu rechtfertigen. Fünftens ist zu beachten, dass das OG in drei Fällen (Nr. 5, 9, 12; alle Fälle betreffen materielles Strafrecht) ausdrücklich festgestellt hat, dass die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode nur dann zur Anwendung kommen dürfen, wenn die sprachliche Auslegungsmethode kein eindeutiges Ergebnis erbracht hat. Schließlich ist sechstens darauf aufmerksam zu machen, dass das OG in drei Fällen (Nr. 3, 8, 14; alle Fälle betreffen materielles Strafrecht) die Anwendung der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode postuliert, wenn auf der Grundlage der sprachlichen Methode kein eindeutiges Ergebnisse erzielt wurde. Alle diese Ausführungen des OG zeugen davon, dass das OG die Bedeutung der sprachlichen Auslegungsmethode insbesondere auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts ausdrücklich betont. Diese These findet auch ihre Bestätigung in

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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der schon früher erwähnten Untersuchung von Wyrembak104, der nach der Analyse der strafrechtlichen Rechtsprechung des OG festgestellt hat, dass sich in den Äußerungen des OG zum Rangverhältnis der Auslegungsmethoden eine „außerordentliche“ Bevorzugung der sprachlichen Auslegungsmethode feststellen lässt.105 Auch Bielska-Brodziak ist zu der Schlussfolgerung gekommen, dass die Verwaltungsgerichte in ihrer Rechtsprechung zu steuerrechtlichen Angelegenheiten die „Überlegenheit“ der sprachlichen Auslegungsmethode ausdrücklich betonen.106 Die häufige Bezugnahme des OG auf das Rangverhältnis zwischen den klassischen Auslegungskriterien kann jedoch auch aus einer anderen Perspektive interpretiert werden. Man kann zwar einerseits in diesen Äußerungen bloße Ornamente (Floskel) sehen, die die Richter ihren Begründungen ohne tiefere Reflexion beifügen; aber wenn man davon ausgeht, dass in einem Rechtsdiskurs kein Satz nur zufällig Verwendung findet, kann man diese Äußerungen auch als ein bewusstes Vorgehen der Richter betrachten, das den Eindruck eines methodisch geleiteten Interpretationsverfahrens erwecken soll. In diesem Sinne wollen die Richter mit diesen Äußerungen Folgendes mitteilen: Die Auslegung von Gesetzen ist keine willkürliche Aktivität, sondern eine Tätigkeit, die sich an bestimmten Regeln orientieren soll. Zunächst soll die sprachliche Auslegungsmethode zur Anwendung kommen, dann sind eventuell andere Auslegungsmethoden heranzuziehen. Bei dieser Vorgehensweise ist kein Platz für Willkür. Das Auslegungsergebnis ist somit das Resultat einer Methode, die in einem Fall angewendet wird, und die Rolle des Interpreten besteht nur in der Anwendung dieser Methode. Eigentlich kann man daher davon ausgehen, dass jeder Interpret in einem konkreten Fall mit der Anwendung der Auslegungsmethodik zu demselben Ergebnis kommen würde. Auslegung ist somit nichts anderes und nicht mehr als die richtige Anwendung einer Methode. Damit wird gewissermaßen das positivistische Ideal verwirklicht, nach dem die Rolle des Interpreten auf die Anwendung der richtigen Auslegungsmethoden zurückgeführt wird; alle schöpferischen Aspekte werden bei dieser Vorgehensweise verdrängt.107 Ferner kann man die zahlreichen Äußerungen des OG zum Rangverhältnis zwischen den klassischen Auslegungsmethoden als Zeichen seines Glaubens an die Auslegungsmethodik betrachten. Es hält sie grundsätzlich dafür geeignet, ein bestimmtes Auslegungsproblem zu lösen und ein Ergebnis zu begründen. Dabei geht das OG in den zitierten Äußerungen davon aus, dass sich das Rangverhältnis 104 Die Untersuchung von Wyrembak behandelte ausschließlich die Fälle aus dem Bereich des materiellen Strafrechts. 105 J. Wyrembak, Zasadnicza wykładnia znamion przeste˛pstw, 2009, S. 180. 106 A. Bielska-Brodziak, Interpretacja tekstu prawnego na podstawie orzecznictwa podatkowego, 2009, S. 175; dies., O rodzajach argumentów interpretacyjnych, in: W. Stas´kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 331. 107 Siehe dazu P. Wiatrowski, Filozofia interpretacji prawniczej (cz. 2), Palestra 1–2/ 2011, S. 73.

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Teil 2: Empirische Analysen

innerhalb der Auslegungsmethoden in einem konkreten Fall feststellen lässt. In einem Fall kann die sprachliche Auslegungsmethode die entscheidende Rolle spielen, in einem anderen Fall die systematische oder die funktionelle Auslegungsmethode. Unabhängig von ihrer Konfiguration können sie jedoch zur Lösung des Auslegungsproblems konstruktiv beitragen. Demgegenüber kann das Schweigen des BGH im Hinblick auf das Rangverhältnis innerhalb der Auslegungskriterien auch als Ausdruck seines Misstrauens gegen die Methodenlehre interpretiert werden. Man kann dabei nicht ausschließen, dass beide Gerichte in diesem Bereich unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben; sie befinden sich gewissermaßen auf einem unterschiedlichen methodischen Stand. Diese These erhärten auch weitere Befunde, die in den kommenden Teilen der vorliegenden Untersuchung noch näher dargestellt werden sollen. Insbesondere wird gezeigt werden, dass das OG im Gegensatz zum BGH nicht selten die methodische Literatur zitiert [ausführlich dazu Pkt. E. V. 1. c)]. Auch dieses Phänomen kann nicht als zufällige Erscheinung angesehen werden. Es zeugt vielmehr davon, dass das OG bereit ist, aus den Ressourcen der methodischen Literatur zu schöpfen und sich bei der Auslegung an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren. Es scheint so zu sein, dass der Glaube an die Auslegungsmethodik in diesem Fall eng mit dem Glauben an die Rechtswissenschaft verbunden ist. Die umfangreichen Äußerungen des OG zum Rangverhältnis innerhalb der Auslegungsmethoden lassen auch einige Schlüsse im Hinblick auf die Einstellung des OG zum Gesetz zu. So kann man die These aufstellen, dass das OG das Gesetz gewissermaßen als einen Behälter konkreter Entscheidungen betrachtet, die mit Hilfe von konkreten Auslegungsmethoden aus diesem Behälter hervorgeholt werden müssen. Aus dieser Perspektive ist die Lösung jedes Auslegungsproblems immer schon im Gesetz enthalten; die Aufgabe des Interpreten besteht nur noch in der sachgemäßen Anwendung des Auslegungsinstrumentariums. Der Gesetzgeber hat alle Lösungen vorgesehen; es reicht aus, sie mit Hilfe der entsprechenden Auslegungsmethoden zu ermitteln. Insgesamt werden die Kanones der Auslegung aus dieser Perspektive substantialisiert und – wie Kudlich und Christensen zutreffend bemerkt haben – als Instrumente eines vorgegebenen Bedeutungsgehalts betrachtet.108 Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass das OG im Gegensatz zum BGH ausführlichen Stellungnahmen zum Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmethoden nicht aus dem Wege geht. Dieser Umstand kann nicht ohne Einfluss auf die Auslegungskultur in beiden Ländern bleiben, denn die umfangreichen Passagen der Begründungen des OG zum Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmethoden geben den Richtern der unteren Instanzen in Polen klare Hinweise, wie 108

R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 155.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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sie bei der Auslegung der Gesetze vorgehen sollen, insbesondere dass sie sich primär auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts an der sprachlichen Auslegungsmethode zu orientieren haben. Dieses Element der Begründungen der Entscheidungen verstärkt fraglos die formalistische Strömung in der polnischen Rechtskultur. Demgegenüber wird der deutsche Richter in der neueren Rechtsprechung des BGH im Vergleich zum polnischen Richter zum Rangverhältnis innerhalb der Auslegungsmethoden wesentlich weniger finden; eine Unterstützung in dieser Hinsicht seitens des höchsten Gerichts kann er somit nicht erwarten.

II. Terminologische Konsequenz109 Die qualitative Untersuchung hat ergeben, dass beide Gerichte neben den Äußerungen über das Rangverhältnis zwischen den Auslegungskriterien auch zu dem Problem der einheitlichen Auslegung eines Begriffes innerhalb des Rechtssystems Stellung genommen haben. Diese Thesen dürfen in der vorliegenden Untersuchung nicht vernachlässigt werden, denn sie können wichtige Aspekte der Auslegungs- und Argumentationskultur beider Gerichte beleuchten. Wie in dem theoretischen Teil der vorliegenden Untersuchung (Teil 1 Pkt. C. I.) gezeigt wurde, ist für eine formalistische Auslegungskultur die Tendenz zur möglichst einheitlichen Auslegung problematischer Begriffe charakteristisch. In einer substanziellen Rechtskultur kann diese Tendenz auch vorkommen, aber die Gerichte sind zugleich bereit, von der einheitlichen Auslegung eines Begriffes abzuweichen, wenn wichtige sachliche Gründe dafür sprechen. Im Folgenden werden zunächst die Äußerungen des OG und dann des BGH zu dieser Problematik dargestellt. OG Fall 1 In dem Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007110, in dem sich das OG mit der Bedeutung des Begriffs des „Schadens“ beschäftigt, hat es ausgeführt: „Es ist im Allgemeinen anerkannt, dass dann, wenn ein Begriff in einem normativen Akt oder in einem Rechtszweig nicht definiert ist, man eine Definition in Anspruch nehmen muss, die von anderen Vorschriften vorgesehen wird.“ 111

In diesem Zitat muss der Ausdruck „im Allgemeinen anerkannt“ betont werden. Dieser Ausdruck suggeriert, dass der dargestellte Grundsatz für das OG eine Selbstverständlichkeit ist, die nicht nur das OG teilt, sondern auch in der Rechtsprechung der Gerichte der unteren Instanzen und in der Lehre nicht beanstandet wird. Im deutschen Rechtsdiskurs könnte an dieser Stelle der Ausdruck „herr-

109 Dieser Begriff wird an dieser Stelle in einer weiteren Bedeutung als im Werk von L. Morawski (Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 119 f.) verwendet. 110 I KZP 28/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 5. 111 Ebenda, S. 11.

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Teil 2: Empirische Analysen

schende Meinung“ verwendet werden. Und weiter heißt es in dieser Entscheidung: „Nach einer Legaldefinition muss man zunächst in einem Rechtsakt suchen, in dem sich der auslegungsbedürftige Begriff befindet. Falls dieser Rechtsakt keine Legaldefinition vorsieht, muss man prüfen, ob ein anderer für die betreffende Frage grundlegender Rechtsakt den Begriff definiert.“ 112

In dem behandelten Fall hat das OG festgestellt, dass weder das Strafrecht noch das Strafverfahrensrecht den Begriff des „Schadens“ definieren, so dass man auf den im Zivilrecht definierten Begriff Bezug nehmen darf. In einem weiteren Teil dieser Entscheidung hat das OG ausgeführt: „Ein Abweichen von der im Zivilrecht angenommenen Definition wäre nur dann zulässig, wenn der Gesetzgeber in strafrechtlichen Vorschriften eine abweichende Definition vorgesehen hätte.“ 113

OG Fall 2 Auch in einer anderen Entscheidung114 hat das OG die Notwendigkeit der einheitlichen Auslegung eines Begriffes betont: „(. . .) in den weiteren Ausführungen darf man nicht von dem Umstand absehen, dass dieser Begriff auch in anderen Vorschriften dieses Gesetzes definiert ist und eine unterschiedliche Auslegung dieses Begriffes in einen Konflikt mit der Direktive der terminologischen Konsequenz geraten würde.“ 115

Hier fällt die Kategorie der „terminologischen Konsequenz“ auf. Aus diesem Zitat geht hervor, dass sie den Interpreten dazu verpflichtet, gleichlautende Begriffe einheitlich auszulegen. OG Fall 3 In dem hier behandelten Zusammenhang ist noch der Beschluss des OG vom 26.4.2007116 zu berücksichtigen, in dem sich das OG mit der Frage auseinandersetzt, ob eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (spółka cywilna) zu den Subjekten gehört, die in Art. 9 § 3 des Steuerstrafgesetzbuches117 (Kodeks karny skarbowy) genannt sind. Nach dieser Vorschrift unterliegt einer steuerstrafrechtlichen 112

Ebenda. Ebenda. 114 Beschluss (Uchwała) vom 15.6.2007, I KZP 14/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 1. 115 Ebenda, S. 5. 116 Beschluss (Uchwała), I KZP 7/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 28. 117 Art. 9 § 3 KKS lautet: „Für steuerrechtliche Straftaten oder auch Ordnungswidrigkeiten trägt, wie ein Täter, auch derjenige die Verantwortung, der sich auf der Grundlage einer Rechtsvorschrift, einer Entscheidung des zuständigen Organs, eines Vertrages oder faktischer Tätigkeiten mit wirtschaftlichen, insbesondere mit finanziellen Angelegenheiten einer natürlichen oder juristischen Person befasst. Dasselbe gilt für denjenigen, der sich mit den Angelegenheiten einer organisatorischen Einheit befasst, die keine 113

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Verantwortung auch derjenige, der sich mit den wirtschaftlichen Angelegenheiten einer organisatorischen Einheit beschäftigt, die an sich keine Rechtsperson ist, der aber andere Vorschriften Rechtspersönlichkeit verleihen. Das OG hatte keine Bedenken, die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als organisatorische Einheit zu betrachten; demgegenüber erweist sich die Frage problematisch, nach welchen Vorschriften (zivil- oder steuerrechtlichen) über die Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts entschieden werden soll. Die Antwort auf diese Frage determiniert zugleich die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters, denn nach den zivilrechtlichen Vorschriften hat die Gesellschaft bürgerlichen Rechts keine Rechtspersönlichkeit, wohl jedoch nach den steuerrechtlichen Vorschriften. Das OG entschied sich für die dem Täter günstige Variante, obwohl es ausdrücklich hervorhob, dass die funktionelle Auslegungsmethode für ein anderes Ergebnis sprechen würde. Als eines der entscheidenden Argumente wird wieder das Argument der „terminologischen Konsequenz“ genannt. Das OG führte aus: „Bei der systematischen Auslegung des Art. 9 § 3 KKS muss man die Direktive berücksichtigen, nach der die Auslegung einer Vorschrift die Vorschriften anderer Rechtsakte nicht außer Acht lassen darf, insbesondere wenn gleich lautende Redewendung in diesen Rechtsakten verwendet wurden (vgl. J. Wróblewski: Sa˛dowe stosowanie prawa, Warszawa 1988, S. 134 ff.).“ 118

Da das Verfassungsgericht auf der Grundlage des Gesetzes über die strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen119 angenommen hat, dass über die Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts die zivilrechtlichen Vorschriften entscheiden, hat das OG im Hinblick auf die bereits erwähnte Direktive dieses Auslegungsergebnis auch im Rahmen des Steuerstrafgesetzbuches angenommen. Um dieses Ergebnis zu erhärten, führte das OG zudem aus: „Die Anwendung der systematischen Auslegungsmethode erfordert die Verwendung des Grundsatzes des stimmigen Rechtssystems, aus dem eine Direktive hervorgeht, die es verbietet, die Vorschriften in den unterschiedlichen Rechtsakten widersprüchlich auszulegen (vgl. L. Morawski, Zasady wykładni prawa, Torun´ 2006, S. 109).“ 120

OG Fall 4 Die Forderung nach terminologischer Konsequenz wird auch in dem Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007121 angesprochen. Die Besonderheit dieses Falles liegt jedoch darin, dass das OG in diesem Zusammenhang an die Grundsätze der Gesetzgebungstechnik anknüpft. Rechtspersönlichkeit hat, ihr aber auf der Grundlage anderer Vorschriften eine verliehen wird.“ Übersetzung des Verfassers. 118 OSNKW 2007, Nr. 5, S. 34. 119 Ustawa z dnia 28 paz ´ dziernika 2002 r. o odpowiedzialnos´ci podmiotów zbiorowych za czyny popełnione pod groz´ba˛ kary, Dz. U. 2014 Pos. 1661. 120 OSNKW 2007, Nr. 5, S. 34. 121 I KZP 39/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 1.

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„Gemäß der anerkannten Grundsätze der Gesetzgebungstechnik gilt die Auffassung, dass gleiche Begriffe gleich bezeichnet und unterschiedliche Begriffe nicht gleich bezeichnet werden sollten. Wenn es um den Anwendungsbereich der bereits genannten Regel der terminologischen Konsequenz geht, wird angenommen, dass sie mindestens im Rahmen bestimmter Rechtsakte gilt. Sie finden auch Anwendung in dem gesamten Rechtsbereich, obwohl die Literatur in dieser Hinsicht bisher keine verbindliche Interpretationsregel entwickelt hat (S. Wronkowska, M. Zielin´ski: Zasady techniki prawodawczej. Komentarz, Warszawa 1997, S. 23–24).“ 122

OG Fall 5 Im Beschluss (Postanowienie) vom 5.10.2007123 definierte das OG das Verbot synonymischer Auslegung mit folgenden Worten näher: „Zum ersten würde die Akzeptanz der Auffassung des Staatsanwalts (. . .), die er in der Beschwerde erhoben hat, eine der grundlegenden Auslegungsregeln verletzen, und zwar das in der Rechtstheorie so bezeichnete Verbot synonymischer Auslegung. Dieses Verbot knüpft am Wesen des Synonyms an, d. h. unterschiedlicher Ausdrücke, die dasselbe bedeuten. Die erwähnte Regel verbietet die Annahme, dass der Gesetzgeber unterschiedlichen Ausdrücken dieselbe Bedeutung verleiht.“ 124

Zusammenfassend geht aus den bereits dargestellten Äußerungen des OG hervor, dass es großen Wert auf eine einheitliche Auslegung von Begriffen legt. Diese Äußerungen müssen jedoch nicht bedeuten, dass für das OG die terminologische Konsequenz einen absoluten Rang im Rahmen des Auslegungsvorgangs hat. Im Gegensatz zu den dargestellten Ausführungen des OG stehen diejenigen Ausführungen des BGH, in denen er einer einheitlichen Definition eines Begriffes eher keinen besonders hohen Rang einräumt. In der ersten Entscheidung des BGH hierzu findet sich folgende Formulierung: BGH Fall 1 „(. . .) Welchen Inhalt der Begriff des Führens eines Kraftfahrzeuges im Rahmen des § 316a StGB hat, ist in der Rechtsprechung bislang ersichtlich nicht näher thematisiert worden. Insoweit kann nicht ohne weiteres an die Auslegung des Begriffs des Führens durch die Rechtsprechung im Zusammenhang mit sonstigen Verkehrsdelikten (vgl. zu § 316 StGB BGHSt 35, 390, 393 f.) angeknüpft werden. Maßgeblich für die Begriffsbestimmung ist vielmehr die mit der Vorschrift des § 316a StGB verfolgte gesetzgeberische Intention, Führer und Mitfahrer von Kraftfahrzeugen davor zu schützen, gerade wegen ihrer Teilnahme am Straßenverkehr leichter Opfer von räuberischen Angriffen zu werden.“ 125

122 123 124 125

Ebenda, S. 13. SND 2/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 55. Ebenda, S. 78. Urteil vom 20.11.2004, 4 StR 150/03, BGHSt 49, 8, 14.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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BGH Fall 2 Und in einer anderen Entscheidung findet sich eine ähnliche Behauptung: „Nicht sachgerecht wäre es deshalb, an einen strafrechtlichen Verbreitungsbegriff anzuknüpfen (. . .), zumal der Begriff schon in den verschiedenen Vorschriften des Strafgesetzbuches nicht einheitlich, sondern jeweils nach Sinn und Zweck der Vorschriften unterschiedlich ausgelegt wird (vgl. nur §§ 74d, 146, 184 StGB).“ 126

Beide Äußerungen legen die These nahe, dass der BGH hier die teleologischen Gesichtspunkte höher bewertet als die terminologische Konsequenz.

III. Lege non distinguente, nec nostrum est distinguere Eine weitere methodische Äußerung, die jedoch nur in der Rechtsprechung des OG ausdrücklich verwendet wird, ist lege non distinguente, nec nostrum est distinguere. Nach dieser Auslegungsregel darf der Interpret keine Differenzierungen vornehmen, soweit der Gesetzgeber keine Differenzierung vorgesehen hat. Die Regel konnte im Rahmen der hiesigen Stichprobe in insgesamt 6 Entscheidungen des OG127 festgestellt werden. Die Analyse der diesbezüglichen Entscheidungen führt allerdings zu der Schlussfolgerung, dass diese methodische Äußerung in den Begründungen des OG zwar eine argumentative Rolle spielt; grundsätzlich wird sie jedoch nicht als einziges Argument für ein bestimmtes Auslegungsergebnis verwendet, sondern ist meist in die Argumentationsstruktur eingefügt und unterstützt eine bestimmte Auffassung im Zusammenhang mit anderen Argumenten. Dazu einige Beispiele: OG Fall 1 In dem Urteil vom 1.3.2007128 ging es unter anderem um das Problem der richtigen Besetzung des Appellationsgerichts, falls das Bezirksgericht eine lebenslange Freiheitsstrafe im Rahmen der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe verhängt hat. Bei der Auslegung des Art. 29 § 2 KPK129 kam das OG zu der Schlussfolgerung, dass diese Vorschrift eindeutig ist und in diesem Fall keine andere Auslegungsmethode als die sprachliche Auslegungsmethode notwendig 126

Urteil vom 3.3.2004, 2 StR 109/03, BGHSt 49, 93, 103. Urteil vom 1.3.2007, V KK 4/07, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 64; Beschluss (Postanowienie) vom 26.4.2007, I KZP 6/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 1; Beschluss (Postanowienie) vom 29.8.2007, I KZP 23/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 45; Beschluss (Postanowienie) vom 4.7.2007, V KK 419/06, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 46; Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007, I KZP 24/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 8; Beschluss (Postanowienie) vom 25.10.2007, I KZP 32/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 33. 128 V KK 4/07, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 64. 129 Art. 29 Abs. 2 KPK lautet: „Über die Appellation und Kassation gegen das Urteil, das eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt, wird vom Gericht in einer Besetzung mit fünf Richtern verhandelt“. Eigene Übersetzung. 127

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Teil 2: Empirische Analysen

ist, um die Bedeutung dieser Vorschrift zu ermitteln. Kurz und lapidar führt das OG aus, dass der Gesetzgeber in Art. 29 § 2 KPK keine Einschränkung bezüglich der Besetzung des Appellationsgerichts vorgesehen hat, so dass in allen Fällen, in denen eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wurde, nach dem Grundsatz lege non distinguente, nec nostrum est distinguere das Gericht mit 5 Richtern zu besetzen ist. Für diesen Fall ist somit festzustellen, dass der Grundsatz lege non distinguente, nec nostrum est distinguere eindeutig eine entscheidende Rolle gespielt hat. OG Fall 2 In dem Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007130 führt das OG aus, dass der Gesetzgeber in Art. 479 § 1 KK131 keine besondere Einschränkung bezüglich der Zustellungsmöglichkeiten eingeführt hat, so dass diese Vorschrift nach dem Grundsatz lege non distinguente, nec nostrum est distinguere nicht nur die unmittelbare, sondern auch die mittelbare Zustellung und die Ersatzzustellung, die im 15. Kapitel des KPK vorgesehen sind, zulässt. Wenn der Gesetzgeber die Zustellungsmöglichkeiten hätte einschränken wollen, hätte er es nach der Auffassung des OG ausdrücklich tun müssen. OG Fall 3 In dem Beschluss (Postanowienie) vom 25.10.2007132 stellte das OG fest, dass der Gesetzgeber in Art. 42 § 1 KK133 die Anordnung des Fahrverbots gegenüber allen Tätern zugelassen hat, die eine Straftat gegen die Sicherheit des Straßenverkehrs begangen haben. Daher ist es nach dem Grundsatz lege non distinguente, nec nostrum est distinguere für die Anordnung des Fahrverbots gemäß Art. 42 § 1 KK gleichgültig, ob der Täter im Trunkenheitszustand eine Straftat begangen hat oder nicht. Der Gesetzgeber hat hier keine Einschränkung vorgesehen. Dieses Ergebnis wird auch mit anderen Argumenten gestützt. Die dargestellten Fälle zeigen, dass der Grundsatz lege non distinguente, nec nostrum est distinguere zwar nicht als einziges Argument in den dargestellten 130

I KZP 24/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 8. Art. 479 § 1 KPK lautet: „Erscheint der Angeklagte, dem die Vorladung zugestellt worden ist, in der Hauptverhandlung nicht, kann das Gericht das Verfahren ohne seine Anwesenheit führen und, wenn auch sein Verteidiger nicht erscheint, ein Versäumnisurteil erlassen.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 132 I KZP 32/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 33. 133 Art. 42 § 1 KK lautet: „Ist ein Straßenverkehrsteilnehmer wegen einer Straftat gegen die Verkehrssicherheit verurteilt worden, so kann das Gericht ein Fahrverbot einer bestimmten Kategorie anordnen, insbesondere wenn die Umstände der begangenen Straftat darauf hinweisen, daß das Führen von Fahrzeugen durch diese Personen die Verkehrssicherheit bedroht.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 131

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

183

Argumentationsketten zur Anwendung kommt, was seine Bedeutung relativiert, aber er kann durchaus auch eine entscheidende Rolle spielen, wie das anhand des ersten Falles gezeigt wurde. Die Bezugnahme auf den Grundsatz lege non distinguente, nec nostrum est distinguere, der in der polnischen Methodenlehre einen festen Platz hat134, weist auch einmal mehr auf die hervorgehobene Rolle des Gesetzes und zugleich der Sprache in der Rechtsprechung des OG hin.

IV. Per non est Nach dieser Auslegungsregel müssen alle Teile einer Vorschrift bei der Auslegung berücksichtigt werden. Mit anderen Worten, die betreffende Auslegung darf nicht zu einem Ergebnis führen, bei dem einige Teile der Vorschrift entbehrlich werden.135 Diese Auslegungsregel hat nur das OG ausdrücklich (in 7 Entscheidungen136) verwendet. Im Folgenden einige Beispiele: OG Fall 1 „Angesichts dessen ist unter Berücksichtigung der rechtstheoretischen Literatur daran zu erinnern, dass im Zuge der dogmatischen Exegese der Vorschriften von Anfang an die Möglichkeit abzulehnen ist, dass die Vorschriften ein Ergebnis irrationalen Handelns sind. Man nimmt an, dass kein Wort in einer Rechtsvorschrift entbehrlich ist und dementsprechend diejenige Auslegung nicht zulässig ist, die einen Teil des Gesetzestextes entbehrlich macht. Außerdem nimmt man an, dass die Vorschriften eines Gesetzes untereinander verbunden sind und daher darf bei ihrer Auslegung der Kontext des Gesetzes nicht vernachlässigt werden (vgl. unter anderen S. Wronkowska, M. Zielin´ski, Z. Ziembin´ski: Zasady prawa. Zagadnienia podstawowe, Warszawa 1974; L. Morawski: Wste˛p do prawoznawstwa, Torun´ 1998; D. Czajka: Teoria sa˛dzenia, Warszawa 2006).“ 137

OG Fall 2 „Im Widerspruch zu dem Grundsatz der Rationalität des Gesetzgebers und dem Verbot der Auslegung per non est (,es ist dem Interpreten verboten, die Vorschriften so

134

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 123. Ebenda, S. 122. 136 Beschluss (Postanowienie) vom 26.7.2007, I KZP 16/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 9; Beschluss (Postanowienie) vom 29.8.2007, I KZP 23/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 45; Beschluss (Postanowienie) vom 5.10.2007, SND 2/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 55; Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007, I KZP 24/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 8; Urteil vom 22.8.2007, III KK 197/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 29; Beschluss (Postanowienie) vom 25.10.2007, I KZP 32/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 33; Beschluss (Postanowienie) vom 26.10.2007, V KZ 61/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 63. 137 Beschluss (Postanowienie) vom 26.7.2007, I KZP 16/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 15 f. 135

184

Teil 2: Empirische Analysen

auszulegen, dass bestimmte Teile von ihnen als entbehrlich erscheinen‘) stände die vom Berufungsgericht suggerierte These (. . .).“ 138

OG Fall 3 „Zum vierten verletzt die von dem Staatsanwalt (. . .) vorgeschlagene Auslegung eine weitere grundlegende Auslegungsregel, und zwar das sog. Verbot der Auslegung per non est, nach dem man die Vorschriften nicht so auslegen darf, dass sich bestimmte Teile von ihr als entbehrlich erweisen (vgl. z. B. L. Morawski: op. cit., S. 106).“ 139

OG Fall 4 „Der dogmatischen Exegese der Rechtsvorschriften liegt die Annahme zugrunde, dass der Text der Rechtsnorm in keinem Element zufällig ist, kein Wort entbehrlich ist und der Rechtstext in seiner Ganzheit und seinen redaktionellen Einheiten in einem logischen Zusammenhang bleibt. Ausgeschlossen ist die Betrachtung der Handlungen des Gesetzgebers als irrational oder chaotisch und ohne ein strikt bestimmtes Ziel.“ 140

Aus den dargestellten Äußerungen des OG geht hervor, dass es den Per-nonest-Grundsatz mit dem Grundsatz des rationalen Gesetzgebers verbindet. Aus diesem Zusammenhang lässt sich ableiten, dass die Rationalität die Berücksichtigung aller Teile einer Vorschrift im Auslegungsprozess fordert. Ein Auslegungsergebnis, das einen Teil der Vorschrift entbehrlich machen würde, könnte somit aus der Perspektive des OG keine Akzeptanz erwarten. Ferner bringen die Äußerungen wieder ein hohes Maß an sprachlichem Vertrauen (auf den Gesetzestext) zum Ausdruck. Dementsprechend muss die Vorschrift in seiner Ganzheit interpretiert werden. Kein Teil einer Vorschrift darf vernachlässigt werden, denn dadurch kann ihr Sinn nicht richtig verstanden werden. Der Gesetzestext muss somit sehr sorgfältig gelesen werden.

V. Exceptiones non sunt extendendae Nach diesem Grundsatz dürfen Ausnahmevorschriften nicht erweiternd ausgelegt werden.141 Auch an diesen Grundsatz hat ausdrücklich nur das OG angeknüpft. Er wurde in insgesamt 3 Entscheidungen142 festgestellt. Dazu ein Beispiel: 138

Beschluss (Postanowienie) vom 29.8.2007, I KZP 23/07, OSNKW 2007, Nr. 9,

S. 48. 139

Beschluss (Postanowienie) vom 5.10.2007, SND 2/07, OSNKW 2007, Nr. 10,

S. 81. 140

Urteil vom 22.8.2007, III KK 197/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 33. L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 202. 142 Beschluss (Postanowienie) vom 21.3.2007, I KZP 1/07, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 33; Urteil vom 22.8.2007, III KK 197/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 29; Beschluss (Postanowienie) vom 26.10.2007, V KZ 61/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 63. 141

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

185

OG Fall 1 „Die am Anfang gezeigten Ausnahmen von dem Grundsatz, der die Pflicht zum Begleichen der Kassationskosten durch die Partei statuiert, sollen angesichts des in der Rechtsprechung und in der Lehre geltenden Verbots der erweiternden Auslegung von Ausnahmen (exceptiones non sunt extendendae) nicht erweiternd ausgelegt werden.“ 143

VI. Rechts(neu)schöpfung Die nächste Gruppe von den Äußerungen, die in der herangezogenen Stichprobe ermittelt wurden und die besondere Beachtung verdienen, sind diejenigen Ausführungen der beiden Gerichte, die sich auf die Rechts(neu)schöpfung144 beziehen. Dieser Kategorie wurde im Laufe der Untersuchung jede Äußerung des Gerichts zugeordnet, die sich mit den rechtsschöpferischen Aspekten der Auslegung auseinandergesetzt hat. Mit anderen Worten ging es um die Ermittlung derjenigen Passagen der Begründungen, in denen die Gerichte ausdrücklich Stellung zur Rechts(neu)schöpfung genommen haben. Wie im Teil 1 Pkt. F. VII. gezeigt wurde, gehört die Rechts(neu)schöpfung sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Methodenlehre zu den strittigsten Problemen, die bisher keine befriedigende Lösung gefunden haben. Beide Gerichte widmen jedoch dieser Problematik – wie im Folgenden gezeigt wird – relativ wenig Raum. In keiner der in Betracht gezogenen Entscheidungen wurde expressis verbis z. B. auf das Problem eingegangen, ob in dem Auslegungsvorgang auch schöpferische Elemente vorliegen oder Auslegung und Rechts(neu)schöpfung zwei getrennte Vorgänge sind, die sich voneinander unterscheiden. Insgesamt ist jedoch nicht zu übersehen, dass sich der BGH im Vergleich zum OG ausführlicher zur Rechts(neu)schöpfung äußert. Zunächst soll jedoch auf die Ausführungen des OG eingegangen werden. In den in Betracht gezogenen Entscheidungen wurden lediglich in drei Beschlüssen Hinweise auf schöpferische Aspekte festgestellt. OG Fall 1 In dem ersten Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007145 hat das OG den Ausdruck „kreative Auslegung“ verwendet, was auf eine schöpferische Vorgehens143

Beschluss (Postanowienie) vom 26.10.2007, V KZ 61/07, OSNKW 2007, Nr. 12,

S. 65. 144 Der Ausdruck „Rechts(neu)schöpfung“ wurde in der vorliegenden Untersuchung verwendet, um eine neutrale Begrifflichkeit zu schaffen, die die nationalen Kategorien überwindet. Da man auch die Anwendung der sprachlichen Auslegungsmethode als „Rechtsschöpfung“ (gleichsam aus der Quelle des Gesetzes) beizeichnen kann, soll der Einschub „neu“ darauf hinweisen, dass es hier primär um die schöpferische Erzeugung von neuem, bisher nicht geschriebenem Recht geht. 145 I KZP 9/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 35.

186

Teil 2: Empirische Analysen

weise hindeutet. Diesen Ausdruck verwendete das OG bei der Lösung des Problems der Befangenheit eines Richters. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob der Richter aus dem Verfahren ausgeschlossen werden soll, wenn er in einem anderen Verfahren einen Mittäter derselben Straftat bereits verurteilt hat. Im Ergebnis bejahte das OG die Frage und knüpfte in der Begründung an die bisherige Rechtsprechung zur Problematik der Befangenheit des Richters an. Insbesondere nahm das OG auf diejenigen Entscheidungen Bezug, in denen es unter der Geltung des KPK von 1969 eine „kreative Auslegung“ (kreatywna linia wykładni146) vorgenommen hatte. Sie lag nach der Auffassung des OG vor, als es unter der Geltung des KK von 1969 ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage den obligatorischen Ausschluss des Richters aus dem Verfahren statuierte, z. B. dann, wenn der Richter zu der Partei in einer persönlichen Beziehung steht (ohne formale Eheschließung). Das OG stellte unter der Geltung des KPK von 1969 fest, dass in diesem Fall der Richter wegen Befangenheit aus dem Verfahren ausgeschlossen werden müsse, obwohl das Gesetz einen solchen obligatorischen Rechtsgrund nicht vorsah. OG Fall 2 In dem Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007147 setzt sich das OG mit der Frage auseinander, ob die Anrechnung der Zeit auf die Strafe, die der Angeklagte in der Untersuchungshaft verbracht hat, zum Ausschluss eines möglichen Schadensersatzes führt. Das OG bejahte diese Frage mit der Begründung, dass sowohl der Anspruch aus Art. 552 KPK148 als auch die Anrechnung auf der Grundlage des Art. 417 KPK149 und des Art. 63 KK150 zwei unabhängige Kompensations-

146

Ebenda, S. 47. I KZP 28/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 5. 148 Art. 552 KPK lautet: „§ 1. Ein Angeklagter, der infolge einer Wiederaufnahme des Verfahrens oder einer Kassation freigesprochen oder gegen den eine mildere Strafe verhängt worden ist, kann für den erlittenen Schaden eine Entschädigung sowie eine Genugtuung für das erlittene Unrecht von der Staatskasse verlangen, die sich aus der vollständigen oder teilweisen Vollstreckung einer Strafe gegen ihn ergeben, die er nicht hätte erleiden dürfen. (. . .) § 4. Die Entschädigung und die Genugtuung steht auch im Falle einer zweifellos zu Unrecht erfolgten vorläufigen Verhaftung oder Festnahme zu.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. § 1 wurde durch den Verfasser der Arbeit auf die geltende Fassung gebracht. 149 Art. 417 KPK lautet: „Auf die verhängte Strafe wird auch die Dauer einer vom Angeklagten in einer anderen Sache verbüßten vorläufigen Verhaftung angerechnet, in der das Verfahren gleichzeitig anhängig war und in der ein rechtskräftiger Freispruch ergangen, das Verfahren eingestellt oder von der Strafverhängung abgesehen worden ist.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 150 Art. 63 § 1 KK lautet: „Die Dauer der tatsächlichen erlittenen Freiheitsentziehung in der Strafsache wird auf die verhängte Strafe angerechnet; die angebrochenen Tage 147

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

187

mittel seien, die nicht parallel in Anspruch genommen werden können. Eine andere Lösung würde nach der Auffassung des OG den zivilrechtlichen Grundsätzen widersprechen. Dazu das OG: „Die Akzeptanz für einen solchen ,Dualismus‘ und der Versuch einer Auslegung, die die Lösung des behandelten Problems begründen sollte, wären in der Tat eine Art der Rechtsschöpfung, zu der die Rechtsanwendungsorgane nicht befugt sind.“ 151

In dieser Entscheidung hat somit das OG ausdrücklich die Befugnis zur Rechts(neu)schöpfung verneint. OG Fall 3 In dem Beschluss (Postanowienie) vom 20.12.2007152 setzte sich das OG mit der Frage auseinander, ab welchem Zeitpunkt die Maßnahme des Fahrverbots vollstreckt werden muss. Nach dem Wortlaut des Art. 43 § 2 KK153 soll die Maßnahme mit der Rechtskraft der Entscheidung wirksam sein. Dies würde jedoch im Falle der Verurteilung zu mehreren derselben Strafmaßnahmen, die nicht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verbunden werden können, den Verurteilten begünstigen, was das Berufungsgericht dazu veranlasste, sich mit einer dementsprechenden konkreten Rechtsfrage gemäß Art. 441 § 1 KPK an das OG zu wenden. Nach der Auffassung des OG führen die sprachliche und die systematische Auslegungsmethode zu dem klaren Ergebnis, dass die Strafmaßnahme des Fahrverbots mit der Rechtskraft der Entscheidung wirksam ist. Dabei kann allerdings nicht auf die Norm des Art. 80 § 1154 und § 2155 KKW Bezug genommen werden, da diese Vorschrift sich auf die Freiheitsstrafe bezieht und ihre Erweiterung auf die Strafmaßnahme des Fahrverbots zu einer unzulässigen Analogie zu Lasten des Verurteilten führen würde. Dazu das OG:

werden abgerundet. Dabei entspricht ein Tag der tatsächlichen Freiheitsentziehung einem Tag Freiheitsstrafe, zwei Tagen Freiheitsbeschränkungsstrafe oder zwei Tagessätzen der Geldstrafe.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 151 OSNKW 2007, Nr. 10, S. 19. 152 I KZP 34/07, OSNKW 2008, Nr. 1, S. 15. 153 Art. 43 § 2 KK lautet: „Die Aberkennung der bürgerlichen Rechte, Gebote und Verbote werden mit der Rechtskraft der Entscheidung wirksam; die Frist, für die die Maßnahme angeordnet wird, läuft nicht während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe, auch wenn diese für eine andere Straftat verhängt wurde.“ Übersetzung nach E. Schwierskott-Matheson, Polnisches Strafgesetzbuch, 2011. 154 Art. 80 § 1 KKW lautet: „Falls dieselbe Person zu mehreren Strafen verurteilt wurde, die zu einer Freiheitsentziehung führen, werden die Strafen in der Reihenfolge vollstreckt, in welcher die Entscheidungen rechtskräftig wurden.“ Eigene Übersetzung. 155 Art. 80 § 2 KKW lautet: „Der Strafvollzugsrichter kann die Vollstreckung der Strafen und der Strafmaßnahmen in einer anderen Reihenfolge anordnen, als sie in § 1 vorgesehen ist, falls strafvollzugsrechtliche Gründe dafür sprechen.“ Eigene Übersetzung.

188

Teil 2: Empirische Analysen

„Diese Lücke kann nur durch die Verwendung einer Analogie legis zu Lasten des Verurteilten geschlossen werden, was aus offensichtlichen Gründen im Strafrecht unzulässig ist.“ 156

Mehr Äußerungen im Hinblick auf die Rechts(neu)schöpfung lassen sich in den in Betracht gezogenen Entscheidungen des OG nicht finden. Es fällt auf, dass zwei Entscheidungen (Fall 2 und 3) die Möglichkeit der Rechts(neu)schöpfung ausdrücklich verneinen. Nur Fall 1 lässt durch die Verwendung des Begriffes „kreative Auslegung“ einen schöpferischen Umgang des Gerichts mit dem Recht zu. Diese Zurückhaltung des OG kann man damit erklären, dass in der polnischen Lehre, wie im Teil 1 Pkt. F. VII. gezeigt, ein prinzipielles Verbot der Rechts(neu)schöpfung herrscht. Daher kann es auch nicht verwundern, dass das OG sich mit dem Problem der Rechts(neu)schöpfung kaum auseinandersetzt. Im Kontrast zu der Zurückhaltung des OG in Bezug auf die Zulässigkeit der Rechts(neu)schöpfung stehen diejenigen Äußerungen des BGH, in denen er offen die Möglichkeit der „Rechtsfortbildung“ (in seiner Terminologie) zulässt, was in der Tat eine Rechts(neu)schöpfung (in der Terminologie dieser Arbeit) bedeutet. Im Folgenden sei hierzu eine Passage aus der Entscheidung des Großen BGHSenats für Strafsachen157 wiedergegeben, in der sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Problem der Zulässigkeit von Urteilsabsprachen im Strafverfahren folgende Stellungnahme zur Rechts(neu)schöpfung finden lässt. „Das Grundgesetz lehnt einen engen Gesetzespositivismus ab, wie sich bereits aus der Bindung‘ des Richters an ,Gesetz und Recht‘ nach Art. 20 Abs. 3 GG ergibt (BVerfGE 34, 269, 286 ff., auch zum folgenden). Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Vielmehr ist dem Richter eine ,schöpferische Rechtsfindung‘, der auch willenhafte Elemente eigen sind, nicht grundsätzlich verwehrt. Insbesondere die obersten Gerichtshöfe haben diese Befugnis von Anfang an – mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts – für sich in Anspruch genommen (BVerfG a. a. O., S. 288). Sie steht, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich hervorhebt, besonders dem Großen Senat zu, dem namentlich durch § 132 Abs. 4 GVG die Fortbildung des Rechts zur Aufgabe gemacht ist.“ 158

In der zitierten Passage hat der Große Senat für Strafsachen ausdrücklich „einen engen Gesetzespositivismus“ verworfen und die „schöpferische Rechtsfindung“ akzeptiert. Zur Unterstützung seiner Auffassung hat er insbesondere auf Art. 20 Abs. 3 GG, § 132 Abs. 4 GVG und die Rechtsprechung des BVerfG zurückgegriffen. Diese Behauptung ist für die vorliegende Untersuchung deshalb von besonderer Bedeutung, weil der BGH hier ausdrücklich die Rechts(neu)schöpfung zugelassen hat, was für eine substanzielle Orientierung seiner Recht156

OSNKW 2008, Nr. 1, S. 20. Beschluss vom 3.3.2005, GSSt 1/04, BGHSt 50, 40. Auf diese Entscheidung wird noch ausführlicher im Pkt. F. II. eingegangen. 158 Ebenda, S. 52. 157

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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sprechung spricht. Diese Äußerung darf allerdings in der vorliegenden rechtsvergleichenden Untersuchung auch nicht überschätzt werden, weil es sich herausstellen könnte, dass auch das OG das Recht (neu) schöpft, ohne dies jedoch ausdrücklich zu bestätigen. Auf dieses Problem wird im Abschnitt F. noch näher eingegangen.

VII. Sonstige Behauptungen Im Folgenden sei noch auf diejenigen methodischen Ausführungen des BGH und des OG eingegangen, die keine homogene Gruppe bilden. Auch diese Ausführungen erhärten wiederum die These, dass der BGH eine weniger formalistische Position vertritt als das OG. BGH Fall 1 In dem Urteil vom 11.12.3003159 stellt der BGH bei der Erörterung des Problems der privilegierenden Spezialität fest: „Ob die speziellere Vorschrift den Täter begünstigen soll, ist anhand des Zwecks dieser Vorschrift, des inneren Zusammenhangs der miteinander konkurrierenden Bestimmungen und des Willens des Gesetzgebers zu prüfen (BGHSt 19, 188, 190; 24, 262, 266, Rissing-van-Saan a. a. O.).“ 160

An diesem Zitat ist besonders auffällig, dass der BGH den Wortlaut nicht erwähnt. An erster Stelle wird der Zweck der Vorschrift betont, dann der innere Zusammenhang der Bestimmungen und schließlich der Wille des Gesetzgebers. In dieser Entscheidung lässt sich noch eine interessante Bemerkung des BGH feststellen. Bei der Beantwortung der Frage, ob eine mit Einwilligung der verletzten Person vorgenommene Körperverletzung rechtswidrig sei, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt, hat der BGH ausgeführt: „Das Strafgesetzbuch knüpft somit die Rechtsfolgen der Einwilligung an außerrechtliche, ethisch-moralische Kategorien. Die Prüfung der Rechtfertigung durch die Einwilligung des Geschädigten ist daher in diesem Punkt weniger ein Akt normativ-wertender Gesetzesauslegung als vielmehr ein solcher empirischer Feststellung bestehender Moralüberzeugungen.“ 161

In dieser Passage erklärt der BGH zum einen ausdrücklich, dass die Auslegung auch einen wertenden Charakter haben kann. Zum anderen geht er davon aus, dass bei der Ermittlung der Bedeutung eines rechtlichen Begriffes empirische Feststellungen und der Bezug auf bestehende Moralüberzeugungen maßgebend sein können. Beide Behauptungen sind, wie im theoretischen Teil der vorliegen-

159 160 161

3 StR 120/03, BGHSt 49, 34. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 40 f.

190

Teil 2: Empirische Analysen

den Untersuchung (Teil 1 Pkt. C. I.) gezeigt wurde, für eine substanzielle (wertbezogene) Argumentationskultur charakteristisch. BGH Fall 2 Auch die folgende Äußerung weist auf antiformalistische Tendenzen in der Rechtsprechung des BGH hin, indem er sich für ein dynamisches Modell der Auslegung ausspricht. „Der Richter ist zu ,freierer Handhabung der Rechtsnormen‘ (BVerfG, a. a. O., S. 289) berechtigt, wenn das geschriebene Gesetz bei einer am Wortlaut haftenden Auslegung seine Funktion nicht mehr erfüllt. Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehen bleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. ,Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln‘ (BVerfG, a. a. O., S. 288). Die tatsächliche oder rechtliche Entwicklung kann eine bis dahin eindeutige und vollständige Regelung lückenhaft, ergänzungsbedürftig und zugleich ergänzungsfähig werden lassen, da Gesetze in einem Umfeld sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen stehen, mit deren Wandel sich auch der Norminhalt ändern kann (BVerfGE 82, 6, 12). Ändern sich die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, so folgt aus dem Gesagten die Zulässigkeit einer richterrechtlichen Anpassung des Rechts an diese Bedürfnisse.“ 162

In dieser Entscheidung lehnt der BGH ausdrücklich eine statische Bedeutung eines Gesetzestextes ab. Nach der Auffassung des BGH kann sich die Bedeutung eines Gesetzestextes im Laufe der Zeit ändern, wenn die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs es erforderlich machen. Damit räumt sich der BGH offen die Macht ein, über die Bedeutung eines Rechtstextes immer neu zu entscheiden, wenn er es für geboten hält. Es ist auch nicht zu übersehen, dass der BGH sich in diesem Zitat auf die Autorität des BVerfG bezieht, sogar das BVerfG wörtlich zitiert, um den Vorwurf zu vermeiden, dass er sich diese Macht unbegründet anmaßt. BGH Fall 3 Im Urteil vom 3.3.2004163 bezieht sich der BGH auf die Kategorie der „teleologischen Reduktion“, die auch eher für eine substanzielle Position charakteristisch ist. In diesem Fall verneint er jedoch die Anwendung dieser Kategorie. Das entsprechende Zitat lautet: „Für die von der Revision angestrebte Einschränkung der Strafbarkeit durch die teleologische Reduktion des Merkmals des ,Vervielfältigens‘ und ,Verbreitens‘ besteht kein Anlaß.“ 164 162 163 164

Beschluss vom 3.3.2005, GSSt 1/04, BGHSt 50, 40, 52 f. 2 StR 109/03, BGHSt 49, 93. Ebenda, S. 110.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

191

BGH Fall 4 Im Beschluss vom 29.11.2006165 postuliert der BGH die Anwendung der EMRK: „Bei der Anwendung des deutschen Strafprozessrechts ist die MRK in der Auslegung, die sie durch die Rechtsprechung des EGMR erfahren hat, zu berücksichtigen (BVerfG NJW 2004, 3407; BGHSt 45, 321, 328 f.).“ 166

BGH Fall 5 Im Beschluss vom 2.2.2006167 betont der BGH dagegen die Grenzen der Auslegung: „Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf die Vornahme auch solcher Handlungen, bei denen es nicht zu Manipulationen am eigenen Körper kommt, ist mit dem Wortsinn der Vorschrift, wie er sich aus den genannten Gründen aus dem Sinnzusammenhang des Gesetzes ergibt (vgl. dazu BGHSt 41, 285, 286; 48, 354, 357), nicht zu vereinbaren. Der mögliche Wortsinn eines Gesetzes markiert die äußerste Grenze der Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil des Angeklagten (BVerfGE 105, 135, 152 ff., jew. m.w. N.).“ 168

In dieser Entscheidung hat der BGH die Grenze der Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil des Angeklagten ausdrücklich genannt: Der mögliche Wortsinn eines Gesetzes. So wird in der deutschen Rechtskultur überwiegend das Analogieverbot definiert (siehe dazu Teil 1 Pkt. F. VII.). Diese Äußerung kann keinesfalls als Ausnahme in der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH betrachtet werden.169 Ob der BGH diese Grenze immer beachtet, ist eine andere Frage.170 Es ist auch nicht zu übersehen, dass der BGH den möglichen Wortsinn eines Gesetzes als äußere Grenze nur bei der Auslegung zu Lasten des Angeklagten betont hat. Diese ausdrückliche Einschränkung lässt die Interpretation zu, dass der mögliche Wortsinn bei der Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen zu Gunsten des Angeklagten überschritten werden darf. Diese Interpretation bedarf jedoch weiterer Untersuchung. BGH Fall 6 Im Urteil vom 18.10.2006171 führte der BGH im Hinblick auf § 22 Nr. 1 StPO aus: „Die Vorschrift ist eng auszulegen.“ 172 165 166 167 168 169 170 171 172

1 StR 493/06, BGHSt 51, 150. Ebenda, S. 155. 4 StR 570/05, BGHSt 50, 370. Ebenda, S. 372. M. Spyra, Granice wykładni prawa, 2006, S. 64. Siehe dazu im Teil 1 Pkt. G. I. 2 StR 499/05, BGHSt 51, 100. Ebenda, S. 110.

192

Teil 2: Empirische Analysen

Betrachtet man diese Äußerungen zusammen, so ist festzuhalten, dass sie grundsätzlich die substanzielle Strömung in der deutschen Auslegungs- und Argumentationskultur verstärken. Teleologisches Denken (Fall 1), dynamische Auslegung (Fall 2), Berücksichtigung von moralischen Überzeugungen bei der Auslegung (Fall 1), die Erwägung einer teleologischen Reduktion (Fall 4) sind für diese Kultur evident charakteristisch. Die Äußerungen des OG lassen sich demgegenüber nicht so einfach – wie die bereits dargestellten Äußerungen des BGH – auf einen gemeinsamen Nenner bringen. OG Fall 1 Im Urteil vom 6.12.2006173 hat das OG im Zusammenhang mit der Behauptung des Verteidigers, wonach der In-dubio-pro-reo-Grundsatz die Verlesung der Einlassungen von gestorbenen Mitangeklagten nicht zulässt, soweit der KPK keine ausdrücklichen Vorschriften vorsieht, die diese Handlung zulassen würden, ausgeführt: „Der In-dubio-pro-reo-Grundsatz soll in Bezug auf ein Rechtsproblem abstrakt und nicht konkret gefasst werden. Das Auslegungsergebnis einer bestimmten Vorschrift kann nicht davon abhängen, ob es zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten wirkt. Die Auslegung jeder Vorschrift soll einheitlich sein und allgemein gelten; sie kann sich nicht verändern und sich individuellen Interessen der Partei anpassen.“ 174

In diesem Zitat hat das OG den In-dubio-pro-reo-Grundsatz aus dem Auslegungsvorgang ausgeschlossen. Interessanter für die vorliegende Untersuchung ist jedoch das folgende Zitat: „Es ist offensichtlich, dass die Lösung des vorliegenden Falles sich nicht ausschließlich auf die allgemeinen Verfahrensmaximen stützen darf. Es ist notwendig, auf die konkrete Rechtsgrundlage zu verweisen, die die erwähnte Verfahrenshandlung zulässt.“ 175

Wie in dem theoretischen Teil dieser Untersuchung (Teil 1 Pkt. C. I.) gezeigt wurde, ist für die formalistische Rechtskultur die Auffassung charakteristisch, dass Entscheidungen auf der Grundlage einer eindeutigen Regel fallen sollen. In den substanziellen Rechtskulturen lässt man dagegen auch die allgemeinen Rechtsprinzipen und verfassungsrechtliche Grundsätze als Entscheidungsgrundlage zu. In dem vorangehenden Zitat darf jedoch wieder die Feststellung „es ist offensichtlich“ nicht übersehen werden. Sie suggeriert, dass die Forderung nach der Entscheidung auf der Grundlage einer eindeutigen Regel unstrittig und keine andere Auffassung vertretbar ist. Und tatsächlich hat das OG in dem behandelten 173 III KK 181/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 45. Der Fall wurde im Pkt. F. II. (OG Fall 8) ausführlich dargestellt. 174 Ebenda, S. 57. 175 Ebenda, S. 52.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Fall eine gesetzliche Rechtsgrundlage gefunden, die jedoch nicht als unproblematisch betrachtet werden kann, um das Ergebnis zu begründen.176 Das OG wollte jedoch unbedingt eine Vorschrift als Entscheidungsgrundlage finden, was letztendlich auch geschehen ist. OG Fall 2 Im Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007177 knüpft das OG an das Werk von Morawski an und stellt die Vorgehensweise bei der Ermittlung der Bedeutung im Rahmen der sprachlichen Auslegungsmethode fest. „Die sprachliche Bedeutung einer Vorschrift ist der Umgangssprache zu entnehmen; falls jedoch einer Rechtsnorm eine juristische oder spezielle Bedeutung beigemessen wurde, gilt diese Bedeutung als sprachliche Bedeutung (L. Morawski: Główne problemy . . ., S. 236).“ 178

OG Fall 3 In einem Ausmaß, das mit dem Umfang sämtlicher anderer Begründungen (auch des BGH) nicht vergleichbar ist, nimmt das OG im Beschluss (Postanowienie) vom 26.4.2007179 auf methodische Erwägungen Bezug. Diese Anknüpfungen sind von unterschiedlichem Charakter, was unten näher gezeigt wird. Es scheint mithin so zu sein, als würde das OG in der vorliegenden Entscheidung den Eindruck eines methodisch geleiteten Auslegungsverfahrens erwecken wollen. Die Anzahl und der Umfang dieser Äußerungen sollen offenkundig die Überzeugungskraft der Entscheidung steigern. Zunächst ist eine Passage zu zitieren, in der vom OG die Bedeutung der Interpretationsvermutung für den Auslegungsvorgang betont wird. „Bei der Auslegung dieser Vorschrift darf man die Interpretationsvermutungen nicht außer Acht lassen, die eine wichtige Kategorie der Auslegungsdirektiven darstellen. Zu den wichtigsten Interpretationsvermutungen, die in der Rechtsprechung vorkommen, gehört unter anderem folgende Regel: Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm und die Vermutung der Rationalität des Gesetzgebers. Die erwähnten Vermutungen als Interpretationsvermutungen konstituieren das Gebot, dass der Interpret nach einer solchen Auslegung einer Vorschrift streben soll, die mit der Vermutung vereinbar ist, z. B. soll er diejenige Auslegung einer Vorschrift finden, die davon ausgeht, dass der Gesetzgeber rational handelt. Zu den am meisten verwendeten Interpretationsvermutungen gehört neben der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit die Vermutung der Rationalität des Gesetzgebers. 176 Diese Entscheidung wird in dem Teil der vorliegenden Untersuchung ausführlich analysiert, in dem die Rechts(neu)schöpfung beider Gerichte im Mittelpunkt steht (siehe Pkt. F. II.), da sie einen rechtsschöpfenden Charakter aufweist. 177 I KZP 39/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 1. 178 Ebenda, S. 13. 179 I KZP 6/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 1.

194

Teil 2: Empirische Analysen

Das Oberste Gericht hat schon mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass die grundlegenden Auslegungsregeln als Ausgangspunkt die Rationalität des Gesetzgebers annehmen, was bedeutet, dass er die Vorschriften sinnvoll, zweckmäßig und rational setzt (z. B. Beschluss des Obersten Gerichts vom 22. Juni 1999, I KZP 19/99, OSNKW 1999, Heft 7–8, Pos. 42).“ 180

In diesem Zitat ist insbesondere die Vermutung der Rationalität des Gesetzgebers hervorzuheben. Diese Vermutung, die das OG gewöhnlich „Grundsatz des rationalen Gesetzgebers“ nennt, spielt in der Rechtsprechung des OG quantitativ eine erhebliche Rolle [siehe dazu Pkt. E. V. 2. d) bb)]. Auch das OG betont in dem wiedergegebenen Zitat die Bedeutung dieses Grundsatzes durch die Formulierung „Das Oberste Gericht brachte schon mehrmals zum Ausdruck, dass (. . .)“. Auf diesen Grundsatz wird später noch im Einzelnen eingegangen. In einem weiteren Teil derselben Entscheidung spricht das OG die verfassungskonforme Auslegung an: „Es ist offensichtlich, dass bei der systematischen Auslegung nicht nur die innere Systematik berücksichtigt werden sollte, sondern man auch die Stellung der Vorschrift in der Hierarchie der Rechtsakte (so genannte äußerliche Systematik) beachten und die Vorschriften gemäß den Rechtsprinzipien auslegen muss. Das Gebot der Auslegung des Rechts gemäß den Rechtsprinzipien gehört zu den grundlegendsten Auslegungsregeln der systematischen Auslegungsmethode. Innerhalb der Grundsätze des Rechtssystems spielen die verfassungsrechtlichen Grundsätze eine besondere Rolle. Dazu gehört die Auslegungsregel, ,dass die Rechtsnormen verfassungsgemäß ausgelegt werden sollten‘ (L. Morawski: op. cit., S. 111). Auch in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ist der Grundsatz des Vorrangs der verfassungsgemäßen Auslegung anerkannt. Diese Auffassung fand ihren Ausdruck in vielen Entscheidungen des Verfassungsgerichts sowohl vor als auch nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung. Im Urteil vom 28. April 1999 (K 3/99, OTK ZU 1999, Nr. 4, Pos. 73) hat das Verfassungsgericht in voller Besetzung ausgeführt, dass ,der Anwendung der Technik der verfassungsgemäßen Auslegung der Vorrang eingeräumt werden sollte, weil sie mit der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze korrespondiert‘.“ 181

Die Formulierungen „es ist offensichtlich, dass (. . .)“ und „es ist anerkannt“ sprechen zunächst dafür, dass die verfassungskonforme Auslegung für das OG eine anerkannte Auslegungsmethode ist. Andererseits stellt sich die Frage, warum das OG diese offensichtliche Auslegungsmaxime, die es dem Standardwerk von Morawski entnommen hat, überhaupt in seine Begründung aufgenommen hat. Es hat sich sogar auf die Autorität des Verfassungsgerichts berufen. Diese Verweise deuten darauf hin, dass die dargestellten Prinzipien für das OG nicht so offensichtlich sind, wie es dies deklariert. Derselbe Eindruck entsteht beim Lesen des folgenden Teils der Begründung, in dem sich wieder eine eher schulmäßige Charakteristik des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit findet. Die180 181

Ebenda, S. 15. Ebenda, S. 17.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

195

ses Grundwissen kennt jeder Absolvent des Jurastudiums, und wiederholt entsteht die Frage, weshalb das OG es in seiner Begründung so umfangreich darstellt: „Im Prozess der Auslegung von Vorschriften, die den Anwendungsbereich von Rechtsprinzipien einschränken, was insbesondere die Vorschriften über Rechte und bürgerliche Freiheiten betrifft, und bei der Lösung der Widersprüche zwischen Rechtsprinzipien sowie zwischen Rechtsprinzipien und einfachen Normen spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine grundlegende Rolle (M. Korycka: Zasada proporcjonalnos´ci-refleksje na gruncie aksjologicznych podstaw konstytucji z 1997 roku i orzecznictwa Trybunału Konstytucyjnego in: L. Morawski, Hrsg.: Wykładnia prawa i inne problemy w filozofii prawa, Torun´ 2005). Gegenwärtig wird die Rechtsgrundlage für diesen Grundsatz aus der Vorschrift des Art. 31 Abs. 3 der Verfassung abgeleitet, wonach Einschränkungen, die verfassungsrechtlichen Freiheiten und Rechte zu genießen, nur in einem Gesetz beschlossen werden dürfen und nur dann, wenn sie in einem demokratischen Staat wegen seiner Sicherheit oder öffentlicher Ordnung oder zum Schutz der Umwelt, der Gesundheit, der öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen notwendig sind, wobei diese Einschränkungen das Wesen der Freiheiten und Rechte nicht verletzen dürfen. Im Schrifttum wird darauf hingewiesen, dass der Grundsatz der Verfassungsmäßigkeit entgegen dem Wortlaut des Art. 31 Abs. 3 der Verfassung nicht nur eine Direktive der Rechtssetzung enthält, sondern sich auch auf die Anwendung und Auslegung bezieht (L. Morawski: op. cit., S. 122–123).“ 182

In dem folgenden Zitat setzt sich das OG weiter mit dem Grundsatz des Verhältnismäßigkeitsprinzips auseinander. Die Ausführungen werden jedoch auf einer höheren Ebene geführt. Sie weisen eindeutig auf eine antiformalistische Rechtsanwendung hin. „(. . .), der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet zur Suche nach der Auslegung der einschränkenden Vorschriften, die es erlaubt, das Ziel zu erreichen, das der Gesetzgeber sich bei dem Erlass der Vorschriften gestellt hat. Dabei soll das Auslegungsergebnis die Adressaten der Rechtsnormen möglichst wenig belasten, jedenfalls darf es nur in dem Maße belastend sein, als es zur Erreichung des vom Normgeber gesetzten Zieles erforderlich ist (L. Morawski: op. cit., S. 124). Im Falle der Kollision von zwei Rechtsprinzipien kann man entweder annehmen, dass sich beide Rechtsgrundsätze aus faktischen Gründen nicht verwirklichen lassen oder die Bedeutung des einen Rechtsprinzips die Anwendung des anderen Rechtsprinzips ausschließt, oder man nimmt an, dass beide Prinzipien zur Anwendung kommen sollen, wobei die Bedeutungen beider Prinzipien zu berücksichtigen sind, und die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips darauf beruht, dass der Interpret nach einer Auslegung der kollidierenden Rechtsprinzipien suchen soll, die es zulässt, die ihnen zugrunde liegenden Ziele zu realisieren, allerdings in dem Maße, dass die Bedeutung aller in Betracht gezogenen Rechtsprinzipien berücksichtigt wird. Es darf dabei nicht bezweifelt werden, dass der Interpret sich vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht nur bei der Auslegung von Vorschriften, die Rechte und bürgerliche Freiheiten einschrän-

182

Ebenda, S. 17 f.

196

Teil 2: Empirische Analysen

ken, leiten lässt, sondern dieses Prinzip soll auch bei der Auslegung kollidierender Rechtsprinzipien und einfacher Rechtsregeln zur Anwendung kommen.“ 183

Neben der verfassungskonformen Auslegung knüpft das OG auch an die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung an. Wieder wird jedoch die Autorität des Verfassungsgerichts bemüht, um eher Grundwissen der Methodenlehre zu verwenden. „Angesicht des Vorrangs des EU-Rechts vor nationalem Recht ist die Direktive der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts hervorzuheben, nach der die Gerichte und andere rechtsanwendenden Organe dasjenige Auslegungsergebnis auswählen sollen, das dem EU-Recht gegenüber am freundlichsten ist (T. Koncewicz: Se˛dziowski obowia˛zek interpretacji prawa krajowego w zgodzie z prawem wspólnotowym, PS 2000, Nr. 6). Darauf weist auch das Verfassungsgericht hin, indem es feststellt, dass ,man diejenige Richtung der Auslegung stärken soll, die mit den im Gemeinschaftsrecht geltenden Lösungskonzepten am meisten vereinbar ist und der ständigen europäischen Rechtsprechung entspricht. Die Auslegung des nationalen Rechts im Geiste des Gemeinschaftsrechts kann und soll dabei als günstigstes und schnellstes Mittel der Realisierung der Harmonisierungspflicht zur Anwendung kommen‘. Das Verfassungsgericht nimmt auch an, dass eine Auslegung, die mit den Grundsätzen des europäischen Rechts unvereinbar wäre, auch gegen die Klausel der Rechtsstaatlichkeit in Art. 2 der Verfassung verstößt. Diese Hinweise gewinnen zudem an Bedeutung, wenn man erwägt, dass die Konvention im gemeinschaftsrechtlichen System des Rechtsschutzes der Menschenrechte eine besondere Stellung einnimmt und für die Gemeinschaften das wichtigste Abkommen in diesem Bereich darstellt.“ 184

Im Ergebnis stellt das OG Folgendes fest: „Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei systematischer Auslegung der Vorschrift des Art. 19 Abs. 15 sowohl auf der Grundlage der inneren Systematik des Rechtaktes, in dem sich diese Vorschrift befindet, als auch auf der Grundlage der äußeren Systematik und der verfassungsrechtlichen Rechtsgrundsätze sowie des EURechts als eindeutiges Ergebnis begründet ist, dass (. . .).“ 185

OG Fall 4 In der letzten Entscheidung, die in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden soll, betont das OG wiederholt die Bedeutung der Rationalität bei der Auslegung von Gesetzen. „Angesichts dessen ist unter Berücksichtigung der rechtstheoretischen Literatur daran zu erinnern, dass im Zuge der dogmatischen Exegese der Vorschriften von Anfang an die Möglichkeit abzulehnen ist, dass die Vorschriften ein Ergebnis irrationalen Handelns sind. Man nimmt an, dass kein Wort in einer Rechtsvorschrift entbehrlich ist und dementsprechend diejenige Auslegung nicht zulässig ist, die einen 183 184 185

Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 25.

D. Äußerungen zur Methodik in der Rechtsprechung des BGH und des OG

197

Teil des Gesetzestextes entbehrlich macht. Außerdem nimmt man an, dass die Vorschriften eines Gesetzes untereinander verbunden sind und daher darf bei ihrer Auslegung der Kontext des Gesetzes nicht vernachlässigt werden (vgl. unter anderen S. Wronkowska, M. Zielin´ski, Z. Ziembin´ski: Zasady prawa. Zagadnienia podstawowe, Warszawa 1974; L. Morawski: Wste˛p do prawoznawstwa, Torun´ 1998; D. Czajka: Teoria sa˛dzenia, Warszawa 2006).“ 186

Dieses Zitat betont einmal mehr die Rolle des Gesetzestextes. Er soll sehr sorgfältig gelesen werden, denn kein Wort ist „überflüssig“. Auch der Kontext muss stets berücksichtigt werden.

VIII. Zwischenergebnis Die wichtigsten Ergebnisse des vorliegenden Teiles der Untersuchung lassen sich in den nachfolgenden Thesen zusammenfassen. • Das OG betont im Unterschied zum BGH wesentlich öfter die Bedeutung methodischer Prinzipien; solche Prinzipien sind grundsätzlich für die formalistische Kultur charakteristisch. • Der BGH vermeidet im Gegensatz zum OG Äußerungen zum Rangverhältnis innerhalb der klassischen Auslegungskriterien. • Das OG räumt in seinen Äußerungen der sprachlichen Auslegungsmethode den Vorrang innerhalb der Auslegungskriterien im Auslegungsverfahren ein, wobei ein Absehen vom Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode allerdings nicht ausgeschlossen ist. • In den Äußerungen des OG wird die Tendenz zu einer möglichst einheitlichen Auslegung von Rechtsbegriffen sichtbar. Demgegenüber scheint der BGH in dieser Hinsicht nicht so prinzipiell zu denken und deklariert insoweit den Vorrang teleologischer Kriterien. • Das OG betont im Gegensatz zum BGH die Grundsätze lege non distinguente, nec nostrum est distinguere; per non est; exceptiones non sunt extendendae. Alle diese Grundsätze betonen die Rolle des Gesetzestextes und sind für eine formalistische Auslegungskultur charakteristisch. • Der BGH lässt ausdrücklich die Rechts(neu)schöpfung zu. Auch das OG schließt ein schöpferisches Vorgehen nicht völlig aus („kreative Auslegung“), macht dies allerdings nicht zum Prinzip seiner Rechtsanwendung. • Der BGH bekennt sich zu einer dynamischen Auslegung und lässt die Berücksichtigung von moralischen Anschauungen bei der Auslegung zu.

186 Beschluss (Postanowienie) vom 26.7.2007, I KZP 16/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 15 f.

198

Teil 2: Empirische Analysen

• Das OG betont in seinen methodischen Äußerungen die Rationalität des Gesetzgebers. • Das OG unterstützt seine methodischen Äußerungen unter Rekurs auf die Literatur. • Die methodischen Äußerungen des OG lassen den Glauben an die Sprache als Träger der Bedeutungen erkennen. • Die methodischen Äußerungen des OG erwecken den Eindruck einer methodenorientierten Auslegung, in der die Aufgabe des Interpreten auf die richtige Anwendung der Methode reduziert wird.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG I. Einführung Da die vorliegende Untersuchung die vom BGH und vom OG verwendeten Topoi vor allem mithilfe des qualitativen Ansatzes untersucht, wurden die Analysekategorien im Gegensatz zu den Vorgaben einer quantitativen Sozialforschung nicht a priori, sondern im Laufe der Untersuchung auf der Grundlage des herangezogenen empirischen Materials gebildet. Die Topoi wurden somit induktiv erhoben. Dabei musste das empirische Material mehrmals untersucht werden, um zu dem vollständigen Katalog der Analysekategorien zu gelangen. Bei der Bildung der entsprechenden Analysekategorien wurden jedoch zwei Einschränkungen eingeführt. Angesichts der erheblichen Zahl der von den Gerichten verwendeten Topoi wurden in der Untersuchung nur diejenigen Topoi berücksichtigt, die vor dem Hintergrund der Forschungsfrage relevant sein können. Es wurden deshalb zur Bildung einer entsprechenden Analysekategorie nur diejenigen Topoi herangezogen, die für den formalistischen oder den substanziellen (wertbezogenen) Charakter der jeweiligen Rechtsordnung Beweis führen.187 Zum anderen

187 Diese Annahme könnte auf den ersten Blick als unzulässige Einschränkung der Offenheit der Untersuchung angesehen werden, obwohl diese zu den grundlegenden Prinzipien einer qualitativen Forschung gehört. Die Bezugnahme auf die formalistischen Kategorien einerseits und auf die substanziellen Kategorien andererseits schränkt gewissermaßen die Möglichkeit der Entdeckung weiterer Arten von Auslegungskulturen ein, die in der Literatur bisher nicht thematisiert wurden. Dass solche anderen Auslegungskulturen existieren und auf ihre Entdeckung warten, kann nicht ausgeschlossen werden. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich gleichwohl primär auf die in der Literatur bisher schon herausgearbeiteten beiden Kategorien. Die formalistischen und die substanziellen Kategorien kamen dabei in der vorliegenden Untersuchung erst dann zur Anwendung, sobald alle in Betracht kommenden Topoi ermittelt waren. Sie erfüllten dabei zwei Funktionen. Zum einen dienten sie als Kriterien zur Eliminierung überschüssiger Topoi, zum anderen trugen sie zur Systematisierung der ermittelten Topoi bei.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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wurde eine Analysekategorie nur dann gebildet, wenn ein Topos rechtlichen Charakter hat, d. h., er zumindest in einem Rechtsdiskurs des jeweiligen Landes seinen festen Platz hat. Im Laufe der Untersuchung musste aber auch geklärt werden, auf welcher Grundlage die von den Gerichten verwendeten Topoi den Analysekategorien zugeordnet werden können. Selbstverständlich soll auch dieser Vorgang für den Leser nachprüfbar sein. Deshalb mussten diejenigen Kriterien herausgearbeitet werden, die möglichst klare Voraussetzungen dafür festlegen, wann ein vom Gericht verwendeter Topos einer Analysekategorie zugeordnet werden soll. Dabei wurden folgende Grundsätze etabliert. • Ein Topos aus der jeweiligen Begründung einer Entscheidung wird immer dann einer Kategorie zugeordnet, wenn diese Zuordnung auch bereits explizit aus der Begründung hervorgeht. So lässt sich z. B. einigen analysierten Entscheidungen direkt entnehmen, dass das Gericht ausdrücklich Bezug auf seine bisherige Rechtsprechung nimmt (Topos: Bezug auf eigene Rechtsprechung) oder den Wortlaut des Gesetzes zitiert (Topos: Wortlautzitat). In diesen Fällen ist die Subsumtion eines Topos unter eine bestimmte Analysekategorie grundsätzlich problemlos. • In der vorliegenden Untersuchung werden auch diejenigen Teile der Begründungen berücksichtigt, die auf der Grundlage der verwendeten Worte oder des Kontextes keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass in der Begründung ein bestimmter Topos Verwendung findet, obwohl er nicht direkt zum Ausdruck kommt. Es lässt sich z. B. aus der Verwendung der Formulierung „der Gesetzgeber will mit dieser Regelung . . .“ entnehmen, dass die Begründung in diesem Teil der Entscheidung an eine teleologische Argumentation anknüpft. Falls bei dem Herausfiltern des Topos aus der jeweiligen Entscheidung allerdings erhebliche Bedenken bestehen, wird dieser Topos nicht berücksichtigt. • In der Untersuchung wird davon ausgegangen, dass ein Topos auch unter mehrere Analysekategorien subsumiert werden kann. Wenn das Gericht z. B. den Zweck einer Vorschrift mithilfe von Gesetzesmaterialien feststellt, nimmt es nach den in dieser Untersuchung angenommenen Kriterien sowohl Bezug auf den Topos der „subjektiven teleologischen Auslegung“ als auch auf den Topos der „genetischen Auslegung“. • Es werden in der Untersuchung sowohl diejenigen Topoi berücksichtigt, denen das Gericht Vorrang einräumt, als auch diejenigen, die das Gericht letztlich verworfen hat. Damit kann die Komplexität der Begründungen gezeigt werden. • Es werden nur Topoi in Betracht gezogen, die sich mit dem Wesen des zur Entscheidung anstehenden Problems beschäftigen. Das stellt sicher, dass diejenigen Teile der Begründung, in denen das Gericht z. B. den bisherigen Ver-

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Teil 2: Empirische Analysen

fahrensverlauf schildert oder die Zulässigkeit des Rechtsmittels188 prüft, außer Betracht bleiben. Dabei ist zu beachten, dass es bei einigen Entscheidungen problematisch ist, wo die sachliche Argumentation beginnt. • Schließlich werden nur diejenigen Topoi berücksichtigt, die sich mit der Auslegung beschäftigen, d. h., Topoi, die sich auf die Tatsachenfeststellung (Feststellung des Sachverhalts) oder auf Beweise beziehen, bleiben außer Betracht. Es ist dabei zu beachten, dass die Analysekategorien grundsätzlich unabhängig von den nationalen Besonderheiten der Rechtsordnungen formuliert wurden, um eine möglichst objektive Grundlage für den Vergleich zu schaffen. In einigen Fällen ließ sich jedoch diese Regel nicht verwirklichen. Um gleichwohl die Perspektiven des Gerichts zeigen zu können, ist es dann bei den nationalen Kategorien verblieben.189

II. Katalog der Analysekategorien Die qualitativ durchgeführte Untersuchung ergab, dass die Argumentation des BGH und des OG sich in den folgenden beiden Hauptkatalogen von Analysekategorien erfassen lässt, die jeweils den formalistischen oder den substanziellen (wertbezogenen) Charakter einer Rechtskultur widerspiegeln. 1. Formalistische Analysekategorien a) Sprachliche Analysekategorien b) Systematische Analysekategorien c) Bezugnahme auf die Literatur d) Bezugnahme auf andere Rechtsprechung e) Sonstige Kategorien 2. (Wertorientierte) Substanzielle Analysekategorien a) Verfassungsrechtliche Analysekategorien b) Teleologische Analysekategorien c) Historische Analysekategorien d) Außergesetzliche Analysekategorien 188 In einigen Entscheidungen überschneiden sich die Zulässigkeitsprobleme mit den Auslegungsproblemen, was die Trennung dieser Elemente in der Begründung deutlich erschwert. So in dem Beschluss (Uchwała) vom 26.1.2007, I KZP 34/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 1. 189 Z. B. „der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers“ kommt nur in der Rechtsprechung des OG vor.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

201

III. Katalog der Topoi Im Rahmen dieser Hauptkataloge der Analysekategorien wurden bestimmte Topoi erfasst, die nachfolgend aufgelistet werden. Dabei ist zu beachten, dass die angegebenen Topoi nicht in beiden Rechtskulturen in Erscheinung treten müssen. Die Untersuchung hat u. a. gezeigt, dass in beiden Rechtskulturen rein „nationale“ Topoi vorkommen. 1. Formalistische Analysekategorien a) Sprachliche Analysekategorien – Eindeutigkeit, – Wortlaut, – Wortlaut (umgangssprachlich), – Wortlaut (Legaldefinition), – Wortlaut (juristisch), – Wortlaut (Fachsprache), – Wortlautzitat, – Wortlaut unter Verwendung eines Wörterbuches. b) Systematische Analysekategorien – Stellung der Vorschrift, – andere Vorschriften in demselben Rechtsakt, – andere nationale Rechtsakte, – EMRK, – EU-Rechtsakte, – IPBPR, – andere internationale Rechtsakte. c) Bezugnahme auf die Literatur – Dogmatische Literatur, – methodische Literatur. d) Bezugnahme auf andere Rechtsprechung – Bundesgerichtshof (BGH) bzw. Oberstes Gericht (OG), – Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bzw. Verfassungsgericht (VG),

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Teil 2: Empirische Analysen

– Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), – Europäischer Gerichtshof (EuGH), – andere Gerichte. e) Sonstige – Grundsätze der Gesetzgebung, – Lex specialis derogat legi generali, – Lex mitior agit, – Lex posterior derogat legi priori. 2. (Wertorientierte) Substanzielle Analysekategorien a) Verfassungsrechtliche Analysekategorien190 – GG/Verfassung, – Bestimmtheitsgrundsatz, – Analogieverbot, – Grundsatz des fairen Verfahrens, – Beschleunigungsgrundsatz, – Menschenwürde/Ehre, – Gleichheitsgrundsatz, – Grundsatz der Staatshaftung/Amtshaftung, – Ne bis in idem191, – Rückwirkungsverbot192, – Verhältnismäßigkeitsprinzip, – Vertrauensschutzgebot, – Demokratieprinzip, – Recht auf den gesetzlichen Richter,

190 Die verfassungsrechtlichen Analysekategorien wurden aus dem Katalog der systematischen Analysekategorien herausgenommen, da sie angesichts ihrer relativen Unbestimmtheit mehr auf eine wertbezogene als auf eine formalistische Rechtskultur hinweisen. 191 Dieser Grundsatz könnte eventuell auch den formalistischen Topoi zugeordnet werden. Da er jedoch im Grundgesetz verankert ist und einer gewissen Konkretisierung bedarf, wird er in der vorliegenden Untersuchung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Topoi verortet. 192 Siehe Fußnote oben.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

– Freiheitsanspruch, – Schuldgrundsatz, – Rechtsstaatsprinzip, – Gebot des rechtlichen Gehörs, – Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit, – Unschuldsvermutung, – In dubio pro reo193, – Nemo tenetur194, – Recht auf Verteidigung, – Rechtssicherheit, – Gerechtigkeitsgrundsatz, – Grundsatz der materiellen Wahrheit, – Unverletzlichkeit der Wohnung, – Instanzenzug, – Nullum crimen, nulla poena195, – Recht auf den unabhängigen Richter, – Recht auf informationelle Selbstbestimmung, – Recht auf den rechtlichen Schutz des Privat- und Familienlebens, – Recht auf freie Kommunikation, – Grundsatz der Anfechtbarkeit, – Berufsfreiheit. b) Teleologische Analysekategorien – Subjektive teleologische Topoi, – objektive teleologische Topoi. c) Historische Analysekategorien – Vorgeschichte, – genetische Topoi.

193 194 195

Siehe Fußnote oben. Siehe Fußnote oben. Siehe Fußnote oben.

203

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Teil 2: Empirische Analysen

d) Außergesetzliche Analysekategorien – Billigkeit/Vernunft, – Absurdes Ergebnis (argumentum ad absurdum), – Außerrechtswissenschaftliches Fachwissen, – Prozessökonomie, – Ressourcen der Justiz, – Wesen der Sache, – Autorität der Rechtspflege, – Akzeptanz der bisherigen Auslegung durch den Gesetzgeber/Unterbleiben des Tätigwerdens des Gesetzgebers, – Grundsatz des rationalen Gesetzgebers, – Praxis, – Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen, – Rationalität, – Sicherheit der Bürger, – Ökonomische Aspekte, – Humanitäre Gesichtspunkte, – Folgen.

IV. Allgemeine Charakteristik der Topoi und die Regeln ihrer Zuordnung zu einer bestimmten Kategorie Im Folgenden sollen die festgestellten Topoi näher erläutert werden. Zum einen soll gezeigt werden, wie sie im Einzelnen ermittelt wurden, und zum anderen, welche dogmatische bzw. normative Grundlage sie in beiden Rechtssystemen haben. 1. Formalistische Analysekategorien a) Sprachliche Analysekategorien Eindeutigkeit: Zu den wichtigsten Annahmen einer formalistischen Rechtskultur gehört die Behauptung, dass der Text eindeutig sein kann. Demgemäß werden unter diesem Topos alle Zitate erfasst, die auf die Eindeutigkeit einer ganzen Vorschrift oder ihres Teiles verweisen. In der Regel verwenden die Gerichte bei dieser Argumentationsform den Ausdruck „die Vorschrift ist eindeutig“. Aber auch Synonyme wie z. B. „der Begriff ist klar“ fallen in diese Kategorie. Dieser Topos ist in der Methodenlehre beider Rechtskulturen bekannt, wobei er allerdings zu den umstrittensten Topoi gehört.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Wortlaut: Dieser Topos wird nur dann als gegeben festgestellt, wenn der BGH die Worte „Wortlaut“ bzw. „Wortsinn“ und das OG die Worte „brzmienie“ bzw. „tres´c´“ explizit verwendet. Diese restriktive Ermittlung wurde erst nach der ersten Inhaltsanalyse eingeführt, weil sich herausstellte, dass die Gerichte in fast jeder Entscheidung auf die Vorschriften Bezug nahmen. Wortlaut (umgangssprachlich): Dieser Topos wird nur dann in der Untersuchung berücksichtigt, wenn das Gericht dem Begriff eine Bedeutung verleiht, die er in der Umgangssprache hat, und dabei ausdrücklich betont, dass es insoweit auf die Umgangssprache Bezug nimmt. In diesen Fällen nimmt das Gericht gewöhnlich eigene Sprachkompetenz in Anspruch. Kommt ein Wörterbuch bei der Auslegung zur Anwendung, wird ein Argument nur unter der Kategorie „Wortlaut unter Verwendung eines Wörterbuches“ subsumiert (s. u.). Wortlaut (Legaldefinition): Dieser Topos wird nur dann berücksichtigt, wenn das Gericht Bezug auf die Definition eines Begriffes nimmt, der in demselben Rechtsakt oder anderen Rechtsakten vorkommt. Wortlaut (juristisch): Bei dieser Argumentationsform geht es um Verweise auf eine anerkannte Bedeutung, die der Begriff in der Literatur und (oder) der Rechtsprechung hat (communis opinio doctorum). In der Regel verwendet der BGH in diesem Zusammenhang die Formel „ständige Rechtsprechung“. Dieser Kategorie werden auch Synonyme des Begriffes „ständige Rechtsprechung“ zugeordnet und auch diejenigen Teile der Begründung, in denen die Anzahl der Verweise auf die bisherige Rechtsprechung und die Literatur eindeutig darauf hinweist, dass die betreffende Auffassung in dem Rechtsdiskurs unbestritten ist. Die Ermittlung dieses Topos brachte erhebliche Probleme mit sich, da es in einem konkreten Fall problematisch sein kann, ob der betreffende Begriff schon eine feste und stabile Bedeutung für das Gericht hat. Wortlaut (Fachsprache): Dieser Topos wird nur dann in der Untersuchung berücksichtigt, wenn das Gericht sich bei der Auslegung eines Begriffes auf die Bedeutung beruft, die dieser Begriff in einem speziellen Fachgebiet (z. B. Ökonomie, Psychologie) hat. Wortlautzitat: Dieser Topos findet Anwendung, wenn das Gericht eine ganze Vorschrift oder einen Teil der Vorschrift zitiert, um eine Äußerung zu begründen. Dabei wurden nur diejenigen Zitate erhoben, die vom Gericht selbst in Anführungszeichen gesetzt wurden. Wortlaut unter Verwendung eines Wörterbuches: Diese Argumentationsform muss strikt von den vorangehenden Wortlauttopoi abgegrenzt werden. Sie ist jedenfalls komplexer als die vorangehenden Wortlauttopoi, denn das Gericht führt im Rahmen dieser Argumentationsform eine semantische bzw. syntaktische Analyse der Begriffe durch. Diese Analyse muss durch die Berücksichtigung z. B. von Wörterbüchern, Lexika etc. erfolgen. Als nur ein Topos wird die ganze Argu-

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Teil 2: Empirische Analysen

mentation betrachtet, obwohl diese eine oder mehrere Textseite(n) in den Entscheidungsgründen einnehmen kann. b) Systematische Analysekategorien Stellung der Vorschrift: Dieser Topos wird in der Untersuchung dann berücksichtigt, wenn das Auslegungsergebnis anhand der Stellung der Vorschrift im Gesetz oder im Rechtssystem anhand der (amtlichen) Überschrift, des Aufbaues des Gesetzes und/oder des Aufbaus des Abschnitts begründet wird. Andere Vorschriften in demselben Rechtsakt: Dieser Topos wird dann berücksichtigt, wenn das Gericht die Bedeutung eines Begriffes (einer Vorschrift) mit anderen Begriffen (Vorschriften) aus demselben Recht harmonisiert bzw. zusammenstellt und damit das Auslegungsergebnis begründet. Andere nationale Rechtsakte: Dieser Topos kommt nur dann zur Anwendung, wenn das Gericht andere nationale Rechtsakte (Gesetze, Verordnungen etc.) oder Begriffe aus anderen Rechtsakten in Betracht zieht, um das Auslegungsergebnis zu begründen. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK): Die Anwendung dieses Topos bezieht sich auf die einzelnen Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie auf die Konvention als Ganze. Rechtsakte der Europäischen Union (EU-Recht): Dieser Topos wird dann berücksichtigt, wenn das Gericht einzelne Vorschriften der Europäischen Union oder einen ganzen Rechtsakt (z. B. Rahmenbeschluss) in die Argumentation einbezieht. Internationaler Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR): Auch dieser Topos wird nur dann berücksichtigt, wenn das Gericht sich bei der Auslegung explizit auf die einzelnen Vorschriften des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte oder auf den ganzen Pakt beruft. Andere internationale Rechtsakte: In dieser Kategorie werden alle sonstigen internationale Akte berücksichtigt, soweit sie bei der Auslegung eines Begriffes in Betracht gezogen werden. c) Bezugnahme auf Literatur Die Verweise auf die Literatur gehören zu den klassischen Autoritätsargumenten. Mit ihrer Hilfe wird eine Auffassung unterstützt oder abgeschwächt. Je höher eine bestimmte Autorität in einem nationalen Rechtsdiskurs angesiedelt ist, desto mehr Überzeugungskraft hat die Bezugnahme auf sie. In dieser Untersuchung wurden zwei Typen dieser Topoi festgestellt: Bezugnahme auf die dogmatische und die methodische Literatur.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Dogmatische Literatur: In diese Kategorie fallen alle Hinweise auf die Literatur, die in der vorangehenden Kategorie nicht berücksichtigt wurde, z. B. Aufsätze, Kommentare, Lehrbücher etc. Methodische Literatur: In dieser Kategorie werden alle Hinweise auf die Literatur zusammengefasst, die sich der Methodenlehre zuordnen lässt, z. B. Hinweise auf das Werk von K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991 oder auf das Werk von L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2006. Die Bezugnahme auf die methodische Literatur unterstützt gewöhnlich die methodischen Topoi.

d) Bezugnahme auf andere Rechtsprechung Unter diese Kategorie werden alle diejenigen Elemente der Begründungen subsumiert, in denen das Gericht seine vorangehenden eigenen Entscheidungen, die Entscheidungen der Verfassungsgerichte, die Entscheidungen der internationalen Gerichte und die Entscheidungen anderer Gerichte erwähnt. In dieser Kategorie wird auch die Rechtsprechung der Zivilgerichte und der Verwaltungsgerichte erfasst. Diese Topoi werden auch dann berücksichtigt, wenn das Gericht sich ohne Hinweis auf die Quelle pauschal auf „die Rechtsprechung“ beruft. Als Unterkategorien kommen in Betracht: Bundesgerichtshof (BGH) bzw. Oberstes Gericht (OG): In diese Kategorie fallen alle Verweise auf die frühere Rechtsprechung des BGH bzw. des (polnischen) OG. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bzw. Verfassungsgericht (VG): In dieser Kategorie werden alle Verweise auf die Rechtsprechung des BVerfG bzw. des (polnischen) VG erfasst. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): In dieser Kategorie werden alle Hinweise auf die Rechtsprechung des EGMR gesammelt. Europäischer Gerichtshof (EuGH): In dieser Kategorie wurden alle Hinweise auf die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt. Andere Gerichte: In diese Kategorie fallen alle Hinweise auf die Rechtsprechung eines Oberlandesgerichts, eines Landgerichts, eines Amtsgerichts, eines Verwaltungsgerichts (Bundesverwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht, Verwaltungsgericht), eines Finanzgerichts, eines Sozialgerichts sowie eines BGHKartellsenats in Deutschland und eines Appellationsgerichts (sa˛d apelacyjny), eines Bezirksgerichts (sa˛d okre˛gowy), eines Amtsgerichts (sa˛d rejonowy), eines Verwaltungsgerichts (Naczelny Sa˛d Administracyjny und wojewódzki sa˛d administracyjny), eines Disziplinärgerichts (außer OG-Disziplinärgericht), eines Arbeits- und Sozialversicherungssenats des OG in Polen.

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Teil 2: Empirische Analysen

e) Sonstige In diese Kategorie fallen diejenigen Topoi, die einen formalistischen Charakter haben und keine homogene Gruppe bilden. Grundsätze der Gesetzgebung: Die Grundsätze der Gesetzgebung wurden in Polen in einer Verordnung vom 20.6.2002 geregelt.196 Sie enthalten Richtlinien für die Kodifizierung von Gesetzen.197 In der polnischen methodischen Literatur wird die Auffassung vertreten, dass diese Richtlinien auch bei der Auslegung von Gesetzen berücksichtigt werden sollen.198 Die deutsche Rechtsordnung kennt eine solche Regelung nicht. Die Zuordnung der Grundsätze der Gesetzgebung zu den formalen Argumenten findet ihre Rechtfertigung darin, dass sie keine inhaltliche, sondern nur rein formale Überzeugungskraft besitzen. Lex specialis derogat legi generali: Auch die Regel über die Spezialität soll den formalen Argumenten zugerechnet werden. Sie greift ein, wenn ein (spezieller) Straftatbestand nicht nur die begrifflich-tatbestandlichen Voraussetzungen eines anderen (allgemeinen) Straftatbestandes enthält, sondern darüber hinaus noch wenigstens ein weiteres (zusätzliches) Merkmal, so dass der Täter, der den speziellen Straftatbestand verwirklicht, zwangsläufig auch den in Betracht kommenden allgemeinen Straftatbestand erfüllt. Dabei verdrängt das spezielle Gesetz das allgemeine Gesetz. Lex mitior agit: In beiden Rechtsordnungen ist die Rückwirkung von Strafgesetzen zum Vorteil des Täters zulässig (§ 2 Abs. 2 StGB, Art. 4 § 1 KK). Lex posterior derogat legi priori: Nach diesem Topos hebt das jüngere Gesetz das ältere Gesetz auf. 2. (Wertorientierte) Substanzielle Analysekategorien a) Verfassungsrechtliche Analysekategorien Die Erfassung der verfassungsrechtlichen Analysekategorien bereitet besondere Probleme, da viele der verfassungsrechtlichen Prinzipien auch in den einfachen Gesetzen beider Rechtsordnungen kodifiziert sind. Insbesondere betrifft dies das Verfahrensrecht. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde angenommen, dass dieser Kategorie alle diejenigen Topoi zugeordnet werden, die zumindest in einer der beiden Rechtsordnungen Verfassungsrang genießen, unab196 Rozporza˛dzenie Prezesa Rady Ministrów z dnia 20 czerwca 2002 r. w sprawie „Zasad techniki prawodawczej“, Dz. U. 2002 Nr. 100, Pos. 908. 197 Davon sind die Regeln der korrekten Rechtssetzung zu unterscheiden, die die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung entwickelt hat. Zu den Letzteren siehe: S. Wronkowska, Regeln der korrekten Rechtssetzung in der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofes, in: FS für Szwarc, 2009, S. 173. 198 L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 24 f.

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hängig davon, ob sie in einfachen Gesetzen geregelt sind. Zu den Unterkategorien im Einzelnen: GG/Verfassung: Dieser Kategorie werden alle allgemeinen Hinweise auf das GG oder die Verfassung ohne Erwähnung einer bestimmten Vorschrift zugeordnet, z. B. „Aus der Verfassung geht . . . hervor“. Bestimmtheitsgrundsatz: In dieser Kategorie werden alle Passagen derjenigen Urteile erfasst, in denen sich das Gericht mit den Vorschriften unter dem Gesichtspunkt ihrer Bestimmtheit beschäftigt. Der Bestimmtheitsgrundsatz wird in der deutschen Rechtsordnung aus Art. 103 Abs. 2 GG und in der polnischen Rechtsordnung aus Art. 42 Abs. 1 der Verfassung199 abgeleitet. Analogieverbot: In der deutschen Rechtsordnung wird das Analogieverbot aus dem GG (Art. 103 Abs. 2) abgeleitet. Auch in der polnischen Rechtsordnung findet er eine verfassungsrechtliche Grundlage (Art. 42 Abs. 2200). Zudem wurde das Analogieverbot in den Strafgesetzbüchern beider Länder (§ 1 StGB, Art. 1 § 1 KK201) verankert, die den Nullum-crimen-sine-lege-Grundsatz in beiden Rechtsordnungen statuieren. Das Analogieverbot wurde nur dann als solches erhoben, wenn das Gericht auf diesen Topos ausdrücklich Bezug genommen hat oder es sich aus dem Kontext der betreffenden Entscheidung schließen ließ, dass eine analoge Anwendung einer Vorschrift (Gesetzesanalogie) bzw. eine analoge Anwendung aus mehreren Vorschriften abgeleiteten Grundgedankens (Rechtsanalogie) für unzulässig erachtet wurde. Grundsatz des fairen Verfahrens: Dieser Grundsatz wird in der deutschen Rechtsordnung als eine Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips verstanden. Es wird aber auch auf die Gesamtschau der Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 2, 20 Abs. 3, 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verwiesen.202 Auch in der polnischen Verfassung ist dieser Grundsatz nicht ausdrücklich kodifiziert. Er wird aus der Verfassung über das Verbot der Folter und der grausamen, un199 Art. 42 Abs. 1 VerfRP lautet: „Strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann nur, wer eine Tat begeht, die durch ein während deren Begehung geltendes Gesetz mit Strafe bedroht ist. Dieser Grundsatz hindert nicht daran, eine Tat zu bestrafen, die während der Begehung eine Straftat im Sinne des Völkerrechts war.“ Übersetzung hier und im Folgenden nach www.sejm.gov.pl/prawo/konst/niemiecki/kon1.htm (letzter Zugriff: 19.5.2015). 200 Art. 42 Abs. 2 VerfRP lautet: „Strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann nur, wer eine Tat begeht, die durch ein während deren Begehung geltendes Gesetz mit Strafe bedroht ist. Dieser Grundsatz hindert nicht daran, eine Tat zu bestrafen, die während der Begehung eine Straftat im Sinne des Völkerrechts war.“ 201 Art. 1 § 1 KK lautet: „Der Strafbarkeit unterliegt nur, wer eine Tat begeht, die durch ein zur Zeit der Begehung der Tat geltendes Gesetz unter Androhung von Strafe verboten ist.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 202 W. Beulke, Strafprozessrecht, 12. Auflage, 2012, Rn. 28 m.w. N.

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menschlichen und entwürdigenden Behandlung und Bestrafung (Art. 40 VerfRP) und über das Gebot des gerechten und öffentlichen Prozesses (Art. 45 VerfRP) abgeleitet.203 Beschleunigungsgrundsatz: Dieser Grundsatz wird in der deutschen Rechtsordnung aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG i.V. m. dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG204 abgeleitet. Er ist somit nicht ausdrücklich geregelt. In der polnischen Rechtsordnung geht dieser Grundsatz ausdrücklich aus Art. 45 Abs. 1 VerfRP hervor, nach dem jedermann das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor einem zuständigen, unabhängigen und unbefangenen Gericht hat. Dieser Grundsatz ist auch in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verankert. Dieser Grundsatz wurde nicht nur dann erhoben, wenn das Gericht ihn in einer Entscheidung ausdrücklich hervorgehoben hat, sondern auch dann, wenn es die Verfahrensverzögerung erörterte oder auf die Problematik der Zügigkeit des Verfahrens eingegangen ist. Menschenwürde/Ehre: Dieser Grundsatz wird in der deutschen Rechtsordnung in Art. 1 Abs. 1 GG geregelt. Die polnische Verfassung erfasst diesen Grundsatz in Art. 30 VerfRP 205. Außerdem schützt Art. 47 VerfRP 206 die Ehre und den guten Ruf. Gleichheitsgrundsatz: Das Grundgesetz enthält den allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1. Die polnische Verfassung regelt diesen Grundsatz in Art. 32 VerfRP 207. Grundsatz der Staatshaftung/Amtshaftung: Verletzt jemand nach Art. 34 S. 1 GG in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. Nach Art. 77 Abs. 1 VerfRP hat jedermann das Recht auf Ersatz des Schadens, der ihm durch unrechtmäßige Maßnahmen eines Organs der öffentlichen Gewalt entstanden ist. 203

M. Jakowczyk, Polnisches Strafprozessrecht, 2008, Rn. 62. Beschluss des BVerfG vom 6.6.2001, 2 BvR 828/01, NJW 37/2001, 2707, 2707; W. Beulke, Strafprozessrecht, 12. Auflage, 2012, Rn. 26. 205 Art. 30 VerfRP lautet: „Die Würde des Menschen ist ihm angeboren und unveräußerlich. Sie bildet die Quelle der Freiheiten und Rechte des Menschen und des Staatsbürgers. Sie ist unverletzlich, ihre Beachtung und ihr Schutz ist Verpflichtung der öffentlichen Gewalt.“ 206 Art. 47 VerfRP lautet: „Jedermann hat das Recht auf rechtlichen Schutz des Privat- und Familienlebens, der Ehre und des guten Rufes sowie das Recht, über sein persönliches Leben zu entscheiden.“ 207 Art. 32 VerfRP lautet: „1. Alle sind vor dem Gesetz gleich. Alle haben das Recht, von der öffentlichen Gewalt gleich behandelt zu werden. 2. Niemand darf aus welchem Grund auch immer im politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Leben diskriminiert werden.“ 204

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Ne bis in idem: In beiden Rechtsordnungen gilt der Grundsatz, dass der Täter nur einmal wegen Begehung derselben Straftat strafrechtlich verfolgt werden darf. Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. In der polnischen Verfassung wird dieser Grundsatz allerdings nicht ausdrücklich erwähnt. Rückwirkungsverbot: Unter diese Kategorie werden diejenigen Passagen der Urteile subsumiert, in denen das Gericht die Problematik vor dem Hintergrund des Rückwirkungsverbots betrachtet. Dabei werden alle Bezugspunkte von Rückwirkung erfasst (Tat, Strafart und Strafhöhe). Es folgt in der deutschen Rechtsordnung aus Art. 103 Abs. 2 GG. Die polnische Verfassung sieht dieses Verbot in Art. 42 Abs. 1 VerfRP208 vor. Verhältnismäßigkeitsprinzip: In der deutschen Rechtsordnung wird dieses Prinzip aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet. Die polnische Verfassung sieht das Verhältnismäßigkeitsprinzip ausdrücklich in Art. 31 Abs. 3 VerfRP vor.209 Dieser Kategorie wurden diejenigen Teile der Begründung zugeordnet, in denen sowohl die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne als auch die Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne vom jeweiligen Gericht erörtert wurde. Vertrauensschutzgebot: Das Gebot, das Vertrauen der Bürger in den Bestand der Rechts- und Gesetzeslage zu schützen, wird in der deutschen Rechtsordnung als Aspekt der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verstanden.210 Dieser Grundsatz wird auch in der polnischen Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt. Er wird jedoch aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 VerfRP) abgeleitet.211 Demokratieprinzip: Nach Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Nach Art. 2 VerfRP ist die Republik Polen ein demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze gesellschaftlicher Gerechtigkeit verwirklicht. Recht auf den gesetzlichen Richter: Nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Dieses Recht sichert dem 208 Art. 42 Abs. 1 VerfRP lautet: „Strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann nur, wer eine Tat begeht, die durch ein während deren Begehung geltendes Gesetz mit Strafe bedroht ist. Dieser Grundsatz hindert nicht daran, eine Tat zu bestrafen, die während der Begehung eine Straftat im Sinne des Völkerrechts war.“ 209 Art. 31 Abs. 3 VerfRP lautet: „Einschränkungen, verfassungsrechtliche Freiheiten und Rechte zu genießen, dürfen nur in einem Gesetz beschlossen werden und nur dann, wenn sie in einem demokratischen Staat wegen seiner Sicherheit oder öffentlicher Ordnung oder zum Schutz der Umwelt, Gesundheit, der öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen notwendig sind. Diese Einschränkungen dürfen das Wesen der Freiheiten und Rechte nicht verletzen.“ 210 B. Pieroth/B. Schlink/Th. Kingreen/R. Poscher, Staatsrecht II. Grundrechte, 30. Auflage, 2014, Rn. 305. 211 Urteil des Verfassungsgerichts vom 20.12.1999, K 4/99, OTK 1999, Nr. 7, Pos. 165.

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Einzelnen zu, dass nur der durch Gesetz und nicht auf andere Weise bestimmte Richter Recht spricht.212 Ein ähnliches Recht sieht die polnische Verfassung in Art. 176 Abs. 2 VerfRP vor. Danach regeln Gesetze den Aufbau und die Zuständigkeiten der Gerichte sowie das Gerichtsverfahren. Freiheitsanspruch: Die Freiheit ist im Grundgesetz in zwei Vorschriften geschützt: Art. 2 GG und Art. 104 GG. Auch die polnische Verfassung sichert die Freiheit in zwei Vorschriften: Art. 31 Abs. 1 VerfRP 213 und Art. 41 Abs. 1 VerfRP.214 Schuldgrundsatz: Nach diesem Grundsatz setzt jede Strafe Schuld voraus (nulla poena sine culpa). Dieser Grundsatz hat in der deutschen Rechtsordnung Verfassungsrang; er ist an der Idee der Gerechtigkeit orientiert und findet seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip und in Art. 1 Abs. 1 GG.215 Daraus wird auch die Schlussfolgerung gezogen, dass – gemessen an der Idee der Gerechtigkeit – Tatbestand und Rechtsfolge sachgerecht aufeinander abgestimmt sein müssen.216 Rechtsstaatsprinzip: In der deutschen Rechtsprechung ist das Rechtsstaatsprinzip vor allem in Art. 20 Abs. 3 GG verankert. In der polnischen Rechtsordnung wird dieses Prinzip in Art. 2 VerfRP zum Ausdruck gebracht. Danach ist die Republik Polen ein demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze gesellschaftlicher Gerechtigkeit verwirklicht. Dieser Kategorie wurden nur diejenigen Teile 212 B. Pieroth/B. Schlink/Th. Kingreen/R. Poscher, Staatsrecht II. Grundrechte, 30. Auflage, 2014, Rn. 1157. 213 Art. 31 Abs. 1 VerfRP lautet: „Die Freiheit des Menschen steht unter dem Schutz des Rechtes.“ 214 Art. 41 Abs. 1 VerfRP lautet: „1. Die Unverletzlichkeit und die Freiheit der Person werden jedermann gewährleistet. Eine Entziehung oder Einschränkung der Freiheit ist nur aufgrund und gemäß dem im Gesetz bestimmten Verfahren zulässig. 2. Jede Person, der die Freiheit nicht aufgrund eines gerichtlichen Urteils entzogen worden ist, hat das Recht auf Berufung bei Gericht, um die Legalität der Entziehung unverzüglich feststellen zu lassen. Über die Freiheitsentziehung ist die Familie oder die vom Festgehaltenen genannte Person unverzüglich zu benachrichtigen. 3. Jeder Festgenommene soll unverzüglich und in einer für ihn klaren Form von der Ursache der Festhaltung unterrichtet werden. Innerhalb von achtundvierzig Stunden nach der Festnahme soll er dem Gericht zur Verfügung überwiesen werden. Der Festgenommene ist freizulassen, wenn ihm nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seiner Überstellung an die Entscheidungsgewalt des Gerichts ein Gerichtsbeschluß über die vorläufige Inhaftierung gleichzeitig mit der Darstellung der Beschuldigung zugestellt worden ist. (. . .).“ 215 Beschluss des BVerfG vom 25.10.1966, 2 BvR 506/63, BVerfGE 20, 323, 331; Beschluss des BVerfG vom 26.2.1969, 2 BvL 15/68, BVerfGE 25, 269, 285; Beschluss des BVerfG vom 17.12.1975, 1 BvL 24/75, BVerfGE 41, 121, 125; Urteil des BVerfG vom 21.6.1977, 1 BvL 14/76, BVerfGE 45, 187, 228; Beschluss des BVerfG vom 17.1.1979, 2 BvL 12/77, BVerfGE 50, 205, 214. 216 Beschluss des BVerfG vom 26.2.1969, 2 BvL 15/68, 2 BvL 23/68, BVerfGE 25, 269, 286.

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der Begründung zugeordnet, in denen das Gericht ausdrücklich auf diesen Begriff Bezug nimmt. Diese Einschränkung beruht darauf, dass der Begriff des Rechtsstaatsprinzips in beiden Rechtsordnungen keine fest umrissenen Konturen hat. Gebot des rechtlichen Gehörs: In dieser Kategorie werden diejenigen Begründungsaspekte zusammengefasst, die das Recht des Angeklagten gewährleisten, sich zu den Prozessumständen zu äußern. Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat jedermann vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör. Damit ist gemeint, dass dem Beschuldigten bzw. dem Angeklagten vor Erlass einer Entscheidung die Möglichkeit eröffnet wird, sich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zur Sache zu äußern.217 In der polnischen Rechtsordnung wird dieses Recht aus Art. 45 Abs. 1 VerfRP 218 abgeleitet.219 Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit: Diese Rechte werden im GG in Art. 5 Abs. 1 gewährleistet. In der polnischen Rechtsordnung wird die Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit von Art. 54 Abs. 1 VerfRP 220 garantiert. Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit sind von Art. 14 VerfRP 221 geschützt. Unschuldsvermutung: Dieses Prinzip folgt als „Verbot der Desavouierung des Verfahrens“ nach Auffassung des BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip.222 In der polnischen Verfassung ist die Unschuldsvermutung in Art. 42 Abs. 3 VerfRP geregelt, wonach jedermann als unschuldig gilt, solange seine Schuld nicht durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil festgestellt worden ist. Art. 5 § 1 KPK formuliert diesen Grundsatz ausdrücklich. In dubio pro reo: Dem Grundsatz werden in der deutschen Rechtsordnung zwei Bedeutungen zugemessen: „Nur der schuldige Angeklagte soll bestraft werden (Schuldgrundsatz), und ferner soll die Schuld dem Angeklagten in einem prozessordnungsgemäßen Verfahren nachgewiesen werden (Rechtsstaatsgrundsatz).“ 223 Er wird aus der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK abgelei217 B. Pieroth/B. Schlink/Th. Kingreen/R. Poscher, Staatsrecht II. Grundrechte, 30. Auflage, 2014, Rn. 1176 f. 218 Art. 45 Abs. 1 VerfRP lautet: „Jedermann hat das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor dem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen Gericht.“ 219 Urteil des Verfassungsgerichts vom 11.6.2002, SK 5/02, OTK-A 2002, Nr. 4, Pos. 41; Urteil des Verfassungsgerichts vom 16.1.2006, SK 30/05, OTK-A 2006, Nr. 1, Pos. 2. 220 Art. 54 Abs. 1 VerfRP lautet: „Die Freiheit, Anschauungen zu äußern sowie Informationen zu beschaffen oder zu verbreiten, wird jedermann gewährleistet.“ 221 Art. 14 VerfRP lautet: „Die Republik Polen gewährleistet die Freiheit der Presse und anderer Mittel der gesellschaftlichen Kommunikation.“ 222 Beschluss vom 19.7.1967, 2 BvR 489/66, BVerfGE 22, 254, 265. 223 W. Beulke, Strafprozessrecht, 12. Auflage, 2012, Rn. 25.

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tet.224 Obwohl der In-dubio-pro-reo-Grundsatz in § 268 StPO nicht unmittelbar erwähnt wird, kommt diese Vorschrift als Rechtsgrundlage auch zur Anwendung.225 In der polnischen Rechtsordnung wird der In-dubio-pro-reo-Grundsatz ebenfalls aus der Unschuldsvermutung abgeleitet (Art. 42 Abs. 3 VerfRP). Explizit spiegelt diesen Grundsatz Art. 5 § 2 KPK wider. Nemo tenetur: Nach diesem Grundsatz ist der Beschuldigte nicht verpflichtet, an seiner eigenen Überführung mitzuwirken. Dieser Grundsatz wird in Deutschland aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitet. Er kommt in § 136 StPO (die Wahlmöglichkeit des Beschuldigten, auszusagen oder die Einlassungen zu verweigern) zum Ausdruck. In der polnischen Rechtsordnung regelt den Grundsatz nemo tenetur der Art. 74 § 1 KPK226. Recht auf Verteidigung: Sowohl im deutschen als auch im polnischen Strafprozessrecht gehört das Recht auf Verteidigung zu den wichtigsten Verfassungsgrundsätzen. In der polnischen Verfassung kommt dieses Recht in Art. 42 Abs. 2 VerfRP 227 vor. Rechtssicherheit: Unter dieses Kriterium werden diejenigen Argumente subsumiert, die vor allem die Stabilität der Rechtsordnung, ihre Vorhersehbarkeit und Kontinuität berücksichtigen. Die Rechtssicherheit ist ein wesentliches Element des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsgebots228 und ist, auch wo sie durch gerichtliche Verfahren herbeigeführt werden soll, binnen angemessener Frist zu verwirklichen.229 Gerechtigkeitsgrundsatz: Die Definition dieses Kriteriums bereitet besondere Probleme, weil an sich sowohl der BGH als auch das Oberste Gericht in jeder ihrer Entscheidungen die Verwirklichung der Gerechtigkeit verfolgen, d. h., sie verwenden ganz implizit – zumindest stillschweigend – den Gerechtigkeitsgrundsatz als Argumentationstopos. Um dieses Kriterium zu operationalisieren, muss es dementsprechend eng gefasst werden. Daher werden unter dieser Kategorie 224

K. Haller/K. Conzen, Das Strafverfahren, 7. Auflage, 2014, Rn. 38. Ebenda. 226 Art. 74 § 1 KPK lautet: „Der Angeklagte hat weder die Pflicht, seine Unschuld zu beweisen, noch Beweise zur Verfügung zu stellen, die für ihn ungünstig sind.“ Eigene Übersetzung. 227 Art. 43 Abs. 2 VerfRP lautet: „Jedermann, gegen den ein Strafverfahren geführt wird, hat das Recht auf Verteidigung in allen Abschnitten des Verfahrens. Insbesondere kann er einen Verteidiger wählen oder gemäß den im Gesetz festgelegten Grundsätzen einen Pflichtverteidiger in Anspruch nehmen.“ 228 Beschluss des BVerfG vom 20.4.1982, 2 BvL 26/81, BVerfGE 60, 253, 267 m.w. N.; B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 73. Lfg., 2014, Art. 20 VII. Rn. 27, 50; F. E. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Band 1, 6. Auflage, 2012, Art. 20 Rn. 40. 229 BVerfGE 60, 253, 269. 225

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nur diejenigen Elemente der Begründungen von Entscheidungen erfasst, in denen das Gericht ausdrücklich die Gerechtigkeit erwähnt. Das Gerechtigkeitsprinzip wird in beiden Rechtsordnungen aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet.230 Grundsatz der materiellen Wahrheit: Dieser Grundsatz wird in der polnischen Literatur aus Art. 2, Art. 7 und Art. 45 Abs. 1 VerfRP abgeleitet.231 Unverletzlichkeit der Wohnung: Dieses Grundrecht ist in Deutschland im GG in Art. 13 Abs. 1 geregelt. Die Unverletzlichkeit der Wohnung gewährleistet in der polnischen Rechtsordnung Art. 50 VerfRP. Instanzenzug: Nach Art. 176 VerfRP umfasst das Gerichtsverfahren zumindest zwei Instanzen. Nullum crimen, nulla poena: Diesen Grundsatz sehen Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 42 Abs. 2 VerfRP 232 vor. Recht auf unabhängigen Richter: Gemäß Art. 45 Abs. 1 VerfRP hat jedermann das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor dem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen Gericht. Das deutsche GG sieht eine ähnliche Vorschrift nicht vor. Gemäß Art. 97 Abs. 1 GG sind die Richter allerdings unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. Art. 97 Abs. 1 GG entspricht Art. 178 Abs. 1 VerfRP 233. Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Dieses Recht wird in der deutschen Rechtsordnung aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet. Nach Art. 51 Abs. 4 VerfRP hat jedermann einen Anspruch auf Berichtigung oder Löschung falscher, unvollständiger oder in widerrechtlicher Weise beschaffter Informationen. Recht auf rechtlichen Schutz des Privat- und Familienlebens: Dieses Recht fällt in der deutschen Rechtsordnung in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. Das Recht wird in der VerfRP in Art. 47 234 ausdrücklich erwähnt. 230 Beschluss des BVerfG vom 24.7.1957, 1 BvL 23/52, BVerfGE 7, 89; Urteil des BVerfG vom 21.6.1977, 1 BvL 14/76, BVerfGE 45, 187; Beschluss des BVerfG vom 14.1.1987, 1 BvR 1052/79, BVerfGE 74, 129; Beschluss des BVerfG vom 24.10.1996, 2 BvR 1851/94, 2 BvR 1853/94, 2 BvR 1875/94, 2 BvR 1852/94, BVerfGE 95, 96; Urteil des Verfassungsgerichts vom 12.4.2000, K 8/98, OTK 2000, Nr. 3, Pos. 87; Urteil des Verfassungsgerichts vom 11.6.2002, SK 5/02, OTK-A 2002, Nr. 4, Pos. 41. 231 S. Waltos´ /P. Hofman ´ ski, Proces karny, 11. Auflage, 2013, Rn. 361. 232 Art. 42 Abs. 2 VerfRP lautet: „Strafrechtlich verantwortlich gemacht werden kann nur, wer eine Tat begeht, die durch ein während deren Begehung geltendes Gesetz mit Strafe bedroht ist. Dieser Grundsatz hindert nicht daran, eine Tat zu bestrafen, die während der Begehung eine Straftat im Sinne des Völkerrechts war.“ 233 Art. 178 Abs. 1 VerfRP lautet: „Bei der Ausübung ihres Amtes sind Richter unabhängig und nur der Verfassung und den Gesetzen unterworfen.“ 234 Art. 47 VerfRP lautet: „Jedermann hat das Recht auf rechtlichen Schutz des Privat- und Familienlebens, der Ehre und des guten Rufes sowie das Recht, über sein persönliches Leben zu entscheiden.“

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Teil 2: Empirische Analysen

Recht auf freie Kommunikation: Nach Art. 49 VerfRP wird die Freiheit der Kommunikation gewährleistet. Grundsatz der Anfechtbarkeit: Diesen Grundsatz sieht die VerfRP in Art. 78235 ausdrücklich vor. Berufsfreiheit: Dieses Grundrecht gewährleistet Art. 12 Abs. 1 GG. Nach Art. 65 Abs. 1 VerfRP hat jedermann das Recht auf freie Wahl und Ausübung des Berufes sowie auf freie Wahl des Arbeitsplatzes. b) Teleologische Analysekategorien Die teleologischen Topoi bereiten besondere Probleme, weil es keineswegs einfach ist, festzustellen, ob die Gerichte durch eine bestimmte Argumentation die Verfolgung eines Ziels zum Ausdruck bringen wollen. Deshalb wird in dieser Untersuchung nur dann eine bestimmte Argumentation den subjektiven bzw. objektiven teleologischen Topoi zugeordnet, wenn das Gericht den Ausdruck „Sinn und Zweck“ (Deutschland) oder funktionelle Auslegung (Polen) sowie ratio legis (Deutschland und Polen) bzw. einen ähnlichen Ausdruck verwendet, der keine Bedenken darüber bestehen lässt, ob das Gericht bestimmte Ziele bei der Auslegung berücksichtigt. Diese Einschränkung muss zwar viele Zweifelsfälle außer Acht lassen; sie vermag jedoch die Objektivität der Erhebung deutlich zu steigern. Subjektive teleologische Topoi: In diese Kategorie fallen diejenigen Teile der Begründungen, die bei der Feststellung des Zieles einer Vorschrift, eines Begriffes oder eines Gesetzes den Bezug zu den Entstehungsmaterialien (Referentenentwurf des Ministeriums, Regierungsentwurf etc.) aufweisen. Objektive teleologische Topoi: In diese Kategorie gehören diejenigen Teile der Begründungen, die den Zweck einer Vorschrift, eines Begriffs oder eines Gesetzes unabhängig von den Entstehungsmaterialien, d. h. objektiv, rekonstruieren. Das Ziel der Vorschrift mag dabei aus Wortlaut, Systematik etc. entnommen werden oder auch vom Gericht lediglich deklariert werden. c) Historische Analysekategorien Vorgeschichte: Dieser Topos wird nur dann berücksichtigt, wenn das Gericht Vorgängerregelungen in Betracht zieht, um darin eine Stütze für seine Argumentation zu finden.

235 Art. 78 VerfRP lautet: „Beide Parteien haben das Recht, Entscheidungen und Beschlüsse anzufechten, die im ersten Rechtszug getroffen worden sind. Ausnahmen von dieser Regel sowie die Verfahrensweise regelt das Gesetz.“

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Genetische Topoi: In dieser Kategorie werden diejenigen Teile der Begründungen erfasst, die sich auf die Entstehungsmaterialien einer Vorschrift bzw. eines Gesetzes (Referentenentwurf des Ministeriums, Regierungsentwurf etc.) beziehen. Unter diese Kategorie fallen automatisch auch alle subjektiven teleologischen Topoi, da sie auch Bezug auf die Entstehungsmaterialien nehmen. d) Außergesetzliche Wertungsmaßstäbe In diesem Katalog werden weitere Topoi erfasst, die keinen direkten Bezug zum gesetzlichen Recht aufweisen. Billigkeit/Vernunft: In diese Kategorie fallen die Topoi, die sich im Allgemeinen auf die Billigkeit oder die Vernunft beziehen. Hierher gehören auch diejenigen Topoi, die das Auslegungsergebnis in Hinblick auf seine Praktikabilität überprüfen. Absurdes Ergebnis: Dieser Topos ist einschlägig, wenn das Gericht ein gesamtes Auslegungsergebnis bzw. eine Erwägung verwirft, weil sie aus seiner Sicht zu unakzeptablen Konsequenzen führen. Außerrechtswissenschaftliches Fachwissen: In diese Kategorie fallen diejenigen Teile der Urteilsbegründung, in denen sich das Gericht bei der Auslegung eines Begriffes auf fachbezogenes Wissen (außerhalb der Rechtswissenschaft) beruft. Als typisches Beispiel kann psychiatrisches Wissen genannt werden. Prozessökonomie: Dieser Topos ist vom Beschleunigungsgrundsatz abzugrenzen, wobei beide Topoi Berührungspunkte aufweisen. Unter dem Topos der Prozessökonomie werden diejenigen Teile der Begründungen erfasst, die vor allem den gerichtlichen Arbeitsaufwand in den Vordergrund stellen. Ressourcen der Justiz: In diese Kategorie fallen diejenigen Teile der Entscheidungsbegründungen, die sich auf die Kapazität der Justizorgane beziehen. Wesen der Sache: Dieser Topos wird nur dann berücksichtigt, wenn das Gericht ihn explizit verwendet. Autorität der Rechtspflege: Dieser Topos wird nur dann berücksichtigt, wenn das Gericht ihn explizit verwendet. Akzeptanz der bisherigen Auslegung durch den Gesetzgeber/Unterbleiben des Tätigwerdens des Gesetzgebers: In dieser Kategorie werden diejenigen Teile der Entscheidungsbegründung erfasst, in denen das Gericht anführt, dass der Gesetzgeber die bisherige herrschende Auslegung nicht beanstandet hat, indem er keine Gesetzesänderung vorgenommen hat, obwohl bei der Neufassung oder der Änderung des betreffenden Gesetzes die Gelegenheit dazu gegeben war. Grundsatz des rationalen Gesetzgebers: Dieser Topos kommt – soweit ersichtlich – nur in der polnischen Rechtsprechung zur Anwendung. Ihm liegt die An-

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Teil 2: Empirische Analysen

nahme zugrunde, dass sich das Gesetzgebungsverfahren auf rationale Prämissen stützt. Mit anderen Worten geht es um die Annahme, dass der Gesetzgeber rational gehandelt hat und diese Rationalität bei der Auslegung des Gesetzes berücksichtigt werden muss. Es fällt auf, dass sich dieser Topos mit den Topoi „Billigkeit/Vernunft“ und „Rationalität“ überschneidet. Allen diesen Topoi liegt der Gedanke der Rationalität zugrunde. Um den Grundsatz des „rationalen Gesetzgebers“ von diesen Topoi abzugrenzen, wird er in die gesonderte Kategorie des „Grundsatzes des rationalen Gesetzgebers“ nur dann aufgenommen, wenn er vom Gericht explizit dementsprechend benannt wird. Praxis: In diese Kategorie fallen diejenigen Teile der Urteilsbegründungen, die sich auf die bisherige oder die zukünftige Gerichtspraxis beziehen. Dazu gehören auch diejenigen Passagen der Begründung, die sich auf die Lebenserfahrung beziehen. Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen: Dieser Topos wurde vom Bundesverfassungsgericht entwickelt. Er wird zur Untermauerung von Strafverfolgungsinteressen verwendet.236 Grundsätzlich steht er Interessen und Rechten von Beschuldigten und Zeugen im Strafverfahren gegenüber. Dieses Argument wird meistens aus dem Rechtsstaatsprinzip oder auch aus dem Gewaltmonopol des Staates abgeleitet. Die Rechtsprechung spricht manchmal anstatt der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ auch von der „Wirksamkeit“, „Effektivität“ oder auch „Effizienz“ der Strafrechtspflege. Dabei geht die geänderte Wortwahl allerdings nicht mit einem Bedeutungswandel einher.237 Rationalität: In dieser Kategorie werden diejenigen Teile der Entscheidungsbegründungen aufgeführt, in denen der Begriff „Rationalität“ zur Anwendung kommt. Sicherheit der Bürger: In diese Kategorie fallen diejenigen Teile der Entscheidungsbegründung, die sich auf die Sicherheit der Bürger beziehen. Ökonomische Aspekte: In diese Kategorie werden diejenigen Teile der Entscheidungsbegründung eingeordnet, die sich auf die finanziellen Konsequenzen für den Staat oder für andere Rechtssubjekte beziehen. Der Topos „Prozessökonomie“ wird in dieser Kategorie nicht berücksichtigt. Humanitäre Gesichtspunkte: In diese Kategorie werden diejenigen Teile der Entscheidungsbegründung aufgenommen, die sich auf die Humanität im Allgemeinen berufen. 236 Gemeinhin gilt eine Entscheidung des BVerfG zum Zeugnisverweigerungsrecht von Sozialarbeitern (Beschluss vom 19.7.1972, 2 BvL 7/71, BVerfGE 33, 367, 383) als Geburtsstunde des Arguments. 237 Näher dazu: W. Hassemer, Die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ – ein neuer Rechtsbegriff?, StV 6/1982, S. 275 ff.; H. Landau, Die Pflicht des Staates zum Erhalt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, NStZ 3/2007, S. 121.

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Folgen: In diese Kategorie fallen diejenigen Teile der Entscheidungsbegründungen, die auf rechtliche, ökonomische, soziale und andere Folgen einer Erwägung bzw. des Auslegungsergebnisses Bezug nehmen.238 Der Topos des „absurden Ergebnisses“ wurde in dieser Kategorie nicht berücksichtigt.

V. Qualitative und quantitative Analyse der Topoi Im folgenden Abschnitt werden nun die ausgewählten Topoi aus einer quantitativen und einer qualitativen Perspektive analysiert. Dabei wird in diesem Teil der Untersuchung erörtert, wie häufig die Gerichte beider Länder die jeweiligen Topoi verwenden und welche Bedeutung sie diesen Topoi zumessen. 1. Formalistische Analysekategorien a) Sprachliche Analysekategorien Die Ermittlung der sprachlichen Topoi bereitete in der vorliegenden Untersuchung besondere Schwierigkeiten. Erst die mehrmalige (vergleichende) Inhaltsanalyse der in Betracht gezogenen Entscheidungen ermöglichte die Feststellung bestimmter Topoi, die die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Rechtsprechung beider Gerichte erkennen lassen. Als wenig sinnvoll erwies sich dabei die Methode der Ermittlung der Verweise auf bestimmte Vorschriften, da eigentlich in fast jeder Entscheidung des BGH und des OG die Verwendung von Floskeln wie z. B. „nach § (. . .)“ bzw. „nach Art. (. . .)“ oder einfach die Erwähnung des entsprechenden Paragraphen bzw. Artikels vorhanden sind. Daher ist davon auszugehen, dass die gesetzlichen Grundlagen einen festen Bestandteil der Auslegungs- und der Argumentationskultur beider Gerichte darstellen. Diese Feststellung ist offenkundig sehr allgemein und aus ihr kann nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass im Umgang mit dem Gesetzestext keine Unterschiede zwischen beiden Gerichten bestehen. Um diese jedoch zeigen zu können, musste eine ausdifferenzierte Begrifflichkeit entwickelt werden, die bestimmte Facetten der Verwendung der sprachlichen Topoi beider Gerichte überhaupt erst deutlich werden lässt. Die Ergebnisse dieser vertieften Inhaltsanalyse spiegelt die folgende Tabelle wider, wobei sie allerdings sicherlich nicht alle Dimensionen derjenigen Argumentationen zeigt, die an den Gesetzestext anknüpfen. 238 Siehe dazu: D. Grimm, Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe: Zur Argumentationspraxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in: G. Teubner (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995, S. 139 ff.; M. Deckert, Zur Einführung: Die folgenorientierte Auslegung, JuS 6/1995, S. 480; W. Hassemer, Über die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze, in: FS für Coing, Band 1, 1982, S. 493 ff.; G. Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981; Th. W. Wälde, Juristische Folgenorientierung, 1979; Th. Sambuc, Folgenerwägung im Richterrecht, 1977; zu der Argumentationspraxis des BVerfG siehe: D. Grimm, Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe.

220

Teil 2: Empirische Analysen Tabelle 3 Sprachliche Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG Sprachliche Topoi Eindeutigkeit

BGH

OG

6

26

51

42

Wortlaut (umgangssprachlich)

4

5

Wortlaut (Legaldefinitionen)

1

1

68

39

1

0

54

52

0

9

Wortlaut

Wortlaut (juristisch) Wortlaut (Fachsprache) Wortlautzitat Wortlaut unter Verwendung eines Wörterbuches

Die obige Tabelle fördert wesentliche Erkenntnisse ans Licht und eröffnet die Möglichkeit zur Aufstellung neuer Thesen. Zunächst gewinnt die These an Plausibilität, die schon bei den Analysen zu den methodischen Äußerungen des BGH und des OG im vorangehenden Abschnitt (siehe Pkt. D. I.) aufgestellt wurde, und zwar dass die Kategorie der „Eindeutigkeit“ beiden Gerichten nicht fremd ist. Diese Kategorie wird jedoch wesentlich häufiger in der Rechtsprechung des OG verwendet. Dieses Gericht nahm in 26 Entscheidungen auf diesen Topos Bezug (in der Stichprobe also fast dreimal so häufig wie der BGH), was die These stärkt, dass dieser Topos einen wichtigen Gesichtspunkt im Entscheidungshorizont des OG bildet. Aus der dargestellten Tabelle geht auch hervor, dass der BGH im Vergleich zum OG öfter mit Definitionen argumentiert, die in seiner bisherigen Rechtsprechung und/oder in der Lehre entwickelt wurden (Wortlaut juristisch). Dass der BGH in fast zwei Dritteln seiner Entscheidungen diese Argumentationsfigur verwendet, scheint die These zu bestätigen, dass diese Argumentationsfigur eine außerordentlich wichtige Rolle in der Rechtsprechung des BGH spielt. Daraus geht auch hervor, dass viele Begriffe für den BGH feste und stabile Bedeutungen haben, die für die Lösung der problematischen Fälle nützlich sein können. Die Inhaltsanalyse ergab ebenfalls, dass dieser Topos in einer engen Beziehung mit den Selbstreferenzen steht, was unter Pkt. d) aa) noch ausführlicher behandelt wird. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den Argumentationskulturen der beiden Gerichte liegt in der Verwendung von Wörterbüchern. Sie wurden in 9 Entscheidungen des OG in Anspruch genommen. Demgegenüber scheint diese Erkenntnisquelle des sprachlichen Wissens für den BGH keine Rolle zu spielen. Dass er in keiner Entscheidung auf Wörterbücher Bezug genommen hat, muss eigentlich wegen der besonderen Rolle des Bestimmtheitsgrundsatzes im Straf-

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

221

recht verwundern. Ob der BGH auch in anderen Entscheidungen auf diese Erkenntnisquelle verzichtet, wird unten im Punkt dd) näher untersucht. Die Tabelle zeigt aber auch viele Gemeinsamkeiten in den Begründungen beider Gerichte. Sowohl der BGH als auch das OG gewinnen die Überzeugungskraft ihrer Entscheidungen sehr oft aus der ausdrücklichen Bezugnahme auf den Wortlaut. Der BGH hat in 51 seiner Entscheidungen den Ausdruck „Wortlaut“ erwähnt und das OG hat an die Worte „tres´c´“ und „brzmienie“ in 42 Entscheidungen angeknüpft. Relativ oft zitieren die Gerichte auch in Anführungszeichen teilweise oder vollständig die betreffenden Vorschriften. Dies bestätigt nachdrücklich die bereits aufgestellte These, dass die Gesetze in den Begründungen beider Gerichte präsent sind. Demgegenüber spielen die ausdrücklichen Verweise auf den Wortlaut, der auf der Grundlage der Umgangssprache oder Fachsprache definiert wird, in den Begründungen beider Gerichte quantitativ eine verhältnismäßig geringe Rolle. Dasselbe trifft für die Bezugnahme auf Legaldefinitionen zu. Hier muss jedoch im Hinblick auf die deutsche Rechtsordnung der Umstand berücksichtigt werden, dass der deutsche Gesetzgeber vom Mittel der Legaldefinition nur zurückhaltend Gebrauch macht und viele Fragen der Praxis überlässt.239 Im Folgenden sollen die ausgewählten Topoi näher analysiert und interpretiert werden. aa) Eindeutigkeit Die relativ hohe Anzahl von Entscheidungen (26), in denen sich das OG auf die Eindeutigkeitsformel beruft, muss verwundern, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass zu dieser Instanz eher die problematischen Fälle gelangen. Es scheint auch so zu sein, dass die Einwände gegen diesen Topos, die in der polnischen Literatur formuliert werden, das OG nicht dazu ermutigen, von diesem höchst umstrittenen Argument Abstand zu nehmen. Es reicht aus, die Auffassung von Łe˛towska (eine renommierte Professorin und ehemalige Richterin am Verfassungsgericht) zu erwähnen, die die Bezugnahme auf die angebliche Eindeutigkeit einer Vorschrift als die arbiträre Bevorzugung einer von mehreren Auslegungsmöglichkeiten ansieht.240 Trotzdem beruft sich das OG auf die Eindeutigkeit einer Vorschrift bzw. eines Begriffes, wobei es allerdings wichtig ist zu 239 E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 45. Die Zurückhaltung des deutschen Gesetzgebers bei der Formulierung von Legaldefinitionen könnte dafür sprechen, dass der Gesetzgeber den Rechtsanwender nicht so stark binden will, um ihm genug Spielraum für die Entwicklung optimaler Lösungen für künftige Auslegungsprobleme zu lassen. Der Nachweis dieser These bedarf allerdings offenkundig weiterer Untersuchungen. Zum Ungang mit den Legeldefintionen siehe U. Scheffler, Von Pilzen, die keine Pflanzen, von Kolibris, die Dinosaurier, und von Walen, die Fische sind, in: FS für Puppe, 2011, S. 237 ff. 240 E. Łe ˛towska, Kilka uwag o praktyce wykładni, KPP 1/2002, S. 52.

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Teil 2: Empirische Analysen

bemerken, dass diese Argumentationsfigur in der Mehrheit der betreffenden Entscheidungen eher eine unterstützende Rolle in den Argumentationsketten spielt und es nur selten als entscheidendes Argument zur Anwendung kommt. Im Folgenden sollen einige ausgewählte Fälle des OG näher analysiert werden. OG Fall 1 Im Beschluss (Postanowienie) vom 4.7.2007241 stand die Frage im Mittelpunkt, ob das Gericht bei der Bildung einer neuen Gesamtstrafe mit dem Höchstmaß an die zuvor aufgelösten Gesamtstrafen oder nur an das Höchstmaß der verhängten Strafen, aus denen die Gesamtstrafe gebildet wurde, gebunden ist. Im Zentrum der Auslegung stand Art. 86 § 1 KK242, der die Grenzen der Gesamtstrafe festlegt. Danach darf die Gesamtstrafe die Höhe der höchsten der von den einzelnen Straftaten verhängten Einzelstrafen nicht unterschreiten und die Summe der Einzelstrafen nicht überschreiten. In dem anhängigen Verfahren wurden gegen den Verurteilten zunächst zwei Gesamtstrafen und zusätzlich drei Freiheitsstrafen verhängt. Danach wurden die erwähnten Gesamtstrafen aufgelöst und das Gericht hat auf der Grundlage des Art. 86 § 1 KK eine neue Gesamtstrafe verhängt, die die Summe der aufgelösten Gesamtstrafen und der Einzelstrafen überstieg, was den Verurteilten offensichtlich schlechter stellte als zuvor. Das OG akzeptierte diese Auffassung, weil sie aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 86 § 1 KK hervorgehe. Dieses Argument wird in der Begründung besonders betont, was nicht überraschen kann, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass Art. 86 § 1 KK in der Tat über „Einzelstrafen“ spricht und nicht über „Gesamtstrafen“ als Maßstab für die Verhängung einer Gesamtstrafe. Das OG setzte sich auch umfangreich mit teleologischen Argumenten auseinander, die es gleichwohl im Ergebnis verworfen hat. Danach liegt die ratio legis der Gesamtstrafe vor allem in der Herbeiführung einer Situation für den Verurteilten, die günstiger ist als die Summe der bisher verhängten Gesamt- und Einzelstrafen. Dieser Auffassung liegt die Annahme zugrunde, dass die verhängten Gesamtstrafen auch nach ihrer Auflösung bei der Verhängung der neuen Gesamtstrafe berücksichtigt sein sollten. Nach der Ansicht des OG lässt sich jedoch dem Wortlaut des Art. 86 § 1 KK nicht entnehmen, dass er immer zu Gunsten des Verurteilten wirken soll, denn er lässt ausdrücklich auch die Kumulation der verhängten Strafen zu. Außerdem kann die Gesamtstrafe nicht als eine außerordentliche Strafmilderung angesehen werden. Sie muss im Rahmen der bisher verhängten Strafen unter Be241

V KK 419/06, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 46. Art. 86 § 1 KK a. F. lautet: „Erkennt das Gericht auf eine Gesamtstrafe, darf diese nicht niedriger als die höchste für eine von den einzelnen Straftaten zugemessene Einzelstrafe und nicht höher als die Summe der Einzelstrafen sein; sie darf jedoch bei der Geldstrafe fünfhundertvierzig Tagessätze, bei der Freiheitsbeschränkungsstrafe achtzehn Monate und bei der Freiheitsstrafe fünfzehn Jahre nicht überschreiten.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 242

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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rücksichtigung der Strafzumessungsdirektiven bemessen werden. Schließlich hat das OG seine Ausführungen auch mit methodischen Argumenten untermauert, die die Bedeutung der grammatischen Auslegungsmethode betonen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Eindeutigkeitsargument in dieser Entscheidung eine entscheidende Rolle gespielt hat. Der eindeutige Wortlaut des Art. 86 § 1 KK kann nach der Ansicht des OG jedenfalls durch teleologische Argumente nicht umgegangen werden. OG Fall 2 Ein weiteres Beispiel, in dem das „Eindeutigkeitsargument“ in der Rechtsprechung des OG in den Vordergrund gestellt wurde, lässt sich dem Beschluss (Postanowienie) vom 11.12.2006243 entnehmen. Hier musste das OG im Rahmen eines Kassationsverfahrens die Frage beantworten, ob ein Schöffe, der 75 Jahre alt ist, noch im Rahmen der Besetzung eines Gerichtes berufen werden kann. Das Problem entstand wegen einer Änderung der Rechtslage. Nach der alten Rechtslage spielte das Alter bei der Berufung zum Schöffen keine Rolle. Nach der neuen Rechtslage konnte zum Schöffen nur eine Person gewählt werden, die nicht über 70 Jahre alt ist. Vor dem Hintergrund dieser Änderung der Rechtslage entstand das Problem mit den Schöffen, die 70 Jahre alt bzw. älter sind und deren Amtszeit an sich noch weiter läuft. Insbesondere stellte sich hier die Frage, ob sie noch zur Besetzung eines Gerichtes berufen werden können. Die Besetzung eines Gerichtes regelte Art. 167 § 1 des Gesetzes über die Struktur der ordentlichen Gerichtsbarkeit 244, nach dem zur Besetzung eines Gerichtes unter anderem ein Schöffe dann nicht berufen werden kann, wenn Umstände bekannt wurden, die es nicht erlaubt haben, ihn zum Schöffen zu wählen.245 Es entstand das Problem, welches Gesetz maßgebend ist: Das Gesetz, das zur Zeit der Berufung der Person zum Schöffen gegolten hatte oder das neue Gesetz, das die Wahl einer Person, die 70 Jahre alt ist, ausschließt. Im Ergebnis nahm das OG an, dass die Vorschrift des Art. 167 § 1 des Gesetzes über die Struktur der ordentlichen Gerichtsbarkeit eindeutig formuliert ist und demzufolge dasjenige Gesetz maßgebend ist, das zur Zeit der Wahl einer Person zum Schöffen gegolten hat. Die Behauptung der Eindeutigkeit begründet das OG mit dem Hinweis auf die Zeitform (Perfekt), die der Gesetzgeber in Art. 167 § 1 des Gesetzes über die Struktur der ordentlichen Gerichtsbarkeit verwendet hat. Es fällt auf, dass in dieser Entscheidung eine weitgehende Reduzierung der Auslegungskriterien erfolgte; das OG nahm auf keine 243

V KK 131/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 41. Ustawa z dnia 27 lipca 2007 r. Prawo o ustroju sa˛dów powszechnych, Dz. U. 2015 Pos. 133. 245 Art. 167 § 1 des Gesetzes über die Struktur der ordentlichen Gerichtsbarkeit lautet: „Im Laufe seiner Amtszeit wird ein Schöffe zur Erfüllung seiner Verpflichtungen nicht berufen, falls Umstände bekannt geworden sind, die es nicht erlaubt hätten, ihn zum Schöffen zu wählen, (. . .).“ Eigene Übersetzung. 244

224

Teil 2: Empirische Analysen

systematischen, insbesondere keine verfassungsrechtlichen246, oder funktionellen (in der polnischen Terminologie) Gesichtspunkte Bezug. Diese Entscheidung ist zugleich wiederum ein deutlicher Beweis für die These, dass die sprachliche Auslegungsmethode die entscheidende Rolle in der Rechtsfindung und bei der Begründung der Entscheidungen in der Rechtsprechung des OG spielt. OG Fall 3 Von der Bedeutung des Eindeutigkeitsarguments in der Rechtsprechung des OG zeugt auch der Beschluss (Postanowienie) vom 27.2.2007247. In diesem Verfahren hatte das Berufungsgericht Zweifel, ob Art. 439 § 1 Pkt. 10 KPK248 zur Aufhebung eines Urteils führen sollte, wenn es in einem Verfahren erlassen wurde, in dem der Verurteilte, dem gemäß Art. 79 § 1 KPK249 ein Pflichtverteidiger obligatorisch beigeordnet werden muss, ohne einen Verteidiger gehandelt hat, obwohl das Gericht die Durchführung des Verfahrens von Anfang an in Kenntnis dessen angeordnet hat. Das OG nahm im Ergebnis an, dass der Wortlaut des Art. 439 § 1 Pkt. 10 KPK keine Zweifel daran lässt (er somit eindeutig ist), dass unter dem Begriff des „gerichtlichen Verfahrens“ im Sinne dieser Vorschrift nur die Hauptverhandlung und der Erlass der endgültigen Entscheidung verstanden werden soll. Den Zeitraum markieren dabei Art. 381 KPK250 und Art. 418 KPK.251 Da der Verurteilte in dieser Zeitspanne mit einem Pflichtverteidiger ge246 In diesem Zusammenhang stellte sich insbesondere die Frage, inwieweit das gefundene Ergebnis mit dem verfassungsrechtlichen Recht auf den gesetzlichen Richter vereinbar ist. 247 I KZP 38/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 14. 248 Art. 439 § 1 Pkt. 10 KPK lautet: „§ 1. Unabhängig von den Grenzen des Rechtsbefehls, den erhobenen Vorwürfen und dem Einfluss der Verfehlung auf den Inhalt der Entscheidung hebt das Rechtsmittelgericht die angegriffene Entscheidung auf, wenn: 10. der Angeklagte im gerichtlichen Verfahren in den Fällen des Art. 79 § 1 und 2, Art. 80 und Art. 517i § 1 keinen Verteidiger hatte oder der Verteidiger an den Handlungen nicht teilgenommen hat, bei denen er zur Teilnahme verpflichtet war.“ 249 Art. 79 § 1 KPK lautet: „§ 1. Im Strafverfahren muss der Angeklagte einen Verteidiger haben, wenn: 1. er minderjährig ist, 2. er taub, stumm oder blind ist, 3. ein begründeter Zweifel bezüglich seiner Zurechnungsfähigkeit besteht, 4. (aufgehoben).“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 250 Art. 381 KPK lautet: „Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache. Der Vorsitzende überprüft, ob alle Vorgeladenen erschienen sind und ob keine Hindernisse für die Verhandlung der Sache vorliegen.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 251 Art. 418 KPK lautet: „§ 1. Nachdem das Urteil unterschrieben worden ist, verkündet es der Vorsitzende öffentlich; während der Verkündung stehen alle Anwesenden mit Ausnahme des Gerichts. § 2. Die Angabe einer abweichenden Meinung wird zur Kenntnis gegeben und, wenn das Mitglied des Spruchkörpers, das die abweichende Meinung abgegeben hat, zustimmt, auch seinen Namen.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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handelt hat, kam eine Verletzung des Art. 439 § 1 Pkt. 10 KPK nicht in Betracht. Auch in dieser Entscheidung finden sich keine weiteren Argumente, die das gefundene Ergebnis unterstützen könnten. OG Fall 4 Auf die eindeutige Formulierung der Vorschriften beruft sich das OG auch im Beschluss (Postanowienie) vom 24.5.2007252. In diesem Fall stellte sich das Problem der Rückerstattung von Reisekosten eines Sachverständigen, der sein eigenes Kraftfahrzeug verwendete, um bei den Gerichtsverhandlungen zu erscheinen. Das OG lehnte den Erlass eines entsprechenden Beschlusses (Uchwała) ab, da die betreffenden Vorschriften diese Problematik „klar und eindeutig“ regeln. So einfach scheint dieser Fall jedoch nicht zu sein, wenn man die mehrmaligen Verweise auf andere Vorschriften berücksichtigt, die das OG in der Begründung vorgenommen hat. So verweist das entsprechende Dekret (Dekret z dnia 26 paz´dziernika 1950 r. o nalez˙nos´ciach s´wiadków, biegłych i stron w poste˛powaniu sa˛dowym253), das unter anderem die Ansprüche der Sachverständigen regelt, auf das Gerichtsverfassungsgesetz (Prawo o ustroju sa˛dów powszechnych254), das sich wiederum auf die Verordnung vom 19.12.2002 (Rozporza˛dzenie Ministra Pracy i Polityki Społecznej z dnia 19 grudnia 2002 r. w sprawie wysokos´ci oraz warunków ustalenia nalez˙nos´ci przysługuja˛cych pracownikowi zatrudnionemu w pan´stwowej lub samorza˛dowej jednostce budz˙etowej z tytułu podróz˙y słuz˙bowej odbywanej na obszarze kraju255) beruft. Aus diesen Vorschriften geht jedoch nach der Auffassung des OG „klar und eindeutig“ hervor, dass die Rückerstattung der Reisekosten mit dem eigenen Kraftfahrzeug nur dann zulässig sei, wenn der Arbeitgeber (in diesem Fall der Präsident des Gerichts) eine Genehmigung erteilt. Da der Sachverständige in dem behandelten Fall keine Genehmigung hatte, kam die Rückerstattung seiner Reisekosten nicht in Betracht. OG Fall 5 Das „Eindeutigkeitsargument“ kommt auch bei der Auslegung der Verfassung zur Anwendung. In dem Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007256 musste das OG (in der erweiterten Besetzung mit sieben Richtern) Stellung zu den unterschiedlichen Auffassungen der Senate des OG in Bezug auf die Zulässigkeit der An-

§ 3. Nach der Verkündung gibt der Vorsitzende oder eines der Mitglieder des Spruchkörpers mündlich die wichtigsten Gründe des Urteils an.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 252 I KZP 10/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 21. 253 Dz. U. 1950 Nr. 49, Pos. 445. 254 Dz. U. 2015 Pos. 133. 255 Dz. U. 2002 Nr. 236, Pos. 1990. 256 I KZP 21/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 1.

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Teil 2: Empirische Analysen

ordnung der Untersuchungshaft gegenüber einem Richter nehmen. Vor dem Hintergrund des Art. 181 der polnischen Verfassung257 und der entsprechenden Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes (Prawo o ustroju sa˛dów powszechnych258) entstanden Zweifel, ob die Zustimmung eines Gerichts, einen Richter zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen, auch den Freiheitsentzug zulässt oder das Gericht in jedem Fall zwei gesonderte Entscheidungen treffen muss. Die erweiterte Besetzung des OG entschied, dass das Gericht zwei Entscheidungen treffen muss, d. h. die Zustimmung, einen Richter zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen, eröffnet nicht die Möglichkeit, ihm auch seine Freiheit zu entziehen. Dafür spricht der Wortlaut des Art. 181259 der polnischen Verfassung, der durch die Worte „weder . . . noch . . .“ diese zwei Situationen differenziert und daher zwei Entscheidungen determiniert. Nur unter Verletzung der grammatischen Auslegungsmethode könnte man nach der Auffassung der erweiterten Besetzung des OG zu einem entgegengesetzten Ergebnis kommen. Es hätte zudem keine Gründe gegeben, die das Abweichen vom eindeutigen Ergebnis der grammatischen Auslegungsmethode zugelassen hätten. OG Fall 6 Keine Zweifel können auch im Hinblick auf die eindeutige Formulierung des Art. 35 § 3 KPK260 bestehen, wie das OG im Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007261 autoritativ festgestellt hat. Diese Vorschrift erlaubt nach der Auffassung des OG, sowohl gegen die Beschlüsse des Gerichts Beschwerde zu erheben, die seine Unzuständigkeit feststellen, als auch gegen solche Beschlüsse, die den Antrag auf Feststellung der Unzuständigkeit ablehnen. Obwohl das OG die Vorschrift des Art. 35 § 3 KPK für eindeutig hält, weist es auf die Formulierungen der anderen Vorschriften der KPK hin, in denen der Gesetzgeber ausdrücklich Einschränkungen bei der Erhebung der Beschwerden vorgesehen hat, wie z. B. in Art. 547 § 1 KPK262. In dieser Entscheidung sieht sich das OG allerdings nicht gehindert, das Eindeutigkeitsargument mit anderen Argumenten zu bestätigen. 257 Art. 181 VerfRP lautet: „Ohne vorherige Zustimmung des gesetzlich bestimmten Gerichtes darf ein Richter weder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden noch ist ein Freiheitsentzug zulässig. Ein Richter darf weder festgenommen noch verhaftet werden, es sei denn, er wird auf frischer Tat betroffen und die Festnahme ist zur Gewährleistung des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufes unentbehrlich. Von der Festnahme ist sofort der Präsident des örtlich zuständigen Gerichts zu unterrichten, der die sofortige Freilassung des Festgenommenen anordnen kann.“ 258 Dz. U. 2015 Pos. 133. 259 Art. 181 VerfRP lautet: „Ohne vorherige Zustimmung des gesetzlich bestimmten Gerichts darf ein Richter weder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden noch ist ein Freiheitsentzug zulässig. (. . .)“. 260 Art. 35 § 3 KPK lautet: „Gegen den Beschluß über die Zuständigkeit kann Beschwerde eingelegt werden.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 261 I KZP 25/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 13.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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OG Fall 7 In seinem Urteil vom 20.12.2006263 befasste sich das OG mit dem Problem, ob der in Art. 55 Abs. 1 des Gesetzes zur Verhütung der Rauschgiftsucht264 verwendete Begriff des „Beförderns durch das Gebiet der Republik Polen“ 265 auch die Fälle erfasst, in denen der Täter die Rauschmittel nur innerhalb des Gebiets der Republik Polen befördert, d. h. ohne Überquerung der Staatsgrenze. Das OG kam allein anhand der sprachlichen Analyse des Begriffes eines „Beförderns durch das Gebiet der Republik Polen“ (ohne Wörterbuch) zu der Schlussfolgerung, dass dieser Begriff nur die Fälle erfasst, in denen der Täter die Grenze überquert hat. Dabei hat das OG ausdrücklich festgestellt, dass die „normative Eindeutigkeit des Art. 55 des Gesetzes“ die Verwendung der historischen, der teleologischen Methode und von internationalen Konventionen entbehrlich mache.266 Zusammenfassend lässt sich auf der Grundlage der dargestellten Fälle die These aufstellen, dass das Eindeutigkeitsargument in der Rechtsprechung des OG durchaus eine primäre Rolle spielen kann, wobei diese Fälle allerdings selten sind. Noch seltener sind jedoch die Fälle, in denen das OG auf weitere Argumente neben dem Eindeutigkeitsargument verzichtet, um das Ergebnis zu bestätigen. Die Bedeutung dieses Arguments kann jedoch in bestimmten Fällen so erheblich sein, dass es in der Lage ist, das Auslegungsergebnis selbstständig zu begründen. In der Rechtsprechung des BGH wurden demgegenüber nur sechs Entscheidungen festgestellt, in denen der BGH sich auf das „Eindeutigkeitsargument“ berufen hat. Im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG ist dieses Ergebnis deutlich niedriger. Im Folgenden sollen zwei der Fälle aufgezeigt werden, in denen der BGH an diese Argumentationsform anknüpft. BGH Fall 1 Eine entscheidende Rolle spielt das Eindeutigkeitsargument in dem Beschluss vom 2.2.2006267. In dieser Entscheidung hat der BGH in einer relativ kurzen Be262 Art. 547 § 1 KPK lautet: „Gegen den Beschluß, der den Antrag ablehnt oder der ihn unverhandelt läßt, kann Beschwerde eingelegt werden, es sei denn, das Appellationsgericht oder das Oberste Gericht hat darüber entschieden.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 263 I KZP 31/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 10. 264 Ustawa z dnia 29 lipca 2005 r. o przeciwdziałaniu narkomanii, Dz. U. 2012 Pos. 124. 265 „Przewozi przez terytorium Rzeczypospolitej Polskiej“. 266 In dieser Begründung erwähnt das OG den Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels nicht. 267 4 StR 570/07, BGHSt 50, 370.

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Teil 2: Empirische Analysen

gründung ausgeführt, dass § 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB in der Fassung des 6. StrRG die Vornahme sexueller Handlungen von einem Kind an seinem eigenen Körper voraussetze. Es reiche für die Bejahung der Strafbarkeit aus dieser Vorschrift nicht aus (wie in dem behandelten Sachverhalt festgestellt), dass das Kind vor dem Täter nur in sexuell aufreizender Weise posiert hat. Das Eindeutigkeitsargument wurde im folgenden Zusammenhang gemeinsam mit anderen Argumenten verwendet. „Erfaßt werden nach dem eindeutigen Wortlaut des § 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB i. d. F. des 6. StrRG nur sexuelle Handlungen, die ein Kind an, also nicht lediglich mit seinem Körper (zu dieser Differenzierung vgl. Laufhütte in LK 11. Aufl. § 184 c Rdn. 5; Wolters/Horn SK § 184 f Rdn. 8) vornimmt. Nur wer mit Berührungen verbundene Manipulationen am eigenen Körper vornimmt, nimmt nach allgemeinem Sprachverständnis Handlungen an sich selbst vor.“ 268

Dieser Argumentation schließen sich noch systematische Ausführungen an. Diese Vorgehensweise des BGH weist darauf hin, dass der eindeutige Wortlaut einer Vorschrift nach Auffassung des Gerichts in keinem Fall von einer weiteren Begründung entlastet. BGH Fall 2 In dem Beschluss vom 16.11.2005269 hat der BGH (2. Strafsenat) die Auffassung des 1. Strafsenats (Beschluss vom 15.2.2005, 1 StR 584/04) verworfen, nach der § 59 Abs. 1 StPO regelmäßig eine ausdrückliche Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen verlange, wenn diese nicht für notwendig gehalten wird, und nach der die – positive oder negative – Entscheidung stets als wesentliche Förmlichkeiten in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen sei. Nach der Ansicht des 2. Strafsenats werden „nach klarem Wortlaut des § 59 Abs. 1 StPO“ die Zeugen in der Regel nicht vereidigt. „Einer ausdrücklichen gerichtlichen Entscheidung bedarf nach allgemeinen Grundsätzen nicht die Absicht, einer gesetzlichen Regel zu folgen, sondern allein die Absicht, von ihr abzuweichen.“ 270

Auch in dieser Entscheidung hat der BGH das Auslegungsergebnis mit anderen Argumenten untermauert. In dieser Hinsicht kann Simon darin zugestimmt werden, dass sich der BGH nicht gehindert sieht, trotz Eindeutigkeit der semantischen Interpretation umfangreiche Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte vorzunehmen, den Normzweck zu erforschen und das Ergebnis mit Folgeerwägungen zu kontrollieren.271 Das Eindeutigkeitsargument ist somit nur der Ausgangspunkt der Argumentation, an die sich weitere Argumente anschließen. Die268 269 270 271

Ebenda, S. 372. 2 StR 457/05, BGHSt 50, 282. Ebenda, S. 283. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 58.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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se Vorgehensweise des BGH relativiert offenkundig die Bedeutung des reinen Gesetzestextes, und zwar in dem Sinne, dass auch eine eindeutige Vorschrift einer weitergehenden Auslegung bedarf. bb) Wortlaut Aus der obigen Tabelle geht deutlich hervor, dass beide Gerichte sehr oft mit dem Wortlaut einer Vorschrift argumentieren (BGH: 51, OG: 42). Dabei ist zu berücksichtigen, dass unter dem Topos „Wortlaut“ in der vorliegenden Untersuchung nur diejenigen Verweise auf die Vorschriften berücksichtigt wurden, in denen das jeweilige Gericht das Wort „Wortlaut“ bzw. „Wortsinn“ (im Falle des BGH) und die Worte „tres´c´“ bzw. „brzmienie“ (im Falle des OG) verwendet haben. Ohne diese Einschränkung müsste angenommen werden, dass in fast jeder Entscheidung der Inhalt der konkreten Vorschriften erwähnt wird. Im Folgenden soll auf dem Hintergrund der ausgewählten Fälle gezeigt werden, wie beide Gerichte mit dem Wortlautargument umgehen. BGH Fall 1 Das Wortlautargument spielt eine besondere Rolle in dem Urteil des BGH vom 25.11.2004272. Diese Entscheidung ist im Hinblick auf die Bedeutung des Wortlautarguments im Maßregelrecht ambivalent: Einerseits hat der BGH seine Bedeutung auf diesem Gebiet betont und im Ergebnis dem Wortlautargument den Vorrang eingeräumt, andererseits erwecken die vom BGH verwendeten Ausdrücke Bedenken, welche Relevanz der BGH (in diesem Fall der 5. Strafsenat) dem Wortlautargument im Maßregelrecht tatsächlich zumisst. In dieser Entscheidung verneinte der BGH zu Recht die Möglichkeit einer Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei Spielsucht, denn diese Maßregel findet nach dem Wortlaut des § 64 StGB nur dann Anwendung, „wenn der Täter den Hang hat, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen.“ Der Wortlaut dieser Vorschrift ist klar und lässt die Anwendung des § 64 StGB bei der Spielsucht nicht zu. Eigentlich konnte der BGH mit dem Verweis auf den Wortlaut des § 64 StGB und das Analogieverbot seine Argumentation abschließen. Der BGH setzt jedoch seine Argumentation fort und führt aus, dass eine Anwendung von § 64 StGB auf den Fall der „Spielsucht“ mangels „planwidriger Regelungslücke“ nicht in Betracht komme. Für eine Planwidrigkeit sprechen nach der Ansicht des BGH weder der Wortlaut noch die Systematik der Norm, dagegen zudem historische Argumente. Diese Äußerung des BGH kann auch so interpretiert werden, dass eine analoge Anwendung des § 64 StGB nach der Ansicht des BGH auch dann zur Anwendung kommen könnte, wenn eine planwidrige Regelungslücke vorläge. Diese Äußerung 272

5 StR 411/04, BGHSt 49, 365.

230

Teil 2: Empirische Analysen

suggeriert somit, dass der BGH bereit wäre, die festgestellte Lücke im Wege der Analogie auszufüllen, wenn die bereits erwähnten Argumente für Planwidrigkeit sprechen würden. Die gestellte These erhärten weitere Äußerungen des BGH, die sich auf der verfassungsrechtlichen Ebene bewegen. Seine Argumentation beginnt der BGH mit der folgenden Feststellung: „Verfassungsrechtliche Erwägungen drängen ebenfalls nicht zu einer erweiterten Anwendung des § 64 StGB auf nicht stoffgebundene ,Süchte‘ wie die ,Spielsucht‘.“ 273

In weiterem Teil der Entscheidung prüft der BGH insbesondere die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips: „Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. § 62 StGB), der im Maßregelrecht eine spezielle Ausprägung im Subsidiaritätsprinzip des § 72 Abs. 1 StGB gefunden hat (vgl. Hanack in LK 11. Aufl. § 72 Rdn. 16), erfordert keine über den Wortlaut hinausgehende Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 64 StGB.“ 274

Beide Zitate relativieren die Bedeutung des Wortlautarguments. Angesichts der nicht eindeutigen Stellungnahmen in der strafrechtlichen Literatur zum Analogieverbot auf dem Gebiet der Maßregeln der Besserung und Sicherung kann dies jedoch nicht verwundern. Wie im Teil 1 Pkt. F. VII. dargelegt wurde, lässt ein Teil der deutschen Lehre die Anwendung der Analogie zu Lasten des Täters auf diesem Gebiet zu. Zwar hat der BGH im Ergebnis die Anwendung des § 64 StGB bei der Spielsucht verneint, aber er hätte unter anderen Umständen eine ganz andere Entscheidung treffen können, wenn verfassungsrechtliche Erwägungen dazu „drängen“ würden. BGH Fall 2 Im Beschluss des BGH vom 2.12.2004275 stand die Auslegung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO im Vordergrund. Auch in dieser Entscheidung setzte sich der BGH mit dem Wortlautargument auseinander. Das vom BGH gefundene Ergebnis lässt jedoch einige Bedenken entstehen, ob der Wortlaut des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO nicht überschritten wurde, wobei der BGH ausdrücklich hervorgehoben hat, dass diese Auslegung vom Wortlaut der Norm gedeckt ist. Nach dem Wortlaut des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils nur dann absehen, wenn die Gesetzesverletzung die Zumessung der Rechtsfolgen betrifft und die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Der BGH kam jedoch bei der Auslegung dieser Vorschrift zu dem Ergebnis, dass sie auch auf diejenigen Fälle Anwendung findet, in denen 273 274 275

Ebenda. Ebenda. 3 StR 273/04, BGHSt 49, 371.

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der Schuldspruch geändert wird, obwohl der Wortlaut eindeutig von einer Gesetzesverletzung bei der Zumessung der Strafe spricht. Bevor die Argumentation des BGH erörtert wird, soll kurz der Sachverhalt dargestellt werden, der der Entscheidung zugrunde lag. In dem behandelten Fall hatte das Landgericht den Angeklagten wegen Betrugs in Tateinheit mit Beilhilfe zur Untreue verurteilt. Der BGH hat die Verfolgung gemäß § 154a StPO auf den Vorwurf des Betrugs beschränkt, also offensichtlich den Schuldspruch geändert. Trotzdem bedarf es – nach der Auffassung des BGH – keiner Aufhebung des Strafausspruchs, da § 354 Abs. 1a S. 1 StPO auch diesen Fall erfasse. Dem BGH ist dabei durchaus bewusst, dass diese Auslegung im Hinblick auf den Wortlaut des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO problematisch sein kann, wovon folgende Worte am Beginn der Argumentation Zeugnis ablegen: „§ 354 Abs. 1a Satz 1 StPO erlaubt – nach seinem Wortlaut – das Absehen von der Aufhebung des angefochtenen Urteils lediglich ,wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen‘. Das könnte dafür sprechen, daß nach dieser Vorschrift nur verfahren werden kann, wenn ein Rechtsfehler ausschließlich bei der Zumessung der Strafe aufgetreten ist, die Nachprüfung des Urteils zum Schuldspruch hingegen keinen Rechtsfehler ergeben hat und dieser unverändert bestehen bleibt.“ 276

In diesem Teil der Begründung kann man dem BGH zustimmen. Die dargestellte Bedeutung des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO lässt sich dieser Vorschrift sicherlich entnehmen. Die vom BGH verwendete Formulierung „Dies könnte dafür sprechen . . .“ suggeriert jedoch, dass diese Auslegung nach der Auffassung des BGH nur scheinbar richtig ist, was die nachfolgende Passage bestätigt: „Eine derartige Auslegung ist allerdings vom Wortlaut der Vorschrift nicht geboten. Sie würde zudem ihren Anwendungsbereich den Intentionen des Gesetzes zuwider beschränken. Mit der Wendung ,wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen‘ will das Gesetz erreichen, daß das Revisiongericht abschließend in der Sache entscheiden kann, wenn eine Gesetzesverletzung nur zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs führen würde.“ 277

In dieser Passage sind drei Punkte besonders interessant. Zum einen hat der BGH in dem ersten Satz das Wort „Wortlaut“ mit dem Verb „geboten“ näher bestimmt. Diese Wortauswahl lässt die These zu, dass der „Wortlaut“ nach der Auffassung des BGH in diesem Fall verschiedene Bedeutungen haben kann, die auf der Grundlage weiterer Kriterien konkretisiert werden müssen. Es fällt dabei auf, dass der BGH nicht festgestellt hat, dass der Wortlaut unklar, nicht eindeutig oder missverständlich ist. Er hat nur ausgeführt, dass die erste Bedeutung, die jedem Rechtsanwender sofort einfallen könnte, vom Wortlaut nicht geboten ist.

276 277

Ebenda, S. 372. Ebenda, S. 372 f.

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Teil 2: Empirische Analysen

Zum anderen konkretisiert der BGH den Wortlaut mithilfe der Intention des Gesetzgebers, ohne aber etwas zur grammatischen Auslegung zu sagen. Zum dritten verwendet der BGH die Formel „das Gesetz will erreichen“, was den Eindruck erwecken soll, dass das Auslegungsergebnis einfach aus dem Gesetz hervorgeht und keine subjektiven Momente dabei eine Rolle spielen. Es wird damit angenommen, dass das Gesetz einen „Willen“ haben kann wie ein Mensch.278 Ein entscheidendes Argument für dieses Auslegungsergebnis findet der BGH in den Entstehungsmaterialien zu § 354 Abs. 1a S. 1 StPO (BT-Drucks. 15/3482 S. 21 f.), aus denen nach seiner Auffassung hervorgehen soll, dass die Intention des Gesetzgebers bei dem Erlass dieser Rechtsnorm in der Ressourcenschonung und in der Verwirklichung des Verfahrensbeschleunigungsgrundsatzes lag. Danach „soll das Urteil auch dann rechtskräftig werden, wenn das Revisionsgericht die verhängte Strafe trotz des Rechtsfehlers bei ihrer Zumessung im Ergebnis für angemessen erachtet, selbst wenn nicht festgestellt werden kann, daß der Tatrichter ohne den Fehler auf dieselbe Strafe erkannt hätte.“ 279 An diese Argumentation schließen sich weitere Argumente an, die davon überzeugen sollen, dass ein anderes Ergebnis sinnwidrig wäre. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der BGH in der dargestellten Entscheidung aus seiner Perspektive nicht gegen den Wortlaut argumentiert hat. Er versuchte zu zeigen, dass das gefundene Ergebnis vom Wortlaut der Norm gedeckt ist. Wie jedoch anfangs ausgeführt wurde, lässt dieser Versuch einige Bedenken bestehen bleiben. BGH Fall 3 Eine Einschränkung des Wortlauts lässt sich im Urteil vom 14.12.2004280 feststellen. Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde. Der Angeklagte vergewaltigte seine Ehefrau in Anwesenheit ihres siebenjährigen Sohnes, wobei er ihn vor Beginn der sexuellen Handlung aufgefordert hat, sich wegzudrehen, was der Sohn für einen Augenblick auch getan hatte. Der BGH stand vor der Frage, ob die Handlung des Angeklagten vor dem Hintergrund des geschilderten Sachverhaltes auch den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs eines Kindes im Sinne des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB erfüllte. Im Ergebnis verneinte der BGH diese Frage, obwohl der Wortlaut der erwähnten Vorschrift in Verbindung mit § 184f Nr. 2 StGB die Handlung des Angeklagten eindeutig erfasst. Nach der Auffassung des BGH setzt jedoch sexueller Missbrauch eines Kindes unter Vornahme von sexuellen Handlungen vor einem Kind voraus, dass der Täter das Kind in der 278 Nach Rüthers handelt es sich bei diesem Ausdruck um Selbstrechtfertigungen richterlicher Normsetzung. B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 724. 279 BGHSt 49, 372. 280 4 StR 255/04, BGHSt 49, 376.

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Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von Bedeutung ist. Diese Einschränkung geht aus dem Wortlaut der §§ 176 Abs. 4 Nr. 1 und 184f Nr. 2 StGB jedoch nicht hervor. Daher ist es besonders interessant, wie der BGH zu dieser Auffassung gekommen ist und wie er das Wortlautargument in der Argumentationskette behandelt hat. Zunächst stellt der BGH fest: „Sowohl der Wortsinn, wie er sich aus dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Norm gestellt ist, als auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift gebieten eine einschränkende Auslegung des Tatbestands im vorgenannten Sinne. a) Nach der Begriffsbestimmung des § 184f Nr. 2 StGB nF sind sexuelle Handlungen vor einem anderen, wie sie § 176 Abs. 3 Nr. 1 StGB aF und § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB unter Strafe stellen, nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt. Diese Begriffsbestimmung sagt nichts dazu, ob und gegebenenfalls in welchen Umfang der Handelnde die Wahrnehmung durch einen anderen in sein Tun einbeziehen muss (vgl. Lenckner/Perron a. a. O. § 184c Rdn. 20). Wegen des nicht eindeutig gefaßten Wortlauts kann diese Frage nur anhand der Entstehungsgeschichte und unter Berücksichtigung des Sinnes und Zwecks der Regelung beantwortet werden.“ 281

Diese Passage kann als ein deutliches Beispiel dafür angeführt werden, wie der BGH die Bedeutung des Wortlauts relativiert, wenn dieser dem von ihm gewünschten Ergebnis entgegensteht. Aus der Feststellung, dass der Wortlaut des § 184f Nr. 2 StGB nichts dazu sagt, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Handelnde die Wahrnehmung durch einen anderen in sein Tun einbeziehen muss, zieht der BGH die Schlussfolgerung, dass der Wortlaut nicht eindeutig gefasst worden sei. Mit einem solchen Argument lässt sich eigentlich der Wortlaut jeder Vorschrift relativieren: Es reicht aus, zu behaupten, dass der Wortlaut hinsichtlich dessen, was der Interpret für relevant hält, nichtssagend ist, und dann kann man folgern, dass er nicht eindeutig gefasst ist. Abgesehen von der logischen Schwäche dieser Folgerung zeugt sie jedoch davon, dass der BGH gegen den Wortlaut nicht argumentieren will und demzufolge dessen eher klare Bedeutung durch die Argumentationsfigur „der Unklarheit“ relativiert. Sie eröffnet die Möglichkeit zur Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte und den Sinn und Zweck der Vorschrift. „bb) Zur Vermeidung einer solchen vom Gesetzgeber ersichtlich nicht beabsichtigten unangemessenen Ausdehnung der Strafbarkeit wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in den Fällen der Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind sowie zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen sowohl innerhalb der Rechtsnorm als auch im Hinblick auf den Tatbestand des sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 2 Nr. 1 StGB) ist es geboten, die Tatbestandsvariante Nr. 1 des § 176 Abs. 3 StGB aF bzw. § 176 Abs. 4 StGB nF einengend auszulegen.“ 282

281 282

Ebenda, S. 378. Ebenda, S. 380 f.

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BGH Fall 4 In der nächsten Entscheidung283 setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, ob ein in einem Krankenzimmer mittels akustischer Wohnraumüberwachung aufgezeichnetes Selbstgespräch des Angeklagten zu dessen Lasten zu Beweiszwecken verwertbar ist. Der BGH verneinte diese Frage für den Fall, dass das Gespräch dem durch Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 geschützten Kernbereich zuzurechnen ist. Hoch interessant in diesem Zusammenhang ist die Auslegung des Begriffes „Wohnung“, der in Art. 13 Abs. 1 GG auftaucht. Der BGH legt diesen Begriff in der Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG und die Literatur sehr weit aus, indem er Gartenhäuser, Hotelzimmer, Wohnwagen, Wohnmobile, bewohnbare Schiffe, Zelte, Schlafwagenabteile, nicht allgemein zugängliche Geschäfts- und Büroräume oder ein nicht allgemein zugängliches Geschäftsbüro dem Schutzbereich des Art. 13 GG, über den alltagssprachlichen Wohnungsbegriff hinaus, hinzuzählt.284 Nach den Maßstäben des BGH fällt daher etwa auch ein Krankenzimmer unter den Schutzbereich des Art. 13 GG, selbst wenn Räumlichkeiten wie diese nur zu bestimmten Zwecken der Unterbringung und nur vorübergehend überlassen werden.285 Diese Entscheidung spiegelt wider, dass der BGH bereit ist, den Begriffen auch die Bedeutungen zu verleihen, die sich von ihrem umgangssprachlichen Verständnis weit entfernen. BGH Fall 5 In dem Urteil vom 8.7.2005286 befasste sich der BGH mit der Frage, ob der Ausspruch eines Vorbehalts nach § 66a StGB die Feststellung eines Hanges i. S. v. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB voraussetzt. Obwohl der BGH in der Begründung zu der behandelten Entscheidung ausdrücklich ausführt, dass die Gesetzesmaterialien287 nicht dafür sprechen, bejahte er diese Frage. Die gesetzgeberische Intention überzeugte den BGH nicht, weil sie „im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag gefunden“ habe.288 „Die Notwendigkeit der Feststellung eines Hanges ergibt sich nach dem Gesetzeswortlaut jedenfalls aus dem Verweis auf ,die übrigen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3‘ (. . .). § 66 Abs. 3 StGB verweist aber seinerseits auf die Voraussetzungen der

283

Urteil vom 10.8.2005, 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206. Ebenda, S. 211. 285 Ebenda. 286 2 StR 129/05, BGHSt 50, 189. 287 Die entsprechende Passage aus der Begründung lautet: „Zwar kann den Gesetzesmaterialien entnommen werden, daß der Gesetzgeber davon ausging, ein Hang müsse für die Anordnung des Vorbehalts gemäß § 66a Abs. 1 StGB nicht sicher festgestellt sein.“ Ebenda, S. 194. 288 Ebenda, S. 195. 284

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Sicherungsverwahrung, mithin auf das Erfordernis eines Hanges zu erheblichen Straftaten.“ 289

Diese Entscheidung kann als ein Beispiel betrachtet werden, in dem der BGH dem Wortlautargument den Vorrang gegenüber den gesetzlichen Materialien eingeräumt hat. BGH Fall 6 Das Wortlautargument spielt eine besondere Rolle auch im Beschluss vom 9.5.2006290. In dieser Entscheidung verneinte der BGH die entsprechende Anwendung des § 357 StPO zu Gunsten eines früheren Mitangeklagten, für den die Revision wegen § 55 Abs. 2 JGG unzulässig war. Wie im Teil 1 Pkt. F. VII. dargelegt wurde, ist die Analogie zu Gunsten des Täters in der deutschen Rechtsordnung auch auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts zulässig. Trotzdem hat sich der BGH in dem behandelten Fall nicht für diesen Schritt entschieden. Für dieses Ergebnis sprachen nach der Auffassung des BGH sowohl die wortlautorientierte und die historische als auch die teleologische Auslegung. In diesem Zusammenhang ist die wortlautorientierte Auslegung besonders interessant, die sicherlich zu der längsten wortlautorientierten Argumentation in der in Betracht gezogenen Stichprobe zählt. Daher soll sie vollständig wiedergegeben werden. Nach der Wiedergabe von § 357 StPO291 führt der BGH aus: „Der zweite Teil des zitierten Gesetzestextes erfaßt die hier in Rede stehende Fallkonstellation nicht. Wenn nämlich ein nach Jugendstrafrecht verurteilter früherer Mitangeklagter gleichfalls Revision eingelegt hätte, so hätte diese keinen Erfolg, da sie in jedem Fall – unabhängig von sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen – wegen § 55 Abs. 2 JGG als unzulässig zu verwerfen wäre (. . .). Daher könnte § 357 StPO überhaupt nur im Wege einer Analogie zugunsten solcher Nichtrevidenten, für welche die Revision kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, zur Anwendung gelangen. Der Wortlaut des ersten Teils des zitierten Gesetzestextes (,die nicht Revision eingelegt haben‘) scheint der Rechtskraftdurchbrechung in den Fällen einer wegen § 55 Abs. 2 JGG unzulässigen Revision zunächst nicht ohne weiteres entgegenzustehen, da auch der in der Berufungsinstanz nach Jugendstrafrecht Verurteilte tatsächlich – wenngleich nicht zulässig – Revision einlegen kann. Die Formulierung ist allerdings anerkanntermaßen nicht präzise. So ist nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes die Vorschrift des § 357 StPO – über ihren Wortlaut hinaus – auch zugunsten von früheren Mitangeklagten anzuwenden, die Revision eingelegt haben, wenn sie die Revision später zurückgenommen haben (vgl. BGH NJW 1958, 560; 289

Ebenda. 1 StR 57/06, BGHSt 51, 34. 291 § 357 StPO lautet: „Erfolgt zugunsten eines Angeklagten die Aufhebung des Urteils wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes und erstreckt sich das Urteil, soweit es aufgehoben wird, noch auf andere Angeklagte, die nicht Revision eingelegt haben, so ist zu erkennen, als ob sie gleichfalls Revision eingelegt hätten. § 47 Abs. 3 gilt entsprechend.“ 290

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Teil 2: Empirische Analysen

1996, 2663, 2665), ihre Revision auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt haben (vgl. BGHR StPO § 388 Nr. 7 Entscheidungsgründe 2; BGH, Urt. vom 23. September 1952 – 1 StR 398/52 – S. 5 f.; Beschl. vom 30. März 1984 – 3 StR 95/84 – S. 4). Daß § 357 diese Mitangeklagten erfassen soll, unterliegt keinen ernstlichen Zweifeln und wird in den zitierten Entscheidungen erst gar nicht näher begründet. Die gesetzliche Formulierung ,die nicht Revision eingelegt haben‘ ist somit dahingehend auszulegen, daß die Rechtskraftdurchbrechung für solche früheren Mitangeklagten gilt, welche von dem Rechtsmittel der Revision nicht wie der Revident erfolgreich Gebrauch gemacht haben.“ 292

Diese Passage ist im Hinblick auf die Wertschätzung des Wortlautarguments ambivalent. Einerseits kann sie dafür sprechen, dass der BGH diesem Kriterium eine erhebliche Bedeutung beimisst, indem er zunächst den behandelten Fall vor dem Hintergrund des zweiten Teiles des § 357 StPO eindeutig ausschließt. Diese Feststellung hielt den BGH jedoch nicht davon ab, in einem relativ weiten Umfang auch noch den ersten Teil des zitierten Gesetzestextes „die nicht Revision eingelegt haben“ zu prüfen, obwohl schon die Verneinung des ersten Teils der behandelten Vorschrift die Anwendung des § 357 StPO ausschließt. Diese Vorgehensweise kann sicherlich als eine Relativierung des Wortlautarguments angesehen werden. Noch eine weitergehende Relativierung des Gesetzestextes lässt sich in dem anschließenden Teil der zitierten Begründung feststellen, in dem der BGH bezüglich § 357 StPO erklärt, dass der Paragraph nicht präzise genug formuliert sei, d. h., er Fälle nicht erfasse, die er nach der Auffassung des BGH erfassen sollte, wie z. B. den Fall, in dem ein Mitangeklagter eine Revision einlegt und sie später zurücknimmt. BGH Fall 7 Das Wortlautargument spielt im Urteil vom 14.12.2006293 eine entscheidende Rolle, in dem der BGH eine Auslegung des § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB abgelehnt hat, die die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach dem Ablauf der in § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB vorgesehenen Frist zulässt. Nach der Auffassung des BGH kann § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB nicht als bloße Ordnungsvorschrift betrachtet werden, denn die Einhaltung der Frist stellt eine grundsätzlich verbindliche materiellrechtliche Voraussetzung für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung dar. Die diesbezügliche Argumentation beginnt der BGH mit dem Wortlautargument: „a) Bereits der Wortlaut des Gesetzes, wonach ,das Gericht spätestens sechs Monate vor dem Zeitpunkt . . . entscheidet‘, spricht für eine verbindliche zeitliche Vorgabe.“ 294

292 293 294

BGHSt 51, 38 f. 3 StR 269/06, BGHSt 51, 159. Ebenda, S. 160.

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Das Argument erfährt jedoch sofort in dem nachfolgenden Satz eine Relativierung: „Allerdings mögen Formulierungen denkbar sein, die dies noch klarer zum Ausdruck gebracht hätten, wie etwa die, dass die vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung nur bis zu dem in § 66 a Abs. 2 Satz 1 StGB genannten Zeitpunkt getroffen werden kann. Die Anknüpfung an die ,Entscheidung über die vorbehaltene Anordnung‘, die auch eine die Anordnung ablehnende Entscheidung einschließt, bringt den Charakter einer Ausschlussfrist für die Anordnung weniger deutlich zum Ausdruck.“ 295

Weitere Relativierungen des Wortlautarguments erfolgen in dem nachfolgenden Teil der Begründung, in dem sich der BGH offenbar genötigt fühlte, an die genetischen (Gesetzesmaterialien), teleologischen, verfassungsrechtlichen und praktischen Gesichtspunkte anzuknüpfen, um sein Ergebnis zu unterstützen, obwohl der Wortlaut des § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB den Zeitpunkt der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung klar zum Ausdruck bringt. Davon, dass der Wortlaut für den BGH in diesem Fall keine absolute Grenze der Auslegung bildet, zeugt der abschließende Teil der Begründung, in dem der BGH mit Verweis auf die eigene Rechtsprechung (BGH StV 2/2006, 63296) offen lässt, ob die Sicherungsverwahrung ausnahmsweise angeordnet werden kann, wenn die Frist nur wenige Tage überschritten ist und die Gründe dafür nicht im Verantwortungsbereich der Justiz liegen. Wäre der Wortlaut für den BGH eine absolute Grenze der Auslegung gewesen, so könnte eine solche Frage überhaupt nicht gestellt werden. Dass sie gestellt und offen gelassen wurde, zeugt davon, dass der Wortlaut im Maßregelrecht überschritten werden kann, um aus der Sicht des BGH ein gerechtes Ergebnis zu erzielen. Zusammenfassend lässt diese Entscheidung keine eindeutigen Schlüsse zu, die etwas über die Bedeutung des Wortlautarguments für den BGH im Maßregelrecht aussagen könnten. Zwar wurde das Wortlautargument in der Begründung als einer der wichtigsten Entscheidungsfaktoren hervorgehoben und im Ergebnis hat sich der BGH an den Wortlaut der Vorschrift gehalten, aber seine Bedeutung wurde durch die bereits aufgezeigten Ausführungen des BGH auch wieder deutlich relativiert (ähnlich im Fall BGH 1). BGH Fall 8 In dem Urteil vom 16.6.2004297 befasste sich der BGH mit der Frage, ob ein Täter, der im Beamtenverhältnis bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt ist, aber von der Möglichkeit der Beurlaubung Gebrauch gemacht und einen Anstellungsvertrag mit der Deutschen Bahn AG abgeschlossen hat, als Amtsträger im 295 296 297

Ebenda. Beschluss vom 25.10.2005, 1 StR 324/05. 2 StR 486/03, BGHSt 49, 214.

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Teil 2: Empirische Analysen

Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) StGB betrachtet werden kann. Obwohl der erwähnte Wortlaut klar zum Ausdruck bringt, dass der Beamte als Amtsträger gilt und der BGH den unmittelbaren Beamtenstatus des Angeklagten bejahte, verneint er im Ergebnis die Amtsträgerschaft. Nach der Auffassung des BGH ist der Beamte trotz seines fortbestehenden Beamtenstatus nicht als Amtsträger im strafrechtlichen Sinne anzusehen, wenn er keine Dienste im Sinne des Beamtenrechts erbringt.298 „Denn der Beamte im staatsrechtlichen Sinn wird gerade deshalb den in § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB genannten sonstigen Personen, die zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben bestellt sind, gegenübergestellt, weil so die für die Täterstellung von Amtsdelikten maßgebende Einbindung in das öffentlich-rechtliche Gewaltverhältnis bei dienstlichen Handlungen erfaßt wird. Denn für den Beamtenbegriff im Strafrecht und das bei Amtsdelikten typischerweise verwirklichte Sonderunrecht ist kennzeichnend, daß er in seiner Eigenschaft als Beamter und nicht als Arbeitnehmer einer privatrechtlichen Gesellschaft handelt (vgl. auch Rohlff, Die Täter der Amtsdelikte S. 161). (. . .) Handelt der Beamte außerhalb seiner Rechtsstellung als Beamter, kommt es auf seinen Status nicht an.“ 299

Aus dieser Passage geht hervor, dass der BGH den Begriff des Amtsträgers eingeschränkt hat, indem er auch die Aufgaben berücksichtigte, die der jeweilige Beamte tatsächlich realisiert. Sein formeller Status reicht somit nicht aus, um ihn als Amtsträger zu behandeln. Man muss noch prüfen, was er tatschächlich macht. Auch die Analyse der Entscheidungen des OG lässt keine eindeutige Schlussfolgerung zu, welche Rolle dieses Argument in der Rechtsprechung des polnischen höchsten Gerichtes spielt. Keinesfalls lässt sich behaupten, dass das OG in jedem Fall dem Wortlautargument den Vorrang einräumt. Im Folgenden wird gezeigt, dass das OG bereit ist, von dem Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode abzuweichen, wenn wichtige teleologische Gründe dafür sprechen (siehe OG Fall 3). Aus der quantitativen Analyse geht jedoch eindeutig hervor, dass das OG relativ häufig mit dem Wortlauttopos argumentiert (42 Fälle). In der Regel spielt dieser Topos in der Argumentationsstruktur eine einführende Rolle. Die Konstellationen, in denen das OG in seinen Entscheidungen auf den Wortlaut Bezug nimmt, sind jedoch sehr unterschiedlich. Als typischer Fall ist die folgende Entscheidung anzusehen, in der das OG sich mit der Auslegung des Art. 184 § 3 KPK300 befasst. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift wird eine bestimmte Bedeutung abgeleitet.

298

Ebenda, S. 218. Ebenda. 300 Art. 184 § 3 KPK lautet: „Der Zeuge wird vom Staatsanwalt sowie vom Gericht vernommen, das zur Vornahme dieser Handlung einen Richter aus seinem Spruchkörper beauftragen kann, und zwar an einem Ort und auf eine Art und Weise, die die Geheimhaltung der Identität des Zeugen gewährleisten.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 299

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OG Fall 1 Im Beschluss vom 26.1.2007 301 setzt sich das OG mit der Frage auseinander, ob die Vernehmung eines anonymen Zeugen (im Folgenden: „Anonymzeuge“) durch einen Richter eine Verletzung des Art. 439 § 1 Pkt. 2 in fine KPK302 darstellt, wenn der Richter vom Gericht formell nicht dazu beauftragt und trotzdem der Anonymzeuge von ihm vernommen wurde. Das OG ließ diese Frage offen und verweigerte die Antwort auf die gestellte Frage (zur konkreten Rechtsfrage siehe Anhang B Pkt. 2.). Bei der Beurteilung dieses Falles darf jedoch nach der Ansicht des OG nicht außer Acht gelassen werden, dass nach Art. 184 § 3 KPK aus dem Spruchkörper nur der Richter (nicht die Schöffen) mit der Vernehmung eines Anonymzeugen beauftragt werden kann. Das entsprechende Zitat lautet: „Nicht ohne Bedeutung in diesem Zusammenhang ist der Umstand, dass im Falle des Kreisgerichts nur der Berufsrichter, also der Vorsitzende des Spruchkörpers, beauftragt werden kann. Aus dem Wortlaut der Vorschrift geht hervor, dass der Schöffe nicht mit der Vornahme der Vernehmung beauftragt werden kann.“ 303

Da der Schöffe in dem behandelten Fall die betreffende prozessuale Handlung nicht ausführen darf, kommt nur der Berufsrichter, also der Vorsitzende des Spruchkörpers, in Betracht. Dieser Umstand spricht allerdings eher dafür, dass eine Verletzung des Art. 439 § 1 Pkt. 2 in fine KPK dann nicht vorliegt, wenn der Richter nicht formell mit der Vernehmung eines Anonymzeugen beauftragt wurde. Ähnlich argumentiert das OG in der folgenden Entscheidung. OG Fall 2 In dem Beschluss (Uchwała) vom 30.8.2007304 setzt sich das OG mit der Frage auseinander, welche Umstände eine Verjährungsfrist unterbrechen können, wenn ein Richter eine Straftat begangen hat. Nach Art. 104 § 1 KK ruht die Verjährung, solange das Gesetz es untersagt, das Strafverfahren einzuleiten oder fortzusetzen. Gemäß Art. 80 § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes305 kann der 301

I KZP 35/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 23. Art. 439 § 1 Pkt. 2 KPK lautet: „Unabhängig von den Grenzen des Rechtsbehelfs, den erhobenen Vorwürfen und dem Einfluß der Verfehlung auf den Inhalt der Entscheidung hebt das Rechtsmittelgericht die angegriffene Entscheidung in der Sitzung auf, wenn: (. . .) 2. das Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt war oder wenn eines seiner Mitglieder in der Verhandlung nicht anwesend war, (. . .)“. Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 303 OSNKW 2007, Nr. 2, S. 27. 304 SNO 44/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 64. 305 Ustawa z dnia 27 lipca 2001 r. Prawo o ustroju sa˛dów powszechnych, Dz. U. 2015 Pos. 133. 302

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Teil 2: Empirische Analysen

Richter nur dann strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn das Disziplinargericht eine Genehmigung erteilt. In diesem Zusammenhang entsteht die Frage, ob die Verjährungsfrist auch dann läuft, wenn das Disziplinargericht keine Entscheidung erlässt. Das OG kam zu der Schlussfolgerung, dass der Ablauf der Verjährungsfrist nur dann ruht, wenn das Disziplinargericht die Verfolgung eines Richters rechtskräftig verweigert. Die Begründung für diese Entscheidung sieht das OG unter anderem in dem Wortlaut des Art. 80 § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes in Zusammenhang mit Art. 104 § 1 KK. Das OG argumentiert: „Der Inhalt dieser Vorschrift weist darauf hin, dass in ihr nicht nur behauptet wurde, der Richter könne nicht festgenommen oder zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden, sondern es wurde auch darauf hingewiesen, dass dieses Verbot nur im Wege der gerichtlichen Genehmigung aufgehoben werden kann. Die konkrete Entscheidung des Disziplinargerichts stellt somit einen neuralgischen Punkt des Verfahrens dar, dessen Gegenstand die Genehmigung für eine Klageerhebung gegen einen Richter ist. Es muss somit angenommen werden, dass aus der Vorschrift des Art. 104 § 1 KK im Zusammenhang mit der Vorschrift des Art. 80 § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes hervorgeht, dass das rechtliche Hindernis in der Gestalt der formellen richterlichen Immunität, das die Verjährungsfrist unterbricht, nur dann wirkt, wenn das Disziplinargericht eine Genehmigung für eine Klagerhebung gegen einen Richter verweigert.“ 306

Das angeführte Zitat zeigt, wie das OG aus dem Wortlaut einer Vorschrift eine Entscheidungsgrundlage ableitet. Zwar hat es noch auf weitere Argumente verwiesen, aber der Wortlaut spielt in dieser Argumentationskette eine entscheidende Rolle. Die Wortlaut-Argumentation des OG kann jedoch nicht vollständig überzeugen. Die Bedeutung, die das OG dieser Vorschrift verliehen hat, ist zwar vertretbar, aber sie geht aus der Vorschrift nicht eindeutig hervor. In dem folgenden Fall hat das OG das Wortlautargument den teleologischen Kriterien gegenübergestellt und im Ergebnis den teleologischen Kriterien den Vorrang eingeräumt. OG Fall 3 Im Urteil vom 4.12.2006307 hat das OG festgestellt, dass die Anordnung eines Fahrverbotes in jedem Fall auch diejenige Kategorie der Fahrzeuge erfassen muss, die der Täter der Trunkenheitsfahrt geführt hat. Art. 42 § 2 KK308 ermög306

OSNKW 2007, Nr. 11, S. 71. V KK 360/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 34. 308 Art. 42 § 2 KK lautet: „Das Gericht verbietet das Führen jeglicher Kraftfahrzeuge oder von Kraftfahrzeugen einer bestimmten Art, wenn der Täter bei Begehung der in § 1 genannten Straftat unter Alkoholeinfluss oder unter dem Einfluss berauschender Mittel stand oder sich vom Unfallort, der in Art. 173, 174 beziehungsweise 177 bestimmt wird, unerlaubt entfernt hat.“ Übersetzung nach E. Schwierskott-Matheson, Polnisches Strafgesetzbuch, 2011. 307

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licht es dabei, ein Fahrverbot anzuordnen, das entweder alle Kategorien der Fahrzeuge (PKW, LKW, Busse etc.) erfasst oder nur eine bestimmte Kategorie (z. B. PKW) betrifft. Auf der sprachlichen Ebene kann somit das Gericht nach der Ansicht des OG frei entscheiden, welche Alternative es wählt. Gegen eine streng wortlautorientierte Auslegung führt jedoch das OG aus: „Es ist davon auszugehen, dass die Auslegungsproblematik sich nicht auf die sprachlichen Aspekte beschränken darf, denn die Rechtsvorschriften dienen bestimmten Zielen, die im Zuge der Auslegung erreicht werden sollten. Daher darf die Auslegung einer Rechtsvorschrift nicht zu einem solchen Ergebnis führen, das im Hinblick auf die ratio legis der Rechtsnorm dysfunktional wäre und demzufolge keine axiologische Begründung hätte.“ 309

Die ratio legis des Art. 42 § 2 KK liegt nach der Auffassung des OG in dem Ausschluss derjenigen Fahrzeugführer aus dem Straßenverkehr, die eine Gefahr für ihn darstellen. Daher darf die Anordnung des Fahrverbots die Kategorie des Fahrzeugs nicht ignorieren, das der Täter geführt hat. Hat somit ein Täter ein Delikt des Fahrens im Zustand der Trunkenheit mit einem PKW begangen, muss das Fahrverbot auch diese Kategorie erfassen. Aus dieser Entscheidung geht hervor, dass das OG bereit ist, objektiv teleologische Argumente in Anspruch zu nehmen, wenn eine streng wortlautorientierte Auslegung zu einem problematischen Ergebnis führt.310 In dem behandelten Fall hat das OG ausdrücklich festgestellt, dass der Wortlaut des Art. 42 § 2 KK es dem Gericht möglich macht, frei über die Kategorie eines Fahrzeuges zu entscheiden. Diese Freiheit wird jedoch durch teleologische Kriterien eingeschränkt. Der Wortlaut bietet somit unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten, die einer teleologisch orientierten Auswertung bedürfen. cc) Wortlaut (juristisch) Ein Unterschied zwischen der Rechtsprechung des BGH und des OG liegt offenkundig auch in der Verwendung von Definitionen, die in der Lehre und in der Rechtsprechung in Bezug auf bestimmte Begriffe herausgearbeitet wurden (BGH: 68, OG: 39). Es scheint dabei so zu sein, dass dem BGH im Vergleich zum OG mehrere Definitionen bestimmter Begriffe zur Verfügung stehen, die bei der Lösung eines problematischen Falles abgerufen werden können. Dies erleichtert sicherlich die Aufgabe der Lösung eines problematischen Falles. Steht ein Begriff zur Verfügung, der schon feste Konturen hat, kann er als Grundlage für die Entscheidung des problematischen Falles verwendet werden. Im Folgenden sollen die ausgewählten Fälle näher dargestellt werden.

309 310

OSNKW 2007, Nr. 1, S. 35 f. Ähnlich im Urteil vom 10.1.2007, III KK 437/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 48.

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Teil 2: Empirische Analysen

BGH Fall 1 In seinem Urteil vom 4.3.2003311 verwendet der BGH vor allem diese Argumentationsform. Hier nur ein Ausschnitt aus der Begründung: „Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Verkehrsraum öffentlich, wenn er entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber zumindest für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch so benutzt wird (vgl. BGHSt 16, 7, 9 f.; BGH VRS 12, 414, 415 f.; BGHR StGB § 315b Abs. 1 Straßenverkehr 1; vgl. auch Hentschel, Straßenverkehrsrecht 37. Aufl. § 1 StVO Rdn. 13 bis 16 m.w. N.; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 315 b Rdn. 3 m.w. N.).“ 312

Nicht selten wird die stabile Bedeutung eines Begriffs in der Rechtsprechung des BGH unter der Kategorie „ständige Rechtsprechung“ erfasst. Ähnlich verfährt der BGH in der nächsten Entscheidung. BGH Fall 2 Im Beschluss vom 24.11.2004313 weist der BGH auf die gefestigte Bedeutung des Begriffes „einheitliche Tat“ im Sinne von § 264 StPO bei mehreren sachlichrechtlich selbstständigen Handlungen hin: „Mehrere im Sinne von § 53 StGB sachlichrechtlich selbstständige Handlungen bilden nur dann eine einheitliche prozessuale Tat im Sinne von § 264 StPO, wenn die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern wegen der ihnen zugrundeliegenden Vorkommnisse unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch innerlich derart miteinander verknüpft sind, daß der Unrechtsund Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden wird (st. Rspr.; vgl. BGHSt 13, 21, 25 f.; 23, 141, 146 f.; 23, 270, 273; 24, 185, 186; 29, 288; BGH NStZ 2001, 440.“ 314

BGH Fall 3 Im Urteil vom 17.6.2004315 erörtert der BGH die Frage, ob das Landgericht die Angeklagten des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs (§ 263 Abs. 5 StGB) schuldig sprechen durfte, obwohl es sie jeweils nur wegen einer Tat im materiell-rechtlichen Sinne verurteilt hat. In Bezug auf den Begriff „gewerbsmäßig“ hat der BGH ausgeführt: „1. a) Gewerbsmäßig handelt, wer sich durch wiederholte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer verschaffen 311 312 313 314 315

4 StR 377/03, BGHSt 49, 128. Ebenda, S. 128 f. 5 StR 206/04, BGHSt 49, 359. Ebenda, S. 362. 3 StR 344/03, BGHSt 49, 177.

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will. Liegt diese Absicht vor, ist bereits die erste Tat als gewerbsmäßig begangen einzustufen, auch wenn es entgegen den ursprünglichen Intentionen des Täters zu weiteren Taten nicht kommt (BGH NJW 1998, 2913, 2914; NStZ 1995, 85; 2004, 265, 266).“ 316

In diesem Fall wurde die Kategorie der „ständigen Rechtsprechung“ nicht verwendet, aber die Verweise auf die frühere Rechtsprechung bringen deutlich zum Ausdruck, dass der Begriff „gewerbsmäßig“ in der bisherigen Rechtsprechung eine stabile Bedeutung hat. BGH Fall 4 Im Urteil vom 21.10.2004 317 erinnert der BGH daran, wann eine Vereinigung auf die Begehung von Straftaten im Sinne des § 129 Abs. 1 StGB gerichtet ist: „1. a) Eine Vereinigung ist dann auf die Begehung von Straftaten gerichtet, wenn dies der verbindlich festgelegte Zweck ist, zu dessen Erreichung sich die Mitglieder verpflichtet haben. Die Organisation der Vereinigung muß auf den Zweck der gemeinschaftlichen Begehung von Straftaten hin konzipiert sein (Rudolphi in SK-StGB § 129 Rdn. 9; ders. in FS für Bruns S. 321; vgl. auch v. Bubnoff in LK 11. Aufl. § 129 Rdn 32; Lenckner in Schönke/Schröder, 26. Aufl. § 129 Rdn 7; Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 129 Rdn 13).“ 318

In diesem Zitat bezieht sich der BGH ausschließlich auf Standardwerke aus der Literatur. In einem weiterem Teil der Begründung wird jedoch wieder auf die bisherige Rechtsprechung des BGH Bezug genommen. Im Mittelpunkt steht der Begriff der „untergeordneten Bedeutung“ im Sinne des § 129 Abs. 2 Nr. 2 StGB: „Nach der Rechtsprechung ist die Begehung von Straftaten dann nicht von untergeordneter Bedeutung, wenn sie zwar nur einen von mehreren Zwecken (oder eine von mehreren Tätigkeiten) der Vereinigung darstellt, dieser Zweck (diese Tätigkeit) aber wenigstens in dem Sinne wesentlich und damit gleichgeordnet mit den anderen ist, daß durch das strafrechtswidrige Verhalten das Erscheinungsbild der Vereinigung aus der Sicht informierter Dritter mitgeprägt wird (BGHSt 41, 47).“ 319

BGH Fall 5 Im Urteil vom 1.7.2005 320 wird dagegen die stabile Bedeutung des Begriffes „neue Tatsachen“ im Sinne des § 66 Abs. 1 StGB betont: „Tatsachen im Sinne von § 66 Abs. 1 StGB sind nur solche, die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe erkennbar geworden sind (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 106, 107).

316 317 318 319 320

Ebenda, S. 181. 3 StR 94/4, BGHSt 49, 268. Ebenda, S. 271. Ebenda, S. 274. 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180.

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Teil 2: Empirische Analysen

Umstände, die für den ersten Tatrichter erkennbar waren, scheiden daher als neue Tatsachen aus (vgl. BGH, Urt. vom 11. Mai 2005 – 1 StR 37/05).“ 321

In diesem Zitat liegt eine Kombination aus Verweisen auf die Rechtsprechung des OLG Frankfurt und des BGH vor. Wie bereits festgestellt wurde, verwendet auch das OG in einem erheblichen Ausmaß feste Definitionen der Begriffe. Hier einige Beispiele aus der Praxis: OG Fall 1 Im Beschluss (Uchwała) vom 20.12.2006322 setzte sich das OG mit der Frage auseinander, ob eine Appellation auch mit der Hilfe eines Faxgerätes eingelegt werden kann. Das OG ließ diese Möglichkeit grundsätzlich zu, stellte jedoch eine Bedingung auf: Die Person, die eine Appellation per Faxgerät eingelegt hat, muss sie noch einmal eigenhändig im Gericht unterschreiben. Die Unterschrift auf dem Papier, das das Faxgerät sendet, erfüllt nach Auffassung des OG die Bedingung der „Unterschrift“ im Sinne des Art. 119 § 1 Pkt. 4 KPK nicht.323 Im Hinblick auf den Begriff „Unterschrift“ führte das OG aus: „In diesem Lichte können keine Einwände durch diejenigen Auffassungen hervorgerufen werden, die sowohl in der zivil- als auch in der strafrechtlichen Literatur dazu geltend gemacht werden (T. Grzegorczyk: Kodeks poste˛powania karnego, Komentarz, Kraków 2005, S. 344; P. Hofman´ski, Hrsg.: Kodeks poste˛powania karnego, Komentarz, Warszawa 2004, Band I, S. 577; vgl. Entscheidungen des Obersten Gerichts: vom 17. April 1967, II PZ 22/67, NP 1967, H. 12, S. 1721–22; vom 23. Juli 1998, III CKN 482/98, LEX Nr. 50698; vom 24. Januar 2005, III ZU 20/04, OSNP 2005, H. 16, Pos. 258), dass die eigenhändige Unterschrift auf der Verfahrensschrift durch keine maschinelle Unterschrift (. . .) und durch keine andere mechanische Unterschrift (z. B. Faksimile) sowie durch die Xerokopie ersetzt werden kann.“ 324

OG Fall 2 Im Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007325 des OG stand die Frage im Mittelpunkt, ob ein Wechsel in blanco ein Dokument im Sinne des Art. 310 § 1 KK326 321

Ebenda, S. 181. I KZP 29/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 1. 323 Art. 119 Abs. 1 KPK lautet: „1. Eine Prozeßschrift soll: 1. die Bezeichnung des Organs, an das sie gerichtet ist, und der Sache, die sie betrifft, 2. die Bezeichnung der Anschrift desjenigen, der das Schriftstück einreicht, 3. den Inhalt des Antrags oder der Erklärung, je nach Bedarf mit Begründung, 4. das Datum und die Unterschrift desjenigen, der das Schriftstück einreicht, enthalten.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 324 OSNKW 2007, Nr. 1, S. 5. 325 I KZP 2/07, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 17. 326 Art. 310 § 1 KK lautet: „Wer polnisches Geld oder Geld einer fremden Währung oder andere Zahlungsmittel oder Dokumente, die dazu berechtigen, eine Geldsumme zu 322

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sein kann, das zur Empfangnahme der Geldsumme berechtigt. Das OG bejahte diese Frage und zur Unterstützung seiner Auffassung griff es auf die Auffassungen zurück, die in Rechtsprechung und Literatur dazu herrschen. „In der Rechtsprechung dominiert die Auffassung, dass der Wechsel in blanco Gegenstand einer Straftat des Art. 310 § 1 KK sein kann, sowohl als Zahlungsmittel als auch als Dokument, das zur Empfangnahme der Geldsumme berechtigt (vgl. Beschluss des Appellationsgerichts Gdan´sk vom 14. Mai 2003, II AKz 366/03, OSAG 2003, Nr. 2, Pos. 130; Urteil des Appellationsgerichts Katowice vom 13. November 2003, II Aka 377/2003, OSA 2004, Nr. 12, S. 90; Beschluss des Appellationsgerichts Poznan´ vom 14. November 2003, II Akz 835/2003, Wok. 2004, Nr. 5, S. 43; Urteile des Appellationsgerichts Wrocław vom 5. Oktober 2004, II Aka 293/2004, OSA 2005, Nr. 7, S. 50 und vom 5. April 2006, II Aka 355/05, Lex Nr. 176529). Auch in der Literatur überwiegt die Auffassung, dass der Wechsel in blanco ein Dokument ist, das zur Empfangnahme der Geldsumme im Sinne des Art. 310 § 1 KK berechtigt (vgl. J. Skorupka: Weksel własny in blanco jako przedmiot wykonawczy w przeste˛pstwie z Art. 310 § 1 k.k., PS 2007, Nr. 1, S. 70 ff.; J. Skurupka: Ochrona obrotu czekowego i wekslowego w prawie karnym – próba analizy, PS 2001, Nr. 1, S. 55 ff.; J. Skorupka in: A. Wa˛sek Hrsg.: Kodeks karny. Cz. Szczególna. Komentarz, Warszawa 2006, Band II, S. 1514; M. Kulik in: M. Mozgawa Hrsg.: Kodeks karny. Praktyczny komentarz, Kraków 2006, S. 609).“ 327

Trotz dieser eindeutigen Feststellungen führte das OG zusätzlich auch noch eine Analyse des Art. 301 § 1 KK im Hinblick auf seine Anwendung auf Wechsel in blanco durch. OG Fall 3 Im Beschluss (Postanowienie) vom 23.5.2007 328 musste das OG entscheiden, ob die Täter schon einen Versuch begangen hatten oder ob ihr Verhalten nur als Vorbereitungshandlung beurteilt werden soll. Unter Bezug auf die bisherige Rechtsprechung hat das OG ausgeführt: „In der Rechtsprechung wird angenommen, dass im Streben des Täters zur Begehung einer Straftat, die nach der Vollendung der Vorbereitung fortgesetzt wird, die Phase des Versuchs beginnt, die nicht auschließlich mit dem letzten Akt, der der Vollendung vorangeht, gleichgesetzt werden muss (Entscheidungen des Obersten Gerichts: Beschluss vom 1. April 2005, IV KK 309/04, OSNKW 2005, H. 5, Pos. 79; Urteil vom 29. Juni 2006, WK 8/06, OSNKW 2006, H. 11, Pos. 104; Urteil vom 8. März 2006, IV KK 415/05, LEX Nr. 183071; Beschluss vom 9. Dezember 2002, V KK 32/

erhalten, oder dazu verpflichten, Kapital, Zinsen oder eine Gewinnbeteiligung auszuzahlen, oder die die Beteiligungen an einer Gesellschaft feststellen, nachmacht oder verfälscht oder von den genannten Objekten den Entwertungsstempel entfernt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren oder 25 Jahren Freiheitsstrafe bestraft.“ Übersetzung nach E. Schwierskott-Matheson, Polnisches Strafgesetzbuch, 2011. 327 OSNKW 2007, Nr. 4, S. 19 f. 328 V KK 265/06, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 54.

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Teil 2: Empirische Analysen

02, LEX Nr. 75497 und Urteil des Appellationsgerichts Łódz´ vom 5. November 2000, II Aka 179/00, OSPriPr 2001, Nr. 5, Pos. 22).“ 329

Eine gesonderte Gruppe bilden diejenigen Entscheidungen des OG330, in denen es die Zulässigkeit der konkreten Rechtsfrage im Sinne des Art. 441 § 1 KPK331 erörtert. Die Analyse der diesbezüglichen Rechtsprechung lässt erkennen, dass das OG auf diesem Gebiet einen Katalog von Gesichtspunkten entwickelt hat, die den Begriff „grundlegende Auslegung des Gesetzes“ näher definieren. Dazu ein Beispiel: OG Fall 4 „Es ist daran zu erinnern, dass das Rechtsmittelgericht sich gemäß dem Wortlaut des Art. 441 § 1 KPK nur dann wegen der Vornahme einer grundlegenden Auslegung des Gesetzes an das OG wenden kann, wenn bei der Verhandlung des Rechtsmittels eine Rechtsfrage entsteht, deren Klärung für den Erlass der Entscheidung in dem anhängigen Verfahren von Bedeutung ist. Wie mehrfach in der Literatur und in der Rechtsprechung betont wurde (vgl. u. a. Beschlüsse: vom 10. März 1995, I KZP 1/95, OSNKW 1995, H. 5–6, Pos. 37; vom 7. September 2000, I KZP 27/00, Lex Nr. 146182; vom 29. März 2006, I KZP 58/05, Lex Nr. 180755), ist die Formulierung solcher Fragen unzulässig, die keine Bedeutung für das anhängige Verfahren haben oder die Probleme betreffen, die in dem Verfahren – im Lichte der festgestellten Umstände – überhaupt nicht vorkommen. Es ist hinzuzufügen (. . .), dass das Rechtsmittelgericht zu einem Hinweis darauf verpflichtet ist, welche Vorschrift bzw. welcher Teil der Vorschrift die Bedenken bei der Interpretation hervorruft, und es muss zeigen, dass es sich um eine grundlegende Auslegung handelt, also die Rechtsfragen angesprochen sind, die eine grundlegende Bedeutung für das richtige Verständnis des Rechts und für die richtige Rechtsanwendung haben.“ 332

Aus den dargestellten Fällen geht hervor, dass beide Gerichte in ihrer Rechtsprechung an unumstrittene Bedeutungen von Gesetzesbegriffen anknüpfen, um einen stabilen Bezugspunkt für andere strittige Fälle zu etablieren. Diese Vorgehensweise erleichtert offenbar die Lösung des Auslegungsproblems, mit dem sich das Gericht befasst. Andererseits kann nicht übersehen werden, dass die von der Rechtsprechung und von der Literatur herausgearbeiteten Definitionen auch ihrerseits auslegungsbedürftig sind, weil sie in einer Sprache abgefasst sind. 329

Ebenda, S. 61. Beschluss (Postanowienie) vom 24.5.2007, I KZP 10/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 21; Beschluss (Postanowienie) vom 24.5.2007, I KZP 11/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 26; Beschluss (Postanowienie) vom 15.6.2007, I KZP 13/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 32. 331 Art. 441 § 1 KPK lautet: „Ergibt sich bei der Verhandlung über das Rechtsmittel eine Rechtsfrage, die eine grundlegende Auslegung des Gesetzes erfordert, kann das Rechtsmittelgericht die Verhandlung über die Sache vertagen und die Frage dem Obersten Gericht zur Entscheidung übergeben.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 332 Beschluss (Postanowienie) vom 21.3.2007, I KZP 1/07, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 37 f. 330

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dd) Wortlaut unter Verwendung eines Wörterbuchs Die obige Tabelle [unter Punkt V. 1. a)] zeigt, dass das OG in 9 von 100 analysierten Entscheidungen die sprachliche Analyse eines Begriffes mithilfe von Wörterbüchern, Lexika etc. durchgeführt hat, dagegen der BGH in keinem einzigen Fall.333 Es stellt sich die Frage, ob dieses Ergebnis – insbesondere in Bezug auf die Rechtsprechung des BGH – in anderen Untersuchungen Unterstützung findet. Um diese Frage zu beantworten, soll an dieser Stelle auf die Untersuchungen von Simon334, Kudlich und Christensen335 sowie Bielska-Brodziak336 näher eingegangen werden. Simon stellt fest, dass der BGH zur Ermittlung der Wortbedeutung „verschiedentlich“ auf Wörterbücher und Lexika zurückgreife.337 Wenn man jedoch bedenke, dass einzelne Entscheidungen zugleich auf mehrere Wörterbücher zurückgreifen, dann ist nach Simon „die Ausbeute in quantitativer Hinsicht gering“.338 Die Begründung dafür sucht Simon in der Analyse der Konstellationen, in denen der BGH auf diese Werke zurückgreift. Seine Untersuchung ergab, dass sich der BGH „relativ häufig“ zum Verständnis technischer Fragen der Nachschlagwerke bedient. In dieser Konstellation bieten die Wörterbücher durchaus eine Orientierung.339 Bei einer Fallgestaltung aus dem alltäglichen Sprachgebrauch wird die Sache komplizierter. Am ehesten geht der BGH dann so vor, dass der alltägliche Sprachgebrauch zunächst anhand der Wörterbücher ermittelt und dann als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen genutzt wird. Die übrigen Auslegungselemente können einen weiten Begriff bestätigen oder eine Einschränkung erzwingen.340 Diese Reihenfolge ist jedoch keineswegs zwingend. Der BGH nutzt den in Wörterbüchern ermittelten Sprachgebrauch auch lediglich zur Absicherung seiner anderweitigen Argumentation, oder um zu belegen, dass der Wortlaut der postulierten Auslegung jedenfalls nicht entgegenstehe. Zusammenfassend gelangt Simon zu der Schlussfolgerung, dass das Heranziehen von Wörterbüchern im Auslegungsprozess kein großes Gewicht habe. Es könne jedoch

333 Nach Stawecki hat diese Praxis in der Rechtsprechung des OG in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen. T. Stawecki, Interpretacja prawa w orzecznictwie Sa˛du Najwyz˙szego, in: J. Stelmach (Hrsg.), Filozofia prawa wobec globalizmu, 2003, S. 103. Ähnlich A. Bielska-Brodziak/Z. Tobor, Słowniki a interpretacja teksów prawnych, PiP 5/2007, S. 20. 334 E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005. 335 H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009. 336 A. Bielska-Brodziak, Interpretacja teksu prawnego na podstawie orzecznictwa podatkowego, 2009. 337 E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 64. 338 Ebenda. 339 Ebenda. 340 Ebenda.

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Teil 2: Empirische Analysen

bei einer Entscheidung als Ausgangspunkt oder zur Unterstützung der Ergebnisse dienlich sein.341 Demgegenüber haben Kudlich und Christensen342 in ihrer Untersuchung festgestellt, dass ein Wörterbuch in keiner der in Betracht gezogenen Entscheidungen zur Anwendung kam. Dabei ist daran zu erinnern, dass Kudlich und Christensen rund 300 Entscheidungen des BGH (über 1.500 Seiten empirisches Material) analysiert haben.343 Die Forscher folgern daraus jedoch nicht, dass der BGH in Strafsachen nie auf die Hilfe von Wörterbüchern zurückgreife.344 Dazu verweisen sie auf Entscheidungen, die in ihre Stichprobe nicht einbezogen wurden, wie z. B. den Beschluss vom 14.3.2000345, in denen aber ein Wörterbuch zur Verwendung kam. Doch angesichts der durchaus nennenswerten Anzahl der insgesamt analysierten Entscheidungen, stellen Kudlich und Christensen die Vermutung auf, „dass der Rückgriff auf ein Wörterbuch keine nennenswerte Rolle in der Begründungskultur des BGH spielt“ 346, was mit den Feststellungen der vorliegenden Untersuchung übereinstimmt. Dass die Wörterbücher bei der Auslegung der Begriffe demgegenüber eine gewisse Rolle in der polnischen Begründungskultur spielen, bestätigt die Untersuchung von Bielska-Brodziak. Diese Untersuchung ergab, dass das OG (alle Senate) in den Jahren 1990–2007 genau 207 Mal auf Wörterbücher zurückgegriffen hat.347 Die Verwaltungsgerichte haben in dem genannten Zeitraum sogar 743 Mal von Wörterbüchern Gebrauch gemacht.348 Dieses Forschungsprojekt ergab auch in dieser Hinsicht eine steigende Tendenz.349 Die dargestellten Ergebnisse der Untersuchungen stimmen mithin grundsätzlich mit den Befunden der vorliegenden Untersuchung überein. Die untersuchten Stichproben haben gezeigt, dass die Rechtsprechung des BGH keine sprachlichen Analysen mithilfe von Wörterbüchern durchgeführt hat. Aus den Untersuchungen von Simon und Kudlich/Christensen geht hervor, dass der BGH sehr selten zu 341 Ebenda, S. 68. Leider lässt sich dem Kontext nicht entnehmen, ob der letzte Satz einen deskriptiven oder normativen Charakter hat. 342 H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009. 343 Ebenda, S. 29. 344 Ebenda. 345 4 StR 284/99, StV 6/2000, 315, 317. 346 H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 29. 347 A. Bielska-Brodziak, Interpretacja tekstu prawnego na podstawie orzecznictwa podatkowego, 2009, S. 269. Siehe dazu auch A. Bielska-Brodziak/Z. Tobor, Słowniki a interpretacja tekstów prawnych, PiP 5/2007, S. 20 ff. 348 A. Bielska-Brodziak, Interpretacja tekstu prawnego na podstawie orzecznictwa podatkowego, 2009, S. 269. 349 Ebenda, S. 28. Eine steigende Tendenz in der Anwendung von Wörterbüchern in der Rechtsprechung des OG bestätigt auch Stawecki. Siehe dazu: T. Stawecki, Interpretacja prawa w orzecznictwie Sa˛du Najwyz˙szego, in: J. Stelmach (Hrsg.), Filozofia prawa wobec globalizmu, 2003, S. 103.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Wörterbüchern greift, um die Wortbedeutung eines Begriffes zu ermitteln. Wie relativ selten der BGH von Wörterbüchern Gebrauch macht, lässt sich erst feststellen, wenn man die analysierten Entscheidungen des OG und des BGH in dieser Untersuchung miteinander vergleicht. Da in dieser Hinsicht ein erheblicher quantitativer Unterschied zwischen der Rechtsprechung beider Gerichte vorliegt, ist eine vertiefte Analyse angebracht. Im Folgenden soll gezeigt werden, welche Bedeutung das OG der sprachlichen Analyse beimisst, die anhand eines Wörterbuchs vorgenommen wurde. OG Fall 1 Die erste (im Rahmen der hier zugrunde gelegten Stichprobe) semantische Analyse von Begriffen führte das OG im Beschluss (Uchwała) vom 20.12. 2006350 durch, bei dem die Frage im Vordergrund stand, ob eine Appellation auch mit der Hilfe eines Faxgerätes eingelegt werden kann. Das OG ließ diese Möglichkeit grundsätzlich zu, stellte jedoch eine Bedingung auf: Die Person, die eine Appellation per Faxgerät eingelegt hat, muss sie noch einmal eigenhändig im Gericht unterschreiben. Die Unterschrift auf dem Papier, das das Faxgerät sendet, erfüllt nach Auffassung des OG die Bedingung der „Unterschrift“ im Sinne des Art. 119 § 1 Pkt. 4 KPK nicht.351 Für dieses Ergebnis sprechen nach dem OG sowohl die sprachliche als auch die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode. Die sprachliche Analyse führte das OG bei der Auslegung der Begriffe „Unterschrift“ und „Faxgerät“ mithilfe von Wörterbüchern (S. Dubisz, Uniwersalny słownik je˛zyka polskiego, Warszawa 2003, B. Pfaffenberger, Słownik terminów komputerowych, Warszawa 1999) und einer Enzyklopädie (Wielka Encyklopedia PWN, Warszawa 2005) durch. Schon aus diesen Analysen leitete das OG die Schlussfolgerung ab, dass die Unterschrift auf dem Faxpapier die Bedingungen des Art. 119 § 1 Pkt. 4 KPK nicht erfüllt. Aus der dem Wörterbuch entnommenen Definition ging nach der Ansicht des OG hervor, dass das Wort „Unterschrift“ den eigenhändig geschriebenen Namen bedeutet. Dabei meint das Wort „unterzeichnen“ nach dem Wörterbuch „einem Dokument durch Ausschreiben seines Namens Gültigkeit zu verleihen“. Auch Analysen des Begriffes „Fax“ spielten in der Argumentation des OG eine erhebliche Rolle. Aus den von Wörterbüchern entnommenen Definitionen ging nach der Auffassung des OG hervor, dass der Begriff „Fax“ eine Kopie des Dokuments umfasst, was eine eigenhändige Unterzeichnung ausschließt. Erst nach diesen Analysen folgten 350

I KZP 29/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 1. Art. 119 Abs. 1 KPK lautet: „1. Eine Prozeßschrift soll: 1. die Bezeichnung des Organs, an das sie gerichtet ist, und der Sache, die sie betrifft, 2. die Bezeichnung der Anschrift desjenigen, der das Schriftstück einreicht, 3. den Inhalt des Antrags oder der Erklärung, je nach Bedarf mit Erklärung, 4. das Datum und die Unterschrift desjenigen, der das Schriftstück einreicht, enthalten.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 351

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die anderen Argumente, die an die systematische und funktionelle Auslegungsmethode anknüpften. Eine erhebliche Bedeutung für das OG hatte in dieser Entscheidung insbesondere die Unsicherheit, die entstehen würde, wenn die Appellation mithilfe eines Faxgerätes eingelegt worden wäre. Dann wäre nicht sicher, ob die Person, die die Appellation einlegt, sie auch wirklich unterschrieben hat. In diesem Urteil hat das OG letztlich der Sicherheit des Rechtsverkehrs im Gegensatz zur Praktikabilität den Vorrang eingeräumt. Es lässt sich dabei nicht bestreiten, dass die sprachlichen Analysen, die das OG auf der Grundlage von Wörterbüchern vorgenommen hat, in dieser Entscheidungsbegründung keine untergeordnete Rolle gespielt haben. Sie waren nicht nur Ausgangspunkt der Argumentation, an die sich weitere Argumente anschließen, sondern sie ließen nach der Auffassung des OG bereits die Begründung eines bestimmten Ergebnisses zu, das nur durch andere Argumente bestätigt werden soll.352 352 Es ist hervorzuheben, dass die deutsche Rechtsprechung bei einem ähnlichen Auslegungsproblem zu einem anderen Ergebnis gekommen ist. Man darf dabei jedoch nicht übersehen, dass die deutsche StPO hinsichtlich der Form der Einlegung von Rechtsmitteln wenig ausführlich ist. Aus § 306 Abs. 1 StPO geht nur hervor, dass die Beschwerde bei dem Gericht, von dem oder von dessen Vorsitzenden die angefochtene Entscheidung erlassen worden ist, zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden kann. Auch die Berufung kann gemäß § 314 Abs. 1 StPO bei dem Gericht des ersten Rechtszuges binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden. Eine ähnliche Regelung sieht die StPO für die Revision in § 341 Abs. 1 vor, wobei die Revisionsbegründungsfrist gemäß § 345 Abs. 1 einen Monat beträgt und die Revisionsanträge und ihre Begründung seitens des Angeklagten gemäß § 345 Abs. 2 StPO vom Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichnet werden müssen. Auch können die Revisionsanträge und ihre Begründung zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden. In Rechtsprechung und Lehre ist jedoch anerkannt, dass ein Rechtsmittel auch durch Telefax eingelegt und begründet werden kann (Urteil des BAG vom 24.9.1986, 7 AZR 669/84, BAGE 53, 105; Beschluss des OLG Düsseldorf vom 20.10.1994, 1 Ws 773/94, NJW 10/1995, 671; Beschluss des OLG Düsseldorf vom 7.3.1995, 3 Ws 106/95, 3 Ws 107/95, NJW 33/1995, 2177; L. Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage, 2014, Einl Rn. 139a). Dies trifft auch auf die Revisionsbegründung zu, die nach § 345 Abs. 2 StPO unterzeichnet werden muss. So hat das Hanseatische Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 28.9.1989 [1 Ss 132/89 (49) 51/89, NJW 49/1989, 3167] ausdrücklich festgestellt, dass die Übermittlung der Revisionsbegründung durch Telekopie/Telefax jedenfalls dann nicht zu beanstanden ist, wenn sie dem Rechtsmittelgericht unmittelbar oder durch die Vermittlung von Behörden zugeleitet wird. Das OLG forderte nur bei der Einlegung der Revisionsbegründung durch Telefax, dass die gesamte Urschrift einschließlich der Unterschrift ihres Verfassers durch das Empfangsgerät reproduziert wird. Bedauerlicherweise hat das OLG nicht ausgeführt, welche sachlichen Gründe (außer der herrschenden Meinung) es zu einer solchen Entscheidung veranlasst haben. Eine solche Argumentation lässt sich jedoch dem Urteil des BGH vom 9.3.1982 (1 StR 817/81, BGHSt 31, 7) entnehmen, in dem sich der BGH mit der Frage befasste, ob die Revisionsbegründung durch ein Fernschreiben eingelegt werden kann. Der BGH bejahte diese Frage mit der Begründung, dass der fernschriftliche Verkehr einfacher und schneller als der telegrafische sei, weil die an das öffentliche Fernschreibnetz ange-

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OG Fall 2 Eine weitere sprachliche Analyse unter Verwendung von Wörterbüchern führte das OG im Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2008353 durch. In diesem Verfahren musste das OG die Frage beantworten, ob der Begriff des „Betäubungsmittels“ in Art. 178a KK (Trunkenheitsfahrt) nur die Betäubungsmittel erfasst, die in Art. 4 Pkt. 26 des Gesetzes vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht354 genannt werden. Das OG verneinte diese Frage entgegen der herrschenden Lehre mit einer Argumentation, die sich auf die sprachliche, systematische und funktionale Auslegungsmethode stützte. Den Auslegungsprozess begann das OG jedoch mit einer sprachlichen Analyse des Begriffes „Betäubungsmittel“. Aus der einem Wörterbuch entnommenen Definition (M. Szymczak [Hrsg.], Słownik je˛zyka polskiego PWN, Band 2, Warszawa 1994) ging hervor, dass dieser Begriff einen breiten Anwendungsbereich hat. In der Alltagssprache ist das Wort „Betäubungsmittel“ ein Synonym für das Wort „Rauschmittel“. Die sprachliche Analyse des Begriffs „Betäubungsmittel“, die das OG mittels des Wörterbuchs vorgenommen hatte, war in dieser Argumentationsstruktur jedoch nur der Ausgangpunkt der Auslegung, aus der das OG keine Schlussfolgerungen gezogen hat. Erst nach der Überprüfung, wie die Begriffe „Betäubungsmittel“, „Betäubung“, „Betäubungszustand“ in anderen Vorschriften des KK, des KPK, des KKW und anderer Gesetze verwendet wurden, stellte das OG ein terminologisches Chaos in dieser Hinsicht fest und ging zur systematischen und funktionalen Auslegungsmethode über. Insbesondere im Rahmen der funktionalen Auslegungsmethode kam das OG zu der Schlussfolgerung, dass jeder Teilnehmer vom Straßenverkehr ausgeschlossen werden soll, dessen Fähigkeit zur Führung eines Fahrzeugs eingeschränkt ist, unabhängig davon, ob er ein Betäubungsmittel eingenommen hat, das in Art. 4 Pkt. 26 des Gesetzes vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht aufgezählt wird, oder nicht. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die wörterbuchbezogene Analyse in dieser Entscheidung es dem OG nicht ermöglichte, eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Trotzdem erachtet das OG es nicht für überflüssig, die Ergebnisse seiner Arbeit mit einem Wörterbuch zu überprüfen. Dies dürfte wiederum deutlich machen, dass Wörterbücher als Erkenntnisquelle des sprachlichen Wissens für das OG eine große Bedeutung haben.

schlossenen Teilnehmer in der Regel jederzeit direkt in Verbindung treten können. Und der wichtigste Satz lautet: „Es besteht kein Anlaß, dem Bürger die Vorteile dieses modernen Kommunikationssystems vorzuenthalten, das ihm die bestmögliche Ausschöpfung einer gegen ihn laufenden Rechtsmittelfrist ermöglicht. Auch ist die Gefahr des Missbrauchs geringer als die der Täuschung des Rechtsverkehrs durch ein Telegramm.“ (BGHSt 31, 9). 353 I KZP 36/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 1. 354 Ustawa z dnia 29 lipca 2005 r. o przeciwdziałaniu narkomanii, Dz. U. 2012 Pos. 124.

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OG Fall 3 Im Beschluss (Uchwała) des OG vom 21.3.2007355 stand die Frage im Vordergrund, ob der Begriff „gwałt“ in Art. 130 § 3 KW356 (Übertretungskodex) mit dem Begriff „przemoc“ in Art. 280 § 1 KK357 (Raub) identisch ist. In der deutschen Sprache bedeuten beide Begriffe „Gewalt“. Die Frage hatte jedoch eine fundamentale praktische Bedeutung, denn im Falle der Verneinung der Frage wird der Täter, der eine Sache mit Gewalt weggenommen hat, nach dem milderen Übertretungskodex bestraft, es sei denn, die Sache war (nach der damaligen Rechtslage358) mehr als 250 Zloty wert. Im Falle der Bejahung der Frage wird der Täter nach der Regelung des Art. 280 § 1 KK bestraft, die eine zweijährige Freiheitsstrafe als Mindestandrohung vorsieht. Im Ergebnis verneinte das OG die gestellte Frage, was zu dem problematischen Ergebnis führte, dass ein Täter, der nur Gewalt gegen eine andere Person ausübt, nach dem KK bestraft wird, demgegenüber ein Täter, der Gewalt ausübt, um eine Sache bis zum Wert von 250 Zloty zu erlangen, nach dem Übertretungskodex bestraft wird.359 Die sprachliche Analyse der Begriffe „gwałt“ und „przemoc“ nahm in der Begründung der Entscheidung des OG sehr viel Raum ein. Nach dem Gebrauch mehrerer älterer und neuerer Wörterbücher (S. B. Linde, Słownik je˛zyka polskiego, Band 4, Lwów 1958; W. Doroszewski [Hrsg.], Słownik je˛zyka polskiego, Band 7, Warszawa 1965; S. Skorupka, Słownik frazeologiczny je˛zyka polskiego, Band 1, Warszawa 1989; S. Skorupka, H. Auderska, Z. Łempicka, Mały słownik je˛zyka polskiego, Warszawa 1968; M. Ban´ko [Hrsg.], Inny słownik je˛zyka polskiego, Band 2, Warszawa 2000; S. Dubisz [Hrsg.], Uniwersalny słownik je˛zyka 355

I KZP 39/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 1. Art. 130 § 3 KW lautet: „Die Vorschriften des Art. 119 und 120 finden keine Anwendung, wenn der Täter Gewalt (gwałt) gegen eine Person anwendet oder ihre sofortige Anwendung androht, um den Besitz des weggenommenen Vermögens aufrechtzuerhalten (. . .)“. Übersetzung des Verfassers. Art. 119 des Übertretungskodexes in der während der Urteilsfindung geltenden Fassung regelte den Diebstahl einer Sache bis zum Wert von 250 Zloty. In der ab 9.11.2013 geltenden Fassung dieser Vorschrift ist die Schwelle zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat beim einfachen Diebstahl variabel – sie beträgt ein Viertel des monatlichen Mindestlohns. Für das Jahr 2015 wurde der monatliche Mindestlohn auf 1750 Zloty festgelegt, woraus sich eine Wertgrenze von 437,50 Zloty ergibt. 357 Art. 280 § 1 KK lautet: „Wer bei der Begehung eines Diebstahls Gewalt gegen eine Person anwendet, mit unmittelbarer Gewaltanwendung droht oder eine Person in einen Zustand der Bewußtlosigkeit oder der Hilflosigkeit versetzt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zwölf Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 358 Siehe Fußnote 356. 359 Diese unglückliche Situation hat das OG bemerkt und schließlich seine Rechtsauffassung vom 21.3.2007 im Beschluss (Uchwała) vom 30.6.2008, I KZP 10/08, OSNKW 2008, Nr. 7, S. 16 aufgegeben. 356

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polskiego, Band 3, Warszawa 2003; J. Karłowicz, A. Kryn´ski, W. Niedz´wiedzki, Słownik je˛zyka polskiego, Band 1, Warszawa 1900) zog das OG den Schluss, dass die interpretierten Begriffe sich in der Alltagssprache überschneiden. Aus dieser Feststellung kann jedoch nach Auffassung des OG nicht gefolgert werden, dass der Begriff „gwałt“ in Art. 130 § 3 des Übertretungskodexes mit dem Begriff „przemoc“ in Art. 280 § 1 des polnischen KK von 1997 identisch ist, denn – und das ist das entscheidende Argument – der KK verwendet beide Begriffe, zum einen in Art. 280 § 1 KK, zum anderen in Art. 166 KK360, was bedeute, dass der Gesetzgeber zwischen diesen Begriffen differenzieren wollte. Das OG hat somit das Ergebnis der wörterbuchorientierten Analyse im Hinblick auf die Differenzierungen, die der Gesetzgeber vorgenommen hat, abgelehnt. Für dieses Ergebnis spricht nach Ansicht des OG weiterhin der Umstand, dass beide Begriffe auch in der Literatur bisher unterschiedlich verstanden wurden. Natürlich sah das OG die Konsequenzen seiner Entscheidung. Es betonte jedoch ausdrücklich den Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode und die Subsidiarität der übrigen Auslegungsmethoden, insbesondere der funktionalen Auslegungsmethode (siehe dazu Pkt. D. I. Fall Nr. 5). Dieser Fall zeugt deutlich davon, welche dominierende Rolle das OG der Sprache (im Gesetzestext) beimessen kann. OG Fall 4 Wörterbücher können auch nach der Auffassung des OG bei der Lösung derjenigen Probleme behilflich sein, die zu den klassischen Streitfragen der Dogmatik gehören. In dem anhängigen Verfahren [Beschluss (Postanowienie) des OG vom 23.5.2007361] musste das OG entscheiden, ob die Täter schon einen Versuch unternommen hatten, oder ob ihr Verhalten nur als Vorbereitungshandlung beurteilt werden kann. Die Antwort auf diese Frage spielte eine erhebliche Rolle, denn der Versuch ist nach polnischem KK im Gegensatz zum deutschen StGB bei allen Delikten stets strafbar, während die Vorbereitung nur dann strafbar ist, wenn das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht, was eher die Ausnahme ist. In dem anhängigen Verfahren hatten 23 Täter mit gefährlichen Waffen in der Nähe einer Diskothek ihre Autos geparkt, um die Angestellten und die Wachleute der Diskothek zusammenzuschlagen. Zwei von den Tätern waren in die Diskothek hineingegangen, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. In diesem Moment wurden diese zwei und die in den Autos verbliebenen anderen Täter von der Polizei festgenommen. Es entstand vor dem Hintergrund dieses Sachverhalts 360 Art. 166 § 1 KK lautet: „Wer durch Arglist oder Gewaltanwendung gegen eine Person oder durch Drohung mit unmittelbarer Gewaltanwendung die Kontrolle über ein Wasser- oder Luftfahrzeug übernimmt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zwölf Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 361 V KK 265/06, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 54.

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das rechtliche Problem: Haben die Täter ihr Verhalten unmittelbar auf die Vollendung der Tat gerichtet (Versuch) oder war ihr Verhalten als bloße Vorbereitung zu werten? Aus der Zusammenschau der Vorschriften des Art. 13 § 1 KK362 (Versuch) und des Art. 16 § 1 KK363 (Vorbereitung) leitete das OG zunächst die Schlussfolgerung ab, dass die Vorbereitung in der Etappe der Schaffung der Voraussetzungen zur Begehung einer Straftat endet. Diese Etappe war im vorliegenden Fall nach Auffassung des OG mit dem Zeitpunkt des Parkens der Autos der Täter in der Nähe der Diskothek abgeschlossen. Die Etappe des Versuchs begann erst zu dem Zeitpunkt, in dem sich zwei der Täter in Richtung der Diskothek begaben. Dieses Ergebnis begründete das OG hauptsächlich mit einer sprachlichen Analyse des Begriffs „richtet“ (polnisch: zmierzac´), der in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff „unmittelbar“ (polnisch: bezpos´rednio) stehe (vgl. Wortlaut von Art. 13 § 1 KK). Was der Begriff „richtet“ bedeutet, stellte das OG auf Grund von Wörterbüchern (M. Szymczak [Hrsg.], Słownik je˛zyka polskiego, Warszawa 1984) fest. Dementsprechend bedeutet „richten“ eine Bewegung in eine Richtung, die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt und zeitlich ausgedehnt sein kann. Demzufolge muss der Begriff „richten“ keinesfalls nur eine Tätigkeit erfassen. Dafür spricht nach Auffassung des OG auch, dass die Täter sowohl objektive Voraussetzungen im Sinne einer realen Gefährdung für das Rechtsgut als auch subjektive Voraussetzungen im Sinne einer Manifestation des Willens zur Begehung einer Straftat erfüllt haben. Das Ergebnis begründete das OG ferner mit dem Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung, die den Versuch nicht mit der letzten Handlung vor der Begehung einer Straftat identifiziert, und mit dem Verweis auf ausgewählte Stimmen in der Literatur. Aus dieser Argumentation geht deutlich hervor, dass die primäre Rolle die sprachliche Auslegung und ihr Rahmen, vor allem die auf der Grundlage des Wörterbuches durchgeführte sprachliche Analyse des Begriffes „richtet“, spielte, die schon am Anfang der Argumentation vorgenommen wurde. Dieser Ausgangspunkt determinierte offenkundig die weitere Auslegung und wies den übrigen Argumenten nur eine unterstützende Rolle zu. 362 Art. 13 § 1 KK lautet: „Wegen Versuchs ist strafbar, wer mit dem Vorsatz der Begehung einer verbotenen Tat sein Verhalten unmittelbar auf deren Vollendung richtet, diese jedoch unterbleibt“. Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 363 Art. 16 § 1 KK lautet: „Vorbereitung liegt vor, wenn der Täter in der Absicht der Begehung einer verbotenen Tat Handlungen vornimmt, welche die Voraussetzungen dafür schaffen sollen, daß das Unternehmen der Tat unmittelbar zu deren Vollendung führt, insbesondere wenn der Täter zu diesem Zweck mit einer anderen Person Verabredungen trifft, Mittel erwirbt oder bereitstellt, Informationen sammelt oder einen Handlungsplan entwirft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998.

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OG Fall 5 Auch im Beschluss (Postanowienie) vom 31.5.2007364 spielt die wörterbuchbezogene sprachliche Analyse eine fundamentale Rolle in der Argumentation des OG. In dieser Entscheidung beschäftigte sich das OG unter anderem mit der Frage, ob der Täter das Opfer auch dann mit besonderer Grausamkeit (polnisch: szczególne okrucien´stwo) getötet hat, wenn das Opfer das Leiden gar nicht mehr empfinden konnte. Das OG bejahte diese Frage mit der folgenden Argumentation. Zunächst zitierte das OG die Entscheidungen anderer Gerichte, in denen der Begriff der besonderen Grausamkeit in Art. 148 Abs. 2 KK im Mittelpunkt stand. Aus der Zusammenstellung der entsprechenden Teile der Begründungen leitete das OG die Schlussfolgerung ab, dass die besondere Grausamkeit nur dann bejaht werden kann, wenn die Tathandlung zusätzliche Elemente beinhaltet, die zur Tötung eines anderen Menschen nicht notwendig sind. Ferner stellte das OG fest, dass der Täter mit seinem Bewusstsein diese zusätzlichen Elemente in jedem Fall erfassen muss. Die entscheidende Argumentation ist nun, dass das OG aus der Zusammenstellung der Begriffe „tötet mit besonderer Grausamkeit“ den Schluss zog, dass der Gesetzgeber den Akzent gerade auf diese Begriffe und nicht auf das Leiden des Opfers gesetzt habe, was bedeute, dass das Opfer das Leiden nicht unbedingt empfunden haben müsse, um die Tatbestandsmerkmale des Art. 148 § 2 KK bejahen zu können. Danach kamen die sprachlichen Analysen der Begriffe „grausam“ und „Grausamkeit“ zur Anwendung, die auf der Grundlage eines Wörterbuches (S. Dubisz [Hrsg.], Uniwersalny słownik je˛zyka polskiego, Band 3, Warszawa 2003) durchgeführt wurden, aus denen das OG folgerte, dass auch aus den aus dieser Quelle entnommenen Definitionen nicht hervorgehe, dass das Opfer das Leiden empfunden haben müsse. Die letzte Erwägung führt nach der Auffassung des OG zu der Schlussfolgerung, dass mit besonderer Grausamkeit auch derjenige handelt, der die Tathandlung gegen einen noch lebenden Menschen ausführt, der jedoch nicht bei vollem Bewusstsein ist oder sich in einem Trunkenheitszustand befindet, so dass er nicht in der Lage ist, psychische oder körperliche Leiden zu empfinden. An diese Argumentation schließen sich weitere Argumente an, die das wörterbuchorientierte Ergebnis bestätigen sollen.365 364

III KK 31/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 62. Im deutschen StGB findet sich ebenfalls eine Regelung, die eine schwerere Strafe für den Täter eines Totschlags vorsieht, wenn er dem Opfer bei der Tatausführung besonders starke Schmerzen oder Qualen zugefügt hat. Nach § 211 StGB wird ein Täter sogar mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestraft, unter anderem dann, wenn er „grausam“ einen Menschen getötet hat. Dabei kann man davon ausgehen, dass der Begriff „grausam“ dem Begriff „besonders grausam“ des Art 148 § 2 des polnischen KK korrespondiert. Nach herrschender Meinung tötet grausam, wer seinem Opfer aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung besondere Schmerzen oder Qualen zufügt (Urteil des BGH vom 27.5.1982, 4 StR 200/82, NStZ 9/1982, 379, 379; Urteil des BGH vom 365

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OG Fall 6 Die nächste sprachliche Analyse mithilfe von Wörterbüchern lässt sich in dem Beschluss (Uchwała) vom 29.8.2007366 feststellen. In diesem Verfahren musste das OG den Begriff „Gerät“ (polnisch: sprze˛t) aus dem Gesetz vom 5.7.2002 über den Schutz der Leistungen, die elektronisch erbracht werden und auf einem bedingten Zugang beruhen367 (im Folgenden: Gesetz vom 5.7.2002) auslegen. In dem betreffenden Fall hatte der Täter unbefugt Zugang zu dem Fernsehnetz erlangt, indem er seinen Fernsehapparat unter Verwendung einer Nadel am Fernsehnetz angeschlossen hatte und auf diese Weise unentgeltlich fernsehen konnte. Es entstand die Frage, ob er sich damit gemäß Art. 7 Abs. 2 des Gesetzes vom 5.7.2002 strafbar gemacht hat. Nach dieser Vorschrift wird der Täter mit einer Geldstrafe bestraft, wenn er eine unberechtigte Installation (polnisch: niedozwolone urza˛dzenie) verwendet. Der Begriff „unberechtigte Installation“ wurde in Art. 2 Pkt. 6 des Gesetzes vom 5.7.2002 definiert, wonach unter diesem Begriff sowohl „Gerät“ (polnisch: sprze˛t) als auch Programm (polnisch: oprogramowanie) verstanden wird, die entworfen oder angepasst worden ist, um elektronische Leistungen ohne Ermächtigung zu erlangen. Die Auslegung des Begriffes „sprze˛t“ aus Art. 2 Pkt. 6 des Gesetzes vom 5.7.2002 determinierte die Verant-

26.6.1997, 4 StR 180/97, StV 11/1997, 565; B. Jähnke, in: LK, 5. Band, 11. Auflage, 2003, § 211 Rn. 53; H. Schneider, in: MünchKommStGB, Band 4, 2. Auflage, 2012, § 211 Rn. 129; A. Eser/D. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, § 211 Rn. 27). Dabei verneint die herrschende Meinung die Grausamkeit, wenn dem Opfer bereits jede Empfindungsfähigkeit fehlt (Beschluss des BGH vom 4.9.1985, 2 StR 353/85, NJW 5/1986, 265, 266; B. Jähnke, in: LK, Band 5, 11. Auflage, 2003, § 211 Rn. 54; H. Schneider, in: MünchKommStGB, Band 4, 2. Auflage, 2012, § 211 Rn. 132; A. Eser/D. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, § 211 Rn. 27). Dies kann allerdings allenfalls bei Bewusstlosigkeit oder totaler Abstumpfung des Gefühlslebens angenommen werden, nicht dagegen bei bloßer Halbohnmacht (A. Eser/D. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, 2014, § 211 Rn. 27). Demzufolge scheidet Mord aus, wenn dem Opfer überhaupt die Fähigkeit fehlt, die besondere, das Merkmal der Grausamkeit begründende Begehungsweise leidend zu empfinden. In diesem Zusammenhang wäre besonders interessant, wie der BGH in dem Beschluss vom 4.9.1985 (2 StR 355/85, NJW 5/1986, 265) zu dem Ergebnis gekommen ist, dass das Opfer das Leiden empfinden muss, um das Mordtatbestandsmerkmal bejahen zu können. Bedauerlicherweise geht aus der Begründung des Beschlusses nicht hervor, welche Gründe den BGH zu dem erwähnten Ergebnis bewogen haben. Der BGH (BGH NJW 5/1986, 266) stellt nur fest: „Selbst wenn der Angekl. die Frau auch später noch erheblich mißhandelt haben sollte, so wäre das für die Bewertung der Tat als grausame Tötung nur bedeutsam, wenn das Opfer diese Mißhandlungen trotz der schweren Kopfverletzungen noch empfunden hat. Das erscheint nach den bisherigen Feststellungen, nach denen die Frau spätestens gegen 22.30 Uhr zu einem aktiven Tun nicht mehr in der Lage war, fraglich.“ 366 I KZP 19/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 1. 367 Ustawa z dnia 5 lipca 2002 r. o ochronie niektórych usług s ´wiadczonych droga˛ elektroniczna˛ opartych lub polegaja˛cych na doste˛pie warunkowym, Dz. U. 2002 Nr. 126, Pos. 1068.

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wortung des Täters, der durch eine Nadel den Zugang zum Fernsehnetz erlangt hatte. Die Auslegung des Begriffes „sprze˛t“ nahm das OG mit Hilfe der Feststellung von Definitionen aus Wörterbüchern (M. Szymczak, Słownik je˛zyka polskiego, Band 3, Warszawa 1999; S. Dubisz [Hrsg.], Uniwersalny słownik je˛zyka polskiego, Band 4, Warszawa 2003) vor. Es wurden drei Definitionen zitiert. Zum einen bedeutet „sprze˛t“ Nutzungsgegenstand, wie es z. B. Möbel, Werkzeuge und Gefäße sind. Zum anderen kann der Begriff „sprze˛t“ als Sammelbegriff für Geräte verstanden werden, die in einem Arbeitsbereich zur Anwendung kommen, z. B. Arbeitsgeräte, die in der Bauindustrie verwendet werden. Die dritte Bedeutung verweist unter dem Begriff „sprze˛t“ auf die Durchführung der Mahd. Aus der Zusammenstellung dieser drei Definitionen zog das OG die Schlussfolgerung, dass für die Auslegung des Begriffes „sprze˛t“ in Art. 6 Pkt. 2 des Gesetzes vom 5.7.2002 die zweite Definition maßgebend sei, d. h., der Begriff „sprze˛t“ soll als Sammelbegriff für Geräte verstanden werden, die im elektronischen Arbeitsbereich zur Anwendung kommen, also handelt es sich nach der Ansicht des OG um elektronische Geräte. Dieses Ergebnis, das eine Nadel aus dem Anwendungsbereich des Begriffes „sprze˛t“ ausschließt, bestätigte das OG mit der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode. Es ist jedoch hervorzuheben, dass die sprachlichen Analysen des Begriffes „sprze˛t“ schon eine Lösung des Auslegungsproblems begründet haben, die mit den anderen Auslegungsmethoden nur überprüft und bestätigt wurde. OG Fall 7 Eine weitere Entscheidung, in der die wörterbuchbezogene sprachliche Analyse eine entscheidende Rolle in der Begründung spielte, traf das OG im Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007 368. In diesem Verfahren musste das OG den Begriff „entsprechen“ (polnisch: odpowiadac´) in Art. 71 § 2 KK369 auslegen. Hier hatte der Verurteilte eine Geldstrafe gezahlt, die neben einer Freiheitsstrafe verhängt wurde, und es entstand die Frage, nach welchem Maßstab die gezahlte Geldstrafe auf die Freiheitsstrafe angerechnet werden soll, nachdem die Vollstreckung der Freiheitsstrafe angeordnet wurde. In der Literatur werden dazu zwei voneinander abweichende Auffassungen vertreten. Nach der ersten Auffassung, die sich auf den Wortlaut des Art. 71 § 2 S. 2 KK stützt, soll ein Maßstab

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I KZP 27/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 1. Art. 71 § 2 KK lautet: „Ordnet das Gericht die Vollstreckung der Freiheits- oder der Freiheitsbeschränkungsstrafe an, wird die aufgrund von § 1 verhängte Geldstrafe nicht vollstreckt. Hat der Verurteilte bereits einen Teil der Geldstrafe beglichen, so wird die zu vollstreckende Freiheits- oder Freiheitsbeschränkungsstrafe um die Dauer gekürzt, die der Anzahl der bereits bezahlten Tagessätze entspricht; hierbei wird auf volle Tage abgerundet.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 369

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angenommen werden, nach dem ein Tagessatz einem Tag der Freiheitsstrafe entsprechen soll. Demzufolge wird die angeordnete Freiheitsstrafe um die Zahl der Tagessätze gekürzt, die vom Verurteilen beglichen wurden. Die andere Auffassung verweist auf Art. 46 KKW370 und Art. 65 KKW371, die im Falle der Nichtzahlung der Geldstrafe einen Maßstab von 2 zu 1 vorsehen, d. h., wenn der Verurteilte die Geldstrafe nicht zahlt, werden zwei Tagessätze in einen Tag Freiheitsstrafe umgewandelt. Den Auslegungsprozess begann das OG mit einer Feststellung der methodologischen Grundsätze, nach denen der sprachlichen Auslegungsmethode der Vorrang eingeräumt wurde. Dementsprechend kam die sprachliche Auslegungsmethode zur Anwendung und in ihrem Rahmen führte das OG wieder mithilfe von Wörterbüchern (M. Ban´ko [Hrsg.], Słownik je˛zyka polskiego, Band 3, Warszawa 2007; M. Szymczak [Hrsg.], Słownik je˛zyka polskiego, Warszawa 1994; S. Dubisz [Hrsg.], Uniwersalny słownik je˛zyka polskiego, Band 3, Warszawa 2003) eine sprachliche Analyse des Begriffes „entsprechen“ durch. Schon auf der Grundlage der sprachlichen Analysen dieses Begriffes kam das OG zu dem Ergebnis, dass der Begriff „entsprechen“ einen Maßstab von 1 zu 1 determiniere. Um dieses Ergebnis zu bestätigen, berief sich das OG noch auf das Argument des rationalen Gesetzgebers, der eine Verweisung auf Art. 46 und 65 KKW vorgesehen hätte, wenn er die Umwandlung der gezahlten Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe nach den Maßstäben hätte regeln wollen, die für die nicht gezahlte Geldstrafe gelten. Für dieses Ergebnis sprechen nach Ansicht des OG auch die systematische und die funktionale Auslegungsmethode. Aus der Zusammenstellung der entsprechenden Vorschriften aus dem KK (Art. 4 § 2, Art. 63 § 1) und dem KKW (Art. 46, Art. 47 § 4) zog das OG den Schluss, dass der Gesetzgeber keinen einheitlichen Maßstab für die Umwandlung der Geldstrafe in Freiheitsstrafe und umgekehrt vorgesehen habe.372 Ferner sprechen nach Auffassung des OG funktionelle Gesichtspunkte für dieses Ergebnis, denn eine Geldstrafe, die neben der Freiheitsstrafe verhängt wurde, stellt ein reales Übel für den Täter dar und demzufolge ist die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung auch in denjenigen Fällen möglich, in denen eine Bewährungsstrafe nicht in Betracht käme. Falls

370 Nach Art. 46 § 1 KKW wird bei Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe ein Tagessatz der Geldstrafe in zwei Tage der Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt. 371 Nach Art. 65 § 1 KKW wird bei der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe ein Tag der Freiheitsbeschränkungsstrafe in zwei Tage der Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt. 372 Dieses Argument ist allerdings nicht stichhaltig. Gerade aus Art. 4 § 2 KK, Art. 63 § 1 KK und Art. 46 § 2 KKW geht hervor, dass der Gesetzgeber einen festen Maßstab, nach dem 2 Tagessätze einem Tag Freiheitsstrafe entsprechen, angenommen hat. Nur aus Art. 47 § 4 KKW geht hervor, dass ein günstigerer Maßstab der Umwandlung (3, 4 etc. Tagessätze für einen Tag Freiheitsstrafe) angenommen werden kann, wenn der Verurteilte die Hälfte der Geldstrafe gezahlt hat und die Zwangsvollstreckung erfolglos blieb.

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jedoch die Vollstreckung der Freiheitsstrafe angeordnet wird, kann es für den Täter noch schwieriger werden, diese Geldstrafe zu zahlen, was für eine günstigere Umwandlung (1 zu 1) spricht. Schließlich führte das OG aus, dass eine Auslegung zu Ungunsten des Verurteilten im vorliegenden Fall den fundamentalen Rechtsprinzipen, insbesondere dem Analogieverbot, widersprochen hätte. Aus dieser Argumentation geht hervor, dass die auf der Grundlage von Wörterbüchern durchgeführte sprachliche Analyse nicht nur der Ausgangspunkt der Auslegung war, sondern aus ihrer Anwendung eine Schlussfolgerung (Ergebnis) gezogen wurde, die durch andere Argumente nur flankiert wurde. OG Fall 8 Wörterbücher werden in einem weiten Umfang auch in dem Beschluss (Postanowienie) des OG vom 20.9.2007373 verwendet. In diesem Verfahren konzentrierte sich das OG auf Art. 158 § 1 KK374. Diese Regelung besteht aus zwei Alternativen und das OG hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Folgen der Tat, also die unmittelbare Gefährdung des Lebens oder die Gefahr des Eintretens einer der in Art. 156 § 1 oder 157 § 1 KK bezeichneten Folgen, sich nur auf die Rauferei bezieht oder auch auf die Schlägerei. Das Bezirksgericht, das diese Frage dem OG vorgelegt hatte, argumentierte, dass der KK von 1969375 eine gleichlautende Regelung vorsah (Art. 158 § 1 KK von 1969), die jedoch eine Pluralform „bei denen“ verwendete, was eindeutig darauf verwies, dass der Gesetzgeber sowohl die Rauferei als auch die Schlägerei mit der Voraussetzung der erwähnten Tatfolgen verbinden wollte. Demgegenüber verwendet Art. 158 § 1 KK von 1997 die Singularform „bei der“, was die Vermutung nahe legte, dass die Tatfolgen nur auf eine Rauferei bezogen werden sollten.376 Das OG begann die Argumentation mit der Feststellung, dass sowohl in der bisherigen Rechtsprechung als auch in der Literatur eine einhellige Auffassung dahingehend vertreten werde, dass die in Art. 158 § 1 KK erwähnten Folgen so-

373

I KZP 30/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 17. Art. 158 § 1 KK lautet: „Wer sich an einer Schlägerei oder einer Rauferei beteiligt, bei der das Leben eines Menschen unmittelbar gefährdet oder ein Mensch der Gefahr des Eintretens einer der in Art. 156 § 1 oder 157 § 1 bezeichneten Folgen ausgesetzt wird, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.“ 375 Der KK von 1969 war der unmittelbare Vorläufer des KK von 1997. 376 Diese Ausführungen des Bezirksgerichts zeigen, welche Bedeutung das Bezirksgericht der Sprache zuweist, indem es sich dazu genötigt fühlte, das OG anzurufen, um das bereits dargestellte Interpretationsproblem zu lösen. Aus dem Urteil des OG geht eindeutig hervor, dass dem Bezirksgericht die Entstehungsmaterialien des KK von 1997 bekannt waren, in denen ausdrücklich festgestellt wurde, dass sich die in Art. 158 § 1 KK erwähnten Folgen sowohl auf das Tatbestandsmerkmal „Rauferei“ als auch auf das Tatbestandsmerkmal „Schlägerei“ beziehen. Trotzdem wandte sich das Bezirksgericht mit der konkreten Rechtsfrage an das OG, um seine Bedenken zu zerstreuen. 374

260

Teil 2: Empirische Analysen

wohl auf das Tatbestandsmerkmal „Rauferei“ als auch auf das Tatbestandsmerkmal „Schlägerei“ zu beziehen seien. Dann erwähnte das OG ausdrücklich die sprachliche Auslegungsmethode und führte in ihrem Rahmen eine sprachliche Analyse der Satzverbindung „bei der“ (w którym) durch. Auf der Grundlage der Berücksichtigung mehrerer Wörterbücher (W. Doroszewski [Hrsg.], Słownik poprawnej polszczyzny, Warszawa 1980; A. Markowski, Nowy słownik poprawnej polszczyzny, Warszawa 1990; S. Dubisz [Hrsg.], Uniwersalny słownik je˛zyka polskiego, Warszawa 2003; M. Ban´ko [Hrsg.], Inny słownik je˛zyka polskiego, Warszawa 2002; M. Ban´ko, M. Krajewski, Słownik wyrazów kłopotliwych, Warszawa 1995) und eines Handbuches (J. Podracki [Hrsg.], Polszczyzna płata nam figle. Poradnik je˛zykowy dla kaz˙dego, Warszawa 1995) kam das OG zu der Schlussfolgerung, dass das Pronomen „który“ nach der polnischen Grammatik immer dem Genus und dem Numerus des letzten Substantivs des Hauptsatzes entsprechen müsse. Diese Eigenschaft der Grammatik der polnischen Sprache führe zu der Schlussfolgerung, dass sich die Tatfolgen des Art. 158 § 1 KK sowohl auf das Tatbestandsmerkmal „Rauferei“ als auch auf das Tatbestandsmerkmal „Schlägerei“ beziehen. Die Klarheit dieses Ergebnisses könnte nach Auffassung des OG schon einen Abschluss des Auslegungsprozesses zulassen, aber die fehlerhafte Anwendung des Pronomens „który“ im KK von 1969 liefere in diesem Fall den Grund dafür, die systematische und die funktionelle Methode zusätzlich anzuwenden, um das Auslegungsergebnis zu überprüfen und eventuell zu bestätigen. Im Rahmen der systematischen Auslegung kam das OG dann zu der Schlussfolgerung, dass sich sowohl der KK von 1969 als auch der KK von 1997 stets an die grammatische Regel halten, die eine Übereinstimmung des Pronomens „który“ mit dem Genus und dem Numerus des letzten Substantivs des Hauptsatzes fordert, was dafür spreche, dass sich der Gesetzgeber in Art. 158 § 1 KK von 1969 fehlerhaft ausgedrückt habe. Ferner verwies das OG im Rahmen der systematischen Auslegung auf Art. 158 § 3 und § 4 KK von 1997, die die Tatfolgen sowohl auf die Schlägerei als auch auf die Rauferei beziehen. Auch die funktionale Auslegungsmethode spreche für dieses Ergebnis, denn eine andere Auslegung würde zu einer unbegründeten Erweiterung des Tatbestandsmerkmales „Schlägerei“ führen, was der ratio legis der Vorschrift des Art. 158 § 1 KK widersprochen hätte. OG Fall 9 Eine weitere sprachliche Analyse unter Bezugnahme auf ein Wörterbuch führte das OG in einem Urteil vom 2.2.2007 377 durch. In dieser Entscheidung befasste sich das OG unter anderem mit der Frage, ob die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegenüber einem Soldaten den Tatbestand des Art. 350 § 1 KK378 in

377

WA 1/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 35.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

261

Verbindung mit Art. 231 § 1, Art. 11 § 2 und Art. 12 KK erfüllen kann. Das OG verneinte diese Frage mit dem Argument, dass in diesem Fall keine Beleidigung vorlag. Was „Beleidigung“ bedeutet, bestimmte das OG wieder auf der Grundlage eines Wörterbuches (M. Ban´ko [Hrsg.], Inny słownik je˛zyka polskiego, Warszawa 2000). Dabei ist hervorzuheben, dass das OG in diesem Fall seine bisherige Rechtsprechung und die in der Lehre vertretenen Auffassungen außer Acht ließ und das Ergebnis mit Hilfe der wörterbuchbezogenen Analyse entschieden. Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass das OG Wörterbüchern großes Vertrauen schenkt.379 Es verwendet sie sowohl auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts (Fälle 2–6, 8–9), auf dem Gebiet des Verfahrensrechts (Fall 1) als auch auf dem Gebiet des Vollstreckungsrechts (Fall 7), wobei der Schwerpunkt deutlich auf dem materiellen Strafrecht liegt. In diesem Bereich dominiert die Auslegung der Tatbestandsmerkmale (Fall 2, 3, 5, 8 und 9). Die aus dieser Quelle entnommenen Definitionen können offenkundig nicht als bedeutungslose Ornamente in den Begründungen des OG angesehen werden. Sie waren Ausgangspunkt des Auslegungsprozesses in allen oben dargestellten Fällen. In den Fällen 1 und 4 bis 9 gelangte das OG sogar auf der Grundlage wörterbuchbezogener Analysen zu einem Zwischenergebnis, das durch andere Argumente bestätigt wurde.380 Für die erhebliche Rolle der wörterbuchbezogenen Analysen in der Rechtsprechung des OG spricht auch, dass das Gericht dieses Instrument für hilfreich hält, die Versuchshandlung im Sinne des Art. 13 § 1 KK von der Vorbereitungshandlung im Sinne des Art 16 § 1 KK abzugrenzen (OG Fall 4). Auch der Begriff der „Beleidigung“ im Sinne des Art. 350 § 1 KK konnte mit Hilfe eines Wörterbuchs definiert werden (OG Fall 9). Diese auf der theoretischen Ebene hoch problematischen Streitpunkte werden mithin auf der praktischen Ebene durch Verweise auf Wörterbücher gelöst.

378 Art. 350 § 1 KK lautet: „Ein Soldat, der einen Untergebenen entwürdigend behandelt oder beleidigt, wird mit Freiheitsbeschränkungsstrafe, mit Militärarrest oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 379 So auch die polnische Doktrin: J. Jabłon ´ska-Bonca, Wprowadzenie do prawa, 2. Auflage, 2008, S. 178; S. Wronkowska, Podstawowe poje˛cia prawa i prawoznawstwa, 3. Auflage, 2005, S. 90. Ausführlich über die Rolle der Wörterbücher bei der grammatikalischen Auslegung: M. Zielin´ski, Wykładnia prawa, 6. Auflage, 2012, Rn. 482 ff. Kritisch zu der Leistungsfähigkeit der Wörterbücher: H. Kudlich/R. Christensen, Wortlaut, Wörterbuch und Wikipedia, JR 4/2011, S. 148. 380 Diese Vorgehensweise offenbart ein bestimmtes Konzept der Sprachbedeutung, die in der Rechtsprechung des OG vorhanden ist. „Diese juristische Vorstellung, durch Nachschlagen in einem Wörterbuch Streitfragen der Auslegung bündig zu entscheiden oder jedenfalls der Variationsbreite des Verstehens feste Grenzen zu ziehen, geht implizit von einem bestimmten Konzept der Bedeutung aus. Die Bedeutung ist danach statisch, haftet dem Wort selbst an und ist von der nur äußerlich hinzutretenden Verwendungssituation unabhängig.“ R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 48.

262

Teil 2: Empirische Analysen

Andererseits darf nicht übersehen werden, dass das OG die Ergebnisse der wörterbuchorientierten Analysen in den genannten Fällen in einem breiten Umfang auch mit anderen Argumenten unterstützt. Eine Ausnahme stellt nur Fall 9 dar. Die sprachlichen Analysen waren somit grundsätzlich doch nicht in der Lage, das Ergebnis selbstständig zu begründen, obwohl sie nach der Auffassung des OG zu eindeutigen Schlussfolgerungen geführt haben. Diese Vorgehensweise relativiert offenkundig die Bedeutung der wörterbuchbezogenen Analysen. Auch Fall 3 zeugt davon, dass sie keinen absoluten Vorrang in der Rechtsprechung des OG genießen. Dort ist das OG vom Ergebnis der wörterbuchbezogenen Analyse mit der Begründung abgewichen, dass das Gesetz beide Begriffe differenziert, so dass eine wörterbuchbezogene Bedeutung, die beide Begriffe gleichsetzt, nicht angenommen werden kann. Außerdem ist hervorzuheben, dass das OG sehr unterschiedliche Wörterbücher in Anspruch nimmt. Zwar dominieren die Wörterbücher zur polnischen Sprache, aber es wird auch ein Wörterbuch zur Fachsprache (Computersprache) und eine Enzyklopädie (beides im Fall 1) verwendet. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die vom OG verwendeten Wörterbücher aus unterschiedlichen Zeiten stammen; die älteste Publikation wurde im Jahre 1958 veröffentlicht (Fall 3). Die Anzahl und der Umfang der wörterbuchbezogenen Argumentationen (im Fall 3 hat das OG sogar sieben und im Fall 8 sechs unterschiedliche Wörterbücher herangezogen) in der Rechtsprechung des OG zeugen eindeutig von der Rolle des Gesetzestextes in dem Entscheidungshorizont dieses Gerichts. Die Wörterbücher ermöglichen dem OG eine vertiefte Arbeit an dem Gesetzestext und lassen unterschiedliche Facetten des Sprachgebrauchs erkennen. Ob das OG den Wörterbüchern nicht ein zu großes Vertrauen schenkt, muss an dieser Stelle nicht unbedingt näher erörtert werden. Allerdings drängt sich der Gedanke auf, dass angesichts der besonderen Anforderungen des Strafrechts (insbesondere auf dem Gebiet der Auslegung der Tatbestandsmerkmale) die vertiefte Arbeit mit den Wörterbüchern die Gefahr der Überschreitung der Wortlautgrenze deutlich senkt. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Fokussierung des OG auf den Gesetzestext gewissermaßen mit denjenigen Äußerungen des OG zum Rangverhältnis innerhalb der Auslegungsmethoden korrespondiert, in denen es der sprachlichen Auslegungsmethode den Vorrang eingeräumt hat. Diese Äußerungen und die Verwendung von Wörterbüchern bilden ein stimmiges Konzept, das das OG in seiner Rechtsprechung verfolgt. b) Systematische Analysekategorien Im nächsten Schritt soll gezeigt werden, wie oft die höchsten (Fach-)Gerichte beider Länder in ihren Begründungen an systematische Topoi anknüpfen.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

263

Tabelle 4 Systematische Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des Obersten Gerichts Systematische Topoi

BGH

OG

Stellung der Vorschrift

12

18

Andere Vorschriften in demselben Rechtsakt

91

72

Andere nationale Rechtsakte

73

64

8

7

EMRK EU-Recht

11

4

IPBPR

0

4

Andere internationale Rechtsakte

4

1

Aus der Tabelle geht hervor, dass beide Gerichte bei der Auslegung von Vorschriften sowohl auf die Stellung der Vorschrift in einem Rechtsakt als auch auf andere Vorschriften aus dem Rechtsakt, in dem sich der auslegungsbedürftige Begriff befindet, Bezug nehmen. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass der BGH andere Vorschriften in demselben Rechtsakt häufiger als das OG berücksichtigt, wobei der Unterschied nicht erheblich ist. Beide Gerichte greifen auch sehr oft auf andere Rechtsakte zurück; in diesem Bereich lässt sich kein erheblicher quantitativer Unterschied feststellen. Aus alledem ergibt sich insoweit die Tendenz zu einer formalistischen Vorgehensweise beider Gerichte. In Bezug auf die Anwendung der internationalen Rechtsakte durch die höchsten Gerichte beider Länder ist zunächst festzuhalten, dass in ihrer Rechtsprechung kein nennenswerter Unterschied im Bereich der Anwendung der EMRK vorliegt. Es scheint, dass diese Konvention einen festen Platz in der Rechtsprechung beider Gerichte hat. Nach Dannecker hat die EMRK in der Rechtsprechung des BGH eine Bedeutung erlangt, die nicht mehr als bloße „internationale Verzierung“ angesehen werden kann, sondern eigenständige Wirkung entfaltet.381 Ein deutlicher Unterschied zwischen beiden Gerichten liegt jedoch in der Anwendung der Rechtsakte der Europäischen Union vor. Sie werden öfter in der Rechtsprechung des BGH berücksichtigt. Demgegenüber wird der IPBPR nur in der Rechtsprechung des OG genannt. Im Folgenden soll je eine Entscheidung beider Gerichte aufgezeigt werden, in denen an die systematischen Kriterien angeknüpft, aber im Ergebnis eine einheitliche Auslegung des Begriffes abgelehnt wurde: 381 G. Dannecker, Das Europäische Strafrecht in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, in: C.-W. Canaris/A. Heldrich/K. J. Hopt/C. Roxin/ K. Schmidt/G. Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band 4, 2000, S. 345.

264

Teil 2: Empirische Analysen

BGH Fall 1 In dem Urteil vom 27.4.2005382 legte der BGH den Begriff der „erforderlichen“ Aufenthaltsgenehmigung i. S. der §§ 3 Abs. 1, 58 Abs. 1 AuslG aus. Abweichend von der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte stellte der BGH in dieser Entscheidung auf rein formale Gesichtspunkte ab und ging davon aus, dass eine unerlaubte Einreise und ein unerlaubter Aufenthalt schon dann ausscheiden, wenn eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt wurde, unabhängig von ihrer materiell-rechtlichen Richtigkeit.383 Nach der Auffassung der Oberverwaltungsgerichte muss die Aufenthaltsgenehmigung dem konkreten Aufenthaltszweck entsprechen. Der Begriff der „erforderlichen“ Aufenthaltsgenehmigung wird somit im Lichte der behandelten Entscheidung auf dem Gebiet des Strafrechts anders als auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts ausgelegt. Ausschlaggebend für den BGH ist aber das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG. „Tatbestände, die für ein unerlaubtes und deshalb strafbares Handeln und Unterlassen das Fehlen einer verwaltungsrechtlichen Erlaubnis vorsehen, bedürfen eines eindeutigen Auslegungsmaßstabs in Bezug auf ihre verwaltungsrechtlichen Vorgaben. Würden – verborgene – materiell-rechtliche Mängel, etwa infolge von Täuschung oder sonstiger mißbräuchlicher Verhaltensweisen des Erlaubnisadressaten, zum Abgrenzungskriterium des strafbaren und nicht strafbaren Verhaltens gemacht, so wären deren Voraussetzungen und Grenzen im allgemeinen ungewiß, weil im Einzelfall von zufällig nachweisbaren und nicht nachweisbaren Tatumständen abhängig. Deshalb muss eine nach verwaltungsrechtlichen Vorschriften wirksam erteilte Aufenthaltsgenehmigung im Strafrecht grundsätzlich Tatbestandswirkung entfalten, auch wenn sie rechtsmißbräuchlich erlangt wurde.“ 384

OG Fall 1 Im Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2007385 stellte das OG fest, dass der Begriff „berauschende Mittel“ im Sinne des Art. 178a KK386 nicht nur diejenigen Mittel erfasst, die das Gesetz vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht387 ausdrücklich vorsieht, sondern auch alle anderen naturalen und synthetischen Substanzen, die die Fahrfähigkeit eines Fahrzeugführers herabsetzen. Für das OG ist dabei das Argument nicht überzeugend, das auch ausdrücklich in der Begründung der behandelten Entscheidung auftaucht, dass das Gesetz zur Verhütung der Rauschgiftsucht eine Legaldefinition des Begriffes „Betäubungsmittel“ in Art. 4 382

2 StR 457/04, BGHSt 50, 106. Ebenda, S. 112. 384 Ebenda, S. 115. 385 I KZP 36/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 1. 386 Art. 178a § 1 KK lautet: „Wer unter Einfluss von Alkohol oder anderen berauschenden Mittel ein Kraftfahrzeug führt, wird mit Geldstrafe, Freiheitsbeschränkungsstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft.“ Übersetzung nach E. Schwierskott-Matheson, Polnisches Strafgesetzbuch, 2011. 387 Ustawa z dnia 29 lipca 2005 r. o przeciwdziałaniu narkomanii, Dz. U. 2012 Pos. 124. 383

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

265

Pkt. 26 vorsieht. Danach sind unter diesem Begriff alle Substanzen zu verstehen, die in dem Anhang zu dem bereits erwähnten Gesetz zur Verhütung der Rauschgiftsucht ausdrücklich erwähnt sind. Nach dem Gebot der einheitlichen Auslegung der Begriffe müsste das OG eigentlich zu der Schlussfolgerung kommen, dass der Begriff „Betäubungsmittel“ im Sinne des Art. 178a KK gleichbedeutend mit der Legaldefinition des Art. 4 Pkt. 26 des Gesetzes zur Verhütung der Rauschgiftsucht sein muss. Diesen Weg ist das OG jedoch nicht gegangen, sondern es hat auf der Grundlage teleologischer Kriterien einen weiteren Begriff herausgearbeitet. Es führt dabei aus, dass der Begriff „Betäubungsmittel“ in verschiedenen Rechtsakten nicht einheitlich verwendet wird, so dass man an systematische und funktionelle Gesichtspunkte anknüpfen müsse, um die Bedeutung dieses Begriffes zu ermitteln. Aus dieser Entscheidung geht hervor, dass das OG bereit ist, Begriffe unterschiedlich zu definieren, wenn dafür wichtige teleologische Kriterien sprechen. c) Bezugnahme auf die Literatur Die Bezugnahme auf die Literatur gehört zu den klassischen Autoritätsargumenten und demzufolge wird sie im Rahmen dieser Untersuchung den formalistischen Topoi zugeordnet (vgl. oben Punkt A.). Im Folgenden soll gezeigt werden, wie oft der BGH und das OG ihre Argumentation mit Hinweisen auf die methodische und die dogmatische Literatur unterstützen. Tabelle 5 Bezugnahme auf die Literatur in der Rechtsprechung des BGH und des OG Literatur

BGH

OG

Dogmatische Literatur

95

67

Methodische Literatur

1

14

Aus der Tabelle geht hervor, dass sowohl der BGH als auch das OG in einem engen Kontext zur juristischen Literatur stehen, wobei der BGH im Vergleich zum OG noch öfter zur Fachliteratur (dogmatische Literatur) greift. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass der BGH in fast jeder Entscheidung Bezug auf die dogmatische Literatur nimmt. Aber auch das OG knüpft in seiner Rechtsprechung nicht selten an die Erkenntnisse der Wissenschaft an; in zwei Dritteln seiner Entscheidungen nimmt es auf einen Kommentar, einen Aufsatz, eine Urteilsanmerkung etc. Bezug. Beide Gerichte sind somit für die Argumente aus der Wissenschaft offen, wobei das nicht unbedingt bedeuten muss, dass sie die Anregungen seitens der Wissenschaft akzeptieren. Leider konnte in der vorliegenden

266

Teil 2: Empirische Analysen

Untersuchung nicht geprüft werden, inwieweit die Gerichte auf die Literatur zustimmend bzw. abweichend eingehen. In Deutschland hat jedoch die Untersuchung von Kudlich und Christensen deutlich gezeigt, dass der BGH grundsätzlich nur zustimmende Stimmen aus der Literatur in seinen Entscheidungsbegründungen anführt (275 zustimmende Verweise gegenüber 33 abweichenden Verweisen im Band 49 und 211 zustimmende Verweise gegenüber 33 abweichenden Verweisen im Band 50).388 Mit deutlichen Worten bestätigt diesen Befund auch Rüthers: „Das wichtigste Erkenntnismittel der Rechtswissenschaft ist der offene Diskurs, der sich an die Thesen und Lösungsmuster der Justiz und der Rechtslehre anschließt und der potentiell auch die Gerichte einschließt. Allerdings ist zu beobachten, dass die Bundesgerichte zunehmend auf eine Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen im Schrifttum zu ihren Entscheidungen verzichten. Das gesteigerte Macht- und das Selbstbewußtsein der ,Ersatzgesetzgeber‘ im Siegeszug des Richterrechts führt dazu, daß in den Entscheidungen der letzten Instanzen in den letzten Jahren bevorzugt, bisweilen gar ausschließlich, zustimmende Litertaturbeiträge aus den eigenen Reihen der an den Entscheidungen beteiligten Richter zitiert und kritische Stimmen schlicht verschwiegen werden. Eine solche Immunisierungsstrategie in der Form der organisierten ,Hofjuristerei‘ ist der sachgerechten Funktion der Obergerichte wenig zuträglich.“ 389

Ein deutlicher Unterschied zwischen der Rechtsprechung des BGH und des OG lässt sich jedoch im Bereich der Verwendung methodischer Literatur feststellen. Während der BGH nur in einer von den in Betracht gezogenen Begründungen die methodische Literatur ausdrücklich berücksichtigt hat,390 wurde in 16 Entscheidungen des OG zumindest ein methodisches Werk zitiert. Dieses Ergebnis kann jedenfalls nicht darauf zurückgeführt werden, dass in der deutschen Rechtskultur die methodische Literatur knapp wäre und demzufolge dem BGH keine theoretischen Konzepte zur Verfügung ständen. Die beachtliche Anzahl der Bücher zur Methodenlehre391 und die kaum noch überschaubare Anzahl der Aufsätze zu dieser Problematik führt eher zu einer entgegengesetzten These. Man könnte in der deutschen Rechtskultur die Überfülle an methodischer Literatur eher als einen Mangel ansehen, wobei die Anzahl der methodischen Veröffentlichungen, die sich auf die strafrechtliche Problematik konzentrieren, eher gering 388

H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 24 B. Rüthers, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluß des Richterrechts, 2003, S. 23 f. 390 Im Beschluss vom 11.10.2005, [5 Ars (Vollz) 54/05, BGHSt 50, 234], in dem der BGH das klassische Werk von K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991 erwähnt. 391 Beispielhaft können erwähnt werden: F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage, 1991 (Nachdruck 2011); K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Auflage, 2010; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991; B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013. 389

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

267

ist. Ob dieser Mangel die Ursache des Schweigens des BGH auf dem Gebiet der Methodik ist, bedarf einer gesonderten Untersuchung, die offensichtlich andere Forschungsinstrumente (z. B. Interviews) erfordert. Weder quantitative noch qualitative Inhaltsanalysen vermögen hier weiterzuhelfen. Dass der BGH in seinen Begründungen nicht ausdrücklich an die methodische Literatur anknüpft, muss auch nicht bedeuten, dass er die wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Bereich ignoriert. Er kann sie in weitem Umfang anwenden, ohne sich auf diesbezügliche Quellen zu berufen. Dieses Wissen kann latent verwendet werden. Der Nachweis einer solchen These würde allerdings eine vertiefte Analyse erfordern, die in der vorliegenden Untersuchung nicht geleistet werden kann. Im Gegensatz zum BGH hat das OG in 14 Entscheidungen die methodische Literatur in Betracht gezogen. Dabei fällt sofort auf, dass das OG die klassische Literatur bevorzugt. Am häufigsten werden Werke von L. Morawski zitiert. Seine Arbeiten sind in 13 Entscheidungen berücksichtigt. Sein Buch „Wykładnia w orzecznictwie sa˛dów. Komentarz“, Torun´ 2002 wird in insgesamt 6 Entscheidungen392 erwähnt. Nahezu ebenso häufig wird an sein Buch „Zasady wykładni prawa“, Torun´ 2006 (insgesamt 5 Entscheidungen393) angeknüpft. Aber auch die Werke von M. Zielin´ski werden in 5 Entscheidungen394 in Betracht gezogen. Auf die Arbeiten von J. Wróblewski wird zur Unterstützung der Argumentation in 3 Entscheidungen395 Bezug genommen. Daraus geht hervor, dass das OG ein breites Spektrum an Stimmen aus der methodischen Literatur berücksichtigt. Dies kann allerdings auch erhebliche Bedenken hervorrufen, weil die Konzepte der in den Begründungen erwähnten Verfasser unterschiedlich sind und sich sogar an einigen Stellen widersprechen, wie 392 Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2007, I KZP 36/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 1; Beschluss (Postanowienie) vom 24.5.2007, I KZP 10/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 21; Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007, I KZP 26/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 22; Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007, I KZP 27/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 1; Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007, I KZP 30/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 17; Beschluss (Uchwała) vom 19.12.2007, I KZP 38/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 13. 393 Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007, I KZP 7/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 28; Beschluss (Uchwała) vom 29.8.2007, I KZP 19/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 1; Beschluss (Postanowienie) vom 5.10.2007, SND 2/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 55; Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007, I KZP 27/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 1; Beschluss (Postanowienie) vom 25.10.2007, I KZP 32/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 33. 394 Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2007, I KZP 36/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 1; Beschluss (Postanowienie) vom 26.4.2007, I KZP 6/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 1; Beschluss (Postanowienie) vom 26.7.2007, I KZP 16/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 9; Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007, I KZP 27/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 1; Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007, I KZP 30/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 17. 395 Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007, I KZP 7/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 28; Beschluss (Postanowienie) vom 26.7.2007, I KZP 16/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 9; Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007, I KZP 27/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 1.

268

Teil 2: Empirische Analysen

das im Teil 1 F. II. dieser Arbeit gezeigt wurde. Um dies zu belegen, genügt es, die Unterschiede zwischen den methodischen Konzepten von Morawski und Zielin´ski zu erwähnen. Während der Grundsatz clara non sunt interpretanda im Konzept von Morawski eine wichtige Rolle spielt,396 wird er in den Arbeiten von Zielin´ski heftig kritisiert397. Weiterhin ist der Unterschied bei der Einschätzung der Rolle der sprachlichen Auslegungsmethode hervorzuheben. Morawski lässt im Gegensatz zu Zielin´ski Ergebnisse zu, in denen lediglich die sprachliche Auslegungsmethode das Ergebnis begründen kann, ohne die Notwendigkeit einer Verwendung der systematischen und der funktionellen Auslegungsmethode. Sicherlich haben beide Konzepte auch viel gemeinsam, aber die fundamentalen Unterschiede sind nicht zu bestreiten.398 Gleichwohl zitiert das OG durchaus auch beide Verfasser in einer Entscheidung.399 Dies lässt sich damit erklären, dass das OG nur diejenigen Teile der Konzepte heranzieht, die eine bestimmte Behauptung des OG unterstützen können. Man kann daher in keinem Fall schlussfolgern, dass das OG dieses oder ein anderes Konzept vollständig übernommen hat und konsequent in seiner Rechtsprechung verwendet. Man sollte daher eher über eine bruchstückhafte Rezeption der Methodenlehre der erwähnten Autoren sprechen.400 Wie bereits festgestellt wurde, erfüllen die Hinweise auf die methodische Literatur in der Rechtsprechung des OG eine bestimmte Funktion. Sie sollen vorrangig ein vom OG bevorzugtes Auslegungsergebnis unterstützen und es methodisch absichern. Daher bleiben diese Hinweise in einem engen Zusammenhang mit den methodischen Äußerungen, die in Pkt. D. I. dargestellt wurden. Alle diese Zitate sollen den Eindruck verstärken, dass die Auslegung keine willkürliche Vorgehensweise ist, sondern ein Prozess, der sich auf die von der Wissenschaft entwickelten Grundsätze stützt. Damit wird zumindest der Eindruck von Objektivität und Wissenschaftlichkeit hervorgerufen. Es ist auch nicht zu übersehen, dass die Verweise auf die methodische Literatur in der Rechtsprechung des OG keine Spuren von Polemik erkennen lassen. Das OG zitiert nicht, um sich mit einem bestimmten Konzept kritisch auseinanderzusetzen, sondern, wie bereits angeführt, um ein Auslegungsergebnis zu unterstützen. Daher kann in keinem Fall von einer Diskussion zwischen OG und

396

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 51 ff. M. Zielin´ski, Wykładnia prawa, 6. Auflage, 2012, Rn. 91 ff. 398 M. Zielin ´ski/O. Bogucki/A. Chodun´ /S. Czepita/B. Kanarek/A. Municzewski, Zintegrowanie polskich koncepcji wykładni prawa, RPEiS 4/2009, S. 23. 399 So z. B. im Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2007, I KZP 36/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 1. 400 Stawecki behauptet eine gewisse Oberflächlichkeit des OG in dieser Hinsicht. Siehe dazu: T. Stawecki, Interpretacja prawa w orzecznictwie Sa˛du Najwyz˙szego, in: J. Stelmach (Hrsg.), Filozofia prawa wobec globalizmu, 2003, S. 104. 397

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

269

Methodenlehre die Rede sein. Dies würde eine tiefere und kritische Auseinandersetzung des OG mit der Methodenlehre voraussetzen. d) Bezugnahme auf die Rechtsprechung Zu den klassischen Autoritätsargumenten gehört auch die Bezugnahme auf die eigene bzw. die Rechtsprechung eines anderen Gerichts. In der vorliegenden Untersuchung wurde auch dieser Topos daher den formalistischen Topoi zugeordnet. In diesem Bereich lassen sich erhebliche Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des BGH und des OG feststellen, wie aus der folgenden Tabelle deutlich wird. Tabelle 6 Bezugnahme auf die Rechtsprechung in der Rechtsprechung des BGH und des OG Rechtsprechung

BGH

OG

BGH/OG

95

75

BVerfG/VG

46

6

EGMR

3

3

EuGH

3

0

44

24

Andere Gerichte

Aus der Tabelle geht hervor, dass die eigene Rechtsprechung für beide Gerichte eine wichtige Quelle der Argumentation darstellt, wobei der BGH von der eigenen früheren Rechtsprechung öfter Gebrauch macht als das OG. Um jedoch die volle Dimension dieses Unterschiedes zu zeigen, bedarf es einer vertieften Untersuchung, deren Ergebnisse in dem folgenden Teil dieses Abschnittes [Pkt. aa)] dargestellt werden. Ein erheblicher Unterschied lässt sich auch in der Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG bzw. des VG feststellen. Während der BGH in 46 Entscheidungen (fast die Hälfte aller analysierten Entscheidungen) auf die Rechtsprechung des BVerfG verweist, macht das OG dies nur in 6 Entscheidungen. Der BGH orientiert sich demnach offenbar wesentlich öfter an der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung als das OG. Dieser Umstand korrespondiert zugleich mit der Feststellung, dass der BGH im Vergleich zum OG wesentlich häufiger auf verfassungsrechtliche Topoi zurückgreift [siehe dazu Pkt. V. 2. a)]. Aus der Untersuchung geht auch hervor, dass die europäische Rechtsprechung in der Argumentationspraxis beider Gerichte quantitativ eine bescheidene Rolle spielt. Im Vergleich zu der Anzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung muss konstatiert werden, dass beide Gerichte in ihren Argumentationsstrategien

270

Teil 2: Empirische Analysen

eher national ausgerichtet sind und nur ausnahmsweise auf europäische Maßstäbe zurückgreifen. Dieser Befund korrespondiert gewissermaßen mit der Feststellung, dass beide Gerichte nur in wenigen Entscheidungen auf die europarechtlichen Rechtsakte Bezug nehmen (siehe dazu Tabelle 4). Schließlich ist zu bemerken, dass der BGH im Vergleich zum OG wesentlich öfter auf die Rechtsprechung anderer Gerichte Bezug nimmt. Ausgewählte Befunde seien nachfolgend an einigen Entscheidungen im Einzelnen näher erläutert. aa) Eigene Rechtsprechung Die vorliegende Untersuchung lässt die These zu, dass gerade im Bereich der Selbstreferenzen einer der größten Unterschiede zwischen der Argumentationspraxis des BGH und des OG vorliegt. Schon aus der vorangehenden Tabelle geht hervor, dass der BGH in fast jeder Entscheidung Bezug auf die eigene Rechtsprechung nimmt. Auch andere Untersuchungen bestätigen eine erhebliche Rolle der Selbstreferenzen in der Rechtsprechung des BGH.401 Um jedoch die volle Dimension dieses Unterschiedes zu zeigen, bedarf es einer vertieften Analyse. Abweichend von der bisher angewendeten Methode wird im Folgenden die Gesamtanzahl aller Verweise auf die eigene Rechtsprechung, auf die ständige Rechtsprechung und auf die zivilrechtliche Rechtsprechung des BGH bzw. des OG dargestellt. Diese Vorgehensweise macht deutlich, welche Rolle die Selbstreferenzen in der Rechtsprechung des BGH und des OG tatsächlich spielen.402 (1) Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung Im Folgenden wird die Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung ohne die Anzahl der Bezugnahmen auf die ständige Rechtsprechung dargestellt, die gesondert analysiert wird. Die Gesamtanzahl der Verweise wurde in zwei Schritten ermittelt. Im ersten Schritt wurden alle Verweise auf andere eigene Entscheidungen in der jeweiligen Entscheidung addiert. In einem zweiten Schritt wurden die im ersten Schritt erzielten Ergebnisse in Bezug auf den BGH und das OG gesondert addiert. Wenn bei einem Verweis auf die eigene Recht401 R. Christensen/H. Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, 2008, S. 126; H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 37. 402 Die Entscheidung über diese erweiterte Analyse fiel erst nach der ersten Analyse des empirischen Materials, die eine besondere Rolle des Richterrechts in der Rechtsprechung des BGH nahe legte. Am Anfang der Untersuchung war dieser Umstand noch nicht so deutlich erkennbar. Die Untersuchung von H. Kudlich/R. Christensen (Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009), die auch die Bedeutung der Präjudizien in der Rechtsprechung des BGH hervorhob, wurde erst im Laufe der vorliegenden Untersuchung veröffentlicht.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

271

sprechung mehrere Urteile, Beschlüsse etc. zitiert wurden, wurde dieser Verweis nur ein Mal festgehalten. Jeder Verweis musste jedoch eine einheitliche Einheit bilden, um berücksichtigt zu werden. Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Tabelle 7 Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung in der Rechtsprechung des BGH und des OG ohne Anzahl der Verweise auf die ständige Rechtsprechung Rechtsprechung

BGH

OG

Gesamtanzahl

828

247

Aus der Tabelle geht deutlich hervor, dass der BGH in den in Betracht gezogenen Entscheidungen im Vergleich zum OG ca. drei Mal häufiger auf die eigene Rechtsprechung Bezug nimmt. Dieser Unterschied legt die These nahe, dass das Richterrecht in der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG eine quantitativ wesentlich größere Rolle spielt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der vorliegenden Untersuchung nur 100 Entscheidungen des BGH zugrundeliegen, ist die Frage begründet, inwieweit die Rechtsprechung des BGH schon der case-law-Kultur angehört. Dieses Phänomen wurde auch in der deutschen Literatur gesehen, wie die folgenden Worte zeigen. „Dass unsere Rechtskultur in den letzten Jahrzehnten allmählich immer stärkere Ähnlichkeiten mit einem Präjudizienrecht entwickelt hat, ist kaum zu leugnen.“ 403

Aber auch in der Rechtsprechung des OG spielen Selbstreferenzen eine erhebliche Rolle. Daher lässt sich jedenfalls nicht sagen, dass das OG sich bei der Auslegung von Gesetzen nur auf die anerkannten Auslegungsmethoden beschränkt. Richterrecht spielt auch hier schon eine große Rolle, und man kann nicht ausschließen, dass diese Tendenz steigend ist. In der Literatur wurde dieses Phänomen auch schon festgestellt. Leszczyn´ski behauptet, der deutliche Zuwachs des Vertrauens zu der Argumentation per rationem decidendi in der polnischen Rechtsordnung sei in der letzten Zeit im Vergleich zu der Nachkriegszeit stärker.404 Um die Problematik der Selbstreferenzen noch um eine weitere Dimension zu vertiefen, wird im Folgenden die Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung in der jeweiligen Entscheidung des BGH und des OG nachge403 A. Heldrich, 50 Jahre Rechtsprechung des BGH – Auf dem Weg zu einem Präjudizienrecht?, ZRP 12/2000, S. 500. 404 L. Leszczyn ´ski, Precedens jako z´ródło rekonstrukcji normatywnej podstawy decyzji stosowania prawa, in: FS für Nowacki, 2003, S. 159.

272

Teil 2: Empirische Analysen

wiesen. Dies macht noch deutlicher, in welchem Ausmaß, insbesondere die Begründungen des BGH, von seinen früheren Entscheidungen durchdrungen sind. (2) Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung in der jeweiligen Entscheidung Die folgende Gesamtanzahl ergibt sich aus der Addition aller Verweise auf die eigenen Entscheidungen des BGH und des OG, die sich in der jeweiligen Entscheidung feststellen lassen. Jede Entscheidung wurde somit gesondert im Hinblick auf die Anzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung untersucht. In der ersten Kolumne der folgenden Tabelle wird die Anzahl der Verweise in aufsteigender Reihenfolge angegeben. Damit wird gezeigt, wie oft ein Verweis in der jeweiligen Entscheidung festgestellt wurde. In der zweiten und der dritten Kolumne wird die Anzahl der Entscheidungen des BGH und des OG repräsentiert, in denen die betreffende Anzahl der Verweise aus der ersten Kolumne erhoben wurde. Es fällt sofort auf, dass sich in der Anzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung pro Entscheidung eine gewisse Regelmäßigkeit abzeichnet. Während die Rechtsprechung des OG in dem Bereich von 1 bis zu 3 Verweisen pro Entscheidung dominiert, gewinnt die Rechtsprechung des BGH im Bereich ab 7 Verweise den Vorrang. Ferner ist zu beachten, dass die größte Anzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung beim OG 14 beträgt, demgegenüber bei dem BGH 38, wobei der BGH 12 Entscheidungen erlassen hat, in denen er jeweils mehr als 14 Mal auf seine eigene Rechtsprechung Bezug genommen hat. Dass der BGH in einer Entscheidung sogar 38 Mal seine eigene Rechtsprechung zitiert, weist auf das Ausmaß hin, in welchem seine Rechtsprechung mit Selbstreferenzen gesättigt sein kann. In dieser Entscheidung befasste sich der Große Senat des BGH mit den damals noch nicht im Gesetz geregelten Urteilsabsprachen, um im Rahmen der Rechtsfortbildung diesem Rechtsinstitut Gestalt zu geben. Dies weist auf einen engen Zusammenhang zwischen Richterrecht und Rechtsfortbildung hin. Darauf wird später noch ausführlicher einzugehen sein. Aus der nebenstehenden Tabelle geht auch hervor, dass der BGH in 64 Entscheidungen von 5 bis zu 38 Verweise auf die eigene Rechtsprechung ausgewiesen hat. Demgegenüber hat das OG in dem erwähnten Bereich lediglich 23 Entscheidungen erlassen. Auch in diesem Bereich lässt sich daher eine deutliche zahlenmäßige Dominanz des BGH im Vergleich zum OG feststellen. (3) Gesamtanzahl der Verweise auf zivilrechtliche Rechtsprechung des BGH und des OG Auch im Bereich der Bezugnahme auf die zivilrechtliche Rechtsprechung des BGH und des OG dominiert der BGH (Strafsenate) im Vergleich zum OG (Izba

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

273

Tabelle 8 Gesamtanzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung in der jeweiligen Entscheidung Gesamtanzahl der Verweise Anzahl der Entscheidungen Anzahl der Entscheidungen in einer Entscheidung des BGH des OG 1

8

15

2

6

14

3

7

16

4

6

6

5

11

7

6

7

5

7

8

1

8

4

2

9

4

2

10

3

2

11

6

1

12

2

2

13

4

0

14

3

1

15

2

0

16

2

0

17

2

0

18–19

0

0

20

1

0

21

1

0

22

1

0

32

1

0

33–35

0

0

36

1

0

37

0

0

38

1

0

Karna i Wojskowa). Die folgende Tabelle zeigt, wie oft die Strafsenate des BGH und des OG auf die zivilrechtliche Rechtsprechung Bezug genommen haben.

274

Teil 2: Empirische Analysen Tabelle 9 Bezugnahme auf die zivilrechtliche Rechtsprechung des BGH und des OG Rechtsprechung Gesamtanzahl

BGH

OG

57

11

Im Folgenden soll nun gezeigt werden, welche Rolle die ständige Rechtsprechung in der Begründungskultur beider Gerichte spielt. (4) Kontinuität der Rechtsprechung In der deutschen Lehre ist die Frage, ob bzw. inwieweit einer gefestigten Rechtsprechung die Qualität einer Rechtsquelle zuerkannt werden kann, nach wie vor umstritten.405 Larenz geht von einer bloßen Rechtserkenntnisquelle aus.406 Kriele spricht insoweit von einer „Verbindlichkeitsvermutung“.407 Demgegenüber vertritt Fikentscher sogar die Auffassung, dass das Richterrecht eine dem Gesetzesrecht ebenbürtige Quelle von Fallnormen sei.408 In der strafrechtlichen Literatur wird der richterlichen Spruchtätigkeit die Qualität der selbstständigen Rechtsquelle abgesprochen.409 Man betont jedoch, dass sich eine einhellige höchstrichterliche Rechtsprechung in ihren Wirkungen so sehr dem Gesetz nähert, dass seit einiger Zeit die Frage diskutiert wird, ob die für den Täter belastenden Änderungen dem Rückwirkungsverbot unterliegen sollen.410 In der polnischen Rechtsordnung ist eher anerkannt, dass der ständigen Rechtsprechung im Gegensatz zu dem Gesetzestext keine Bindungsfunktion zugewiesen wird. Die empirische Untersuchung hat ergeben, dass der vom BGH verwendete Begriff der „ständigen Rechtsprechung“ keinen entsprechenden Begriff in der Rechtsprechung des OG findet, so dass schon in sprachlicher Hinsicht insoweit ein erheblicher Unterschied zwischen der Rechtsprechung der beiden Gerichte besteht. Zwar verwendet das OG Ausdrücke,411 die auf eine gefestigte Rechtspre405 U. Neumann, Legitimationsprobleme bei Rechtsprechungsänderung, in: U. Neumann, Recht als Struktur und Argumentation, 2008, S. 151 (Fn. 8). 406 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 452. 407 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auflage, 1976, S. 243 ff. 408 W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band 4, 1977, S. 143 f. 409 G. Stratenwerth/L. Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Auflage, 2011, § 3 Rn. 29. 410 Ebenda, Rn. 31 m.w. N. 411 Z. B. „w orzecznictwie Sa˛du Najwyz ˙ szego konsekwentnie prezentowany jest pogla˛d, iz˙ (. . .)“, im Beschluss (Postanowienie) vom 11.12.2006, V KK 131/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 50; „Na temat tych warunków wypowiadał sie˛ wielokrotnie Sa˛d Naj-

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

275

chung schließen lassen, aber einen vergleichbar kurzen, technischen Begriff wie „ständige Rechtsprechung“ gibt es nicht. Auch in der Literatur wird ein ähnlicher Begriff nicht verwendet. Die Gesamtanzahl der Verweise auf die ständige Rechtsprechung zeigt die folgende Tabelle. Auch in dieser Hinsicht lässt sich ein deutlicher quantitativer Unterschied feststellen. Tabelle 10 Gesamtanzahl der Verweise auf die ständige Rechtsprechung in der Rechtsprechung des BGH und des OG

Gesamtanzahl

BGH

OG

58

17

Der Tabelle kann man entnehmen, dass der BGH im Vergleich zum OG ca. dreimal so oft in seiner Argumentationsstrategie auf die ständige Rechtsprechung zurückgreift. Dieser Unterschied legt den Gedanken nahe, dass in der Rechtsprechung des BGH viele Auslegungsprobleme schon als entschieden gelten und eine Grundlage (neben dem Gesetz) für weitere Entscheidungen bilden, wobei der BGH allerdings gelegentlich auch bereit ist, seine ständige Rechtsprechung aufzugeben. Grundsätzlich nutzt er sie jedoch, um die neuen, bisher unentschiedenen Fälle zu lösen, die in einem Zusammenhang mit der ständigen Rechtsprechung bleiben. Die größere Bereitschaft des BGH im Vergleich zum OG, die Kontinuität seiner Rechtsprechung zu betonen, lässt sich auch noch an einem anderen Aspekt ablesen. Zu den Leitsätzen der Urteile und der Beschlüsse finden sich bestimmte Anmerkungen, in denen der BGH den Bezug auf seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich hervorhebt. Eine ähnliche Praxis lässt sich bei den Leitsätzen der vom OG getroffenen Entscheidungen nicht feststellen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, diesen Anmerkungen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Eine nähere Untersuchung hat ergeben, dass der BGH in 15 von 100 analysierten Entscheidungen in den Leitsätzen die folgenden Anmerkungen gemacht hat.

wyz˙szy w swoim orzecznictwie, (. . .)“, im Beschluss (Postanowienie) vom 26.1.2007, I KZP 33/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 15; „(. . .) w orzecznictwie Sa˛du Najwyz˙szego konsekwentnie przyjmuje sie˛, z˙e (. . .)“, im Urteil vom 8.11.2006, IV KK 299/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 37; „Otóz˙ pogla˛d Sa˛du Najwyz˙szego w sprawie (. . .) został wyraz˙ony (. . .) i od tego czasu dominuje on w orzecznictwie sa˛dów powszechnych. Ustabilizowana linia orzecznicza Sa˛du Najwyz˙szego jest równiez˙ (. . .)“, im Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007, I KZP 39/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 16; „W orzecznictwie dominuje jednak pogla˛d, z˙e (. . .)“, im Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007, I KZP 2/07, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 19.

276

Teil 2: Empirische Analysen Tabelle 11 Die Anmerkungen des BGH in den Leitsätzen der Entscheidungen

Nummer

Anmerkung

Signatur der Entscheidung

1

Aufgabe von BGHSt 5, 280

4 StR 150/03, BGHSt 49, 8

2

Abkehr von BGHSt 23, 265; im Anschluss an BVerfG [Kammer], Beschluss vom 2. Juni 2005 – 2 BvR 625 und 638/01

5 StR 180/05, BGHSt 50, 216

3

Fortführung von BGHSt 37, 397

1 StR 346/03, BGHSt 49, 45

4

Fortführung von BGHSt 48, 268

1 StR 566/03, BGHSt 49, 68

5

Abgrenzung zu BGHSt 30, 38

5 Ars (Vollz) 78/03, BGHSt 49, 61

6

Abgrenzung zu BGHSt 27, 325 ff.

3 StR 94/04, BGHSt 49, 268

7

(nicht entscheidungstragend)

3 StR 185/03, BGHSt 49, 72

8

Im Anschluss an BGHSt 43, 195

4 StR 371/03, BGHSt 49, 84

9

Im Anschluss an BGHSt 16, 7 f.

4 StR 377/03, BGHSt 49, 128

10

Im Anschluss an BGHSt 49, 8

4 StR 299/04, BGHSt 50, 169

11

Im Anschluss an BGHSt 49, 317

2 StR 225/05, BGHSt 50, 225

12

Im Anschluss an BGHSt 45, 253

2 StR 345/05, BGHSt 50, 359

13

Vgl. BGHSt 36, 378

1 StR 71/04, BGHSt 49, 90

14

Klarstellung zu BGHSt 47, 148 und 187

3 StR 470/04, BGHSt 50, 332

15

Entgegen den Grundsätzen von BGHSt 43, 195 ff.

3 StR 380/03, BGHSt 49, 255

Diese Zusammenstellung der Anmerkungen erhärtet die These, dass der BGH seine Rechtsprechung in ausgewählten Fällen als eine Fortsetzung der Diskussion betrachtet, die durch die vorangehenden Entscheidungen eingeleitet wurde. Um

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

277

seinen Standpunkt in dem behandelten Fall zu betonen, merkt er in den Leitsätzen an, ob er seine Rechtsprechung fortführen oder aufgeben will. Die obige Zusammenstellung lässt erkennen, dass sich in dieser Nomenklatur schon bestimmte feste Bezeichnungen herausgebildet haben. Der Begriff „Fortführung“ und der Begriff „Abgrenzung“ wurden je zweimal verwendet und der Begriff „im Anschluss“ sogar fünfmal. Es stellt sich in diesem Zusammenhang allerdings die Frage, was der BGH genau unter diesen Begriffen versteht, und ob er sie einheitlich verwendet. Auf diese Problematik kann jedoch in der vorliegenden Untersuchung nicht näher eingegangen, sondern nur hingewiesen werden. Betrachtet man die aufgezeigten Befunde im Ganzen, so lässt sich feststellen, dass die Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG in den erwähnten Aspekten eine größere Kontinuität aufweist. Viele der analysierten Entscheidungen knüpfen an die vorangehende Rechtsprechung an oder stützen sich sogar auf die früher herausgearbeiteten Grundsätze. Der genannte Unterschied zwischen dem BGH und dem OG könnte seine Ursache u. a. darin haben, dass der BGH (bzw. vor dessen Gründung das Reichsgericht) seit mehr als 100 Jahren mit nahezu demselben StGB und derselben StPO arbeitet, die zwar inzwischen mehrmals geändert, aber in ihren Grundstrukturen beibehalten wurden. Demgegenüber wurden in Polen seit 1932 schon drei Strafgesetzbücher (1932, 1969, 1997) erlassen und seit 1928 drei Strafprozessordnungen (1928, 1969, 1997). Es liegt auf der Hand, dass diese grundlegenden Reformen die Herauskristallisierung einer ständigen Rechtsprechung bei vielen Rechtsfragen erschweren. Falls der Wortlaut der Vorschriften sich bei jeder Reform (auch geringfügig) ändert, muss die höchstrichterliche Rechtsprechung gegebenenfalls darauf entsprechend reagieren und entweder ihre bisherige Rechtsprechung anpassen oder sie eventuell ändern bzw. aufgeben. Die bisherige Rechtsprechung kann jedoch in dieser Situation nicht einfach übernommen werden. In dieser Hinsicht ist Heldrich zuzustimmen, demzufolge sich ein stabiles Richterrecht eben nur auf einer stabilen gesetzlichen Grundlage entfalten kann.412 (5) Analyse der ausgewählten Fälle Die Rolle der Selbstreferenzen in der Rechtsprechung des BGH zeigen jedoch erst die qualitativen Analysen ganz deutlich. Aus diesen Analysen geht hervor, welche Rolle der BGH seiner bisherigen Rechtsprechung tatsächlich beimisst. In der in Betracht gezogenen Stichprobe lassen sich Entscheidungen feststellen, die sich fast ausschließlich auf die Grundsätze stützen (z. B. Urteil vom 1.2.2005413), die der BGH in der bisherigen Rechtsprechung entwickelt hat. Dabei werden die 412 A. Heldrich, 50 Jahre Rechtsprechung des BGH – Auf dem Weg zu einem Präjudizienrecht?, ZRP 12/2000, S. 500. 413 1 StR 327/04, BGHSt 50, 11.

278

Teil 2: Empirische Analysen

Grundsätze manchmal aus vielen Entscheidungen genommen und mit ihrer Hilfe wird die Entscheidungsgrundlage für den behandelten Fall konstruiert. Der BGH betrachtet seine eigene Rechtsprechung in diesem Fall als eine dem Gesetz ähnliche Quelle. In vielen Fällen entsteht der Eindruck, dass die Präjudizien in der Rechtsprechung des BGH die Funktion von Gesetzen übernommen haben und der konkret zu beurteilende Sachverhalt nicht direkt am Gesetz, sondern an einem oder mehreren Präjudizien gemessen wird. Es gibt auch Entscheidungen, in denen die Vorschriften zwar erwähnt werden, aber deutlich hinter das Richterrecht zurücktreten; die Vorschriften bilden lediglich den Hintergrund für die Begründung und als Entscheidungsgrundlage gelten die Grundsätze, die in den früheren Entscheidungen entwickelt wurden. Dazu einige Beispiele (weitere Beispiele siehe im Anhang C Pkt. 1.). BGH Fall 1 In seinem Urteil vom 2.12.2003414 befasste sich der BGH mit der Frage, ob ein erkennender Richter „in der Sache“ im Sinne von § 22 Nr. 4 StPO als Staatsanwalt tätig gewesen ist, wenn er in seinem früheren Amt als Staatsanwalt im Rahmen von Todesursachenermittlungen die Obduktion der Leiche eines vor der Hauptverhandlung verstorbenen Zeugen und Tatgeschädigten angeordnet hat. In dieser Entscheidung, die zwar mit dem Zitat des Wortlautes des § 22 Nr. 4 StPO beginnt, geht der BGH sofort zu der Darstellung seiner früheren Entscheidungen über, die den Begriff „in der Sache“ präzisieren. Danach gilt: „Unter ,der Sache‘ ist grundsätzlich dasjenige Verfahren zu verstehen, welches die strafrechtliche Verfolgung einer bestimmten Straftat zum Gegenstand hat. Es kommt also in erster Linie auf die Identität des historischen Ereignisses an, um dessen Aufklärung es zu der Zeit ging, als der Richter in nicht-richterlicher Funktion tätig war. Der Annahme einer solchen Identität steht auch das Vorliegen mehrerer selbständiger Taten im Sinne des § 264 StPO nicht entgegen. Vielmehr entscheidet in solchen Fällen regelmäßig die Einheit der Hauptverhandlung; sie kann auch solche Vorgänge, die bei natürlicher Betrachtung als verschiedene historische Ereignisse erscheinen, zu einer Einheit zusammenfassen (vgl. zu alldem BGHSt 28, 262, 263 ff. mit zahlr. weiteren Nachweisen). Der Verdacht der Parteilichkeit, den die in Rede stehende Bestimmung (§ 22 Nr. 4 StPO) vermeiden will, kann schließlich bei weiter Auslegung der Norm auch bei mehreren für eine einheitliche Behandlung in Betracht zu ziehenden Verfahren aufkommen, wenn zumindest ein enger und für die zu treffende Entscheidung bedeutsamer Zusammenhang besteht (vgl. BGHSt 9, 193; 28, 264, 267).“ 415

Aus der zitierten Passage geht hervor, dass der BGH den Begriff der „Sache“ fast ausschließlich auf der Grundlage seiner früheren Entscheidungen bestimmt. Damit führt er zwei Begriffe ein, mit denen er sich in einem weiteren Teil seiner Entscheidung umfangreich auseinandersetzt, und zwar den Begriff der „Einheit 414 415

1 StR 102/03, BGHSt 49, 29. Ebenda, S. 30 f.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

279

der Sache“ und den Begriff des „bedeutsamen Zusammenhanges“. Im Hinblick auf diese beiden Begriffe prüft der BGH den Sachverhalt, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass sie in dem folgenden Fall nicht erfüllt sind. Es kann somit festgestellt werden, dass der BGH sich in dieser Entscheidung wesentlich mehr an seiner bisherigen Rechtsprechung orientiert hat als an dem Gesetz. BGH Fall 2 Vergleichbar mit der vorangehenden Entscheidung ist das Urteil vom 16.6. 2005416, in dem die Frage im Vordergrund stand, ob sich ein Täter einer bandenmäßigen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge strafbar macht (§ 30 Abs. 1 Nr. 1 BtMG, § 30a Abs. 1 BtMG), wenn sich sämtliche Mitglieder einer bandenmäßig organisierten Gruppe nicht persönlich verabredet haben und sich untereinander nicht kennen. Der BGH bejahte diese Frage, unter der Voraussetzung, dass jeder den Willen hat, sich zur künftigen Begehung von Straftaten mit (mindestens) zwei anderen zu verbinden. Dabei ist in dieser Entscheidung nicht zu übersehen, dass der BGH sich nicht primär auf den Begriff einer „Bande“ konzentriert, sondern auf den vom Gesetz nicht erwähnten Begriff der „Bandenabrede“, der durch frühere Rechtsprechung präzisiert wurde. Die Argumentation beginnt der BGH mit der folgenden Formulierung: „I. Ob jemand Mitglied einer Bande ist, bestimmt sich nach der deliktischen Vereinbarung, der sog. Bandenabrede. Sie setzt den Willen voraus, sich mit anderen zu verbinden, um künftig für eine gewisse Dauer mehrere selbstständige, im einzelnen noch ungewisse Straftaten des im Gesetz genannten Delikttyps zu begehen (BGHSt 47, 214, 216; BGH NStZ 2004, 398, 399). Nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 22. März 2001 (BGHSt 46, 321) ist der Wille zur Bindung für die Zukunft und für eine gewisse Dauer bei einem Zusammenschluß von mindestens drei Personen erforderlich.“ 417

Die nachfolgende Argumentation des BGH entwickelt den Begriff der „Bandenabrede“, wobei dabei auf den „Sinn und Zweck der Bandendelikte“ und auf die bisherige Rechtsprechung und die Literatur Bezug genommen wird. BGH Fall 3 In seinem Urteil vom 13.11.2003418 setzt sich der BGH mit dem Problem der Kausalität im Rahmen der fahrlässigen Delikte auseinander, die ausschließlich nach den in der Rechtsprechung und in der Lehre entwickelten Maßstäben festgestellt wird. In dem genannten Urteil führt der BGH aus: „aa) Nach ständiger Rechtsprechung ist als haftungsbegründende Ursache eines strafrechtlich bedeutsamen Erfolges jede Bedingung anzusehen, die nicht hinweggedacht 416 417 418

3 StR 492/04, BGHSt 50, 160. Ebenda, S. 161 f. 5 StR 327/03, BGHSt 49, 1.

280

Teil 2: Empirische Analysen

werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele (BGHSt 39, 195, 197; 45, 270, 294 f.). Diese Voraussetzungen liegen auch dann vor, wenn die Möglichkeit oder die Wahrscheinlichkeit besteht, daß ohne die Handlung des Täters ein anderer eine – in Wirklichkeit jedoch nicht geschehene – Handlung vorgenommen hätte, die ebenfalls den Erfolg herbeigeführt haben würde (BGHSt 2, 20, 24; 45, 270, 295). Bei fahrlässigen Erfolgsdelikten entfällt allerdings der ursächliche Zusammenhang zwischen dem verkehrswidrigen Verhalten eines Angeklagten und dem Tötungs- und Verletzungserfolg, wenn der gleiche Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten des Angeklagten eingetreten wäre oder wenn sich dies aufgrund erheblicher Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen läßt (BGHSt 33, 61, 63 m.w. N.). bb) Indes hat die Prüfung der Ursächlichkeit mit dem Eintritt der – einer kritischen Verkehrslage vergleichbaren – konkreten Tatsituation einzusetzen, die unmittelbar zu dem schädigenden Ereignis geführt hat (vgl. BGHSt 33, 61, 63 f. m.w. N.; Jähnke in LK 11. Aufl. § 222 Rdn. 1). Die Frage, welches Verhalten pflichtgemäß gewesen wäre, ist im Hinblick auf den Pflichtenverstoß zu beantworten, der als (unmittelbare) Schadensursache in Betracht kommt. Im übrigen ist der Prüfung der tatsächliche Geschehensablauf zugrunde zu legen. Hinwegzudenken und durch das korrespondierende sorgfaltsgemäße Verhalten zu ersetzen ist daher nur der dem Täter vorwerfbare Tatumstand; darüber hinaus darf von der konkreten Tatsituation nichts weggelassen, ihr nichts hinzugedacht und an ihr nichts verändert werden (vgl. BGHSt a. a. O.; BGH VRS 74, 359 f.; BGHR StGB § 222 Kausalität 1; Jähnke a. a. O.). Zur konkreten Tatsituation zählen demgemäß nur solche Bedingungen, deren Grund in diesem Tatgeschehen selbst unmittelbar angelegt sind (vgl. Schatz NStZ 2003, 581, 585), wie etwa das eigene Verhalten von Verkehrsopfern (vgl. BGHSt 11, 1 f.; 33, 61 f.).“ 419

Dass der BGH die Kausalität näher definieren musste, kann nicht überraschen, weil das StGB zu dieser Problematik schweigt. Dasselbe betrifft die Kausalität im Rahmen der fahrlässigen Delikte. Auch die Pflichtwidrigkeit wird auf die Basis der in der Rechtsprechung anerkannten Grundsätze festgestellt: „Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg gezeitigt hat (vgl. dazu näher BGHR StGB § 222 Pflichtverletzung 5 m.w. N.).“ 420

Schließlich kann der BGH auch die Feststellung der Zurechenbarkeit auf die zuvor entwickelten Maßstäbe stützten. „b) Die Zurechenbarkeit und objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges – (. . .) – werden nach dem Maßstab des gewöhnlichen Erfahrungsbereichs (vgl. BGHSt 12, 75, 78; BGH NJW 1992, 1708, 1709; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 222 Rdn. 26) jedenfalls dann angenommen werden können, wenn (. . .).“ 421 419 420

Ebenda, S. 3 f. Ebenda, S. 5.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

281

BGH Fall 4 Ein weiteres Beispiel für eine Entscheidung, die sich vor allem an der bisherigen Rechtsprechung orientiert, ist im Beschluss vom 29.6.2005422 zu sehen. In dieser Entscheidung setzt sich der BGH mit der Frage auseinander, ob bei einem durch Täuschung erreichten Abschluss eines „0190er-Nummernvertrages“ eine tatbestandliche Vermögensverfügung im Sinne des § 263 StGB vorliegt. Der BGH verneinte diese Frage, wobei er sich dabei nicht auf den Gesetzestext berief, sondern auf die eigene Rechtsprechung: „Denn eine tatbestandliche Vermögensverfügung setzt voraus, daß sie unmittelbar in das Vermögen des Geschädigten mindernd eingreift (h.A.; BGHSt 14, 170 unter Bezugnahme auf die Rspr. des Reichsgerichts RGSt 47, 151, 153; 58, 215, 216; OLG Karlsruhe NStZ 1996, 282 zum Prozeßbetrug; Lackner in LK 10. Aufl. § 263 Rdn. 99 ff.).“ 423

Dabei ist zu betonen, dass § 263 StGB das Wort „unmittelbar“ nicht enthält. Argumentationstheoretisch handelt es sich dabei folglich um eine teleologische Reduktion des gesetzlichen Tatbestands (nach den deutschen Kategorien). Weiter führt der BGH aus: „Wenn der Getäuschte nicht selbst der Geschädigte ist, so kann der für den Betrug erforderliche ursprüngliche Zusammenhang zwischen der Verfügung des Getäuschten und der Vermögensbeeinträchtigung des Geschädigten nur dann vorliegen, wenn schon im Augenblick der Verfügung des Getäuschten durch sie unmittelbar das Vermögen des Geschädigten eine Einbuße erleidet (RGSt 58, 215, 216). An dem Unmittelbarkeitserfordernis der Vermögensverfügung fehlt es, wenn der Getäuschte dem Täter lediglich die tatsächliche Möglichkeit gibt, den Vermögensschaden durch weitere selbstständige deliktische Schritte herbeizuführen (vgl. die Beispielsfälle OLG Celle NJW 1975, 2218; OLG Düsseldorf NJW 1974, 1833; OLG Hamm wistra 1982, 152; OLG Saarbrücken NJW 1968, 262).“ 424

An diese Passage schließt sich eine weitere Äußerung an, die ebenfalls von der erheblichen Rolle des Richterrechts in der Rechtsprechung des BGH zeugt. „Hiervon ausgehend hat der Bundesgerichthof etwa allein im Erschleichen einer Kundenkarte im sogenannten ,Zwei-Partner-System‘ keinen Betrug gesehen, weil dadurch dem Täter lediglich ein Kreditrahmen eingeräumt werde; darin liege noch keine schädigende Vermögensverfügung, vielmehr werde der Tatbestand des § 263 StGB erst durch die ohne Zahlungsbereitschaft erfolgende Verwendung der Kundenkarte beim Erwerb von Ware verwirklicht (BGHR StGB § 263 Abs. 1 Vermögensverfügung 2).“ 425

421 422 423 424 425

Ebenda, S. 6. 4 StR 559/04, BGHSt 50, 175. Ebenda, S. 178. Ebenda. Ebenda.

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Teil 2: Empirische Analysen

Bemerkenswert ist besonders der Ausdruck „Hiervon ausgehend hat der Bundesgerichtshof . . .“, der darauf hinweist, dass der BGH nicht aus dem Gesetz, das lediglich als Hintergrund der Argumentation betrachtet wird, sondern primär aus den vorher herausgearbeiteten Grundsätzen seine Entscheidung schöpft. BGH Fall 5 Der Gesetzestext steht auch deutlich hinter den durch die Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen im Urteil vom 16.5.2006426, in dem der BGH die Rechtsauffassung des Landgerichts ablehnt, wonach sich die Anordnung des Verfalls von Wertersatz (§ 73 Abs. 1 S. 1, § 73a S. 1 StGB) auf den Gewinnanteil beschränken soll. Der BGH führt aus: „a) Bei der Prüfung, was der Angeklagte aus der Tat (. . .) gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB erlangt hat, hat die Strafkammer die Reichweite des Bruttoprinzips verkannt. ,Bruttoprinzip‘ bedeutet, daß nicht bloß der Gewinn, sondern grundsätzlich alles, was der Täter für die Tat oder aus ihr erhalten hat, für verfallen zu erklären ist (BGH NStZ 1995, 491). Bei der Berechnung des bei einem verbotenen ,Verkauf‘ Erlangten ist deshalb vom gesamten Erlös ohne Abzug des Einkaufspreises und sonstiger Aufwendungen auszugehen (BGHSt 47, 369, 370; BGH NStZ 1994, 123; 2000, 480; NStZ-RR 2000, 57; wistra 2001, 388, 389; BGH, Beschl. vom 13. Dezember 2000 – 1 StR 547/00; BGH, Urt. vom 20. März 2001 – 1 Str 12/01). Insbesondere bei Betäubungsmitteldelikten ,besteht kein rechtlich schützenswertes Vertrauen, aus dem verbotenen Geschäft erlangte Vermögensbestandteile behalten zu dürfen, die der Erlös strafbarer Geschäfte sind‘ BGH NStZ 2001, 312). Das Bruttoprinzip sollte die Anordnung des Verfalls nicht nur im Hinblick auf seine Berechnung praktikabler machen. Die Abschöpfung des über den Nettogewinn hinaus Erlangten verfolgt primär einen Präventionszweck. Die dadurch angestrebte Folge, daß auch die Aufwendungen nutzlos sind, soll zur Verhinderung gewinnorientierter Straftaten – und insbesondere diese wollte der Gesetzgeber erfassen – beitragen. Müßte der Betroffene für den Fall der Entdeckung lediglich die Abschöpfung des Tatgewinns befürchten, so wäre die Tatbegehung unter finanziellen Gesichtspunkten weitgehend risikolos. Diesen Präventionszweck – der Verfallsbetroffene soll das Risiko strafbareren Handelns tragen – hatte der Gesetzgeber im Auge, als er sich auf den Rechtsgedanken des § 817 Satz 2 BGB bezog und darauf abhob, daß das in ein verbotenes Geschäft Investierte unwiederbringlich verloren sein soll (BGHSt 47, 369, 373 f.).“ 427

Auch in dem weiteren Teil der Entscheidungsbegründung wird mehrfach Bezug auf die bisherige Rechtsprechung des BGH und des BVerfG genommen. Nach dieser Bezugnahme auf die entsprechenden Entscheidungen, die die eigentliche Entscheidungsgrundlage bilden, kommt der schon mehrfach erwähnte Satz: „Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Angeklagte (. . .).“ 428 426 427 428

1 StR 46/06, BGHSt 51, 65. Ebenda, S. 66 f. Ebenda, S. 68.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Diese Formulierung wird nicht zufällig vom BGH in Anspruch genommen: Die unmittelbaren Entscheidungsgründe bilden nicht die Vorschriften, sondern die vom BGH entwickelten Grundsätze. BGH Fall 6 Besonders interessant im Hinblick auf die Rolle des Richterrechts in der Rechtsprechung des BGH ist das Urteil vom 18.10.2006429, in dem der BGH vor der Frage stand, ob ein Richter als Verletzter einer Untreue gemäß § 22 Nr. 1 StPO von der Entscheidung ausgeschlossen ist, weil die angeklagte Vermögensstraftat sich gegen eine politische Partei richtete, deren Mitglied er ist. Der BGH verneinte diese Frage mit einer Argumentation, die hier nicht näher dargestellt werden muss. Aufmerksamkeit verdient der Teil der Begründung, in dem sich der BGH auf den Wortlaut des § 22 Nr. 1 StPO beruft. Es ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass der BGH sich nicht auf den Gesetzestext bezieht, sondern auf die Definition, die er in einer früheren Entscheidung herausgearbeitet hat. „(. . .). Der Ausschluss eines Richters von der Mitwirkung gemäß § 22 Nr. 1 StPO setzt voraus, dass er durch die Straftat, die Gegenstand des Verfahrens ist, persönlich unmittelbar in seinen Rechten betroffen ist (BGHSt 1, 298; BGHR StPO § 22 Verletzter).“ 430

Um die Unterschiede zwischen der bereits zitierten Definition und dem Gesetzestext zu zeigen, mag an den Wortlaut des § 22 Nr. 1 StPO erinnert werden. Diese Vorschrift lautet: „Ein Richter ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen, 1. wenn er selbst durch die Straftat verletzt ist;“

Zunächst fällt auf, dass der BGH sich in der behandelten Begründung nicht dazu verpflichtet fühlte, den Gesetzestext vollständig zu zitieren, sondern sofort auf die Definition eingegangen ist, die er in seiner bisherigen Rechtsprechung entwickelt hat. Dabei ist zu betonen, dass das vom BGH verwendete Wort „gemäß“ eher darauf hindeutet, dass der BGH im folgenden Teil des Satzes ausschließlich auf den Gesetzestext Bezug nehmen wird. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Unterschiede zwischen der vom BGH angegebenen Definition und dem Gesetzestext sind offensichtlich: § 22 Nr. 1 StPO spricht nicht über die persönliche und unmittelbare Betroffenheit sowie über Rechte. Es liegt auf der Hand, dass der BGH im folgenden Teil der Begründung unter diese „einengenden“ Merkmale subsumiert und sie vor allem zur Verneinung des Ausschlusses des Richters in dem behandelten Fall verwendet. Darauf weisen folgende Sätze hin: 429 430

2 StR 499/05, BGHSt 51, 100. Ebenda, S. 109 f.

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Teil 2: Empirische Analysen

„Das einzelne Parteimitglied ist daher durch einen dem Parteivermögen zugefügten Vermögensschaden nicht unmittelbar in seinen durch § 266 StGB geschützten Rechten verletzt. (. . .) Der Vorsitzende der Strafkammer war daher weder durch den der Anklage und dem Urteil zugrunde liegenden Vermögensschaden auf der Ebene des Landesverbandes Hessen noch durch einen dem Bundesverband entstandenen Vermögensschaden in seinen persönlichen Vermögensrechten unmittelbar betroffen und damit Verletzter im Sinne von § 22 Nr. 1 StPO.“ 431

Insgesamt gesehen ist die erhebliche Rolle der Selbstreferenzen in der Rechtsprechung des BGH nicht zu bestreiten. Dieses Phänomen wird in der deutschen Lehre unterschiedlich beurteilt.432 Kudlich und Christensen führen vor dem Hintergrund ihrer sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse aus: „Wenn sich die Gerichte also trotz der fehlenden Einlinigkeit der Tradition mit Vorentscheidungen auseinandersetzen, dann macht dies deutlich, dass es eben nicht anders geht: Das Recht steckt weder im Gesetz noch im Fall und kann somit nicht gefunden werden wie ein verlegter Schlüssel. Es muss erzeugt werden wie ein Kunstwerk, in dem sicheren Wissen, dass die Maßstäbe des Kunstmarkts gnadenlos sind. Deswegen kann der Richter auf Hilfsmittel der Vorentscheidungen nicht verzichten.“ 433

Dagegen stellt Simon bei der Analyse von Fällen fest, die im Hinblick auf die Wortlautgrenze problematisch sein könnten: „Der BGH prüft nicht selten zu sehr die Vereinbarkeit seiner Auslegung mit den durch die Rechtsprechung entwickelten Definitionen, anstatt das Augenmerk auf den Gesetzestext selbst zu richten oder wenigstens eine Rückkontrolle vorzunehmen. Ungeachtet der Notwendigkeit, die Vielzahl der Präjudizen zu berücksichtigen und ein stimmiges Konzept einzubinden, dürfen die Definitionen kein Eigenleben gewinnen, das sich vom Gesetz entfernt und letztlich immer nur zur Ausweitung der Strafbarkeit führt.“ 434

Eine so erhebliche Anzahl der Verweise auf die eigene Rechtsprechung kann auch erklären, warum der BGH fast keine methodischen Feststellungen zum 431

Ebenda, S. 110 f. Die Literatur zum Phänomen des Richterrechts ist in Deutschland kaum überschaubar. M. Frühauf, Zur Legitimation von Gewohnheitsrecht im Zivilrecht unter besonderer Berücksichtigung des Richterrechts, 2006; B. Rüthers, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluß des Richterrechts, 2003; K. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996; M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997; D. Buchwald, Objektive Bindungswirkung – Materielle Rechtskraft – Richterrecht, 1997; R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993; G. Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991; F. Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1986; R. Ogorek, Aufklärung über Justiz. Halbband 2: Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 2. Auflage, 2008; F. Müller, Richterrecht, 1986; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975. 433 H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 38. 434 E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 172. 432

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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Rangverhältnis innerhalb der Auslegungskriterien trifft, wie das in Pkt. D. I. gezeigt und durch die weiteren Nachweise anderer Untersuchungen bestätigt wurde. Es ist nicht auszuschließen, dass die Problematik der Rangfolge der klassischen Auslegungskriterien für den BGH inzwischen zweitrangig geworden ist, weil die Problemfälle vor allem auf der Grundlage der „Grundsätze“ und der „Maßstäbe“ gelöst werden, die in der bisherigen Rechtsprechung entwickelt wurden. Die Auslegungskriterien und erst recht das Problem ihrer Rangfolge müssen daher nicht mehr unbedingt angesprochen werden. Wie anfangs festgestellt wurde, spielen die Selbstreferenzen in der Rechtsprechung des OG quantitativ eine nicht so große Rolle, wie das in der Rechtsprechung des BGH der Fall ist. Es lassen sich jedoch Begründungen finden, in denen das OG mit seiner früheren Rechtsprechung argumentiert. Dazu einige Beispiele: OG Fall 1 In einem erheblichen Ausmaß nimmt das OG auf seine frühere Rechtsprechung in dem Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007435 Bezug. In diesem Fall befasste sich das OG mit der Frage, ob ein Zeuge wegen falscher Aussage gemäß Art. 233 § 1 KK436 verurteilt werden kann, wenn er von seinem Recht auf Verteidigung Gebrauch macht. In diesem Fall wurden die Täter als Zeugen verhört und haben falsch ausgesagt. Obwohl sie über den Inhalt des Art. 183 § 1 KPK437 belehrt wurden, kam das OG zu dem Ergebnis, dass der Zeuge keine Straftat des Art. 233 § 1 KK begeht, wenn er im Hinblick auf die Umstände falsch aussagt, die für die Umsetzung seines Rechts auf Verteidigung von Bedeutung sind. Dieser Fall kann als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden und er wird in der vorliegenden Arbeit an einer anderen Stelle noch ausführlicher behandelt (Pkt. F. II.). Um das Ergebnis zu begründen, das sich als nicht unproblematisch erweist, nahm das OG auf die frühere Rechtsprechung Bezug. Zunächst erinnerte es an den Beschluss (Uchwała) des OG vom 26.4.2007438, in dem sich das OG mit der Frage befasste, ob ein Zeuge wegen falscher Aussage gemäß Art. 233 § 1 KK verurteilt werden kann, obwohl er im Lichte der im anhängigen Verfahren ge435

I KZP 26/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 22. Art. 233 § 1 KK lautet: „Wer bei einer Aussage, die in einem Gerichtsverfahren oder in einem anderen aufgrund des Gesetzes geführten Verfahren als Beweismittel dienen soll, falsch aussagt oder die Wahrheit verheimlicht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 437 Art. 183 § 1 KPK lautet: „Der Zeuge kann die Antwort auf eine Frage verweigern, wenn die Beantwortung ihn selbst oder einen seiner Angehörigen der Gefahr der Verantwortung für eine Straftat, Finanzstraftat, Übertretung oder Finanzübertretung aussetzen würde.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 438 I KZP 4/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 1. 436

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Teil 2: Empirische Analysen

sammelten Beweise im Moment der Vernehmung als Beschuldigter und nicht als Zeuge vernommen werden sollte. In diesem Fall vermutete das OG, dass die Staatsanwaltschaft ihre Pflichten, die aus Art. 313 § 1 KPK439 hervorgehen, verletzt hat. Das OG verneinte im Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007440 im Ergebnis die gestellte Frage mit dem Hinweis auf das Recht zur Verteidigung und auf das Prinzip nemo tenetur. Das OG betont in dem Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007441 ausdrücklich den Unterschied zwischen den Sachverhalten, die beiden Entscheidungen zugrunde liegen, relativiert aber deren Unterschiedlichkeit durch die Feststellung, dass das Wesen des Problems gleich sei. In einem weiteren Teil der Begründung betont das OG die ständige Rechtsprechung des OG, die dem Angeklagten grundsätzlich das Recht gewährt, die Unwahrheit im Strafverfahren zu sagen. Insbesondere beruft es sich auf den Beschluss (Uchwała) vom 20.6.1991442, in dem festgestellt wurde: „(. . .) die Realisierung des Rechts auf Verteidigung, das dem Angeklagten im ganzen Strafverfahren zusteht, erlaubt es nicht, eine Handlung als Straftat anzusehen, die im Rahmen dieses Rechts vorgenommen wurde.“ 443

Außerdem betont das OG den Beschluss (Postanowienie) des OG vom 1.4. 2005444, um die Auffassung zu begründen, dass man im Falle der Kollision zwischen den beiden Rechtsgütern das Rechtsgut des ordentlichen Funktionierens der Strafrechtspflege zu Gunsten des Rechts auf Verteidigung opfern muss. Der Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007445 wird noch ein Mal in dem abschließenden Teil der Begründung zitiert, in dem sich das OG mit dem Problem auseinandersetzt, dass der Gesetzgeber eigentlich in Art. 183 § 1 KPK die Lösung für die vorliegende Kollision der Rechtsgüter bereits vorgesehen hat. Um die Bedeutung dieser Norm zu relativieren, zitiert das OG aus dem Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007446 folgenden Teil: „Die Behauptung, dass in diesem Falle die Ermächtigung aus Art. 183 § 1 KPK eine Chance für die Realisierung des Rechts auf Verteidigung und des Grundsatzes nemo

439 Art. 313 § 1 KPK lautet: „Begründen die im Zeitpunkt der Einleitung des Untersuchungs- oder Ermittlungsverfahrens bestehenden oder in deren Lauf gesammelten Angaben genügend den Verdacht, daß die Tat von einer bestimmten Person begangen worden ist, wird ein Beschluß über die Vorwurfserhebung angefertigt, dem Beschuldigten unverzüglich verkündet und der Beschuldigte wird vernommen.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 440 OSNKW 2007, Nr. 6, S. 1. 441 I KZP 26/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 22. 442 I KZP 12/91, OSNKW 1991, Nr. 10–12, Pos. 46. 443 OSNKW 2007, Nr. 10, S. 29. 444 IV KK 42/05, OSNKW 2005, Nr. 7–8, S. 46. 445 I KZP 4/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 1. 446 Ebenda.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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tenetur gibt, wäre ein Zeichen der Hypokrisie und der Missachtung der verfahrensrechtlichten Institute.“ 447

OG Fall 2 Im Beschluss (Postanowienie) vom 6.12.2006448 legt das OG den Begriff „einbrechen“ im Sinne des Art. 279 § 1 KK449 aus. Hier knüpft es wieder an Definitionen an, die es in seiner bisherigen Rechtsprechung entwickelt hat: „Es ist insbesondere zu bemerken, dass bei der Bezugnahme auf die Definition des Begriffes des ,Einbruches‘ aus dem Beschluss des Obersten Gerichts vom 25. Juni 1980 wichtige Ausführungen aus dieser Entscheidung außer Acht gelassen wurden. Es ist deshalb daran zu erinnern, dass nach der Auffassung des OG ,als Einbruchsdiebstahl auch die Wegnahme eines Behälters mit dem Vermögen (z. B. eines Behälters mit dem Geld) aus einem ungeschlossenen Raum gilt (. . .). Die Wegnahme eines Wagens in der Absicht der Zueignung aus dem offenen Raum kann als Einbruchsdiebstahl betrachtet werden, wenn das Eindringen in den Innenraum des Wagens dem oben gezeigten Begriff des ,Einbruchs‘ entspricht.‘ Diese Auffassung korrespondiert übrigens mit dem vom Obersten Gericht vertretenen Verständnis des Begriffes ,Einbrechen‘, das unter der Geltung der Rechtsordnung vor Inkrafttreten des KK von 1969 gegolten hat.“ 450

OG Fall 3 In dem Urteil vom 5.12.2006451 hat sich das OG mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Kauf von Betäubungsmitteln mit der Absicht ihres Verkaufs, ihrer Zubereitung und der Verteilung in Foliepäckchen schon das Stadium der straffreien Vorbereitung überschritten hat. Sofern dies der Fall wäre, wäre der Täter wegen Versuch der Begehung einer Straftat des Art. 59452 des Gesetzes zur Verhütung der Rauschgiftsucht453 strafbar. Sein Auslegungsergebnis erzielte das OG vor allem mit Hilfe der sprachlichen und systematischen Auslegungsmethode. Zunächst brachte es mit einem Hinweis 447

OSNKW 2007, Nr. 10, S. 33. III KK 358/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 57. 449 Art. 279 § 1 KK lautet: „Wer zur Ausführung eines Diebstahls einbricht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 450 OSNKW 2007, Nr. 2, S. 60. 451 III KK 273/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 36. 452 Art. 59 § 1 des Gesetzes zur Verhütung der Rauschgiftsucht lautet: „Wer in der Absicht, einen Vermögensvorteil oder einen persönlichen Vorteil zu erzielen, einer anderen Person ein Betäubungsmittel oder eine psychotrope Substanz gibt, deren Anwendung erleichtert oder die andere Person zur Anwendung dieser Mittel oder Substanzen bewegt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“ Eigene Übersetzung. 453 Ustawa z dnia 29 lipca 2005 r. o przeciwdziałaniu narkomanii, Dz. U. 2012 Pos. 124. 448

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Teil 2: Empirische Analysen

auf die Literatur den Ablauf der Begehung einer Straftat in Erinnerung. Dann stellte es die Vorschriften des Art. 13 § 1 KK (Versuch)454 und des Art. 16 § 1 KK (Vorbereitung)455 nebeneinander und zog die Schlussfolgerung, dass der Täter sein Verhalten unmittelbar auf die Vollendung der Straftat richtet, wenn er einen weiteren Schritt macht als nur die Schaffung der Voraussetzungen zur Begehung dieser Straftat. Diese Schlussfolgerung findet nach Ansicht des OG Unterstützung in der Literatur (objektive Theorie) und in der bisherigen Rechtsprechung des OG [Beschluss (Postanowienie) des OG vom 1.4.2005, IV KK 309/04, OSNKW 2005, Nr. 9, S. 79]. Danach kam das OG zu dem Ergebnis, dass der Täter die Phase der Vorbereitung im vorliegenden Fall nicht überschritten hatte, weil man, um einer anderen Person Drogen zu geben (Polnisch: „udzielic´“), noch weitere Tätigkeiten vornehmen muss, wie z. B. die Aufnahme des Kontakts mit der anderen Person, die Darstellung des Angebots und die Einigung zum Verkauf. Zusammenfassend unterstützen die bisherigen Ausführungen die These, dass die Selbstreferenzen in der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG eine erheblich größere Rolle spielen. Die in der amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheidungen des BGH etablieren offenkundig eine Argumentationskultur, in der die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze im Vordergrund stehen und das Gesetz logischerweise in den Hintergrund tritt. Die Vorschriften sind selbstverständlich in den Begründungen des BGH präsent, wie im Pkt. a) und b) dieses Abschnitts gezeigt wurde, aber sie stehen grundsätzlich nicht im Mittelpunkt der Argumentation. Der BGH knüpft an sie an, stellt sie gegenüber, zitiert sie etc., aber den Schwerpunkt der Argumentation bilden die Selbstreferenzen. Im Prinzip geht das OG mit den Gesetzen anders um. Die Begründungen des OG lassen daran keinen Zweifel entstehen, dass dieses Gericht sich auf die Auslegung von Gesetzen konzentriert. Diese prägen den Charakter der Entscheidungsbegründung und sind sofort sichtbar. Das OG nimmt dabei relativ oft auf die klassischen Auslegungsmethoden (sprachliche, systematische und funktionelle Auslegungsmethode) Bezug, um zu dem aus seiner Sicht richtigen Ergebnis zu gelangen. Vor diesem Hintergrund sind auch die methodischen Äußerungen zum Rangverhältnis innerhalb der klassischen Auslegungsmethoden des OG (siehe Pkt. D. I.) verständlich. Da die Auslegung 454 Art. 13 § 1 KK lautet: „Wegen Versuchs ist strafbar, wer mit dem Vorsatz der Begehung einer verbotenen Tat sein Verhalten unmittelbar auf deren Vollendung richtet, diese jedoch unterbleibt“. Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 455 Art. 16 § 1 KK lautet: „Vorbereitung liegt vor, wenn der Täter in der Absicht der Begehung einer verbotenen Tat Handlungen vornimmt, welche die Voraussetzungen dafür schaffen sollen, daß das Unternehmen der Tat unmittelbar zu deren Vollendung führt, insbesondere wenn der Täter zu diesem Zweck mit einer anderen Person Verabredungen trifft, Mittel erwirbt oder bereitstellt, Informationen sammelt oder einen Handlungsplan entwirft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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von Gesetzen im Vordergrund steht, muss auch das Rangverhältnis innerhalb der Auslegungsmethoden geklärt werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden kann. Auch die Hinweise auf die methodische Literatur können dabei hilfreich sein [siehe Pkt. c)]. Dass der BGH sich mit der Auslegungsproblematik in seinen Entscheidungen grundsätzlich nicht befasst (siehe Pkt. D. I.) und keinen Grund sieht, die methodische Literatur zu berücksichtigen, kann vor dem Hintergrund der gezeigten Praxis, die sich auf die Anwendung von Selbstreferenzen stützt, nicht verwundern. Die Entscheidungsfindung kann sich aus dieser Perspektive auf die Zusammenstellung der bisher entwickelten Grundsätze fokussieren, denn sie lassen es zu, das betreffende Auslegungsproblem vollständig zu lösen. Die klassische Auslegung von Gesetzen, d. h. die Verwendung grammatischer, systematischer, historischer und teleologischer Auslegungsmethoden, verliert bei dieser Vorgehensweise zwangsläufig an Bedeutung. Es ist zu erwarten, dass diese Tendenz in Zukunft beibehalten wird. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass die Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung dem Gericht die Lösung des behandelten Auslegungsproblems deutlich erleichtert. Wenn schon ein Auslegungsergebnis zu einem anderen Auslegungsproblem zur Verfügung steht, das als ein Bezugspunkt für die Lösung des behandelten Problems in Anspruch genommen werden kann, kann es nicht überraschen, dass die Gerichte auf diese Vereinfachung nicht verzichten. Diese Vorgehensweise hat auch einen deutlichen Vorteil für ein Rechtssystem: Das neue „Auslegungsergebnis“ kann mit den alten „Auslegungsergebnissen“ harmonisiert werden; dadurch können mögliche Widersprüche vermieden werden. bb) Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG/VG Obwohl der BGH und das OG an die verfassungsrechtliche Rechtsprechung gebunden sind,456 lässt sich ein erheblicher quantitativer Unterschied auch in diesem Bereich feststellen. Während der BGH in 46 Entscheidungen die Rechtsprechung des BVerfG erwähnt, nimmt das OG nur in 6 Entscheidungen Bezug auf die Rechtsprechung des VG. Dieser Unterschied lässt sich ohne Anspruch auf Vollständigkeit mit drei Ursachen erklären. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass das BVerfG im Vergleich zum VG wesentlich länger existiert, was sich in der Menge und im Umfang der Rechtsprechung beider Gerichte widerspiegeln muss. Während das BVerfG schon nach dem 2. Weltkrieg mit dem Erlass des GG vom 23.5.1949 gegründet wurde, 456 Art. 190 Abs. 1 der polnischen Verfassung lautet: „Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind allgemein bindend und endgültig.“ § 31 Abs. 1 BVerfGG lautet: „Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“

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Teil 2: Empirische Analysen

wurde das Verfassungsgericht in Polen erst in den 80er des 20. Jahrhunderts ins Leben gerufen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland nicht erst nach dem 2. Weltkrieg erfunden wurde, sondern schon vorher im deutschen Rechtssystem einen Platz hatte. In dieser Hinsicht ist der Auffassung von Kudlich und Christensen zuzustimmen, die die Zunahme der verfassungsrechtlichen Argumentation in der Rechtsprechung des BGH (Bände 49– 50) damit erklären, dass der BGH die Grundrechte erst dann sinnvoll heranziehen konnte, als sie durch die Rechtsprechung des BVerfG schon eine bestimmte Prägung erhalten hatten, was in den fünfziger Jahren noch nicht der Fall war. Daher kann nach diesen Autoren auch der Umstand nicht überraschen, dass die Zahl der Bezugnahmen auf die Rechtsprechung des BVerfG in den Bänden 49 und 50 im Vergleich zu den Bänden 1 und 2 deutlich angestiegen ist.457 Zum anderen ist nicht zu übersehen, dass nach dem in Deutschland geltenden Staatsrecht die Entscheidungen des BGH im Wege der Individualbeschwerde vor dem BVerfG angefochten werden können. Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG kann jeder, der sich in seinen Grundrechten durch staatliches Handeln verletzt sieht, eine Verfassungsbeschwerde einreichen. Unter staatlichem Handeln ist jeder Akt der öffentlichen Gewalt zu verstehen, der in Rechtspositionen des Grundrechtsträgers eingreift. Darunter fallen alle Akte der Rechtsprechung, auch die des BGH. Eine ähnliche Befugnis sieht die polnische Verfassung nicht vor. Zwar kann jedermann, dessen verfassungsmäßige Freiheiten oder Rechte verletzt worden sind, auch eine Individualbeschwerde beim VG einlegen, aber diese Beschwerde muss sich gemäß Art. 79 Abs. 1 der Verfassung auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder eines anderen normativen Aktes beschränken, auf dessen Grundlage ein Gericht oder ein Organ der öffentlichen Verwaltung endgültig über die in der Verfassung bestimmten Freiheiten, Rechte oder Pflichten des Beschwerdeführers entschieden hat. Eine Beschwerde gegen die Akte der Rechtsprechung, auch die Entscheidungen des OG, kommt somit nach der polnischen Verfassung nicht in Betracht. Daraus geht hervor, dass die Entscheidungen des OG, im Gegensatz zu denen des BGH, vor dem VG nicht überprüft werden können; sie können jedoch später im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahres geändert werden. Demgegenüber muss der BGH in jedem Fall mit einer Verfassungsbeschwerde rechnen, und daher kann es nicht verwundern, dass er auf die Rechtsprechung des BVerfG Bezug nimmt, um die Plausibilität seiner Entscheidungen argumentativ zu verstärken. Man kann davon ausgehen, dass, falls der BGH eine Entscheidung des BVerfG übersehen sollte, zweifellos die Gefahr einer Aufhebung seiner Entscheidung durch das BVerfG steigen würde. Zum Dritten ist zu berücksichtigen, dass nach der herrschenden Meinung in der polnischen Literatur nur der Tenor der Entscheidung bindend ist, auch wenn 457

H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 32.

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die Begründung verkündet wurde.458 Demgegenüber sei nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG und Teilen der Literatur in Deutschland nicht nur der Tenor bindend, sondern auch die „tragenden Gründe der Entscheidung“, wobei diese Auffassung zunehmend kritisiert wird;459 und es ist in der Literatur bisher strittig, was unter den „tragenden Gründen der Entscheidung“ zu verstehen ist. Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind unter diesem Begriff jene Rechtssätze zu verstehen, „die nicht hinweggedacht werden können, ohne daß das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele.“ 460 In der Literatur spricht man von „den notwendigen argumentativen Stützen für das in der Entscheidungsformel zum Ausdruck kommende Ergebnis“.461 Es ist nicht einfach festzustellen, welche von den bereits genannten Divergenzen die unterschiedliche Ausstrahlung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung auf die strafrechtliche Entscheidungsfindung des BGH und des OG verursacht. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass alle genannten Faktoren einen gewissen Anteil an der unterschiedlichen Praxis des BGH und des OG in diesem Bereich haben. Dass die Rechtsprechung des VG eine vergleichsweise geringe Rolle in der Entscheidungspraxis des OG spielt, bestätigen auch andere Untersuchungen. Die im Teil 1 Pkt. E. II. besprochene Untersuchung von Stawecki, Stas´kiewicz und Winczorek kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Diese Forscher haben dieses Phänomen eindeutig negativ bewertet. Sie stimmen im Ergebnis mit der Auffassung von Łe˛towska überein, nach der die polnische Rechtsordnung „multizentrisch“ ist, d. h., das Verfassungsgericht übt einen geringen Einfluss auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und des OG aus, soweit es sich um die Auslegung von Vorschriften handelt. Stawecki, Stas´kiewicz und Winczorek haben in ihrer Untersuchung auch festgestellt, dass jedes der untersuchten Gerichte eine eigene Rechtsprechung entwickelt.462 Vor dem Hintergrund dieses Phänomens kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass die Bedeutung der 458 P. Winczorek, Komentarz do Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 2007 roku, 2. Auflage, 2008, S. 370; B. Banaszak/T. Milej, Polnisches Staatsrecht, 2009, Rn. 434; B. Banaszak, Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Komentarz, 2. Auflage, 2012, Art. 190 Rn. 1; ders., Prawo konstytucyjne, 6. Auflage, 2012, Rn. 119. Art. 190 § 1 VerfRP lautet: „Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind allgemein bindend und endgültig.“ 459 Dafür E. Benda/E. Klein/O. Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage, 2011, Rn. 1450 ff.; neutral H. Lechner/R. Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Kommentar, 6. Auflage, 2011, § 31 Rn. 30; kritisch K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage, 2012, Rn. 485 ff., weitere Nachweise in Rn. 487 ff. 460 Beschluss vom 12.11.1997, 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94, BVerfGE 96, 404. 461 E. Benda/E. Klein/O. Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage, 2011, Rn. 1452. 462 T. Stawecki/W. Stas´kiewicz/J. Winczorek, Mie ˛dzy policentrycznos´cia˛ a fragmentaryzacja˛, 2008, S. 60.

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Teil 2: Empirische Analysen

Rechtsprechung des VG in der Strafrechtsprechung des OG künftig steigen wird. Eine ähnliche Entwicklung, wie sie Kudlich und Christensen in der Rechtsprechung des BGH festgestellt haben, muss daher in der Rechtsprechung des OG nicht zwangsläufig erfolgen. Im Folgenden sollen ausgewählte Fälle erläutert werden, in denen sich beide Gerichte auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung berufen. Bei der Analyse der Rechtsprechung des BVerfG und des VG muss jedoch noch ein wesentlicher Unterschied beachtet werden. Während alle Entscheidungen des VG bindend sind, wird diese Eigenschaft nur den Senatsentscheidungen des BVerfG zugeschrieben. Die Kammerbeschlüsse des BVerfG haben demgegenüber keine Bindungswirkung, es sei denn, sie geben einer Verfassungsbeschwerde statt (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).463 Dieser Unterschied bleibt in einem engen Zusammenhang mit der unterschiedlichen Struktur beider Verfassungsgerichte. Während das BVerfG aus zwei Senaten besteht, in denen es mehrere Kammern464 mit jeweils drei Mitgliedern gibt, kennt das VG eine ähnliche Struktur nicht. Die Entscheidungen des VG fallen im Rahmen einer konkreten Besetzung, die von dem Gegenstand der Entscheidung abhängt. Demzufolge kann das VG in voller Besetzung (15 Richter) oder in der Besetzung von 5 bzw. 3 Richter befinden. Die Auffassung von der Bindungswirkung stattgegebener Kammerentscheidungen des BVerfG teilt auch der BGH in seiner strafrechtlichen Rechtsprechung. So führt der BGH (4. Senat) im Beschluss vom 18.2.2010465 aus: „a) Die einer Verfassungsbeschwerde stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist eine Sachentscheidung und damit eine Entscheidung im Sinne des § 31 Abs. 1 BVerfGG (Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge BVerfGG 29. Aufl. 2009 § 31 Rdn. 84 m.w. N.; Benda/Klein Verfassungsprozessrecht 2. Aufl. Rdn. 1321). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, wonach der Beschluss einer Kammer der Entscheidung eines Senats des Bundesverfassungsgerichts gleichsteht. Auch der Gesetzgeber ging davon aus, dass § 31 Abs. 1 BVerfGG – sofern die Voraussetzungen im Übrigen vorliegen – für die Entscheidungen einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls gilt (BT-Drucks. 10/2951, S. 12; zur Gesetzesgeschichte auch Rixen NVwZ 2000, 1364, 1366 m.w. N.). Dementsprechend nimmt das Bundesverfassungsgericht selbst an, dass eine stattgebende Kammerentscheidung der Entscheidung eines Senats auch im Hinblick auf die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG gleichstehe (BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des 1. Senats vom 27. Januar 2006 – 1 BvQ 4/06, NVwZ 463 E. Benda/E. Klein/O. Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage, 2011, Rn. 1447 m.w. N. Abweichende Meinung E. Benda, Kammermusik, schrill, NJW 40/2001, S. 2948; A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 3, 6. Auflage, 2010, Art. 94 Abs. 2 Rn. 32. 464 Die Kammern befinden vor allem darüber, ob eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wird. Die Kammer kann einer Verfassungsbeschwerde auch stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet ist. In Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung entscheidet jedoch stets der Senat. 465 4 ARs 16/09. Dieser Beschluss gehört nicht zu der Stichprobe.

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2006, 586, 588, und der 3. Kammer des 2. Senats vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 674 m.w. N.).“ 466

In diesem Zusammenhang muss jedoch noch ein Urteil des BGH (3. Senat) vom 7.2.2006467 beachtet werden, in dem der Senat eine Einschränkung468 der Bindungswirkung von stattgegebenen Kammerentscheidungen eingeführt hat: „Eine über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung kann einer stattgebenden Kammerentscheidung nämlich jedenfalls dann nicht zukommen, wenn sie nicht auf einer vorangehenden Senatsentscheidung beruht; denn von einer solchen leitet sich die Kompetenz der Kammer ab. Sie darf der Verfassungsbeschwerde nur stattgeben, wenn – neben anderen Voraussetzungen – die für deren Beurteilung maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden ist (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Hierbei muss es sich aus gesetzessystematischen Gründen um eine Senatsentscheidung handeln, da nur unter den Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG der Beschluss der Kammer einer Entscheidung des Senats gleichsteht (§ 93 c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG). Die Kammern halten sich zwar im Rahmen ihrer Kompetenz, wenn sie bei aufhebenden Entscheidungen im Rahmen der Anwendung von verfassungsrechtlichen Erkenntnissen eines Senats des Bundesverfassungsgerichts diese konkretisieren und die Maßstäbe fortbilden; das steht außer Zweifel, weil jede Rechtsanwendung im Einzelfall notwendigerweise die Konkretisierung von abstrakten Rechtssätzen beinhaltet. Die Grenzen ihrer Zuständigkeit sind aber überschritten, wenn es an in Senatsentscheidungen entwickelten, fortbildungsfähigen Maßstäben fehlt und sich die Kammern gleichsam ein neues Rechtsgebiet zur selbständigen verfassungsrechtlichen Durchdringung erschließen. Fehlt eine grundlegende Senatsentscheidung, so hat die Kammer keine Entscheidungskompetenz, jedenfalls kann die gleichsam ,in der Luft hängende‘ Kammerentscheidung, die unter Verstoß gegen den auch für das Bundesverfassungsgericht geltenden (BVerfGE 19, 88, 92 [für den Vorprüfungsausschuss]; 40, 356, 361; 46, 34, 35; 65, 152, 154) Grundsatz des gesetzlichen Richters ergeht, keine Bindungswirkung entfalten (vgl. Bethge in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG 20. Lfg. § 31 Rdn. 84; (. . .).“ 469

Aus diesem Zitat geht hervor, dass der 3. Senat des BGH einer stattgegebenen Kammerentscheidung des BVerfG nur dann eine Bindungswirkung beimisst, wenn sie auf einer Senatsentscheidung beruht. Dies setzt in jedem Fall die entsprechende Prüfung der Kammerentscheidung des BVerfG durch das betreffende Gericht voraus. Die folgenden Fälle (weitere Fälle siehe im Anhang C Pkt. 2.) lassen die These plausibel erscheinen, dass der BGH sowohl ablehnende als auch stattgebende Be-

466

Ebenda, S. 15. 3 StR 460/98, NJW 21/2006, 1529. 468 Die vorangehende Entscheidung des BGH musste sich mit dieser Einschränkung nicht auseinandersetzten, da die die stattgegebene Kammerentscheidung sich auf die Entscheidung des 2. Senats des BVerfGE stützte. 469 BGH NJW 21/2006, 1533 f. 467

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Teil 2: Empirische Analysen

schlüsse des BVerfG als argumentative Stütze in seinen Begründungen verwendet. Es lassen sich auch Entscheidungen feststellen, in denen der BGH die ablehnenden Beschlüsse neben Senatsentscheidungen in einer Reihe erwähnt (Fall 1). Es ist auch nicht zu übersehen, dass der BGH nicht selten ausdrücklich betont, dass er Bezug auf die Kammerentscheidung des BVerfG nimmt (Fall 1). Es lassen sich jedoch auch Entscheidungen finden, in denen der BGH eine Kammerentscheidung des BVerfG berücksichtigt, ohne dies ausdrücklich zu betonen (z. B. Fall 4). Nur in einem von den folgenden Fällen hat der BGH ausdrücklich hervorgehoben, dass das BVerfG in seinem Beschluss die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen hat (Fall 5). In sämtlichen anderen Fällen hat er diesen Umstand nicht betont. Um den Unterschied zwischen den ablehnenden und den stattgebenden Beschlüssen in der Analyse zu berücksichtigen, wird dieser Umstand im Folgenden in dem jeweiligen Zitat des BVerfG hervorgehoben. Die Kontexte, in denen die verfassungsrechtliche Rechtsprechung erwähnt wird, sind sehr unterschiedlich. In einem erheblichen Umfang bezieht sich der BGH insbesondere auf die Rechtsprechung des BVerfG bei der Problematik der Urteilsabsprachen und der Sicherungsverwahrung. Daher sollen diese Problemkreise zunächst dargestellt werden. BGH Fall 1 In einem erheblichen Umfang hat sich insbesondere der Große Senat für Strafsachen auf die Rechtsprechung des BVerfG im Beschluss vom 3.3.2005470 berufen, um die Zulässigkeit der Urteilsabsprachen zu begründen. Die folgenden umfangreichen Zitate weisen darauf hin, dass der Große Senat für Strafsachen durchaus die Kritik erwartete, die diese Entscheidung hervorrufen könnte. Um die eventuellen Einwände schon vorab zu entkträften, wird die diesbezügliche Rechtsprechung des BVerfG betont. „1. Die Strafprozeßordnung kennt die Verständigung über das Ergebnis einer Hauptverhandlung als Erledigungsart und verbindliche Zusagen über das Verfahrensergebnis nicht. Trotz Fehlens gesetzlicher Regelungen hat sich in der Strafrechtspflege eine Praxis dahin entwickelt, daß sich die Verfahrensbeteiligten nicht nur über den Stand und die Aussichten des Verfahrens verständigen – wogegen keine Bedenken bestehen (vgl. hierzu BVerfG – Kammer – NJW 1987, 2662 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]) –, sondern zunehmend auch dessen Ergebnis vereinbaren oder zu vereinbaren versuchen. In nicht wenigen Fällen ist dabei auch die Inaussichtstellung des Rechtsmittelverzichts Gegenstand einer solchen Absprache.“ 471

Auf dieselbe Entscheidung des BVerfG wird auch im nächsten Zitat Bezug genommen. 470 471

GSSt 1/04, BGHSt 50, 40. Ebenda, S. 46.

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„Der Angeklagte hat einen Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG). Die Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumessung dürfen nicht im Belieben oder zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts stehen. Deshalb ist es dem Gericht und der Staatsanwaltschaft untersagt, sich auf einen ,Vergleich‘ im Gewande des Urteils, auf einen ,Handel mit der Gerechtigkeit‘ einzulassen. Der Strafprozeß darf darüber hinaus nicht auf eine Weise geführt werden, daß der Beschuldigte zum bloßen Objekt des Verfahrens wird. Der Beschuldigte muß im Rahmen der von der Strafprozeßordnung aufgestellten Regeln nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch die Möglichkeit erhalten, zur Wahrung seiner Rechte aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluß zu nehmen (BVerfG – Kammer – NJW 1987, 2662 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]; vgl. auch BVerfGE 57, 250, 275 f. [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 472

Diese Äußerung des Großen Senats für Strafsachen erweckt den Eindruck, dass das Grundgesetz und insbesondere die Rechtsprechung des BVerfG den Senat sogar dazu „zwingen“, die Urteilsabsprachen zu legitimieren. Wie oben festgestellt wurde, haben die ablehnenden Beschlüsse des BVerfG keine Bindungswirkung. In den angeführten Zitaten hat der Große Senat für Strafsachen sich jedoch zwei Mal auf diese Art der Beschlüsse berufen; in dem letzten Satz neben einem Senatsbeschluss. Dies spricht dafür, dass der Große Senat auch den ablehnenden Beschlüssen des BVerfG einen argumentativen Wert beimisst. Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung wird auch in dem nächsten Zitat herangezogen. In diesem Zitat nimmt der BGH auf einen stattgebenden Kammersbeschluss und auf Senatsbeschlüsse des BVerfG Bezug. „Ein zentrales Ziel des rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines gerechten Urteils. Die Ermittlung des Sachverhalts durch den Tatrichter untersteht dem aus § 244 Abs. 2 StPO abzuleitenden und den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechenden „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“ (vgl. BVerfGE 57, 250, 275 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]; 63, 45, 61 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]; BVerfG – Kammer – NJW 2003, 2444 [stattgebender Kammerbeschluss, Anm des Verf.] und Beschluß vom 17. September 2004 – 2 BvR 2122/03 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]). Dabei ist die Feststellung des Ergebnisses der Beweisaufnahme grundsätzlich der Urteilsberatung vorbehalten, denn die für das Urteil maßgeblichen Feststellungen muß der Tatrichter nach § 261 StPO aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gewinnen (BGHSt 43, 360).“ 473

Die weitere Argumentation in dieser Entscheidung knüpft wieder an die ablehnenden Kammerbeschlüsse und Senatsbeschlüsse des BVerfG an: „Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und nicht zuletzt das Gebot der Gleichbehandlung aller in Strafverfah472 473

Ebenda, S. 48. Ebenda, S. 48 f.

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ren Beschuldigten geben es den zuständigen staatlichen Stellen und insbesondere den Organen der Strafrechtspflege auf, dafür Sorge zu tragen, daß der staatliche Strafanspruch insgesamt – mit Blick auf alle einzuleitenden Strafverfahren – so gut wie möglich durchgesetzt werden kann. Auf seine Durchsetzung darf weder nach Belieben noch aus vermeidbaren Gründen generell, partiell oder im Einzelfall verzichtet werden. Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfG – Kammer – NJW 1987, 2662 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 474 „Die mit der richterrechtlichen Zulassung der Urteilsabsprache verbundene Fortbildung des Strafprozeßrechts ist schließlich auch im Hinblick darauf verfassungsrechtlich vertretbar, daß das Recht auf ein faires Verfahren auch den Zeugen, namentlich den Opfer-Zeugen, davor schützt, zum bloßen Objekt eines rechtsstaatlich geordneten Verfahrens gemacht zu werden (BVerfGE 38, 105, 114 f. [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]). (. . .) Der Zeugen- und Opferschutz kann deshalb Anlaß sein, von einer weitergehenden – den Schuldumfang möglicherweise erhöhenden – Sachaufklärung abzusehen, namentlich unter Anwendung von §§ 154, 154 a StPO. Die Revisionsgerichte knüpfen an dieses Anliegen auch bei der Frage der Notwendigkeit der Aufhebung und Zurückweisung an (vgl. BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Mindestfeststellungen 7; § 354 Abs. 1 Sachentscheidung 5; zur verfassungskonformen Auslegung unter Opferschutzgesichtspunkten siehe auch BVerfG – Kammer –, Beschluß vom 27. Februar 2000 – 2 BvL 4/98 [ablehnender Kammerbeschluss im Rahmen der Richtervorlage gem. Art. 100 I GG, Anm. des Verf.]).“ 475 „cc) Der Große Senat für Strafsachen würde sich an der nach allem durch die Änderung der Verhältnisse veranlaßten, zur Sicherstellung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gebotenen Rechtsfortbildung durch Zulassung der Urteilsabsprache (in den dargestellten engen Grenzen) allerdings gehindert sehen, wenn eine einschlägige Regelung des Gesetzgebers zu erwarten wäre (vgl. BVerfGE 34, 269, 291 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]). Indes ist trotz drängenden Regelungsbedarfs ein Tätigwerden des Gesetzgebers konkret nicht abzusehen.“ 476

Alle diese Argumente erfüllen primär eine Funktion. Sie sollen den Leser davon überzeugen, dass der BGH die Urteilsabsprachen anerkennen muss und diesem Schritt die Rechtsprechung des BVerfG nicht entgegensteht, sondern sogar die Rechtsfortbildung in diesem Fall fördert. Eigentlich „schuldig“ ist in diesem Fall der Gesetzgeber, der bisher untätig bleibt und den BGH dazu zwingt, das Problem der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege selbst zu lösen. Ungern, aber im Bewusstsein seiner Verantwortung nimmt der BGH diese Aufgabe wahr. In dieser Entscheidung hat der Große Senat auch an die methodischen Äußerungen des BVerfG angeknüpft, die in der vorliegenden Arbeit schon im Pkt. D. VI. und im Pkt. D. VII. dargestellt wurden.

474 475 476

Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 55.

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BGH Fall 2 Auf dem Gebiet der Entscheidungen, die sich auf die Sicherungsverwahrung beziehen, nimmt der BGH auf das Urteil des BVerfG vom 10.2.2004477 insbesondere im Urteil vom 11.5.2005478 Bezug. In dieser Entscheidung stand unter anderem die Frage im Vordergrund, ob der Abbruch einer Therapie als „neue“ 479 Tatsache im Sinne des § 66b Abs. 1 und 2 StGB betrachtet werden kann. „Dem liegt zugrunde, daß es Verurteilte gibt, gegen die zum Urteilszeitpunkt keine Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, die sich aber gleichwohl zum Entlassungszeitpunkt als hochgefährlich darstellen. Der Schutz vor solchen Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, stellt ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar. Diesen Schutz durch geeignete Mittel – insbesondere auch durch weitere Freiheitsentziehung – zu gewährleisten, ist Aufgabe des Staates (BVerfGE a. a. O. S. 236 [Urteil, Anm. des Verf.]). Allerdings ist bei der zu treffenden Entscheidung über die nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung in gleicher Weise dem Freiheitsgrundrecht Betroffener in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Insbesondere kann die Unterbringung nach voller Verbüßung der Schuldstrafe im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen nur dann verhältnismäßig sein, wenn bei der Gefahrenprognose sämtliche entscheidungserheblichen Daten aus der Lebens- und Kriminalitätsgeschichte des Betroffenen berücksichtigt werden (BTDrucks. 15/2887 S. 10; vgl. auch BVerfGE a. a. O. S. 241 [Urteil, Anm. des Verf.]). Dabei ist sorgfältig abzuwägen zwischen dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Verurteilten, von denen auch nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe die vorbezeichneten Straftaten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, und den Freiheitsgrundrechten der durch die nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung Betroffenen. Danach kommt eine solche Maßnahme nur bei einer geringen Anzahl denkbarer Fälle in Betracht, wovon auch der Gesetzgeber ausgegangen ist (BT-Drucks. 15/2887 S. 10; vgl. auch BVerfGE a. a. O. S. 236 [Urteil, Anm. des Verf.]).“ 480

Das Zitat enthält eine für verfassungsrechtliches Denken typische Abwägung. In diesem Fall betont der BGH die Notwendigkeit der Abwägung zwischen dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Verurteilten und den Freiheitsgrundrechten der durch die nachträgliche Anordnung einer Sicherungs477

2 BvR 834, 1588/02, BVerfGE 109, 190. 1 StR 37/05, BGHSt 50, 121. 479 § 66b StGB erwähnt den Begriff „neue“ nicht. Der BGH verwendet jedoch diesen Begriff in seiner Rechtsprechung, um die Idee dieser Vorschrift kürzer zum Ausdruck zu bringen. Art. 66b Abs. 1 StGB lautet: „Werden nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit den §§ 252, 255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, (. . .).“ 480 BGHSt 50, 124 f. 478

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verwahrung Betroffenen. Diese Äußerung des BGH kann als Musterbeispiel eines Transfers von verfassungsrechtlichem Denken auf andere Rechtsgebiete angesehen werden. In der behandelten Entscheidung hat der BGH noch in weiterem Teil der Begründung auf die Rechtsprechung des BVerfG Bezug genommen. „3. Grundsätzlich können die Verweigerung oder der Abbruch einer Therapie zu den in § 66b Abs. 1 und 2 StGB genannten neuen Tatsachen gehören, die erst nach der Verurteilung und vor Ende des Vollzuges erkennbar werden und auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit nach seiner Entlassung hinweisen. Ein solcher Umstand reicht aber für sich allein nicht aus, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen (BT-Drucks. a. a. O. S. 13; BVerfGE a. a. O. S. 241 [Urteil, Anm. des Verf.]), zumal sich aus der Stellung des Gefangenen bei der Gestaltung seiner Behandlung im Strafvollzug (§ 4 Abs. 1 StVollzG) ergibt, daß gegen seinen Willen eine Behandlungsmaßnahme nicht erzwungen werden kann (vgl. Calliess/ Müller-Dietz, StVollzG 10. Aufl. § 4 Rdn. 5). Vielmehr ist nach § 66b Abs. 1 StGB eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzuges vorzunehmen, welche einer Übergewichtung der Verweigerung von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen entgegensteht. Es verengt den Blick auf die gesamte Persönlichkeit des Betroffenen und seine bisherige Lebensgeschichte und Kriminalitätsentwicklung in unzulässiger Weise, wenn das Gericht eine Unterbringung allein mit einer derartigen Verweigerungshaltung begründet (BVerfGE a. a. O. S. 241 [Urteil, Anm. des Verf.]). Offenbart daher der Verurteilte während des Vollzuges der Freiheitsstrafe seine ablehnende Haltung gegenüber erforderlichen therapeutischen Maßnahmen, dokumentiert dies zunächst nur sein Verhalten im Strafvollzug; es kann jedoch eine Entscheidungshilfe sein. In gewichtigerem Maße sind allerdings die Persönlichkeit und die Lebensumstände des Verurteilten außerhalb des Strafvollzugs sowie seine Straftaten zu werten. Andernfalls würde die Unterbringung zu einer unverhältnismäßigen Sanktion für fehlendes Wohlverhalten im Vollzug (BVerfGE a. a. O. S. 241 [Urteil, Anm. des Verf.]).“ 481

BGH Fall 3 Im Urteil vom 7.4.2005482 befasste sich der BGH mit dem Problem des Zeugnisverweigerungsrechts eines Notars und seines Gehilfen gemäß § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 53a StPO bei amtspflicht- und gesetzeswidriger Umsetzung eines dem Notar erteilten Auftrags. Im Kontext des Rückwirkungsverbots stellte der BGH in Bezug auf die Senatsbeschlüsse des BVerfG fest: „Zwar unterliegen – auch strafprozessuale – Verfahrensvorschriften grundsätzlich keinem Rückwirkungsverbot (§ 103 Abs. 2 GG). Das Vertrauen in den Fortbestand verfahrensrechtlicher Regelungen ist von Verfassungs wegen weniger geschützt als das Vertrauen in die Aufrechterhaltung materieller Rechtspositionen, denn das Verfahrensrecht enthält nicht selten nur bloße ordnungsrechtliche, technische Prozeßfüh-

481 482

Ebenda, S. 126 f. 1 StR 326/04, BGHSt 50, 64.

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rungsregeln. Es gewährt andererseits aber auch Rechtspositionen, die in ihrer Schutzwürdigkeit materiell-rechtlichen Gewährleistungen vergleichbar sind. Im Einzelfall können deshalb verfahrensrechtliche Regelungen ihrer Bedeutung und ihres Gewichts wegen in gleichem Maße schutzwürdig sein wie Positionen des materiellen Rechts (BVerfGE 87, 48 [63] [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]; BVerfG, Beschluß vom 17. März 2005 – 1 BvR 308/05 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 483

In dem angeführten Zitat hat sich der BGH in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG mit der Geltung des Rückwirkungsverbotes auf dem Gebiet des Verfahrensrechts auseinandergesetzt. Das Zitat beginnt mit der Aufstellung eines Grundsatzes, der im weiteren Teil der Äußerung ausdifferenziert wird. Diese Vorgehensweise ist für den BGH typisch: Er stellt zunächst einen Grundsatz auf und konkretisiert die Ausnahmen im weiteren Teil der Begründung. Es ist dabei nicht zu übersehen, dass der BGH in dem behandelten Ausschnitt durch die verwendeten Ausdrücke sein Ermessen (mit der Unterstützung des BVerfG) erweitert: Welche Verfahrensvorschriften „ordnungsrechtliche, technische Prozeßführungsregeln“ sind und welche „in ihrer Schutzwürdigkeit materiell-rechtlichen Gewährleistungen vergleichbar sind“ entscheidet im Ergebnis der Interpret, also in dem behandelten Fall der erkennende Senat des BGH. Nur die letztgenannten Verfahrensvorschriften fallen nach der Ansicht des BGH unter die Schutzwirkung des Rückwirkungsverbotes. BGH Fall 4 Im Urteil vom 10.8.2005484 befasste sich der BGH mit der Frage, ob ein in einem Krankenzimmer mittels akustischer Wohnraumüberwachung aufgezeichnetes Selbstgespräch des Angeklagten zu dessen Lasten zu Beweiszwecken verwertbar ist. Der BGH verneinte diese Möglichkeit, soweit das Gespräch dem durch Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Kernbereich zuzurechnen ist. Dabei nimmt er in einem erheblichen Umfang auf die unterschiedlichen Arten der Entscheidungen des BVerfG Bezug, die auch in einer Reihe zitiert werden. „Das hier geführte Selbstgespräch ist nämlich dem durch Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen (§ 100c Abs. 4 StPO). Erkenntnisse über solche Äußerungen unterliegen einem ,absoluten Verwertungsverbot‘ und dürfen auch im Hauptsacheverfahren nicht verwertet werden (BVerfGE 109, 279, 331 [Urteil, Anm. des Verf.]). Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit – hier die Aufklärung eines Mordes – können, so das Bundesverfassungsgericht, einen Eingriff in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen (BVerfGE 109, 279, 313, 314 [Urteil, Anm. des Verf.]).“ 485

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Ebenda, S. 77. 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206. Ebenda, S. 210.

300

Teil 2: Empirische Analysen

Auch der Begriff der „Wohnung“ im Sinne von Art. 13 GG wird auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG ausgelegt. Der BGH kommt im Ergebnis zu der Schlussfolgerung, dass ein Krankenzimmer in einer Rehabilitationsklinik unter den Begriff „Wohnung“ im Sinne von Art. 13 GG fällt: „aa) Der Begriff der Wohnung im Sinne von Art. 13 GG ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 32, 54, 69 ff. [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]) nicht im engen Sinne der Umgangssprache zu verstehen, vielmehr ist er weit auszulegen (vgl. BGHSt 42, 372, 375 f.). Er umfasst zur Gewährleistung einer räumlichen Sphäre, in der sich das Privatleben ungestört entfalten kann, alle Räume, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine Abschottung entzogen und zur Stätte privaten Wirkens gemacht sind (BT-Drucks. 15/4533 S. 11; BVerfGE 89, 1, 12 [Senatsbeschluss, Anm des. Verf]); Papier in Maunz/Dürig/Herzog, GG Art. 13 Rdn. 10 f.; Herdegen in Bonner Kommentar, GG Art. 13 Rdn. 26; Kunig in von Münch GGKommentar Bd. I Art. 13 Rdn. 10; AK-GG Berkemann, 3. Aufl. Art. 13 Rdn. 51 ff.).“ 486 „bb) In der verfassungsrechtlichen Literatur besteht Einigkeit darüber, dass der Schutzbereich des Art. 13 GG über den alltagssprachlichen Wohnungsbegriff (Haupteinschließlich Nebenwohnräume) hinaus auch andere Räume schützt, soweit sie als Räume der Freizeit, Räume der Mobilität, kultusbezogene oder der sozialen Beratung zuzuordnen sind und die Privatheit der Lebensgestaltung ermöglichen, denn deren Schutz soll durch diese Vorschrift umfassend gewährleistet werden (vgl. die Aufstellung bei Berkemann in AK-GG a. a. O. Rdn. 41; Papier in Maunz/Dürig/Herzog a. a. O. Rdn. 10 f.). Dazu zählen etwa Gartenhäuser, Hotelzimmer, Wohnwagen, Wohnmobile, bewohnbare Schiffe, Zelte, Schlafwagenabteile, nicht allgemein zugängliche Geschäfts- und Büroräume oder ein nicht allgemein zugängliches Vereinsbüro. Demgegenüber werden z. B. Unterkunftsräume eines Soldaten oder Polizeibeamten, Personenkraftwagen (vgl. BGH – Ermittlungsrichter – NStZ 1998, 157) oder Hafträume in einer Justizvollzugsanstalt (vgl. BVerfG NJW 1996, 2643 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]; BGHSt 44, 138) nicht als Wohnung im Sinne des Art. 13 GG angesehen.“ 487 „b) Auch Art und Inhalt der Äußerung des Angeklagten sprechen für den absolut geschützten Kernbereich. Allerdings enthielt das Selbstgespräch – nach der durchaus vertretbaren Ansicht des Landgerichts – Angaben über den Tatvorwurf. ,Gespräche‘, die Angaben über eine konkret begangene Straftat enthalten (Sozialbezug), gehören ihrem Inhalt nach nicht zum unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung (BVerfGE 109, 279, 319 [Urteil, Anm. des Verf.]). Auch nach § 100c Abs. 4 Satz 3 StPO sind sie dem Kernbereich grundsätzlich nicht zuzurechnen. Hier besteht jedoch die Besonderheit, dass der Angeklagte nicht mit anderen kommuniziert, sondern ein Selbstgespräch geführt hat. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteil vom 3. März 2004 bei der Frage eines derartigen Sozialbezuges primär auf die Kommunikation mit anderen Personen, das ,Zwiegespräch‘, ab (BVerfGE 109, 279, 319, 321 [Urteil, Anm. des Verf.]). Das Urteil vom 3. März 2004 nimmt Bezug auf die Tagebuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. September 1989 486 487

Ebenda, S. 210 f. Ebenda, S. 211.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

301

(BVerfGE 80, 367 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]). Wegen Stimmengleichheit ließ sich dort nicht feststellen, dass die Verwertung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen des Angeklagten zu Beweiszwecken gegen das Grundgesetz verstieß. Maßgeblich für die Verneinung des Verfassungsverstoßes durch vier Richter war, dass der Angeklagte seine Gedanken schriftlich niedergelegt hatte. Damit habe er sie aus dem von ihm beherrschbaren Innenbereich entlassen und der Gefahr eines Zugriffs preisgegeben (BVerfGE 80, 367, 376 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]). Die vier anderen Richter waren hingegen der Ansicht, dass die tagebuchähnlichen Aufzeichnungen ausschließlich höchstpersönlichen Charakter – wie ein Selbstgespräch – hatten. Die Auseinandersetzung des Angeklagten mit dem eigenen Ich habe ihren höchstpersönlichen Charakter nicht deshalb verloren, weil sie dem Papier anvertraut worden sei. Trotz des in dem Beschluss vom 14. September 1989 bestehen gebliebenen Dissenses über die strafprozessuale Verwertung von tagebuchähnlichen Aufzeichnungen gehört das Selbstgespräch selbst nach den Maßstäben der die Entscheidung des Zweiten Senats tragenden vier Richter grundsätzlich zum absoluten Kernbereich privater Lebensgestaltung. Unzweifelhaft will der Betroffene in einem Selbstgespräch einen Lebenssachverhalt geheim halten. Daran ändert auch nichts, dass diesem ,im nachhinein und von außen her eine Beziehung zu Allgemeinbelangen herangetragen werden [würde], die [ihm] ursprünglich, also aus sich heraus, nicht eigen war‘ (so die vier unterlegenen Richter zu den tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, BVerfGE 80, 367, 382 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 488

Diese langen Zitate zeigen deutlich, wie eine Entscheidung des BGH mit verfassungsrechtlichen Argumentationen gesättigt sein kann. Eine maßgebende Rolle spielt dabei das Urteil des ersten Senats des BVerfG vom 3.3.2006489. Man kann schon an dieser Stelle hervorheben, dass in keiner Entscheidung des polnischen VG, die für diese Untersuchung herangezogen wurde, eine vergleichbare Argumentation festgestellt werden konnte. BGH Fall 5 Im Beschluss vom 26.10.2005490 hat der Große Senat für Strafsachen eine restriktive Auslegung des Begriffes „Handeltreiben“ im Sinne des § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 abgelehnt, indem er feststellte, dass es für die Annahme vollendeten Handeltreibens ausreicht, dass der Täter bei einem beabsichtigten Ankauf von zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmten Betäubungsmitteln in ernsthafte Verhandlungen mit dem potentiellen Verkäufer eintritt. Zur Untermauerung seiner Entscheidung beruft sich der Große Senat für Strafsachen auf ablehnende Kammerbeschlüsse und auf einen Senatsbeschluss des BVerfG. Die Besonderheit dieser Entscheidung liegt darin, dass der Große Senat für Strafsachen die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerden ausdrücklich betont hat.

488 489 490

BGHSt 50, 213. 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99, BVerfGG 109, 279. GSSt 1/05, BGHSt 50, 252.

302

Teil 2: Empirische Analysen

„bb) Das Verfassungsrecht, namentlich der Bestimmtheitsgrundsatz nach § 103 Abs. 2 GG gebietet nicht, die mit der Vorlegung intendierte restriktive Auslegung vorzunehmen. (1) Das Bundesverfassungsgericht (jeweils 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschl. vom 25. Februar 1993 – 2 BvR 2229/92 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.] und Beschl. vom 24. Oktober 1999 – 2 BvR 1906/99 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]) hat in zwei Fällen Verfassungsbeschwerden, mit denen geltend gemacht worden war, dass die tradierte Auslegung des Begriffs Handeltreiben gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoße, mangels Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung angenommen. Es hat – unter Bezugnahme auf den Beschluss BVerfGE 28, 175, 183 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.] – ausgeführt, der in Art. 103 Abs. 2 GG niedergelegte Bestimmtheitsgrundsatz zwinge nicht dazu, im Strafrecht auf die Verwendung auslegungsfähiger Begriffe zu verzichten. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung folgende Umschreibung des Handeltreibens zugrunde gelegt: ,Unter den Begriff des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln fällt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jede eigennützige Bemühung, die darauf gerichtet ist, den Umsatz mit Betäubungsmitteln zu ermöglichen oder zu fördern, selbst wenn es sich dabei nur um eine vermittelnde Tätigkeit handelt (vgl. BGHSt 29, 239; 31, 145, 147; 34, 124, 125; BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 29). Eine gesicherte Lieferquelle ist ebenso wenig Voraussetzung für die Vollendung des Tatbestands wie die Verfügungsgewalt des Täters über die Betäubungsmittel. Der Tatbestand ist ebenfalls erfüllt, wenn es noch nicht zur Anbahnung bestimmter Geschäfte oder gar zum Abschluss eines Vertrags und dessen Erfüllung gekommen ist. Handeltreiben ist kein Erfolgsdelikt. Die Tat ist deshalb auch dann rechtlich vollendet, wenn der erstrebte Umsatz von Betäubungsmitteln – etwa weil auf der Käuferseite zum Schein Polizeibeamte auftreten – nicht erreicht wird‘ (BVerfG a. a. O. [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.], Beschl. vom 24. Oktober 1999 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]; fast gleichlautend Beschl. vom 25. Februar 1993 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 491

Zusammenfassend muss eine erhebliche Rolle der Rechtsprechung des BVerfG in der Rechtsprechung des BGH festgestellt werden.492 Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ bezieht sich der BGH auf unterschiedliche Arten der Entscheidungen des BVerfG. Aus den dargestellten Zitaten geht hervor, dass die verfassungsrechtliche Rechtsprechung wichtige sachliche Gründe für die Entscheidungsfindung des BGH liefert. Sie wird dabei vom BGH auf unterschiedlichen Gebieten angewendet. Sie wird zur Legitimation der Rechtsfortbildung (Fall 1), zur Auslegung der Vorschritten über Sicherungsverwahrung (Fall 2) und über die Wohnraumüberwachung (Fall 4) sowie zur Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Grundsätze (Fall 3 und 5) in Anspruch genommen. Diese Zusammenstellung macht auch deutlich, dass die verfassungsrechtliche Argumentation sowohl

491 492

Ebenda, S. 264. Weitere Fälle siehe im Anhang A.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

303

auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts (Fall 2 und 5) als auch auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts (Fall 2, 3 und 4) zur Anwendung kommt. Im Vergleich zu der Rechtsprechung des BGH hat das OG auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung wesentlich seltener (nur in 6 Entscheidungen) und grundsätzlich in einem erheblich geringeren Ausmaß Bezug genommen. OG Fall 1 Im Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007493 befasste sich das OG mit der Auslegung des Begriffes „Gewalt gegen eine Person“ im Sinne des Art. 130 § 3 des Übertretungskodexes. Im Ergebnis entschied sich das OG für die Aufrechterhaltung der bisher herrschenden Auffassung. Um sein Ergebnis zu untermauern, beruft es sich auch am Ende der Begründung auf das Vertrauen der Bürger in den Staat. In diesem Kontext wird die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts erwähnt. „Die gefestigte Linie der Rechtsprechung des OG hat auch einen wesentlichen Wert, denn sie kann als Grundlage des Grundsatzes des Vertrauens der Bürger in den Staat anerkannt werden. Der Bürger kann annehmen, dass die Inhalte des geltenden Rechts genau so sind, wie sie von den Gerichten festgestellt wurden [Urteil des Verfassungsgerichts vom 13.4.1999, K 36/98, OTK ZU 1999, H. 2, Pos. 40; W. Wróbel: Zmiana przyje˛tej linii orzeczniczej przez Sa˛d Najwyz˙szy w s´wietle reguł intertemporalnych (w szczególnos´ci art. 4 k.k.) in: L. Gardocki, J. Godyn´, M. Hudzik, L. Paprzycki: Działalnos´c´ orzecznicza Sa˛du Najwyz˙szego a prawo wspólnotowe i unijne, Warszawa 2005, S. 34–46]. In der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts wird auch der Schutz des Vertrauens der Bürger im Prozess der Rechtsanwendung betont. Dem verfassungsrechtlichen Schutz unterliegt nicht das Vertrauen in den Buchstaben des Rechts, sondern vor allem in die Art seiner Auslegung in der Praxis, insbesondere wenn diese Praxis in einem bestimmten Zeitraum einheitlich und konstant ist und die Vorschriften, die dieser Praxis zugrunde liegen, die Annahme der Unbegründenheit dieser Praxis nicht zulassen (Urteile des Verfassungsgerichts vom 27. November 1997, U 11/97, OTK ZU 1997, Nr. 5–6, S. 475 und vom 9. Oktober 2001, SK 8/00, OTK ZU 2001, Nr. 7, S. 1035).“ 494

OG Fall 2 Am umfangreichsten nimmt das OG auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts im Beschluss (Postanowienie) vom 26.4.2007495 Bezug. Im Vordergrund dieser Entscheidung stand die Auslegung des Art. 19 Abs. 15 des Gesetzes über die Polizei496. Insbesondere musste das OG der Frage nachgehen, ob die Be493 494 495 496

I KZP 39/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 1. Ebenda, S. 16. I KZP 6/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 1. Ustawa z dnia 6 kwietnia 1990 r. o Policji, Dz. U. 2015, Pos. 355.

304

Teil 2: Empirische Analysen

weise, die im Rahmen von operativen Handlungen (z. B. im Rahmen der Überwachung und der Aufzeichnung der Telekommunikation) erlangt wurden, verwendet werden dürfen, wenn sie Straftaten betreffen, die nicht zum Einsatz der operativen Handlungen ermächtigen, also keine Katalogstraftaten sind. Im Ergebnis kam das OG zu der Schlussfolgerung, dass diese Materialien nicht verwendet werden dürfen. Das Ergebnis unterstützte das OG auch mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Neben Äußerungen zur Methode, die schon im Pkt. D. I. und VII. aufgezeigt wurden, hat das OG ausgeführt: „Im Urteil vom 12.12.2005 (K 32/04) betonte das Verfassungsgericht bei der Darstellung des Standards, der aus dem Inhalt des Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Bereich der ausnahmsweisen Zulässigkeit des Eingriffs in die Privatsphäre des Individuums hervorgeht, dass ,der Exzess der ,zufälligen‘ Aufnahme von Material, das die Privat- und die Sittensphäre betrifft und den Zweck der Kontrolle überschreitet, eine Handlung der Gewalt außerhalb des zulässigen Eingriffs in die Privatsphäre bedeutet‘.“ 497

In diesem Zitat wird neben der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts auch die Rechtsprechung des EGMR angesprochen. „In der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts wird betont, dass die gerichtliche Kontrolle der Handlungen, die im Rahmen der operativen Tätigkeiten vorgenommen werden, insbesondere im Rahmen der operativen Kontrolle, die aus der Natur der Sache in die Privatsphäre eingreift, eine besonders wichtige Prämisse verfassungsrechtlicher Rechtfertigung der Einschränkung der gezeigten Rechte und Freiheiten des Individuum ist. Das Verfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang betont, dass trotz der Unvollkommenheit der gerichtlichen Kontrolle ,die Legalisierung der operativen Kontrolle durch die Gerichte relativ einfach das Ausmaß der durchgeführten operativen Handlungen überprüfen‘ und die Ziele der operativen Kontrolle verifizieren lässt: ,Das deklarierte Ziel bei der Legalisierung bedeutet nicht nur die Festlegung des Rahmens der Operation, das durch dieses Ziel bestimmt ist (die Einschränkung des Umfangs der Kontrolle durch den Hinweis auf ein Ziel, das das Gericht verifiziert), sondern erschwert zugleich die Manipulation mit den Zielen der Kontrolle‘. Das Verfassungsgericht hat zwar die Möglichkeit der Einschränkung oder sogar des Verzichts auf die gerichtliche Kontrolle der operativ-untersuchenden Tätigkeiten nicht ausgeschlossen, aber es hat betont, dass das Vorhandensein eines Kontrollmechanismus in diesen Fällen eine verfassungsrechtliche Voraussetzung der Zulässigkeit dieser Handlungen ist und diese Mechanismen ,rigoros und effektiv‘ sein müssen.“ 498

Und weiter in dieser Entscheidung führt das OG in Bezug auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts aus: „Wie das Verfassungsgericht in der Begründung zu dem Urteil vom 12. Dezember 2005 (K 32/04) deutlich gemacht hat, ermächtigt die öffentliche Sicherheit als Gut 497 498

OSNKW 2007, Nr. 5, S. 19. Ebenda, S. 20.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

305

den Gesetzgeber im Prinzip zur Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten. Diese Einschränkung verlangt jedoch die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zwischen dem zulässigen Eingriff und dem Schutz der Sicherheit und setzt ein funktionstüchtiges System der Kontrolle der Verhältnismäßigkeit in der Praxis voraus. Andernfalls gefährden die Mittel zum Schutz dieser Sicherheit in Gestalt der legalen operativen Kontrolle bereits in sich diese Freiheiten. Dies wird insbesondere dann so sein, wenn die eingeführten Einschränkungen arbiträr, unverhältnismäßig in Relation zu den eventuellen Gefahren sind und sie aus der gerichtlichen Kontrolle – rechtlich bzw. faktisch – ausgeschlossen werden.“ 499

Und noch in einem weiteren Teil der Entscheidung hebt das OG die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts hervor. „Es lohnt sich noch hinzuzufügen, dass das Verfassungsgericht in Bezug auf den aus Art. 31 Abs. 3 der Verfassung hervorgehenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beim Erlass der Einschränkungen der verfassungsrechtlichen Rechte und Freiheiten ausdrücklich betont hat, dass ,in einem demokratischen Rechtsstaat die Speicherung der Informationen über die Bürger, die im Rahmen von operativen Tätigkeiten erlangt wurden, im Hinblick auf ihre potentielle Brauchbarkeit nicht notwendig ist. Es kann nur im Zusammenhang mit einem konkreten Verfahren zur Anwendung kommen, das auf der Grundlage des Gesetzes die Einschränkung der Freiheiten im Hinblick auf die Sicherheit des Staates und auf die öffentliche Ordnung zulässt.“ 500

Diese Zitate weisen darauf hin, dass das OG durchaus bereit ist, in einem erheblichen Ausmaß auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung Bezug zu nehmen. Diese Entscheidung muss jedoch als Ausnahme betrachtet werden. In keiner weiteren Entscheidung, die in der vorliegenden Untersuchung herangezogen wurde, wird die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts so umfangreich hervorgehoben. OG Fall 3 Eine wichtige Rolle spielt die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts im Beschluss (Uchwała) des OG vom 26.4.2007501, in dem sich das OG mit der Frage befasste, ob eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (spółka cywilna) zu den Subjekten gehört, die in Art. 9 § 3 des Steuerstrafgesetzbuches502 (Kodeks karny skarbowy) genannt sind. Das OG verneinte diese Frage unter anderem auch deshalb, weil das Verfassungsgericht auf der Grundlage des Gesetzes über die straf499

Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 22. 501 I KZP 7/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 28. 502 Art. 9 § 3 KKS lautet: „Für steuerrechtliche Straftaten oder auch Ordnungswidrigkeiten trägt, wie ein Täter, auch derjenige die Verantwortung, der sich auf der Grundlage einer Rechtsvorschrift, einer Entscheidung des zuständigen Organs, eines Vertrages oder faktischer Tätigkeiten mit wirtschaftlichen, insbesondere mit finanziellen, Angelegenheiten einer natürlichen oder juristischen Person befasst. Dasselbe gilt für denjenigen, der sich mit den Angelegenheiten einer organisatorischen Einheit befasst, die keine Rechtspersönlichkeit hat, die ihr aber auf der Grundlage anderer Vorschriften verliehen wird.“ Übersetzung des Verfassers. 500

306

Teil 2: Empirische Analysen

rechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen503 entschieden hat, dass über die Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts die zivilrechtlichen Vorschriften entscheiden. Das soll nach der Auffassung des OG auch für das Steuerstrafgesetzbuch gelten. Das OG führt dazu aus: „Nach der Auffassung des Verfassungsgerichts soll die Gesellschaft bürgerlichen Rechts aus dem Bereich ,der organisatorischen Einheiten ausgeschlossen werden, die keine Rechtspersönlichkeit besitzen‘, wovon in Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes die Rede ist, denn sie hat im Lichte des Zivilrechts keinen solchen Status.“ 504

OG Fall 4 Im Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007505 befasst sich das OG demgegenüber mit dem Problem der Befangenheit eines Richters. In Bezug auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts stellt es fest: „(. . .) die Verfahrensvorschriften sind auf die Reduzierung der objektivierten Elemente gerichtet, die die Befangenheit verursachen können (. . .). Es scheint, dass auch das Verfassungsgericht das Problem der Befangenheit so begreift, dass es im Urteil vom 27. Januar 1999 (K 1/98, OTK 1999/1/3) festgestellt hat: ,Die Befangenheit ist ein psychischer Zustand des Richters, der in einem geringeren oder einem größeren Ausmaß zum Ausdruck kommen kann. Daher lassen sich die Gefahren der Befangenheit nur in einem eingeschränkten Ausmaß objektivieren. Die Gründe der Befangenheit sind unterschiedlich und lassen sich insoweit abschließend nicht definieren, als die Natur des einzelnen Menschen ihn in unterschiedlichen Situationen – in einem geringen oder einem größeren Grad der Bewusstheit – befangen macht. Es geht jedoch darum, ob faktische Situationen vorkommen, mit denen mit einem sehr hohen Wahrscheinlichkeitsgrad die Gefahr der Befangenheit des Richters verbunden werden kann, die zugleich in einem solchen Grad zum Ausdruck kommen, dass sie sich objektivieren lassen‘.“ 506

Die aufgezeigten Zitate aus der Rechtsprechung beider Gerichte lassen die Schlussfolgerung zu, dass der BGH im Vergleich zum OG in einem deutlich größeren Umfang auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts Bezug nimmt. Abgesehen vom OG Fall 2 bezieht sich das OG nur sehr sparsam auf die Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts. cc) Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR/EuGH Die Untersuchung hat ergeben, dass in den in Betracht gezogenen Entscheidungen beider Gerichte die Rechtsprechung des EGMR und des EuGH eher eine marginale Rolle spielt. Während sich beide Gerichte auf die Rechtsprechung des 503 Ustawa z dnia 28 paz ´ dziernika 2002 r. o odpowiedzialnos´ci podmiotów zbiorowych za czyny popełnione pod groz´ba˛ kary, Dz. U. 2014 Pos. 1661. 504 OSNKW 2007, Nr. 5, S. 34. 505 I KZP 9/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 35. 506 Ebenda, S. 44.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

307

EGMR jeweils nur dreimal berufen haben, hat das OG auf die Rechtsprechung des EuGH kaum Bezug genommen. Auf den ersten Blick könnte verwundern, dass der BGH in seiner Rechtsprechung nur dreimal die Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofes berücksichtigt hat; man hätte erwarten können, dass angesichts der wesentlich längeren Mitgliedschaft Deutschlands in der EU im Vergleich zu Polen der Einfluss der europäischen Rechtsprechung größer wäre. Deutschland gehört zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaften und demzufolge war die deutsche Rechtsordnung vom Anfang der Entstehung der Europäischen Gemeinschaften an dem Europäischen Recht ausgesetzt. Dagegen ist Polen erst im Jahre 2004 der Europäischen Union beigetreten, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass schon in den neunziger Jahren die bevorstehende Integration das polnische Recht beeinflusst hat. Trotzdem zeigt die vorliegende Untersuchung, dass sich sowohl der BGH als auch das OG vor allem an der eigenen inländischen Rechtsprechung orientieren, was von einer stark national geprägten Auslegungs- und Argumentationskultur zeugt. e) Sonstige Kategorien Zu den sonstigen Kategorien werden diejenigen Topoi gezählt, die einen eher formalistischen Charakter haben, sich aber den vorangehenden Katalogen nicht zuordnen lassen. Sie bilden dabei keine homogene Gruppe. Die Untersuchung ergab folgende Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG. Tabelle 12 Sonstige Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG Gericht

BGH

OG

Grundsätze der Gesetzgebung

0

7

Lex specialis

4

4

Lex mitior agit

2

3

Lex posterior

0

2

Zunächst wird ein Unterschied in der Anwendung des Topos „Grundsätze der Gesetzgebung“ 507 deutlich. Wie schon oben erwähnt (siehe Regeln der Zuordnung), sieht die deutsche Rechtsordnung keine ausdrücklichen Regelungen zur Anfertigung von Gesetzen vor, was erklärt, dass dieser Topos in der Rechtsprechung des BGH nicht vorkommt. Das OG hat dagegen in sieben seiner Entscheidungen Bezug auf die Grundsätze der Gesetzgebung genommen. 507 Die Grundsätze der Gesetzgebung wurden in Polen in einer Verordnung vom 20.6.2002 geregelt: Rozporza˛dzenie Prezesa Rady Ministrów z dnia 20 czerwca 2002 r. w sprawie „Zasad techniki prawodawczej“, Dz. U. 2002 Nr. 100, Pos. 908.

308

Teil 2: Empirische Analysen

Beide Gerichte haben in gleichem Ausmaß auf den Topos lex specialis derogat legi generali Bezug genommen. Vergleichbar oft wurde von den beiden höchsten Gerichten der Topos lex mitior agit angewendet. Der Topos lex posterior wurde nur in der Rechtsprechung des OG festgestellt. Insgesamt gesehen spielen diese Topoi quantitativ eine geringe Rolle in der Rechtsprechung beider Gerichte. Im Folgenden wird ein Beispiel aus der Rechtsprechung des OG gezeigt, in dem der Topos lex specialis derogat legi generali eine primäre Rolle in der Entscheidungsbegründung spielt. OG Fall 1 In dem Beschluss (Postanowienie) vom 7.2.2007508 stand die Frage im Vordergrund, ob eine Person, die zu Unrecht vorläufig festgenommen wurde, auf der Grundlage von Art. 552 § 4 KPK509 im Strafverfahren neben der Entschädigung auch eine Geldrente oder eine Abfindung in Kapital gemäß Art. 444 § 2 und Art. 447 des polnischen Zivilkodex verlangen kann. Das OG verneinte diese Frage mit einer knappen Argumentation, die im Folgenden dargestellt wird. Zunächst stellte das OG autoritativ fest, dass im Rahmen des Art. 552 § 4 KPK nur die Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden könnten, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der zu Unrecht erfolgten vorläufigen Festnahme stehen. Die weiteren Ansprüche, wie z. B. eine Geldrente oder eine Abfindung in Kapital, könnten nur im Rahmen des Zivilverfahrens geltend gemacht werden. Dieses Ergebnis geht nach der Auffassung des OG gerade aus Art. 552 KPK hervor, der lex specialis gegenüber den allgemeinen Regelungen des Zivilkodex sei und demzufolge die Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften in entsprechendem Umfang ausschließe. In diesem Punkt scheint das OG zu einem überzeugenden Ergebnis zu kommen. Ferner stellte das OG fest, dass eine Person, die vorläufig festgenommen wurde, ihre Ansprüche im Zivilverfahren unabhängig davon geltend machen kann, ob sie zu Unrecht festgenommen wurde, wie es Art. 552 § 4 KPK verlangt. In dieser Situation kann das Argument des Verteidigers nach Auffassung des OG nicht überzeugen, dass der Begriff „Entschädigung“ in Art. 552 § 4 KPK auch eine Abfindung in Kapital erfasst. Diese Schlussfolgerung würde zu dem unakzeptablen Ergebnis führen, dass ein Anspruch auf eine Abfindung in Kapital gemäß Art. 447 des Zivilkodex im Strafverfahren geltend gemacht werden könnte, nicht aber der Anspruch auf eine Geldrente auf der Grundlage des Art. 444 § 2 des Zivilkodex. Aus der obigen Argumentationsstruktur geht hervor, dass das Argument lex specialis hier eine entscheidende Rolle spielte. 508

V KK 61/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 42. Art. 552 § 4 KPK lautet: „Die Entschädigung und die Genugtuung steht auch im Falle einer zweifellos zu Unrecht erfolgten vorläufigen Verhaftung oder Festnahme zu.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 509

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

309

2. (Wertorientierte) Substanzielle Analysekategorien a) Verfassungsrechtliche Kategorien In dieser Kategorie werden alle diejenigen Topoi erfasst, die an das GG (deutsche Rechtsordnung) bzw. an die Verfassung (polnische Rechtsordnung) oder an die allgemeinen Rechtsprinzipen anknüpfen. Da die qualitative Untersuchung ergab, dass auch in dieser Hinsicht erhebliche Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des BGH und der des OG bestehen, wird – wie bei der Analyse der Selbstreferenzen – eine vertiefte Analyse durchgeführt. Zunächst wird jedoch die Anzahl der Entscheidungen dargestellt, in denen der BGH bzw. das OG verfassungsrechtliche Topoi einsetzt. Tabelle 13 Anzahl der Entscheidungen, in denen der BGH und das OG verfassungsrechtliche Topoi eingesetzt haben

Die Anzahl der Entscheidungen

BGH

OG

60

34

Aus der Tabelle geht hervor, dass in der Sammlung der Entscheidungen des BGH im Vergleich zu der Sammlung der Entscheidungen des OG wesentlich häufiger Urteile auftauchen, die an verfassungsrechtliche Topoi anknüpfen. In knapp 2/3 aller veröffentlichten Entscheidungen des BGH werden verfassungsrechtliche Aspekte angesprochen. Demgegenüber lassen sich lediglich in ca. 1/3 aller analysierten Entscheidungen des OG verfassungsrechtliche Topoi feststellen. Die folgende Tabelle lässt erkennen, welche Topoi existieren und wie oft die Gerichte an sie in ihren Begründungen anknüpfen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Tabelle die Anzahl der Entscheidungen zeigt, in denen ein Topos jeweils mindestens einmal ermittelt wurde. Tabelle 14 Verfassungsrechtliche Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG Verfassungsrechtliche Topoi

BGH

OG

GG/Verfassung

16

3

Bestimmtheitsgrundsatz

10

0

Analogieverbot

1

3

Grundsatz des fairen Verfahrens

9

2

10

3

Beschleunigungsgrundsatz

310

Teil 2: Empirische Analysen

Verfassungsrechtliche Topoi

BGH

OG

Menschenwürde/Ehre

6

2

Gleichheitsgrundsatz

4

1

Grundsatz der Staatshaftung/Amtshaftung

0

3

Ne bis in idem

3

2

Rückwirkungsverbot

6

4

13

1

Vertrauensschutzgebot

7

1

Demokatieprinzip

1

3

Recht auf den gesetzlichen Richter

2

3

Freiheitsanspruch

5

0

Schuldgrundsatz

7

6

Verhältnismäßigkeitsprinzip

Rechtsstaatsprinzip

16

7

Gebot des rechtlichen Gehörs

6

1

Meinungsfreiheit

0

3

Unschuldsvermutung

1

3

In dubio pro reo

4

2

Nemo tenetur

4

3

Recht auf Verteidigung

7

8

Rechtssicherheit

5

1

Gerechtigkeitsgrundsatz

9

4

Grundsatz der materiellen Wahrheit

5

2

Unverletzlichkeit der Wohnung

1

1

Instanzenzug

0

2

Nullum crimen, nulla poena

0

1

Recht auf den unabhängigen Richter

0

1

Recht auf informationelle Selbstbestimmung

1

1

Recht auf den rechtlichen Schutz des Privat- und Familienlebens

1

2

Recht auf freie Kommunikation

0

1

Grundsatz der Anfechtbarkeit

0

1

Berufsfreiheit

1

0

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

311

Die angegebenen Daten zeigen, dass die verfassungsrechtlichen Topoi in den Sammlungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung beider Gerichte in unterschiedlichem Ausmaß präsent sind. Diese Topoi kommen grundsätzlich häufiger in der Sammlung der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Sammlung der Rechtsprechung des OG zur Anwendung, was die These erhärtet, dass die Auslegungskultur des BGH in größerem Ausmaß wertbezogen ist. Fasst man die wichtigsten Befunde aus der obigen Tabelle zusammen, so fällt zunächst der bedeutsame Unterschied im Hinblick auf die Anzahl der allgemeinen Verweise auf das GG bzw. die Verfassung auf. Der BGH hat in 16 Entscheidungen auf das Grundgesetz verwiesen, ohne zugleich eine bestimmte Vorschrift zu nennen. Demgegenüber hat das OG nur in 3 Entscheidungen auf die Verfassung in dem genannten Sinne Bezug genommen. Als Überraschung kann das Fehlen der Bezugnahme auf das Bestimmtheitsgebot in der Rechtsprechung des OG betrachtet werden. Angesichts der Bedeutung dieses fundamentalen Grundsatzes auf dem Gebiet des Strafrechts, hätte man erwarten können, dass das OG auf diesen Grundsatz Bezug nehmen wird, wie dies in der Rechtsprechung des BGH der Fall ist (10 Entscheidungen). Relativ selten heben beide Gerichte das Analogieverbot hervor (1 Entscheidung des BGH510, 3 Entscheidungen des OG). Wesentlich öfter geht der BGH im Vergleich zum OG auf den Grundsatz des fairen Verfahrens (9 Entscheidungen des BGH, 2 Entscheidungen des OG), auf den Beschleunigungsgrundsatz (10 Entscheidungen des BGH, 3 Entscheidungen des OG), auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip (13 Entscheidungen des BGH, eine Entscheidung des OG), auf das Vertrauensschutzgebot (7 Entscheidungen des BGH, eine Entscheidung des OG), auf das Rechtsstaatsprinzip (16 Entscheidungen des BGH, 7 Entscheidungen des OG) und auf das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (6 Entscheidungen des BGH, eine Entscheidung des OG) ein. Der Unterschied in der Verwendung der verfassungsrechtlichen Topoi wird noch deutlicher, wenn man die Anzahl der verfassungsrechtlichen Topoi in der jeweiligen Entscheidung berücksichtigt, was die folgende Tabelle zeigt.

510 Dieser Fall wurde schon im Pkt. D. VII. (BGH Fall 5) dargestellt. In drei anderen Fällen (Urteil vom 25.11.2004, 5 StR 411/04, BGHSt 49, 365; Urteil vom 15.12.2005, 3 StR 281/04, BGHSt 50, 319; Beschluss vom 9.5.2006, 1 StR 57/06, BGHSt 51, 34) hat der BGH eine analoge Anwendung der Vorschriften erwogen, aber im Ergebnis die Anwendung einer Analogie verneint, ohne dabei das Analogieverbot als Ablehnungsgrund zu nennen. Als Ablehnungsgründe in diesen Entscheidungen kamen z. B. der Mangel an einer planwidrigen Regelungslücke oder teleologische Erwägungen vor.

312

Teil 2: Empirische Analysen Tabelle 15 Anzahl der verfassungsrechtlichen Topoi in der jeweiligen Entscheidung des BGH bzw. des OG Anzahl der Topoi

Anzahl der Entscheidungen des BGH

Anzahl der Entscheidungen des OG

1

20

14

2

15

9

3

13

5

4

5

3

5

3

1

6

1

0

7

0

2

9

1

0

10

1

0

12

1

0

Hier ergibt sich ein ähnlicher Befund, wie bei den Selbstreferenzen: Grundsätzlich argumentiert das OG mit verfassungsrechtlichen Topoi in seinen Entscheidungen ein-, zwei- bzw. dreimal pro Entscheidung. Demgegenüber lässt sich in der in Betracht gezogenen Stichprobe der Entscheidungen des BGH feststellen, dass der BGH bereit ist, sogar zwölfmal in einer Entscheidung an verfassungsrechtliche Topoi anzuknüpfen. Das sind eher Ausnahmen, aber sie lassen erkennen, in welch erheblichem Umfang der BGH sich mit dem GG in seinen Entscheidungen auseinandersetzt. Im Folgenden soll näher auf die ausgewählten Topoi eingegangen werden. aa) Bestimmtheitsgrundsatz Der Bestimmtheitsgrundsatz gehört zu den fundamentalen strafrechtlichen Grundsätzen, die in beiden Rechtsordnungen anerkannt sind. Da sich beide Staaten als Rechtsstaaten definieren, kann dieser Umstand nicht verwundern. Die Untersuchung kam jedoch zu dem Ergebnis, dass dieser Grundsatz in der Rechtsprechung beider Gerichte eine unterschiedliche Rolle spielt. Während der BGH sich auf diesen Grundsatz in 10 Entscheidungen ausdrücklich berufen hat, sah sich das OG in keiner der in der Untersuchung herangezogenen Entscheidungen dazu genötigt, einen Bezug herzustellen. Dieser Befund muss überraschen, denn das OG befasst sich in vielen der ausgewählten Fälle mit der Auslegung der Straftatbestände des Besonderen Teils des KK und sie boten hinreichend Gelegenheit, an

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

313

diesen Grundsatz anzuknüpfen. Trotzdem machte das OG von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch. Im Folgenden werden die Fälle gezeigt, in denen das Bestimmtheitsgebot in der Rechtsprechung des BGH am deutlichsten zum Ausdruck kommt. BGH Fall 1 Im Urteil vom 11.12.2003511 hat sich der BGH mit der Auslegung des Begriffs der „guten Sitten“ im Kontext des § 228 StGB befasst. Die immanente Unbestimmtheit dieses Begriffes verwehrte es dem BGH, diesen Aspekt zu umgehen. Das Auslegungsergebnis, zu dem der BGH gelangte, lässt jedoch einige Bedenken bestehen bleiben. In Bezug auf diesen Grundsatz hat der BGH ausgeführt: „Der Begriff der guten Sitten ist für sich gesehen allerdings konturenlos. Wird er als strafbegründendes Element in das Strafrecht integriert, gerät er in Konflikt mit dem grundgesetzlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG). Es sind daher verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 228 StGB erhoben worden (vgl. die Nachw. bei Stree in Schönke/Schröder a. a. O. § 228 Rdn. 6). Diese teilt der Senat nicht. Jedoch muss der Begriff der guten Sitten auf seinen Kern beschränkt werden. Nur dann ist dem Gebot der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens genügt. Dies bedeutet, daß ein Verstoß der Körperverletzungstat gegen die guten Sitten nur angenommen werden kann, wenn sie nach allgemein gültigen moralischen Maßstäben, die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt werden können, mit dem endgültigen Makel der Sittenwidrigkeit behaftet ist (Stree in Schönke/Schröder a. a. O.). In diesem Sinne ist eine Körperverletzung trotz Einwilligung des Geschädigten nach der allgemein gebrauchten Umschreibung dann sittenwidrig, wenn sie gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt (vgl. BGHSt 4, 24, 32; 4, 88, 91; Hirsch in LK 11. Aufl. § 228 Rdn. 6 m.w. N.).“ 512

Aus dem Zitat geht hervor, dass der BGH bereit ist zu akzeptieren, dass der Begriff der „guten Sitten“ „konturenlos“ ist. Trotz dieser Feststellung, die eigentlich zur Unvereinbarkeit dieses Begriffs mit dem Bestimmtheitsgebot führen sollte, versucht der BGH den Begriff der „guten Sitten“ durch die Aufstellung zusätzlicher Voraussetzungen zu „retten“. Diese zusätzlichen Prämissen erweisen sich jedoch bei näherer Betrachtung als höchst problematisch. Man kann sich fragen, wie sich „allgemein gültige moralische Maßstäbe“ in der gegenwärtigen multikulturellen deutschen Gesellschaft bestimmen lassen. Zudem stellt sich die Frage, wer diese Maßstäbe bestimmen soll. Noch umstrittener ist die Bedingung des „Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden“. Wie lassen sich die Anschauungen aller billig und gerecht Denkenden ermitteln? Es scheint, dass der BGH in diesem Fall versucht, einen unbestimmten Begriff durch andere unbestimmte Begriffe zu ersetzen, was nur noch weitere Probleme mit sich bringt.

511 512

3 StR 120/03, BGHSt 49, 34. Ebenda, S. 41.

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Teil 2: Empirische Analysen

BGH Fall 2 Eine entscheidende Rolle spielt der Bestimmtheitsgrundsatz im Urteil vom 27.4.2005513, in dem der BGH entgegen der oberverwaltungsrechtlichen Rechtsprechung und der ausländerrechtlichen Kommentarliteratur bei der Auslegung des § 58 Abs. 1 Pkt. 1 AuslG514 ausschließlich auf formelle (und nicht auf materielle) Gesichtspunkte abgestellt hat. Nach der Auffassung des BGH scheiden eine unerlaubte Einreise oder ein unerlaubter Aufenthalt bereits dann aus, wenn irgendeine Aufenthaltsgenehmigung erteilt wurde, unabhängig von ihrer materiell-rechtlichen Richtigkeit. Im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz führt der BGH aus: „e) Ausschlaggebend für die strafrechtliche Beurteilung der Einreise und des Aufenthalts von Ausländern nach objektiven Kriterien ist jedoch das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, dem bei der Auslegung von Straftatbeständen Rechnung getragen werden muß. Tatbestände, die für ein unerlaubtes und deshalb strafbares Handeln oder Unterlassen das Fehlen einer verwaltungsrechtlichen Erlaubnis vorsehen, bedürfen eines eindeutigen Auslegungsmaßstabs in Bezug auf ihre verwaltungsrechtlichen Vorgaben. Würden – verborgene – materiell-rechtliche Mängel, etwa infolge von Täuschung oder sonstiger mißbräuchlicher Verhaltensweisen des Erlaubnisadressaten, zum Abgrenzungskriterium des strafbaren und nicht strafbaren Verhaltens gemacht, so wären deren Voraussetzungen und Grenzen im allgemeinen ungewiß, weil im Einzelfall von zufällig nachweisbaren und nicht nachweisbaren Tatumständen abhängig. Deshalb muss eine nach verwaltungsrechtlichen Vorschriften wirksam erteilte Aufenthaltsgenehmigung im Strafrecht grundsätzlich Tatbestandswirkung entfalten, auch wenn sie rechtsmißbräuchlich erlangt wurde.“ 515

Es lassen sich entscheidende Argumente in der Rechtsprechung des BGH nur sehr selten feststellen. In diesem Fall weist das Wort „ausschlaggebend“ gleichwohl deutlich darauf hin, welches Argument für den BGH entscheidend war. Bemerkenswert ist an dieser Stelle noch die Argumentation des BGH, die die Folgen einer abweichenden Auffassung berücksichtigt. In diesem Zitat hat der BGH die Folgen im Kontext des Bestimmtheitsgrundsatzes erörtert. Die Berücksichtigung von Folgen gehört offenbar nicht zu den Ausnahmen in der Rechtsprechung des BGH (auch des OG). Diese Problematik wird noch ausführlicher im Pkt. d) cc) behandelt. BGH Fall 3 Bei der Auslegung des Begriffes „Handeltreiben“ im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG hat der Große Senat für Strafsachen eine restriktive Ausle513

2 StR 457/04, BGHSt 50, 106. § 58 Abs. 1 Pkt. 1 AuslG lautet: „(1) Die Einreise eines Ausländers in das Bundesgebiet ist unerlaubt, wenn er 1. eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung nicht besitzt, (. . .)“ 515 BGHSt 50, 114 f. 514

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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gung des Begriffes abgelehnt und angenommen, dass es für die Annahme des vollendeten Handeltreibens ausreicht, dass der Täter bei einem beabsichtigten Ankauf von zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmten Betäubungsmitteln in ernsthafte Verhandlungen mit dem potentiellen Verkäufer eintritt (Beschluss vom 26.10.2005516). In Bezug auf die Rechtsprechung des BVerfG argumentiert der Große Senat für Strafsachen, dass das Verfassungsrecht, namentlich der Bestimmtheitsgrundsatz, es nicht gebiete, eine restriktive Auslegung vorzunehmen.517 Die Bezugnahme auf den Bestimmtheitsgrundsatz in den anderen Fällen weist darauf hin, dass der BGH sich gegen den Vorwurf schützen wollte, dass das Auslegungsergebnis den Bestimmtheitsgrundsatz verletzen würde. BGH Fall 4 Ebenso geht der BGH im Beschluss vom 3.2.2004518 vor, in dem er prüft, ob § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG519 mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar ist. „a) Die Vorschrift verstößt nicht gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot. Der Generalbundesanwalt hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die von dem Beschwerdeführer beanstandete Maßnahme nicht im Strafprozeß, sondern im Verwaltungsverfahren verhängt wurde, für das die besondere Ausprägung des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu beachten ist (vgl. Kunig in von Münch/Kunig, GGK III 5. Aufl. Art. 103 Rdn. 20; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG Art. 103 Rdn. 244). Dem allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG trägt der vom Sonderausschuß für die Strafrechtsreform als Kompromiß erarbeitete § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ausreichend Rechnung (vgl. BT-Drucks. 7/ 3998, S. 7; Kaiser/Schöch a. a. O. § 5 Rdn. 49; BVerfGE 33, 1, 11).“ 520

In diesem Fall taucht wieder die Rechtsprechung des BVerfG auf. Sie soll alle Zweifeln ausräumen, dass § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG den Bestimmtheitsgrundsatz verletzt. Es ist auch nicht zu übersehen, dass der BGH in dem behandelten Fall die besondere Rolle des Bestimmtheitsgebotes auf dem Gebiet des Strafprozessrechts im Vergleich zum Verwaltungsverfahrensrecht betont. BGH Fall 5 Auch bei der Auslegung des Begriffes „zur Befriedigung des Geschlechtstriebes“ im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB hat der BGH nach der Feststellung einer 516

GSSt 1/05, BGHSt 50, 252. Ebenda, S. 264. 518 5 Ars (Vollz) 78/03, BGHSt 49, 61. 519 § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG lautet: „Soweit das Gesetz eine besondere Regelung nicht enthält, dürfen ihm nur Beschränkungen auferlegt werden, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerläßlich sind.“ 520 BGHSt 49, 66. 517

316

Teil 2: Empirische Analysen

Definition, die sich in einem erheblichen Umfang auf seine bisherige Rechtsprechung stützt, ausgeführt: „Durch diese Definition ist dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) hinreichend Rechnung getragen.“ 521

BGH Fall 6 Ähnlich verfährt der BGH bei der Auslegung des § 56 Abs. 1 BRAO und stellt im Urteil vom 26.9.2005522 fest: „Eine solche Auslegung trägt zudem dem verfassungsrechtlichen Gebot der Bestimmtheit und Klarheit von Gebotsnormen Rechnung.“ 523

Diese autoritativen Äußerungen des BGH, die keine nähere Konkretisierung des Bestimmtheitsgrundsatzes enthalten, sollen auch zum Ausdruck bringen, dass der BGH diesen Grundsatz in seinen Begründungen nicht übersehen hat. bb) Rechtsstaatsprinzip Dass das Rechtsstaatsprinzip in 16 Entscheidungen des BGH erwähnt wurde, kann nicht überraschen, wenn man die Verankerung dieses Prinzips in der deutschen Rechtskultur berücksichtigt. Erstaunlicherweise ist dieses Prinzip im GG bis heute nicht ausdrücklich formuliert. Es wird aus dem Inhalt des Art. 20 GG, aus einer Zusammenschau der Verfassungsbestimmungen der Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4 und 28 Abs. 1 sowie aus der Gesamtkonzeption des GG rekonstruiert.524 Dieser Umstand ist jedoch zweitrangig, da die Kodifizierung bzw. die Nichtkodifizierung eines Prinzips in einer Rechtskultur über seine Bedeutung in der Rechtsanwendung nichts aussagt. Von einer besonderen Rolle des Rechtsstaatsprinzips in der deutschen Rechtskultur zeugt zudem die Rechtsprechung des BVerfG, das das Rechtsstaatsprinzip als elementaren Verfassungsgrundsatz, als fundamentales Organisationsprinzip und eine der fünf Staatszielbestimmungen betrachtet.525 Im Lichte der vorliegenden Untersuchung scheint das Rechtsstaatsprinzip auch in der polnischen Rechtskultur an Bedeutung zu gewinnen. Obwohl es in der polnischen Rechtsordnung im Vergleich zu der Rechtsentwicklung in Deutschland eine wesentlich kürzere Geschichte hat,526 hat es schon einen festen Platz in der strafrechtlichen Rechtsprechung des OG. Es hat in 7 Entscheidungen des OG 521

Urteil vom 22.4.2005, 2 StR 310/04, BGHSt 50, 80, 87. AnwSt (R) 9/04, BGHSt 50, 231. 523 Ebenda, S. 233. 524 A. Katz, Staatsrecht, 18. Auflage, 2010, Rn. 162. 525 Urteil vom 1.7.1953, 1 BvL 23/51, BVerfGE 2, 380, 403. 526 Die Etablierung dieses Prinzips wurde erst nach dem politischen Umbruch Ende der achtziger Jahre möglich. 522

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ausdrücklich Erwähnung gefunden. Die Kontexte, in denen sich die Gerichte auf dieses Prinzip beziehen, sind offenkundig unterschiedlich, aber dieser Unterschied kann auch wegen der Auswahl der Entscheidungen in den amtlichen Sammlungen aufgetreten sein. Es lassen sich jedoch gewisse Regelmäßigkeiten feststellen. Grundsätzlich verwendet der BGH das Rechtsstaatsprinzip in den Argumentationsketten als Grundlage (Quelle) für andere Prinzipien, die für die jeweilige Entscheidung von Bedeutung sind. BGH Fall 1 So leitet z. B. der BGH im Beschluss vom 22.2.2005527 das Rückwirkungsverbot aus dem Rechtsstaatsprinzip ab: „Die Verlängerung der Verjährungsfrist verstößt nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Rückwirkungsverbot.“ 528

BGH Fall 2 Im Urteil vom 11.5.2005529 wird das Rechtsstaatsprinzip als Grundlage des Vertrauensschutzgebotes betrachtet: „Entgegen der Auffassung der Revision ist weder ein Verstoß gegen das absolute Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG noch das aus Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot gegeben, weil die rein präventive Maßnahme der Sicherungsverwahrung nicht vom Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG umfasst wird (BVerfGE 109, 133, 167 ff.) (. . .).“ 530

BGH Fall 3 Im Beschluss vom 3.2.2004531 wird das Rechtsstaatsprinzip dagegen mit dem Bestimmtheitsgebot assoziiert: „a) Die Vorschrift verstößt nicht gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot.“ 532

BGH Fall 4 Das Rechtsstaatsprinzip wird auch als Grundlage für die Rechtssicherheit betrachtet. Im Beschluss vom 6.8.2004533 führt der BGH aus: 527 528 529 530 531 532 533

KRB 28/04, BGHSt 50, 30. Ebenda, S. 39. 1 StR 37/05, BGHSt 50, 121. Ebenda, S. 130. 5 Ars (Vollz) 78/03, BGHSt 49, 61. Ebenda, S. 66. 2 StR 523/03, BGHSt 49, 230.

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Teil 2: Empirische Analysen

„Die Rechtssicherheit ist ein wesentliches Element des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsgebots (. . .) und ist, auch wo sie durch gerichtliche Verfahren herbeigeführt werden soll, binnen angemessener Frist zu verwirklichen (BVerfGE 60, 253, 269).“ 534

BGH Fall 5 Das Rechtsstaatsprinzip wird auch im Urteil vom 14.12.2006535 im Hinblick auf die Fristbestimmung des § 66a StGB und damit die Rechtssicherheit erwähnt: „Damit trägt die Vorschrift dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung, das es unter anderem verbietet, den von einem staatlichen Eingriff in die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG) Betroffenen über das Ausmaß dieses Eingriffs im Unklaren zu lassen, wenn und sobald nach den jeweiligen gesetzlichen Grundlagen das zulässige Ausmaß des Eingriffs einer abschließenden Beurteilung zugänglich ist (BVerfGE 86, 288, 327).“ 536

BGH Fall 6 Im Urteil vom 25.11.2005537 wird dagegen im Kontext des Rechtsstaatsprinzips die „Verlässlichkeit der Rechtsordnung“ betont: „Das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an die Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Die Verläßlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Der Staatsbürger muß die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe grundsätzlich voraussehen und sich dementsprechend einrichten (BVerwGE 109, 133, 180).“ 538

BGH Fall 7 Im Urteil vom 4.3.2004539 wird das faire Verfahren auf dem rechtsstaatlichen Hintergrund definiert: „Anderenfalls ist seine Beweiswürdigung lückenhaft und der Anspruch des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 20 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 MRK) verletzt.“ 540

BGH Fall 8 Im Beschluss vom 17.6.2004541 stellt dagegen der BGH den Zusammenhang zwischen dem Rechtsstaat und der Menschenwürde („Vermeidung der Gefahr, den Angeklagten zum bloßen Objekt des Verfahrens zu machen“) fest. 534 535 536 537 538 539 540

Ebenda, S. 239. 3 StR 269/06, BGHSt 51, 159. Ebenda, S. 161. 2 StR 272/05, BGHSt 50, 285. Ebenda, S. 290. 3 StR 218/03, BGHSt 49, 112. Ebenda, S. 118.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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„Eine Abwägung der widerstreitenden, jeweils rechtsstaatlich verankerten Belange – Wahrheitsermittlung auf der einen, Vermeidung der Gefahr, den Angeklagten zum bloßen Objekt des Verfahrens zu machen, auf der anderen Seite – gebietet unter den gegebenen Voraussetzungen, von der Anordnung einer Verfahrensfortsetzung abzusehen.“ 542

In diesem Zitat lässt sich zudem eine Abwägung feststellen, die für das wertorientierte Denken des BGH charakteristisch ist. Aus diesen Äußerungen des BGH geht hervor, dass das Rückwirkungsverbot, das Vertrauensschutzgebot, das Bestimmtheitsgebot, die Rechtssicherheit, die Verlässlichkeit der Rechtsordnung, ein faires Strafverfahren sowie der Grundsatz der Menschenwürde für den Rechtsstaat immanent sind. Ohne diese Werte lässt sich der Rechtsstaat nach der Auffassung des BGH nicht verwirklichen. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet im Lichte der Rechtsprechung des BGH auch zu einer möglichst kurzen Dauer des Verfahrens. In einer Reihe von Entscheidungen spricht der BGH von „rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen“, was – streng genommen – bedeutet, dass erhebliche Verfahrensverzögerungen mit der Idee des Rechtsstaates unvereinbar sind. BGH Fall 9 Ebenso im Beschluss vom 6.6.2004543, in dem der BGH ausführt: „Zwar liegt keine prozeßordnungswidrige, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vor, wenn im Rahmen des Revisionsverfahrens ein zeitaufwendiges Anfrageund Vorlageverfahren nach § 132 GVG durchgeführt werden muß (. . .).“ 544

BGH Fall 10 und Fall 11 Der Begriff der „rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung“ kommt auch im Beschluss vom 11.11.2004545 dreimal zum Ausdruck und noch einmal im Beschluss vom 2.12.2004546, was davon zeugt, dass dieser Begriff einen festen Platz in der Argumentationspraxis des BGH hat. BGH Fall 12 Über den Zusammenhang zwischen dem Beschleunigungsgebot und dem Rechtsstaatsprinzip ist auch im Beschluss vom 7.3.2006547 die Rede:

541 542 543 544 545 546 547

5 StR 115/03, BGHSt 49, 189. Ebenda, S. 200. 4 StR 85/03, BGHSt 49, 209. Ebenda, S. 213. 5 StR 376/03, BGHSt 49, 342. 3 StR 273/04, BGHSt 49, 371. 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1.

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Teil 2: Empirische Analysen

„Die Überprüfung von Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen ist auch mit Blick auf das Beschleunigungsgebot vielmehr auf diejenige Maßnahme zu beschränken, der die verwerteten Erkenntnisse entstammen. Dies kann dazu beitragen, ein den Angeklagten erheblich belastendes, mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehendes überlanges Verfahren zu vermeiden.“ 548

Eine besondere Gruppe von Entscheidungen bilden diejenigen Beschlüsse und Urteile, in denen sich der BGH mit den Urteilsabsprachen befasst. In diesen Entscheidungen wird das Rechtsstaatsprinzip in unterschiedlichen Konstellationen verwendet. BGH Fall 13 Im Urteil vom 19.2.2004549 räumt der BGH in Bezug auf die Rechtsprechung des BVerfG, die sich ihrerseits auf das Rechtsstaatsprinzip bezieht, verfassungsrechtliche Bedenken mit der folgenden Äußerung aus: „Absprachen im deutschen Strafverfahren sind allerdings nicht generell unzulässig. Aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben sich keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten über Stand und Aussichten der Verhandlung (BVerfG NJW 1987, 2662).“ 550

BGH Fall 14 Eine besondere Rolle spielt das Rechtsstaatsprinzip in dem grundlegenden Beschluss des Großen Senats für Strafsachen zur Urteilsabsprache (Beschluss vom 3.3.2005551), in dem der Senat dieses Prinzip in einer Reihe von Äußerungen in die Argumentationskette einbezogen hat: „b) Mit der Entscheidung BGHSt 43, 195 hat der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes schließlich die Verständigung im Strafverfahren insgesamt unter den Aspekten Rechtsstaatlichkeit, der Idee der Gerechtigkeit sowie der Notwendigkeit einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege beurteilt.“ 552 „Der Angeklagte hat einen Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG).“ 553 „Die Strafe muß schuldangemessen sein. Der Grundsatz der Schuldangemessenheit des Strafens hat Verfassungsrang. Er folgt aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip. § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB ist Ausdruck dieses Prinzips (BVerfGE 86, 288, 313; 95, 96, 140).“ 554

548 549 550 551 552 553 554

Ebenda, S. 9. 4 StR 371/03, BGHSt 49, 84. Ebenda, S. 87 f. GSSt 1/04, BGHSt 50, 40. Ebenda, S. 47. Ebenda, S. 48. Ebenda, S. 49.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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„Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und nicht zuletzt das Gebot der Gleichbehandlung aller in Strafverfahren Beschuldigten geben es den zuständigen staatlichen Stellen und insbesondere den Organen der Strafrechtspflege auf, dafür Sorge zu tragen, daß der staatliche Strafanspruch insgesamt – mit Blick auf alle einzuleitenden Strafverfahren – so gut wie möglich durchgesetzt werden kann. Auf seine Durchsetzung darf weder nach Belieben noch aus vermeidbaren Gründen generell, partiell oder im Einzelfall verzichtet werden. Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfG – Kammer – NJW 1987, 2662).“ 555 „Das gilt zumal unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes, der ein Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist, und des Grundsatzes der Prozeßökonomie.“ 556 „Nach der Auffassung des Gesetzgebers ist Aufgabe eines sozialen Rechtsstaates nicht nur, darauf zu achten, daß die Straftat aufgeklärt und Schuld oder Unschuld des Beschuldigten in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt, sondern auch, daß Belange des Opfers gewahrt werden (so die Begründung der Bundesregierung im Entwurf zum Opferrechtsreformgesetz vom 24. Juni 2004, BGBl. I 1354, BT-Drucks 15/2536).“ 557

In den genannten Zitaten wird wiederholt der Zusammenhang zwischen dem Rechtsstaatsprinzip und einem fairen Verfahren einerseits sowie dem Beschleunigungsgebot andererseits betont. Neu ist in diesen Passagen die Hervorhebung der Schuldangemessenheit des Strafens als Bestandteil des Rechtsstaates und die Feststellung, dass der Rechtsstaat sich nur dann verwirklichen kann, „wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfG – Kammer – NJW 1987, 2662).“ Außerdem werden dem Begriff des Rechtsstaates soziale Bezüge verliehen. In derselben Entscheidung hat der BGH im Hinblick auf die Zulassung der Möglichkeit, einen Rechtsmittelverzicht im Rahmen einer Urteilsabsprache zu vereinbaren, ausgeführt: „Zudem können hieraus nachhaltige Gefahren nicht nur für die Rechtskultur, sondern darüber hinaus für eine effektive Wahrung unverzichtbarer Anliegen eines rechtsstaatlich geführten Strafverfahrens erwachsen.“ 558

Schließlich sind die folgenden beiden Äußerungen des BGH zu berücksichtigen, in denen das Rechtsstaatsprinzip herangezogen wird.

555 556 557 558

Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S.

53. 54. 55. 56.

322

Teil 2: Empirische Analysen

BGH Fall 15 Im Urteil vom 26.11.2003559 stellt der BGH fest: „Die rechtsstaatlich unbedenkliche Anordnung von Untersuchungshaft aufgrund dringenden Tatverdachts ist auch dann keine Willkürmaßnahme, wenn sich in dem – durch die Untersuchungshaft gesicherten – Ermittlungsverfahren die Unschuld des Beschuldigten erweist (. . .).“ 560

BGH Fall 16 In Hinblick auf die Fernwirkung des Verwertungsverbots hat der BGH im Beschluss vom 7.3.2006561 ausgeführt: „Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt das unabweisbare Bedürfnis einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung hervorgehoben, das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont und die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten als einen wesentlichen Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens bezeichnet (BVerfGE 77, 65, 76; 80, 367, 375; BVerfG Kammer NStZ 1996, 459.“ 562

Auch in der Rechtsprechung des OG wird das Rechtsstaatsprinzip als Grundlage anderer Prinzipien betrachtet. OG Fall 1 Im Beschluss (Postanowienie) vom 7.2.2007563 werden der freie Informationsaustausch und die Pressefreiheit als Grundlagen des Rechtsstaates definiert. „Es ist zu betonen, dass der freie Informationsaustausch und die Pressefreiheit die Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates bilden, der Polen auf der Grundlage des Art. 2 der Verfassung ist.“ 564

OG Fall 2 Im Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007565 betont das OG dagegen in Bezug auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts die Bedeutung des Rechts auf Verteidigung im Rechtsstaat: „Auch das Verfassungsgericht versteht das Recht auf Verteidigung in einem weiteren Sinne: ,Es ist nicht nur ein fundamentales Strafverfahrensprinzip, sondern ein grundlegender Standard des demokratischen Rechtsstaates‘ (Urteil vom 17. Februar 2004, SK 39/02, OTK-A 2004, Heft 2, Pos. 7).“ 566 559 560 561 562 563 564 565

2 StR 291/03, BGH 49, 25. Ebenda, S. 27. 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1. Ebenda, S. 8. III KK 236/06, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 45. Ebenda, S. 47. I KZP 26/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 22.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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In den folgenden Entscheidungen, in denen sich das OG mit rückwirkenden Strafgesetzen auseinandergesetzt hat, wird der Zusammenhang zwischen dem Rechtsstaat und dem Grundsatz lex retro non agit hervorgehoben. OG Fall 3 In der Anordnung vom 26.7.2007567 zitiert das OG seine Rechtsprechung aus dem Anfang der 90er Jahre (Urteil des OG vom 20.9.1991, OSNKW 1992, Nr. 2–3, Pos. 3): „Gegenwärtig, wenn Art. 1 der Verfassung Polen als Rechtsstaat definiert, steht die Geltung des Grundsatzes lex retro non agit außer Zweifel.“ 568

OG Fall 4 Im Beschluss (Uchwała) vom 20.12.2007569 stellte das OG fest, dass Polen in den achtziger Jahren kein Rechtsstaat war und die Verfassung in der damals geltenden Fassung den Grundsatz lex retro non agit ausdrücklich nicht regelte, so dass der Erlass von rückwirkenden Strafgesetzen nicht rechtswidrig war. Ähnlich verfährt das OG im Beschluss (Uchwała) vom 14.11.2007570. Das OG bezieht sich auf das Rechtsstaatsprinzip auch im Kontext der Auslegungsmethodik, wie Fall 5 zeigt. OG Fall 5 Im Beschluss (Postanowienie) vom 26.4.2007571 stellt es fest: „Der Verfassungsgerichtshof nimmt an, dass eine Auslegung, die die Grundsätze des Europarechts verletzt, zugleich mit der Klausel des Rechtsstaates des Art. 2 der Verfassung unvereinbar ist.“ 572

OG Fall 6 Dem Beschluss (Uchwała) vom 20.12.2007573 lässt sich folgende Äußerung des OG entnehmen: „Im Rechtsstaat darf man von einem eindeutigen Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode nicht abweichen. Nur ausnahmsweise darf die Grenze dieser Auslegungsmethode überschritten werden, wenn dafür wichtige axiologische Gründe spre566 567 568 569 570 571 572 573

Ebenda, S. 27. SND 1/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 61. Ebenda, S. 64. I KZP 37/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 3. BSA-4110-5/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 1. I KZP 6/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 1. Ebenda, S. 23. I KZP 35/07, OSNKW 2008, Nr. 1, S. 1.

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Teil 2: Empirische Analysen

chen, die in der Verfassung verwurzelt sind, und das Ergebnis der Auslegungsmethode mit diesen Gründen im Widerspruch steht.“ 574

Letztendlich ist das OG von dem eindeutigen Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode nicht abgewichen. In diesem Zitat ist jedoch bemerkenswert, dass das OG den Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode mit dem Rechtsstaatsprinzip verknüpft. Diese Äußerung macht wieder deutlich, welche Rolle das OG der sprachlichen Auslegungsmethode zumisst. Nicht ohne Bedeutung in dem vorliegenden Zusammenhang ist zudem der Umstand, dass diese Entscheidung auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts gefallen ist. Im Vordergrund stand die Frage, auf welchen Rechtsgrundlagen (KKW oder KPK) das Berufungsgericht verfahren sollte, wenn eine Beschwerde gegen die Entscheidung des Gerichts der ersten Instanz eingelegt wurde, das im Ermittlungsverfahren abgelehnt hat, einem Vollstreckungstitel (Beschluss des Staatsanwalts) eine Vollstreckungsklausel zu verleihen. Zusammenfassend lässt sich auf der Grundlage der zitierten Äußerungen beider Gerichte feststellen, dass sowohl der BGH als auch das OG das Rechtsstaatsprinzip als Grundlage anderer Prinzipien betrachten und durch diese Vorgehensweise den Grundsatz konkretisieren. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass das OG im Gegensatz zu dem BGH in den analysierten Entscheidungen das Beschleunigungsgebot nicht mit dem Rechtsstaat assoziiert. Darauf wird noch im Folgenden näher einzugehen sein. cc) Beschleunigungsgrundsatz Schon in den vorangehenden Teilen der Arbeit wurde gezeigt, dass der Beschleunigungsgrundsatz in der Rechtsprechung des BGH eine wichtige Rolle spielt. Bei der Auslegung des § 453 Abs. 1a StPO575 war der BGH sogar bereit, von dem eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift abzuweichen, um den Beschleunigungsgrundsatz in möglichst großem Umfang verwirklichen zu können [Pkt. V. 1. a) bb)]. Im Folgenden werden weitere Beispiele die Bedeutung dieses Prinzips in der Rechtsprechung des BGH zeigen, wobei schon die quantitative Untersuchung ergab, dass zwischen beiden Gerichten in dieser Hinsicht ein Unterschied vorliegt: Während dieser Topos in 10 Entscheidungen des BGH festgestellt wurde, wurden in der Sammlung der Rechtsprechung des OG nur 3 Entscheidungen ermittelt, die einen Bezug zu diesem Topos aufweisen. Bei der Interpretation dieses Befundes darf nicht übersehen werden, dass dieser Grundsatz in der deutschen StPO – im Gegensatz zum polnischen KPK (Art. 2 Abs. 1 Nr. 4576) – nicht 574

Ebenda, S. 13. Urteil vom 22.4.2005, 3 StR 273/04, BGHSt 49, 371. 576 Art. 2 Abs. 1 Pkt. 4 des KPK lautet: „§ 1. Die Vorschriften dieses Gesetzbuches haben das Strafverfahren so zu gestalten, daß (. . .) 575

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ausdrücklich genannt wird. Dass der BGH in so weitem Umfang diesen Topos berücksichtigt, kann allerdings im Lichte seiner bisherigen Rechtsprechung nicht überraschen, denn der BGH entwickelt seit mehreren Jahren Grundsätze, die bestimmte Konsequenzen für eine überlange Dauer des Verfahrens vorsehen.577 In dieser Rechtsprechung knüpft der BGH an den Beschleunigungsgrundsatz an. Insgesamt fünf unterschiedliche Lösungen wurden teils alternativ, teils kumulativ in der Rechtsprechung entwickelt: Die einfache und die qualifizierte Strafzumessungslösung, die Verfahrenshindernis-Lösung, die § 153 StPO-Einstellungslösung und zuletzt die Vollstreckungslösung.578 Diese Lösungen können in der vorliegenden Untersuchung nicht näher dargestellt werden, aber sie müssen jedenfalls als Rechtsfortbildung angesehen werden, weil sie keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage haben. Der BGH zeigt somit in dieser Hinsicht eine aktive Haltung. Vor dem Hintergrund der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH muss festgestellt werden, dass in der gesamten Rechtsprechung des OG (es geht dabei nicht nur um die Rechtsprechung, die in der vorliegenden Untersuchung ausführlich behandelt wird) eine ähnliche Vorgehensweise nicht festgestellt werden kann. Zwar ist dieser Topos in der Rechtsprechung des OG vorhanden, was auch die oben angeführten Untersuchungsergebnisse bestätigen, jedoch hat das OG keine ähnlichen Grundsätze einer Entschädigung wie der BGH in seiner Rechtsprechung herausgearbeitet. Er verhält sich im Vergleich zum BGH in diesem Bereich äußerst passiv, was nicht unbedingt negativ bewertet werden muss. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass das Problem der überlangen Dauer des Verfahrens in Polen erst vom Gesetzgeber in Angriff genommen werden musste, indem er ein gesondertes Gesetz über die Beschwerde wegen ungerechtfertigter Verfahrensverzögerung579 erließ, das eine Geldentschädigung für den Fall des überlangen Strafverfahrens vorsieht.580 Man kann somit feststellen, dass das Problem der 4) die Entscheidung der Sache innerhalb einer vernünftigen Frist erfolgt.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 577 Zu der Rechtsentwicklung in der Rechtsprechung des BGH siehe: U. Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, 1991, S. 23 ff. 578 C. Roxin/B. Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Auflage, 2014, § 16 Rn. 8. Kritik an der neueren Rechtsprechung siehe bei U. Scheffler, Systemwechsel ohne System, ZIS 6/2008, S. 269 ff. 579 Ustawa z dnia 17 czerwca 2004 r. o skardze na naruszenie prawa strony do rozpoznania sprawy w poste˛powaniu przygotowawczym prowadzonym lub nadzorowanym przez prokuratora i poste˛powaniu sa˛dowym bez nieuzasadnionej zwłoki, Dz. U. 2004 Nr. 179, Pos. 1843. 580 In Deutschland wurde ein Entschädigungsanspruch für überlange Gerichtsverfahren durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl. I S. 2302) eingeführt. Anders als in Polen wurde der Anspruch nicht in einem separaten Gesetz geregelt – der Gesetzgeber hat mit der Novelle neue Vorschriften im Gerichtsverfassungsgesetz (§§ 198 bis 201) und einigen anderen Gesetzen angefügt.

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Teil 2: Empirische Analysen

überlangen Dauer des Strafverfahrens in beiden Rechtssystemen abweichend gelöst wurde und die beiden höchsten Gerichte an diesem Prozess in unterschiedlichem Umfang beteiligt waren. Im Folgenden seien die ausgewählten Fälle aus der Rechtsprechung des BGH und des OG kurz vorgestellt werden, in denen der Beschleunigungsgrundsatz erwähnt wird. BGH Fall 1 Zunächst ist das Urteil des BGH vom 6.7.2004581 zu erwähnen, in dem der 4. Senat des BGH wegen des Beschleunigungsgrundsatzes sogar ein der StPO unbekanntes Rechtsinstitut begründet hat. Dieser Fall kann als ein klassisches Beispiel der Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden, in dem der BGH ausnahmsweise eine Teilentscheidung zugelassen hat, obwohl die StPO – was der 4. Senat des BGH selbst ausdrücklich betont – keine Teil- oder Zwischenurteile vorsieht. Die Entscheidung wurde unter folgenden Umständen getroffen. Der 4. Senat hatte in dem behandelten Fall keine Bedenken gegen Schuldspruch und Strafausspruch; demgegenüber war für ihn die Maßregelanordnung problematisch. Um jedoch die Entscheidung bezüglich der Maßregelanordnung aufzuheben, musste er bei den anderen Strafsenaten des BGH gemäß § 132 GVG anfragen, ob sie an ihrer entgegenstehenden Rechtsprechung festhalten wollen. Da der 1. Strafsenat seine entgegenstehende Rechtsprechung nicht aufgeben wollte, musste eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen herbeigeführt werden. Unter diesen Umständen entschied sich der 4. Senat für eine Teilentscheidung, indem er eine Entscheidung über Schuldspruch und Strafausspruch traf und die Entscheidung über die Maßregelanordnung offen ließ. Aus der Begründung geht eindeutig hervor, dass die Verfahrensdauer für den BGH entscheidend war. Argumentativ stützte sich der 4. Senat auf die Entscheidung des 5. Senats, der schon eine „vertikale“, d. h. sich auf selbstständige Taten eines vollumfänglich angefochtenen einheitlichen Urteils beziehende, Teilentscheidung im Revisionsverfahren für zulässig erachtet hatte. Der 5. Senat wollte damit auch eine erhebliche, unvorhersehbar lange Verzögerung bei Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag) für den entscheidungsreifen Teil des angefochtenen Urteils vermeiden (Beschluss vom 5.4.2000, 5 StR 226/99, wistra 6/2000, 219, 226 f.). Die vom 5. Strafsenat genannten Gründe lassen nach Auffassung des 4. Senats auch eine „horizontale“, d. h. denselben Prozessgegenstand betreffende, Teilentscheidung des Revisionsgerichts zu. Diese sei jedoch nur

581

4 StR 85/03, BGHSt 49, 209.

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dann zulässig, wenn „schwerwiegende Interessen des Revisionsführers ein Abweichen von der gesetzlichen Regel gebieten“. Nach der Auffassung des 4. Senats kann die verursachte Verzögerung in diesem Verfahren für den Angeklagten, der sich in Haft befindet, erhebliche Nachteile mit sich bringen, insbesondere bei der Frage von Vollzugserleichterungen (§§ 10 ff. StVollzG) oder der Strafaussetzung (§ 57 StGB). Unter diesen Umständen entschied der 4. Senat vorab über den Schuldspruch und den Strafausspruch, ohne eine Entscheidung über die Maßregelanordnung zu treffen. BGH Fall 2 In einem anderen Verfahren (Beschluss vom 11.11.2004582) hat der 5. Strafsenat des BGH in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK den gesamten Strafausspruch aufgehoben, weil das Landgericht sich in den Urteilsgründen nicht damit auseinandergesetzt hatte, ob in dem behandelten Fall eine Verfahrensverzögerung gegeben war. Diese Entscheidung des BGH würde sicherlich nicht verwundern, wenn in der Revision eine Verfahrensrüge im Hinblick auf die Verfahrensverzögerung erhoben worden wäre, was andere Strafsenate des BGH in dieser Hinsicht grundsätzlich fordern. Dies war jedoch in dem behandelten Beschluss nicht der Fall, weil nur eine Sachrüge des Angeklagten vorlag. Trotzdem ließ der 5. Strafsenat des BGH die Revision auf die Sachrüge hin zu: „Ein Revisionsführer, der das Vorliegen einer Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzenden Verfahrensverzögerung geltend machen will, muss grundsätzlich eine Verfahrensrüge erheben. Ergeben sich indes bereits aus den Urteilsgründen die Voraussetzungen einer solchen Verzögerung, hat das Revisionsgericht auf Sachrüge einzugreifen. Das gilt auch, wenn sich bei der auf Sachrüge veranlassten Prüfung, namentlich anhand der Urteilsgründe, ausreichende Anhaltspunkte ergeben, die das Tatgericht zur Prüfung einer solchen Verfahrensverzögerung drängen mussten, so dass ein sachlichrechtlich zu beanstandender Erörterungsmangel vorliegt.“ 583

Diese Entscheidung weist deutlich darauf hin, welchen Wert der BGH dem zügigen Verlauf des Strafverfahrens, d. h. dem Beschleunigungsgrundsatz, zumisst. Der Beschluss des BGH verpflichtet die Gerichte zur Prüfung der Verfahrensdauer und im Falle der Feststellung der Verfahrensverzögerung zur Erörterung der Ursachen, sonst kann das Urteil aufgehoben werden. Im Falle der Feststellung der Verzögerung soll diese in der Rechtsfolgenentscheidung berücksichtigt werden. Dieser Beschluss wird die Gerichte zudem künftig mittelbar dazu veranlassen, das Verfahren möglichst schnell abzuschließen, um dem Vorwurf des Erörterungsmangels im Hinblick auf die überlange Dauer des Verfahrens zu entgehen.

582 583

5 StR 376/03, BGHSt 49, 342. Ebenda.

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Teil 2: Empirische Analysen

BGH Fall 3 Der Beschleunigungsgrundsatz spielt eine entscheidende Rolle auch in der Rechtsprechung des BGH 584 zu den Urteilsabsprachen. Man kann nicht ausschließen, dass gerade dieser Grundsatz und der Grundsatz der Prozessökonomie den BGH dazu motiviert haben, dieses in der deutschen Literatur höchst umstrittene Phänomen zu legitimieren, was dem BGH erhebliche Kritik eingebracht hat. In dem behandelten Fall (Beschluss vom 3.5.2003585), der noch ausführlicher im Punkt F. II. (BGH Fall 1) dargestellt wird, hat der Große Senat für Strafsachen die bisherige Rechtsprechung der Strafsenate zu den Urteilsabsprachen bestätigt und den Urteilsabsprachen weitere rechtliche Konturen gegeben. Dabei sah er sich dazu veranlasst, die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung umfangreicher zu begründen und nahm ausdrücklich auf den Beschleunigungsgrundsatz Bezug, der nach seiner Auffassung auch dafür spricht, die Urteilsabsprachen durch richterrechtliche Rechtsfortbildung zuzulassen. Das entsprechende Zitat lautet: „Das gilt zumal unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes, der ein Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist, und des Grundsatzes der Prozeßökonomie. Beide Grundsätze können den Umfang der im Einzelfall gebotenen Aufklärungsbemühungen bestimmen. Das Gewicht der Strafsache sowie die Bedeutung und der Beweiswert weiterer Beweismittel sind gegenüber den Nachteilen der Verfahrensverzögerungen abzuwägen (BGH NJW 2001, 695). Die Rücksichtnahme auf die Belange der Verfahrensökonomie, namentlich bei drohender Verfahrensverzögerung, ist der Strafprozeßordnung – wie jeder anderen Verfahrensordnung – durchaus nicht fremd (vgl. BGH NStZ 2004, 638; BGH wistra 2004, 475). So ist nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung eine Teileinstellung nach § 154 Abs. 1 Nr. 2 StPO möglich, ,wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist‘. Unter den gleichen Voraussetzungen können einzelne abtrennbare Teile einer Tat oder einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen von der Verfolgung ausgenommen werden (§ 154 a Abs. 1 Satz 2 StPO); diese Beschränkung der Strafverfolgung gestattet eine Reduzierung des Schuldspruchs (vgl. nur BGH NJW 2004, 2990, 2991). Von der Einziehung oder dem Verfall kann ferner nach §§ 430, 442 StPO abgesehen werden, wenn das Verfahren ,einen unangemessenen Aufwand erfordern‘ würde. Hinzu kommt, dass Verfahrensverzögerungen, selbst wenn diese auf einer Überlastung des Gerichts beruhen, nicht selten dazu führen, daß die schuldangemessene Strafe unterschritten werden muß (BVerfG – Kammer – NJW 1995, 1277; 2003, 2225; NStZ 2004, 335; BGH NStZ 1999, 181; BGHSt 45, 321, 339; BGH, Beschluß vom 23. Juni 2004 – 1 ARs 5/04).“ 586

In diesem Zitat fällt zunächst eine Abwägung auf, die für das wertorientierte Denken charakteristisch ist. In dem Fall werden jedoch nicht verfassungsrechtliche Grundsätze gegenübergestellt, sondern der BGH postuliert die Abwägung 584 Gemeint ist hier die Rechtsprechung des BGH vor der Kodifizierung dieser Materie durch den Gesetzgeber. 585 GSSt 1/04, BGHSt 50, 40. 586 Ebenda, S. 54 f.

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zwischen dem Gewicht der Strafsache sowie der Bedeutung und dem Beweiswert weiterer Beweismittel einerseits und den Nachteilen der Verfahrensverzögerungen andererseits. Im weiteren Teil weist der BGH auf die Vorschriften hin, die den Verfahrensverzögerungen entgegenwirken sollten. Schließlich betont er (wieder) die Konsequenzen der eventuellen Verfahrensverzögerung (Zumessung einer niedrigen Strafe). BGH Fall 4 Ein weiterer Fall, in dem der Beschleunigungsgrundsatz eine erhebliche Rolle spielt, ist im Beschluss des vom 7.3.2006587 zu sehen, in dem der BGH bei einer Kette von rechtlich aufeinander beruhenden Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen den Prüfungsumfang des Gerichts nur auf diejenige Maßnahme beschränkte, der die verwerteten Erkenntnisse entstammen. Den ausschlaggebenden Grund für diese Entscheidung sieht der BGH unter anderem in dem Beschleunigungsgrundsatz. Im Gegensatz zu der gezeigten Rechtsprechung des BGH hat das OG in den in Betracht gezogenen 100 Entscheidungen an den Beschleunigungsgrundsatz in einem breiteren Umfang nur in denjenigen Fällen angeknüpft, in denen es mit Beschwerden zu tun gehabt hat, die auf der Grundlage des Gesetzes vom 17.6.2004 über die Beschwerde wegen ungerechtfertigter Verfahrensverzögerung588 erhoben worden sind. Wie im Anhang B Pkt. 2. gezeigt wurde, nimmt das OG ebenfalls an dem Verfahren teil, das den Verfahrensverzögerungen entgegenwirken soll. Vor dem Hintergrund der behandelten Entscheidungen liegt es auf der Hand, dass der Kontext dieser Entscheidungen das OG dazu gezwungen hat, an den Beschleunigungsgrundsatz anzuknüpfen. Im Folgenden sollen diese Fälle näher dargestellt werden. OG Fall 1 In der ersten Entscheidung [Beschluss (Postanowienie) des OG vom 21.12. 2006589] hat das OG dem Rechtsmittelgericht konkrete Hinweise „vorgeschlagen“, denen es im Falle der Einlegung der Kassation folgen sollte. Diese Hinweise haben keine gesetzliche Grundlage und können zugleich als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden, denn sie weisen einen gesetzesähnlichen Charakter auf. Der Sachverhalt betrifft folgendes Problem. Ein Verurteilter legte eine Kassation gegen eine Entscheidung des Appellationsgerichts ein. Nach Art. 525 § 1 KPK soll die Kassation beim OG durch die Vermittlung des Rechtsmittelgerichts 587

1 StR 316/05, BGHSt 51, 1. Ustawa z dnia 17 czerwca 2004 r. o skardze na naruszenie prawa strony do rozpoznania sprawy w poste˛powaniu przygotowawczym prowadzonym lub nadzorowanym przez prokuratora i poste˛powaniu sa˛dowym bez nieuzasadnionej zwłoki, Dz. U. 2004 Nr. 179, Pos. 1843. 589 KSP 10/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 70. 588

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Teil 2: Empirische Analysen

(in diesem Fall durch die Vermittlung des Appellationsgerichts) eingelegt werden. Der Präsident des Appellationsgerichts hätte in dem behandelten Fall die Kassation gemäß Art. 530 § 1 KPK unverzüglich an das OG weiterleiten sollen, da sie angenommen wurde. Die Kassation wurde jedoch erst nach zwei Jahren an das OG weitergeleitet. Die Verspätung kam zustande, weil die Akten mit der Kassation nicht an das OG, sondern an das Gericht der unteren Instanz übersandt wurden, um das Verfahren in dem Bereich fortzusetzen, in dem das Appellationsgericht das Urteil des Gerichts der unteren Instanz aufgehoben hat. Der KPK sieht für die dargestellte Konstellation keine Regelungen vor, denen der Präsident des Rechtsmittelgerichts (in diesem Fall der Präsident des Appellationsgerichts) hätte folgen können. Der Präsident des Appellationsgerichts stand somit in dem behandelten Fall vor der folgenden Wahl: Entweder die Akten an das OG weiterzuleiten, damit es über die Kassation entscheiden könnte, oder sie an das Gericht der unteren Instanz zu schicken, um das Verfahren in dem aufgehobenen Teil der Entscheidung in Gang zu setzen. Nach der Auffassung des OG kam es in diesem Fall zu einer Verzögerung des Kassationsverfahrens und es wurde festgestellt, dass dem Verurteilten eine Geldentschädigung zusteht, denn das Rechtsmittelgericht sollte jede organisatorische Maßnahme ergreifen, um der Verzögerung des Kassationsverfahrens entgegenzuwirken. Als Lösung des Problems hat das OG z. B. die Anfertigung von Kopien der Akten, die das Kassationsverfahren betreffen, und ihre Weiterleitung an das OG vorgeschlagen. Oder auch die Vereinbarung eines Termins mit dem OG, das die kurzfristige Entscheidung über die Kassation trifft und die Weiterleitung der Akten an das Gericht der unteren Instanz bestimmt. Alle diese Vorschläge können als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden, weil das Gesetz in diesem Bereich – wie bereits ausgeführt wurde – lückenhaft ist und dazu dem Präsidenten des Rechtsmittelgerichts keine Hinweise gibt, wie er in einer solchen Situation verfahren soll. Es ist dabei allerdings nicht zu übersehen, dass das OG den Beschleunigungsgrundsatz in dieser Entscheidung nicht ausdrücklich erwähnt hat. OG Fall 2 Der Beschleunigungsgrundsatz ist in einer indirekten Form auch im Beschluss (Postanowienie) des OG vom 7.5.2007590 angesprochen worden, in dem sich das OG mit dem Problem der Wiederaufnahme eines Verfahrens befasste, das wegen der ungerechtfertigten Verzögerung des gerichtlichen Verfahrens auf der Grundlage des Gesetzes vom 17.6.2004 über die Beschwerde wegen ungerechtfertigter Verfahrensverzögerung591 eingeleitet wurde. Das OG verneinte im Ergebnis die 590

V KZ 24/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 60. Ustawa z dnia 17 czerwca 2004 r. o skardze na naruszenie prawa strony do rozpoznania sprawy w poste˛powaniu przygotowawczym prowadzonym lub nadzorowanym przez prokuratora i poste˛powaniu sa˛dowym bez nieuzasadnionej zwłoki, Dz. U. 2004 Nr. 179, Pos. 1843. 591

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Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens, denn das Gesetz vom 17.6. 2004 sieht diese Möglichkeit nicht vor und verweist nicht auf den KPK, der die Wiederaufnahme des Verfahrens ausdrücklich regelt. Nach der Auffassung des OG ist diese gesetzgeberische Lösung vollkommen zutreffend, denn das Nebenverfahren, das wegen der ungerechtfertigten Verfahrensverzögerung eingeleitet wird, soll vor allem den weiteren Verfahrensverzögerungen entgegenwirken, d. h. es ist von dem laufenden Verfahren vollständig abhängig. Neben den bereits erwähnten Fällen hat das OG noch in einer weiteren Entscheidung [Beschluss (Uchwała) des OG vom 20.12.2007592] an den Beschleunigungsgrundsatz angeknüpft, wobei dies wieder in einer indirekten Form geschah, indem es die Verfahrensverzögerung in der Argumentationskette berücksichtigt hat, ohne sich mit diesem Argument näher auseinanderzusetzen. Diese Zurückhaltung des OG in der Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes kann offenkundig nicht damit erklärt werden, dass die behandelten Fälle keine Gelegenheit dazu gegeben hätten, diesen Grundsatz in die Begründungen einzubeziehen. Der im Pkt. V. 1. a) dd) gezeigte Fall593, in dem das OG die Zulassung der Einlegung der Appellation durch ein Fax erörtert hat, bot offenkundig Gelegenheit dazu, den Beschleunigungsgrundsatz anzusprechen. Das OG sah sich auch nicht dazu gedrängt, sich mit diesem Grundsatz in dem Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007594 näher zu befassen, obwohl in diesem Fall das vereinfachte Verfahren angesprochen wurde, das der Beschleunigung des Verfahrens dienen sollte. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Beschleunigungsgrundsatz in den Entscheidungen des BGH im Vergleich zu den Entscheidungen des OG in einem wesentlich breiteren Umfang zur Geltung kommt, und zwar auch dann, wenn die Kontexte nicht unbedingt zur Berücksichtigung dieses Grundsatzes Anlass geben. Beide Gerichte sind dabei zur Rechts(neu)schöpfung bereit, um diesen Grundsatz zu verwirklichen. dd) Verhältnismäßigkeitsprinzip Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat in beiden Rechtsordnungen einen festen Platz, wobei es auf unterschiedliche Quellen zurückzuführen ist. In der deutschen Rechtsordnung wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, dagegen sieht die polnische Verfassung das Verhältnismäßigkeitsprinzip ausdrücklich in Art. 31 Abs. 3 VerfRP vor.595 Diese Vorschrift lautet: 592

I KZP 35/07, OSNKW 2008, Nr. 1, S. 1. Beschluss (Uchwała) vom 20.12.2006, I KZP 29/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 1. 594 I KZP 25/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 13. 595 Es ist anzumerken, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch in der polnischen Rechtsordnung vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1997 aus dem Rechtsstaatprinzip abgeleitet wurde. 593

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Teil 2: Empirische Analysen

„Einschränkungen, verfassungsrechtliche Freiheiten und Rechte zu genießen, dürfen nur in einem Gesetz beschlossen werden und nur dann, wenn sie in einem demokratischen Staat wegen dessen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung oder zum Schutz der Umwelt, Gesundheit, der öffentlichen Moral oder der Freiheiten und Rechte anderer Personen notwendig sind. Diese Einschränkungen dürfen das Wesen der Freiheiten und Rechte nicht verletzen.“ 596

Der Wortlaut der Vorschrift des Art. 31 Abs. 3 VerfRP könnte den Gedanken nahe legen, dass diese Vorschrift nur an den Gesetzgeber adressiert ist. Es ist jedoch in der polnischen Methodenlehre anerkannt, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip auch von den Rechtsanwendern beachtet werden muss, insbesondere bei der Auslegung von Gesetzen.597 Im Allgemeinen weist die Struktur des Verhältnismäßigkeitsprinzips in beiden Rechtssystemen einen ähnlichen Charakter auf.598 In beiden Rechtsordnungen ist anerkannt, dass die Prüfung in drei Schritten (Zweckeignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit) erfolgen sollte.599 Der Begriff der „Angemessenheit“ wird in beiden Rechtssystemen oft durch den Begriff der „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“ ersetzt.600 Es lassen sich jedoch auch strukturelle Unterschiede feststellen. Im deutschen Rechtssystem ist anerkannt, dass die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips mit der Feststellung beginnen sollte, ob ein legitimer Zweck überhaupt vorliegt.601 Diese Voraussetzung wird in der polnischen Rechtsordnung am Ende der Prüfung untersucht. Außerdem verlangt das Verhältnismäßigkeitsprinzip nach der herrschenden Lehre in Polen noch die Prüfung, ob die zu behandelnde Beschränkung überhaupt in einem demokratischen Staat zulässig ist.602 Die Prüfung der Verletzung des Demokratieprinzips erfolgt dagegen in dem deutschen Rechtssystem stets losgelöst vom Verhältnismäßigkeitsprinzip.603 Obwohl das Verhältnismäßigkeitsprinzip in beiden Rechtsordnungen rechtlich fest verankert ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es in der Praxis in gleichem Ausmaß zur Anwendung kommt. In der polnischen Literatur wird betont, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der polnischen Rechtsordnung im Gegensatz zu den anderen europäischen Rechtssystemen im Bereich der Rechtsanwendung nicht ausreichend ausgeprägt sei.604 Die vorliegende Untersu596 Übersetzung nach www.sejm.gov.pl/prawo/konst/niemiecki/kon1.htm (letzter Zugriff: 19.5.2015). 597 L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 139. 598 B. Makowicz, Das Verhältnismäßigkeitsprinzip – Ein Strukturvergleich zwischen dem deutschen und dem polnischen Recht, Osteuropa-Recht, 2/2010, S. 172. 599 Ebenda. 600 Ebenda, S. 175. 601 Ebenda, S. 172. 602 Ebenda, S. 172 f. 603 Ebenda, S. 177.

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chung kann diesen Befund grundsätzlich bestätigen, da der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lediglich in einer einzigen Entscheidung des OG angesprochen wurde (der BGH knüpfte an diesen Grundsatz in 13 Entscheidungen an). Dieser Unterschied kann allerdings nicht verwundern, wenn man die unterschiedlichen Entwicklungslinien beider Rechtsordnungen in dieser Hinsicht berücksichtigt. Die historische Perspektive zeigt, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der deutschen Rechtsordnung eine wesentlich längere Tradition hat.605 Während das polnische Verfassungsgericht diesem Grundsatz erst nach der politischen Wende der 90er Jahre den Weg in die polnische Rechtsordnung gebahnt hat, entwickelte das preußische Oberverwaltungsgericht diesen Grundsatz schon auf der Grundlage des § 10 Abs. 2 Nr. 17 des Preußischen Allgemeinen Landrechts für die Polizei.606 Von dort fand er Eingang in das gesamte deutsche Recht der Eingriffsverwaltung.607 Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Verhältnismäßigkeitsprinzip in einigen Landesverfassungen ausdrücklich geregelt (z. B. in Art. 98 S. 2 BayVerf). Er wurde auch in der Rechtsprechung des BVerfG entwickelt.608 Dabei ist nicht zu übersehen, dass der in der deutschen Rechtsordnung herausgearbeitete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – ähnlich wie das Rechtsstaatsprinzip – nicht nur für die polnische, sondern auch für andere Rechtsordnungen prägend war.609 Die Kontexte, in denen der BGH auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bezug nimmt, weisen darauf hin, dass dieser Grundsatz vor allem in solchen Entscheidungen zur Anwendung kommt, in denen die Problematik der Maßregel der Besserung und Sicherung, insbesondere der Sicherungsverwahrung, angesprochen wird. Dieser Umstand relativiert eher die Bedeutung dieses Grundsatzes in der Rechtsanwendung, da das deutsche StGB das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Hinblick auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung ausdrücklich regelt und die Gerichte zur Beachtung dieses Grundsatzes gewissenmaßen „zwingt“. § 62 StGB verbietet die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung dann, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis 604 H. Izdebski, Zasada proporcjonalnos ´ci a władza dyskrecjonalna administracji publicznej w s´wietle polskiego prawa, in: W. Stas´kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 155. 605 Siehe dazu B. Makowicz, Das Verhältnismäßigkeitsprinzip – Ein Strukturvergleich zwischen dem deutschen und dem polnischen Recht, Osteuropa-Recht, 2010, S. 168 ff. 606 Urteil des PrOVG 13, 424, 426; 37, 401, 403; 44, 342 f.; 45, 416, 423. 607 K. Stern, Das Staatsrecht der Republik Deutschland, Band 1, 2. Auflage, 1984, S. 863. 608 Siehe dazu: E. Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973), S. 568. 609 K. Wojtyczek, Zasada proporcjonalnos ´ci, in: B. Banaszak/A. Preisner (Hrsg.), Prawa i wolnos´ci obywatelskie w Konstytucji RP, 2002, S. 671 ff.

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Teil 2: Empirische Analysen

steht (Verhältnismäßigkeitsprinzip im engeren Sinne). Neben dieser Regelung hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine spezielle Ausprägung im Subsidiaritätsprinzip des § 72 Abs. 1 StGB gefunden, wonach unter mehreren geeigneten Arten der Maßregel denen der Vorzug zu geben ist, die den Täter am wenigsten belasten. Beide Vorschriften sind in den Entscheidungen des BGH erwähnt worden. Geht man zur Analyse der konkreten Entscheidung über, so hat der BGH an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei den folgenden Fragen der Maßregel der Besserung und Sicherung angeknüpft: Ob auf die Zeit der Verwahrung auch die Verbüßung von Untersuchungshaft anzurechnen ist, wenn der Angeklagte für die erlittene Untersuchungshaft schon entschädigt wurde610; ob ein spielsüchtiger Täter in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden darf 611; ob die Verweigerung oder der Abbruch der Therapie für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ausreicht612; ob eine nachträgliche Unterbringung in einer Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, wenn der Verurteilte nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe wieder auf freien Fuß gelangt ist613; und ob die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erneut angeordnet werden kann, wenn sich der Angeklagte und Beschuldigte zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits aufgrund eines früheren Urteils im Vollzug dieser Maßregel befindet614. Ferner bezieht sich der BGH auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Problematik des Vorbehalts der Anordnung der Sicherungsverwahrung615 und der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung616. 610

Urteil vom 26.11.2003, 2 StR 291/03, BGHSt 49, 25. Urteil vom 25.11.2004, 5 StR 411/04, BGHSt 49, 365. 612 Urteil vom 11.5.200, 1 StR 37/05, BGHSt 50, 10. 613 Urteil vom 1.7.2005, 2 StR 9/05, BGHSt 50, 181. In dieser Entscheidung hat der BGH im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf Seite 184 ausgeführt: „Ginge man davon aus, daß die Wiedererlangung der Freiheit nach Vollverbüßung der Haftstrafe eine Anordnung nach § 66 b StGB ausschlösse, würde das auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuwiderlaufen. Wenn eine Maßregelanordnung vor Vollverbüßung trotz frühzeitiger Einleitung der Verfahrens und gebotener Beschleunigung bis zum Strafende nicht möglich ist, wären die Gerichte regelmäßig gezwungen, einen Unterbringungsbefehl nach § 275 a Abs. 5 StPO zu erlassen, um die Möglichkeit einer anderen als den Antrag der Staatsanwaltschaft ablehnenden Entscheidung offen zu halten. Dies ist vom Gesetz nicht gewollt.“ 614 Beschluss vom 14.7.2005, 3 StR 216/05, BGHSt 50, 199. Auf Seite 203 hat der BGH festgestellt: „Dabei geht es nicht um die für die Anordnung nach § 63 StGB stets vorausgesetzte Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, wie sie § 62 StGB dahin beschreibt, daß der Maßregelausspruch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der vom Beschuldigten begangenen und zu erwartenden Taten sowie dem Grad seiner Gefährlichkeit stehen darf. Entscheidend ist vielmehr, ob die erneute Unterbringungsanordnung zur Erreichung des Maßregelziels der Besserung (Heilung) und Sicherung geeignet und erforderlich ist, weil von ihr zur Erreichung dieses Ziels Wirkungen ausgehen, die der erste Maßregelausspruch nach § 63 StGB nicht zeitigt.“ 615 Urteil vom 8.7.2005, 2 StR 120/05, BGHSt 50, 189. 616 Urteil vom 25.11.2005, 2 StR 272/05, BGHSt 50, 284; Beschluss vom 22.6.2006, 5 StR 585/05, BGHSt 50, 373. 611

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Im Vergleich zu den bereits genannten Fällen, in denen der BGH aus der Natur der Sache heraus den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gar nicht übersehen konnte, sind Entscheidungen selten, die an diesen Grundsatz anknüpfen. Zwei Fälle sind in diesem Zusammenhang interessant. BGH Fall 1 Bei der Erörterung der Frage, ob die Vollzugsbehörde die Anordnung eines Trennscheibeneinsatzes bei einem Verteidiger auf § 4 Abs. 2 S. 2 StVollzG stützen darf, führte der BGH neben weiteren Argumenten aus: „Der Einsatz einer Trennscheibe widerspricht auch nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Beschwerdeführer hat in der hier zu beurteilenden besonderen Situation sein Interesse an einer effektiven Verteidigung selbst so stark verringert, daß der Schutz der Freiheit und der körperlichen Unversehrtheit des Verteidigers und der Sicherheit der Allgemeinheit vor Straftaten in der Vollzugsanstalt von der Rechtsordnung weitaus höher zu bewerten sind als seine verbliebenen Verteidigungsinteressen. Der von der Vollzugsbehörde angeordnete Einsatz der Trennscheibe ist geeignet, die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr zu beseitigen. Der Eingriff ist auch erforderlich. Ein milderes Mittel mit gleicher Eignung steht nicht zur Verfügung. Zu Recht weist der Generalbundesanwalt darauf hin, daß mit einer etwaigen Durchsuchung des Gefangenen oder des Verteidigers die Gefahr nicht ausgeschlossen werden kann. Bereits eine Kugelschreibermine kann – etwa durch Pressen an die Halsschlagader des Opfers – geeignet sein, eine Bemächtigungssituation herbeizuführen. Die besondere Sicherungsmaßnahme der Fesselung (vgl. §§ 88, 90 StVollzG) würde die Belange des Beschwerdeführers stärker beeinträchtigen.“ 617

In dem angeführten Zitat prüft der BGH die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im weiteren Sinne. Ausdrücklich sind die Kategorien der „Zielgeeignetheit“ und der „Erforderlichkeit“ erwähnt. In dem ersten Satz lässt sich zudem eine Abwägung im Rahmen der „Angemessenheit“ feststellen. Im Ergebnis kommt der BGH zu der Rechtsauffassung, dass die Vollzugsbehörde die Anordnung eines Trennscheibeneinsatzes bei einem Verteidigerbesuch auf § 4 Abs. 2 S. 2 StVollzG stützen darf, „um der konkreten, anderweitig nicht ausschließbaren Gefahr zu begegnen, daß ein Strafgefangener seinen Verteidiger zur Freipressung als Geisel nimmt (. . .).“ 618 BGH Fall 2 Bei der Prüfung der Frage, ob die Haft zur Erzwingung des Zeugnisses gemäß § 70 Abs. 1 und 2 StPO rechtsfehlerfrei angeordnet wurde (Beschluss vom 15.11. 2006619), führte der BGH aus:

617 618 619

Beschluss vom 3.2.2004, 5 Ars (Vollz) 78/03, BGHSt 49, 61, 67 f. Ebenda, S. 61. StB 15/06, BGHSt 51, 140.

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Teil 2: Empirische Analysen

„c) Das Oberlandesgericht hat bei der Anordnung der Beugehaft sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung des Freiheitsgrundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfG NJW 1999, 779 f.; 2000, 3775 f.; MeyerGoßner a. a. O. § 70 Rdn. 13) beachtet.“ 620

In einem weiteren Teil der Entscheidung weist der BGH darauf hin, dass die Vorwürfe gegen die Angeklagten schwer wiegen und auf die Vernehmung des Zeugen, der zur Haft verurteilt wurde, nicht verzichtet werden kann. Bei der Anordnung der Haft müssten jedoch der Freiheitsanspruch der Zeugen einerseits und die Bedeutung der Aussage für den Schuld- oder Strafausspruch andererseits beachtet werden.621 Im Vergleich zu der Rechtsprechung des BGH hat das OG, wie oben festgestellt wurde, nur in einer Entscheidung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip angeknüpft, und zwar im folgenden Fall: OG Fall 1 Im Beschluss (Postanowienie) vom 26.4.2007622 hat sich das OG mit der Auslegung von Art. 19 Abs. 15 des Gesetzes über die Polizei623 befasst. Im Vordergrund stand die Frage, ob Beweise, die im Rahmen von operativen Handlungen (z. B. im Rahmen der Überwachung und der Aufzeichnung der Telekommunikation) erlangt wurden, auch dann verwendet werden können, wenn sie Straftaten betreffen, die zum Einsatz der Überwachung der Telekommunikation nicht ermächtigen, also keine Katalogstraftaten sind. Art. 19 Abs. 1 des Gesetzes über die Polizei listet – wie § 100a der deutschen StPO – enumerativ Katalogstraftaten auf, die den Einsatz der Überwachung der Telekommunikation erlauben. Bei der Überwachung können jedoch auch Straftaten aufgedeckt werden, die Art. 19 Abs. 1 des Gesetzes über die Polizei nicht vorsieht. Nach der Auffassung des OG dürfen diese Materialien nicht verwendet werden. Zu diesem Ergebnis kam das OG unter anderem unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das im Zusammenhang mit anderen verfassungsrechtlichen Normen verwendet wurde. Die ausführlichen Zitate zu diesem Grundsatz wurden schon in dieser Arbeit im Pkt. D. VII. wiedergegeben und sollen deshalb hier nicht wiederholt werden. Es muss jedoch betont werden, dass das OG in dem behandelten Fall den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu der Abwägung von Grundrechten einerseits und der öffentlichen Sicherheit andererseits verwendet hat.624 Der Konflikt zwischen diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen kann nach der Ansicht des 620 621 622 623 624

Ebenda, S. 143 f. Ebenda, S. 144. I KZP 6/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 1. Ustawa z dnia 6 kwietnia 1990 r. o Policji, Dz. U. 2015, Pos. 355. OSNKW 2007, Nr. 5, S. 21 f.

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OG auf der Grundlage des Verhältnismäßigkeitsprinzips nur dann befriedigend gelöst werden, wenn lediglich diejenigen Materialien verwendet werden, die Straftaten betreffen, die in Art. 19 Abs. 1 des Gesetzes über die Polizei genannt sind. Diese Auslegung ist deutlich grundrechtsschonender und für die Normadressaten nach der Auffassung des OG deshalb auch weniger belastend. In dieser Feststellung spricht das OG offensichtlich die Kategorie der „Erforderlichkeit“ an. In Bezug auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts fährt das OG damit fort, dass ein Rechtsstaat Materialien, die im Rahmen einer operativen Handlung erlangt wurden, zudem nicht im Hinblick auf ihre potentielle Verwertbarkeit verwahren darf. Die Verwendung der Materialien, die über die Katalogstraftaten hinausgehen würden, stellte eine solche Verwahrung dar. Bei der Einschätzung der Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der behandelten Entscheidung muss jedoch zusätzlich berücksichtigt werden, dass das Gesetz über die Polizei bei der Verwendung von operativen Handlungen das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich erwähnt. Nach Art. 19 Abs. 1 des Gesetzes über die Polizei dürfen operative Handlungen unter anderem nur dann verwendet werden, wenn andere Mittel sich als ungeeignet erwiesen haben, oder zu einer hohen Wahrscheinlichkeit feststeht, dass sie sich als ungeeignet erweisen würden. Das Gesetz knüpft in der verwendeten Formulierung eindeutig an die Kategorie der „Zweckgeeignetheit“ an. Das OG konnte somit das Verhältnismäßigkeitsprinzip in der dargestellten Entscheidung gar nicht außer Acht lassen, weil es (einfachgesetzlich) explizit vorgeschrieben ist. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine deutlich höhere Anzahl der Entscheidungen des BGH im Vergleich zu den Entscheidungen des OG, in denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angesprochen wird, nicht unbedingt auf eine größere Bedeutung dieses Grundsatzes in der Rechtsprechung des BGH hinweisen muss. Wie bereits gezeigt wurde, konnte der BGH in den betreffenden Kontexten diesen Grundsatz wegen der Gesetzeslage gar nicht außer Acht lassen. ee) Grundsatz des fairen Verfahrens Die Untersuchung ergab, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens625 in der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG wesentlich häufiger auftaucht (9 Entscheidungen des BGH; 2 Entscheidungen des OG). Abgesehen von den Entscheidungen, in denen der BGH sich mit der Präzisierung der Urteilsabsprachen626 befasste, kommt dieser Grundsatz am deutlichsten in folgenden Fällen zur Anwendung. 625 Grundlegend zu diesem Grundsatz auch in der Rechtsprechung des BGH: D. Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, 2000. In der polnischen Literatur siehe: J. Skorupka/W. Jasin´ski (Hrsg.), Rzetelny proces karny, 2010. 626 Urteil vom 19.2.2004, 4 StR 371/03, BGHSt 49, 84; Beschluss vom 3.3.2005, GSSt 1/04, BGHSt 50, 40. Insbesondere der Große Senat für Strafsachen hat in seiner

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BGH Fall 1 Im Urteil vom 4.3.2004627 stand der BGH vor der Frage, welche Auswirkungen die Sperrung eines Beweises auf die Beweiswürdigung ausüben kann. In Bezug auf den Grundsatz des fairen Verfahrens führte der BGH unter anderem aus: „Kann ein zentrales Beweismittel wegen einer Sperrerklärung oder einer verweigerten Aussagegenehmigung nicht in die Hauptverhandlung eingeführt werden, obwohl ohne die Sperrerklärung oder verweigerte Aussagegenehmigung die Erhebung des Beweises ein Gebot der Aufklärungspflicht gewesen wäre (§ 244 Abs. 2 StPO) bzw. ein Beweisantrag des Angeklagten auf Erhebung des Beweises aus keinem der in § 244 Abs. 3–5 StPO genannten Ablehnungsgründe hätte zurückgewiesen werden können, muß der Tatrichter die hierdurch bedingte Einschränkung seiner Erkenntnismöglichkeiten sowie die Beschneidung der Verteidigungsrechte des Angeklagten bei seiner Überzeugungsbildung berücksichtigen und in den Urteilsgründen im Rahmen der Beweiswürdigung erörtern. Anderenfalls ist seine Beweiswürdigung lückenhaft und der Anspruch des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (Art. 20 Abs. 3 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 MRK) verletzt.“ 628

Und weiter: „bb) Hier geht es allerdings nicht um die Würdigung einer den Angeklagten belastenden Aussage, die wegen der Sperrung des unmittelbaren Zeugen lediglich durch Erhebung mittelbarer Beweise in die Hauptverhandlung eingeführt werden kann. Vielmehr wird ein für die Wahrheitsfindung potentiell bedeutsamer Zeuge der Beweisaufnahme völlig entzogen, so daß offen bleibt, welches Beweisergebnis durch seine Vernehmung hätte erzielt werden können. Auch in diesem Fall muß der genannte Grundsatz Anwendung finden, da durch die Sperrung des Beweismittels nicht nur die Beweisgrundlage des Gerichts verkürzt, sondern dem Angeklagten auch die Möglichkeit der Entlassung entzogen wird. Dies gebietet der Anspruch des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren, an dem solche Beschränkungen seiner Rechte zu messen sind, die von den speziellen grundrechtlichen Verfahrensgarantien (etwa dem Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG) nicht erfasst werden. (. . .). Verfahrensrechtliche Gestaltungen, die der Ermittlung der Wahrheit und somit einem gerechten Urteil entgegenstehen, können daher den Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren beeinträchtigen (BVerfGE 57, 250, 274 f. m.w. N.). Zu diesen Beschränkungen zählen die behördliche Verweigerung von Aussagegenehmigungen (§ 54 StPO i.V. m. den Beamtengesetzen) sowie die Abgabe von Sperrerklärungen nach § 96 StPO. Diese Maßnahmen können, auch wenn sie verfahrensmäßig und inhaltlich rechtsfehlerfrei ergangen sind, zu erheblichen Einschränkungen der Verteidigungsinteressen des Angeklagten führen. Verschlechtern sie dessen Beweissituation, fordert der Grundsatz fairer Verfahrensgestaltung ein Regulativ. Ein solches hält das Strafprozeßrecht mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung

grundlegenden Entscheidung (GSSt 1/04) auf diesen Grundsatz bei der Präzisierung der Konturen dieses Rechtsinstitutes Bezug genommen. 627 3 StR 218/03, BGHSt 49, 112. 628 Ebenda, S. 118.

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(§ 261 StPO) sowie dem Prinzip ,Im Zweifel für den Angeklagten‘ bereit. Deren sachgerechte Anwendung ist grundsätzlich geeignet, die besonderen Gefahren der beweisrechtlichen Lage für den Angeklagten aufzufangen und seinem Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren Genüge zu tun (BVerfGE 57, 250, 292 f.). Dies gilt auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 MRK, der – im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (BVerfGE 74, 358, 370) – ebenfalls das Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren verbürgt, namentlich den Anspruch des Angeklagten, Belastungszeugen zu befragen oder befragen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie das bei Belastungszeugen der Fall ist (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK).“ 629

In diesem Zitat fällt auf, dass der BGH den Grundsatz des fairen Verfahrens in dem behandelten Fall als „Regulativ“ betrachtet, das die Verteidigungsinteressen des Angeklagten schützen soll. Als geeignete Schutzmaßnahmen kommen der Grundsatz der freien Beweiswürdigung und das In-dubio-pro-reo-Prinzip in Betracht. Beide Grundsätze muss das Gericht nach der Ansicht des BGH insbesondere dann bei der Beweiswürdigung beachten, wenn ein zentrales Beweismittel wegen einer Sperrerklärung oder einer verweigerten Aussagegenehmigung nicht in die Hauptverhandlung eingeführt werden darf. Sonst wäre der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt. BGH Fall 2 Einen weiteren Fall, in dem der Grundsatz des fairen Verfahrens eine zentrale Rolle spielt, bildet der Beschluss des BGH vom 9.11.2005630. In dem anhängigen Verfahren wurde der Beschuldigte (italienischer Staatsangehöriger) weder mit Pflichtverteidiger, obwohl dieser bestellt worden war, noch mit Dolmetscher im Ermittlungsverfahren vernommen. In der ersten Hauptverhandlung (vor der Aufhebung des Urteils) hat der Angeklagte diese Verfahrensmängel nicht gerügt, wohl aber in der zweiten Hauptverhandlung, die nach der Aufhebung des Urteils eingeleitet wurde. Zunächst hat der BGH in Bezug auf seine bisherige Rechtsprechung (BGH NStZ 10/1997, 502631) ausgeführt, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nur dann vorliegt, wenn die Verteidigerbestellung dem Beschuldigten bewusst vorenthalten worden ist. Da in dem behandelten Fall der Vernehmungsbeamte im Ermittlungsverfahren keine Kenntnis von der Verteidigerbestellung hatte, komme die Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nicht in Betracht.632 Des Weiteren hat der BGH in Bezug auf seine langjährige und gefestigte Rechtsprechung ausgeführt, dass der Beschuldigte den Verstoß gegen die Verfah629 630 631 632

Ebenda, S. 120 f. 1 StR 447/05, BGHSt 50, 272. Beschluss vom 17.6.1997, 4 StR 243/97. BGHSt 50, 274.

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Teil 2: Empirische Analysen

rensgrundsätze der §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163 a Abs. 4 S. 2 StPO (Schweigerecht sowie Recht zur Verteidigerkonsultation), die der BGH als Belehrungspflichten aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ableitet, bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt wirksam geltend machen kann. Ausgehend von diesem anerkannten Grundsatz dürfen nach der Auffassung des BGH diese Mängel auch nach der Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht in der neuen Hauptverhandlung nicht gerügt werden, denn die Rüge ist in einem solchen Fall präkludiert. „Die Nichtausübung des Widerspruchrechts innerhalb der Frist führt in den genannten Fällen zum endgültigen Rechtsverlust. Dies ergibt sich daraus, daß es sich um ein prozessuales Gestaltungsrecht handelt, das nicht auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt beschränkt ist. Das Ermittlungsverfahren bildet die Grundlage für das gesamte folgende gerichtliche Verfahren, auch nach der Aufhebung des ersten Urteils und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht. Der Angeklagte muß sich an einer nicht widersprochenen Einlassung aus dem Ermittlungsverfahren festhalten lassen. Deren Bestand kann nicht seiner Dispositionsfreiheit unterliegen, was schon im Fall einer Teilaufhebung des ersten Urteils deutlich wird.“ 633

BGH Fall 3 Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens leitet der BGH auch die nicht im Gesetz vorgesehene Pflicht ab, den Antrag auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung zu begründen.634 Dieser Fall wird noch ausführlicher im Punkt F. II. dargestellt, in dem auf die Problematik der Rechts(neu)schöpfung eingegangen wird. Hier nur ein Zitat aus dieser Entscheidung, das sich auf den Grundsatz des fairen Verfahrens bezieht. „Für das Verfahren auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gelten damit die allgemeinen strafprozessualen Grundsätze, d.h. sowohl der Grundsatz des fairen Verfahrens als auch das Gebot des rechtlichen Gehörs. Beide Verfahrensgrundsätze gebieten es, dem Verurteilten frühzeitig mitzuteilen, welche Vorfälle die Staatsanwaltschaft zu der ungünstigen Gefährlichkeitsprognose und damit zur Antragstellung bewogen haben.“ 635

Daraus leitet der BGH neben weiteren Argumenten die Pflicht ab, den Antrag auf die nachträgliche Sicherung zu begründen. BGH Fall 4 Eine erhebliche Rolle spielt der Grundsatz des fairen Verfahrens schon in dem Beschluss des BGH vom 29.11.2006636, in dem die Angeklagten in ihren Revi-

633 634 635 636

Ebenda, S. 275. Urteil vom 25.11.2005, 2 StR 272/05, BGHSt 50, 284. Ebenda, S. 291. 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150.

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sionen geltend machten, dass sie und ihre Verteidiger zu keinem Zeitpunkt des Strafverfahrens Gelegenheit dazu gehabt hätten, der Geschädigten Fragen zu stellen oder Vorhalte zu machen. Diese Vorwürfe hielt der BGH im Ergebnis für begründet und führte in Bezug auf die Rechtsprechung des EGMR aus: „1. Art. 6 Abs. 3 Buchst. d) MRK garantiert – als eine besondere Ausformung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK – das Recht des Angeklagten, ,Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen‘. Die Befragung des Zeugen hat dabei grundsätzlich, aber nicht zwingend in der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten zu erfolgen. Ist ein Zeuge lediglich im Ermittlungsverfahren oder sonst außerhalb der Hauptverhandlung vernommen worden, muss dem Angeklagten entweder zu dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium die Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen selbst zu befragen, unter Umständen über seinen Verteidiger befragen zu lassen. Selbst wenn der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt die Gelegenheit zur konfrontativen Befragung des Zeugen hatte, verstößt dies jedoch nicht ohne weiteres gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. d) i.V. m. Abs. 1 Satz 1 MRK. Entscheidend ist vielmehr, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung fair war (. . .).“ 637

Aus den bereits dargestellten Fällen geht hervor, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens einen wesentlichen Gesichtspunkt bei der Entscheidungsfindung für den BGH darstellt. Aus diesem Grundsatz leitet der BGH direkt konkrete Handlungsdirektiven ab. Die bereits wiedergegebenen Zitate verdeutlichen auch, dass dieser Grundsatz in der Rechtsprechung des BGH ständig präzisiert und differenziert wird. Im Vergleich zu der Rechtsprechung des BGH hat das OG nur in zwei Entscheidungen und in einem relativ geringen Umfang an den Grundsatz des fairen Verfahrens (Polnisch: zasada rzetelnego procesu) angeknüpft. Diese geringe Anzahl der Verweise auf den Grundsatz des fairen Verfahrens muss verwundern, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass 48 von 100 ausgewählten Entscheidungen des OG ausschließlich das Verfahrensrecht betreffen. Weitere 15 Entscheidungen hatten einen gemischten Charakter (materielles Strafrecht und Strafverfahrensrecht). Ohne Zweifel boten einige von diesen 63 Fällen eine Gelegenheit dazu, den Grundsatz des fairen Verfahrens zu berücksichtigen. Dass das OG nur in zwei Fällen an diesen Grundsatz angeknüpft hat, zeugt von der geringen Bedeutung dieses Grundsatzes in der Rechtsprechung des OG. ff) Sonstige verfassungsrechtliche Topoi Im Folgenden werden die ausgewählten Fälle aus der Rechtsprechung des BGH und des OG vorgestellt, in denen die verfassungsrechtliche Argumentation eine wichtige Rolle gespielt hat. Diese Entscheidungen bilden keine homogene 637

Ebenda, S. 154.

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Teil 2: Empirische Analysen

Gruppe, aber angesichts ihres Charakters verdienen sie eine gesonderte Darstellung. BGH Fall 1 In dem schon erwähnten638 Urteil vom 1.7.2005639 befasste sich der BGH mit der Frage, ob ein in einem Krankenzimmer mittels akustischer Wohnraumüberwachung aufgezeichnetes Selbstgespräch des Angeklagten zu dessen Lasten zu Beweiszwecken verwertbar ist. Der BGH verneinte diese Frage mit dem Verweis auf Art. 13 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG mit der Begründung, dass das Selbstgespräch dem geschützten Kernbereich zuzurechnen ist. Die verfassungsrechtliche Argumentation, die auch die Rechtsprechung des BVerfG berücksichtigte, spielt dabei eine entscheidende Rolle. „Das hier geführte Selbstgespräch ist nämlich dem durch Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen (§ 100c Abs. 4 StPO). Erkenntnisse über solche Äußerungen unterliegen einem ,absoluten Verwertungsverbot‘ und dürfen auch im Hauptsacheverfahren nicht verwertet werden (BVerfGE 109, 279, 331). Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit – hier die Aufklärung eines Mordes – können, so das Bundesverfassungsgericht, einen Eingriff in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen (BVerfGE 109, 279, 313, 314). Das Selbstgespräch des Angeklagten in dem Krankenzimmer ist diesem – durch Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten – Kernbereich zuzurechnen. Maßgebend dafür ist eine Kumulation mehrerer Umstände. Es handelte sich um ein aufgrund einer staatlichen Überwachungsmaßnahme aufgezeichnetes Selbstgespräch. Dieses Selbstgespräch hatte der Angeklagte in einem hier von Art. 13 GG geschützten Wohnraum geführt. Der Inhalt des Selbstgespräches war in Bezug auf den Tatvorwurf interpretationsbedürftig.“ 640

BGH Fall 2 Die verfassungsrechtliche Argumentation spielt auch eine entscheidende Rolle in dem Urteil vom 28.10.2004641, in dem der BGH in Bezug auf das Demokratieprinzip und den dazu gehörenden Grundsatz der Wahlgleichheit die §§ 331, 333 StGB bei Einwerbung von Wahlkampfspenden durch einen Amtsträger, der sich um seine Wiederwahl bewarb, einschränkend auslegte. Obwohl der BGH sich bei diesem Urteil vollkommen darüber bewusst war, dass der Gesetzgeber durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13.8.1997 (BGBl. I 2038) die Bestimmungen gegen die Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 1 StGB) und die Vorteilsgewährung (§ 334 Abs. 1 StGB) tatbestandlich erweitert hat und demzufolge das Verhalten

638 639 640 641

Siehe V. 1. a) bb) BGH Fall 4. 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206. Ebenda, S. 210. 3 StR 301/03, BGHSt 49, 276.

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des angeklagten Oberbürgermeisters ohne weiteres vom Tatbestand des § 331 Abs. 1 StGB erfasst wird, was zu seiner Verurteilung führen sollte, weigerte er sich, ein solches Ergebnis anzunehmen. Der Grund dafür liegt gerade in der verfassungsrechtlich garantierten Wahlgleichheit, die nach der Auffassung des BGH bei der Auslegung der Korruptionsdelikte berücksichtigt werden muss. Dazu der BGH: „Wäre (. . .) der sich um die Wiederwahl bewerbende Amtsträger rechtlich völlig davon ausgeschlossen, sich für die Dienstausübung nach der Wahl im Wahlkampf von Dritten finanziell unterstützen zu lassen, würde sein grundrechtlicher Anspruch auf gleiche Wahlchancen in verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise eingeschränkt, da er gegenüber sonstigen Mitbewerbern generell in den Möglichkeiten der Wahlkampfinanzierung und damit in der Effizienz seines Wahlkampfs benachteiligt wäre.“ 642

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Amtsträgerschaft keine Einschränkungen bei der Einwerbung von Wahlkampfspenden fordert. Eine Orientierung findet der BGH in dieser Hinsicht in § 108e StGB (Abgeordnetenbestechung), der den Kauf oder Verkauf einer Abgeordnetenstimme unter Strafe stellt. Danach ist nach der Auffassung des BGH der Kauf oder der Verkauf einer Abgeordnetenstimme für eine konkrete Entscheidung strafbar, nicht jedoch Zuwendungen an einen Abgeordneten, um dessen allgemeine politische Einstellung zu unterstützen und seine Arbeit zu fördern. Dementsprechend gilt für einen Amtsträger: Er macht sich nicht wegen Vorteilsannahme im Sinne des § 331 Abs. 1 StGB strafbar, sofern die Förderung allein dazu dienen soll bzw. dient, dass er nach erfolgreicher Wahl das wiedererlangte Wahlamt in einer Weise ausübt, die den allgemeinen wirtschaftlichen oder politischen Vorstellungen des Vorteilsgebers entspricht. Zeigt sich dagegen der Amtsträger bereit, als Gegenleistung für die Wahlkampfförderung im Falle seiner Wahl eine konkrete, den Interessen des Vorteilsgebers förderliche Entscheidung zu dessen Gunsten zu treffen oder zu beeinflussen, macht er sich der Vorteilsannahme schuldig.643 BGH Fall 3 Allgemeine Grundsätze spielen eine entscheidende Rolle in dem Urteil vom 21.1.2004644, in dem der BGH das Urteil des Landgerichtes aufgehoben hatte, weil die Strafkammer in ihrer Beweiswürdigung zu Lasten des Angeklagten angenommen hat, dass er über einen Zeitraum von sechs Monaten die freiwillige Abgabe einer Speichelprobe hinausgezögerte, obwohl er wusste, dass ihm ein schweres Verbrechen zur Last gelegt wurde und er diesen Vorwurf „bei reinem Gewissen umgehend durch die Abgabe einer Speichelprobe hätte ausräumen kön642 643 644

Ebenda, S. 292. Ebenda, S. 294. 1 StR 364/03, BGHSt 49, 56.

344

Teil 2: Empirische Analysen

nen“.645 In diesem Fall hatte der Angeklagte auf Anfrage der Polizei zweimal die freiwillige Abgabe einer Speichelprobe zugesagt, war entsprechenden Bitten jedoch dann nicht nachgekommen. Der BGH begann seine Argumentation mit der Feststellung, dass die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO ihre Grenze an dem Recht eines jeden Menschen findet, nicht gegen seinen Willen zu einer Überführung beitragen zu müssen (Grundsatz des nemo tenetur se ipsum prodere oder nemo tenetur se ipsum accusare).646 In diesem Satz hat der BGH ausdrücklich eine gesetzliche Regelung mithilfe eines Prinzips eingeschränkt. Man kann daher annehmen, dass die Prinzipien in der Rechtsprechung des BGH auch eine „gesetzeseinschränkende Funktion“ erfüllen. Den Inhalt dieses Grundsatzes hat der BGH im vorliegenden Fall mit dem Verweis auf seine ständige Rechtsprechung konkretisiert, was wiederum von der Bedeutung des Richterrechts in der Begründungskultur des BGH zeugt. Daraufhin führt der BGH aus, dass ein Beschuldigter nicht gehalten ist, zur eigenen Überführung tätig zu werden und an einer Untersuchungshandlung eines Strafverfolgungsorgans oder eines Sachverständigen aktiv mitzuwirken. Ferner darf die Verweigerung der aktiven Mitwirkung dem Beschuldigten nicht als belastendes Beweisanzeichen entgegengehalten werden. „Er hat die Freiheit, sich auch auf diese Weise zu verteidigen; er muß nicht seine Unschuld beweisen (vgl. BGHSt 34, 39, 45, 46; 32, 140 f.; 34, 324, 326; 45, 363, 364 m.w. N.).“ 647

Die Besonderheit des behandelten Falles, dass ein prozessuales Verhalten des Angeklagten im Ermittlungsverfahren in Rede stand, welches eine Mitwirkung an der Erhebung von Anknüpfungstatsachen für ein Sachverständigengutachten zum Gegenstand hatte, die mit den Mitteln der Strafprozessordnung auch erzwingbar ist (§§ 81, 81e StPO), rechtfertigt nach der Auffassung des BGH keine Abweichung von der bisherigen Spruchpraxis zur indiziell belastenden Verwertung prozessualen Verhaltens eines Beschuldigten.648 BGH Fall 4 In dem Beschluss vom 3.3.2004649 setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, ob im Falle der nachträglichen Einbeziehung einer Verurteilung zu Jugendstrafe mit Bewährung in eine Verurteilung zu Jugendstrafe ohne Bewährung Raum für einen die Strafvollstreckung verkürzenden Ausspruch über die Anrechnung von Bewährungsleistungen entsteht. Der BGH verneinte diese Frage, obwohl das StGB eine Anrechnung bei einer nachträglich gebildeten Gesamtfrei645 646 647 648 649

Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 58. Ebenda. Ebenda, S. 58 f. 1 StR 71/04, BGHSt 49, 90.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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heitsstrafe ausdrücklich zulässt. Die Grundsätze des allgemeinen Strafrechts sind jedoch in dieser Hinsicht nach der Auffassung des BGH auf das Jugendstrafrecht nicht übertragbar. In dem letzten Teil der Begründung erwähnt der BGH den Gerechtigkeitsgedanken als Überprüfungsmaßstab für das gefundene Ergebnis. Dazu schreibt der BGH: „Dieses Ergebnis wird auch nicht durch die Überlegung in Frage gestellt, daß es ein Gebot der Gerechtigkeit sei, den Widerruf einer Bewährung gemäß § 26 JGG und den Wegfall einer Bewährung im Hinblick auf § 31 Abs. 2 JGG gleich zu behandeln, da sonst derjenige, der sich um die Bewährungsauflagen nicht gekümmert hat, unangemessen bevorzugt würde (. . .). Im Fall des § 26 JGG steht die nach einem Widerruf zu vollstreckende Strafe ihrer Höhe nach fest. Ein etwa gebotener Ausgleich für Bewährungsleistungen kann nur durch Anrechnung, also eine konkret (,rechnerisch‘) zu bestimmende Verkürzung der Dauer der zu vollstreckenden Strafe erfolgen. Im Fall des § 31 Abs. 2 JGG ist dagegen, wie dargelegt, eine umfassende Neubestimmung der Strafe vorzunehmen. In diesem Rahmen ist in jeder Richtung Raum für die Berücksichtigung der Erfüllung oder der Nichterfüllung von Bewährungsauflagen.“ 650

Vor dem Hintergrund der gezeigten Fälle des BGH (insbesondere Fall 1 und 2) ist festzustellen, dass das OG in keiner von den in die Analyse einbezogenen Entscheidungen in einem so breiten Ausmaß auf die verfassungsrechtliche Argumentation Bezug genommen hat. Der Unterschied zwischen beiden Sammlungen liegt somit nicht nur in der Anzahl der Entscheidungen, in denen verfassungsrechtliche Topoi berücksichtigt werden, sondern auch in dem Umfang verfassungsrechtlicher Argumentation. Abschließend soll noch ein Beschluss des OG vorgestellt werden, in dem sich das OG mit der Problematik der Verantwortung der Richter befasste, die im Kriegszustand der 80er Jahre rückwirkende Strafvorschriften (zu Lasten des Angeklagten) angewendet haben. Diese Entscheidung kann den Eindruck erwecken, dass die fundamentalen Prinzipien des Strafrechts für das OG nur dann gelten, wenn sie im Gesetz ausdrücklich festgelegt sind. Schweigen die Gesetze dazu, sind die Richter von der Anwendung dieser Grundsätze befreit. Der Beschluss rief selbstverständlich heftige Kritik in der Literatur hervor, die hier jedoch nicht ausführlich dargestellt werden kann. Dem OG wurde u. a. vorgeworfen, dass er pseudopositivistische Grundsätze pflege.651 In der Tat hat das OG durch seine Entscheidung die Rolle der fundamentalen Prinzipien relativiert, aber bei der Beurteilung dieser Entscheidung darf der historische Kontext nicht außer Acht gelassen werden.

650

Ebenda, S. 92. Gutachten von J. Zajadło, Pie˛c´ minut antyfilozofii antyprawa. Glosa do uchwały SN z dnia 20 grudnia 2007 r., I KZP 37/07, S. 2, abrufbar unter: http://www.rpo.gov.pl/ pliki/12100650360.pdf (letzter Zugriff: 19.5.2015). 651

346

Teil 2: Empirische Analysen

OG Fall 1 Dem Beschluss (Uchwała) vom 20.12.2007652 lag folgendes Problem zugrunde: Am 12. Dezember 1981 erließ der Staatsrat das Dekret über den Kriegszustand, das auch strafrechtliche Vorschriften vorsah. Das Dekret wurde jedoch erst am 14. Dezember 1981 (Tag der Veröffentlichung)653 in Kraft gesetzt, wobei die Vorschriften des Dekrets (auch die strafrechtliche Bestimmungen) gemäß § 61 vom Tag des Erlasses des Dekrets an gelten sollten. Das Problem lag in der Frage, ob die Gerichte die Taten, die am 13. Dezember 1981 begangen wurden, auf der Grundlage des Dekrets ahnden durften. Das OG bejahte diese Frage mit der folgenden Begründung. Die Volksrepublik Polen war seinerzeit kein Rechtsstaat und die damals geltende Verfassung sah keinen Grundsatz lex retro non agit vor. Demzufolge konnten die Richter sich nicht auf die Verfassung berufen und die Anwendung der rückwirkenden Vorschriften des Dekrets versagen. Ferner gab es damals keine Prozeduren, die erlaubt hätten, die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften des Dekrets zu prüfen; das Verfassungsgericht wurde erst im Jahre 1982 gegründet. Außerdem konnten die Gerichte sich nicht auf internationale Übereinkommen, insbesondere auf den IPBPR, berufen, weil die damalige Verfassung keine unmittelbare Geltung der Vorschriften der internationalen Abkommen in der Rechtsordnung vorsah und in der Literatur strittig war, ob die Gerichte die Vorschriften der internationalen Abkommen unmittelbar anwenden durften. Natürlich setzte sich auch das OG mit dem Argument auseinander, dass der damals geltende KK von 1969 den Grundsatz lex retro non agit in Art. 1 zum Ausdruck brachte. Das OG betonte jedoch, dass die Grundsätze des Allgemeinen Teils des KK von 1969 gemäß Art. 121 KK von 1969 für andere Gesetze nicht unbedingt gelten mussten, d. h., andere Verantwortungsgrundsätze waren nicht von Vornherein ausgeschlossen. Angesichts dieser Umstände und der Bindung der Richter an das Gesetz mussten die Gerichte die rückwirkenden Strafvorschriften anwenden. b) Teleologische Kategorien Zu den wichtigsten Merkmalen der (wertbezogen-) substanziell orientierten Rechtsprechung gehört die Berücksichtigung des Ziels einer Regelung bei der Gesetzesauslegung. Die vorliegende Untersuchung hat ermittelt, dass der BGH und das OG die Zwecke der Regelungen in erster Linie entweder auf der Grundlage der Gesetzesmaterialien (subjektive Auslegung) oder mithilfe sonstiger Kriterien wie Wortlaut, Systematik, Vernunft etc. (objektive Auslegung) feststellen. 652

I KZP 37/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 3. Es hat sich später auch erwiesen, dass der Tag der Veröffentlichung verfälscht wurde. 653

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

347

Das Ausmaß der Anwendung dieser Topoi in der in Betracht gezogenen Stichprobe zeigt die folgende Tabelle. Tabelle 16 Teleologische Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG Teleologische Topoi

BGH

OG

Subjektive Auslegung

29

10

Objektive Auslegung

34

37

Aus der Tabelle folgt, dass sich ein deutlicher Unterschied zwischen der deutschen und der polnischen Rechtsprechung lediglich im Bereich der subjektiven Auslegung feststellen lässt. Während der BGH in 29 Fällen den Zweck eines Gesetzes mithilfe der Entstehungsmaterialien eines Gesetzes ermittelt hat, hat das OG nur in 10 Fällen auf diese Quelle Bezug genommen.654 Demgegenüber lässt sich in der Rechtsprechung beider Gerichte kein nennenswerter Unterschied in der Anzahl der Fälle feststellen, in denen der Gesetzeszweck ohne Rekurs auf die Entstehungsmaterialien des betreffenden Gesetzes festgestellt wird. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Ergebnisse muss dieser Befund im Hinblick auf die Rechtsprechung des OG überraschen. Insbesondere die methodischen Äußerungen des OG und die breite Anwendung der sprachlichen Topoi suggerierten bisher eher eine weitgehend formalistische Orientierung des OG. Die relativ breite Anwendung von teleologischen Topoi weist jedoch darauf hin, dass das OG seinen Auslegungshorizont nicht nur auf die sprachlichen Topoi beschränkt, sondern dabei den Zweck einer Vorschrift durchaus im Auge behält. Im Folgenden sollen die ausgewählten Fälle analysiert werden. aa) Subjektive Auslegung Der Vergleich derjenigen Teile der Entscheidungsbegründungen, in denen der BGH und das OG das Ziel einer Vorschrift auf der Grundlage von Gesetzesmaterialien rekonstruieren, lässt das unterschiedliche Ausmaß dieser Argumentationsform in der Rechtsprechung beider Gerichte erkennen. Der BGH nimmt im Gegensatz zu dem OG in einem sehr erheblichen Umfang auf die Gesetzesmaterialien Bezug. Um diesen Unterschied zu zeigen, sollen die ausgewählten 654 Bielska-Brodziak hat auf der Grundlage einer Analyse der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung festgestellt, dass der Zweck einer Vorschrift vor allem in Bezug auf den jeweiligen Wortlaut festgestellt wird. Siehe dazu A. Bielska-Brodziak, O rodzajach argumentów interpretacyjnych, in: W. Stas´kiewicz/T. Stawecki (Hrsg.), Dyskrecjonalnos´c´ w prawie, 2010, S. 330. Zu einer ähnlichen Feststellung kam Gizbert-Studnicki im Hinblick auf die zivilrechtliche Rechtsprechung des OG. Siehe dazu T. Gizbert-Studnicki, Wykładnia celowos´ciowa, Studia Prawnicze 3–4/1985, S. 55.

348

Teil 2: Empirische Analysen

Abschnitte aus der Entscheidungsbegründung in einem größeren Umfang gezeigt werden. Weitere Beispiele werden im Anhang B dargestellt. BGH Fall 1 Im Urteil vom 20.11.2003655 hat der BGH seine bisherige Rechtsprechung zu § 316a StGB aufgehoben und eine enger am Schutzzweck orientierte Auslegung für geboten erachtet. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde. Der Angeklagte wies einem Taxifahrer an, auf einen von dem ursprünglich ins Auge gefassten Fahrziel nicht weit entfernten Parkplatz neben einem einsam gelegenen Baggersee abzubiegen und dort nach einer kurzen Strecke anzuhalten. Dem kam der Taxifahrer nach, der auch den Motor des Fahrzeugs ausstellte. Als der Fahrer gerade dabei war, die Innenbeleuchtung einzuschalten, um die Fahrt abzurechnen, ergriff der Angeklagte seine Arme und drückte sie nach unten, während der andere Mitangeklagte ihm den linken Arm um den Hals legte und mit großer Kraft den Kopf nach hinten zog, wodurch der Taxifahrer in Todesangst geriet. Der Mitangeklagte forderte nunmehr von dem Taxifahrer die Herausgabe von Geld und anderen Gegenständen, dem der Fahrer nachgekommen ist. Wie bereits festgestellt wurde, verneinte der BGH in diesem Fall einen räuberischen Angriff auf einen Kraftfahrer im Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung, nach der der Tatbestand des § 316a StGB weitgehend im Sinne eines durch den bloßen Zusammenhang mit der Benutzung eines Kraftfahrzeugs qualifizierten Raubtatbestandes mit weit vorverlagerter Strafbarkeit aufgefasst worden war. In diesem Fall erachtete der BGH jedoch eine enger am Schutzzweck und den einzelnen Tatbestandsmerkmalen des § 316a StGB orientierte Auslegung für geboten. „Der Senat trägt damit zugleich dem gesetzgeberischen Anliegen des 6. StrRG Rechnung, durch das der Deliktscharakter des § 316 a StGB von dem früheren Unternehmensdelikt in ein Delikt geändert wurde, das durch ,Verüben eines Angriffs‘ begangen wird (vgl. BT-Drucks. 13/8587 S. 51). Denn Ziel dieser Änderung war es auch, unangemessene Ergebnisse zu vermeiden, die sich aus der weit in den Bereich der Vorbereitungshandlungen der Raubtaten verlegten Strafbarkeit ergeben können (vgl. BT-Drucks. a. a. O.).“ 656

Die entscheidende Argumentation in dieser Entscheidung betrifft zwei Tatbestandsmerkmale, und zwar den Begriff des „Angriffs“ und den Begriff des „Führers“. Zunächst stellte der BGH fest, dass schon die Einordnung der Vorschrift des § 316a StGB in den Abschnitt über gemeingefährliche Straftaten verdeutliche, 655 656

4 StR 150/03, BGHSt 49, 8. Ebenda, S. 11.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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dass die Vorschrift in erster Linie dem Schutz vor sog. „Autofallen“ diene und neben individuellen Rechtsgütern zumindest gleichrangig den Schutz der Sicherheit des Kraftfahrverkehrs auf den Straßen bezwecke. Ausgehend von dieser Zielrichtung der Strafvorschrift des § 316a StGB, erfasse der Tatbestand als taugliche Tatopfer eines unter den spezifischen Bedingungen des Straßenverkehrs in räuberischer Absicht auf Leib oder Leben oder die Entschlussfreiheit verübten „Angriffs“ nur den „Führer“ oder den „Mitfahrer“ eines Kraftfahrzeugs. Erforderlich sei daher, dass das Opfer diese Eigenschaft im Tatzeitpunkt, d. h. nicht im Zeitpunkt des Tatentschlusses, sondern bei Verüben des Angriffs habe. An dieser zeitlichen Verknüpfung fehle es im behandelten Fall nach Auffassung des BGH; denn solange der Geschädigte das Taxi führte, verübten die Angeklagten keinen Angriff auf ihn; als sie zugleich mit dem Beginn des räuberischen Überfalls den Geschädigten angriffen, war dieser nicht mehr Führer seines Taxis. Wie der BGH dazu kam, dass das Opfer kein Führer seines Taxis mehr war, zeigt die folgende Argumentation. Nach Auffassung des BGH ist für die Bestimmung des Begriffes „Führer“ maßgeblich „die mit der Vorschrift des § 316a StGB verfolgte gesetzgeberische Intention, Führer und Mitfahrer von Kraftfahrzeugen davor zu schützen, gerade wegen ihrer Teilnahme am Straßenverkehr leichter Opfer von räuberischen Angriffen zu werden. Führen eines Kraftfahrzeugs liegt deshalb zwar in erster Linie, aber nicht nur vor, wenn und solange das Fahrzeug sich in Bewegung befindet (. . .). Daher ist Führer im Sinne des § 316a StGB, wer das Kraftfahrzeug in Bewegung zu setzen beginnt, es in Bewegung hält oder allgemein mit dem Betrieb des Fahrzeugs und/oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt ist (. . .).“ 657 Nach diesen Grundsätzen war der Geschädigte nach Ansicht des BGH in dem Zeitpunkt, als der Angeklagte erstmals auf ihn einwirkte, nicht mehr Führer des Kfz. BGH Fall 2 Im Urteil vom 25.11.2004658 hat der BGH u. a. mithilfe von Gesetzesmaterialien die Möglichkeit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei „Spielsucht“ verneint: „Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der Vorgängernorm des heutigen § 64 StGB durch das – in weiten Teilen noch aus langjährigen Reformbemühungen der Weimarer Zeit hervorgegangene (vgl. BGHSt 49, 239) – Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über die Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl I 995) nach der amtlichen Begründung den Fall des straffälligen Spielers bedacht und die Anordnung besonderer Maßregeln für ihn abgelehnt (vgl. ReichsAnz Nr. 277 vom 27. November 1933 Erste Beilage S. 3). Die Neufassung des § 64 StGB durch das 2. StrRG vom 4. Juli 1969 (BGBl. I 717, vgl. Begrün-

657 658

Ebenda, S. 14. 5 StR 411/04, BGHSt 49, 365.

350

Teil 2: Empirische Analysen

dung in BT-Drucks. V/4095 S. 26 f.) gibt – nicht anders als die seitherigen Reformvorhaben zur Änderung des Maßregelrechts (vgl. zuletzt den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 19. Mai 2004) – keinen Anlaß zu einer abweichenden Beurteilung des Willens des Gesetzgebers.“ 659

BGH Fall 3 Das Ziel der Regelung rekonstruiert der BGH auf der Grundlage der Gesetzesmaterialien auch in seinem Beschluss vom 2.12.2004660. In dieser Entscheidung ist der BGH bei der Auslegung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO zu dem umstrittenen Ergebnis gekommen, dass diese Vorschrift auch für diejenigen Fälle Anwendung findet, in denen der Schuldspruch geändert wird, obwohl der Wortlaut der Vorschrift eindeutig über die Gesetzesverletzungen bei der Zumessung der Strafe spricht. Auf das Ziel, das in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommt, beruft sich der BGH im folgenden Zitat: „Erklärtes Ziel der gesetzlichen Neuregelung ist es, zum Zwecke der Ressourcenschonung und der Verfahrensbeschleunigung Zurückverweisungen an die Vorinstanz wegen Rechtsfehlern bei der Zumessung der Rechtsfolge nicht nur in den Fällen zu vermeiden, in denen das Revisionsgericht ausschließen kann, daß die konkret verhängte Strafe auf dem vom Tatrichter bei der Strafzumessung begangenen Rechtsfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Vielmehr soll das Urteil auch dann rechtskräftig werden, wenn das Revisionsgericht die verhängte Strafe trotz des Rechtsfehlers bei ihrer Zumessung im Ergebnis für angemessen erachtet, selbst wenn nicht festgestellt werden kann, daß der Tatrichter ohne den Fehler auf dieselbe Strafe erkannt hätte (vgl. BT-Drucks. 15/3482 S. 21 f.).“ 661

BGH Fall 4 Im Beschluss vom 22.2.2005662 stellte der BGH fest, dass die durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13.8.1997663 angeordnete Verlängerung der Verjährung für Kartellordnungswidrigkeiten von drei auf fünf Jahre auch für diejenigen Taten gilt, die vor dem Inkrafttreten des Verlängerungsgesetzes begangen wurden, soweit sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt waren. In Bezug auf die Gesetzesmaterialien argumentiert der BGH ausführlich: „Aus den Gesetzesmaterialien läßt sich gleichfalls nicht entnehmen, daß der Wille des Gesetzgebers bestanden hätte, die Verlängerung der Verjährung auf solche Ordnungswidrigkeiten zu beschränken, die nach Inkrafttreten des Gesetzes begangen wurden. Zwar waren die – relativ spät in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachten – Änderungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und des Ordnungs659 660 661 662 663

Ebenda, S. 368. 3 StR 273/04, BGHSt 49, 371. Ebenda, S. 373. KRB 28/04, BGHSt 50, 30. BGBl. I 2038.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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widrigkeitengesetzes als flankierende gesetzliche Maßnahme im Zuge der Einführung des Straftatbestandes der wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Ausschreibungen (§ 298 StGB) für notwendig erachtet worden (BT-Drucks. 13/8079, S. 16). Dies läßt jedoch nicht den Schluß zu, der Gesetzgeber habe auch die verlängerte Verjährungsfrist auf solche Ordnungswidrigkeiten beschränken wollen, die erst nach Inkrafttreten des mit dem Korruptionsbekämpfungsgesetz geschaffenen Straftatbestands des § 298 StGB begangen wurden. Vielmehr ergibt sich aus der Begründung, daß bereits im Hinblick auf häufig erforderliche zeitraubende Ermittlungen wegen des Verdachts des Betruges (§ 263 StGB) die bisherige dreijährige Verjährungsfrist als unangemessen kurz empfunden wurde (BT-Drucks. a. a. O.). Die Materialien deuten damit eher auf die Absicht des Gesetzgebers hin, generell für Ordnungswidrigkeiten nach § 38 Abs. 1 Nr. 1 und 8 GWB a. F., bei denen wegen ihres gravierenden wettbewerbsbeschränkenden Charakters häufig auch Straftaten nach § 263 StGB in Betracht kommen werden, die Verjährungsfrist zu verlängern. Daß die Begründung dabei die Formulierung gebraucht, ,um künftig für die Verfolgung solcher Taten einen ausreichenden Zeitraum zur Verfügung zu haben‘, spricht nicht gegen die vorgenommene Auslegung. Die Begründung bezieht sich insoweit mit dem Begriff ,künftig‘ auf die Verfolgbarkeit der Taten und schließt damit auch bereits begangene Ordnungswidrigkeiten ein. Dabei mag die Begründung – wie sich aus der Formulierung ,insbesondere wenn ein Strafverfahren wegen wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen (§ 298 StGB) vorher geführt und eingestellt wurde‘ ergibt – bei diesem neu geschaffenen Straftatbestand eine besondere praktische Notwendigkeit für die Regelung gesehen haben. Eine Beschränkung der Verlängerung der Verjährungsfrist auf solche Taten, die erst nach Inkrafttreten des neugeschaffenen Straftatbestands des § 298 StGB begangen wurden, kann hieraus jedoch nicht entnommen werden. Damit findet auch die durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz seit dem 20. August 1997 angeordnete Verlängerung der Verjährungsfrist auf fünf Jahre Anwendung (Kleinmann/Berg, BB 1998, 277, 281).“ 664

Dieser Fall lässt besonders deutlich erkennen, in welchem Umfang der BGH in seinen Begründungen auf die Gesetzesmaterialien Bezug nehmen kann. Die Gesetzesmaterialien wurden vom BGH in dem zitierten Teil der Begründung aus verschiedenen Perspektiven behandelt. In keiner der in Betracht gezogenen Entscheidungen des OG hat sich das höchste Gericht Polens mit den Entstehungsmaterialien bei der Rekonstruktion des gesetzlichen Ziels so ausführlich auseinandergesetzt. Dieser Unterschied muss in der vorliegenden Arbeit deutlich hervorgehoben werden. Das wiedergegebene Zitat ist auch aus einem anderen Grund für die vorliegende Untersuchung interessant. Es bringt zum Ausdruck, dass der BGH dazu bereit ist, die Gesetzesmaterialien zu interpretieren, um den „wahren“ Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. Dass der BGH die Gesetzesmaterialien interpretiert, ist allerdings nicht überraschend, denn sie kommen als Formulierungen der Sprache zum Ausdruck und müssen demzufolge verstanden werden. Dabei sind unterschiedliche Interpretationen denkbar. Die vom BGH dabei verwendeten Worte 664

BGHSt 50, 38 f.

352

Teil 2: Empirische Analysen

(„Die Materialien deuten damit eher auf die Absicht des Gesetzgebers hin, . . .“) verschleiern diesen Umstand kaum. BGH Fall 5 Die Gesetzesmaterialien sind auch im Urteil des BGH vom 27.4.2005665 präsent. In dieser Entscheidung hat der BGH entgegen der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und der ausländerrechtlichen Kommentarliteratur bei der Auslegung des § 58 Abs. 1 Nr. 1 AuslG666 ausschließlich auf formelle (und nicht auf materielle) Gesichtspunkte abgestellt. Dabei stellt der BGH die Argumente der Gegner dar, die sich auf die Gesetzesmaterialien stützen: „Zur Begründung dieser Auffassung wird im wesentlichen auf den Wortlaut des § 58 Abs. 1 Nr. 1 AuslG und den Willen des Gesetzgebers abgestellt. (. . .). Diese materiell-rechtliche Betrachtungsweise entspreche der Intention der Regelung, als Instrument der Zuwanderungskontrolle die materielle Frage, ob sich der Ausländer im Bundesgebiet aufhalten darf, vor dessen Einreise zu prüfen und zu entscheiden (BT-Drucks. 11/6321 S. 81 zu § 71 Abs. 2 AuslG; VGH Kassel InfAuslR 1994, 349, 350). Konzeption und Gesetzessystematik verdeutlichen, daß § 58 Abs. 1 AuslG auf die materiell-rechtlich unerlaubte Einreise abstelle. Dessen Anknüpfungspunkt sei die in § 3 Abs. 1 Satz 1 AuslG erwähnte Genehmigungspflicht für Einreise und Aufenthalt. Der Gesetzgeber habe zwischen Einreise und Aufenthalt keine Unterscheidung getroffen. Die Frage der Erlaubniserteilung sei einheitlich zu beurteilen. In den Gesetzesmaterialien zu § 58 Abs. 1 AuslG sei zudem von der ,materiell unerlaubten Einreise‘ die Rede (BT-Drucks. 11/6321 S. 76).“ 667

Obwohl die Gesetzesmaterialien für eine materielle Betrachtungsweise sprechen, sind sie für den BGH nicht überzeugend. Als Gegenargument verwendet der BGH die Begründungen der Entwürfe des Zuwanderungsgesetzes, das das Ausländergesetz ersetzt hat. „cc) Für das Abstellen nur auf formale Gesichtspunkte spricht nunmehr auch das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz, durch das das Ausländergesetz aufgehoben und durch das Aufenthaltsgesetz ersetzt worden ist. Nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist die Einreise unerlaubt, wenn der Ausländer keine nach § 4 AufenthG erforderliche Aufenthaltsgenehmigung vorweisen kann. In der Begründung zu den Gesetzesentwürfen heißt es dazu durchgehend, daß sich die Erforderlichkeit des Aufenthaltstitels nach objektiven Kriterien und nicht nach dem beabsichtigten Zweck bemißt. Der Gesetzgeber beabsichtigte hiermit eine Klarstellung angesichts der unterschiedlichen Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur (14. Wahlperiode: Gesetzentwurf der Bundesregierung BR-Drucks. 921/01 S. 151; Gesetzesentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen BT-Drucks. 14/387 S. 68;

665

2 StR 457/04, BGHSt 50, 106. § 58 Abs. 1 Nr. 1 AuslG lautet: „(1) Die Einreise eines Ausländers in das Bundesgebiet ist unerlaubt, wenn er 1. eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung nicht besitzt“. 667 BGHSt 50, 111. 666

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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15. Wahlperiode: Gesetzesentwurf der Bundesregierung BR-Drucks. 22/03 S. 164; BT-Drucks. 15/420 S. 73).“ 668

Diese Zitate zeigen erneut, wie umfangreich und ausführlich der BGH sich mit den Gesetzesmaterialien auseinandersetzt. BGH Fall 6 Im Urteil vom 6.4.2006669 hat der BGH die Möglichkeit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB verneint, wenn der Verurteilte gemäß §§ 306a Abs. 2, 223, 52 StGB wegen schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Zur Begründung wird angeführt, dass zu den gegen die körperliche Unversehrtheit gerichteten Verbrechen i. S. d. § 66b Abs. 1 StGB nur solche gehören, die im 17. Abschnitt des BT (Straftaten gegen körperliche Unversehrtheit) aufgeführt sind. Da § 306a StGB in diesem Abschnitt nicht erwähnt wird, komme die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht in Betracht. Die Materialien des Gesetzgebers hält der BGH in diesem Zusammenhang für nicht eindeutig. Trotzdem setzte er sich mit ihnen erneut auseinander, was einmal mehr von der Bedeutung dieser Erkenntnisquelle in seiner Rechtsprechung zeugt. BGH Fall 7 Es ist ebenfalls nicht zu übersehen, dass für den BGH die Gesetzesmaterialien keinen absoluten Rang haben, was angesichts der Bedeutung des Art. 103 Abs. 2 GG in der deutschen Rechtskultur nicht überraschen kann. Davon zeugt der behandelte Fall (das Urteil vom 28.10.2004670), in dem der BGH von dem auf der Grundlage der gesetzlichen Materialien rekonstruierten Willen des Gesetzgebers abgewichen ist. In dieser Entscheidung hat der BGH die Vorschriften der §§ 331, 333 StGB im Falle der Einwerbung von Wahlkampfspenden durch einen Amtsträger, der sich um seine Wiederwahl bewirbt, auf der Grundlage teleologischer Kriterien einschränkend ausgelegt. Die Gesetzesmaterialien würden ein anderes Ergebnis nahelegen, was der BGH auch ausdrücklich betont. „1. Vor dem Hintergrund einer Häufung aufsehenerregender Bestechungsfälle in der öffentlichen Verwaltung und der wachsenden Besorgnis, daß organisierte Kriminalität mit korruptiven Mitteln in verstärktem Maße in staatliche Strukturen eindringt (vgl. Bauer/Gmel in LK 11. Aufl. Nachtrag zu §§ 331–338 Rdn. 2 m.w. N.), hat der Gesetzgeber, um das Vertrauen der Bürger in die Integrität des Staates als einen der Eckpfeiler der Gesellschaft auch für die Zukunft sicherzustellen (vgl. den Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP vom 24. September 1996, BT-Drucks. 668 669 670

Ebenda, S. 114. 1 StR 78/06, BGHSt 51, 25. 3 StR 301/03, BGHSt 49, 276.

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Teil 2: Empirische Analysen

13/5584 S. 1 und 8, den die Bundesregierung unverändert übernommen hat, s. BTDrucks. 13/6424), durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13. August 1997 (BGBl. I S. 2038) u. a. nicht nur die Strafandrohungen der einschlägigen Strafvorschriften in §§ 331 ff. StGB verschärft, sondern auch die Bestimmungen gegen die Vorteilsannahme (§ 331 Abs. 1 StGB) und die Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1 StGB) tatbestandlich erweitert. Gemäß § 331 Abs. 1 StGB aF machte sich ein Amtsträger wegen Vorteilsannahme nur strafbar, wenn er als Gegenleistung für eine vergangene oder künftige Diensthandlung einen Vorteil für sich selbst forderte, sich versprechen ließ oder annahm. Nach der Neufassung der Vorschrift reicht es nunmehr zum einen auch aus, wenn der Amtsträger den Vorteil für einen Dritten fordert, sich versprechen läßt oder annimmt. Zum anderen muß der Vorteil nicht mehr als Gegenleistung für eine bestimmte oder zumindest hinreichend bestimmbare (vgl. BGHSt 32, 290, 291; 39, 45, 46 f.; BGH NStZ 2001, 425, 426) Diensthandlung des Amtsträgers gedacht sein. Vielmehr genügt es, wenn er von Vorteilsgeber und Vorteilsnehmer allgemein im Sinne eines Gegenseitigkeitsverhältnisses mit der Dienstausübung des Amtsträgers verknüpft wird. Korrespondierend wurde der Tatbestand der Vorteilsgewährung (§ 333 Abs. 1 StGB) in gleicher Weise neu gefaßt. Mit dieser Erweiterung von § 331 Abs. 1 StGB und § 333 Abs. 1 StGB sollten zum einen die Fälle, in denen durch die Vorteile nur das generelle Wohlwollen des Amtsträgers erkauft bzw. ,allgemeine Klimapflege‘ betrieben wird, in den Tatbestand einbezogen sowie die Schwierigkeiten überwunden werden, die sich bei der Anwendung dieser Vorschriften in ihrer ursprünglichen Fassung daraus ergaben, daß vielfach die Bestimmung des Vorteils als Gegenleistung für eine bestimmte oder zumindest hinreichend bestimmbare Diensthandlung aufgrund der Besonderheiten der Sachverhaltsgestaltungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisbar waren (vgl. den Bericht und die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestags vom 26. Juni 1997, BT-Drucks. 13/8079 S. 15). Zum anderen sollten auch die – strafwürdigen – Fälle erfaßt werden, in denen der Amtsträger den Vorteil zwar für eine Diensthandlung, aber, oftmals auch zur Umgehung der einschlägigen Strafvorschriften, zugunsten eines Dritten – insbesondere für ,Personenvereinigungen‘ – fordert, sich versprechen läßt oder annimmt, ohne daß erkennbar bzw. nachweisbar ist, daß die Zuwendung auch den Amtsträger zumindest mittelbar besserstellt; denn – so die Begründung – die geschützten Rechtsgüter seien durch derartige Zuwendungen in gleicher Weise beeinträchtigt wie bei Vorteilen, die dem Amtsträger selbst zugute kommen (Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP vom 24. September 1996, a. a. O. S. 16). 2. Als Folge dieser erheblichen Ausweitung der Strafbarkeit ist die Annahme des Landgerichts, daß das Verhalten des Angeklagten (. . .) – vorbehaltlich der Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung – ohne weiteres vom Tatbestand der Vorteilsannahme gemäß § 331 Abs. 1 StGB nF erfaßt würde, nicht zu beanstanden.“ 671

Trotz dieser Feststellung ist der BGH, wie bereits erwähnt, zu einem anderen Ergebnis gekommen.

671

Ebenda, S. 280 f.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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BGH Fall 8 Die Relativierung der Gesetzesmaterialien kann auch im Urteil vom 8.7. 2005672 festgestellt werden, in dem der BGH entgegen den Gesetzesmaterialien ausgeführt hat, dass der Ausspruch eines Vorbehalts nach § 66a StGB die Feststellung eines Hanges im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB voraussetzt: „Zwar kann den Gesetzesmaterialien entnommen werden, daß der Gesetzgeber davon ausging, ein Hang müsse für die Anordnung des Vorbehalts gemäß § 66 a Abs. 1 StGB nicht sicher festgestellt sein. Denn er wollte gerade einen zusätzlichen Schutz der Bevölkerung durch eine Vorbehaltsanordnung bei solchen Tätern erreichen, bei denen ,zum Zeitpunkt des Urteils der ,Hang‘ i. S. v. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden kann‘ (BT-Drucks. 14/8586 S. 5, 6). (. . .) Die geschilderte gesetzgeberische Absicht führt aber nicht zu einer Gesetzesauslegung, bei der auf die Feststellung eines Hangs bei § 66 a Abs. 1 StGB zu verzichten ist. Denn die gesetzgeberische Intention hat im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag gefunden. Die Notwendigkeit der Feststellung eines Hangs ergibt sich nach dem Gesetzeswortlaut jedenfalls aus dem Verweis auf ,die übrigen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3‘ (Lackner/Kühl a. a. O. § 66 a Rdn 36).“ 673

Im Ergebnis kam der BGH zu der oben dargestellten Konklusion. In diesem Zitat hat der BGH an die Andeutungstheorie angeknüpft, indem er festgestellt hat, dass die gesetzgeberische Intention im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag gefunden hat, so dass sie nicht entscheidend sein kann. Dem Wortlaut der Vorschrift wurde somit der Vorrang eingeräumt. BGH Fall 9 Der BGH nimmt auch dann Bezug auf die Gesetzesmaterialien, wenn sie nach seiner Auffassung „unergiebig“ sind. Dass er sich mit ihnen auseinandersetzt, zeugt aber wiederum von der Rolle dieser Argumentation in der Rechtsprechung des BGH. Als Beispiel kann der Beschluss vom 27.4.2005674 angesehen werden, in dem der Große Senat für Strafsachen feststellte, dass die strafrechtliche Entziehung der Fahrerlaubnis wegen charakterlicher Ungeeignetheit bei Taten im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges voraussetzt, dass die Anlasstat tragfähige Rückschlüsse darauf zulässt, dass der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen. „Der Große Senat für Strafsachen stützt sich für seine Auffassung nicht auf eine gesetzeshistorische Auslegung zu § 69 StGB und dessen Vorgängervorschrift (§ 42 m StGB), denn die Gesetzesmaterialien sind insoweit letztlich unergiebig. Zwar spre672 673 674

2 StR 120/05, BGHSt 50, 188. Ebenda, S. 194 f. GSSt 2/04, BGHSt 50, 93.

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Teil 2: Empirische Analysen

chen – wie der 4. Strafsenat in seinem Vorlagebeschluß (NJW 2004, 3497) näher dargelegt hat – die gesetzgeberischen Überlegungen zur Einführung dieser Maßregel durch das (erste) Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19. Dezember 1964 (BGBl. I 921) für die Sicherheit des Straßenverkehrs als Schutzzweck (vgl. BTDrucks. IV/651 S. 9, 16). Andererseits lassen sich die Materialien namentlich zur Änderung des § 69 b StGB (betreffend ausländische Fahrerlaubnisse) durch das 32. Strafänderungsgesetz vom 1. Juni 1995 (BGBl. I 747) auch dahin deuten, daß sich ,im Interesse einer wirksamen Kriminalitätsbekämpfung‘ eine die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigende Ungeeignetheit im Sinne des § 69 Abs. 1 StGB schon aus der Begehung schwerwiegender Zusammenhangstaten als solcher ergeben können soll (vgl. BT-Drucks. 13/198 S. 3, 4, 5).“ 675

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Verweise auf die Gesetzesmaterialien bei der Rekonstruktion des Gesetzes- bzw. des Vorschriftenzieles in der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH keine Ornamente sind, sondern inhaltliche Argumente beinhalten, die das Auslegungsergebnis beeinflussen können. Das gezeigte empirische Material (siehe weitere 10 Fälle im Anhang B Pkt. 4.) widerspricht zugleich der These, dass der BGH ausschließlich die „objektive“ Auslegung bevorzugt, die sich gewöhnlich als Gegensatz zu der „subjektiven“ Auslegung definiert. Der BGH versucht, zumindest in den gezeigten Entscheidungen, den „Willen“ des Gesetzgebers zu rekonstruieren, wobei er auch bereit ist, von ihm abzuweichen, wenn andere gewichtige Gründe, insbesondere der Wortlaut, dafür sprechen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der BGH neben der Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien sehr oft Ausdrücke verwendet, die deutlich machen sollen, dass der Gesetzgeber diese Entscheidung gewollt hat, was etwa das folgende Zitat zeigt: „Die dadurch angestrebte Folge, daß auch die Aufwendungen nutzlos sind, soll zur Verhinderung gewinnorientierter Straftaten – und insbesondere diese wollte der Gesetzgeber erfassen – beitragen.“ 676

Durch diese Vorgehensweise will der BGH beweisen, dass er den Willen des Gesetzgebers realisiert. Vielleicht kann die Bezugnahme auf den Gesetzgeber darin ihren Grund haben, dass dem BGH relativ oft von der Seite der Kritiker die objektive Auslegungsmethode vorgeworfen wird, die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass kein Bezug auf den Willen des Gesetzgebers genommen wird. Um diese Vorwürfe zu entkräften, kann die ausdrückliche Bezugnahme auf den Willen des Gesetzgebers hilfreich sein. Im Vergleich zu der Rechtsprechung des BGH spielen die Gesetzesmaterialien bei der Rekonstruktion des Gesetzes- bzw. Vorschriftenzieles in der Rechtsprechung des OG eine wesentlich bescheidenere Rolle. Diese Feststellung trifft nicht nur für die Anzahl der Entscheidungen zu, in denen das OG das Gesetz- bzw. Vorschriftenziel mithilfe von Gesetzesmaterialien ermittelt, sondern auch für den 675 676

Ebenda, S. 99 f. Urteil vom 16.5.2006, 1 StR 46/06, BGHSt 51, 65, 67.

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Umfang der diesbezüglichen Argumentation. In keiner der in Betracht gezogenen Entscheidungen des OG wurde eine so breite Argumentation zur Rekonstruktion des Gesetzgeberwillens wie im bereits gezeigten Fall 4 des BGH festgestellt. Erst vor dem Hintergrund der dargestellten Entscheidungen des BGH lässt sich jedoch dieser Unterschied deutlich zeigen. OG Fall 1 Zunächst ist der Beschluss (Postanowienie) vom 8.11.2006677 zu erwähnen, in dem das OG auf die Gesetzesmaterialien bei der Auslegung des Begriffes „seine Vorführung in die Hauptverhandlung unmöglich macht“ im Sinne von Art. 377 § 3 KPK678 in einem relativ geringen Ausmaß Bezug genommen hat: „Es muss an dieser Stelle betont werden, dass der Zweck des Art. 377 KPK der Vorbeugung ,der immer häufigeren Praxis der Verfahrensverzögerung entgegenwirken soll, wobei die grundlegenden Verfahrensrechte des Angeklagten nicht verletzt werden dürfen‘ (vgl. Begründung des Regierungsentwurfes zum neuen Strafprozesskodex, in: Die Neuen Strafkodizes von 1997 mit Begründungen, Warschau 1997, S. 430).“ 679

OG Fall 2 Des Weiteren ist der Beschluss (Postanowienie) vom 26.1.2007680 zu erwähnen. In dieser Entscheidung befasst sich das OG mit der Frage, ob der Verletzte über den Termin der Gerichtsverhandlung benachrichtigt werden soll. Nach der alten Rechtslage (Art. 384 § 2 KPK a. F.681) war anerkannt, dass das Gericht diese Pflicht in jedem Fall erfüllen muss. Nach der Reform des Jahres 2003682 wurde strittig, ob das Gericht den Verletzten über den Termin der Gerichtsverhandlung benachrichtigen soll. Das OG kam abschließend zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber durch die Reform lediglich das Verfahren beschleunigen und in

677 III KK 83/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 27. Dieser Fall ist im Pkt. F. II. OG Fall 6 ausführlich dargestellt. 678 Art. 377 § 3 KPK lautet: „Erklärt der ordnungsgemäß von dem Termin benachrichtigte Angeklagte, dass er an der Verhandlung nicht teilnehmen wird oder macht er seine Vorführung in die Verhandlung unmöglich oder erscheint er in einer Gerichtsverhandlung nach der persönlichen Benachrichtung über den Termin unentschuldigt nicht, kann das Gericht das Verfahren ohne seine Teilnahme durchführen, es sei denn, es erachtet die Anwesenheit des Angeklagten für notwendig. (. . .).“ Eigene Übersetzung. 679 OSNKW 2007, Nr. 1, S. 31 f. 680 I KZP 33/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 13. 681 Art. 384 § 2 KPK a. F. lautete: „Der Verletzte hat das Recht, an der Verhandlung teilzunehmen und im Saal zu bleiben, auch wenn er als Zeuge aussagen soll. (. . .).“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 682 Art. 384 § 2 KPK n. F. lautet: „Der Verletzte hat das Recht, an der Verhandlung teilzunehmen, sofern er erscheint, und im Saal zu bleiben, auch wenn er als Zeuge aussagen soll. (. . .).“ Eigene Übersetzung.

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keinem Fall die Rechte des Verletzten einschränken wollte.683 Zur Unterstützung dieses Ergebnisses zitiert es die Begründung zum Reformgesetz: „Es wird vorgeschlagen, dass der Verletzte die Befugnis der Teilnahme an der Gerichtsverhandlung behalten soll, aber es fehlt an den Gründen, aufgrund welcher auch die sogar gerechtfertigte Abwesenheit des Verletzten der Einleitung des Verfahrens entgegenstehen könnte. Daher sollte der Inhalt des Art. 384 § 2 ergänzt werden, damit die Abwesenheit des Verletzten der Fortsetzung der Gerichtsverhandlung nicht entgegensteht (Druck Nr. 128 Sejm RP IV. Kadenz, S. 66).“ 684

OG Fall 3 Eine weitere Entscheidung, die Unklarheiten wegen einer Gesetzesreform beheben sollte, erließ das OG am 26.4.2007685. In dieser (weiter oben schon einmal in anderem Zusammenhang herangezogenen) Entscheidung lautete die zentrale Frage, ob eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (spółka cywilna) zu den Subjekten gehört, die in Art. 9 § 3 des Steuerstrafgesetzbuches686 (Kodeks karny skarbowy) genannt sind. Das OG verneinte diese Möglichkeiten, obwohl die funktionelle Auslegungsmethode eindeutig dagegen sprach. Neben dem Grundsatz der terminologischen Konsequenz beruft sich das OG in dieser Entscheidung auf die Gesetzesmaterialien, die das Ziel der Reform des Art. 9 § 3 KKS nach der Auffassung des OG eindeutig klären. Aus dem Regierungsentwurf ging nach der Auffassung des OG hervor, dass das Ziel der Reform nicht in der Einschränkung der strafrechtlichen Verantwortung liegt.687 Gleichwohl wurde im Parlament die Fassung des § 9 Abs. 3 KKS geändert. In den gesetzgeberischen Materialien (Bulletin Nr. 4652/IV aus der Sitzung der außerordentlichen Kommission zur Änderung der Kodifikationen vom 2.4.2005) wurde nach der Auffassung des OG eindeutig festgestellt, dass die geplante Änderung die Vorschriften des KKS mit den Vorschriften des Zivilkodex synchronisieren soll. Da der Zivilkodex der Gesellschaft bürgerlichen Rechts keine Rechtsfähigkeit verleiht, kann sie nicht zu den im Art. 9 § 3 KKS aufgezählten Einheiten gehören.

683

OSNKW 2007, Nr. 2, S. 22. Ebenda, S. 21 f. 685 Beschluss (Uchwała), I KZP 7/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 28. 686 Art. 9 § 3 KKS lautet: „Für steuerrechtliche Straftaten oder auch Ordnungswidrigkeiten trägt, wie ein Täter, auch derjenige die Verantwortung, der sich auf der Grundlage einer Rechtsvorschrift, einer Entscheidung des zuständigen Organs, eines Vertrages oder faktischer Tätigkeiten mit wirtschaftlichen, insbesondere mit finanziellen Angelegenheiten einer natürlichen oder juristischen Person befasst. Dasselbe gilt für denjenigen, der sich mit den Angelegenheiten einer organisatorischen Einheit befasst, die keine Rechtspersönlichkeit hat, die ihr aber auf der Grundlage anderer Vorschriften verliehen wird.“ Übersetzung des Verfassers. 687 OSNKW 2007, Nr. 5, S. 33. 684

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OG Fall 4 Das OG nimmt auf die Gesetzesmaterialien im Beschluss (Uchwała) vom 15.6.2007688 ausführlich Bezug, in dem es im Ergebnis angenommen hat, dass ein „sachlicher Gewinn“ im Sinne vom Art. 2 Abs. 2a und des Abs. 2b des Gesetzes vom 29.7.1992 über Spiele und Wetten689 auch dann vorliegt, wenn der Gewinn aus Kreditpunkten etc. besteht, die zur Fortsetzung des Spiels ermächtigen. Dabei stellt das OG eine Voraussetzung auf: Der Gewinn muss ein materieller Vorteil sein; er muss dabei die Spielkosten aber nicht übersteigen. Durch diese Auslegung wurden auch diejenigen Unternehmer strafbar, die angenommen hatten, dass ihre Spielautomaten dem Gesetz über Spiele und Wetten nicht unterlagen, weil sie keine „sachlichen Gewinne“ gewährten. Für die Unterstützung dieses Ergebnisses nimmt das OG auch Bezug auf die Gesetzesmaterialien, um zu zeigen, dass der Gesetzgeber bei den zahlreichen Änderungen des Gesetzes über Spiele und Wetten vor allem die Spielsucht bekämpfen wollte und die Strafbarkeit schon bei einem geringen Gewinn begründet ist.690 OG Fall 5 Im (schon weiter oben in anderem Zusammenhang bereits erwähnten) Beschluss (Uchwała) vom 29.8.2007691 nahm das OG auf die Gesetzesmaterialien Bezug, um das Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode zu bestätigen. Der Verweis auf die Begründung zu dem Gesetzesentwurf lässt jedoch nicht eindeutig feststellen, ob der Gesetzgeber das Ziel erreichen wollte, welches das OG im Ergebnis angenommen hat. In diesem Fall hat das OG festgestellt, dass die Nadel, die der Täter zum unberechtigten Anschluss an das Fernsehnetz verwendet hat, um einen unberechtigten Zugang zu bekommen, nicht unter den Begriff „Gerät“ (polnisch: sprze˛t) aus dem Gesetz vom 5.7.2002 über den Schutz der Leistungen, die elektronisch erbracht werden und auf einem bedingten Zugang beruhen692 fällt. Das OG führte aus, dass nur Geräte unter diesen Begriff fallen, die aus elektronischen Einheiten konstruiert sind. Aus dem Gesetzesentwurf lässt sich diese Einschränkung jedoch nicht entnehmen: „Im Rahmen der funktionellen Auslegungsmethode muss darauf hingewiesen werden, dass im Gesetzesentwurf festgestellt wurde, dass ,das Ziel des Gesetzentwurfes über den Schutz der Leistungen, die elektronisch erbracht werden (. . .) im Schutz von Anbietern liegt, die die Leistungen dieser Art sichern, vor Verlusten, die diejenigen 688

I KZP 14/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 1. Ustawa z dnia 29 lipca 1992 r. o grach i zakładach wzajemnych, Dz. U. 2004 Nr. 4, Pos. 27. 690 OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 10. 691 I KZP 19/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 1. 692 Ustawa z dnia 5 lipca 2002 r. o ochronie niektórych usług s ´wiadczonych droga˛ elektroniczna˛ opartych lub polegaja˛cych na doste˛pie warunkowym, Dz. U. 2002 Nr. 126, Pos. 1068. 689

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Personen verursachen, die die unberechtigten Geräte in Verkehr bringen oder verwenden sowie andere technische Installationen in Anspruch nehmen, die die Schutzmaßnahmen umgehen (Sejmdruck Nr. 353 vom 3. April 2002). Den Verfassern des Gesetzes ging es somit nicht um die Strafbarkeit des Verhaltens, das nur auf die Inanspruchnahme ohne Berechtigung von Leistungen, die elektronisch erbracht werden (. . .), beruhen.“ 693

Aus der Begründung zum Gesetzesentwurf ging nicht hervor, dass der Gesetzgeber den Begriff „Gerät“ insoweit einschränken wollte, dass eine Herstellung aus elektronischen Einheiten vorliegen muss, wie das OG es im Ergebnis angenommen hat. Ganz im Gegenteil: Die Verwendung des Begriffes „technische Installationen“ würde eher auf einen breiten Anwendungsbereich des Begriffes „Gerät“ hinweisen. OG Fall 6 Die Entstehungsmaterialien einer Vorschrift können auch zur Begründung der Überschreitung des Wortlauts einer Vorschrift verwendet werden. Im Beschluss (Postanowienie) vom 30.8.2007694 hat das OG eine Kassation zu Gunsten des Angeklagten zugelassen, obwohl eine Maßregel der Sicherung in der Form der Unterbringung in einer entsprechenden psychiatrischen Anstalt nach Art. 93–94 KK gegenüber dem Angeklagten angeordnet wurde. Der Wortlaut der Vorschrift des Art. 523 § 2 KPK695 steht dieser Auffassung entgegen, denn die Vorschrift setzt zum einem eine Verurteilung und zum anderen die Verhängung einer Freiheitsstrafe voraus. In dem anhängigen Verfahren wurden beide Voraussetzungen nicht erfüllt. Gegenüber dem Angeklagten wurde das Verfahren eingestellt, d. h. der Angeklagte wurde nicht verurteilt, und es wurde eine Maßregel der Sicherung in der Form der Unterbringung in einer entsprechenden psychiatrischen Anstalt nach den Art. 93–94 KK angeordnet, was bedeutet, dass eine Strafe nicht verhängt wurde. Trotzdem ließ das OG in diesem Fall die Kassation zu. Zunächst berief sich das OG auf seine früheren Entscheidungen, in denen es auch schon vom Wortlaut der Vorschrift des Art. 523 § 2 KPK abgewichen war. So wurde z. B. der Beschluss (Postanowienie) vom 12.7.2001696 zitiert, in dem das OG die Kassation bei einer Verurteilung zu Jugendstrafe (zakład poprawczy) zugelassen hat, obwohl Art. 523 § 2 KPK nur von einer Freiheitsstrafe spricht. Ferner berücksichtigte das OG die Intention des Gesetzgebers, der mit der Einführung der Vorschrift des Art. 523 § 2 KPK nicht nur die Beschränkung der 693

OSNKW 2007, Nr. 9, S. 8. II KZ 25/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 50. 695 Art. 523 § 2 KPK lautet: „Eine Kassation zugunsten kann nur dann eingelegt werden, wenn der Angeklagte für eine Straftat oder Finanzstraftat zu einer Freiheitsstrafe ohne bedingte Aussetzung ihres Vollzugs zur Bewährung verurteilt worden ist.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 696 III KZ 39/01, OSNKW 2001, Nr. 9–10, Pos. 82. 694

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Zulassung der Kassation zu Gunsten des Angeklagten beabsichtigte, sondern den zur schwersten Strafe Verurteilten den Weg zur Einlegung der Kassationen eröffnen wollte. Daraus zog das OG den Schluss, dass sowohl bei der Jugendstrafe als auch bei der Anordnung der Unterbringung in einer entsprechenden psychiatrischen Anstalt die Kassation zu Gunsten der betreffenden Person zugelassen werden soll, weil es in beiden Fällen zur Freiheitsentziehung kommt. Bei der Unterbringung in einer entsprechenden Anstalt besteht sogar die Möglichkeit des lebenslangen Freiheitsentzuges. Diese Zweckmäßigkeitserwägungen führen zu einem Ergebnis, das vom klaren Wortlaut der Vorschrift abweicht, ohne dass das OG dies in seiner Entscheidung ausdrücklich zum Ausdruck gebracht hätte. OG Fall 7 In dem Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007697 setzt sich das OG mit der Frage auseinander, ob die Anrechnung der Zeit, die der Angeklagte in der Untersuchungshaft verbracht hat, auf die Strafe eine Entschädigung und Genugtuung ausschließt. Das OG bejahte diese Frage mit der Begründung, dass sowohl der Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung aus Art. 552 KPK698 als auch die Anrechnung der Untersuchungshaftzeit auf die Strafe auf der Grundlage des Art. 417 KPK699 und des Art. 63 § 1 KK700 zwei voneinander unabhängige Kompensationsmittel sind, die nicht parallel in Anspruch genommen werden können. Zur Unterstützung seiner Auffassung griff das OG auf seine frühere Rechtsprechung zurück, in der auf die Gesetzesmaterialien Bezug genommen wurde: 697

I KZP 28/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 5. Art. 552 KPK lautet: „§ 1. Ein Angeklagter, der infolge einer Wiederaufnahme des Verfahrens oder einer Kassation freigesprochen oder gegen den eine mildere Strafe verhängt worden ist, kann für den erlittenen Schaden eine Entschädigung sowie eine Genugtuung für das erlittene Unrecht von der Staatskasse verlangen, die sich aus der vollständigen oder teilweisen Vollstreckung einer Strafe gegen ihn ergeben, die er nicht hätte erleiden dürfen. (. . .) § 4. Die Entschädigung und die Genugtuung steht auch im Falle einer zweifellos zu Unrecht erfolgten vorläufigen Verhaftung oder Festnahme zu.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. § 1 wurde durch den Verfasser der Arbeit auf die geltende Fassung gebracht. 699 Art. 417 KPK lautet: „Auf die verhängte Strafe wird auch die Dauer einer vom Angeklagten in einer anderen Sache verbüßten vorläufigen Verhaftung angerechnet, in der das Verfahren gleichzeitig anhängig war und in der ein rechtskräftiger Freispruch ergangen, das Verfahren eingestellt oder von der Strafverhängung abgesehen worden ist.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 700 Art. 63 § 1 KK lautet: „Die Dauer der tatsächlichen erlittenen Freiheitsentziehung in der Strafsache wird auf die verhängte Strafe angerechnet; die angebrochenen Tage werben abgerundet. Dabei entspricht ein Tag der tatsächlichen Freiheitsentziehung einem Tag Freiheitsstrafe, zwei Tagen Freiheitsbeschränkungsstrafe oder zwei Tagessätzen der Geldstrafe.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 698

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Teil 2: Empirische Analysen

„Man muss hinzufügen, dass in der Begründung zu diesem Beschluss (. . .) auf die Begründung zum Entwurf des Strafverfahrenskodexes Bezug genommen wurde, indem der Wille des Gesetzgebers betont wurde, der angenommen hat, dass die Anrechnung der Zeit der Verhaftung auf die Strafe, die in einem anderen Verfahren verhängt wurde, eine Entschädigung ausschließt.“ 701

OG Fall 8 Im Beschluss (Postanowienie) vom 27.8.2007702 legt das OG u. a. den Begriff „widerrechtlich“ im Sinne des Art. 264a § 1 KK703 aus. Die Gerichte der unteren Instanzen nahmen an, dass ein Ausländer sich auf der Grundlage dieser Vorschrift nicht strafbar macht, wenn er die Grenze rechtmäßig überquert und erst später die Arbeit ohne Genehmigung aufgenommen hat. Das OG lehnte diese Auslegung des Art. 264a § 1 KK ab und nahm zur Unterstützung seiner Auffassung auf das Ziel Bezug, das in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommt: „Gegen diese Auslegung spricht der historische Kontext der Aufnahme des Art. 264a § 1 in den KK. Diese Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes vom 16.4.2004 über die Änderung des Strafkodexes und anderer Gesetze (Gesetzblatt Nr. 93 Pos. 889) am 1. Mai 2004 eingeführt, also mit dem Datum des Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Union. Aus der Begründung zum Gesetzesentwurf geht hervor, dass die Regelungen dieses Gesetzes die Anpassung des polnischen Rechts an die Anforderungen der europäischen Instrumente der Europäischen Union zum Zweck haben, die in den Jahren 2001 bis 2002 im Rahmen des ,neuen aquis‘ entstanden sind (Sejmdruck Nr. 2407).“ 704

Im einem weiteren Teil der Begründung nennt das OG die Rechtsakte der EU, die den Gesetzgeber zum Erlass des Art. 264a § 1 KK veranlasst haben. Daraus zieht es den Schluss, dass zur Umsetzung dieser Rechtsakte auch die Pönalisierung des unerlaubten Aufenthaltes in Polen notwendig wurde, unabhängig von den geltenden Vorschriften, die das unerlaubte Überqueren der Grenze unter Strafe stellten.705 OG Fall 9 Im Urteil vom 27.8.2007706 setzte sich das OG mit dem Problem der entsprechenden Anwendung des KPK auf das Disziplinarverfahren gegen Richter aus701

OSNKW 2007, Nr. 10, S. 15. V KK 388/06, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 39. 703 Art. 264a § 1 KK lautet: „Wer widerrechtlich einem anderen den Aufenthalt auf dem Gebiet der Republik Polen ermöglicht, um sich einen Vermögensvorteil oder einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, wird mit Freiheitsstrafe von sechs bis zu acht Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Schwierskott-Matheson, Polnisches Strafgesetzbuch, 2011. 704 OSNKW 2007, Nr. 11, S. 42. 705 Ebenda, S. 42 f. 706 SNO 47/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 47. 702

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einander. Um die Anwendung der Regel ne peius, die im Art. 454 KPK707 geregelt ist, im Disziplinarverfahren gegen Richter zu begründen, griff das OG auf die Begründungen zum KPK zurück: „Es ist daran zu erinnern, dass auch diese Garantielösung ,der Sicherung des Verteidigungsrechts und der konsequenten Umsetzung der Idee des Instanzenzuges‘ in den wichtigsten Fällen dient (vgl. Begründung des Regierungsentwurfes zum neuen Strafprozesskodex, in: Neue Strafkodizes aus dem Jahre 1997 mit Begründungen, Warschau 1997, S. 435). Es ist kaum zu bestreiten, dass die Verhängung der strengsten Strafe in einem Repressionsverfahren zu den wichtigsten Fällen gehört.“ 708

Im Ergebnis ist festzustellen, dass die Verweise auf die Gesetzesmaterialien bei der Rekonstruktion des Gesetzes- bzw. des Vorschriftzieles in der Rechtsprechung des OG im Vergleich zu der Rechtsprechung des BGH wesentlich kürzer und demzufolge wesentlich weniger ausführlich sind. Der Unterschied zwischen den beiden höchsten Gerichten liegt nicht nur in der Anzahl der Entscheidungen, in denen beide Gerichte an diesen Topos angeknüpft haben, sondern auch in dem Umfang der jeweiligen Argumentation. Die relativ seltene Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien in der Rechtsprechung des OG korrespondiert gewissermaßen mit dem Ergebnis der Untersuchung von Bielska-Brodziak, die die polnische verwaltungsrechtliche Rechtsprechung analysiert hat. Aus dieser Untersuchung geht hervor, dass die Verwaltungsgerichte die Zwecke im Rahmen der funktionellen Auslegungsmethode nur sehr selten unter Rekurs auf die Materialien aus dem Legislativprozess feststellen.709 Sie wurden in vielen Entscheidungen vielmehr vor allem auf der Grundlage des Gesetzestextes beschrieben.710 bb) Objektive Auslegung Die Untersuchung hat ergeben, dass beide höchstrichterlichen Gerichte in einem vergleichbaren Umfang den Zweck der Vorschrift bzw. des Gesetzes anhand von Gesichtspunkten feststellen, die außerhalb der gesetzlichen Materialien liegen 707 Art. 454 KPK lautet: „§ 1. Das Rechtsmittelgericht kann einen Angeklagten, der in erster Instanz freigesprochen worden ist oder gegen den das Verfahren in erster Instanz eingestellt oder bedingt eingestellt worden ist, nicht verurteilen. § 2. Das Rechtsmittelgericht kann eine schärfere Freiheitsstrafe nur dann verhängen, wenn es die Tatsachenfeststellungen nicht ändert, die Grundlage des mit dem Rechtsbehelf angegriffenen Urteils waren. § 3. Das Rechtsmittelgericht kann die Strafe nicht durch Verhängung von 25 Jahren Freiheitsstrafe oder lebenslanger Freiheitsstrafe schärfen.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 708 OSNKW 2007, Nr. 11, S. 59. 709 A. Bielska-Brodziak, Interpretacja tekstu prawnego na podstawie orzecznictwa podatkowego, 2009, S. 146. 710 Ebenda, S. 150.

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Teil 2: Empirische Analysen

(BGH: 34; OG: 37). Dabei fällt bei der qualitativen Analyse auf, dass die objektiv teleologischen Topoi sowohl in der Rechtsprechung des BGH als auch in der Rechtsprechung des OG unterschiedliche Funktionen erfüllen. Was die qualitativen Analysen der Rechtsprechung des OG betrifft, so ist zunächst festzustellen, dass die objektiv teleologischen Kriterien grundsätzlich der Bestätigung des Auslegungsergebnisses dienen, das auf der Grundlage der sprachlichen Auslegungsmethode bzw. der systematischen Auslegungsmethode bereits gewonnen wurde. Der folgende Fall ist als typisches Beispiel dieser Konstellation anzusehen. OG Fall 1 In dem (schon weiter oben in anderem Zusammenhang erwähnten) Beschluss des OG vom 20.9.2007711 konzentrierte sich das OG auf die Auslegung des Art. 158 § 1 KK712, der zwei Alternativen vorsieht. Dem OG wurde die Frage gestellt, ob die Folgen der Tat, also die unmittelbare Gefährdung des Lebens oder die Gefahr des Eintretens einer der in Art. 156 § 1 oder 157 § 1 KK bezeichneten Folgen, sich nur auf die „Rauferei“ oder auch auf die „Schlägerei“ beziehen. Das OG stellte fest, dass sich die in Art. 158 § 1 KK erwähnten Folgen auf beide Tatbestandsmerkmale beziehen. Die Argumentation stützte sich vor allem auf sprachliche Analysen, die auf der Grundlage mehrerer Wörterbücher durchgeführt wurden. Um das gefundene Ergebnis jedoch zu erhärten, griff das OG auf die systematische und die funktionelle Auslegungsmethode zurück. Im Rahmen der systematischen Auslegungsmethode führte das OG aus, dass sich sowohl der KK von 1969 als auch der KK von 1997 stets an die grammatische Regel halten, die eine Übereinstimmung des Pronomens „bei der“ (Polnisch: „który“) mit dem Genus und dem Numerus des letzten Substantivs des Hauptsatzes fordert, was dafür spreche, dass sich der Gesetzgeber in Art. 158 § 1 KK von 1969 fehlerhaft ausgedrückt habe. Zu derselben Schlussfolgerung führt nach der Ansicht des OG die funktionelle Auslegungsmethode, denn eine andere Auslegung würde zu einer unbegründeten Erweiterung der Strafbarkeit führen, was der ratio legis der Vorschrift des Art. 158 § 1 KK widersprochen hätte. „Das Ergebnis der durchgeführten grammatischen Auslegung, das durch die systematische Auslegung bestätigt wurde, wird auch durch die Anwendung anderer Auslegungsmethoden erzielt, was der Oberstaatsanwalt713 zutreffend betont, indem er darauf hinweist, dass das andere Verständnis des Art. 158 § 1 KK mit dessen ratio

711

I KZP 30/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 17. Art. 158 § 1 KK lautet: „Wer sich an einer Schlägerei oder einer Rauferei beteiligt, bei der das Leben eines Menschen unmittelbar gefährdet oder ein Mensch der Gefahr des Eintretens einer der in Art. 156 § 1 oder 157 § 1 bezeichneten Folgen ausgesetzt wird, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 713 Polnisch: Prokurator krajowy. 712

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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legis im Widerspruch stehe und zu einer unbegründeten Erweiterung der Pönalisierung des Vergehens der Schlägerei führe.“ 714

Eine andere Gruppe bilden diejenigen Fälle, in denen das OG das Ergebnis der sprachlichen Methode auf der Grundlage der objektiv teleologischen Argumentation abgelehnt hat. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass das OG die Wortlautgrenze überschreitet. Das Ergebnis ist vom Wortlaut gedeckt, aber es wird primär durch teleologische Kriterien determiniert. Dies zeugt davon, dass das OG bereit ist, den objektiv teleologischen Kriterien Vorrang einzuräumen, wenn die sprachliche Auslegungsmethode aus der Perspektive des OG zu inakzeptablen Ergebnissen führt. Diese Fälle relativieren offenkundig die Bedeutung der sprachlichen Auslegungsmethode und zeugen davon, dass das OG die Vorschriften mehrdimensional auslegt. Im Folgenden werden zwei Fälle [Fall Nr. 2 wurde schon im Pkt. V. 1. a) bb) dargestellt] wiedergeben, die diese Konstellation schildern. OG Fall 2 Im Urteil vom 4.12.2006715 hat das OG festgestellt, dass im Falle der Anordnung eines Fahrverbotes auch diejenige Kategorie der Fahrzeuge erfasst sein müsse, die der Täter der Trunkenheitsfahrt geführt hat. Der Wortlaut der Vorschrift des Art. 42 § 2 KK716 lässt jedoch nach der Ansicht des OG auch ein anderes Ergebnis zu: Die Anordnung des Fahrverbots muss nicht unbedingt diejenige Kategorie der Fahrzeuge erfassen, die der Täter der Trunkenheitsfahrt geführt hat. Diese Auslegung würde jedoch die ratio legis der Vorschrift des Art. 42 § 2 KK außer Acht lassen. Das OG führt aus: „Es ist davon auszugehen, dass die Auslegungsproblematik sich nicht auf die sprachlichen Aspekte beschränken darf, denn die Rechtsvorschriften dienen bestimmten Zielen, die im Zuge der Auslegung erreicht werden sollten. Daher darf die Auslegung einer Rechtsvorschrift nicht zu einem solchen Ergebnis führen, das im Hinblick auf die ratio legis der Rechtsnorm dysfunktional wäre und demzufolge keine axiologische Begründung hätte.“ 717

Aus dieser Entscheidung geht hervor, dass das OG bereit ist, objektiv teleologische Argumente in Anspruch zu nehmen, wenn die sprachliche Auslegungsmethode zu problematischen Ergebnissen führt.718 714

OSNKW 2007, Nr. 11, S. 24. V KK 360/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 34. 716 Art. 42 § 2 KK lautet: „Das Gericht verbietet das Führen jeglicher Kraftfahrzeuge oder von Kraftfahrzeugen einer bestimmten Art, wenn der Täter bei Begehung der in § 1 genannten Straftat unter Alkoholeinfluss oder unter dem Einfluss berauschender Mittel stand oder sich vom Unfallort, der in Art. 173, 174 beziehungsweise 177 bestimmt wird, unerlaubt entfernt hat.“ Übersetzung nach E. Schwierskott-Matheson, Polnisches Strafgesetzbuch, 2011. 717 OSNKW 2007, Nr. 1, S. 35 f. 718 Ähnlich im Urteil vom 10.1.2007, III KK 437/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 48. 715

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Teil 2: Empirische Analysen

OG Fall 3 Ähnlich argumentiert das OG im Urteil vom 10.1.2007.719 Auch in dieser Entscheidung, der eine ähnliche Auslegungsproblematik zugrunde liegt, betonte das OG die Notwendigkeit der Berücksichtigung von objektiv teleologischen Kriterien im Auslegungsprozess, um ein „absurdes“ und „irrationales“ Ergebnis zu vermeiden. „Die teleologische Auslegung, die zu einer richtigen Feststellung des normativen Gehalts des Art. 42 § 2 KK unentbehrlich ist, führt zu der Schlussfolgerung, dass die Entscheidung über das Verbot der Führung mechanischer Fahrzeuge die Ermächtigung zur Führung vorrangig desjenigen Fahrzeugs erfassen sollte, mit dem der Täter die Straftat begangen hat.“ 720

Das OG ist jedoch auch bereit, das mit Hilfe objektiv teleologischer Kriterien erzielte Auslegungsergebnis abzulehnen, wenn dieses nicht mit dem Ergebnis, das unter Anwendung der sprachlichen Auslegungsmethode erreicht wurde, übereinstimmt, wie der folgende Fall zeigt. OG Fall 4 Im Beschluss vom 4.7.2007721 befasste sich das OG mit der Auslegung des Art. 86 § 1 KK722, der die Grenzen der Gesamtstrafe festlegt. Die betreffende Frage lautete, ob das Gericht bei der Bildung einer neuen Gesamtstrafe mit dem Höchstmaß an die zuvor isolierten Gesamtstrafen oder nur an das Höchstmaß der verhängten Strafen, aus denen die Gesamtstrafe gebildet wurde, gebunden ist. Die Antwort auf diese Frage hat weitgehende Konsequenzen für den Verurteilten. Im Falle der Annahme, die isolierten Gesamtstrafen dürften bei der Bildung der neuen Gesamtstrafen nicht berücksichtigt werden, müsste der Verurteilte mit einer neuen Gesamtstrafe rechnen, die durch die Summierung der isolierten Gesamtstrafen deren Höchstmaß übersteigt, was für ihn offensichtlich nachteilig ist. Gegen dieses Auslegungsergebnis spricht nach der Auffassung des Kassationsverfassers die ratio legis des Art. 86 § 1 KK, wonach die Vorschrift zu Gunsten des Verurteilten wirken soll. Das OG lehnte diesen Auslegungsvorschlag ab und

719

Ebenda, S. 45. Ebenda, S. 49. 721 V KK 419/06, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 46. 722 Art. 86 § 1 KK lautet: „Das Gericht erkennt auf Gesamtstrafe innerhalb einer Spanne von der höchsten Strafe, die für einzelnen Straftaten verhängt werden kann, bis zu deren Summe; die Strafe darf jedoch 810 Tagessätze Geldstrafe, zwei Jahre Freiheitsbeschränkung oder 15 Jahre Freiheitsstrafe nicht überschreiten; die Dauer der Freiheitsbeschränkung wird in Monaten und Jahren bemessen. Die Gesamtstrafe gemäß Art. 71 § 1 darf 270 Tagessätze nicht überschreiten, wenn eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, 135 Tagessätze, wenn sie mit der Aussetzung einer Freiheitsbeschränkung zur Bewährung verbunden ist.“ Übersetzung nach E. Schwierskott-Matheson, Polnisches Strafgesetzbuch, 2011. 720

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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stützte sich vor allem auf den eindeutigen Wortlaut des Art. 86 § 1 KK. Dementsprechend lässt sich dieser Vorschrift nicht die These entnehmen, dass sie immer zu Gunsten des Verurteilten wirken soll, denn sie lässt ausdrücklich auch eine Kumulation der verhängten Strafen zu. Nach Auffassung des OG kann das Rechtsinstitut der Gesamtstrafe zudem nicht als eine außerordentliche Strafmilderung angesehen werden. Demzufolge muss die neue Gesamtstrafe im Rahmen der bisher verhängten Strafen unter Berücksichtigung der Strafzumessungsdirektiven bemessen werden. Von den bisher dargestellten Fällen ist eine weitere Gruppe von Entscheidungen abzugrenzen, in denen die teleologischen Kriterien vom OG in Anspruch genommen werden, wenn die sprachliche Auslegungsmethode nach der Ansicht des OG kein eindeutiges Ergebnis erbringt. Der folgende Fall illustriert diese Situation. OG Fall 5 In dem (oben schon in anderem Kontext erörterten) Beschluss (Uchwała) vom 27.2.2008723 setzte sich das OG mit der Frage auseinander, ob der Begriff des „berauschenden Mittels“ in Art. 178a KK724 nur diejenigen berauschenden Mittel erfasst, die in Art. 4 Pkt. 26 des Gesetzes vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht725 genannt werden, oder ob unter diesen Begriff auch andere berauschende Substanzen fallen, die im Gesetz vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht nicht erwähnt sind. Die Antwort auf diese Frage determinierte zugleich die Strafbarkeit des Täters. Im Falle der Annahme, der Begriff des „berauschenden Mittels“ erfasse nur diejenigen Substanzen, die im Art. 4 Pkt. 26 des Gesetzes vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht erwähnt sind, müssten alle Täter freigesprochen werden, die ein Fahrzeug unter dem Einfluss eines berauschenden Mittels geführt haben, das im Gesetz vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht nicht erwähnt ist. Dieses Ergebnis lehnte das OG zu Recht ab und begründete seine Auffassung vor allem auf der Grundlage von teleologischen Kriterien. Zunächst stellte es jedoch fest: „Angesichts der terminologischen Unklarheit ist die Schlussfolgerung begründet, dass sowohl auf der Grundlage der sprachlichen Analyse der Strafgesetze (im weiteren Sinne) als auch auf der Grundlage des ganzen Rechtssystems in Polen es sich nicht genau feststellen lässt, ob sich der Gesetzgeber im Art. 178a KK des Begriffes ,berauschendes Mittel‘ im weiteren oder im engeren Sinne bedient hat. Demzufolge 723

I KZP 36/06, OSNKW 2007, Nr. 3, S. 1. Art. 178a § 1 KK lautet: „Wer unter Einfluss von Alkohol oder anderen berauschenden Mittel ein Kraftfahrzeug führt, wird mit Geldstrafe, Freiheitsbeschränkungsstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft.“ Übersetzung nach E. Schwierskott-Matheson, Polnisches Strafgesetzbuch, 2011. 725 Ustawa z dnia 29 lipca 2005 r. o przeciwdziałaniu narkomanii, Dz. U. 2012 Pos. 124. 724

368

Teil 2: Empirische Analysen

müssen andere Auslegungsmethoden – systematische und funktionelle Auslegungsmethode – zur Anwendung kommen.“ 726

In einem weiteren Teil der Begründung werden die teleologischen Gesichtspunkte vom OG mit folgenden Worten hervorgehoben. Die funktionelle Auslegung der Vorschrift des Art. 178a KK führt zu dem Ergebnis, „dass die Sicherheit im Straßenverkehr durch diese Vorschrift in einem besonderen Kontext geschützt sein soll. Es geht um den Schutz dieser Sicherheit vor der Gefahr, die aus der herabgesetzten Leistungsfähigkeit des Fahrers hervorgeht, die eine unterschiedliche Gestalt haben kann. Sie kann aus der herabgesetzten psychomotorischen Leistungsfähigkeit (z. B. der Verlängerung der Reaktionszeit) folgen. (. . .) Die ratio legis des Art. 178a stützt sich somit auf den Schutz der Sicherheit im Verkehr vor denjenigen Handlungen der Kraftfahrzeugführer, die auf dem Führen der Kraftfahrzeuge im Zustand einer herabgesetzten psychomotorischen Leistungsfähigkeit oder (und) im Zustand der Störung der psychischen Prozesse beruhen. Diese Folgen können durch den Konsum des Alkohols oder eines anderen Mittels verursacht werden, das zwar durch das Gesetz von 2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht als berauschendes Mittel nicht unbedingt definiert ist, aber z. B. als Psychopharmakon im Sinne dieses Gesetzes betrachtet werden kann. Es ist sehr schwierig, Gründe zu nennen, warum der Gesetzeber nur die herabgesetzte psychomotorische Leistungsfähigkeit (Zittern der Hände, Zusammenhangslosigkeit der Bewegungen, Schwindelgefühle, Doppel-Sehen oder Schwäche des Sehens, Schwäche der Reflexe, Schläfrigkeit, Aufmerksamkeitsdefizit, Müdigkeit) als gefährlich für die Sicherheit des Verkehrs betrachten würde und sie kriminalisiert, dagegen eine ähnliche Gefahr, die durch den Konsum der Mittel, die das Gesetz von 2005 nicht erwähnt, nicht kriminalisiert, obwohl diese Mittel auch Störungen des logischen Denkens, Wahnvorstellungen, Störungen des Zeit- und Raumgefühls, Euphorie, falsche Vorstellung der gesteigerten Leistungsfähigkeit verursachen. Kurz gesagt, verspätetes Bremsen infolge von herabgesetztem Reflex nach dem Konsum von Opium ist nicht gefährlicher als falsche Entscheidungen beim Überholen anderer Fahrzeuge infolge einer durch LSDKonsum verursachten Euphorie (. . .).“ 727

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass objektiv teleologische Kriterien in der Rechtsprechung des OG unterschiedliche Funktionen erfüllen. In keinem Fall lässt sich behaupten, dass die objektiv teleologischen Kriterien einen absoluten Rang in der Rechtsprechung des OG genießen. Ihr Rang wird in jedem Fall neu festgelegt und hängt von vielen Faktoren ab, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Auch der BGH verfährt unterschiedlich im Hinblick auf objektiv teleologische Kriterien. Sie werden insbesondere in Anspruch genommen, um ein Ergebnis abzusichern, das die grammatische, systematische und historische Auslegungsmethode nahe legen. In diesem Zusammenhang dienen sie der Bestätigung des Aus-

726 727

OSNKW 2007, Nr. 3, S. 6. Ebenda, S. 7.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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legungsergebnisses, das schon auf der Grundlage anderer Gesichtspunkte gewonnen wurde. Diese Konstellation lässt sich in dem folgenden Fall erkennen. BGH Fall 1 Im Beschluss vom 11.10.2005728 befasste sich der BGH mit der Frage, ob der Begriff „Anstalt“ im Sinne von § 201 Nr. 3 S. 3 StVollzG729 einzelne Haupthäuser erfasst oder sich auf den Gesamtzustand der Justizvollzugsanstalt bezieht. Der BGH sprach sich für die zweite Lösung aus. Dafür sprechen nach seiner Ansicht „Wortsinn der Vorschrift“, „systematische Stellung der Norm“, „historische Auslegung“ und „Sinn und Zweck der Vorschrift“. Im Hinblick auf das zuletzt genannte Argument führte der BGH aus: „4. Die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts steht im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Regelung des § 201 Nr. 3 Satz 1 StVollzG. Die Vorschrift verfolgt das Ziel, in den vor dem 1. Januar 1977 errichteten Anstalten die Anwendung des § 18 Abs. 1 Satz 1 StVollzG zu suspendieren. Der Gesetzgeber will damit verhindern, dass Strafgefangene in diesen Anstalten ohne eine Einschränkungsmöglichkeit im Einzelfall einen einfachgesetzlichen Anspruch auf Einzelunterbringung erfolgreich geltend machen können (vgl. OLG Celle NJW 2004, 2766, 2767). Mit der Regelung wird demnach auch einem in der Anstalt bestehenden Platzmangel begegnet (vgl. OLG Celle a. a. O.). Gefangene dürfen, falls dies die beschränkten Raumverhältnisse erfordern und es die persönliche Disposition des Gefangenen erlaubt (vgl. OLG Celle a. a. O.), in Altanstalten weiterhin mit bis zu sieben weiteren Personen untergebracht werden (§ 201 Nr. 3 Satz 2 StVollzG).“ 730

In der nächsten Entscheidung werden die teleologischen Kriterien dagegen geltend gemacht, um ein Ergebnis zu begründen, das vom Ergebnis der grammatischen Auslegungsmethode abweicht. BGH Fall 2 Im Urteil vom 9.5.2006731 hat der BGH festgestellt, dass kommunale Mandatsträger nicht unter § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) StGB fallen. Dafür sprechen nach der Auffassung des BGH sowohl systematische, historische als auch teleologische Argumente. Zunächst stellt der BGH jedoch fest:

728

5 Ars (Vollz) 54/05, BGHSt 50, 234. Die Übergangsvorschrift des § 201 Nr. 3 StVollzG lautet: „Für Anstalten, mit deren Errichtung vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begonnen wurde, gilt folgendes: (. . .) 2. Abweichend von § 18 dürfen Gefangene während der Ruhezeit auch gemeinsam untergebracht werden, solange die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern. Eine gemeinschaftliche Unterbringung von mehr als acht Personen ist nur bis zum Ablauf des 31. Dezember 1985 zulässig.“ 730 BGHSt 50, 244. 731 5 StR 453/05, BGHSt 51, 45. 729

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Teil 2: Empirische Analysen

„(1) Zwar lässt es der Wortlaut von § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB zu, kommunale Mandatsträger in der Ausübung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit eigener Art als Träger eines öffentlich-rechtlichen Amtes zu verstehen (vgl. Rübenstahl HRRS 2006, 23, 33). Einem solchen Verständnis stehen jedoch historische, systematische und teleologische Argumente entgegen.“ 732

Die diesbezügliche teleologische Argumentation lautet: „(4) Auch teleologische Argumente sprechen dagegen, kommunale Mandatsträger als Amtsträger im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB anzusehen. Amtsausübung ist etwas anderes als Mandatsausübung. Zwischen dem typischen Verwaltungshandeln in behördlichen oder behördenähnlichen Strukturen und dem politischen Handeln in Volksvertretungen aufgrund eines freien Mandats gibt es strukturelle Unterschiede, die eine differenzierte Behandlung beider Handlungsformen öffentlicher Gewalt rechtfertigen (ausführlich hierzu Nolte DVBl 2005, 870, 871 ff. m.w. N.). Dies wird auch im Hinblick auf die handelnden Personen deutlich: Bei Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung ist der Entscheidungsträger grundsätzlich substituierbar; seine Entscheidungsbefugnis kann regelmäßig in der Verwaltungshierarchie delegiert oder von höherrangiger Stelle evoziert werden. Das Amt ist nicht personengebunden, der Amtsträger dafür aber zumeist weisungsgebunden. Im Gegensatz dazu trifft der Abgeordnete aufgrund seines freien Mandats im Plenum seiner Volksvertretung eine in diesem Sinne ,unvertretbare‘ Entscheidung. Sein Amt ist personengebunden, er kann seine Stimmabgabe nicht auf einen Vertreter übertragen; kein anderer darf die Entscheidungsbefugnis des Abgeordneten an sich ziehen. Gerade wegen der Unvertretbarkeit der Entscheidung bei der Wahl oder Abstimmung in einer Volksvertretung spielen dabei auch legitime Partikularinteressen, für deren Wahrnehmung der Mandatsträger in die Volksvertretung gewählt wurde, eine wesentliche Rolle. Die Unterschiede zwischen politischer Willensbildung in der Volksvertretung einerseits und dienstlichem Verwaltungshandeln andererseits betreffen auf der Ebene kommunaler Mandatsträger weniger den Inhalt der Entscheidung, als vielmehr die Art und Weise des Zustandekommens hoheitlicher Entscheidungen (vgl. Deiters NStZ 2003, 453, 456 f.; Nolte DVBl 2005, 870, 880). Inhaltlich macht es etwa keinen Unterschied, ob die Entscheidung zum Erwerb eines Wirtschaftsguts für die Gemeinde durch Abstimmung im Gemeinderat fällt oder allein vom Bürgermeister getroffen wird; das Zustandekommen der Entscheidung ist indes verschieden.“ 733

Objektiv teleologische Kriterien werden vom BGH auch zur Einschränkung des Anwendungsbereiches der Vorschrift herangezogen, wie der folgende Fall verdeutlicht. BGH Fall 3 Im Beschluss vom 27.4.2005734 stand folgende Frage im Vordergrund:

732 733 734

Ebenda, S. 49. Ebenda, S. 51 f. GSSt 2/04, BGHSt 50, 93.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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„Ergibt sich die charakterliche Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur dann aus der Tat (§ 69 Abs. 1 Satz 1 StGB), wenn aus dieser konkrete Anhaltspunkte dafür zu erkennen sind, daß der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen – ist somit ein spezifischer Zusammenhang zwischen Anlaßtat und Verkehrssicherheit erforderlich?“ 735

Der Große Senat bejahte diese Frage und stützte seine Auslegung vor allem auf den Schutzzweck des § 69 StGB. Das entscheidende Argument lautet: „Der Große Senat für Strafsachen folgert die von ihm bejahte Beschränkung des Schutzzwecks dieser Vorschrift auf Verkehrssicherheitsbelange maßgebend aus dem Verhältnis des § 69 StGB zu den Bestimmungen des § 2 Abs. 4 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V. m. § 11 Abs. 1 Satz 3, § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV über die verwaltungsrechtliche Entziehung der Fahrerlaubnis. Sowohl die strafgerichtliche als auch die verwaltungsbehördliche Entziehung der Fahrerlaubnis knüpfen die Anordnung der Maßnahme an die Feststellung der fehlenden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Der in § 69 Abs. 1 StGB verwendete Begriff der Ungeeignetheit stimmt inhaltlich mit demselben, in den genannten Vorschriften des Straßenverkehrs- und Fahrerlaubnisrechts verwendeten Begriff überein. Dies folgt schon daraus, daß – wie die Materialien zum (ersten) Straßenverkehrssicherungsgesetz 1952 belegen (vgl. BTDrucks. [1. WP] Nr. 2674 S. 8, 12) – mit der Übertragung der zuvor ausschließlich den Verwaltungsbehörden zugewiesenen Aufgabe der Entziehung der Fahrerlaubnis ,auch‘ auf den Strafrichter letzterer bei Anwendung des § 69 StGB der Sache nach die Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde wahrnimmt (BVerwG NJW 1989, 116, 117). Deshalb ist für die Auslegung des Begriffs der Ungeeignetheit in § 69 StGB der Zweck der Vorschrift des § 3 Abs. 1 StVG über die Entziehung der Fahrerlaubnis beachtlich. Dieser besteht – auch in Übereinstimmung mit neuerer verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung – darin, die Allgemeinheit vor Kraftfahrzeugführern zu schützen, die für andere Verkehrsteilnehmer eine Gefahr bilden. Maßstab für die Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis ist demgemäß die in die Zukunft gerichtete Beurteilung der Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr (BVerwG a. a. O.; im gleichen Sinne zur Zuverlässigkeit i. S. von § 29 d LuftVG: BVerwG, Urt. vom 15. Juli 2004 – 3 C 33/03 – DÖV 2005, 118; vgl. auch OVG Koblenz NJW 1994, 2436, 2437; NJW 2000, 2442, 2443; Halecker a. a. O. S. 96 m. N.; Hentschel, Straßenverkehrsrecht 38. Aufl. § 2 StVG Rdn. 15 m.w. N.).“ 736

Im Rahmen dieser Argumentation hat der Große Senat teleologische Kriterien mit systematischen Kategorien verbunden. Zunächst stellte er fest, dass die Beschränkung des Schutzzwecks des § 69 StGB aus dem Verhältnis dieser Vorschrift zu den Bestimmungen des StVG i.V. m. FeV über die verwaltungsrechtliche Entziehung der Fahrerlaubnis folgt. Dann führte der Große Senat aus, dass bei der Auslegung des Begriffs der „Ungeeignetheit“ in § 69 StGB der Zweck der Vorschrift des § 3 Abs. 1 StVG über die Entziehung der Fahrerlaubnis zu beachten ist. Dieser Zweck wird im nachfolgenden Teil der Begründung näher definiert. 735 736

Ebenda, S. 96. Ebenda, S. 100.

372

Teil 2: Empirische Analysen

Objektiv teleologische Kriterien werden auch in dem folgenden Zitat aus diesem Beschluss geltend gemacht: „d) Für die vom Großen Senat für Strafsachen vertretene Auffassung spricht zudem der Vergleich der Bestimmung des § 69 Abs. 1 StGB mit den Vorschriften der §§ 63, 64 und 66 StGB. Diese freiheitsentziehenden Maßregeln dienen (auch) dem Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern. Dem trägt das Gesetz Rechnung, indem es die Anordnung dieser Maßregeln an eine ,unspezifische‘ negative Legalprognose (,erhebliche rechtswidrige Taten‘ bzw. Hang zu ,erheblichen Straftaten‘) knüpft. Im Unterschied hierzu ist § 69 StGB schon nach seinem Wortlaut ,verkehrsbezogen‘ ausgestaltet, indem die Vorschrift die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht etwa von einer allgemeinen Unzuverlässigkeit abhängig macht, sondern die Feststellung der Ungeeignetheit gerade ,zum Führen von Kraftfahrzeugen‘ voraussetzt.“ 737

BGH Fall 4 Im Urteil vom 5.5.2004738 hat der BGH die Vorschrift des § 393 Abs. 2 AO739 einschränkend ausgelegt. Der BGH hat dazu ausgeführt: „cc) Offenbart der Steuerpflichtige im Rahmen einer Selbstanzeige eine allgemeine Straftat, die er zugleich mit der Steuerhinterziehung begangen hat – wie hier eine tateinheitlich begangene Urkundenfälschung – besteht kein Verwendungsverbot gemäß § 393 Abs. 2 AO hinsichtlich eines solchen Allgemeindelikts, mithin eines Delikts, das keine Steuerstraftat im Sinne des § 369 Abs. 1 AO darstellt. Diese einschränkende Auslegung des § 393 Abs. 2 AO folgt aus der ratio legis der gesetzlichen Vorschrift, die es dem Steuerpflichtigen ermöglichen soll, auch bemakelte Einkünfte anzugeben, ohne deswegen eine Strafverfolgung befürchten zu müssen. Denn der Staat will Kenntnis von allen – legalen wie illegalen – Einkünften erlangen, um sie einer Besteuerung unterwerfen zu können. Der Steuerstraftäter, der im Rahmen einer Selbstanzeige ein mit der Steuerhinterziehung gleichzeitig begangenes Allgemeindelikt aufdeckt, offenbart jedoch keine weitere Steuerquelle für den Staat. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Täter (. . .) einen angeblichen Steuererstattungsanspruch geltend macht, der auf einen völlig frei erfundenen Sachverhalt gestützt wird, und dazu gefälschte Urkunden vorlegt.“ 740

Führt man sich den Wortlaut des § 393 Abs. 2 S. 1 AO vor Augen, ist das Ausmaß der Einschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift offensichtlich. 737

Ebenda, S. 101. 5 StR 548/03, BGHSt 49, 136. 739 § 393 Abs. 2 AO lautet: „Soweit der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht in einem Strafverfahren aus den Steuerakten Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die der Steuerpflichtige der Finanzbehörde vor Einleitung des Strafverfahrens oder in Unkenntnis der Einleitung des Strafverfahrens in Erfüllung steuerrechtlicher Pflichten offenbart hat, dürfen diese Kenntnisse gegen ihn nicht für die Verfolgung einer Tat verwendet werden, die keine Steuerstraftat ist. Dies gilt nicht für Straftaten, an deren Verfolgung ein zwingendes öffentliches Interesse (§ 30 Abs. 4 Nr. 5) besteht.“ 740 BGHSt 49, 146. 738

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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BGH Fall 5 Im Urteil vom 16.11.2006741 hat der BGH im Anschluss an seine gefestigte Rechtsprechung die Zulässigkeit der Erhebung einer Revisionsrüge eingeschränkt, obwohl diese Einschränkung aus dem Wortlaut der Vorschrift ausdrücklich nicht hervorgeht. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Zeuge berief sich auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 1 StPO und wurde mit allseitigem Einverständnis vom Vorsitzenden entlassen. Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung von dem Rechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO keinen Gebrauch gemacht. Nach der Auffassung des BGH ist es dem Angeklagten bei diesem Verfahrensablauf versagt, „mit der Revision geltend zu machen, dem Zeugen sei in rechtsfehlerhafter Weise die Befugnis zugebilligt worden, Fragen zur Sache umfassend unbeantwortet zu lassen.“ 742 Der BGH betont in dieser Entscheidung im Anschluss an seine gefestigte Rechtsprechung die Pflicht zur Beanstandung einer sachleitenden Anordnung des Vorsitzenden, soweit dieser Anordnung eine strafprozessuale Regelung zugrunde liegt, die ihm einen Beurteilungsspielraum oder ein Ermessen eröffnen, wenn ein Verfahrensbeteiligter diesen Verfahrensmangel in der Revision rügen will. Diese Verpflichtung schöpft der BGH aus dem Zweck des § 238 Abs. 2 StPO: „Zweck des § 238 Abs. 2 StPO ist es, die Gesamtverantwortung des Spruchkörpers für die Rechtsförmigkeit der Verhandlung zu aktivieren, hierdurch die Möglichkeit zu eröffnen, Fehler des Vorsitzenden im Rahmen der Instanz zu korrigieren und damit Revisionen zu vermeiden, durch die ein Fehler des Vorsitzenden nur auf Kosten einer mehr oder weniger langen Verzögerung des Verfahrensabschlusses ausgeräumt werden könnte (Giesler, Der Ausschluss der Beschwerde gegen richterliche Entscheidungen im Strafverfahren S. 283 ff.; Schöch in AK-StPO § 238 Rdn. 29; Julius in HK-StPO § 238 Rdn. 1; Schlüchter in SK-StPO § 238 Rdn. 8; Paulus in KMR § 238 Rdn. 33). Dieser Zweck würde verfehlt, wenn es im unbeschränkten Belieben des um die Möglichkeit des § 238 Abs. 2 StPO wissenden Verfahrensbeteiligten stünde, ob er eine für unzulässig erachtete verhandlungsleitende Maßnahme des Vorsitzenden über den Rechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO zu bestätigen sucht oder stattdessen hierauf im Falle eines ihm nachteiligen Urteils in der Revision eine Verfahrensrüge stützen will. Er hat daher grundsätzlich auf Entscheidung des Gerichts anzutragen; unterlässt er dies, kann er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge, durch die er sich in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzen würde, nicht mehr gehört werden.“ 743

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die teleologischen Topoi, die außerhalb der Gesetzesmaterialien ermittelt wurden, in der Rechtsprechung beider Gerichte eine wichtige Rolle spielen. Sie dienen der Bestätigung des Auslegungsergebnisses, das auf der Grundlage der anderen Auslegungsmethoden gewonnen 741 742 743

3 StR 139/06, BGHSt 51, 144. Ebenda, S. 146. Ebenda, S. 147.

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Teil 2: Empirische Analysen

wurde, der Korrektur dieses Ergebnisses bzw. der Ausräumung von Zweifeln, die auf der sprachlichen Ebene entstanden sind und der Einschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift. Die Vielfalt der Konstellationen, in denen objektiv teleologische Topoi auftauchen, erschwert allerdings die Ermittlung der Bedeutsamkeit dieser Topoi für beide Gerichte. Dabei fällt jedoch auf, dass die Kategorisierung der objektiv teleologischen Topoi in der Rechtsprechung beider höchstrichterlichen Gerichte unterschiedlich ist. Das OG bevorzugt die Kategorie der „funktionellen Auslegungsmethode“ bzw. die Kategorie der ratio legis. In der Rechtsprechung des BGH zeigt sich die Tendenz, die Kategorie „Sinn und Zweck des Gesetzes“ zu verwenden, wobei auch andere Kategorien in Anspruch genommen werden. c) Historische Analysekategorien Eine völlig neue Dimension der Auslegungskultur der höchstrichterlichen Rechtsprechung der in die Untersuchung einbezogenen Länder eröffnet der Vergleich der historischen Topoi. Sie kennzeichnen sicherlich eine substanzielle Auslegungs- und Argumentationskultur, denn sie knüpfen ausschließlich an außergesetzliche Gesichtspunkte an. Es ist dabei zu hervorzuheben, dass die Anwendung von historischen Topoi die Rolle des Gesetzestextes relativiert. In dieser Untersuchung wurde unter dem Topos „Vorgeschichte“ die Entwicklungsgeschichte einer Vorschrift, insbesondere die Berücksichtigung der Vorgängervorschrift verstanden. Unter dem Topos „genetische Argumente“ wurden die Bezüge auf diejenigen Materialien erfasst, die zu dem Erlass eines Gesetzes oder einer Vorschrift führten. Dieser Kategorie wurden auch alle subjektiven teleologischen Topoi zugeordnet, da sie auch auf die Entstehungsmaterialien Bezug nehmen. Die Anzahl der Entscheidungen, in denen die Anwendung dieser Topoi festgestellt wurde, zeigt die folgende Tabelle. Tabelle 17 Historische Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG Historische Argumente

BGH

OG

Vorgeschichte

22

34

Genetische Argumente

45

12

Aus der Tabelle geht hervor, dass sowohl der BGH als auch das OG in ihren Begründungen nicht selten auf die Vorgängerregelung der zur Auslegung anstehenden Norm Bezug nehmen. Der BGH hat in 22 Entscheidungen die jeweilige Vorgängerregelung berücksichtigt, demgegenüber hat das OG in 34 Entscheidun-

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

375

gen auf den vorangehenden Rechtszustand Bezug genommen. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass beide Gerichte den Auslegungsprozess zumindest bei gewissen Auslegungsproblemen in ihrem geschichtlichen Kontext sehen und die Rechtsentwicklung bei der Lösung der Auslegungsprobleme behilflich sein kann. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass der BGH im Vergleich zum OG wesentlich öfter auf die Entstehungsmaterialien einer Vorschrift bzw. eines Gesetzes zurückgreift, z. B. auf den Referentenentwurf des Ministeriums, den Regierungsentwurf oder die Gesetzesbegründung. Dieser Befund findet Unterstützung auch in anderen Untersuchungen. Kudlich und Christensen haben in ihrer Untersuchung festgestellt, dass die genetische Auslegung unter Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien in der Strafrechtsrechtsprechung des BGH eine große Bedeutung hat. Sie ist nach ihrer Auffassung innerhalb des klassischen Kanons in den Bänden 49 und 50 sogar die mehr oder weniger dominante Auslegungsmethode.744 Die Gründe dafür liegen nach der Auffassung von Kudlich und Christensen zum einen in dem umfangreicheren Gesetzgebungsmaterial neuerer Vorschriften und zum anderen in der leichteren Verfügbarkeit.745 Auch Simon stellt fest, dass die historische Auslegung in der Rechtsprechung des BGH „eine beträchtliche Rolle“ spielt.746 Obwohl er davon ausgeht, dass die Anzahl der entstehungsgeschichtlichen Argumente in den Entscheidungen des BGH Legion sei, ist nach seiner Auffassung der Rang dieser Argumente problematisch.747 Grundsätzlich vermeidet es der BGH, deren Wert in einer methodologischen Aussage zu betonen, aber die tatsächliche Praxis lasse eine „große Wertschätzung“ erkennen.748 Was die genetische Auslegung betrifft, geht Simon davon aus, dass die Auffassung von Heck, der im Jahre 1914 konstatierte, dass die theoretische Polemik gegen den „Materialienkultus“ keinen großen Erfolg erzielt habe749, auch heute zutrifft, „wie ein Blick in die Praxis zeigt, die schlicht alles heranzieht, was nützlich erscheint, um dem Willen des Gesetzgebers auf die Spur zu kommen bzw. die eigene Lösung stützt.“ 750 Dabei stellt Simon fest, dass die genetische Auslegung einerseits als maßgebliches und erstes Indiz für den gesetzgeberischen Willen verwendet wird, anderseits nur als Bestätigung für das anderweitig gefundene Ergebnis oder zur Feststellung, dass es diesem nicht entgegensteht.751 744 745 746 747 748 749 750 751

H. Kudlich/R. Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 27. Ebenda. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 204. Ebenda, S. 205. Ebenda, S. 231. P. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 110. E. Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht, 2005, S. 258 m.w. N. Ebenda, S. 260.

376

Teil 2: Empirische Analysen

Demgegenüber wurde in der polnischen Literatur die Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass die historische Auslegungsmethode eine bescheidene Rolle bei der Auslegung von Gesetzen spiele.752 Es wird auch behauptet, dass im Auslegungsprozess auf die Entstehungsmaterialien eher selten Bezug genommen werde, obwohl diese Quelle manchmal wichtige Argumente liefern könne.753 Auch die vorliegende Untersuchung bestätigt diese Behauptung. Im Folgenden sollen einige ausgewählte Entscheidungen erläutert werden, in denen an die Vorgängerregelung(en) und an die Gesetzesmaterialien angeknüpft wird. aa) Vorgeschichte Die Untersuchung ergab, dass beide höchstrichterliche Gerichte in einem beachtlichen Umfang auf die Vorgängerregelung bei der Auslegung von auslegungsbedürftigen Vorschriften Bezug nehmen, wobei das OG im Vergleich zum BGH diesen historischen Aspekt häufiger berücksichtigt (BGH: 22, OG: 34). Bei der Interpretation dieser Entscheidungen muss jedoch ein Unterschied zwischen beiden Strafrechtskulturen beachtet werden: Während in Polen seit 1932 drei Strafrechtskodizes und seit 1928 drei Strafverfahrenskodizes erlassen wurden, gilt in Deutschland seit 1871 dasselbe Strafgesetzbuch und seit 1877 dieselbe Strafprozessordnung, die zwar auch mehrmals umfangreich geändert wurden, aber in ihren Grundstrukturen unverändert geblieben sind. Neben dem Erlass der neuen Kodifikationen in Polen müssen zudem zahlreiche Novellen des geltenden KK und des KPK berücksichtigt werden, die sich auf die gegenwärtige Gestalt dieser Gesetze auswirken. Diese zahlreichen Reformen des polnischen Strafrechts legen die These nahe, dass das polnische Strafrecht im Vergleich zum deutschen Strafrecht häufiger geändert wurde, wobei diese These allerdings weiterer Untersuchung bedarf. Sollte sich jedoch diese These als zutreffend erweisen, müsste sich dieser Unterschied auf die Auslegungskultur beider Länder auswirken: Grundsätzlich hätten die polnischen Gerichte im Vergleich zu den deutschen Gerichten bessere Möglichkeiten zur Berücksichtigung der Vorgängerregelungen bei der Lösung des betreffenden Auslegungsproblems. Zwar werden viele Regelungen von den älteren Kodifikationen ohne Änderung in die geltenden Kodizes übernommen, aber die Zahl der neuen Lösungen in den neu erlassenen Kodizes lässt genügend Raum für eine Berücksichtigung der aufgehobenen Regelungen. Aus diesen Änderungen könnten Schlüsse sowohl für als auch gegen ein bestimmtes Auslegungsergebnis gezogen werden. Die Verweise auf die Vorgeschichte weisen unterschiedliche Formen in der Rechtsprechung beider Gerichte auf, die in der vorliegenden Untersuchung nicht 752 753

T. Grzegorczyk/J. Tylman, Polskie poste˛powanie karne, 9. Auflage, 2014, Rn. 151. L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 215.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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vollständig dargestellt werden können. Beide Gerichte neigen jedoch dazu, auf die Vorgängerregelung in einer indirekten Weise Bezug zu nehmen, indem sie die unter der Geltung der alten Rechtslage entwickelte Rechtsprechung hervorheben, um die betreffende Auslegungsthese zu bestätigen bzw. abzulehnen. Diese Strategie lässt sich in den folgenden drei Fällen des OG feststellen. OG Fall 1 Im Beschluss (Postanowienie) vom 6.12.2006754 hat das OG bei der Auslegung des Begriffes „einbrechen“ im Sinne des Art. 279 § 1 KK755 sogar an die Rechtsprechung angeknüpft, die unter der Geltung des KK von 1932 entwickelt wurde. Das OG führte aus: „Diese Auffassung korrespondiert im Übrigen mit dem Verständnis des Begriffes ,einbrechen‘, das vom Obersten Gericht unter der Geltung der Rechtsordnung vertreten wurde, die vor dem Inkrafttreten des Strafkodexes von 1969 gegolten hat.“ 756

OG Fall 2 Im Beschluss (Postanowienie) vom 15.6.2007757 hat das OG bei der Auslegung des Begriffes des „Vermögens“ im Sinne des Art. 286 § 1 KK758 ausgeführt: „Es ist festzuhalten, dass das Oberste Gericht in der gegenwärtigen Besetzung die in der Rechtsprechung und in der Literatur herrschende Auffassung vollständig akzeptiert, dass der Gegenstand der Straftat des Betruges Vermögen im weitesten Sinne ist. Zu betonen ist, dass diese Auffassung unter der Geltung des vorangehenden Strafkodexes von 1969 schon vertreten wurde, indem angenommen wurde, dass unter das Schutzobjekt der Straftat des Betruges alle wirtschaftlichen Rechte (. . .) fallen.“ 759

OG Fall 3 In dem (schon vorangehend in anderem Kontext erwähnten) Urteil vom 20.12. 2006760 befasste sich das OG mit der Frage, ob unter dem Begriff des „Beför754

III KK 358/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 57. Art. 279 § 1 KK lautet: „Wer zur Ausführung eines Diebstahls einbricht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 756 OSNKW 2007, Nr. 2, S. 60. 757 I KZP 13/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 32. 758 Art. 286 § 1 KK lautet: „Wer in der Absicht, einen Vermögensvorteil zu erzielen, einen anderen dadurch zu einer nachteiligen Verfügung über eigenes oder fremdes Vermögen veranlaßt, daß er bei dieser Person einen Irrtum hervorruft oder einen bei ihr bestehenden Irrtum oder ihre Unfähigkeit, die vorzunehmende Handlung richtig aufzufassen, ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 759 OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 41. 760 I KZP 31/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 10. 755

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Teil 2: Empirische Analysen

derns durch das Gebiet der Republik Polen“ 761 im Sinne des Art. 55 Abs. 1 des Gesetzes vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht762 auch das Verhalten eines Täters subsumiert werden kann, der die Rauschmittel nur innerhalb des Gebiets der Republik Polen befördert hat, ohne die Staatsgrenze zu überqueren. Das OG kam zu der Schlussfolgerung, dass jener Begriff nur diejenigen Fälle erfasst, in denen der Täter die Grenze überquert hat. Dabei hat das OG die Argumentation mit der Feststellung begonnen, dass unter der Geltung des Gesetzes vom 24.4.1997 zur Verhütung der Rauschgiftsucht763 (Vorgängerregelung des Gesetzes vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht) allgemein anerkannt war, dass der Täter das Rauschmittel zumindest über eine Grenze befördern muss. An dieses Argument schließen sich weitere Argumente an. Ähnlich verfährt der BGH in dem folgenden Fall: BGH Fall 1 Dem Beschluss vom 11.7.2006764 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das Gericht hatte während der Vernehmung der Zeugin die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal gemäß § 247 Satz 2 StPO angeordnet. Nach Abschluss der Vernehmung der Zeugin entschied der Vorsitzende, dass sie unvereidigt bleibt. Der Angeklagte war somit während der Entscheidung des Vorsitzenden nicht anwesend gewesen. Als der Angeklagte hereingebeten und über den wesentlichen Inhalt der Vernehmung unterrichtet wurde, war die Zeugin in dem Sitzungssaal bereits nicht mehr anwesend, sie war im allseitigen Einverständnis entlassen worden. Der Angeklagte rügte, dass er während der Entscheidung des Vorsitzenden, die Zeugin unvereidigt zu lassen, nicht anwesend war. Der BGH wies diese Rüge ab und führte aus: „Der Revision ist allerdings einzuräumen, daß nach der unter der Geltung des alten Vereidigungsrechts entwickelten Rechtsprechung die Entfernung des Angeklagten nach § 247 StPO nur für die Vernehmung eines Zeugen selbst zulässig war, nicht jedoch für die Verhandlung und Entscheidung über dessen Vereidigung (st. Rspr.; BGHSt 22, 289, 297; 26, 218, 220). Nach § 59 StPO in der bis zum Inkrafttreten des 1. Justizmodernisierungsgesetzes (BGBl. 2004 I 2198 ff.) geltenden Fassung war die Vereidigung eines Zeugen der gesetzliche Regelfall. Von ihr konnte, sofern kein Vereidigungsverbot nach § 60 StPO aF bestand, nur ausnahmsweise gemäß §§ 61, 62 StPO aF abgesehen werden. Dazu war den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren. Im Hinblick darauf hat die bisherige Rechtsprechung das Vorliegen des absolu-

761

„Przewozi przez terytorium Rzeczypospolitej Polskiej“. Ustawa z dnia 29 lipca 2005 r. o przeciwdziałaniu narkomanii, Dz. U. 2012 Pos. 124. 763 Ustawa z dnia 24 kwietnia 1997 r. o przeciwdziałaniu narkomanii, Dz. U. 2003 Nr. 24, Pos. 198. 764 3 StR 216/06, BGHSt 51, 81. 762

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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ten Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 5 StPO angenommen, wenn der Angeklagte bei diesem Verhandlungsabschnitt abwesend war, und die Verhandlung über die Vereidigung ebenso wie die Vereidigung selbst regelmäßig als wesentlichen Teil der Hauptverhandlung angesehen (vgl. BGH NStZ 1999, 522 m.w. N.; krit. dazu Basdorf in FS für Salger S. 206 ff.).“ 765

An dieser Rechtsprechung will der BGH nicht mehr festhalten und führt aus: „Durch die Änderung des § 59 StPO ist die Regelvereidigung durch den Grundsatz ersetzt worden, daß Zeugen nur noch vereidigt werden, wenn es das Gericht wegen der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahren Aussage nach seinem Ermessen für notwendig hält. Damit ist das Regel-Ausnahme Verhältnis umgekehrt worden.“ 766

Diesem Argument schließen sich weitere Ausführungen an, die die Auffassung begründen sollen, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht gegeben ist. In der Rechtsprechung des BGH wird zudem nicht selten an die Vorgängerregelung im Kontext der herangezogenen Gesetzesmaterialien angeknüpft. BGH Fall 2 Im Urteil vom 26.8.2005767 hat der BGH entschieden, dass auch ein Beteiligter an der Vortat einer Geldwäsche, der auf der Grundlage des Strafausschließungsgrundes im Sinne des § 261 Abs. 9 S. 2 StGB wegen Geldwäsche selbst nicht strafbar ist, Mitglied einer Bande sein kann, die sich zur fortgesetzten Begehung einer Geldwäsche verbunden hat (§ 261 Abs. 4 S. 2 StGB). Dazu hat der BGH unter anderem ausgeführt. „Auch die Annahme bandenmäßigen Handels gemäß § 261 Abs. 4 Satz 2 StGB wäre jedenfalls nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Vortäter T. D., der nach Auffassung der Revision mit B. K. und dem Angeklagten eine Bande bildete, gemäß § 261 Abs. 9 Satz 2 StGB ,nach den Absätzen 1 bis 5 nicht bestraft‘ werden könnte. Durch das Gesetz vom 4. Mai 1998 (BGBl. I 845), mithin fast zwei Jahre vor der Tat, ist in § 261 Abs. 1 Satz 1 StGB die Anforderung gestrichen worden, daß es sich bei der Vortat um die Tat ,eines anderen‘ handeln mußte; hierdurch sollen gerade zweifelhafte Fälle der Beteiligung besser erfasst werden (vgl. BT-Drucks. 13/87651 S. 10 f.; Kreß wistra 1998, 125; Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 261 Rdn. 18 m.w. N.).“ 768

In dem nächsten Fall stellt der BGH die Vorgängerregelung und die geltende Regelung gegenüber und leitet aus dieser Zusammenstellung folgende Schlussfolgerungen ab.

765 766 767 768

Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 83. 2 StR 225/05, BGHSt 50, 224. Ebenda, S. 229 f.

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Teil 2: Empirische Analysen

BGH Fall 3 Im Beschluss vom 2.2.2006769 legte der BGH den § 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB in der Fassung des 6. StrRG aus, der auf der Grundlage des § 2 Abs. 1 und 2 StGB ausnahmsweise in dem anhängigen Verfahren Anwendung fand. Im Ergebnis verneinte der BGH die Subsumtion des Verhaltens des Täters unter den § 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB in der Fassung des 6. StrRG, das verlangt, dass der Täter das Kind dazu bestimmt, an seinem Körper sexuelle Handlungen vorzunehmen. Insbesondere reicht es nach der Ansicht des BGH nicht aus, dass der Täter lediglich das Kind dazu bestimmt, vor ihm in sexuell aufreizender Weise zu posieren. Im Hinblick auf die Vorgängerregelung zu § 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB in der Fassung des 6. StrRG stellte der BGH fest: „Das Bestimmen eines Kindes zur Vornahme einer nicht mit Manipulationen an seinem Körper verbundenen sexuellen Handlung wird aber von dem Tatbestand des § 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB i. d. F. des 6. StrRG nicht erfaßt. Im Gegensatz zu § 176 Abs. 5 Nr. 2 StGB i. d. F. des 4. StrRG, der das Bestimmen eines Kindes zur Vornahme sexueller Handlungen ,vor‘ dem Täter ,oder einem Dritten‘ unter Strafe stellte und demgemäß auch solche sexuellen Handlungen erfaßte (. . .), setzt § 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB i. d. F. des 6. StrRG – ebenso wie § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB nF – voraus, daß der Täter ein Kind dazu bestimmt, daß es sexuelle Handlungen an sich vornimmt.“ 770

Die Neufassung des Tatbestandes durch das 6. StrRG hat zur Einschränkung des bisherigen Anwendungsbereichs geführt. bb) Gesetzliche Materialien Die Untersuchung hat gezeigt, dass beide Gerichte in ihren Entscheidungsbegründungen in einem unterschiedlichen Ausmaß auf diejenigen Materialien Bezug nehmen, die dem Erlass eines Gesetzes oder einer Vorschrift zugrundelagen (BGH: 45, OG: 12). Dieser Unterschied wird noch deutlicher, wenn man die entsprechenden Teile der Begründungen beider Gerichte vergleicht. Dabei ist nicht zu übersehen, dass fast alle Entscheidungen des OG, die auf die gesetzlichen Materialien Bezug nehmen, der Ermittlung des Gesetzgeberswillens dienen. Daher wurden diese schon im Rahmen der „subjektiven Auslegung“ [siehe Pkt. V. 2. b) aa)] dargestellt. Demgegenüber verwendet der BGH die gesetzlichen Materialien auch in anderen Kontexten, die mit der teleologischen Kategorie nichts zu tun haben. Im Folgenden sollen diese Fälle vorgestellt werden (weitere Fälle siehe im Anhang C Pkt. 4.).

769 770

4 StR 570/05, BGHSt 50, 370. Ebenda, S. 371.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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BGH Fall 1 In einem besonders großen Ausmaß nimmt der BGH auf die gesetzgeberischen Materialien in dem Beschluss vom 22.6.2004771 Bezug. Daher soll diese Entscheidung möglichst umfangreich dargestellt werden, weil sie zeigt, wie ausführlich sich der BGH mit den gesetzlichen Materialien auseinandersetzen kann. Keinesfalls kann diese Entscheidung als Ausnahme betrachtet werden. In dem behandelten Beschluss steht der Begriff einer „rechtswidrigen Absprache“ im Sinne des § 298 Abs. 1 StGB im Mittelpunkt. Im Ergebnis kommt der BGH zu der Schlussfolgerung, dass unter diesen Begriff nur kartellwidrige Absprachen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen zu subsumieren sind („vertikale“ Absprache). Damit wurde die „horizontale“ Absprache, d. h. die Absprache zwischen dem Anbieter und einer Person auf der Seite des Veranstalters, abgelehnt. Für das Auslegungsergebnis sprechen nach der Auffassung des BGH auch die Entstehungsmaterialien zu dem Gesetz, wobei der BGH versucht, einige Sätze aus diesen Materialien zu relativieren, um das gefundene Ergebnis zu begründen. Hier das erste Beispiel: „Hiergegen spricht nicht, daß in der Begründung zu dem Gesetzesentwurf (BTDrucks. 13/5584 S. 14) ausgeführt ist, daß ,gerade die Fälle besonders strafwürdig (sind), bei denen der Bieter kollusiv mit einem Mitarbeiter des Veranstalters, dessen Kenntnis dem Veranstalter zugerechnet werden kann, zusammenbietet‘. Dieser Satz muß im Zusammenhang mit der unmittelbar vorausgehenden Passage gesehen werden, wonach – entgegen der Gesetzesinitiative des Bundesrates (BT-Drucks. 13/3353 S. 5, 10) – ,die zugrundeliegende rechtswidrige Absprache vor dem Veranstalter der Ausschreibung‘ nicht verheimlicht werden müsse, zumal in diesen Fällen der Wettbewerb zum Nachteil der ,nichtkartellangehörigen‘ Unternehmen beeinträchtigt werden könne (BT-Drucks. 13/5584 S. 14). Diese Ausführungen setzen bereits eine Absprache zwischen Kartellmitgliedern voraus. In seiner Beschlußempfehlung und dem Bericht vom 26. Juni 1997 hat der Rechtsausschuß des Bundestages ausdrücklich klargestellt, daß mit der Beschränkung auf rechtswidrige Absprachen nur kartellrechtswidriges Verhalten gemeint ist (BT-Drucks. 13/8079 S. 14).“ 772

Das angeführte Zitat zeigt deutlich, dass der BGH bereit ist, auch gesetzliche Materialien auszulegen. Dieser Umstand kann nicht verwundern, da die gesetzlichen Materialien sprachlich verfasst sind, so dass sie ebenfalls verstanden (ausgelegt) werden müssen, bevor sie bei der Argumentation in Anspruch genommen werden können. In dem behandelten Zitat hat der BGH den Kontext berücksichtigt, um den für die Entscheidung maßgebenden Satz („gerade die Fälle [. . .]“) aus der Begründung zu dem Gesetzesentwurf auszulegen. Durch diese Vorgehensweise gelingt es dem BGH, dem betreffenden Satz eine Bedeutung zu verleihen, die sich von der streng wortlautorientierten Bedeutung entfernt und das vom BGH gefundene Ergebnis unterstützt. Damit hört der BGH jedoch nicht auf 771 772

4 StR 428/03, BGHSt 49, 201. Ebenda, S. 206.

382

Teil 2: Empirische Analysen

und setzt sich mit den Gesetzesmaterialien weiter auseinander, weil sie auch in einem weiteren Teil gegen das vom BGH bevorzugte Ergebnis sprechen. „Zwar wurde im Gesetzgebungsverfahren auf die – zu den Tatzeiten in den Fällen 3 und 4 der Anklage geltenden – §§ 1, 25 GWB aF Bezug genommen (BT-Drucks. 13/ 5584 S. 13, 14), die im Gegensatz zu § 1 GWB nF keine Beschränkung auf miteinander im Wettbewerb stehende Unternehmen enthielten, vielmehr nach der Rechtsprechung neben den horizontalen Vereinbarungen (vgl. BGH NJW-RR 1986, 1486, 1487 und nunmehr auch zu GWB nF BGHZ 154, 21, 27 f.) ausnahmsweise auch vertikale Vereinbarungen mit wettbewerbsbeschränkender Wirkung im Verhältnis einer Partei zu Dritten erfassen konnte (. . .). Doch war für die Anwendung des § 1 GWB aF jedenfalls dann kein Raum, wenn sich – wie hier – die Beziehung der Parteien in einem Austauschvertrag über eine Ware oder gewerbliche Leistung erschöpfte und darüber hinaus keine der Parteien in ihrer wettbewerblichen Handlungsfreiheit im Verhältnis zur begünstigen Partei oder zu Dritten beschränkt wurde (. . .).“ 773

Aus beiden Zitaten geht deutlich hervor, dass der BGH seine Entscheidung nicht gegen die gesetzlichen Materialien fällen will. Im dem weiteren Teil der Begründung greift der BGH wieder auf die Gesetzesmaterialien zurück, um das Ergebnis auch teleologisch zu untermauern:774 „(2) Da der Gesetzgeber mit § 298 StGB nur einen ,Teilbereich der bisherigen [Kartell-]Ordnungswidrigkeiten‘ kriminalisieren wollte (BT-Drucks. 13/5584 S. 13 f.; Korte NStZ 1997, 513, 516), wird die – nach Auffassung des Senats – auf horizontale Absprachen beschränkte Anwendung der Vorschrift nicht dadurch berührt, daß unter Umständen auch vertikale Vereinbarungen wettbewerbsrechtlich verboten sind ([. . .]; vgl. auch den Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum Siebten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 28. Mai 2004 – BRDrucks. 441/04, S. 5, 35 f.; 39 f.; 75); durch sie werden möglicherweise Bußgeldtatbestände (§ 81 GWB) erfüllt.“ 775

Um das Ergebnis abzusichern und den eventuellen Einwand zu entkräften, dass der erkennende Senat etwas übersehen habe, kommen nochmals die Entstehungsmaterialien zur Sprache: „(3) Der Senat verkennt nicht, daß beim kollusiven Zusammenwirken eines einzelnen Anbieters mit einer Person auf der Seite des Veranstalters der Ausschreibung (vertikale Absprache) der durch das Institut der Ausschreibung geschützte freie Wettbewerb, die Vermögensinteressen des Veranstalters und die der unbeteiligten Mitwettbewerber im Einzelfall ebenso betroffen sein können wie bei einer Kartellabsprache zwischen mehreren Bietern. Dennoch ist der strafrechtliche Schutz begrenzt, denn rein vertikalen Absprachen fehlt die für horizontale Submissionsabsprachen, insbesondere für Ringvereinbarungen im Bauwesen, typische, wirtschaftspolitisch gefährliche Tendenz zur Wiederholung, die mit § 298 StGB bekämpft werden sollte 773

Ebenda, S. 206 f. Das folgende Zitat sollte eigentlich im Pkt. V. 2. b) aa) (Subjektive Auslegung) dargestellt werden, aber es wird ausnahmsweise in diesem Punkt angeführt, um die historische Argumentation des BGH vollständig zu zeigen. 775 BGHSt 49, 207. 774

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

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(vgl. BT-Drucks. 13/5584 S. 13; vgl. auch BR-Drucks. 441/04 S. 40 [grundsätzlich geringere wettbewerbspolitische Schädlichkeit der vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen]; Tiedemann a. a. O. § 298 Rdn. 6 [,Gegenseitigkeitsprinzip‘ bei Submissionsabsprachen]; ders. in FS für Müller-Dietz S. 905, 910 f.]. Beteiligt sich eine Person auf der Seite des Veranstalters an der Tat, so kann sie sich allerdings nach § 298 StGB strafbar machen (. . .).“ 776

Im Ergebnis hat der BGH, wie oben ausgeführt, die „horizontale“ Absprache als Fall des § 298 Abs. 1 StGB abgelehnt. BGH Fall 2 Aus den Begründungen zu den Gesetzesentwürfen sind auch Gesichtspunkte herangezogen worden, die die Tatbestandsmerkmale einer Vorschrift ergänzen. Da es sich in diesem Fall um eine Auslegung zu Gunsten des Verurteilten handelt, ist sie im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG unproblematisch. Als Beispiel kann der Beschluss vom 9.11.2005777 dienen, in dem sich der BGH unter anderem mit der Auslegung des Begriffes „Tatsachen“ im Sinne des § 66b StGB befasste. In Bezug auf den Gesetzesentwurf (BT-Drucks 15/2887, S. 12) stellte der BGH fest, dass die nachträglich erkennbar gewordenen Tatsachen eine „gewisse Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten müssen. Dazu führte der BGH aus: „bb) Darüber hinaus müssen die nachträglich erkennbar gewordenen Tatsachen eine ,gewisse Erheblichkeitsschwelle‘ überschreiten (BT-Drucks. a. a. O. S. 12; Lackner/ Kühl StGB 25. Aufl. § 66 b Rdn. 4). Die Frage der Erheblichkeit der ,neuen Tatsache‘ für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage, die vom Gericht in eigener Verantwortung ohne Bindung an die Auffassung der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als eine zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörende Maßnahme, die an eine Straftat anknüpft und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat bezieht (vgl. BVerfGE 109, 190, Leitsatz Ziff. 1 Buchst. a) folgt, daß sich die Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen ,neuen Tatsache‘ vor dem Hintergrund der bei der Anlaßverurteilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt und deshalb voraussetzt, daß die ,nova‘ in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlaßtatverurteilung stehen.“ 778

Im Ergebnis nahm der BGH an, dass die Therapieunwilligkeit des Verurteilten in der Entziehungsanstalt vor dem Hintergrund der Anlassverurteilung eine „erhebliche (neue) Tatsache“ darstellt.779 Eine gesonderte Gruppe von Fällen bilden diejenigen Entscheidungen, in denen der BGH auf die gesetzlichen Materialien Bezug nimmt, obwohl sie nicht weiterhelfen. Diese Vorgehensweise erhärtet die These, dass der BGH den gesetzlichen Materialien eine sehr wichtige Rolle zu-

776 777 778 779

Ebenda, S. 207 f. 4 StR 483/05, BGHSt 50, 275. Ebenda, S. 278 f. Ebenda, S. 281.

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Teil 2: Empirische Analysen

misst und sie auch dann in der Begründung für erwähnenswert hält, wenn sich aus ihnen keine eindeutigen Schlüsse ziehen lassen. BGH Fall 3 Im Urteil vom 16.6.2005780 steht der Begriff der „Bande“ im Sinne der §§ 30 Abs. 1 Nr. 1, 30a Abs. 1 BtMG im Mittelpunkt der Auslegung. „cc) Auch die Betrachtung der historischen Entwicklung des Bandenbegriffs führt nicht weiter. Die Materialien zum Preußischen StGB 1851 und zum RStGB äußern sich nicht näher zu den Voraussetzungen der Bandenabrede (vgl. Goltdammer Materialien zum PrStGB Band 2 (1852), S. 486 f.; Hahn, StGB 3. Aufl. 1877 § 243 Nr. 6 Anm. 13). Es war damals aber bereits anerkannt, daß eine Bandenbildung bei bloß zufälligem Zusammentreffen ausgeschlossen sei, indes schon eine stillschweigende Verbindung ausreichen sollte (vgl. RGSt 9, 296; 56, 90; von Ohlshausen Kommentar zum StGB 11. Aufl. 1927 § 243 Anm. 47). Die Interpretation anhand der Materialien zur Einführung der Bandendelikte in das StGB (1969), in das BtMG (1972) und in die AO (1977) bringt ebensowenig ein eindeutiges Ergebnis. So geht die Fassung des Bandendiebstahls in § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB auf einen Entwurf, der vom Täter als ,Mitglied einer Gruppe‘ spricht, zurück; der bandenmäßige Schmuggel in § 373 Abs. 2 Nr. 3 AO knüpft an Vorschriften des Vereinszollgesetzes an, die eine komplottmäßig handelnde, auch äußerlich als Bande in Erscheinung tretende Personenmehrheit voraussetzten, bei der es einer vorausgegangenen Verabredung nicht bedurfte (RGSt 54, 246). Schließlich fiel bei den Bandendelikten im BtMG das im StGB teilweise verwendete Merkmal der Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds ersatzlos weg, ohne daß den Materialien dafür eine Begründung entnommen werden könnte (zum Ganzen BGH NStZ 2000, 474, 476; Schild GA 1982, 55, 59 ff.).“ 781

In dem betreffenden Zitat hat der BGH sogar an die Materialien zum Preußischen StGB und zum RStGB angeknüpft. Dass der BGH bereit ist, die gesetzlichen Materialien aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zu berücksichtigen, obwohl sie bei der Auslegung der behandelten Vorschrift nicht behilflich sind, zeugt davon, welche Rolle der BGH der geschichtlichen Perspektive zumisst. BGH Fall 4 Ähnlich verfährt der BGH im Urteil vom 25.11.2005782, in dem die Frage im Mittelpunkt stand, ob ein Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung eine Begründung voraussetzt. Auch in diesem Fall konnte der BGH aus den gesetzlichen Materialien keine Argumente gewinnen. Trotzdem erwähnt er den entsprechenden Gesetzesentwurf. 780 781 782

3 StR 492/04, BGHSt 50, 160. Ebenda, S. 165 f. 2 StR 272/05, BGHSt 50, 285.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

385

„Weder § 66 b StGB noch § 275 a StPO enthalten inhaltliche Mindestanforderungen für den Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung. Auch den Gesetzesmaterialien (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, BT-Drucks. 15/2887; Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. 15/ 3346) ist hierbei nichts zu entnehmen.“ 783

Im Gegensatz zu der Rechtsprechung des BGH sind Verweise auf die Gesetzesmaterialien in der Rechtsprechung des OG nicht so umfangreich vorhanden. Wie oben festgestellt wurde, ermitteln fast alle Entscheidungen des OG, die auf die gesetzlichen Materialien Bezug nehmen, den Gesetzgeberwillen. Diese Entscheidungen wurden daher schon im Rahmen desjenigen Abschnitts dargestellt, der der „subjektiven Auslegung“ [siehe Pkt. V. 2. b) aa)] gewidmet wurde. Ein Fall, der sich auf die Gesetzesmaterialien bezieht und sich mit dem Zweck der Regelung nicht auseinandersetzt, wird im Folgenden vorgestellt. OG Fall 1 Im Beschluss (Uchwała) vom 21.3.2007784 befasst sich das OG mit der Frage, ob die Bedeutung der Begriffes „przemoc“ (auf Deutsch: Gewalt) im Sinne des Art. 280 § 1 KK der Bedeutung des Begriffes „gwałt na osobie“ (auf Deutsch: Gewalt gegen eine Person) im Sinne des Art. 130 § 3 des Übertretungskodexes entspricht. Im Ergebnis verneinte das OG die vom Rechtsmittelgericht gestellte Frage und nahm dabei auf die Gesetzesmaterialien zum Strafkodex von 1932 Bezug. Das OG stellte fest: „Man muss betonen, dass in der Zeit zwischen zwei Kriegen sowohl in der Dogmatik als auch in der Rechtsprechung beide Begriffe „Gewalt gegen eine Person“ (Gemeint ist hier der Begriff „gwałt na osobie“, Anm. des Verf.) (. . .) und „Gewalt“ (Gemeint ist hier der Begriff „przemoc“, Anm. des Verf.) gleich verstanden wurden. In den Motiven der Kodifikationskommission wurde bei der Erörterung des Begriffes der Gewalt (Gemeint ist hier der Begriff „gwałt“, Anm. des Verf.) auch die Auffassung geäußert, dass diese Handlungen auf der Verwendung von Gewalt „in irgendeiner Form beruhen, die der Strafkodex in den entsprechenden Kapiteln vorsieht“ (Kodifizierungskommission der RP, Sektion des Strafrechts, Bd. V, H. 4, S. 90).“ 785

Dieses kurze Zitat ist offenkundig den umfangreichen und ausführlichen Äußerungen des BGH nicht vergleichbar, die oben wiedergegeben wurden. Die Zusammenstellung der Äußerungen der beiden höchsten Gerichte, die sich auf die Gesetzesmaterialien beziehen, zeigt jedoch einen erheblichen Unterschied zwischen beiden Argumentationskulturen. Es ist deutlich geworden, dass die Bezüge auf die gesetzlichen Materialien die Begründungskultur des BGH in der amtli-

783 784 785

Ebenda, S. 289. I KZP 39/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 1. Ebenda, S. 10.

386

Teil 2: Empirische Analysen

chen Sammlung im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG wesentlich stärker prägen. d) Außergesetzliche Analysekategorien Für die substanzielle (wertorientierte) Rechtsprechung ist die Verwendung von außergesetzlichen Wertungsmaßstäben charakteristisch, die nicht unmittelbar im Gesetz verankert sind. Die Untersuchung ergab, dass in der Rechtsprechung des BGH und des OG vor allem folgende außergesetzliche Topoi Verwendung finden. Tabelle 18 Außergesetzliche Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG Außergesetzliche Topoi

BGH

OG

Billigkeit/Vernunft

9

6

Absurdes Ergebnis

9

16

Außerrechtswissenschaftliches Fachwissen

3

0

Prozessökonomie

9

3

Ressourcen der Justiz

4

1

Wesen der Sache

3

11

Autorität der Rechtspflege

1

2

Akzeptanz der bisherigen Auslegung durch den Gesetzgeber/das Unterbleiben des Tätigwerdens des Gesetzgebers

4

4

Grundsatz des rationalen Gesetzgebers

0

15

17

12

Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen

3

2

Rationalität

0

23

Sicherheit der Bürger

8

6

Ökonomische Aspekte

2

2

Praxis

Humanitäre Gesichtspunkte Folgen

2

3

49

40

Aus der Tabelle geht deutlich hervor, dass beide Gerichte in ihren Entscheidungsbegründungen an Topoi anknüpfen, die keinen direkten Bezug zu dem Gesetz aufweisen. Die Anzahl dieser Topoi ist beträchtlich; ebenso die Anzahl der Entscheidungen, in denen diese Topoi zur Anwendung kommen. Am häufigsten berücksichtigen die Gerichte die Folgen einer Erwägung bzw. eines Auslegungs-

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

387

ergebnisses (BGH: 49; OG: 40). Dieser Befund zeugt von der pragmatischen Einstellung beider Gerichte und zeigt die antiformalistische Dimension ihrer Rechtsprechung. Der Topos „Folgen“ muss jedoch in dem Zusammenhang mit dem Topos des „absurden Ergebnisses“ betrachtet werden (BGH: 9; OG: 16)786, weil beide Topoi Berührungspunkte aufweisen. Hier überrascht vor allem die Anzahl der Entscheidungen des OG, in denen es den Topos des „absurden Ergebnisses“ berücksichtigt hat (16 Entscheidungen). Dieser Befund relativiert offenkundig die Bedeutung der methodischen Äußerungen des OG zum Vorrang der sprachlichen Auslegungsmethode innerhalb der Auslegungskriterien. Die sprachliche Auslegungsmethode spielt selbstverständlich in der Rechtsprechung des OG eine wichtige Rolle, aber ihre Ergebnisse werden unter anderem auf der Ebene der Konsequenzen kontrolliert. Von dem mehrdimensionalen Denken des OG zeugt auch die relativ hohe Anzahl der Verweise auf die Rationalität (23 Entscheidungen) und auf den Grundsatz des rationalen Gesetzgebers (15 Entscheidungen). Den zuletzt genannten Topos findet man in der Rechtsprechung des BGH kaum. Diese Feststellung muss jedoch nicht bedeuten, dass der BGH die Inhalte, mit denen das OG den Grundsatz des rationalen Gesetzgebers assoziiert, nicht einem anderen Topos zuordnet. Diese Vermutung betrifft auch die Tatsache, dass der BGH den Begriff „Rationalität“ in seinen Entscheidungsbegründungen kaum verwendet. Die Suche nach einer möglichst rationalen Entscheidung ist in der Rechtsprechung des BGH offenkundig und die Vermeidung des Begriffes „Rationalität“ durch den BGH vermag diese Einschätzung nicht zu entkräften. Der BGH knüpft durchaus an Billigkeits- und Vernunftargumente an (9 Entscheidungen); auch dem OG sind diese Kategorien nicht fremd (6 Entscheidungen). Nicht selten argumentiert das OG mit dem Wesen der Sache (11 Entscheidungen); der BGH verwendet diesen Topos mit größerer Zurückhaltung (3 Entscheidungen). In keiner Begründung hat das OG im Gegensatz zum BGH außerrechtswissenschaftliches Fachwissen herangezogen; der BGH knüpfte an diesen Topos in 3 Entscheidungen an. Beiden Gerichten ist jedoch die Argumentation gemeinsam, die praktische Aspekte mitberücksichtigt (BGH: 17; OG: 12). Im Folgenden werden die ausgewählten Topoi näher analysiert. aa) Außerrechtswissenschaftliches Fachwissen Die Untersuchung legt die These nahe, dass der BGH sich im Vergleich zum OG in deutlich größerem Umfang auf außerrechtswissenschaftliches Fachwissen stützt. In den analysierten Entscheidungen verdienen insbesondere diejenigen Begründungen Beachtung, in denen der BGH sich mit der Auslegung des Begriffes „nicht geringe Menge“ im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG787 und des Begrif786 787

Beide Topoi wurden gesondert gezählt. Urteil vom 28.10.2004, 4 StR 59/04, BGHSt 49, 306.

388

Teil 2: Empirische Analysen

fes einer „anderen seelischen Abartigkeit“ im Sinne des § 20 StGB788 befasst hat. In keiner der 100 in Betracht gezogenen Entscheidungen des OG wurde in so weitem Umfang auf Fachwissen zurückgegriffen wie in den erwähnten Entscheidungen des BGH. In der ersten der erwähnten Entscheidungen hat der BGH, um den Begriff „einer nicht geringen Menge“ bei Khat-Pflanzen zu konkretisieren, den chemischen Gehalt dieses Betäubungsmittels und seine Auswirkungen ausführlich dargestellt. Dazu zwei Zitate aus der Begründung, die davon zeugen, dass der BGH sich nicht scheut, die Grenzen des juristischen Wissens zu überschreiten: BGH Fall 1 „Cathinon (chemische Bezeichnung: [S]-2-Amino-1-phenylpropan-1-on) ist der Hauptwirkstoff der Khat-Pflanzen, ein weiterer Wirkstoff ist das Cathin (chemische Bezeichnung: [1S,2S]-2-Amino-1-phonylpropan-1-ol).“ 789 „Khat (botanischer Name catha edulis) ist ein Strauchgewächs, das ursprünglich aus Äthiopien stammt und sich von dort bis Südafrika sowie im arabischen Raum verbreitet hat. Die Blätter des Strauchs enthalten als natürliche Alkaloide (sog. Kathamine) die das Zentralnervensystem anregenden Wirkstoffe Cathinon und Cathin. Dabei ist Cathinon in seinen pharmokologisch-texikologischen Eigenschaften am ehesten mit dem Amphetamin vergleichbar. Cathinon übt – dem Amphetamin ähnlich – überwiegend zentrale, das Nervensystem beeinflussende, jedoch auch periphere, auf Herz- und Kreislaufsystem gerichtete Wirkungen aus.“ 790

Insbesondere auf der Grundlage dieses Fachwissens, aber auch weiterer Gesichtspunkte hat der BGH in dieser Entscheidung das Auslegungsproblem gelöst.791 788

Urteil vom 21.1.2004, 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45. Urteil vom 28.10.2004, 4 StR 59/04, BGHSt 49, 306, 310. 790 Ebenda. 791 Leider wurde in den in Betracht gezogenen 100 Entscheidungen des OG keine Begründung festgestellt, in der sich das OG mit dem Begriff einer „bedeutenden Menge“ eines Betäubungsmittels beschäftigt hätte. Dieser Begriff kommt jedoch im Art. 53 Abs. 2, Art. 55 Abs. 3, Art. 56 Abs. 3 und Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes vom 29.7.2005 zur Verhütung der Rauschgiftsucht (Ustawa z dnia 29 lipca 2005 r. o przeciwdziałaniu narkomanii, Dz. U. 2012 Pos. 124) vor und wurde vom OG schon mehrmals interpretiert. Die Analyse der diesbezüglichen Rechtsprechung [Beschluss (Postanowienie) vom 23.9.2009, I KZP 10/09, OSNKW 2009, Nr. 10, S. 48; Beschluss (Postanowienie) vom 1.2.2007, III KK 257/06, OSNwSK 2007, S. 1; Urteil vom 1.3.2006, II KK 47/05, OSNKW 2006, Nr. 6, S. 45] ergibt, dass das OG in diesen Entscheidungen vom Fachwissen kein Gebrauch gemacht hat. Es hat sich vor allem auf die Auffassungen der Literatur gestützt, in denen angenommen wurde, dass unter dem Begriff einer „bedeutenden Menge“ eines Betäubungsmittels eine Menge zu verstehen ist, die ausreicht, um die Rauschwirkung von Dutzenden von Personen zu erzielen. Dies weicht deutlich von der Rechtsprechung des BGH ab, der die Grenzwerte der „nicht geringen Menge“ z. B. bei Amphetamin bei 200 Konsumeinheiten (Urteil vom 11.4. 1985, 1 StR 507/84, BGHSt 33, 169, 169; Urteil vom 1.9.1987, 1 StR 191/87, BGHSt 789

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

389

Noch weiter in der Verwendung fachwissenschaftlicher Kategorien ging der BGH bei der Bestimmung des Begriffes einer „anderen seelischen Abartigkeit“ im Sinne des § 20 StGB. Hier kommt erwartungsgemäß psychologisch-psychiatrisches Fachwissen zur Anwendung. In dem Teil der Begründung, in dem der BGH sich mit dem Auslegungsproblem befasst hat, inwieweit eine Persönlichkeitsstörung als „andere seelische Abartigkeit“ betrachtet werden kann, greift der BGH weitgehend auf die in der forensischen Psychiatrie gebräuchlichen diagnostischen und statistischen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV zurück. Dazu zwei Beispiele: BGH Fall 2 „Bei der ICD-10 F 60.0 (DSM-IV 301.0) genannten Störungsgruppe ,Persönlichkeitsstörung‘ handelt es sich um einen Oberbegriff. Es werden völlig unterschiedliche typologisch definierte Varianten beschrieben, die je nach Ausprägung als normal oder abnorm zugeordnet werden.“ 792 „Gelangt der Sachverständige – wie hier – zur Diagnose einer ,dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung‘ (ICD-10 F 60.2 und DSM-IV 301.7: ,Mißachtung sozialer Normen‘) und einer ,schizoiden Persönlichkeitsstörung‘ (ICD-10 F. 60.1 und DSM IV 301.20: ,Distanziertheit in sozialen Beziehungen, eingeschränkte emotionale Ausdrucksmöglichkeiten‘), so ist diese psychiatrische Diagnose indes nicht mit der ,schweren anderen seelischen Abartigkeit‘ in § 20 StGB gleichzusetzen.“ 793

Auch andere Teile dieser Begründung sind mit psychiatrischen Kategorien durchsetzt. bb) Grundsatz des rationalen Gesetzgebers Die Untersuchung hat gezeigt, dass in der Rechtsprechung des OG der „Grundsatz des rationalen Gesetzgebers“ eine bedeutsame Rolle spielt (15 Entscheidungen). In der Rechtsprechung des BGH kommt dieser Begriff kaum zur Anwendung. In dieser Hinsicht liegt somit ein erheblicher Unterschied zwischen der Rechtsprechung des BGH und des OG vor, wobei man nicht ausschließen kann, dass das OG mit diesem Begriff Inhalte assoziiert, die in der deutschen Rechtsprechung unter anderer Begrifflichkeit verwendet werden. Insbesondere liegen hier Ähnlichkeiten zu der objektiven Auslegung nahe, wonach der Richter im Zweifelsfall danach entscheidet, welche Antwort auf die anstehenden Rechtsfragen aus seiner Sicht „objektiv vernünftig“ 794 ist. Um jedoch die Inhalte zu zeigen, die das OG mit dem Grundsatz des rationalen Gesetzgebers verbindet,

35, 43, 48) bzw. bei 250 Konsumeinheiten (Urteil vom 9.10.1996, 3 StR 220/96, BGHSt 42, 255, 267) festgestellt hat. 792 Urteil vom 21.1.2004, 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 50. 793 Ebenda, S. 52. 794 B. Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2/2006, S. 54.

390

Teil 2: Empirische Analysen

sind zunächst diejenigen Entscheidungen zu berücksichtigen, in denen das OG diesen Grundsatz näher definiert hat. OG Fall 1 Im Beschluss (Postanowienie) vom 26.4.2007795 hat das OG den Grundsatz des rationalen Gesetzgebers mit folgenden Worten näher bestimmt. „Bei der Auslegung dieser Vorschrift darf man die Interpretationsvermutungen nicht außer Acht lassen, die eine wichtige Kategorie der Auslegungsdirektiven darstellen. Zu den wichtigsten Interpretationsvermutungen, die in der Rechtsprechung vorkommen, gehört unter anderem folgende Regel: Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm und die Vermutung der Rationalität des Gesetzgebers. Die erwähnten Vermutungen als Interpretationsvermutungen konstituieren das Gebot, dass der Interpret nach einer solchen Auslegung einer Vorschrift streben soll, die mit der Vermutung vereinbar ist, z. B. soll er diejenige Auslegung einer Vorschrift finden, die davon ausgeht, dass der Gesetzgeber rational handelt. Zu den am meisten verwendeten Interpretationsvermutungen gehört neben der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit die Vermutung der Rationalität des Gesetzgebers. Das Oberste Gericht hat schon mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass die grundlegenden Auslegungsregeln als Ausgangspunkt die Rationalität des Gesetzgebers annehmen, was bedeutet, dass er die Vorschriften sinnvoll, zweckmäßig und rational setzt (z. B. Beschluss des Obersten Gerichts vom 22. Juni 1999, I KZP 19/99, OSNKW 1999, Heft 7–8, Pos. 42).“ 796

In dieser Äußerung des OG ist insbesondere hervorzuheben, dass das OG den rationalen Gesetzgeber nicht mit dem faktischen Gesetzgeber identifiziert, sondern den Grundsatz des rationalen Gesetzgebers lediglich als hypothetische Vermutung betrachtet. Diese Annahme nimmt dem Interpreten vorab die Möglichkeit anzunehmen, dass die Vorschrift sinnlos, unzweckmäßig oder irrational ist. Demzufolge verpflichtet der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers den Interpreten zur Suche nach einem solchen Auslegungsergebnis, das rational wäre. Dieser Grundsatz gehört somit zu den Auslegungsregeln, die der Gesetzesanwender bei der Interpretation der auslegungsbedürftigen Vorschriften beachten soll. OG Fall 2 Die Betonung teleologischer Kriterien und der Rationalität im Kontext des Grundsatzes des rationalen Gesetzgebers lässt sich auch im Urteil vom 22.8. 2007797 feststellen. In dieser Entscheidung hat das OG ausgeführt: „Ausgeschlossen ist die Betrachtung der Handlungen des Gesetzgebers als irrational oder chaotisch und ohne ein strikt bestimmtes Ziel.“ 798 795 796 797 798

I KZP 6/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 1. Ebenda, S. 15. III KK 197/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 29. Ebenda, S. 33.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

391

Neu ist in dieser Äußerung im Vergleich zu dem vorangehenden Zitat die Bezeichnung „chaotisch“, die darauf hinweist, dass die Vorschriften ein Ergebnis eines überdachten Vorgehens des Gesetzgebers sind, der planmäßig die Gesetze vorbereitet und erlässt. OG Fall 3 Im Beschluss (Postanowienie) vom 5.10.2007799 hebt das OG dagegen den Inhalt der Vorschriften hervor: „(. . .) die Annahme, dass der Gesetzgeber rational handelt und keine Vorschriften erlässt, die in irgendeiner Hinsicht leer sind, lässt annehmen, dass (. . .).“ 800

Diese Äußerung suggeriert, dass jede Vorschrift eine Bedeutung hat, die einfach ermittelt werden soll. Der rationale Gesetzgeber kann keine bedeutungslosen Vorschriften erlassen. Die Aufgabe des Interpreten liegt in der Ermittlung dieser Bedeutung. Eine gesonderte Gruppe bilden diejenigen Äußerungen, in denen das OG den Grundsatz des rationalen Gesetzgebers mit dem Per-non-est-Verbot verbindet. Diese Äußerungen legen den Gedanken nahe, dass der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers aus der Perspektive des OG die Berücksichtigung der sprachlichen Aspekte bei der Auslegung erfordert. OG Fall 4 Im Beschluss (Postanowienie) vom 26.7.2007801 lässt sich folgende Äußerung des OG feststellen802: „Angesichts dessen ist unter Berücksichtigung der rechtstheoretischen Literatur daran zu erinnern, dass im Zuge der dogmatischen Exegese der Vorschriften von Anfang an die Möglichkeit abzulehnen ist, dass die Vorschriften ein Ergebnis irrationalen Handelns sind. Man nimmt an, dass kein Wort in einer Rechtsvorschrift entbehrlich ist und dementsprechend diejenige Auslegung nicht zulässig ist, die einen Teil des Gesetzestextes entbehrlich macht. Außerdem nimmt man an, dass die Vorschriften eines Gesetzes untereinander verbunden sind und daher darf bei ihrer Auslegung der Kontext des Gesetzes nicht vernachlässigt werden (vgl. unter anderen S. Wronkowska, M. Zielin´ski, Z. Ziembin´ski: Zasady prawa. Zagadnienia podstawowe, Warszawa 1974; L. Morawski: Wste˛p do prawoznawstwa, Torun´ 1998; D. Czajka: Teoria sa˛dzenia, Warszawa 2006).“ 803

799

SND 2/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 55. Ebenda, S. 81. 801 I KZP 16/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 9. 802 Zwar hat das OG in diesem Zitat den Grundsatz des rationalen Gesetzgebers nicht ausdrücklich erwähnt, aber der erste Satz lässt ohne Zweifel darauf schließen, dass dieser Begriff in dem angeführten Zitat gemeint ist. 803 OSNKW 2007, Nr. 9, S. 15 f. 800

392

Teil 2: Empirische Analysen

In diesem Zitat bezieht sich das OG wieder auf die methodische Literatur. Sie fordert in diesem Fall eine vollständige Betrachtung der Vorschriften, die in ihrer Gesamtheit ausgelegt werden müssen. Der Interpret darf daher kein Wort unberücksichtigt lassen, weil der rationale Gesetzgeber dieses Wort in der Vorschrift nicht zufällig verwendet hat. Insgesamt gesehen wertet der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers in diesem Zusammenhang die Sprache auf, die als geeignetes Medium zur Kommunikation zwischen dem faktischen Gesetzgeber und dem Empfänger angesehen wird. OG Fall 5 Ähnlich verfährt das OG im Beschluss (Postanowienie) vom 29.8.2007804, in dem es ausführt: „Im Widerspruch zu dem Grundsatz der Rationalität des Gesetzgebers und dem Verbot der Auslegung per non est (,es ist dem Interpreten verboten, die Vorschriften so auszulegen, dass bestimmte Teile von ihnen als entbehrlich erscheinen‘) stände die vom Berufungsgericht suggerierte These (. . .).“ 805

Der Zusammenhang zwischen dem Grundsatz des rationalen Gesetzgebers und dem Per-non-est-Verbot wird noch in dem Beschluss (Postanowienie) vom 26.10. 2007806 betont. In der folgenden Entscheidung wird dagegen der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers mit der Direktive der terminologischen Konsequenz assoziiert: OG Fall 6 Im Beschluss (Uchwała) vom 19.12.2007807 stellte das OG fest: „Nimmt man die terminologische Konsequenz an, die mit dem postulierten Grundsatz des rationalen Gesetzgebers verbunden ist, ist festzuhalten, dass (. . .).“ 808

In diesem Zitat setzt die Rationalität, die der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers voraussetzt, eine konsequente Anwendung der Vorschriften aus allen Rechtsgebieten voraus. Im Umkehrschluss kann angenommen werden, dass es im Ergebnis irrational wäre, gleichen Begriffen unterschiedliche Bedeutungen zuzuweisen. Diese sparsamen Äußerungen des OG lassen es leider nicht zu, die Ansicht des OG zu dem Grundsatz des rationalen Gesetzgebers vollständig zu rekonstruieren. Dazu wäre die wissenschaftliche Durchdringung weiterer Entscheidungen des OG erforderlich, die außerhalb der herangezogenen Stichprobe liegen. Die kur804 805 806 807 808

I KZP 23/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 45. Ebenda, S. 48. V KZ 61/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 63. I KZP 38/07, OSNKW 2007, Nr. 12, S. 13. Ebenda, S. 21.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

393

zen Hinweise des OG auf den Per-non-est-Grundsatz und auf die terminologische Konsequenz zeigen jedoch, dass der Topos des „rationalen Gesetzgebers“ sich mit dem in der deutschen Rechtskultur verwendeten Topos der „objektiven Auslegung“ nicht völlig deckt. In den folgenden Fällen hat das OG den Topos des rationalen Gesetzgebers als Argument für oder gegen eine Auffassung verwendet, ohne den Inhalt dieses Grundsatzes näher zu definieren. Diese Fälle zeigen, wie das OG das Argument verwendet. OG Fall 7 In dem (weiter oben schon in anderem Kontext herangezogenenen) Urteil vom 6.12.2006809 setzte sich das OG mit der Frage auseinander, ob das Gericht während der Gerichtsverhandlung die Protokolle der Vernehmung eines verstorbenen Mitangeklagten verlesen darf. Der polnische KPK sieht im Gegensatz zu der deutschen StPO (§ 251 Abs. 1 Nr. 1) keine entsprechende Regelung vor, die expressis verbis dieses Problem lösen könnte. Das OG kam in diesem Fall zu dem Ergebnis, dass das Gericht diese Protokolle verlesen darf. Als Rechtsgrundlage für diese Lösung erwog das OG unter anderem den Art. 393 § 1 KPK810, aber es verneinte die Anwendung dieser Vorschrift, denn die Bezugnahme auf Art. 391 § 1 KPK hätte im behandelten Fall zu dem Ergebnis geführt, dass auch andere Protokolle (z. B. der Vernehmung eines Zeugen) auf der Grundlage dieser Vorschrift verlesen werden könnten, was die Art. 389, 391, 392 KPK entbehrlich machen würde. Dieses Ergebnis stünde nach der Auffassung des OG im Widerspruch zu dem Grundsatz des rationalen Gesetzgebers. OG Fall 8 Im Beschluss (Postanowienie) vom 6.12.2006811 setzte sich das OG mit dem Kassationsvorbringen auseinander, dass der Einbruch in das Fahrzeug mit der Absicht der Zueignung nicht unter Art. 279 § 1 KK812, sondern unter Art. 278 § 1 KK813 subsumiert werden sollte, weil Art. 279 § 1 KK das Eindringen in ei809

III KK 181/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 45. Art. 393 § 1 KPK lautet: „In der Verhandlung können die Protokolle von Inaugenscheinnahmen, einer Durchsuchung und der Sicherstellung einer Sache, die Gutachten von Sachverständigen, Instituten, Anstalten oder Institutionen, Angaben über Vorstrafen, die Ergebnisse der Umfeldaufklärung sowie alle amtlichen Dokumente, die im Vorverfahren oder im gerichtlichen Verfahren niedergelegt worden sind, verlesen werden. (. . .).“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 811 III KK 358/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 57. 812 Art. 279 § 1 KK lautet: „Wer zur Ausführung eines Diebstahls einbricht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 813 Art. 278 § 1 KK lautet: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten 810

394

Teil 2: Empirische Analysen

nen Raum voraussetze, in dem sich die Sache befindet. Das Aufbrechen der am Kraftfahrzeug angebrachten Vorrichtung zu seinem Schutz reicht für die Annahme des Art. 279 § 1 KK in dem behandelten Fall nach der Auffassung des Kassationsverfassers nicht aus. Das OG verwarf diese Auffassung unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass sie im Ergebnis dazu führe, dass der Täter, der ein fremdes Kraftfahrzeug in der Absicht wegnimmt, es kurzfristig zu gebrauchen (Art. 289 § 2 KK814), härter bestraft würde als der Täter, der in das Fahrzeug einbricht, um es sich zuzueignen. Dieses Ergebnis stünde nach der Auffassung des OG im Widerspruch zu dem Grundsatz des rationalen Gesetzgebers. In der Tat muss man dem OG in diesem Fall zustimmen. Art. 289 § 2 KK sieht als Höchstgrenze eine Freiheitsstrafe bis zu acht Jahren vor; demgegenüber ist der Grundtatbestand des Diebstahls (Art. 278 § 1) nur mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht. OG Fall 9 Eine weitere (weiter oben bereits in anderem Kontext dargestellte) Entscheidung, in der der Topos des rationalen Gesetzgebers eine entscheidende Rolle in der Begründung spielte, erließ das OG am 20.9.2007815. In diesem Verfahren stand der Begriff „entsprechen“ (polnisch: „odpowiadac´“) in Art. 71 § 2 KK816 im Mittelpunkt der Auslegung. Der Verurteilte hatte in dem behandelten Fall eine Geldstrafe gezahlt, die neben einer Freiheitsstrafe verhängt wurde, und es wurde danach strittig, nach welchem Maßstab die gezahlte Geldstrafe auf die Freiheitsstrafe angerechnet werden soll, nachdem die Vollstreckung der Freiheitsstrafe angeordnet wurde. Das OG kam zu dem Ergebnis, dass der Begriff „ent-

bis zu fünf Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 814 Art. 289 KK lautet: „§ 1. Wer ein fremdes Kraftfahrzeug in der Absicht wegnimmt, es kurzfristig zu gebrauchen, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. § 2. Der Täter einer Tat im Sinne des § 1, der eine am Kraftfahrzeug angebrachte Vorrichtung zum Schutz vor Gebrauch durch unbefugte Personen aufbricht oder der die Tat in bezug auf ein Kraftfahrzeug, das ein Vermögen bedeutenden Wertes darstellt, begeht oder der nach dem Gebrauch das Kraftfahrzeug in beschädigtem Zustand oder unter Umständen, welche die Gefahr eines Verlustes oder einer Beschädigung des Fahrzeugs, eines Fahrzeugteils oder seines Inhalts mit sich bringen, zurückläßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 815 Beschluss (Uchwała), I KZP 27/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 1. 816 Art. 71 § 2 KK lautet: „Ordnet das Gericht die Vollstreckung der Freiheits- oder der Freiheitsbeschränkungsstrafe an, wird die aufgrund von § 1 verhängte Geldstrafe nicht vollstreckt. Hat der Verurteilte bereits einen Teil der Geldstrafe beglichen, so wird die zu vollstreckende Freiheits- oder Freiheitsbeschränkungsstrafe um die Dauer gekürzt, die der Anzahl der bereits bezahlten Tagessätze entspricht; hierbei wird auf volle Tage abgerundet.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998.

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sprechen“ einen Maßstab von 1 zu 1 determiniere, weil der Gesetzgeber eine Verweisung auf andere Umrechnungsmaßstäbe (wie z. B. Art. 46 KKW817) ausdrücklich vorgesehen hätte, wenn er die Umwandlung der gezahlten Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe nach den Maßstäben hätte regeln wollen, die für die nicht gezahlte Geldstrafe gelten. Dabei berief sich das OG auf den Grundsatz des rationalen Gesetzgebers. OG Fall 10 In dem schon in dieser Arbeit erwähnten Beschluss (Postanowienie) vom 20.9.2007818 setzt sich das OG mit der Frage auseinander, ob die Anrechnung der Zeit, die der Angeklagte in der Untersuchungshaft verbracht hat, auf die Strafe eine Entschädigung und Genugtuung ausschließt. Wie oben gezeigt wurde, bejahte das OG diese Frage. Dafür spricht nach der Auffassung des OG auch der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers: „(. . .) die Annahme, dass der Anspruch aus Art. 552819 KPK und die Anrechnung der rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf der Grundlage des Art. 417 KPK820 oder des Art. 63 KK821 zwei unabhängige Kompensationsmittel sind und gleichzeitig zur Anwendung kommen können, würde der Vermutung des rationalen Gesetzgebers widersprechen, aus der die Regel hervorgeht, dass der Gesetzgeber keine Normen erlässt, die wegen Unmöglichkeit nicht angewendet werden können und mit dem System des geltenden Rechts im weitesten Sinne im Widerspruch stehen. Außerdem berücksich-

817 Nach Art. 46 § 1 KK wird bei Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe ein Tagessatz der Geldstrafe in zwei Tage der Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt. 818 I KZP 28/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 5. 819 Art. 552 KPK lautet: „§ 1. Ein Angeklagter, der infolge einer Wiederaufnahme des Verfahrens oder einer Kassation freigesprochen oder gegen den eine mildere Strafe verhängt worden ist, kann für den erlittenen Schaden eine Entschädigung sowie eine Genugtuung für das erlittene Unrecht von der Staatskasse verlangen, die sich aus der vollständigen oder teilweisen Vollstreckung einer Strafe gegen ihn ergeben, die er nicht hätte erleiden dürfen. (. . .) § 4. Die Entschädigung und die Genugtuung steht auch im Falle einer zweifellos zu Unrecht erfolgten vorläufigen Verhaftung oder Festnahme zu.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. § 1 wurde durch den Verfasser der Arbeit auf die geltende Fassung gebracht. 820 Art. 417 KPK lautet: „Auf die verhängte Strafe wird auch die Dauer einer vom Angeklagten in einer anderen Sache verbüßten vorläufigen Verhaftung angerechnet, in der das Verfahren gleichzeitig anhängig war und in der ein rechtskräftiger Freispruch ergangen, das Verfahren eingestellt oder von der Strafverhängung abgesehen worden ist.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 821 Art. 63 § 1 KK lautet: „Die Dauer der tatsächlichen erlittenen Freiheitsentziehung in der Strafsache wird auf die verhängte Strafe angerechnet; die angebrochenen Tage werben abgerundet. Dabei entspricht ein Tag der tatsächlichen Freiheitsentziehung einem Tag Freiheitsstrafe, zwei Tagen Freiheitsbeschränkungsstrafe oder zwei Tagessätzen der Geldstrafe.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998.

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Teil 2: Empirische Analysen

tigt der Gesetzgeber die praktischen Konsequenzen, die aus den Handlungen hervorgehen, die auf der Grundlage dieser Normen vorgenommen werden.“ 822

In dieser Äußerung betont das OG, dass aus dem Grundsatz des rationalen Gesetzgebers die Regel hervorgeht, dass der Gesetzgeber keine Normen erlässt, die nicht angewendet werden können. Demzufolge hat nach dieser Auffassung jede Rechtsnorm einen Anwendungsbereich und die Aufgabe des Interpreten besteht darin, diesen Bereich aufzufinden und die Rechtsnorm anzuwenden. Außerdem bringt das OG in diesem Zitat zum Ausdruck, dass die vom Gesetzgeber erlassenen Normen in keinem Fall mit den geltenden Normen im Widerspruch stehen können. Damit wird der Idealtyp eines einheitlichen Rechtssystems gebildet und aufgewertet, in dem jede Rechtsnorm ihren Platz hat und sich in das geltende System stimmig integrieren lässt. Schließlich unterstellt der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers nach der Auffassung des OG, dass der Gesetzgeber bei der Vorbereitung und vor allem bei dem Erlass der Gesetze die praktischen Konsequenzen berücksichtigt, die aus den Handlungen hervorgehen, die auf der Grundlage dieser Gesetze vorgenommen werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Grundsatz des rationalen Gesetzgebers im Lichte der dargestellten Äußerungen des OG ein Idealtyp ist, der in der Praxis, insbesondere auf der Ebene der Auslegung, verwirklicht werden soll. Das OG nimmt auf der Grundlage dieses Grundsatzes an, dass der Gesetzgeber keine Vorschriften erlässt, die unzweckmäßig, sinnlos, leer oder (und) mit den geltenden Rechtsvorschriften im Widerspruch stehen. Nach dieser idealistischen Auffassung verwendet der Gesetzgeber auch die Rechtsbegriffe konsequent und berücksichtigt die Folgen der von ihm erlassenen Gesetze. Zudem verfasst der Gesetzgeber die Vorschriften so sorgfältig, dass kein Wort in ihnen entbehrlich ist. Demzufolge muss bei der Auslegung immer die gesamte Vorschrift berücksichtigt werden. cc) Folgen Die Untersuchung hat gezeigt, dass beide höchsten Gerichte in ihren Entscheidungsbegründungen sehr oft auf die Entscheidungsfolgen Bezug nehmen, wobei die Anzahl der Entscheidungen, in denen der BGH an folgenorientierte Kriterien angeknüpft hat (49 Entscheidungen), die Anzahl der entsprechenden Entscheidungen des OG (40 Entscheidungen) nicht erheblich übersteigt. Diese Zahlen erhärten jedoch die These, dass beide Gerichte die unterschiedlichen Konsequenzen in ihren Entscheidungsbegründungen durchaus intensiv berücksichtigen. Die Konstellationen, in denen diese Konsequenzen berücksichtigt werden, sind sehr unterschiedlich und können in der vorliegenden Untersuchung nur skizziert werden. Im Folgenden werden einige ausgewählte Beispiele aufgezeigt.

822

OSNKW 2007, Nr. 10, S. 18 f.

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BGH Fall 1 Bei der Abgrenzung von Untreue und Betrug gegenüber Krankenkasse und Apotheker beim Bezug kassenärztlich verordneter, aber nicht notwendiger Medikamente hat der BGH im Beschluss vom 25.11.2003823 ausgeführt. „Über diese pharmazeutische und pharmakologische Prüfungspflicht hinaus ist der Apotheker grundsätzlich nicht verpflichtet, die Angaben des Arztes zu überprüfen, insbesondere ob die Verschreibung sachlich begründet ist (§ 4 Abs. 4 Satz 3 ALV; vgl. auch BSGE 77, 194, 207 f., 209; Cyran/Rotta, Apothekenbetriebsordnung, 4. Aufl. [Stand: 1. Juli 2000] § 17 Rdn. 22; Pfeil/Pieck/Blume, Apothekenbetriebsordnung 5. Aufl. Stand: 1999, § 17 Rdn. 125; Obermayer, a. a. O., S. 163 ff.); denn es wäre eine zeitlich-fachliche Überforderung des Apothekers und würde seiner Stellung im System der Kassenversorgung nicht entsprechen, wenn er jedes ihm vorgelegte Rezept auf dessen medizinische Richtigkeit überprüfen sollte (BSGE a. a. O.).“ 824

In dem gezeigten Fall hat der BGH insbesondere die zeitlich-fachliche Überforderung des Apothekers berücksichtigt und eine Auslegung abgelehnt, die diese Umstände außer Acht lässt. Es ist nicht zu übersehen, dass dieser Umstand einen eher faktischen Charakter hat, der kaum rechtlichen Bezüge aufweist. Ferner knüpft die „zeitliche Überforderung“ eindeutig an ökonomische Aspekte an. BGH Fall 2 Im Urteil vom 26.11.2003825 befasste sich der BGH mit der Frage, ob als Verwahrungszeit im Sinne des § 66 Abs. 4 S. 4 StGB die Verbüßung einer Untersuchungshaft auch dann anzusehen ist, wenn das Verfahren, in dem sie angeordnet wurde, nicht zu einer Verurteilung geführt hat und der Angeklagte für die erlittene Untersuchungshaft entschädigt wurde. Der BGH bejahte diese Frage und führte unter anderem aus: „Würde Untersuchungshaft, die nicht zur Verurteilung führt, im Hinblick auf die Legalbewährung einer in Freiheit verbrachten Zeit gleichgestellt, so würde daher hierdurch nicht ein ,Nachteil‘ ausgeglichen, sondern dem Beschuldigten ein vom Gesetzeszweck nicht getragener Vorteil zuteil, weil ein Zeitraum, in welchem er seine Rechtstreue gerade nicht oder nur erheblich eingeschränkt unter Beweis stellen konnte, so gewertet würde, als habe er dies getan. Eine solche Auslegung müßte zu offensichtlichen Widersprüchen zu Unterbringungen aus Anlaß sonstigen schuldlosen Verhaltens führen. Es würde überdies zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten und unvertretbaren Verfahrensverzögerungen führen, wenn die Beurteilung der formellen Voraussetzungen des § 66 StGB etwa vom Ergebnis von Rechtsmittel- oder Wiederaufnahmeverfahren abhinge, in denen Untersuchungshaft vollzogen wurde.

823 824 825

4 StR 239/03, BGHSt 49, 17. Ebenda, S. 20 f. 2 StR 291/03, BGHSt 49, 25.

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Der Senat ist daher mit dem Landgericht der Ansicht, daß in die Fünfjahresfrist des § 66 Abs. 4 Satz 3 StGB nur solche Zeiten einzurechnen sind, in denen der Angeklagte die tatsächliche Möglichkeit hatte, sich in Freiheit zu bewähren. Auf ein Verschulden des Angeklagten an einer behördlich angeordneten Verwahrungszeit, in welcher diese tatsächliche Möglichkeit nicht bestand, kommt es nicht an.“ 826

In dem behandelten Fall hat der BGH eine ganze Reihe unerwünschter Konsequenzen hervorgehoben. Der Senat betonte erstens die entstehenden Wertungswidersprüche, zweitens praktische Schwierigkeiten (wieder eher ein faktischer Umstand) und drittens die Verfahrensverzögerungen. Auch die Gerechtigkeit ist angesprochen – zwar nicht direkt, aber mittelbar in dem Satz, in dem der BGH argumentiert, dass durch eine andere Entscheidung nicht ein „Nachteil“ ausgeglichen, „sondern dem Beschuldigten ein vom Gesetzeszweck nicht getragener Vorteil zuteil, (. . .)“ würde. BGH Fall 3 Im Urteil vom 12.2.2004827 wird § 255a StPO mit folgenden Worten bewertet: „bb) Vor diesem Hintergrund ist die in § 255 a Abs. 1 i.V. m. § 252 StPO getroffene Regelung wenig verständlich, soweit sie auch die Vorführung der Videoaufzeichnung einer richterlichen Vernehmung untersagt. Während das schriftliche Protokoll die Aussage des Zeugen in der Regel nicht wörtlich wiedergibt, vermittelt die Videoaufzeichnung die frühere Aussage des Zeugen – einschließlich der nonverbalen Vernehmungsinhalte und der erfolgten Interaktionen – in allen Einzelheiten sehr viel genauer, als der auf der Grundlage seiner Erinnerung aussagende Richter es könnte. Ihre Unverwertbarkeit in den Fällen des § 252 StPO führt deshalb zu dem mit Blick auf die Qualität der Wiedergabe der früheren Aussage schwer verständlichen Ergebnis, daß die Verwertung des qualitativ höherwertigen Beweismittels untersagt, der Rückgriff auf ein weniger zuverlässiges aber gestattet ist. Der darin liegende Wertungswiderspruch vergrößert sich noch, wenn zur Unterstützung des Gedächtnisses des Richters als Vorhalt nicht nur die Vernehmungsniederschrift verlesen (vgl. BGHSt 11, 338, 341; 21, 149, 150), sondern auch eine Bild-Ton-Aufzeichnung der früheren Vernehmung vorgespielt werden darf, – was in konsequenter Übertragung dieser Rechtsprechung naheliegt – (vgl. Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 255a Rdn. 3), jedoch nicht unbestritten ist (kritisch hierzu Rieß StraFo 1999, 1, 3).“ 828

In diesem Fall macht der BGH dem Gesetzgeber den Vorwurf, dass er eine Regelung (§ 255a StPO) erlassen hat, die „wenig verständlich“ ist. Der BGH verschleiert jedoch den Umstand, dass diese „Unverständlichkeit“ vor allem durch die Auslegung des BGH entstanden ist, die eine Vernehmung des Richters in dem behandelten Fall zulässt.

826 827 828

Ebenda, S. 28 f. 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72. Ebenda, S. 78 f.

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BGH Fall 4 In einem sehr hohen Ausmaß hat der BGH die Folgen einer (möglichen) Auslegung im Beschluss vom 6.8.2004829 berücksichtigt. In dieser Entscheidung stellte der BGH fest, dass die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde für den bei der Urteilsverkündung abwesenden Betroffenen auch dann mit der Zustellung des Urteils beginnt, wenn dieses nicht mit Gründen versehen ist und die Voraussetzungen des § 77b Abs. 1 S. 3 OWiG nicht vorlagen. Damit hat der BGH die Lösung des OLG Koblenz abgelehnt, das vorgeschlagen hatte, die nachträgliche Begründung und Zustellung des Urteils setze die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist erst in Gang. Gegen diesen Vorschlag führt der BGH aus: „d) Demgegenüber ist zu beachten, daß die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Lösung sich nicht nur als wenig praktikabel erweist, sondern ihrerseits rechtsstaatlichen Bedenken begegnet: aa) Das Nachholen der Urteilsbegründung allein zum Zwecke der Information des Betroffenen und zum Ingangsetzen der Rechtsmitteleinlegungsfrist, ohne daß sie im Rechtsbeschwerdeverfahren Berücksichtigung finden dürfte, ist mit den Zwecken des auf Vereinfachung und Beschleunigung angelegten Ordnungswidrigkeitenverfahrens nur schwer zu vereinbaren, zumal möglicherweise erst nach Monaten gefertigte Urteilsgründe auch ihrer Informationsfunktion nicht uneingeschränkt gerecht werden können. Angesichts der Vielzahl der Verfahren wird der Richter sich kaum an die jeweilige Hauptverhandlung erinnern können und sich deshalb möglicherweise mit einer Bezugnahme auf den Bußgeldbescheid begnügen. Zudem führt auch diese Lösung – da das Urteil wegen des Fehlens der Urteilsgründe an einem sachlich-rechtlichen Mangel leidet und auf die Rechtsbeschwerde aufzuheben ist – insoweit zu den gleichen dem Betroffenen nachteiligen kosten- und auslagenrechtlichen Konsequenzen. Zu einem anderen Ergebnis käme man nur, wenn man – wie es der Generalbundesanwalt offenbar erwägt – eine analoge Anwendung des § 77 b OWiG im Hinblick auf das Nachschieben der Urteilsgründe für zulässig erachtete. Diesen Fall hat der Senat jedoch nicht zu entscheiden.“ 830

Neben praxisbezogenen und rechtsstaatlichen Problemen hat der BGH auch den „Zustand der Rechtsunsicherheit“ hervorgehoben. „bb) Die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Lösung führt insbesondere zu einem schwer erträglichen Zustand der Rechtsunsicherheit. Hinge die Wirksamkeit der Zustellung eines unzulässig nicht mit Gründen versehenen Urteils nämlich davon ab, daß es durch nachgeschobene Gründe ergänzt wird, könnte die Entscheidung erst nach der Zustellung des ergänzten Urteils rechtskräftig werden. War der Tatrichter irrtümlich davon ausgegangen, die Voraussetzungen für ein Absehen von den schriftlichen Gründen hätten vorgelegen, wird er sich regelmäßig erst durch die Einlegung der Rechtsbeschwerde veranlaßt sehen, die Urteilsgründe nachzuholen. Wird eine Rechtsbeschwerde aber nicht eingelegt, bleibt das Verfahren – worauf das Oberlandesgericht Jena zu Recht hingewiesen hat – dauerhaft in der Schwebe, weil die 829 830

2 StR 523/03, BGHSt 49, 230. Ebenda, S. 238.

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Verjährung gemäß § 32 Abs. 2 OWiG bis zur Rechtskraft des Urteils des ersten Rechtszugs gehemmt ist. Abgesehen davon, daß in diesem Fall die Gefahr der Vollstreckung nichtrechtskräftiger Urteile besteht, weil es jeweils zunächst der Prüfung bedürfte, ob die Voraussetzungen des § 77 b OWiG vorgelegen haben oder nicht, widerspräche ein solcher Schwebezustand dem Erfordernis der Rechtssicherheit. Die Rechtssicherheit ist ein wesentliches Element des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsgebots (BVerfGE 60, 253, 267 m.w. N.; Herzog in Maunz/Dürig, GG Art. 20 VII Rdn. 60 f.; Schnapp in von Münch, Grundgesetzkommentar 5. Aufl. Bd. II Art. 20 Rdn. 30) und ist, auch wo sie durch gerichtliche Verfahren herbeigeführt werden soll, binnen angemessener Frist zu verwirklichen (BVerfGE 60, 253, 269).“ 831

Letztlich kommt der BGH zu dem oben dargestellten Ergebnis. „Bei Abwägung aller Umstände erscheint die Lösung, nach der auch die Zustellung der Urteilsformel die Rechtsmittelfrist in Gang setzt, vorzugswürdig. Sie entspricht – wie ausgeführt – auch den allgemeinen Grundsätzen zur Wirksamkeit der Zustellung von fehlerhaften Urteilen.“ 832

Die Formulierung „Bei Abwägung aller Umstände erscheint die Lösung, (. . .) vorzugswürdig“ zeigt, dass auch eine andere Lösung nach der Ansicht des BGH in dem behandelten Fall denkbar wäre. Aus dieser Perspektive hat die Vorschrift nicht nur eine, sondern mehrere Bedeutungen, die gegeneinander abgewogen werden müssen, und von denen jeweils die „beste“ gewählt werden soll. BGH Fall 5 Bei dem Problem der Einwerbung von Wahlkampfspenden durch einen Amtsträger, der sich um eine Wiederwahl bewirbt, hat der BGH eine einschränkende Auslegung der §§ 331, 333 StGB angenommen. Er begründet dies u. a. mit dem folgenden Argument: „(. . .) ansonsten würde auch die Wahlkampfförderung für einen Amtsträger, die allein der Verfolgung allgemeinpolitischer Ziele oder dem einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zugute kommenden Anliegen dient, in die Strafbarkeit wegen Vorteilsnahme bzw. -gewährung einbezogen, nur weil der Vorteilsgeber im Falle der Umsetzung der Maßnahmen zu dem Kreis der potentiell Begünstigten zählt.“ 833

BGH Fall 6 Im Beschluss vom 24.11.2004834 hat der BGH entschieden, dass bei der Umsatzsteuerhinterziehung die Umsatzsteuervoranmeldungen eines Jahres und die anschließende Umsatzsteuerjahreserklärung des nämlichen Jahres eine einheit-

831 832 833 834

Ebenda, S. 238 f. Ebenda, S. 239. Urteil vom 28.10.2004, 3 StR 301/03, BGHSt 49, 276, 295. 5 StR 206/04, BGHSt 49, 359.

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liche Tat im Sinne des § 264 StPO bilden. Gegen eine getrennte Aburteilung sprechen nach Auffassung des BGH folgende Gründe: „Eine getrennte Aburteilung von einzelnen Voranmeldungen und berichtigender Jahreserklärung könnte daher zu dem nicht hinnehmbaren Ergebnis führen, daß der Unrechtsgehalt der falschen Voranmeldungen durch die Ausklammerung der berichtigenden Jahreserklärung in einer den Angeklagten beschwerenden Weise falsch ermittelt wird. Vergleichbare Probleme entstünden unter dem Gesichtspunkt der Rechtskraft: Es widerspräche elementaren Gerechtigkeits- und Strafzumessungserwägungen, wenn ein Angeklagter im Anschluß an eine den Schuldgehalt der falschen Voranmeldungen erschöpfende rechtskräftige Verurteilung auch wegen der falschen Jahreserklärung verurteilt würde, ohne daß dabei Berücksichtigung fände, daß der Unrechtsgehalt der falschen Jahreserklärung weitgehend identisch, wenn auch nicht vollständig deckungsgleich ist.“ 835

BGH Fall 7 Im Beschluss vom 27.4.2005836 hat der Große Senat für Strafsachen entschieden, dass die strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis wegen charakterlicher Ungeeignetheit bei Taten im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs voraussetzt, dass „die Anlaßtat tragfähige Rückschlüsse darauf zuläßt, daß der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen.“ 837 Diese einschränkende Auslegung wurde vom BGH auch unter anderem im Hinblick auf die unerwünschten Folgen vorgenommen, die wie folgt benannt wurden: „Die Verknüpfung des strafgerichtlichen Fahrerlaubnisentzugs mit dem Einsatz eines Kraftfahrzeugs verlöre aber ihre innere Berechtigung, wenn die Feststellung der charakterlichen Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen losgelöst von der Benutzung des Fahrzeugs allein auf eine in der Tat zum Ausdruck gekommene allgemeine Aggressionsbereitschaft oder Rücksichtslosigkeit des Täters gestützt werden könnte (vgl. BGH StV 2004, 132, 133 f.; Sowada Blutalkohol 2004, 151, 153).“ 838

BGH Fall 8 Im Beschluss vom 7.3.2006839 hat der BGH festgestellt, dass im Falle einer Kette von aufeinander beruhenden Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen der Prüfungsumfang für die Frage der Verwertbarkeit auf die Überwachungsmaßnahme beschränkt ist, der die Erkenntnisse unmittelbar entstammen.

835 836 837 838 839

Ebenda, S. 364. GSSt 2/04, BGHSt 50, 93. Ebenda, S. 102 f. Ebenda, S. 102. 1 StR 316/05, BGHSt 51, 1.

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Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Problem der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten hat der BGH ausgeführt: „Bei einer Kette von aufeinander beruhenden Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen, welche gerade bei Ermittlungsverfahren wegen Straftaten nach dem BtMG nicht selten vorkommt, würde die Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots infolge einer rechtswidrigen Telekommunikations-Überwachungsmaßnahme zu einem Dominoeffekt führen. Dann hätte die fehlerhafte Annahme des Verdachts einer Katalogtat bei der Anordnung der Ausgangsüberwachung die Nichtverwertbarkeit aller Erkenntnisse aus einer Vielzahl nachfolgender Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen zur Folge. Vor diesem Hintergrund verbietet bereits das Interesse an der Aufklärung des wahren Sachverhalts die Annahme einer Fernwirkung.“ 840

Die angeführten Beispiele zeigen, dass der BGH unterschiedliche Konsequenzen der jeweiligen Auslegung berücksichtigt.841 In keinem Fall beschränkt er seine Perspektive auf die rechtlichen Folgen. Praktischen Problemen wird eine ähnliche Bedeutung beigemessen. Auch die Rechtsprechung des OG lässt sich im Hinblick auf die Berücksichtigung der Folgen einer Auslegung kaum auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen. Folgende Fälle erhärten diese These. OG Fall 1 Im Beschluss vom 26.1.2007842 hat sich das OG mit der Auslegung des Begriffes des „Geschädigten“ befasst. Im Vorfeld hat das OG festgestellt, dass bisher zwei Definitionen des Geschädigten vertreten werden: Eine formelle und eine materielle Definition. Das OG hat bisher der materiellen Definition angesichts der unerwünschten Folgen der anderen Auffassung den Vorrang eingeräumt. Das entsprechende Zitat lautet: „Das Oberste Gericht hat sich für eine materielle Definition des Geschädigten ausgesprochen, indem es feststellte, dass eine andere Auffassung zu einer übermäßigen Konturlosigkeit der in Art. 49 § 1 KPK enthaltenen Definition führen würde, weil ein fast uneingeschränkter Kreis von Subjekten geltend machen könnte, ihre Rechtsgüter seien von einer Straftat, wenn auch nur bedroht.“ 843

OG Fall 2 In dem Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007844 setzte sich das OG mit der Frage auseinander, ob der Richter aus einem Verfahren ausgeschlossen werden soll, wenn er in einem anderen Verfahren einen Mittäter derselben Straftat bereits 840 841 842 843 844

Ebenda, S. 8 f. Siehe weitere Fälle im Anhang C. I KZP 33/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 12. Ebenda, S. 16. I KZP 9/07, OSNKW 2007, Nr. 5, S. 35.

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verurteilt hat. Das OG bejahte diese Frage und ging in seinen Ausführungen unter anderem auch der Frage nach, ob das Urteil aus dem Verfahren, in dem ein Mittäter verurteilt wurde, das Gericht bindet, das einen anderen Mittäter derselben Straftat in einem anderen Verfahren aburteilt. Abweichend von den Auffassungen, die in der Literatur unter der Geltung des KPK von 1928 und des KPK von 1969 vertreten wurden, verneinte das OG diese Frage. Als Argument hob es die Konsequenzen der entgegengesetzten Auffassung hervor: „Wenn angenommen werden würde, in der betreffenden Situation bestehe tatsächlich ein bindendes Präjudiz, dann wäre die Aburteilung einer Straftat, die als gesondertes, zeitlich nachfolgendes in Gang gesetztes Verfahren geleitet wurde, eine Fiktion. Das in einem gesonderten Verfahren erwartete Urteil wäre von vornherein bekannt, unabhängig davon, ob das Gericht mit den Personen besetzt ist, die an der vorherigen Urteilsverkündung teilgenommen haben, oder mit anderen.“ 845

OG Fall 3 Im Beschluss (Postanowienie) vom 15.6.2007846 wurde dem OG die Frage gestellt, ob Leistungen in der Gestalt der Beförderung von Menschen, die aufgrund einer Täuschung erlangt wurden, unter dem Begriff des „Vermögensvorteils“ im Sinne des Art. 286 § 1 KK847 subsumiert werden können, oder ob das das genannte Verhalten lediglich vom Art. 121 § 2 des Übertretungskodexes848 erfasst werden soll. In diesem Fall ging es allerdings nicht um die Fahrt mit einem Taxi, sondern um die Leistung der Beförderung von Menschen, bei der erhebliche Kosten entstanden sind. Das OG entschied sich für die erste Variante und stellte im Hinblick auf die Folgen fest: „Unabhängig davon kann der ökonomische Aspekt in diesem Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden. Obwohl das Erschleichen der Beförderung mit einem Taxi im Grundsatz keinen erheblichen Vermögensschaden des Geschädigten verursacht, so kann der Vermögensschaden des Betrugsopfers, dessen Betrugsobjekt eine Beförderungsleistung ist (gleichgültig, ob von Menschen oder Waren), im Hinblick auf die aktuelle Wirtschaftslage und in Anbetracht des großen Ausmaßes dieser Leistungen sehr erheblich sein, auch wenn man nur die von dem Ausführenden getrage-

845

Ebenda, S. 42 f. I KZP 13/07, OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 32. 847 Art. 286 § 1 KK lautet: „Wer in der Absicht, einen Vermögensvorteil zu erzielen, einen anderen dadurch zu einer nachteiligen Verfügung über eigenes oder fremdes Vermögen veranlaßt, daß er bei dieser Person einen Irrtum hervorruft oder einen bei ihr bestehenden Irrtum oder ihre Unfähigkeit, die vorzunehmende Handlung richtig aufzufassen, ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 848 Art. 121 § 2 des Übertretungskodexes lautet: „Derselben Strafe unterliegt, wer ohne Zahlungsabsicht Lebensmittel oder auch Getränke aus einer Einrichtung für Gemeinschaftsverpflegung oder eine Fahrt mit einem Verkehrsmittel, das zu einem Unternehmen gehört, das gemäß ihres Tarifs über keine Bußgelder verfügt, (. . .) erschleicht.“ Eigene Übersetzung. 846

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Teil 2: Empirische Analysen

nen Aufwendungen und Kosten berücksichtigt. Die Gleichstellung dieser Situationen vor dem Hintergrund des Übertretungskodexes würde zu inakzeptablen Konsequenzen (auch aus der Perspektive der Gesellschaft) führen. Derselben Verantwortung würden diejenigen Person unterliegen, die eine kurze Fahrt mit einem Taxi erschlichen haben, und diejenigen Personen, die die Beförderung von Waren in großen Mengen im internationalen Verkehr betrügerisch erlangt haben.“ 849

OG Fall 4 Im Beschluss (Postanowienie) vom 27.9.2007850 legte das OG den Art. 106 Abs. 2 S. 2851 des Gesetzes vom 13.6.2003 über die Ausländer852 aus. Im Mittelpunkt der Entscheidung stand die Frage, ob die in Art. 106 Abs. 2 S. 2 vorgesehene Frist die gesamte Zeit der Freiheitsentziehung eines Ausländers erfasst oder nur für eine Entscheidung bindend ist, d. h., zwei Entscheidungen, die dem Ausländer die Freiheit entziehen, können durchaus einen Zeitraum von einem Jahr überschreiten. Die zuletzt genannte Möglichkeit lehnte das OG auch im Hinblick auf ihre Konsequenzen ab. „Eine andere Auslegung des Art. 106 Abs. 2 S. 2 des Gesetzes über die Ausländer würde offenkundige Missbräuche tolerieren, denn diese Auslegung würde die Unterbrechung der Isolation einer Person, die der Auslieferung unterliegt, für ein paar Stunden zulassen, um sie später wieder festzunehmen und dadurch die Frist, die der Art. 106 Abs. 2 S. 2 des Gesetzes über die Ausländer vorsieht, von Neuem an zu rechnen. Dies würde nicht nur die Garantiefunktion dieser Vorschrift schwächen, sondern diese Funktion sogar völlig aufheben.“ 853

In dieser Entscheidung scheint dieses Argument eine entscheidende Rolle zu spielen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass beide Gerichte (sowohl der BGH als auch das OG) die Konsequenzen ihrer Entscheidungen bei der Auslegung von Vorschriften berücksichtigen. Die quantitativen Analysen haben ebenfalls gezeigt, dass die Erörterung der Folgen in der Rechtsprechung beider Gerichte keinesfalls zu den Ausnahmen gehört. Die Anzahl der Entscheidungen, die sich mit den Konsequenzen auseinandersetzten, dürfte insbesondere diejenigen in Erstaunen versetzten, die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Fokussierung auf den Gesetzestext erwarten. Es liegt auf der Hand, dass das folgenorientierte Denken die Bedeutung des Gesetzestextes relativiert. Die Bedeutung des Textes 849

OSNKW 2007, Nr. 7–8, S. 44. I KZP 36/07, OSNKW 2007, Nr. 11, S. 25. 851 Art. 106 Abs. 2 S. 2 lautet: „Die Frist des Aufenthalts in einer bewachten Anstalt oder in einem Arrest zum Zwecke der Ausweisung darf den Zeitraum von einem Jahr nicht überschreiten.“ Eigene Übersetzung. 852 Ustawa z dnia 13 czerwca 2003 r. o cudzoziemcach, Dz. U. 2011 Nr. 264, Pos. 1573. 853 OSNKW 2007, Nr. 11, S. 27 f. 850

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

405

wird in diesem Fall auf einer außersprachlichen Ebene konstruiert. Diese Vorgehensweise beider Gerichte zeigt, dass sie sich beide für die Folgen ihrer Entscheidungen verantwortlich fühlen und es ihnen nicht gleichgültig ist, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen haben. 3. Zwischenergebnis Aus den vorangehenden quantitativen und qualitativen Analysen geht vor allem hervor, dass die Gerichte beider Länder eine erhebliche Anzahl von recht unterschiedlichen Topoi verwenden, d. h., sie betrachten den Auslegungsprozess aus verschiedenen Gesichtspunkten, was die diesbezügliche Analyse erheblich erschwert. Der Auslegungs- und Argumentationsdiskurs beider Gerichte ist umfangreich, kompliziert und weist die Eigenschaften eines durchkonstruierten Argumentationsmodells auf. Eine einfache Subsumtion des Sachverhaltes unter den Tatbestand kommt kaum vor. Aus der Untersuchung geht auch hervor, dass beide Gerichte grundsätzlich an die gleichen Topoi in ihren Argumentationsmustern anknüpfen, was allerdings nicht unbedingt zu der Folgerung berechtigt, dass diese Topoi dasselbe für beide Gerichte bedeuten. Man kann aber in dieser Hinsicht durchaus von einer gemeinsamen Auslegungs- und Argumentationskultur sprechen. Es gibt jedoch auch Topoi, die nur in der Rechtsprechung des OG bzw. nur in der des BGH auftreten. So ist z. B. dem BGH der Topos des „rationalen Gesetzgebers“ (zumindest in der Fassung, wie ihn das OG verwendet) unbekannt. Im Bereich der formalistischen Topoi lassen sich Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in der Rechtsprechung des BGH und des OG feststellen. Für beide Gerichte sind die sprachlichen Topoi von Bedeutung. Sowohl der BGH als auch das OG beziehen sich relativ häufig auf den Wortlaut einer Vorschrift, wobei der BGH im Gegensatz zum OG keine Wörterbücher heranzieht, um die Bedeutung eines Begriffes zu ermitteln (BGH: 0; OG: 9). Wesentlich häufiger als der BGH argumentiert das OG mit dem Eindeutigkeitsargument (BGH: 6; OG: 26). Die Unterschiede zwischen beiden Gerichten im Hinblick auf die Verwendung von formalistischen Topoi werden jedoch erst im Rahmen der qualitativen Analysen gut sichtbar. Hier ist die Dominanz dieser Topoi in der Rechtsprechung des OG im Vergleich zu der des BGH evident. In Bezug auf die systematischen Topoi ist festzuhalten, dass sowohl der BGH als auch das OG sehr häufig auf andere Vorschriften bei der Auslegung Bezug nehmen. Die isolierte Auslegung einer Vorschrift kommt somit kaum vor. Nicht selten beziehen sich beide Gerichte auch auf die internationalen Rechtsakte, insbesondere die EMRK (BGH: 8; OG: 7) und die Rechtsakte der EU (BGH: 11, OG: 4). Der IPBPR kommt jedoch nur in der Rechtsprechung des OG zur Anwendung. Insgesamt gesehen lässt sich nicht bestreiten, dass beide Rechtsdiskurse von der internationalrechtlichen Ebene beeinflusst werden, wenn auch

406

Teil 2: Empirische Analysen

nicht in dem Maße, wie man es bei der zunehmenden Bedeutung internationaler Rechtsakte für die nationale Rechtsprechung vermuten würde. In der Rechtsprechung beider Gerichte ist die dogmatische Literatur in erheblichem Ausmaß präsent, wobei der BGH in seinen Begründungen im Vergleich zum OG häufiger auf Kommentare, Aufsätze, Urteilsanmerkungen und andere Fachliteratur Bezug nimmt. Jedenfalls lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem wissenschaftlichen und höchstrichterlichen Rechtsdiskurs in beiden Ländern nicht bestreiten, wobei ungeklärt bleibt, welchen Einfluss die dogmatische Literatur auf beide Gerichte tatsächlich ausübt. Es ist jedoch eine starke Tendenz in den Begründungen beider Gerichte sichtbar, vor allem diejenigen Meinungen aus der Literatur zu berücksichtigen, die mit der Auffassung des Gerichts übereinstimmen. Es ist dabei jedoch nicht zu übersehen, dass der BGH im Gegensatz zum OG seine Argumentation extrem selten mit Hinweisen auf die methodische Literatur unterstützt (1 Entscheidung). Die Zurückhaltung des BGH im Bereich der Äußerungen zum Rangverhältnis innerhalb der Auslegungskriterien steht folglich mit der Vermeidung von Verweisen auf die methodische Literatur wohl in einem engen Zusammenhang. Von Hinweisen auf die methodische Literatur macht demgegenüber das OG signifikant häufiger Gebrauch (14 Entscheidungen). Ein erheblicher Unterschied liegt im Bereich der Selbstreferenzen. Man kann nicht ausschließen, dass sich die Rechtsprechung des BGH und des OG gerade in diesem Punkt sogar am stärksten unterscheiden. Die Untersuchung legt zumindest die These nahe, dass die Selbstreferenzen eine wesentlich größere Rolle in der Strafrechtsprechung des BGH spielen. Präjudizen kommen in fast jeder Entscheidung des BGH zur Anwendung. Dabei lassen sich in der Rechtsprechung des BGH Entscheidungen feststellen, in denen auf sie nahezu vierzigmal Bezug genommen wird. Viele Auslegungsprobleme werden dabei mehr auf ihrer Grundlage als auf der Grundlage des Gesetzes gelöst. Auch die Berufung auf die ständige Rechtsprechung spielt in der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG eine wesentlich größere Rolle. Dies macht sogar die These plausibel, dass die Rechtsprechung des BGH sich in die Richtung einer case-law-Kultur entwickelt. Es ist auch nicht zu übersehen, dass in der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung eine deutlich größere Rolle spielt (BGH: 46; OG: 6). Sowohl quantitativ als auch qualitativ lässt sich dieser Befund begründen. Die Rolle des Verfassungsgerichts ist in der Strafrechtsprechung des OG eher gering, was auch andere in Polen durchgeführte Untersuchungen bestätigen. Relativ selten beziehen sich beide Gerichte auf die Rechtsprechung des EGMR und des EuGH. Die Argumentation verläuft gegenwärtig somit eher in nationalen Bahnen.

E. Topoi in der Rechtsprechung des BGH und des OG

407

Bedeutsame Unterschiede lassen sich auch auf dem Gebiet der wertorientierten Topoi feststellen. Zu diesen Topoi gehören vor allem die verfassungsrechtlichen Normen. Sie spielen in der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG eine wesentlich größere Rolle (BGH: 60; OG: 34), was die Wertbezogenheit dieser Rechtsprechung deutlich macht. Allgemeine Verweise auf Verfassung, Bestimmtheitsgrundsatz, Grundsatz des fairen Verfahrens, Verhältnismäßigkeitsprinzip, Vertrauensschutzgebot, Freiheitsanspruch, Rechtsstaatsprinzip, Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs kommen wesentlich öfter in der Rechtsprechung des BGH zur Anwendung. Die qualitativen Analysen haben auch gezeigt, dass das Ausmaß der verfassungsrechtlichen Argumentation in der Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichtes im Vergleich zu der Rechtsprechung des höchsten polnischen Gerichtes deutlich größer ist. Weiterhin konnte ein Unterschied im Hinblick auf die Anzahl der Entscheidungen festgestellt werden, in denen der Gesetzes- bzw. Vorschriftenzweck anhand der Entstehungsmaterialien eines Gesetzes ermittelt wurde. Der BGH greift auf diese Materialien wesentlich häufiger zurück (BGH: 29; OG: 10). Die qualitativen Analysen haben dabei die Ausführlichkeit der Argumentation in dieser Hinsicht in der Rechtsprechung des BGH gezeigt. Vergleichbar oft argumentieren dagegen beide Gerichte mit dem Gesetzeszweck, der anhand anderer Kriterien als den Entstehungsmaterialien ermittelt wurden. Im Bereich der historischen Topoi liegt ein wesentlicher Unterschied in der Anwendung von genetischen Topoi. Die Untersuchung ergab, dass der BGH im Vergleich zu dem OG wesentlich öfter auf die Entstehungsmaterialien der Gesetze zurückgreift, z. B. auf die Referentenentwürfe des Ministeriums bzw. die Regierungsentwürfe oder die Gesetzesbegründungen (BGH: 45; OG: 12). Dieser Befund stimmt mit den Ergebnissen anderer nationaler Forschungen überein. Die Untersuchung ergab zudem, dass beide Gerichte in ihren Entscheidungsbegründungen auf außergesetzliche Topoi in einem bedeutsamen Ausmaß Bezug nehmen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Berücksichtigung der Folgen durch beide Gerichte zu betonen. Die relativ hohe Anzahl dieser Verweise mag überraschen und zeigt die grundsätzlich pragmatische Einstellung beider Gerichte. Sowohl der BGH als auch das OG sind jedenfalls nicht bereit, absurde Ergebnisse zu akzeptieren. Besonders bemerkenswert ist die Anzahl der Verweise auf die vermutete Rationalität des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des OG. Schließlich ist auf die Rolle des (außer-rechtswissenschaftlichen) Fachwissens in der Rechtsprechung des BGH hinzuweisen. Umfangreiche Passagen in den Begründungen des BGH weisen darauf hin, dass der BGH bestimmte Auslegungsprobleme unter Hinzuziehung des Wissens aus den anderen Fachgebieten löst. Zusammenfassend ist im Hinblick auf die analysierten Topoi festzuhalten, dass eine adäquate Beschreibung der Begründungen des BGH und des OG eine weitgehende Differenzierung voraussetzt. Es lässt sich nicht pauschal die These ver-

408

Teil 2: Empirische Analysen

teidigen, dass die Rechtsprechung des OG formalistisch und die Rechtsprechung des BGH substanziell sei. Man muss zwischen bestimmten Dimensionen unterscheiden. Aus dieser Perspektive kann man die These aufstellen, dass im Hinblick auf die Rolle der sprachlichen und der systematischen Topoi die Rechtsprechung beider Gerichte grundsätzlich ähnlich ist, wobei diese Dimension – was die qualitativen Analysen gezeigt haben – die Rechtsprechung des OG stärker prägt. Im Bereich der Selbstreferenzen geht der BGH sicherlich mehr formalistisch als das OG vor. Wenn man jedoch beide Gerichte vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Topoi vergleicht, so liegt die deutliche Wertbezogenheit der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG auf der Hand. Eine ähnliche Schlussfolgerung lässt sich hinsichtlich der subjektiven Auslegung und der genetischen Topoi ableiten. Im Lichte dieser Befunde scheint die These begründet, dass die Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG in einem erheblichen Ausmaß mehrdimensional (holistisch) ist, d. h., die wertbezogenen Dimensionen sind in der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG wesentlich stärker entwickelt. Der BGH berücksichtigt offenkundig auch die sprachliche Ebene, aber sie ist für ihn lediglich ein Ausgangspunkt, der durch andere Gesichtspunkte (insbesondere durch verfassungsrechtliche Normen und gesetzliche Materialien) in der Regel ergänzt werden muss.

F. Die Rechts(neu)schöpfung Für eine (wertorientierte) substanzielle Rechtskultur spricht auch ohne Weiteres die Bereitschaft der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Rechts(neu)schöpfung. Dabei ist jedoch daran zu erinnern, dass in der polnischen Methodenlehre die Rechts(neu)schöpfung grundsätzlich den Gerichten verboten ist; diese Aufgabe ist dem Gesetzgeber zugewiesen. Demgegenüber lässt die Methodenlehre in Deutschland die Rechts(neu)schöpfung in bestimmten Fällen zu. Dabei wird die Kategorie der „Rechtsfortbildung“ verwendet (siehe dazu Teil 1 Pkt. F. VII.). Es ist auch daran zu erinnern, dass die empirische Analyse der methodischen Äußerungen des BGH und des OG (Pkt. D. VI.) auch einen deutlichen Unterschied in dieser Hinsicht gezeigt hat. Während das OG zu diesem Problem grundsätzlich schweigt, nimmt der BGH zur Rechtsschöpfung bei der „Regelung“ der Urteilsabsprachen ausdrücklich Stellung. Auf diese Entscheidung wird unten näher einzugehen sein. Zunächst muss jedoch geklärt werden, was unter dem Begriff „Rechts(neu)schöpfung“ in dem vorliegenden Abschnitt gemeint ist.854 854 Ähnlich J. Wróblewski, Sa˛dowe stosowanie prawa a prawotwórstwo, PiP 6/1967, S. 867.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

409

I. Theoretische Vorüberlegungen (Begriffsbestimmung) Was als Rechts(neu)schöpfung gilt, kann sowohl auf der theoretischen als auch auf der empirischen Ebene strittig sein. Um überhaupt eine Erhebung hierzu durchführen zu können, müssen die Konturen des Begriffs näher bestimmt werden. Insbesondere muss zunächst auf die Frage eingegangen werden, aus welcher Perspektive dieser Begriff konkretisiert werden soll. Da der folgende Teil sich vor allem auch auf einen qualitativen Ansatz stützen wird, soll gerade auch die Perspektive beider Gerichte hierzu berücksichtigt werden. Generell kommen zwei Möglichkeiten in Betracht: Zum einen kann der Begriff auf der jeweiligen nationalen Ebene konkretisiert werden (1.). Zum anderen kann der Begriff auf einer übernationalen (abstrakten) Perspektive definiert werden (2.). 1. Eine nationale Perspektive Auf dieser Ebene können als Rechts(neu)schöpfung alle die Argumentationsstrategien gelten, die nach den Kategorien und den Kriterien der jeweiligen Rechtskultur als Rechts(neu)schöpfung anerkannt werden. Diese Vorgehensweise ist besonders für diejenigen Untersuchungen geeignet, die ausschließlich aus der nationalen Perspektive durchgeführt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass gewöhnlich auch auf der nationalen Ebene strittig ist, wo die Grenze zwischen Auslegung und Rechts(neu)schöpfung verläuft. Bei rechtsvergleichenden Arbeiten muss jedoch beachtet werden, dass Rechts(neu)schöpfung und Auslegung in den jeweiligen Rechtskulturen unterschiedlich definiert sein können. Man kann sich leicht vorstellen, dass dieselbe Argumentation, die nach den Kriterien der einen Rechtsordnung als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden kann, aus der Perspektive der anderen Rechtskultur als Auslegung definiert wird und umgekehrt. Ferner kann man davon ausgehen, dass eine bestimmte Argumentationsstrategie in beiden Rechtskulturen als Rechts(neu)schöpfung bzw. als Auslegung bestimmt wird. Insgesamt sind daher vier Konstellationen denkbar, die die folgende Tabelle zusammenfasst. Tabelle 19 Das Verhältnis von Auslegung und Rechts(neu)schöpfung aus der Perspektive der jeweiligen Rechtskultur Rechtskultur A

Rechtskultur B

I.

Rechts(neu)schöpfung

Rechts(neu)schöpfung

II.

Auslegung

Rechts(neu)schöpfung

III. Rechts(neu)schöpfung

Auslegung

IV.

Auslegung

Auslegung

410

Teil 2: Empirische Analysen

2. Eine übernationale Perspektive Neben der nationalen Perspektive kann man versuchen, den Begriff der Rechts(neu)schöpfung auf (übernationaler) Metaebene zu definieren. Danach gilt als Rechts(neu)schöpfung diejenige Vorgehensweise eines Gerichts, die nach unabhängig von der jeweiligen Rechtskultur bestimmten Kriterien als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden kann. Dementsprechend lassen sich acht Konstellationen feststellen. Tabelle 20 Das Verhältnis von Auslegung und Rechts(neu)schöpfung aus der Perspektive der jeweiligen Rechtskultur und aus der Perspektive der übernationalen Kriterien Rechtskultur A

Rechtskultur B

Metaebene

I.

Rechts(neu)schöpfung

Rechts(neu)schöpfung

Rechts(neu)schöpfung

II.

Auslegung

Rechts(neu)schöpfung

Rechts(neu)schöpfung

III.

Rechts(neu)schöpfung

Auslegung

Rechts(neu)schöpfung

IV.

Auslegung

Auslegung

Rechts(neu)schöpfung

V.

Rechts(neu)schöpfung

Rechts(neu)schöpfung

Auslegung

VI.

Auslegung

Rechts(neu)schöpfung

Auslegung

VII.

Rechts(neu)schöpfung

Auslegung

Auslegung

Auslegung

Auslegung

VIII. Auslegung

Nach der ersten Möglichkeit gilt als Rechts(neu)schöpfung diejenige Vorgehensweise eines Gerichts, die sowohl nach nationalen als auch nach übernationalen Kategorien als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden kann. Die zweite und dritte Möglichkeit betrifft diejenigen Fälle, in denen die Vorgehensweise des Gerichts nach übernationalen Kriterien als Rechts(neu)schöpfung gilt, aber demgegenüber nach nationalen Kriterien jeweils als Rechts(neu)schöpfung oder Auslegung betrachtet wird. Die vierte Möglichkeit sieht eine Situation vor, in der beide Rechtskulturen übereinstimmend eine konkrete Vorgehensweise als Auslegung bestimmen, die nach den übernationalen Kriterien aber als Rechts(neu)schöpfung gilt. Die fünfte Möglichkeit betrifft den umgekehrten Fall. Die sechste und siebte Möglichkeit gehen davon aus, dass eine Argumentation nach den übernationalen Kriterien als Auslegung betrachtet wird und die nationalen Kulturen sie jeweils entweder als Auslegung oder Rechts(neu)schöpfung bestimmen. Die letzte Möglichkeit stellt einen Gegensatz zu der ersten Möglichkeit dar; danach wird eine Vorgehensweise sowohl nach nationalen als auch nach übernationalen Kriterien als Auslegung bezeichnet.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

411

Die Anwendung dieser Systematik setzt die Feststellung von Kriterien voraus, die eine bestimmte Argumentationseinheit einer bestimmten Kategorie zuordnen lassen. Die Kriterien, die eine bestimmte Argumentationseinheit als Auslegung oder Rechts(neu)schöpfung nach den Maßstäben der jeweiligen Rechtskultur beurteilen lassen, können der jeweiligen Rechtskultur entnommen werden. Als Orientierung kann der herrschende Ansatz dienen. Dagegen müssen die Kriterien der Metaebene unabhängig von den nationalen Kategorien und Maßstäben bestimmt werden. Hier muss zunächst geklärt werden, ob sie vorab, also vor der empirischen Untersuchung, konkretisiert werden sollen, wie dies der quantitative Forschungsansatz fordert, oder im Laufe der Untersuchung nach den Grundsätzen des qualitativen Forschungsansatzes skizziert werden sollen. In der vorliegenden Untersuchung wurde die zweite Möglichkeit gewählt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wurden insgesamt vier Varianten der Rechts(neu)schöpfung auf der Metaebene festgestellt855: 1. Nach der ersten Variante liegt eine Rechts(neu)schöpfung vor, wenn das Gericht eine normative Rechtsgrundlage schafft, die im Gesetz keine ausdrückliche Entsprechung findet, z. B. die Etablierung eines neuen Rechtsinstitutes bzw. die Erweiterung des im Gesetz vorhandenen Rechtsinstitutes um neue zusätzliche Elemente, die das Gesetz nicht vorsieht. Nach der deutschen Terminologie gilt diese Argumentationsstrategie als „Rechtsfortbildung“; nach der polnischen Terminologie als „wykładnia prawotwórcza“ (rechtsbildende Auslegung). 2. In der zweiten Variante wird eine Rechts(neu)schöpfung angenommen, wenn das Gericht der Vorschrift eine Bedeutung verleiht, die mit ihrem klaren Wortlaut nicht vereinbar ist, oder eine Vorschrift ignoriert. Diese Variante kann problematisch sein, weil sie an die Kategorie der „Klarheit“ anknüpft, die selbst umstritten ist. Die Feststellung dieser Kategorie in einer Entscheidung kann somit begründete Bedenken erwecken, weil subjektive Momente nicht völlig ausgeklammert werden können. In der deutschen Methodenlehre (in der Lehre von Rüthers/Fischer/Birk) werden solche Argumentationsstrategien unter anderem als „richterliche Gesetzesabweichungen“ kategorisiert, wobei sie unter Umständen auch zulässig sind.856 In der polnischen Lehre betrachtet man die Auslegung gegen den klaren Wortlaut eines Gesetzestextes als Abweichung vom Ergebnis der sprachlichen Auslegungsmethode.

855 Angesichts des Mangels klarer Kriterien in der deutschen Kultur, die eine „teleologische Reduktion“ von der teleologischen Auslegung abgrenzen ließen, wurde auf die Formulierung dieses Kriteriums verzichtet. 856 B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, 2013, Rn. 936 ff.

412

Teil 2: Empirische Analysen

3. In der dritten Variante wird eine Rechts(neu)schöpfung angenommen, wenn das Gericht eine Vorschrift bzw. einen Begriff entgegen dem erklärten Willen des Gesetzgebers, der einen expliziten Ausdruck in den Entstehungsmaterialien eines Gesetzes gefunden hat und auf die in der Begründung Bezug genommen wird, „anwendet“. Nach den deutschen Kriterien liegt in diesem Fall eine objektive Auslegung vor. In der polnischen Lehre (Morawski) kann diese Strategie als Abweichung vom Ergebnis der funktionellen Auslegungsmethode angesehen werden, weil die Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien im Rahmen dieser Auslegungsmethode verankert ist. 4. In der letzten Variante werden als Rechts(neu)schöpfung all diejenigen Argumentationsstrategien betrachtet, die sich auf (quasi-)logische Folgerungen (Analogie, Schluss vom Kleineren auf das Größere, Schluss vom Größeren auf das Kleinere und Umkehrschluss) stützen. Diese Vorgehensweise wird in der deutschen Methodenlehre der Rechtsfortbildung zugeordnet. Dagegen betrachtet man die erwähnten Folgerungen in der polnischen Lehre (Morawski) als Auslegung sensu largo.

II. Empirischer Teil Im Folgenden werden mithilfe der bereits entwickelten Kriterien die ausgewählten Entscheidungen des BGH und des OG analysiert, die einen rechtsschöpferischen Charakter aufweisen. Dabei ist davon auszugehen, dass für die (wert-) sachbezogene Orientierung der Rechtsprechung sicherlich diejenigen Entscheidungen sprechen, die sowohl nach den nationalen Kriterien als auch nach den Kriterien der Metaebene als rechtsschöpferisch bezeichnet werden können. Solche Entscheidungen lassen sich in der Rechtsprechung beider Gerichte feststellen. Dies mag im Hinblick auf die Rechtsprechung des OG auf den ersten Blick überraschen, denn die Rechts(neu)schöpfung ist nach der herrschenden Meinung in der polnischen Rechtsordnung den Gerichten streng verboten. Trotzdem lassen sich in der Rechtsprechung des OG Entscheidungen feststellen, die einen deutlich rechtsschöpferischen Charakter haben, obwohl das OG dies nicht ausdrücklich einräumt. Demgegenüber scheut sich der BGH nicht, sich zur Rechts(neu)schöpfung (in seiner Terminologie: zur Rechtsfortbildung) zu bekennen. Dieser Aspekt der Rechtsprechung des BGH wurde auch schon bei der Analyse der methodischen Äußerungen (Pkt. D. VII.) erörtert. Im Folgenden wird nun gezeigt, dass der BGH nicht nur über Rechtsfortbildung spricht, sondern sie auch tatsächlich praktiziert. Die Rechts(neu)schöpfung wird im Folgenden grundsätzlich nach den Kriterien der Metaebene festgestellt, aber es wird auch teilweise versucht, bestimmte Argumentationsstrategien nach nationalen Kriterien zu qualifizieren. Da diese Vorgehensweise problematisch sein kann, wird sich die Untersuchung in erster Linie auf klar zuzuordnende Fälle beschränken.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

413

Dieser Teil der Untersuchung stützt sich überwiegend auf die 200 Entscheidungen des BGH und des OG. Es werden jedoch auch gemäß den Grundsätzen der qualitativen Forschung einige ausgewählte Entscheidungen außerhalb der Stichprobe berücksichtigt, durch die es ermöglicht wird, das jeweilige Problem zu vertiefen. 1. Rechts(neu)schöpfung in der Rechtsprechung des BGH Primär werden hier diejenigen Entscheidungen des BGH analysiert und interpretiert, in denen der BGH in weitem Umfang eine neue normative (übergesetzliche) Rechtslage schafft, die im Gesetz keine ausdrückliche Entsprechung findet. Bei diesen Entscheidungen kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass sie einen rechtsschöpferischen Charakter haben. Dies trifft insbesondere auf den Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 3.3.2005857 zu, in dem er sich in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG mit der Problematik der seinerzeit in der StPO kaum geregelten Urteilsabsprachen auseinandergesetzt hat.858 Schon an dieser Stelle kann vorweggenommen werden, dass das OG in keiner der in Betracht gezogenen Entscheidungen so weit in der Rechts(neu)schöpfung wie der BGH gegangen ist. Auch trotz der Untersuchung weiterer Entscheidungen des OG außerhalb der Stichprobe wurde keine Entscheidung gefunden, die in so weitem Umfang in die Zuständigkeit des Gesetzgebers eingegriffen hätte. Deshalb ist diese Entscheidung für die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung, da sie einen Maßstab für die Beurteilung der Rechtsprechung beider Gerichte schafft. Daher soll sie möglichst ausführlich dargestellt werden. BGH Fall 1 (Urteilsabsprachen) Der behandelte Beschluss vom 3.3.2005859 des Großen Senats des BGH muss als weiterer Beitrag der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Entwicklung des Rechtsinstitutes der Urteilsabsprachen gesehen werden, obwohl die bisherige Rechtsprechung des BGH in dieser Hinsicht seitens der Lehre auf heftige Kritik gestoßen war. Dieser Rechtsprechung des BGH wurde entgegengehalten, dass der 857

GSSt 1/04, BGHSt 50, 40. Diese Problematik war auch schon Gegenstand früherer Entscheidungen des BGH. Die formellen Voraussetzungen einer wirksamen Absprache hat der BGH nach vielen Einzelentscheidungen erst in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1997 festgelegt (Urteil vom 28.8.1997, 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195). Auch in dieser Entscheidung war der Ausgangspunkt für die Prüfung der Zulässigkeit einer Absprache das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete allgemeine Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. Siehe dazu: H.-H. Kühne, Strafprozessrecht, 8. Auflage, 2010, Rn. 748 ff.; O. Ranft, Strafprozessrecht, 3. Auflage, 2005, Rn. 1223 ff.; U. Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Auflage, 2006, S. 239 ff.; B. Schünemann, Zur Entstehung des deutschen „plea bargaining“, in: FS für Heldrich, 2005, S. 1177 ff. 859 GSSt 1/04, BGHSt 50, 40. 858

414

Teil 2: Empirische Analysen

BGH mit der Einführung eines institutionalisierten Abspracheverfahrens die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung überschritten habe. Daher kann nicht überraschen, dass sich der Große Senat für Strafsachen in diesem Fall veranlasst sah, seine Vorgehensweise in dieser Hinsicht zu rechtfertigen, was davon zeugt, dass die Rechtsschöpfung in diesem Fall zumindest problematisch sein dürfte. Zu dem Problem der Legitimation nimmt der Große Senat in den folgenden Passagen explizit Stellung. „Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und nicht zuletzt das Gebot der Gleichbehandlung aller in Strafverfahren Beschuldigten geben es den zuständigen staatlichen Stellen und insbesondere den Organen der Strafrechtspflege auf, dafür Sorge zu tragen, daß der staatliche Strafanspruch insgesamt – mit Blick auf alle einzuleitenden Strafverfahren – so gut wie möglich durchgesetzt werden kann. Auf seine Durchsetzung darf weder nach Belieben noch aus vermeidbaren Gründen generell, partiell oder im Einzelfall verzichtet werden. Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfG – Kammer – NJW 1987, 2662). Diesen Anforderungen könnten die Organe der Strafrechtsjustiz unter den gegebenen – rechtlichen wie tatsächlichen – Bedingungen der Strafrechtspflege ohne die Zulassung von Urteilsabsprachen durch richterrechtliche Rechtsfortbildung nicht mehr gerecht werden. Vor allem mit Blick auf die knappen Ressourcen der Justiz (vgl. dazu den Beschluß der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 17./18. Juni 2004: ,Die Justizministerinnen und Justizminister weisen erneut darauf hin, daß die Strafjustiz am Rande ihrer Belastbarkeit arbeitet.‘) könnte die Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz nicht gewährleistet werden, wenn es den Gerichten generell untersagt wäre, sich über den Inhalt des zu verkündenden Urteils mit den Beteiligten abzusprechen. Jedenfalls soweit sie den dargestellten Mindestanforderungen entsprechen, ermöglichen es Urteilsabsprachen, den mitunter gegenläufigen Anforderungen für ein ordnungsgemäßes Funktionieren der Strafjustiz in ihrer Gesamtheit Rechnung zu tragen.“ 860

Aus dem zitierten Abschnitt der Urteilsbegründung geht hervor, dass vor allem die knappen Ressourcen der Justiz für die Zulassung von Urteilsabsprachen durch richterliche Rechtsfortbildung entscheidend waren. Diese Behauptung des Großen Senats wurde in der Literatur allerdings zum Teil als „eine Preisgabe des Kernbereichs richterlicher Obliegenheiten“ betrachtet.861 Die Passage lässt sich jedoch auch dahingehend interpretieren, dass der BGH seine Aufgaben nicht nur in der Korrektur der fehlerhaften Entscheidungen im Rahmen der Revisionsverfahren, in der Auslegung von Gesetzen und in der Rechtsvereinheitlichung sieht, sondern sich für das Funktionieren der Strafjustiz insgesamt verantwortlich fühlt. Aus dieser Perspektive ist der Gesetzgeber nicht allein dafür verantwortlich, dass 860 861

Ebenda, S. 53 f. K. Haller/K. Conzen, Das Strafverfahren, 6. Auflage, 2011, Rn. 638.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

415

die Strafverfahren zügig verlaufen, sondern auch die Gerichte, wenn erforderlich auch der BGH, müssen sich darum kümmern. Das ist sicherlich eine aktive Einstellung gegenüber den Problemen, die in einem Rechtssystem auftauchen können. Seinen Gedanken entwickelt der Große Senat im folgenden Abschnitt weiter. „Das gilt zumal unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes, der ein Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist, und des Grundsatzes der Prozeßökonomie. Beide Grundsätze können den Umfang der im Einzelfall gebotenen Aufklärungsbemühungen bestimmen. Das Gewicht der Strafsache sowie die Bedeutung und der Beweiswert weiterer Beweismittel sind gegenüber den Nachteilen der Verfahrensverzögerungen abzuwägen (BGH NJW 2001, 695). Die Rücksichtnahme auf die Belange der Verfahrensökonomie, namentlich bei drohender Verfahrensverzögerung, ist der Strafprozeßordnung – wie jeder anderen Verfahrensordnung – durchaus nicht fremd (vgl. BGH NStZ 2004, 638; BGH wistra 2004, 475). So ist nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung eine Teileinstellung nach § 154 Abs. 1 Nr. 2 StPO möglich, ,wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist‘. Unter den gleichen Voraussetzungen können einzelne abtrennbare Teile einer Tat oder einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen von der Verfolgung ausgenommen werden (§ 154 a Abs. 1 Satz 2 StPO); diese Beschränkung der Strafverfolgung gestattet eine Reduzierung des Schuldspruchs (vgl. nur BGH NJW 2004, 2990, 2991). Von der Einziehung oder dem Verfall kann ferner nach §§ 430, 442 StPO abgesehen werden, wenn das Verfahren ,einen unangemessenen Aufwand erfordern‘ würde. Hinzu kommt, dass Verfahrensverzögerungen, selbst wenn diese auf einer Überlastung des Gerichts beruhen, nicht selten dazu führen, daß die schuldangemessene Strafe unterschritten werden muß (BVerfG – Kammer – NJW 1995, 1277; 2003, 2225; NStZ 2004, 335; BGH NStZ 1999, 181; BGHSt 45, 321, 339; BGH, Beschluß vom 23. Juni 2004 – 1 ARs 5/04).“ 862

In dieser Passage knüpft der Große Senat ausdrücklich an den Beschleunigungsgrundsatz an, der in der vorliegenden Untersuchung schon ausführlich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Topoi behandelt wurde. Es ist daran zu erinnern, dass dieser Topos insgesamt in 10 der in Betracht gezogenen Entscheidungen des BGH festgestellt wurde. Die Bedeutung dieses Grundsatzes lässt sich jedoch erst im Lichte dieses Beschlusses angemessen beurteilen. In diesem Beschluss dient er in Verbindung mit dem Grundsatz der Prozessökonomie zur Etablierung eines neuen Rechtsinstitutes. Es werden somit konkrete Regelungen aus diesem Prinzip abgeleitet. Für die Zulassung von Urteilsabsprachen sprechen nach der Ansicht des Großen Senats nicht nur der Beschleunigungsgrundsatz und die Prozessökonomie, sondern auch die Belange des Opfers. „Die mit der richterrechtlichen Zulassung der Urteilsabsprache verbundene Fortbildung des Strafprozeßrechts ist schließlich auch im Hinblick darauf verfassungsrecht-

862

BGHSt 50, 54 f.

416

Teil 2: Empirische Analysen

lich vertretbar, daß das Recht auf ein faires Verfahren auch den Zeugen, namentlich den Opfer-Zeugen, davor schützt, zum bloßen Objekt eines rechtsstaatlich geordneten Verfahrens gemacht zu werden (BVerfGE 38, 105, 114 f.). Nach der Auffassung des Gesetzgebers ist Aufgabe eines sozialen Rechtsstaates nicht nur, darauf zu achten, daß die Straftat aufgeklärt und Schuld oder Unschuld des Beschuldigten in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt, sondern auch, daß die Belange des Opfers gewahrt werden (so die Begründung der Bundesregierung im Entwurf zum Opferrechtsreformgesetz vom 24. Juni 2004, BGBl. I 1354, BT-Drucks. 15/2536). Der Zeugen- und Opferschutz kann deshalb Anlaß sein, von einer weitergehenden – den Schuldumfang möglicherweise erhöhenden – Sachaufklärung abzusehen, namentlich unter Anwendung von §§ 154, 154 a StPO. Die Revisionsgerichte knüpfen an dieses Anliegen auch bei der Frage der Notwendigkeit der Aufhebung und Zurückweisung an (vgl. BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Mindestfeststellungen 7; § 354 Abs. 1 Sachentscheidung 5; zur verfassungskonformen Auslegung unter Opferschutzgesichtspunkten siehe auch BVerfG – Kammer –, Beschluß vom 27. Februar 2000 – 2 BvL 4/98).“ 863

Diese umfangreiche Argumentation fasst der Große Senat für Strafsachen mit dem folgenden Zitat zusammen, das darauf hinweist, dass der Senat sich eher dazu gezwungen sieht, das Recht in diesem Fall fortzubilden. „Der Große Senat für Strafsachen würde sich an der nach allem durch die Änderung der Verhältnisse veranlaßten, zur Sicherstellung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gebotenen Rechtsfortbildung durch Zulassung der Urteilsabsprache (in den dargestellten engen Grenzen) allerdings gehindert sehen, wenn eine einschlägige Regelung des Gesetzgebers zu erwarten wäre (vgl. BVerfGE 34, 269, 291). Indes ist trotz drängenden Regelungsbedarfs ein Tätigwerden des Gesetzgebers konkret nicht abzusehen.“ 864

Schließlich ist noch ein Appell des Großen Senats für Strafsachen an den Gesetzgeber zu zitieren, der auch als Vorwurf gegenüber dem Gesetzgeber betrachtet werden kann. „Der Große Senat für Strafsachen appelliert an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Es ist primär Aufgabe des Gesetzgebers, die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll, festzulegen. Dabei kommt ihm – auch von Verfassungs wegen – ein beachtlicher Spielraum zu (BVerfGE 57, 250, 275 f.).“ 865

863

Ebenda, S. 55. Ebenda. 865 Ebenda, S. 64. Der Gesetzgeber ist diesem Appell inzwischen gefolgt, indem er die Urteilsabsprachen gesetzlich geregelt hat. Siehe den Gesetzentwurf des Bundesrates: Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Absprachen im Strafverfahren. BTDrucks. 16/4197. Das Gesetz ist am 4.8.2009 in Kraft getreten. Der StPO wurden insbesondere folgende Vorschriften eingefügt: § 35a S. 2, § 160b, § 202a, § 212, § 257b, § 257c, § 273 Abs. 1a. Andere Vorschriften der StPO wurden geändert bzw. ersetzt. 864

F. Die Rechts(neu)schöpfung

417

Diese umfangreiche Argumentation, die sich auf mehrere Topoi unterschiedlicher Natur stützt, weist darauf hin, dass die Rechtsfortbildung in diesem Fall für den Großen Senat begründungsbedürftig, also nicht selbstverständlich war. Der Große Senat für Strafsachen sieht das Problem durchaus, dass die Zulassung von Urteilsabsprachen durch Rechtsfortbildung möglicherweise die Kompetenz des Großen Senats überschreitet, gleichwohl hat er sich für die Rechtsfortbildung entschieden. Bevor der Große Senat sich jedoch mit der Beantwortung der Vorlegungsfragen befasste, setzte er sich mit dem Problem der Grenzen und der Zulässigkeit von Urteilsabsprachen auseinander. Nach der Darstellung der diesbezüglichen bisherigen Rechtsprechung (insbesondere BGHSt 43, 195866) versucht der Große Senat zunächst die Grenzen der Urteilsabsprachen zusammenzustellen und zu präzisieren. Hier kommt auch die verfassungsrechtliche Argumentation zur Geltung. Zunächst stellte der Große Senat fest, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen der Urteilsabsprache sich insbesondere aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) und aus dem Schuldprinzip ergeben. Beide Prinzipien leitet der Große Senat aus dem GG her. Den Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren entnimmt der Große Senat aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG. Der Grundsatz der Schuldangemessenheit des Strafens folgt nach Auffassung des Großen Senats aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip. § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB ist daher Ausdruck dieses Prinzips. Bemerkenswert ist zudem, dass beide Prinzipien (Grundsatz des fairen Verfahrens und Schuldprinzip) nicht ausdrücklich im GG erwähnt sind. Vor dem Hintergrund dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben und ihrer Ausgestaltung durch die Regelungen der geltenden Strafprozessordnung stellt der Große Senat für eine zulässige Urteilsabsprache folgende Mindestbedingungen auf: a) Das Gericht darf nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache ausweichen, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage anhand der Akten und insbesondere auch rechtlich überprüft zu haben.867 b) Das bei einer Urteilsabsprache in der Regel abgelegte Geständnis muss auf seine Zuverlässigkeit hin überprüft werden.868 c) Die Differenz zwischen der absprachegemäßen und der bei einem „streitigen Verfahren“ zu erwartenden Sanktion darf nicht so groß sein („Sanktionsschere“), dass sie strafzumessungsrechtlich unvertretbar und mit einer ange-

866 867 868

Urteil vom 28.8.1997, 4 StR 240/97. BGHSt 50, 49. Ebenda.

418

Teil 2: Empirische Analysen

messenen Strafmilderung wegen eines Geständnisses nicht mehr erklärbar ist.869 d) Das Gericht darf über BGHSt 43, 195 (Leitsatz 2) hinaus nicht nur wegen neuer Erkenntnisse von seiner Zusage abweichen, sondern – nach entsprechendem Hinweis – auch dann, wenn schon bei der Urteilsabsprache vorhandene relevante tatsächliche oder rechtliche Aspekte übersehen wurden (vgl. BGH NStZ 2004, 493; 2005, 115).870 Diese Mindestbedingungen erwecken den Eindruck von gesetzesähnlichen Quellen des Rechts. In einem Fall verwendet der Große Senat im Pkt. 2. die Worte „in der Regel“, was diesen Eindruck noch verstärkt. Ausgenommen vom bereits erwähnten Pkt. 2. haben alle diese „Hinweise“ verbietenden Charakter. Und nun zu den Vorlegungsfragen. In dem behandelten Beschluss setzte sich der Große Senat für Strafsachen mit folgenden Fragen auseinander: „1. Ist es zulässig, im Rahmen einer Urteilsabsprache zu vereinbaren, daß auf ein Rechtsmittel verzichtet wird? 2. Ist es zulässig, daß das Gericht im Rahmen einer Urteilsabsprache darauf hinwirkt, daß ein Rechtsmittelverzicht erklärt wird, indem es diesen ausdrücklich anspricht oder befürwortet? 3. Ist die Erklärung des Angeklagten, auf Rechtsmittel zu verzichten, wirksam, wenn ihr eine Urteilsabsprache vorausgegangen ist, in der unzulässigerweise ein Rechtsmittelverzicht versprochen worden ist oder bei der das Gericht, ohne sich ihn im Rahmen der Absprache unzulässigerweise versprechen zu lassen, lediglich auf diesen hingewirkt hat?“ Diese Fragen hat der Große Senat wie folgt beantwortet. „1. Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache an der Erörterung eines Rechtsmittelverzichts nicht mitwirken und auf einen solchen Verzicht auch nicht hinwirken. 2. Nach jedem Urteil, dem eine Urteilsabsprache zugrunde liegt, ist der Rechtsmittelberechtigte, der nach § 35a Satz 1 StPO über ein Rechtsmittel zu belehren ist, stets auch darüber zu belehren, daß er ungeachtet der Absprache in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen (qualifizierte Belehrung). Das gilt auch dann, wenn die Absprache einen Rechtsmittelverzicht nicht zum Gegenstand hatte. 3. Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist unwirksam, wenn der ihn erklärende Rechtsmittelberechtigte nicht qualifiziert belehrt worden ist.“ 871 869 870 871

Ebenda, S. 50. Ebenda. Ebenda, S. 40.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

419

Es ist aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung interessant, wie der Große Senat für Strafsachen zu diesem Ergebnis gekommen ist und welche Topoi er bei der Begründung seines Ergebnisses verwendet hat, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass die Urteilsabsprachen in der StPO seinerzeit kaum geregelt waren. Zur Antwort auf die Fragen Nr. 1 und 2: Das Verbot der Mitwirkung des Gerichts an der Erörterung des Rechtsmittelverzichts begründet der Große Senat für Strafsachen vor allem mit Argumenten verfassungsrechtlicher und pragmatischer Art. Zunächst stellt der Große Senat autoritativ fest, dass es nicht zulässig sei, die Strafhöhe mit dem Versprechen des Rechtsmittelverzichts zu verknüpfen. Eine solche Vorgehensweise stelle einen grundlegenden Verstoß gegen das Prinzip des schuldangemessenen Strafens dar. Dann betont der Große Senat, dass die Urteilsabsprache nicht gleichsam als eigenständiges, informelles Verfahren neben der eigentlichen Hauptverhandlung geführt werden darf. Entscheidend scheint jedoch das Argument zu sein, dass an einer Zulassung der Möglichkeit, einen Rechtsmittelverzicht im Rahmen einer Urteilsabsprache zu vereinbaren, keine legitimen Interessen bestehen. Ferner könnten aus einer solchen Praxis nachhaltige Gefahren nicht nur für die Rechtskultur, sondern darüber hinaus für eine effektive Wahrung unverzichtbarer Anliegen eines rechtsstaatlich geführten Strafverfahrens erwachsen. In einem weiterem Teil der Begründung hebt der Große Senat hervor, dass auch für die Fälle, in denen eine Urteilsabsprache zustande gekommen ist, eine effektive Möglichkeit der Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen durch das Revisionsgericht erhalten bleiben muss. Beteiligt sich hingegen das Gericht im Rahmen einer Urteilsabsprache an der Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts oder drängt es gar die Rechtsmittelberechtigten hierzu, so lässt dies – nach der Auffassung des Großen Senats – erkennen, dass sein Urteil keiner revisionsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden soll. Das verletzt die Würde des Gerichts und schadet seiner Autorität. Daher muss es dem Gericht untersagt sein, an dem Zustandekommen einer Urteilsabsprache mitzuwirken, soweit ihr Gegenstand auch der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist. Zur Antwort auf die Frage Nr. 3: Bezüglich der dritten Frage stellt der Große Senat für Strafsachen zunächst fest, dass das Gesetz von einer grundsätzlichen Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts ausgeht. Weiterhin führt er aus, dass der nach Urteilserlass erklärte Rechtsmittelverzicht in Verbindung mit dem Rechtsmittelverzicht der anderen rechtsmittelberechtigten Verfahrensbeteiligten die Rechtskraft unmittelbar herbeiführt. Damit wirkt der Rechtsmittelverzicht rechtsgestaltend. Auch nennt der Große Senat weitere Rechtsfolgen und erinnert an die ständige Rechtsprechung des BGH,

420

Teil 2: Empirische Analysen

nach der ein wirksam erklärter Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung, die die Rechtskraft (mit den genannten Folgen) herbeiführt, weder widerrufen noch angefochten noch sonst zurückgenommen werden kann. Die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts folgt nach der Auffassung des Großen Senats nicht zwangsläufig aus seiner unzulässigen Vereinbarung im Rahmen einer Urteilsabsprache; denn Urteilsabsprache und Rechtsmittelverzicht betreffen zwei verschiedene Verfahrensabschnitte: Die Urteilsabsprache einschließlich des Verfahrens bis zur Urteilsverkündung (erster Abschnitt) und die danach von den Rechtsmittelberechtigten getroffene Entscheidung (zweiter Abschnitt). In dem zweiten Abschnitt sieht das Gesetz Korrektive vor, die vor übereilten Entscheidungen schützen sollen, und zwar die Rechtsmittelbelehrung nach § 35a StPO und die protokollierte Genehmigung der Verzichtserklärung nach Verlesung gemäß § 273 Abs. 3 Satz 3 StPO, die jedoch für sich allein nicht ohne Weiteres geeignet sind, dem Rechtsmittelberechtigten seine unvermindert fortbestehende Rechtsmittelbefugnis ungeachtet der Tatsache zu verdeutlichen, dass das Gericht an einer Absprache mitgewirkt hat, die – unzulässigerweise – den vorzeitigen Verzicht auf diese Befugnis zum Gegenstand hatte. Für den Großen Senat scheint jedoch das folgende Argument entscheidend zu sein: „Der Große Senat für Strafsachen verkennt auch nicht, dass es dem Rechtsmittelberechtigten – namentlich dem Angeklagten – schwerfallen mag, von einer Ankündigung, bei einem bestimmten Urteilsergebnis kein Rechtsmittel einlegen zu wollen, wieder abzurücken. Für den Angeklagten entsteht ein ,Zugzwang‘ nicht zuletzt dann, wenn er einer solchen Urteilsabsprache aufgrund der Empfehlung seines Verteidigers zugestimmt und unter dieser, rechtlich freilich unverbindlichen Voraussetzung, sein Geständnis – insoweit hat er seinerseits eine ,Vorleistung‘ von erheblichem Gewicht erbracht – abgelegt hat.“ 872

Im Hinblick auf die oben dargestellten rechtlichen Gesichtspunkte und praktischen Gegebenheiten gelangt der Große Senat für Strafsachen zu dem Ergebnis, dass der Verzicht auf die Einlegung des Rechtsmittels, der nach einer derart unzulässig zustandegekommenen Urteilsabsprache erklärt wurde, unwirksam ist. Um jedoch die Interessen der Rechtssicherheit nicht zu weitgehend zu berühren, führt der Große Senat eine Einschränkung ein: Der Rechtsmittelverzicht entfällt nicht, wenn dem Rechtsmittelberechtigten über die Freiheit, unbeschadet der Absprache, Rechtsmittel einlegen zu können, eine von der eigentlichen Rechtsmittelbelehrung abgehobene, qualifizierte Belehrung erteilt worden ist. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Große Senat sich in diesem Fall in die Rolle des Gesetzgebers versetzt hat, was in dem behandelten Beschluss auch ausdrücklich zugestanden wurde. Die Zuständigkeit zur Schaffung des Rechts ist somit nach der Auffassung des Großen Senats nicht nur ausschließliche Aufgabe des Gesetzgebers. Die Gerichte können (oder müssen so872

Ebenda, S. 59 f.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

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gar) an dem Prozess der Rechtserzeugung teilhaben. Diese Feststellung des Großen Senats kann jedoch nicht als unproblematisch angesehen werden. Wenn ein Gericht selbst eine Regel etablieren kann, die einem Gesetz ähneln soll, stellt sich die Frage nach der Grenze zwischen dem Gesetzgeber und der Rechtsprechung. Diese Entscheidung des Großen Senats hat diese Grenze offenkundig noch weiter verschoben und provoziert die Frage, welche Aufgaben dem Gesetzgeber noch bleiben, wenn die Rechtsprechung sich bei dessen Untätigkeit in die Rolle des Ersatzgesetzgebers versetzen kann. Dabei ist zu betonen, dass die behandelte Entscheidung keine Kleinigkeiten betrifft, sondern die Gestalt des Strafverfahrens im deutschen Rechtssystem erheblich umgestaltet hat. Nach dieser Entscheidung blieb dem Gesetzgeber nichts anderes übrig, als ein Gesetz zu erlassen, das sich an den Grundsätzen orientiert, die der BGH herausgearbeitet hat. So ist auch der Bundestag verfahren.873 Nach den in dieser Untersuchung angenommenen Kriterien (Metaebene) kann diese Entscheidung der ersten Variante (siehe dazu terminologische Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt) zugeordnet werden. Der Große Senat für Strafsachen hat ein dem Gesetz unbekanntes Rechtsinstitut legitimiert und konkretisiert. BGH Fall 2 Eine weitere rechtsfortbildende Entscheidung zu den Urteilsabsprachen erließ der BGH am 19.2.2004.874 In dieser Entscheidung stellt der BGH fest, dass eine verfahrensbeendende Absprache unzulässig ist, wenn das dem Angeklagten angesonnene Verhalten ersichtlich vordergründig einem Zweck dient, der mit der angeklagten Tat und dem Gang der Hauptverhandlung in keinem inneren Zusammenhang steht. In dem behandelten Fall hat das Landgericht das Zustandekommen einer Absprache unter anderem von der Begleichung der aus der Vortat herrührenden Steuerschuld abhängig gemacht. Diese Vorgehensweise verletzt nach der Auffassung des BGH den Grundsatz des fairen Verfahrens und darf nicht akzeptiert werden. Die Entscheidung des BGH wird somit auch in diesem Fall vor allem aus dem allgemeinen Grundsatz abgeleitet. Dies kann nicht verwundern, weil die Urteilsabsprachen in der Zeit des Erlasses dieser Entscheidung noch nicht gesetzlich geregelt waren. Diese Entscheidung muss auf der Metaebene als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden (Variante Nr. 1, siehe dazu terminologische Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt).

873 Siehe den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Absprachen im Strafverfahren. BT-Drucks. 16/4197. Das Gesetz ist am 4.8.2009 in Kraft getreten. 874 Urteil, 4 StR 371/03, BGHSt 49, 84. Diese Entscheidung wurde vor dem bereits behandelten Beschluss des Großen Senats des BGH (3.3.2005) erlassen. Trotzdem wird sie nach dem Beschluss des Großen Senats dargestellt, weil der Entscheidung des Großen Senats eine wesentlich größere Rolle zukommt.

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Teil 2: Empirische Analysen

BGH Fall 3 Eine weitere Entscheidung, die nach den Kriterien der Metaebene fraglos als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden kann (Variante Nr. 1, siehe dazu terminologische Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt), ist das Urteil vom 25.11. 2005875. Man kann darüber hinaus die These vertreten, dass diese Entscheidung auch nach den nationalen Kriterien beider Rechtsordnungen als Rechts(neu)schöpfung angesehen werden kann. In diesem Urteil befasste sich der BGH unter anderem mit der Frage, ob der Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (§§ 66b StGB, 275a StPO) eine Begründung enthalten muss. Zunächst stellt der BGH fest, dass weder § 66b StGB noch § 275a StPO inhaltliche Mindestanforderungen für den Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung enthalten. Auch den Gesetzesmaterialien sei hierüber nichts zu entnehmen. Trotzdem kommt der BGH zu der Schlussfolgerung, dass der Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung eine Begründung enthalten müsse. Zu diesem Ergebnis kam der BGH hauptsächlich wegen der Berücksichtigung der Funktion des Antrags und der Ausgestaltung der verfahrensrechtlichen Regelung im Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Aspekten. Dem BGH zufolge wird in § 275a StPO das Bestreben deutlich, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz (Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) des Verurteilten Rechnung zu tragen. Ferner hebt der BGH hervor, dass das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte die Befugnis des Gesetzgebers begrenzen, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Der BGH berücksichtigt auch die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Er weist darauf hin, dass der Staatsbürger die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe grundsätzlich voraussehen können muss, um sich dementsprechend einrichten zu können (vgl. BVerfGE 109, 133; 109, 180). BGH Fall 4 Diese Entscheidung876 unterscheidet sich von den bisher dargestellten Fällen insofern, als der BGH hier entgegen dem Willen des Gesetzgebers, der seinen Ausdruck in den Gesetzesmaterialien gefunden hatte, entschieden hat. Nach den in dieser Untersuchung angenommenen Kriterien (Variante Nr. 3, siehe dazu terminologische Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt) liegt in diesem Fall eine Rechts(neu)schöpfung vor. In dem behandelten Fall ging es unter anderem um die Frage, ob die vollständige Verbüßung der Strafe und die Haftentlassung des Verurteilten der Fortsetzung des Verfahrens entgegenstehen, das sich auf die Anordnung einer Unter875 876

2 StR 272/05, BGHSt 50, 284. Urteil vom 1.7.2005, 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180.

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bringung in der Sicherungsverwahrung richtet. Der BGH verneinte diese Frage mit der Begründung, dass sich weder §§ 66b StGB, 275a StPO noch den Gesetzesmaterialien entnehmen lasse, ob sich der Verurteilte bis zur gerichtlichen Entscheidung über die von der Staatsanwaltschaft beantragte nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung noch im Vollzug der zuvor verhängten Strafe befinden muss. In der Tat kann man dem BGH zustimmen, dass die erwähnten Vorschriften die Anordnung der Maßregel in dem behandelten Fall nicht ausschließen; aber die Gesetzesmaterialien stehen einer solchen Anordnung eindeutig entgegen, wobei der BGH in dieser Hinsicht eine andere Auffassung hat. So heißt es in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages: „Damit kommt die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. ein Unterbringungsbefehl (§ 275 a Abs. 5 StPO) nur in Betracht, solange die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil vollzogen wird. Ausgeschlossen ist die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung demnach gegen einen Verurteilten, der sich bereits wieder in Freiheit befindet.“ 877

Klarer und eindeutiger konnte der Gesetzgeber seinen Willen nicht zum Ausdruck bringen. Weiter heißt es dort, auch wenn sich der Verurteilte aktuell im Vollzug einer anderen Freiheitsstrafe befinde, sei die Anordnung nur solange möglich, „wie die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil nicht vollständig verbüßt ist“.878 Daraus geht klar hervor, dass der Gesetzgeber eine eigenständige zusätzliche Voraussetzung für die nachträgliche Sicherungsverwahrung in dem Sinne vorsehen wollte, dass die Anordnung der Maßregel immer dann ausgeschlossen ist, sobald die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil voll verbüßt wurde und der Verurteilte sich wieder auf freiem Fuß befindet. Es ist interessant zu sehen, wie der BGH diesen eindeutigen Formulierungen aus dem Weg gegangen ist. Zunächst stellte der BGH fest, dass die vorliegenden Materialien „teilweise missverständlich“ formuliert wurden. Damit sollte die Eindeutigkeit der eigentlich klaren Sätze geschwächt werden. Dann fährt der BGH mit der Feststellung fort, dass die erwähnten Formulierungen – wie sich aus dem Textzusammenhang mit dem Einleitungssatz des entsprechenden Absatzes ergibt – ersichtlich nur der Erläuterung des Begriffs der Tatsachen dienen, die „nach einer Verurteilung (. . .) vor Ende des Vollzuges erkennbar werden“. Damit soll nach der Auffassung des BGH „zugleich der Zeitraum festgelegt werden, in dem die neuen Tatsachen erkennbar geworden sein müssen.“ Nach der Annahme des BGH wird damit „lediglich klargestellt, dass erst nach Vollverbüßung der verhängten Freiheitsstrafe erkennbar gewordene Tatsachen nicht mehr berücksichtigt werden dürfen.“ 877 878

BT-Drucks. 15/3346, S. 17. Ebenda.

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Um die bereits erwähnten Thesen des BGH genauer prüfen zu können, soll im Folgenden der gesamte Absatz der Gesetzesmaterialien zitiert werden: „Änderung des § 66 b Abs. 1 StGB (Nr. 2) Der Katalog der Anlasstaten, nach denen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in Betracht kommt, ist eng an die Vorgaben der Entscheidung des BVerfG vom 10. Februar 2004 (2 BvR 834/02 u. a.) angelehnt. Die Einschränkung durch die Formulierung ,ergänzend‘ verdeutlicht, dass dem Vollzugsverhalten des Verurteilten keine sachwidrig übersteigerte Bedeutung zukommen kann und steht ,insbesondere einer Übergewichtung der Verweigerung von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen entgegen‘ (BVerfG 2 BvR 834/02 u. a., S. 85 f.). § 66b Abs. 1 StGB setzt voraus, dass ,nach einer Verurteilung . . . vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar‘ werden, worauf auch § 66b Abs. 2 StGB Bezug nimmt. Damit kommt die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. ein Unterbringungsbefehl (§ 275a Abs. 5 StPO) nur in Betracht, solange die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil vollzogen wird. Ausgeschlossen ist die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung demnach gegen einen Verurteilten, der sich bereits wieder in Freiheit befindet. Möglich bleibt hingegen die Anordnung gegen Verurteilte, die zwischenzeitlich im Wege der Strafrestaussetzung zur Bewährung in Freiheit gelangt waren, sofern sie sich, vor allem wegen des in derartigen Fällen zu erwartenden Widerrufs der Strafaussetzung, wieder im Vollzug der Freiheitsstrafe befinden. Bei der Entscheidung können dann ggf. auch Tatsachen aus der Bewährungszeit berücksichtigt werden. Schließlich ist die Anordnung im Einzelfall auch dann möglich, wenn der Verurteilte sich zu der Zeit der Entscheidung oder zu dem Zeitpunkt, an dem die Tatsachen erkennbar werden, im Vollzug einer anderen Freiheitsstrafe befindet, da es bei ansonsten gleich bleibenden Voraussetzungen nicht sachgerecht wäre, wenn die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung von Zufälligkeiten der Vollstreckungsreihenfolge abhinge. Allerdings ist auch in diesem Fall die Anordnung nur solange möglich, wie die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil nicht vollständig verbüßt ist.“ 879

Man kann dem BGH darin zustimmen, dass in den Gesetzesmaterialien der Ausschluss der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. ein Unterbringungsbefehl nach dem Ende der Verbüßung der Freiheitsstrafe in einem Zusammenhang mit der Formulierung „nach einer Verurteilung . . . vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar“ steht. Daraus lässt sich jedoch nicht folgern, dass die Sätze: „Damit kommt die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. ein Unterbringungsbefehl (§ 275 a Abs. 5 StPO) nur in Betracht, solange die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil vollzogen wird. Ausgeschlossen ist die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung demnach gegen einen Verurteilten, der sich bereits wieder in Freiheit befindet.“ lediglich der Erläuterung des Begriffes „nach einer Verurteilung . . . vor Ende des Vollzugs dieser Freiheits879

Ebenda.

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strafe Tatsachen erkennbar“ dienen. Aus dieser Formulierung geht vielmehr hervor, dass diese Tatsachen vor Ende des Vollzugs einer Freiheitsstrafe erkennbar sein müssen. Das mussten die Gesetzesmaterialien nicht erläutern. Was der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien präzisieren wollte, ist vielmehr, dass die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. ein Unterbringungsbefehl nur in Betracht kommt, solange die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil noch nicht vollzogen ist. Mit dieser Schlussfolgerung ist der BGH aber nicht einverstanden. Bemerkenswert ist zudem, dass der BGH nicht ausdrücklich den Gesetzesmaterialien widerspricht, sondern durch die Annahme der „teilweise missverständlich formulierten Gesetzesmaterialien“ und die „systematische Auslegung“ der Gesetzesmaterialien den Anschein erweckt, dass der Gesetzgeber dieses Auslegungsergebnis gerade gewollt hat. Der BGH will eindeutig kein Auslegungsergebnis vertreten, zu dem die Gesetzesmaterialien im Widerspruch stehen. Für den BGH dürften in diesem Fall drei Argumente entscheidend gewesen sein. Zum einen geht der BGH davon aus, dass trotz aller Beschleunigung, d. h. der Einhaltung der Sollfrist des § 275a Abs. 1 Satz 3 StPO, eine rechtskräftige Entscheidung innerhalb von sechs Monaten bis zum Strafende nicht herbeizuführen ist, z. B. wegen der notwendigen, vom Gesetz vorgeschriebenen zwei Sachverständigengutachten (§ 275a Abs. 4 Satz 2 StPO). Zum anderen hätte das Erfordernis einer erstinstanzlichen Entscheidung bis zum Ende des Vollzugs zur Folge, dass Tatsachen, die erst kurz vor dem Strafende erkennbar werden, grundsätzlich nicht mehr berücksichtigt werden könnten. Des Weiteren würde ein solches Erfordernis dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuwiderlaufen, weil die Gerichte in diesen Fällen regelmäßig gezwungen wären, einen Unterbringungsbefehl nach § 275a Abs. 5 StPO zu erlassen, um die Möglichkeit einer anderen als den Antrag der Staatsanwaltschaft ablehnenden Entscheidung offen zu halten. Zwar kann man der Argumentation des BGH inhaltlich zustimmen. Das ändert jedoch nichts daran, dass diese Entscheidung mit den Gesetzesmaterialien, wie anfangs festgestellt wurde, nicht im Einklang steht, also der BGH nach den in der vorliegenden Untersuchung herausgearbeiteten Kriterien (Metaebene) eine Rechts(neu)schöpfung vorgenommen hat. BGH Fall 5 Einen rechtsfortbildenden Charakter weist sicherlich auch der Beschluss des BGH vom 12.2.2004880 auf, in dem der BGH entschieden hat, dass der Augenschein durch Vorführen der zu Beweiszwecken erstellten Bild-Ton-Aufzeichnung über die Erklärung eines Zeugen im Zusammenhang mit seiner Vernehmung zulässig ist. Der BGH nannte dabei keine gesetzliche Grundlage, die diese Vorge880

1 StR 566/03, BGHSt 49, 68.

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Teil 2: Empirische Analysen

hensweise zugelassen hätte. Dies kann nicht überraschen, weil eine solche gesetzliche Rechtsgrundlage in der StPO nicht existiert. Als Argumentationsbasis dienen dabei Verweise auf die bisherige Rechtsprechung des BGH und auf das Buch von G. Schäfer (Die Praxis des Strafverfahrens). Entscheidend scheint dabei das folgende Zitat zu sein, das der BGH in der behandelten Begründung auch verwendet, allerdings ohne den genauen Quellennachweis anzugeben. „§ 250 StPO untersagt nämlich nur die Ersetzung der Zeugenaussagen durch die Verwertung einer berichtenden, zu Beweiszwecken erstellten Urkunde, mag es sich dabei nun um ein Protokoll oder um eine schriftliche Erklärung des Zeugen handeln. Daß neben der Vernehmung der in Betracht kommenden Person als Zeuge eine frühere protokollarisch oder in einer schriftlichen Erklärung festgehaltene Äußerung dieser Person im Wege des Urkundenbeweises verwertet wird, verbietet die Vorschrift nicht. (. . .) Das Gesetz hat insofern in § 253 StPO nur eine besondere Vorkehrung für die Verwendung von Protokollen getroffen, deren Verlesung zum Zweck des Urkundenbeweises es erst (als letzten Ausweg) zuläßt, nachdem Vorhalte aus dem Protokoll keine Übereinstimmung der gegenwärtigen Aussage mit dem Inhalt des Protokolls bewirkt und auch nicht dazu geführt haben, daß der Zeuge bekundete, bei der Annahme des Protokolls abweichend von seiner gegenwärtigen Aussage tatsächlich das im Protokoll Festgehaltene ausgesagt zu haben. Indessen kann hier nicht der Schluß gezogen werden, daß das Gesetz die Verwertung schriftlicher Erklärungen neben der Zeugenaussage überhaupt verbiete, . . ., noch kann daraus gefolgert werden, daß § 253 StPO auf schriftliche Erklärungen entsprechend anzuwenden, die Verlesung zum Zweck des Urkundenbeweises also erst nach vergeblichen Vorhalten zulässig sei. Es ist vielmehr von der Systematik des Gesetzes entnehmenden allgemeinen Grundsatz auszugehen, daß das Gesetz den Urkundenbeweis zuläßt, wo es ihn nicht ausdrücklich untersagt.“ 881

Die bereits dargestellten Grundsätze erachtet der BGH auch für die ergänzende Inaugenscheinnahme der Bild-Ton-Aufzeichnung der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung als maßgebend. Das „Videoprotokoll“ setzt er dabei der Niederschrift einer Zeugenvernehmung gleich. Den Zweck der ergänzenden Inaugenscheinnahme der Bild-Ton-Aufzeichnung sieht der BGH in der Prüfung der Aussagekonstanz. Diese Entscheidung kann auch auf der Metaebene als Rechts(neu)schöpfung angesehen werden (Variante Nr. 1, siehe dazu terminologische Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). BGH Fall 6 In dem Beschluss vom 17.7.2004882 behandelte der BGH die Problematik der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für eine im Jahre 1944 während der Besetzung Italiens stattgefundene Massenerschießung italienischer Gefangener als Ver-

881 882

Ebenda, S. 70. 5 StR 115/03, BGHSt 49, 189.

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geltungsmaßnahme nach einem gegen deutsche Soldaten gerichteten Partisanenangriff. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, dass er (tateinheitlich) grausamen Mord an 59 Menschen begangen hat. Für diese Straftat verurteilte das Landgericht den Angeklagten zu sieben Jahren Freiheitsstrafe. Der BGH hat das Urteil des Landgerichts aufgehoben und das Verfahren eingestellt, obwohl er die Verurteilung des Angeklagten nach der Übergabe der Sache an das Landgericht für möglich hielt. Wegen des hohen Alters des Angeklagten sah sich der BGH jedoch dazu veranlasst, das Verfahren einzustellen, obwohl die StPO keine ausdrückliche Grundlage für eine solche Entscheidung vorsieht, was diese Entscheidung auf der Metaebene als Rechts(neu)schöpfung betrachten lässt (Variante Nr. 1, siehe dazu terminologische Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). Die entscheidende Passage, die auch eine für eine eher substanzielle Rechtskultur charakteristische Abwägung beinhaltet, lautet: „b) Unter Berücksichtigung dieser gesamten Sach- und Rechtslage hält es der Senat insbesondere auch unter den allein mit Rücksicht auf das hohe Alter des Angeklagten bestehenden nunmehr begrenzten Möglichkeiten weiterer Verfahrensförderung und -beschleunigung für ausgeschlossen, daß die Feststellung eines vom Angeklagten verschuldeten Mordes unter gleichzeitiger sicherer Feststellung der Nichtverjährung der Tat in diesem Verfahren noch erbracht werden könnte. Eine Abwägung der widerstreitenden, jeweils rechtsstaatlich verankerten Belange – Wahrheitsermittlung auf der einen, Vermeidung der Gefahr, den Angeklagten zum bloßen Objekt des Verfahrens zu machen, auf der anderen Seite – gebietet unter den gegebenen Voraussetzungen, von der Anordnung einer Verfahrensfortsetzung abzusehen.“ 883

BGH Fall 7 In dem Beschluss vom 10.8.2005884 setzt sich der BGH dagegen unter anderen mit der Auslegung des § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO auseinander, wonach das Gericht verpflichtet ist, die Ablehnung eines Richters als unzulässig zu verwerfen, wenn ein Grund zur Ablehnung oder ein Mittel zur Glaubhaftmachung nicht angegeben wurde. Die Vorschrift bringt klar zum Ausdruck, dass es hier um die Konstellation geht, in der der Grund zur Ablehnung oder das Mittel zur Glaubhaftmachung nicht aufgeführt wird, so dass eine sachliche Auseinandersetzung nicht möglich ist. Daraus lässt sich folgern, dass der Antrag in dem behandelten Fall nicht ausreicht; es muss noch ein Grund oder Mittel zur Glaubhaftmachung angegeben werden. Der BGH erweitert jedoch in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG den Sinn der Vorschrift: „Grundsätzlich ist die Gleichsetzung eines Ablehnungsgesuchs, dessen Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist, mit einem Ablehnungsgesuch ohne Angabe eines Ablehnungs883 884

Ebenda, S. 200. 5 StR 180/05, BGHSt 50, 217.

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Teil 2: Empirische Analysen

grundes (§ 26a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StPO) – auch aus verfassungsrechtlicher Sicht – unbedenklich (BVerfG a. a. O.; BGH NStZ 1999, 311).“ 885

Aus der zitierten Passage lässt sich schließen, dass das Gericht (unter Mitwirkung des Abgelehnten) auch dann auf der Grundlage des § 26a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StPO verfahren darf, wenn der Grund angegeben wurde, aber völlig ungeeignet zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuches ist. Was „völlig ungeeignet“ ist, bedarf wieder der Auslegung. Sie eröffnet dem Gericht einen Spielraum, in dem Bewertungen getroffen werden können. Diese Situation des Gerichts unterscheidet sich jedoch deutlich von der Konstellation, die § 26a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StPO vorsieht. Nach dieser Vorschrift soll das Gericht nur den Umstand (Tatsache) feststellen, ob der Grund angegeben wurde oder nicht. Diese intellektuell unproblematische Tätigkeit unterscheidet sich wesentlich von der Aufgabe, die der BGH dem Gericht zuweist, und nach der das Gericht einschätzen muss, inwieweit der angegebene Grund zur Rechtfertigung des Ablehnungsgesuchs „völlig ungeeignet“ ist. Dass die vom BGH „erfundene“ außergesetzliche Prämisse Auslegungsprobleme bereiten kann, insbesondere im Hinblick auf § 27 StPO, war dem BGH bewusst, wovon die folgende Passage zeugt: „Entscheidend für die Abgrenzung zu ,offensichtlich unbegründeten‘ Ablehnungsgesuchen, die von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht erfaßt und damit nach § 27 StPO zu behandeln sind (BGH StraFo 2004, 238; BGHR StPO § 26 a Unzulässigkeit 9), ist die Frage, ob das Ablehnungsgesuch ohne nähere Prüfung und losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet ist (BVerfG a. a. O.).“ 886

Auch diese Entscheidung muss somit als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden (Variante Nr. 2, siehe dazu terminologische Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). BGH Fall 8 Eine Rechts(neu)schöpfung nach den in der vorliegenden Untersuchung angenommenen Kriterien liegt auch im Beschluss vom 19.12.2006887 vor. In dieser Entscheidung hat der BGH die gemäß § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung eines vorübergehend entfernten Angeklagten in der Art zugelassen, dass dieser das Geschehen im Sitzungssaal mittels Videoübertragung mitverfolgen darf. Diese von dem BGH kreierte Vorgehensweise schafft offenkundig eine alternative Lösung zu der Konzeption, die der Gesetzgeber im § 247 S. 4 StPO vorgesehen hat. § 247 S. 4 StPO bestimmt ausdrücklich, dass der Angeklagte nach seiner Rückkehr von dem Vorsitzenden von dem wesentlichen Inhalt dessen unterrichtet werden soll, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst ver885 886 887

Ebenda, S. 220. Ebenda. 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

429

handelt worden ist. Der Gesetzgeber hat somit eindeutig sowohl die zuständige Person bestimmt (den Vorsitzenden), die den Angeklagten unterrichten sollte, als auch den Zeitpunkt der Unterrichtung festgesetzt (nach der Rückkehr des Angeklagten). Die von dem BGH gefundene Lösung ändert diese Konzeption grundlegend, indem sie den Vorsitzenden von der in § 247 S. 4 StPO vorgesehenen Pflicht befreit und den Zeitpunkt der „Unterrichtung“ verschiebt. Diese alternative Lösung geht jedenfalls nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Gesetzes hervor. Diese Entscheidung wurde in der vorliegenden Untersuchung der Variante Nr. 2 der Rechts(neu)schöpfung zugeordnet (siehe dazu terminologische Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). BGH Fall 10 Abschließend ist auf die Rechts(neu)schöpfung im Urteil vom 11.8.2006888 hinzuweisen, in dem der BGH entschieden hat, dass eine Rüge unzulässig ist, wenn ein Beschwerdeführer bewusst einen Verfahrensverstoß behauptet und sich zum Beweis auf ein unrichtig erkanntes Protokoll beruft. Die Unzulässigkeit der Rüge stützt der BGH auf das allgemeine Missbrauchsverbot, das in der StPO nicht geregelt ist. Dazu führt der BGH aus: „3. Auch im Strafprozess gilt – ebenso wie in anderen Prozessordnungen – ein allgemeines Missbrauchsverbot. Zwar enthält die Strafprozessordnung keinen generellen Missbrauchstatbestand. Jedoch sind in ihr Sonderfälle wie der Missbrauch des Fragerechts in § 241 Abs. 1 i.V. m. § 239 Abs. 1 StPO und der Missbrauch des Verteidigerrechts in § 138 a Abs. 1 Nr. 2 StPO geregelt. Der Gedanke der Verhinderung eines Rechtsmissbrauchs liegt auch den Vorschriften der § 26a Abs. 1 Nr. 3, § 29 Abs. 2, § 137 Abs. 1 Satz 2, § 244 Abs. 3 Satz 2 (,Prozessverschleppung‘), § 245 Abs. 2 Satz 3 und § 266 Abs. 3 Satz 1 StPO zugrunde (vgl. Meyer JR 1980, 219 f.). Für andere Fälle des Missbrauchs prozessualer Befugnisse im Strafverfahren, die der Gesetzgeber nicht ausdrücklich geregelt hat, gilt – wie in jedem Prozess – das allgemeine Missbrauchsverbot (BGHSt 38, 111, 112 f.; BGH StV 2001, 100 f. und 101; KG JR 1971, 338 mit zust. Anm. Peters; Weber GA 1975, 289, 295; Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess S. 68 ff., 124 ff.; Niemöller StV 1996, 501 ff.; Fischer NStZ 1997, 212, 216 f.; Kudlich NStZ 1998, 588 ff.; Roxin in FS für Hanack, S. 1, 19 f.; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl. Einl. Rdn. 111; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24 Aufl. vor § 226 Rdn. 49; Pfeiffer in KK 5. Aufl. Einl. Rdn. 22a). Gegen diese Auffassung wenden sich einige mit der Befürchtung, es könne von den Gerichten Missbrauch mit einem allgemeinen Missbrauchsverbot getrieben werden (Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. Einl. J. Rdn. 36; Kühne, Strafprozessrecht 6. Aufl. Rdn. 293; Fezer in FS für Urlich Weber S. 475 ff.). Diesem dogmatisch ohnehin wenig gewichtigen Argument ist entgegenzuhalten, dass seit der grundlegenden Anerkennung des Missbrauchsverbots durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in BGHSt 38, 111 nunmehr fast 45 Jahre vergangen sind, ohne dass sich diese Be888

3 StR 284/05, BGHSt 51, 88.

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Teil 2: Empirische Analysen

fürchtung bestätigt hätte. Die sehr seltenen Entscheidungen, in denen davon Gebrauch gemacht worden ist, belegen eine ausgesprochene Zurückhaltung der Praxis.“ 889

Diese Argumentationsstrategie wird in der vorliegenden Untersuchung als die erste Variante der Rechts(neu)schöpfung behandelt (siehe dazu die terminologischen Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). Die dargestellten Fälle zeigen, dass die Rechts(neu)schöpfung in der Rechtsprechung des BGH unterschiedliche Dimensionen haben kann. Der BGH ist bereit, sowohl neue Rechtsinstitute zu etablieren, als auch den Anwendungsbereich der Rechtsvorschriften einzuschränken. 2. Rechts(neu)schöpfung in der Rechtsprechung des OG Es wurde schon zu Beginn dieses Abschnitts ausgeführt, dass sich auch in der Rechtsprechung des OG rechtsschöpferische Akzente feststellen lassen, obwohl das OG dies grundsätzlich nicht zum Ausdruck bringt. Man kann nicht einmal ausschließen, dass das OG im Bereich der Gesetzeskorrektur sogar bereit ist, noch weiterzugehen als der BGH. Diese These muss überraschen, wenn man das prinzipielle Verbot der Rechts(neu)schöpfung durch Gerichte in der polnischen Rechtskultur vor Augen hat. Die nachfolgenden Fälle sollen diesen Aspekt der Rechtsprechung des OG näher beleuchten. Es ist jedoch zunächst daran zu erinnern, dass eine Gesetzeskorrektur nach den in der vorliegenden Untersuchung angenommenen Kriterien auf der Metaebene unter anderem auch dann vorliegt, wenn das Gericht die Bedeutung einer Vorschrift entgegen deren eindeutigem Wortlaut feststellt. Ob der Wortlaut eindeutig ist, kann dabei natürlich auch problematisch sein. OG Fall 1 Ein Beispiel der Überschreitung des Wortlauts einer Vorschrift liefert der Beschluss (Postanowienie) vom 30.8.2007890. In diesem Verfahren ging es um die Frage, ob eine Kassation zu Gunsten des Angeklagten eingelegt werden darf, wenn eine Maßregel der Sicherung in der Form der Unterbringung in einer entsprechenden psychiatrischen Anstalt nach Art. 93–94 KK gegenüber dem Angeklagten angeordnet wurde. Das OG bejahte diese Frage, obwohl der Wortlaut der Vorschrift des Art. 523 § 2 KPK891 diese Entscheidung nicht deckt.

889

Ebenda, S. 92 f. II KZ 25/07, OSNKW 2007, Nr. 9, S. 50. 891 Art. 523 § 2 KPK lautet: „Eine Kassation zugunsten kann nur dann eingelegt werden, wenn der Angeklagte für eine Straftat oder Finanzstraftat zu einer Freiheitsstrafe ohne bedingte Aussetzung ihres Vollzugs zur Bewährung verurteilt worden ist.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 890

F. Die Rechts(neu)schöpfung

431

Die Vorschrift setzt zum einem eine Verurteilung und zum anderen die Verhängung einer Freiheitsstrafe voraus. In dem anhängigen Verfahren wurden beide Voraussetzungen nicht erfüllt. Gegenüber dem Angeklagten wurde das Verfahren eingestellt, d. h., der Angeklagte wurde nicht verurteilt und es wurde eine Maßregel der Sicherung in der Form der Unterbringung in einer entsprechenden psychiatrischen Anstalt nach Art. 93–94 KK angeordnet, was bedeutet, dass eine Strafe nicht verhängt wurde. Trotzdem ließ das OG in diesem Fall die Kassation zu. Zunächst berief sich das OG auf seine früheren Entscheidungen, in denen es auch schon vom Wortlaut der Vorschrift des Art. 523 § 2 KPK abgewichen war. So wurde z. B. der Beschluss (Postanowienie) vom 12.7.2001892 zitiert, in dem das OG die Kassation bei einer Verurteilung zur Jugendstrafe (zakład poprawczy) zugelassen hat, obwohl Art. 523 § 2 KPK nur von einer Freiheitsstrafe spricht. Ferner berücksichtigte das OG die Intention des Gesetzgebers, der mit der Einführung der Vorschrift des Art. 523 § 2 KPK nicht nur die Beschränkung der Zulassung der Kassation zu Gunsten des Angeklagten beabsichtigte, sondern den zur schwersten Strafe Verurteilten den Weg zur Einlegung der Kassationen eröffnen wollte. Daraus zog das OG den Schluss, dass sowohl bei der Jugendstrafe als auch bei der Anordnung der Unterbringung in einer entsprechenden psychiatrischen Anstalt die Kassation zu Gunsten der betreffenden Person zugelassen werden soll, weil es in beiden Fällen zur Freiheitsentziehung kommt. Bei der Unterbringung in einer entsprechenden Anstalt besteht sogar die Möglichkeit des lebenslangen Freiheitsentzuges. Diese Zweckmäßigkeitserwägungen führten zu einem Ergebnis, das vom klaren Wortlaut der Vorschrift abweicht, ohne dass das OG dies in seiner Entscheidung ausdrücklich zum Ausdruck gebracht hätte. Nach den in dieser Untersuchung angenommenen Kriterien muss dieses Ergebnis als Rechts(neu)schöpfung angesehen werden. OG Fall 2 Ein Fall, in dem das OG den Gesetzgeber korrigiert hat, findet sich auch in dem Beschluss (Uchwała) vom 26.4.2007893 (Variante Nr. 2, siehe dazu die terminologischen Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). In diesem Fall befasste sich das OG mit der Frage, ob ein Zeuge wegen falscher Aussage gemäß Art. 233 § 1 KK894 verurteilt werden kann, obwohl er im Lichte der im anhängi892

III KZ 39/01. I KZP 4/07, OSNKW 2007, Nr. 6, S. 1. 894 Art. 233 § 1 KK lautet: „Wer bei einer Aussage, die in einem Gerichtsverfahren oder in einem anderen aufgrund des Gesetzes geführten Verfahren als Beweismittel diesen soll, falsch aussagt oder die Wahrheit verheimlicht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.“ Übersetzung nach E. Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch, 1998. 893

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Teil 2: Empirische Analysen

gen Verfahren gesammelten Beweise im Moment der Vernehmung als Beschuldigter und nicht als Zeuge vernommen werden sollte. In diesem Fall vermutete das OG, dass die Staatsanwaltschaft ihre Pflichten, die sich aus Art. 313 § 1 KPK895 ergeben, verletzt hat. Das OG verneinte im Ergebnis die gestellte Frage mit dem Verweis auf das Recht auf Verteidigung und das Nemo-tenetur-Prinzip. Dieses Ergebnis wäre sicherlich nicht problematisch, wenn der Gesetzgeber die Situation nicht vorgesehen hätte, dass ein Täter einer Straftat als Zeuge vernommen wird. Im KPK findet sich jedoch Art. 183 § 1, demzufolge der Zeuge die Antwort auf eine Frage verweigern kann, wenn die Beantwortung der Frage ihn selbst oder einen seiner Angehörigen der Gefahr der Verantwortlichmachung für eine Straftat, Finanzstraftat, Übertretung oder Finanzübertretung aussetzen würde. Der Zeuge muss somit nicht lügen, sondern er kann einfach die Antwort auf die Frage gemäß dem bereits erwähnten Art. 181 § 1 KPK verweigern. Das OG führte in der Begründung jedoch aus, dass Art. 181 § 1 KPK in dem vorliegenden Sachverhalt seine Rolle nicht erfüllen könne. In dem behandelten Fall sollte der Zeuge daher nicht über den Inhalt des Art. 181 § 1 KPK belehrt, sondern er sollte als Beschuldigter behandelt werden und er sollte über die Rechte eines Beschuldigten, insbesondere über sein Recht auf Verweigerung der Beantwortung der Fragen und über das Recht zum Schweigen, belehrt werden. Ein anderes Ergebnis würde nach der Auffassung des OG den Verfolgungsbehörden den Spielraum eröffnen, Straftäter als Zeugen zu vernehmen und auf diese Weise an diejenigen Informationen zu gelangen, die die Straftäter nicht offenbaren wollen. OG Fall 3 Noch weiter geht das OG in dem Beschluss (Uchwała) vom 20.9.2007896. Dieser Fall betrifft fast dieselbe Situation, wie sie in der vorangehenden Entscheidung dargestellt wurde. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass in diesem Fall die im anhängigen Verfahren gesammelten Beweise nicht erlaubten, die betreffende Person, die im Laufe des Ermittlungsverfahrens als Zeuge verhört wurde, als Beschuldigten zu behandeln. Denn es gab keine Indizien, die auf seine Täterschaft hingewiesen hätten. Auch in diesem Fall kam das OG jedoch zu der Schlussfolgerung, dass der Zeuge wegen Falschaussagen (Art. 233 § 1 KK) nicht verurteilt werden kann. Dabei nahm das OG an, dass der Täter zwar eine Straftat begangen hat, indem er falsch aussagte, aber diese Tat gerechtfertigt sei. Als Rechtfertigungsgrund kam in diesem Fall wieder das Recht auf Verteidigung in 895 Art. 313 § 1 KPK lautet: „Begründen die im Zeitpunkt der Einleitung des Untersuchungs- oder Ermittlungsverfahrens bestehenden oder in deren Lauf gesammelten Angaben genügend den Verdacht, daß die Tat von einer bestimmten Person begangen worden ist, wird ein Beschluß über die Vorwurfserhebung angefertigt, dem Beschuldigten unverzüglich verkündet und der Beschuldigte wird vernommen.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 896 I KZP 26/07, OSNKW 2007, Nr. 10, S. 22.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

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Betracht, dessen Bedeutung das OG mit Verweisen auf die Verfassung und internationale Rechtsakte hervorhob. Auch in dieser Entscheidung war das OG sich dessen bewusst, dass dieses Ergebnis im Hinblick auf Art. 183 § 1 KPK problematisch sein kann. Es betonte sogar, dass die sprachliche Auslegungsmethode eher für die Strafbarkeit der betreffenden Person spreche. Dies hinderte das OG jedoch nicht daran, die Norm als offensichtlich fehlerhaft zu betrachten, denn sie stellt den Zeugen vor das folgende unlösbare Dilemma: Entweder schweigen und dadurch die Verfolgungsbehörden auf die Umstände hinweisen, die der Zeuge eher nicht offenbaren will, oder falsch aussagen und sich dadurch strafbar machen. Entscheidend für das Ergebnis des OG ist jedoch, wie bereits ausgeführt, das Recht der betreffenden Person auf Verteidigung, das in dem vorliegenden Fall auch das Recht zu unwahren Erklärungen umfasst. Angesichts dieser Umstände ist kaum zu bestreiten, dass das OG in beiden hier dargestellten Fällen den Gesetzgeber korrigiert hat, indem es die Norm des Art. 183 § 1 KPK nicht beachtet hat (Variante Nr. 2, siehe dazu die terminologischen Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). Weniger problematisch ist diese Korrektur in dem ersten Fall, denn in diesem Fall hatte die Strafverfolgungsbehörde Art. 313 § 1 KPK verletzt, indem sie die betreffende Person als Zeugen und nicht als Beschuldigten behandelt hatte, obwohl die Beweislage die Erhebung eines Vorwurfs begründete. In dem zweiten Fall liefert der Sachverhalt jedoch keine Indizien für die Behauptung, dass die Strafverfolgungsbehörde die Täterschaft des Zeugen überhaupt auch nur vermutete. Trotzdem verneinte das OG die Strafbarkeit des Zeugen auf der Grundlage des Art. 233 § 1 KK, obwohl der klare Wortlaut des Art. 183 § 1 KPK dem Zeugen das Recht gewährt, Fragen nicht zu beantworten, wenn die Beantwortung der Frage ihn selbst der Gefahr der strafrechtlichen Verantwortlichmachung aussetzen würde. Man kann nach diesem Beschluss des OG die Frage stellen, welche Rolle diese Vorschrift in der Praxis in Zukunft spielen soll, wenn der Zeuge in Bezug auf die von ihm selbst begangene Straftat straflos lügen darf. Es scheint so zu sein, dass Art. 183 § 1 KPK im Lichte dieses Beschlusses nur in denjenigen Fällen Anwendung finden kann, in denen der Zeuge über Umstände aussagt, die seine Angehörigen der Gefahr der Verantwortlichmachung aussetzen. In diesem Fall kann er sich auf Art. 183 § 1 KPK berufen und die betreffende Frage nicht beantworten. In allen anderen Fällen wurde die Norm obsolet. Besonders interessant aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung ist jedoch, wie das OG dieses Ergebnis begründet hat. Es hat in keinem Fall zugestanden, dass es den Gesetzgeber korrigiert oder dass es den Anwendungsbereich des Art. 233 § 1 KK eingeschränkt hat. Auf der Grundlage der systematischen Auslegungsmethode entwickelte das OG einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund, der dem Zeugen erlaubt, in jedem Fall straflos zu lügen, wenn die Umstände seiner Straftat Gegenstand der Zeugenvernehmung sind. Von Rechts(neu)schöpfung ist dabei keine Rede. In der Begründung findet sich jedoch ein Satz,

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Teil 2: Empirische Analysen

in dem das OG eindeutig Art. 183 § 1 KPK kritisiert, und zwar mit einem Zitat aus dem Buch von P. Sowin´ski (Prawo s´wiadka do odmowy zeznan´ w procesie karnym, Warszawa 2004, S. 126), in dem der Verfasser behauptet, dass der dem Art. 183 § 1 KPK zugrunde liegende Rechtsgedanke „einen Geburtsfehler hat, dem keine Heilung helfen kann.“ Ferner stellte das OG fest, dass die Norm nur „geringe Wirksamkeit“ (znikoma skutecznos´c´) habe. Beide Formulierungen sollten offenkundig die Angemessenheit der Regelung des Art. 183 § 1 KPK in Frage stellen. OG Fall 4 Eine Rechts(neu)schöpfung nach den in der vorliegenden Untersuchung angenommenen Metakriterien hat das OG auch in dem Beschluss (Postanowienie) vom 27.2.2007897 vorgenommen, in dem es die Möglichkeit der schriftlichen Begründung einer Entscheidung zugelassen hat, obwohl der KPK in dem vom OG behandelten Fall eine Begründung in dieser Form nicht fordert (Variante Nr. 1, siehe dazu die terminologischen Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). Denn nach Art. 535 § 3 S. 1 KPK898 in seiner Fassung nach der Reform des Jahres 2007899 kann das OG eine offensichtlich unbegründete Kassation ohne Begründung verwerfen. Dementsprechend verbietet die Vorschrift dem Gericht nicht, eine schriftliche Begründung anzufertigen, fordert sie jedoch auch nicht. Das OG knüpft an diese Argumentation (eine klassische Folgerung e contrario) an und räumt sich das Recht für die Anfertigung einer schriftlichen Begründung ein. Nach der Auffassung des OG bedarf der behandelte Sonderfall einer schriftlichen Begründung jedoch nicht wegen der Länge des Verfahrens, sondern insbesondere wegen unterschiedlicher Entscheidungen, die in dem anhängigen Verfahren erlassen wurden, und wegen der Vielzahl der abweichenden Voten. Daher sollte die Entscheidung des OG in dem behandelten Fall schriftlich begründet werden, obwohl die Kassation nach der Auffassung des OG offensichtlich unbegründet war und die Vorschrift des Art. 535 § 3 S. 1 KPK dies dann gerade nicht fordert. Die bereits dargestellte Entscheidung würde nach den Maßständen der polnischen Rechtskultur nicht als Rechtsschöpfung gelten, denn die Folgerung e contrario wird als Auslegung sensu largo betrachtet. Nach den herrschenden Kriterien in der deutschen Rechtskultur muss man dagegen wohl von einer Rechtsfortbildung sprechen, da eine Argumentation mit Hilfe der Formel e contrario – wie auch andere logische Ableitungen – unter den Begriff der „Rechtsfortbildung“ fällt. 897

II KK 310/06, OSNKW 2007, Nr. 4, S. 50. Art. 535 § 3 S. 1 KPK lautet: „Die Verwerfung einer offensichtlich unbegründeten Kassation bedarf keiner Begründung.“ Eigene Übersetzung. 899 Ustawa z dnia 12 stycznia 2007 r. o zmianie ustawy – Kodeks poste ˛powania karnego, Dz. U. 2007 Nr. 20, Pos. 116. 898

F. Die Rechts(neu)schöpfung

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OG Fall 5 In diesem Zusammenhang ist auch der oben schon dargestellte Beschluss (Postanowienie) vom 21.12.2006900 zu erwähnen, in dem das OG dem Rechtsmittelgericht konkrete Hinweise „vorgeschlagen“ hat, denen es im Falle der Einlegung der Kassation folgen soll. Diese Hinweise haben keine gesetzliche Grundlage und können nach den in der vorliegenden Untersuchung angenommenen Metakriterien als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden, denn sie haben offensichtlich normierenden Charakter (Variante Nr. 1, siehe dazu die terminologischen Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). Der Sachverhalt betrifft folgendes Problem: Ein Verurteilter legte eine Kassation gegen die Entscheidung des Appellationsgerichts ein. Nach Art. 525 § 1 KPK soll die Kassation an das OG durch die Vermittlung des Rechtsmittelgerichts (in diesem Fall durch die Vermittlung des Appellationsgerichts) eingelegt werden, falls sie angenommen wurde. In dem behandelten Fall wurde die Kassation zwar angenommen, aber erst nach zwei Jahren an das OG weitergeleitet. Die Verspätung wurde dadurch verursacht, dass die Akten mit der Kassation nicht an das OG, sondern an das Gericht der unteren Instanz weitergeleitet wurden, um das Verfahren im dem Bereich fortzusetzen, in dem das Appellationsgericht das Urteil des Gerichts der unteren Instanz aufgehoben hat. Der KPK sieht für die dargestellte Konstellation keine Regelungen vor, denen das Rechtsmittelgericht (in diesem Fall das Appellationsgericht) folgen könnte. Das Appellationsgericht musste somit in dem behandelten Fall entscheiden: Entweder die Akten an das OG weiterzuleiten, damit es über die Kassation entscheiden könnte, oder sie an das Gericht der unteren Instanz zu schicken, um das Verfahren in dem aufgehobenen Teil der Entscheidung in Gang zu setzen. Nach der Auffassung des OG kam es in diesem Fall zu einer Verzögerung des Kassationsverfahrens. Der Verurteilte sollte eine Geldentschädigung bekommen, da das Rechtsmittelgericht jede mögliche organisatorische Maßnahme hätte ergreifen sollen, um der Verzögerung des Kassationsverfahrens entgegenzuwirken. Als Lösung des dargestellten Problems hat das OG z. B. eine Anfertigung von Kopien der Akten, die das Kassationsverfahren betreffen, und ihre Weiterleitung an das OG vorgeschlagen. Ein anderer Vorschlag war die Vereinbarung eines Termins mit dem OG, der die zügige Entscheidung über die Kassation erlaubt und die Weiterleitung der Akten an das Gericht der unteren Instanz ermöglicht hätte. Alle diese Vorschläge können als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden, weil das Gesetz in diesem Bereich – wie bereits ausgeführt wurde – lückenhaft ist und den Richtern keine Hinweise gibt, wie sie in dieser Situation verfahren sollen. Auch in diesem Fall hat das OG nicht ausdrücklich festgestellt, dass eine Rechts(neu)schöpfung notwendig ist, um die konkreten Handlungsmuster festzusetzen, die den Verfahrensverzögerungen entgegenwirken können. 900

KSP 10/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 70.

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Teil 2: Empirische Analysen

Eine besondere Gruppe von Entscheidungen, die in der vorliegenden Untersuchung auch als Rechts(neu)schöpfung betrachtet werden, bilden diejenigen Beschlüsse und Urteile des OG, in denen es das Ergebnis mithilfe der Argumentation a fortiori begründet (Variante Nr. 4, siehe dazu die terminologischen Vorüberlegungen im vorangehenden Punkt). Nach den Maßstäben der Kriterien, die in der polnischen Methodenlehre entwickelt wurden, gilt die Verwendung des Arguments a maiore ad minus nicht als Rechtsschöpfung, sondern als Auslegung sensu largo901. Demgegenüber würde die Verwendung solcher logischen Folgerungen nach den allgemein anerkannten Kriterien in der deutschen Rechtskultur als Rechtsfortbildung angesehen. Im Folgenden sollen drei Fälle gezeigt werden, in denen die Argumentation a fortiori eine entscheidende Rolle spielt. OG Fall 6 In einem Beschluss (Postanowienie) vom 8.11.2006902 befasste sich das OG unter anderem mit dem Problem, ob das Gericht die Gerichtsverhandlung fortsetzen darf, wenn der Angeklagte, der aus der Untersuchungshaft vorgeführt wird, erklärt, dass er an der Gerichtsverhandlung nicht teilnehmen und den Gerichtssaal verlassen will. Die Lösung des vorliegenden Problems leitete das OG mit der Feststellung der Situationen ein, in denen das Gericht überhaupt die Gerichtsverhandlung ohne Teilnahme des Angeklagten fortsetzen kann. Art. 377 § 3 KPK903 sieht für diesen Fall drei Situationen vor. Zum einen darf das Gericht ohne die Teilnahme des Angeklagten das Verfahren fortsetzen, wenn er erklärt, dass er an der Verhandlung nicht teilnehmen will, zum anderen, wenn er ohne Entschuldigungsgrund zur Gerichtsverhandlung nicht erscheint, und zum dritten, wenn er seine Vorführung in der Verhandlung unmöglich macht. Die erste und die zweite Variante des Art. 377 § 3 KPK brauchte das OG nicht zu erörtern, denn sie betreffen diejenigen Angeklagten, die nicht aus der Untersuchungshaft vorgeführt werden. Dementsprechend konzentrierte sich das OG auf die Frage, ob das Verhalten des Angeklagten im vorliegenden Fall unter den Begriff „seine Vorführung in die Verhandlung unmöglich macht“ subsumiert werden kann. Das OG bejahte diese Frage auf der Grundlage des Arguments a maiore ad minus. Die Begründung begann das OG mit der Darstellung der Situation, in der ein Angeklagter, der sich in der Untersuchungshaft befindet, seine Vorführung in die Verhandlung unmöglich macht. Auf der Grundlage der Analyse der Literatur

901

L. Morawski, Zasady wykładni prawa, 2. Auflage, 2010, S. 23. III KK 83/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 27. 903 Art. 377 § 3 KPK lautet: „Erklärt der ordnungsgemäß von dem Termin benachrichtigte Angeklagte, dass er an der Verhandlung nicht teilnehmen wird oder macht er seine Vorführung in die Verhandlung unmöglich oder erscheint er in einer Gerichtsverhandlung nach der persönlichen Benachrichtung über den Termin unentschuldigt nicht, kann das Gericht das Verfahren ohne seine Teilnahme durchführen, es sei denn, es erachtet die Anwesenheit des Angeklagten für notwendig. (. . .).“ Eigene Übersetzung. 902

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stellte das OG fest, dass es in dieser Situation ausreicht, wenn der Angeklagte schriftlich erklärt, dass er am anhängigen Strafverfahren nicht teilnehmen will. Und dann kam das Argument a maiore ad minus zur Anwendung: Wenn der Angeklagte schon vor der Vorführung zur Gerichtsverhandlung schriftlich erklären darf, dass er an der Gerichtsverhandlung nicht teilnehmen will, dann muss das Gericht auch die Möglichkeit haben, das Strafverfahren fortzusetzen, wenn der Verurteilte erst nach der Vorführung während der Gerichtsverhandlung erklärt, dass er am Strafverfahren nicht teilnehmen und den Gerichtssaal verlassen will. Für dieses Ergebnis sprechen nach Auffassung des OG auch die unerträglichen Konsequenzen einer eventuellen anderen Entscheidung. Eine andere Lösung würde eine Gefahr sowohl für die Autorität der Rechtspflege als auch für andere Verfahrensteilnehmer darstellen. In Extremfällen lässt sich vorstellen, dass der Täter durch sein unangemessenes Verhalten die Entfernung aus dem Gerichtssaal herbeiführen könnte. Eine solche Situation soll jedenfalls vermieden werden. Zu diesem Ergebnis führt nach der Auffassung des OG auch die Berücksichtigung des Zwecks des Art. 377 KPK, den das OG anhand der Begründung zum KPK ermittelt hat. Diese Vorschrift soll nach dem OG grundsätzlich dem Verhalten des Angeklagten entgegenwirken, der den Verlauf des Verfahrens erschweren will. Schließlich folgen Hinweise auf die einschlägige Literatur. Aus dieser Argumentationsstruktur geht hervor, dass das OG das Argument a maiore ad minus angewendet hat, ohne ausdrücklich zu erwähnen, dass der KPK in diesem Bereich offensichtlich lückenhaft ist. Dass der Gesetzgeber eine Regelung für die behandelte Situation übersehen hat, wurde auch nicht betont. Durch die Anwendung des Arguments a maiore ad minus wird dagegen der Anschein erweckt, dass das gefundene Ergebnis aus Art. 377 § 3 KPK hervorgeht. Dieser Fall zeugt zudem deutlich davon, dass das OG nicht bereit ist, Situationen zu akzeptieren, die den Ablauf der Gerichtsverhandlung stören könnten. Obwohl der Gesetzgeber eine lückenhafte Regelung erließ, hat das OG eine sinnvolle Lösung gefunden, die den erwähnten Folgen entgegenwirken kann, allerdings ohne sich zu dieser Rechtsfortbildung als einer solchen auch zu bekennen. OG Fall 7 Im Beschluss (Postanowienie) vom 20.12.2006904 erörterte das OG unter anderem das Problem, ob das Gericht der höheren Ordnung, das ein Gesamturteil erlassen soll, das Verfahren gemäß Art. 572 KPK905 einstellen und dem Gericht der unteren Ordnung überweisen soll, falls es feststellt, dass das Urteil des Gerichtes der höheren Ordnung in das Gesamturteil nicht einbezogen werden 904

I KZP 32/06, OSNKW 2007, Nr. 1, S. 14. Art. 572 KPK lautet: „Fehlen die Voraussetzungen für den Erlaß eines Gesamturteils, erläßt das Gericht einen Beschluß über die Einstellung des Verfahrens.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 905

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Teil 2: Empirische Analysen

kann906, oder ob es in diesem Fall die Urteile der Gerichte der unteren Ordnung in ein Gesamturteil einbeziehen und das Verfahren bezüglich des Urteils des Gerichts der höheren Ordnung einstellen soll. Das OG entschied sich für die zweite Alternative. Für dieses Ergebnis spricht nach der Argumentation des OG zunächst der eindeutige Wortlaut des Art. 569 § 2 KPK. Aus dieser Vorschrift geht nach der Auffassung des OG hervor, dass die Zuständigkeit zum Erlass des Gesamturteils von den materiellen Voraussetzungen für ein Gesamturteil unabhängig ist. Dies ist für das OG verständlich, denn das Gericht der höheren Ordnung muss im Rahmen des Verfahrens zunächst prüfen, ob die Urteile der Gerichte der verschiedenen Ordnungen in ein Gesamturteil einbezogen werden dürfen. Stellt es fest, dass ein Urteil des Gerichtes der höheren Ordnung in das Gesamturteil nicht einbezogen werden kann, soll es die übrigen Urteile der Gerichte der unteren Ordnung in ein Gesamturteil einbeziehen. Dafür spricht auch die Verfahrensökonomie. Eine Ausnahme machte das OG dann, wenn das Gericht im Rahmen der Vorbereitung zur Gerichtsverhandlung (Art. 339 § 3 KPK) die Unzulässigkeit des Erlasses eines Gesamturteils entdeckt. In diesem Fall soll es die Sache an das zuständige Gericht weiterleiten. Das Argument a maiore ad minus kam in dem Teil der Begründung zur Anwendung, in dem das OG das Problem der Einstellung des Verfahrens erörterte. Zunächst stellte das OG fest, dass das Verfahren über den Erlass des Gesamturteils auf Antrag des Verurteilten, des Staatsanwaltes oder von Amts wegen eingeleitet werden kann, wobei das Gericht auch diejenigen Urteile im Gesamturteil berücksichtigen soll, die im Antrag nicht erwähnt wurden. Die Entscheidung des Gerichts besteht in dieser Hinsicht aus zwei Elementen. In dem ersten (positiven) Element werden die Urteile genannt, die im Gesamturteil einbezogen wurden. Im zweiten (negativen) Element werden die Urteile genannt, die im Gesamturteil nicht einbezogen werden können. Dieses negative Element findet auf der Verfahrensebene in Art. 572 KPK seinen Ausdruck, der das Gericht zur Einstellung des Verfahrens verpflichtet, soweit die Voraussetzungen für den Erlass eines Gesamturteils nicht vorliegen. Diese Vorschrift verpflichtet das Gericht jedoch nicht nur zur Einstellung des gesamten Verfahrens, wenn die Voraussetzungen für den Erlass des Gesamturteils fehlen, sondern sie ist auch eine Rechtsgrundlage für die Einstellung des Verfahrens hinsichtlich derjenigen Urteile, die im Gesamturteil nicht berücksichtigt werden können. Gerade diese Schlussfolgerung begründete das OG mit dem Argument a maiore ad minus. OG Fall 8 In einem weiteren Urteil des OG vom 6.12.2006907 ging es um die Frage, ob das Gericht während der Gerichtsverhandlung die Protokolle der Vernehmung 906 Nach Art. 569 § 2 KPK wird das Gesamturteil vom Gericht der höheren Ordnung erlassen, soweit in erster Instanz Gerichte verschiedener Ordnung entschieden haben.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

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eines verstorbenen Mitangeklagten verlesen darf. Der polnische KPK sieht im Gegensatz zu der deutschen StPO (§ 251 Abs. 1 Nr. 1) keine entsprechende Regelung vor, die dieses Problem expressis verbis lösen würde. Seine Argumentation begann das OG mit der Darstellung von zwei fundamentalen Prozessmaximen, und zwar dem Grundsatz der Unmittelbarkeit, der aus Art. 174 KPK und e contrario aus Art. 389 sowie Art. 391–395 KPK folgt, und dem Grundsatz der materiellen Wahrheit. Nach einer Analyse dieser Grundsätze und des Verhältnisses zwischen ihnen sowie ausgewählter Stimmen aus der Literatur zog das OG den Schluss, dass das Gericht die Protokolle des verstorbenen Mitangeklagten verlesen darf. Zugleich betonte das OG jedoch, dass sich dieses Ergebnis nicht nur auf die Prozessmaximen stützen darf, sondern eine konkrete Rechtsgrundlage genannt werden muss, die diese Prozesshandlung gestattet. Diese Äußerung zeugt davon, dass das OG dieses Problem unbedingt auf der Grundlage einer Vorschrift lösen wollte. Die Suche nach der entsprechenden Regelung begann das OG mit Art. 391 § 2 KPK908, der die Verlesung der Protokolle von Zeugenvernehmungen zulässt. Das OG verneinte die Anwendung dieser Vorschrift im vorliegenden Fall, denn sie betreffe den Zeugen und nicht den Angeklagten. Ferner hob das OG hervor, dass die Anwendung dieser Vorschrift auf der Grundlage des Arguments a maiore ad minus, wie dies von einem Teil der Lehre vorgeschlagen wird, zur Umgehung des Rechts führen würde. Für das OG ist auch diejenige Auffassung nicht überzeugend, die die Rechtsgrundlage in Art. 392 § 1 KPK909 sieht. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die angefertigten Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und Angeklagten in der Verhandlung verlesen, wenn die unmittelbare Beweiserhebung nicht notwendig ist und alle anwesenden Parteien dem zustimmen. Das OG lehnte die An907

III KK 181/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 45. Art. 391 § 1 und § 2 KPK lauten: „§ 1 Verweigert ein Zeuge grundlos die Aussage oder sagt er anders als früher aus oder erklärt er, dass er sich an gewisse Umstände nicht erinnert oder verweilt er im Ausland oder konnte ihm die Vorladung nicht zugestellt werden oder erscheint er aufgrund von nicht behebbaren Hindernissen nicht oder hat der Präsident des Gerichts die Vorladung des Zeugen aufgrund des Art. 333 § 2 unterlassen, schließlich auch dann, wenn der Zeuge gestorben ist, können Protokolle seiner früher im Vorverfahren oder vor Gericht in dieser oder einer anderen Sache abgegebenen Aussagen sowie in einem anderen vom Gesetz vorgesehenen Verfahren in entsprechendem Umfang verlesen werden. § 2. Unter den in § 1 genannten Voraussetzungen und auch in den in Art. 182 § 3 genannten Fällen können in der Verhandlung auch die Protokolle der früher vom Zeugen als Angeklagten abgegebenen Einlassungen verlesen werden.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. § 1 wurde durch den Verfasser auf die geltende Fassung gebracht. 909 Art. 392 § 1 KK lautet: „Das Gericht kann alle die in dem Vorverfahren oder vor Gericht sowie in einem anderem vom Gesetz vorgesehenen Verfahren angefertigten Protokolle über die Vernehmung von Zeugen und Angeklagten in der Hauptverhandlung verlesen, wenn die unmittelbare Beweiserhebung nicht unentbehrlich ist und keine anwesende Partei Einspruch einlegt.“ Eigene Übersetzung. 908

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Teil 2: Empirische Analysen

wendung dieser Vorschrift im vorliegenden Fall ab; denn die Zulassung der Verlesung der Protokolle eines verstorbenen Mitangeklagten auf der Grundlage dieser Vorschrift würde zu der Situation führen, dass auch die Protokolle eines verstorbenen Zeugen auf der Grundlage dieser Vorschrift verlesen werden könnten, was zu einem Widerspruch mit Art. 391 § 1 KPK führen würde. Auch die Funktion der Vorschrift des Art. 392 § 1 KPK schließe diese Auslegung aus, denn diese Vorschrift habe eine ergänzende Funktion zu den Art. 389 und 391 KPK. Ferner setzte sich das OG mit Art. 393 § 1 KPK910 auseinander. In diesem Fall stellte das OG jedoch fest, dass diese Vorschrift auch nicht angewendet werden kann, denn die Anwendung dieser Vorschrift hätte im behandelten Fall zu dem Ergebnis geführt, dass auch andere Protokolle (z. B. eines Zeugen) auf der Grundlage dieser Vorschrift verlesen werden könnten, was die Art. 389, 391, 392 KPK entbehrlich machen würde. Dieses Ergebnis stünde im Widerspruch zu dem Grundsatz des rationalen Gesetzgebers. Nach der Verneinung der obigen Alternativen ging das OG zu Art. 389 KPK911 über. Diese Vorschrift lässt es nach Meinung des OG zu, die früheren Einlassungen eines verstorbenen Mitangeklagten zu verlesen. Aus Art. 389 KPK geht jedoch eindeutig hervor, dass diese Vorschriften sich nur auf den lebenden Mitangeklagten beziehen. Trotzdem stellte das OG fest, dass diese Schlussfolgerung nur „scheinbar“ richtig ist. Mithilfe des Arguments a minore ad maius kam das OG zu der Schlussfolgerung, dass die Verlesung der Protokolle auch im Falle eines verstorbenen Mitangeklagten zulässig sei. Die Argumentation lautet wie folgt: Wenn die Verlesung der Protokolle im Falle der Verweigerung durch den Angeklagten zulässig ist, ist sie umso mehr zulässig, wenn der Angeklagte verstorben ist. Dabei muss betont werden, dass die Argumentation a minore ad maius in dieser Argumentationsstruktur eine entscheidende Rolle spielte. Für das OG ist auch das Argument nicht überzeugend, dass Art. 391 § 1 KPK im Gegen910 Art. 393 § 1 KPK lautet: „In der Verhandlung können die Protokolle von Inaugenscheinnahmen, einer Durchsuchung und der Sicherstellung einer Suche, die Gutachten von Sachverständigen, Instituten, Anstalten oder Institutionen, Angaben über Vorstrafen, die Ergebnisse der Umfeldaufklärung sowie alle amtlichen Dokumente, die im Vorverfahren oder im gerichtlichen Verfahren niedergelegt worden sind, verlesen werden. (. . .).“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 911 Art. 389 KPK lautet: „§ 1. Verweigert der Angeklagte Einlassungen oder lässt er sich anders ein als vorher oder erklärt er, dass er sich an gewisse Umstände nicht erinnert, können die Protokolle seiner Einlassungen, die von ihm früher als Angeklagter in dieser oder einer anderen Sache im Vorverfahren oder vor Gericht oder in anderen vom Gesetz vorgesehenen Verfahren abgegeben worden sind, in der Verhandlung nur im entsprechenden Umfang verlesen werden. § 2. Nachdem das Protokoll verlesen worden ist, fordert der Vorsitzende den Angeklagten auf, sich zu dem Inhalt des Protokolls zu äußern und die bestehenden Widersprüche zu erklären.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001.

F. Die Rechts(neu)schöpfung

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satz zu Art. 389 KPK die Möglichkeit der Verlesung der Aussagen von verstorbenen Zeugen vorsieht; der Gesetzgeber hat somit eine solche Möglichkeit für den Zeugen vorgesehen, nicht aber für den Angeklagten. Nach Auffassung des OG kann jedoch vom Gesetzgeber nicht verlangt werden, dass er die Regelungen kasuistisch, d. h. für jede denkbare Situation, vorsehen muss. In der Tat hat der Gesetzgeber die Situation übersehen, in der die Einlassungen des verstorbenen Angeklagten für den Prozess nützlich sein können, und zwar dann, wenn andere Mitangeklagte im Prozess auftreten und die Einlassungen des verstorbenen Angeklagten wichtige Umstände für die Beweiswürdigung enthalten. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das OG die gesetzliche Lücke durch Auslegung der Vorschrift des Art. 389 § 1 KPK geschlossen hat. Das Argument a minore ad maius war dabei in der Argumentationsstruktur entscheidend.

III. Zwischenergebnis Es ist festzuhalten, dass beide höchsten Gerichte unter Umständen durchaus willens sind, Recht neu zu schöpfen, obwohl die Dimensionen dieses Phänomens in der Rechtsprechung des BGH und des OG unterschiedlich sind. Während der BGH bereit ist, entgegen dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers, der in den Entstehungsmaterialien seinen Ausdruck gefunden hat, zu argumentieren oder neue Rechtsinstitute, wie die Rechtsprechung zu den Urteilsabsprachen gezeigt hat, zu entwickeln, scheut sich das OG nicht, auch gegen den klaren Wortlaut einer Vorschrift zu entscheiden. Im Hinblick auf die polnische Rechtsprechung findet dieser Befund auch in der Untersuchung von Bielska-Brodziak Unterstützung, die bei der Analyse der steuerrechtlichen Rechtsprechung festgestellt hat, dass die Verwaltungsgerichte durchaus bereit sind, die Wortlautgrenze zu überschreiten, obwohl sie früher eindeutig deklariert haben, dass dies unzulässig sei.912 Im Hinblick auf die strafrechtliche Rechtsprechung des OG hat Majcher festgestellt, dass das OG nicht selten Entscheidungen erlässt, die das Gesetz korrigieren bzw. verbessern.913 In seiner Untersuchung weist er auf die Entscheidungen hin, in denen das OG offensichtlich contra legem entschieden hat, indem es die betreffenden Rechtsvorschriften ignoriert hat.914 Dies muss im Hinblick auf das in der polnischen Rechtskultur geltende Verbot der Rechts(neu)schöpfung durch die Gerichte überraschen. Im Ergebnis kommt Majcher jedoch zu der Schlussfolgerung, dass die rechtsschöpferische Aktivität des OG in Strafsachen quantitativ eher gering ist, wobei er allerdings die rechtsschöpferischen Entschei-

912 A. Bielska-Brodziak, Interpretacja tekstu prawnego na podstawie orzecznictwa podatkowego, 2009, S. 194. 913 S. Majcher, W kwestii tzw. prawotwórstwa sa˛dowego, PiP 2/2004, S. 71. 914 Ebenda, S. 73.

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Teil 2: Empirische Analysen

dungen in der Rechtsprechung des OG nicht unterschätzt, die die Grenze zwischen dem Gesetzgeber und der Rechtsprechung zu verwischen drohen.915 Dabei ist zu beachten, dass der BGH im Gegensatz zum OG bereit ist, offen zuzugestehen, dass er neues Recht schöpft. Das hat die Rechtsprechung des BGH zu den Urteilsabsprachen eindeutig gezeigt. Zu einem solchen offenen Bekenntnis ist das OG nicht bereit, obwohl es unter den Kategorien der Auslegung, insbesondere unter der Kategorie der Auslegung sensu largo, tatsächlich neues Recht „verdeckt“ schöpft. Dies haben im Übrigen auch schon Morawski und Zirk-Sadowki in Bezug auf das gesamte polnische Rechtssystem behauptet. „Using Dworkin’s terminology, we could say, that the Polish system of adjudication evolves from the doctrine of judicial restraint, where courts play an essentially passive role, which is limited to application of the law, to the doctrine of judicial activism, where courts actively participate on formation of the law, although they usually hide the fact that they are doing so (. . .).“ 916

Dieses an sich unerwünschte Phänomen hat nach Morawski und Zirk-Sadowski seinen Grund gerade darin, dass die Gerichte nach herrschender Meinung in Polen zur Rechts(neu)schöpfung nicht befugt sind.917 Dies hat folgende Konsequenzen: „As a consequence, even when the courts engage in the law-making decisions they try to present them either as consequence of binding norms or as acts of interpretation of the law.“ 918

Selbstverständlich ist das Phänomen der „verdeckten“ Rechtsschöpfung auch in der Rechtsprechung des BGH nicht ausgeschlossen. Es scheint jedoch, dass es eine andere Dimension in der Rechtsprechung beider Gerichte hat. Abschließend ist noch hervorzuheben, dass beide Gerichte versuchen, den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes bzw. die Entstehungsmaterialien eines Gesetzes zu desavouieren, falls diese dem gewünschten Ergebnis im Wege stehen. Man verwendet dabei z. B. die Ausdrücke „scheinbar“ 919, „missverständlich“ 920 etc.

915

Ebenda, S. 80 f. L. Morawski/M. Zirk-Sadowski, Precedent in Poland, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents, 1997, S. 252. 917 Ebenda, S. 251. 918 Ebenda. 919 OG im Urteil vom 6.12.2006, III KK 181/06, OSNKW 2007, Nr. 2, S. 56. 920 Urteil des BGH vom 1.7.2005, 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180. 916

Schlussfolgerungen und Vorschläge für die nächsten Untersuchungen Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen sich in den nachfolgenden Thesen noch einmal zusammenfassen. Dabei werden gemäß den Grundsätzen eines qualitativen Ansatzes auch Vorschläge für die nächsten möglichen Untersuchungen genannt. 1. These Sowohl die Begründungen des BGH als auch die Begründungen des OG, die in den amtlichen Sammlungen veröffentlicht werden, haben einen topischen Charakter, d. h., sie betrachten das betreffende Rechtsproblem unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten. Eine Reduzierung der Auslegungsmethoden findet nur in Ausnahmenfällen statt. 2. These Es lässt sich nicht generell sagen, dass die Rechtsprechung des BGH und des OG formalistisch oder substanziell wäre. Die Begründungen beider Gerichte beinhalten sowohl formale als auch substanzielle Elemente. Pauschale Aussagen sind somit zu vermeiden. Die generelle Unmöglichkeit der Zuordnung der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH und des OG zu einer substanziellen Argumentationskultur einerseits bzw. einer formalistischen Argumentationskultur anderseits bedeutet jedoch nicht, dass sich keine Unterschiede zwischen der Rechtsprechung beider Gerichte feststellen ließen. Ihre Erforschung setzt jedoch eine differenzierte Betrachtungsweise voraus, die zwischen bestimmten Ebenen des Formalismus und des Substantialismus unterscheidet. 3. These Die Rechtsprechung des BGH und des OG knüpfen in ihren Begründungen grundsätzlich an die gleichen Topoi an. Man kann somit einen gemeinsamen Argumentationskern beider Rechtskulturen feststellen. Dieser Kern kann bei der Entwicklung einer europäischen Methodenlehre berücksichtigt werden. Der im Teil 2 Pkt. E. II. vorgeschlagene Katalog der Topoi kann dabei behilflich sein. Es gibt jedoch Topoi, die nur in der Rechtsprechung eines der beiden Gerichte (z. B. „Grundsatz des rationalen Gesetzgebers“ in der Rechtsprechung des OG) zur Anwendung kommen.

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Schlussfolgerungen und Vorschläge für die nächsten Untersuchungen

4. These Die Bedeutung der einzelnen Topoi kann jedoch für beide Gerichte in bestimmten Konstellationen unterschiedlich sein. Diese Unterschiede sollte insbesondere der europäische Gesetzgeber beim Erlass europäischer Straftatbestände beachten, falls er sich zu diesem Schritt entscheidet. In den folgenden Thesen 5–9 werden diese Unterschiede konkretisiert. 5. These Die Rechtsprechung des OG ist im Vergleich zu der Rechtsprechung des BGH wesentlich mehr gesetzestextorientiert, was für eine formalistische Auslegungskultur charakteristisch ist. Diese Tatsache geht nicht nur aus den ausdrücklichen Äußerungen des OG hervor, in denen der Vorrang des sprachlichen (grammatischen) Auslegungskriteriums, die terminologische Konsequenz und die sprachlichen Grundsätze (z. B. lege non distinguente, nec nostrum est distinguere; per non est; exceptiones non sunt extendendae) betont werden, sondern auch aus der Praxis des OG. Die Untersuchung hat gezeigt, dass der Umfang der sprachbezogenen Ausführungen in den Begründungen des OG im Vergleich zu den Begründungen des BGH größer ist. In dieser Hinsicht sind insbesondere die sprachlichen Analysen des OG hervorzuheben, die auf Wörterbücher, Lexika etc. zurückgreifen. Die gesetzestextorientierten Analysen bilden den Ausgangspunkt der Auslegung des OG und determinieren nicht selten das Auslegungsergebnis vollständig. 6. These Die Rechtsprechung des BGH ist dagegen im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG wesentlich mehr an den bisherigen Präjudizen orientiert. Dies trifft auch auf die Bezugnahme auf die (eigene) ständige Rechtsprechung zu. Das wesentlich größere Ausmaß des Richterrechts in der Rechtsprechung des BGH zeugt davon, dass viele Begriffe in der deutschen Rechtskultur schon feste Bedeutungen haben, die nicht selten seit Jahrzehnten entwickelt und gefestigt worden sind. Aus dieser Perspektive würde der Erlass europäischer Straftatbestände einen wesentlich größeren Eingriff in die deutsche Rechtskultur als in die polnische darstellen. Die von dem BGH seit Jahrzehnten entwickelten Begriffe müssten dann mit den Tatbestandsmerkmalen der europäischen Straftatbestände in Einklang gebracht werden. 7. These Die Rolle der Präjudizen in den ausgewählten Entscheidungen des BGH ist so groß, dass man schon heute danach fragen darf, ob die Auslegungskultur des BGH nicht mit der angelsächsischen Kultur mehr gemeinsam hat als mit der pol-

Schlussfolgerungen und Vorschläge für die nächsten Untersuchungen

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nischen Auslegungskultur.1 Die traditionelle Aufteilung in das angelsächsische und in das kontinentale Recht muss gegenwärtig nicht unbedingt mehr zutreffend sein. Diese These sollte jedoch im Rahmen einer separaten Untersuchung näher geprüft werden, die empirisches Material aus allen drei Ländern berücksichtigen würde. 8. These Auch an dem GG orientiert sich der BGH wesentlich öfter als das OG an der Verfassung, was von der substanziellen Orientierung des BGH zeugt. Insbesondere das Bestimmtheitsgebot, der Grundsatz des fairen Verfahrens, der Beschleunigungsgrundsatz, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das Vertrauensschutzgebot, das Rechtsstaatsprinzip und das Gebot des rechtlichen Gehörs spielen in der Rechtsprechung des BGH im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG eine wesentlich größere Rolle. In diesem Zusammenhang knüpft der BGH an die Rechtsprechung des BVerfG ebenfalls wesentlich öfter an als das OG an die Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts. Auch aus diesem Gesichtspunkt würde der Erlass europäischer Straftatbestände einen größeren Eingriff in die deutsche Rechtskultur darstellen. Die Auslegung der europäischen Straftatbestände müsste aus der Perspektive des BGH nicht nur mit einem stark entwickelten Richterrecht harmonisiert werden, sondern auch mit der Rechtsprechung, die stark an das GG und an die Rechtsprechung des BVerfG anknüpft. 9. These In der Rechtsprechung des BGH spielen im Vergleich zu der Rechtsprechung des OG die Entstehungsmaterialien eines Gesetzes (insbesondere bei der Ermittlung des Gesetzesziels) quantitativ und insbesondere qualitativ eine wesentlich größere Rolle. Der BGH verwendet sie nicht nur zu der Rekonstruktion des Gesetzeszieles, sondern auch für andere Zwecke. Dass das OG im Vergleich zu dem BGH die Gesetzesmaterialien bei der Auslegung von Gesetzen weniger berücksichtigt, korrespondiert gewissermaßen mit der Gesetzestextorientierung des OG. 10. These Systematische und teleologische (objektive) Topoi spielen in der Rechtsprechung beider Gerichte quantitativ und qualitativ eine erhebliche Rolle, wobei sich auf diesem Gebiet unterschiedliche Kategorisierungen feststellen lassen. In der Rechtsprechung des OG firmieren die teleologischen (objektiven) Topoi

1 Zu einem Vergleich der deutschen und der angelsächsichen Auslegungskultur siehe die Untersuchungen von Vogenauer und Cullmann im Teil 1 Pkt. E. III. Diese Analysen zeigen viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Rechtskulturen.

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Schlussfolgerungen und Vorschläge für die nächsten Untersuchungen

überwiegend unter der Kategorie „wykładnia funkcjonalna“; in der Rechtsprechung des BGH wird grundsätzlich auf die Kategorie „Sinn und Zweck“ (des Gesetzes) Bezug genommen. In einem beachtlichen Teil der Entscheidungsbegründungen des OG lässt sich dabei eine deutliche Tendenz bei der Anwendung der systematischen und der teleologischen Topoi feststellen. Sie dienen der Bestätigung des anhand der sprachlichen Auslegungsmethode gefundenen Resultats oder der Beseitigung der Zweifel, die bei der Anwendung der grammatischen Methode entstanden sind. Nur ausnahmsweise können sie ein Abweichen von dem Resultat der sprachlichen Auslegungsmethode begründen. 11. These Die außergesetzlichen Topoi spielen in der Rechtsprechung beider Gerichte eine erhebliche Rolle. In diesem Bereich muss insbesondere die Berücksichtigung der Folgen durch beide Gerichte hervorgehoben werden. Diese Tatsache zeugt von der pragmatischen Einstellung beider Gerichte. 12. These In der Rechtsprechung beider Gerichte spielen internationale Rechtsakte quantitativ eine geringe Rolle. Beide Rechtsdiskurse verlaufen ganz überwiegend in nationalen Bahnen und Kategorien. 13. These Die beiden höchsten Gerichte sind unter bestimmten Umständen zur Rechts(neu)schöpfung bereit, wobei zwischen der Rechtsprechung des OG und des BGH auch in dieser Hinsicht kategoriale Unterschiede vorkommen. Beispielsweise gilt die Anwendung von logischen Folgerungsbeziehungen in der Rechtsprechung des OG eher als Auslegung und in der Rechtsprechung des BGH eher als Rechtsfortbildung. Auch in ihren Äußerungen schließen beide Gerichte die Rechts(neu)schöpfung nicht aus. 14. These Die Dimensionen der Rechts(neu)schöpfung in der Rechtsprechung des BGH und des OG sind jedoch unterschiedlich. Die Untersuchung ergab, dass der BGH durchaus bereit ist, entgegen der klaren Intention des Gesetzgebers, die in den Entstehungsmaterialien zum Ausdruck gebracht wurde, zu entscheiden. Auch scheut sich das höchste Gericht in Deutschland nicht, neue Rechtsinstitute zu schaffen (vgl. die Themen Urteilsabsprachen, Teilentscheidungen und die Problematik der überlangen Dauer des Verfahrens). Demgegenüber ist sehr deutlich geworden, dass das OG nicht bereit ist, neue Rechtsinstitute zu kreieren. Die Untersuchung ergab jedoch, dass das OG auch gelegentlich den Gesetzgeber korrigiert,

Schlussfolgerungen und Vorschläge für die nächsten Untersuchungen

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indem es gegen einen klaren Wortlaut einer Vorschrift entscheidet. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass beide Gerichte im Bereich der Rechts(neu)schöpfung einen strengen Formalismus ablehnen. Das Ausmaß dieses Phänomens ist jedoch in der Rechtsprechung beider Gerichte unterschiedlich und bedarf noch näherer Untersuchung. 15. These Die Rechtsprechung des BGH zu Urteilsabsprachen stellt in gewissem Sinne das Gewaltenteilungsprinzip in Frage. Im Lichte der Äußerungen und der Rechtsprechung des OG ist eine vergleichbare Vorgehensweise des OG kaum vorstellbar. Auch die Praxis des OG zeigt, dass es nicht bereit wäre, so weit in die Kompetenzen des Gesetzgebers einzugreifen.

Anhang A

Struktur der Gerichtsbarkeit in Deutschland und Polen I. Die Gerichtsbarkeit in Deutschland Die Gerichtsbarkeit in Deutschland besteht aus der1: • Ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivil- und Strafgerichte) • Verwaltungsgerichtsbarkeit • Arbeitsgerichtsbarkeit • Sozialgerichtsbarkeit • Finanzgerichtsbarkeit • Verfassungsgerichtsbarkeit Im Rahmen der strafrechtlichen Gerichtsbarkeit sind die folgenden Instanzen zu unterscheiden: a) Amtsgerichte b) Landgerichte c) Oberlandesgerichte d) Bundesgerichtshof Zu a) Das Amtsgericht ist eine erste Instanz für kleinere und mittlere Kriminalität. Es ist gemäß § 24 Abs. 1 GVG zuständig, wenn nicht: • die Zuständigkeit des Landgerichts nach § 74 Abs. 2 oder § 74a GVG oder des Oberlandesgerichts nach § 120 GVG begründet ist, • im Einzelfall eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder in der Sicherungsverwahrung (§§ 66 bis 66b des StGB) zu erwarten ist oder • die Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Verletzten der Straftat, die als Zeugen in Betracht kommen, des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhebt. 1 In englischer Sprache siehe dazu: R. Alexy/R. Dreier, Precedents in the Federal Republic of Germany, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents, 1997, S. 17 ff.

Anhang A: Struktur der Gerichtsbarkeit in Deutschland und Polen

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Ferner darf das Amtsgericht gemäß § 24 Abs. 2 GVG nicht auf eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe und nicht auf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder in der Sicherungsverwahrung erkennen. Zu b) Das Landgericht ist die Berufungsinstanz gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts und die erste Instanz für schwere Kriminalität. Insbesondere ist das Landgericht als erkennendes Gericht des ersten Rechtszuges zuständig für alle Verbrechen, die nicht zur Zuständigkeit des Amtsgerichts oder des Oberlandesgerichts gehören. Es ist auch zuständig für alle Straftaten, bei denen eine höhere Strafe als vier Jahre Freiheitsstrafe oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, allein oder neben einer Strafe, oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist oder bei denen die Staatsanwaltschaft in den Fällen des § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG Anklage beim Landgericht erhebt (§ 74 Abs. 1 GVG). Zu c) Das Oberlandesgericht ist eine Revisionsinstanz für die Entscheidungen des Landgerichts als Berufungsinstanz und des Amtsgerichts als erste Instanz (Sprungrevision). Oberlandesgericht ist auch erste Instanz für bestimmte schwere Kriminalität, insbesondere für Staatsschutzdelikte. Zu d) Der BGH ist das oberste Gericht im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Beim BGH werden Zivil- und Strafsenate gebildet und Ermittlungsrichter bestellt (§ 130 Abs. 1 GVG). Außerdem werden beim Bundesgerichtshof ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten des Bundesgerichtshofs und je einem Mitglied der Zivilsenate. Zu dem Großen Senat für Strafsachen gehören der Präsident und je zwei Mitgliedern der Strafsenate. Die Großen Senate bilden den Vereinigten Großen Senat. Er besteht aus dem Präsidenten und den Mitgliedern der beiden Großen Senate zusammen. Der BGH besteht aus 12 Zivilsenaten und 5 Strafsenaten. Dazu kommen Spezialsenate (Landwirtschafts-, Anwalts-, Notar-, Patentanwalts-, Wirtschaftsprüfer-, Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen, der Kartellsenat und das Dienstgericht des Bundes). Die Zivil- und Strafsenate bestehen aus dem Vorsitzenden und überwiegend aus sechs oder sieben Mitgliedern, wobei in bestimmten Fällen nur fünf Senatsmitglieder mitwirken, darunter der Vorsitzende. Die Besetzung der „Richterbank“ wird im Voraus gemäß einem internen Geschäftsverteilungsplan festgelegt, den der jeweilige Senat beschließt.2 Die Zusammensetzung der einzelnen Senate und die Verteilung der richterlichen Aufgaben auf die Senate werden in einem Geschäftsverteilungsplan bestimmt. Er wird vom Präsidium des Bundesgerichtshofs (Präsident und zehn von 2 Broschüre des Bundesgerichtshofs, S. 10 ff., abrufbar unter: http://www.bundesge richtshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/DerBGH/broschuereAktuell.pdf?__blob=publi cationFile (letzter Zugriff: 19.5.2015).

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Anhang A: Struktur der Gerichtsbarkeit in Deutschland und Polen

der Richterschaft gewählten Richterinnen und Richtern) vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres für dessen Dauer beschlossen.3 Die Geschäftsverteilung in Strafsachen richtet sich in erster Linie nach regionalen Kriterien. Jedem der fünf Senate sind Revisionen aus bestimmten Oberlandesgerichtsbezirken zugeteilt. Unabhängig hiervon sind Spezialmaterien (z. B. Militärstrafsachen) bestimmten Senaten zugewiesen.4

II. Die Gerichtsbarkeit in Polen Die Gerichtsbarkeit in Polen besteht aus5: • dem OG • der ordentlichen Gerichtsbarkeit • der speziellen Gerichtsbarkeit (das Oberste Verwaltungsgericht gehört zu den wichtigsten Gerichten in diesem Bereich) Das Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) und das Staatsgericht (Trybunał Stanu) stehen außerhalb des Systems der Gerichtsbarkeit. Im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen sind die folgenden Instanzen zu unterscheiden: a) Kreisgerichte b) Bezirksgerichte c) Appellationsgerichte Zu a) Das Kreisgericht entscheidet gemäß Art. 24 § 1 KPK in erster Instanz in allen Strafsachen mit Ausnahme solcher Sachen, die kraft Gesetzes in die Zuständigkeit eines anderen Gerichts fallen. Das Kreisgericht verhandelt auch in den im Gesetz bestimmten Fällen über Rechtsmittel. Zu b) Das Bezirksgericht ist das Gericht der ersten Instanz für schwere Kriminalität und Rechtsmittelinstanz für die in erster Instanz vom Kreisgericht erlassenen Entscheidungen und Verfügungen. Als Gericht der ersten Instanz entscheidet das Bezirksgericht gemäß Art. 25 §§ 1, 2 und 3 KPK wegen aller Verbrechen (Androhung einer zumindest dreijährigen Freiheitsstrafe) und derjenigen ausgewählten Vergehen, die in Art. 25 § 2 KPK genannt sind oder kraft besonderer Vorschrift der Zuständigkeit des Bezirksgerichts unterliegen.

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Ebenda. Ebenda, S. 18. 5 In englischer Sprache siehe dazu: L. Morawski/M. Zirk-Sadowski, Precedent in Poland, in: D. N. MacCormick/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents, 1997, S. 219 ff. 4

Anhang A: Struktur der Gerichtsbarkeit in Deutschland und Polen

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Zu c) Das Appellationsgericht verhandelt gemäß Art. 26 KPK über Rechtsmittel gegen die in erster Instanz vom Bezirksgericht erlassenen Entscheidungen und Verfügungen sowie über andere ihm durch das Gesetz übertragene Sachen. Zu d) An der Spitze der Gerichtsbarkeit in Polen steht das OG. Es besteht gemäß Art. 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht vom 23.11.20026 aus dem – Zivilsenat – Strafsenat – Senat für Arbeitssachen und Sozialversicherungen – Militärsenat. Die Senate (Izby) bestehen aus Abteilungen (Wydziały). Der Strafsenat besteht aus sechs Abteilungen. Auf der Spitze jeder Abteilung steht der Vorsitzende. Geschäftsverkehr in Strafsachen richtet sich in den bestimmten Abteilungen grundsätzlich nach regionalen Kriterien. Die Abteilungen II–V entscheiden in den Kassationsangelegenheiten, die aus den bestimmten Regionen Polens eingehen. Die Abteilung I ist auschließlich für die konkreten und die abstrakten Rechtsfragen (siehe dazu im Anhang B Pkt. 2.) zuständig. Abteilung VI beschäftigt sich mit den Disziplinarverfahren gegen Richter und mit den Beschwerden wegen Verfahrensverzögerung.

6

Ustawa z dnia 23 listopada 2002 r. o Sa˛dzie Najwyz˙szym, Dz. U. 2013 Pos. 499.

Anhang B

Die wichtigsten Aufgaben des BGH und des OG I. Die Aufgaben des BGH • Die Revision In Strafsachen ist der BGH gemäß § 135 Abs. 1 GVG zuständig für Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision gegen die Urteile der Oberlandesgerichte im ersten Rechtszug sowie gegen die Urteile der Landgerichte im ersten Rechtszug, soweit nicht die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte begründet ist. Für das Verfahren stellt die Revision das einzige statthafte Rechtsmittel dar. Daraus geht hervor, dass damit die schwersten Formen von Kriminalität gemeint sind.1 Die Revision ist in der StPO in den §§ 333 bis 338 geregelt; sie stellt neben der Berufung und der Beschwerde das dritte vom Prozessrecht vorgesehene Rechtsmittel dar. Die Revision kann gemäß § 337 Abs. 1 StPO nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht. Daraus geht hervor, dass nur Rechtsfragen revisibel sind, nicht dagegen Tatfragen.2 Demzufolge wird eine Revision keinen Erfolg haben, wenn sie darauf gestützt wird, dass der Täter die Tat nicht begangen habe, also unschuldig sei.3 Das Gesetz ist gemäß § 337 Abs. 2 StPO dann verletzt, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewandt worden ist. Unter dem Gesetz im Sinne von § 337 StPO sind nicht nur formelle und materielle Gesetze des Bundes und der Länder zu verstehen, sondern auch Gewohnheitsrecht, allgemeine Regeln des Völkerrechts und Staatsverträge, soweit sie innerstaatliches Recht geworden sind.4 Die Gesetzesverletzungen können entweder Verfahrensrecht (Verfahrensrüge) oder materielles Recht (Sachrüge) betreffen. Daraus geht hervor, dass der BGH grundsätzlich keine eigenen Tatsachenfeststellungen trifft, sondern sich auf die Nachprüfung der rechtlichen Beurteilung eines Falles durch die Vorinstanzen beschränkt, an deren tatsächliche Feststellungen er gebunden ist, sofern nicht gerade in Bezug auf diese Feststellungen ein 1 2 3 4

S. Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen, 1999, S. 3. W. Beulke, Strafprozessrecht, 12. Auflage, 2012, Rn. 563. Ebenda. Ebenda.

Anhang B: Die wichtigsten Aufgaben des BGH und des OG

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Fehler im Verfahren der Vorinstanz durch begründeten Revisionsangriff aufgezeigt wird. • Abweichen von einem anderen Strafsenat Der Große Senat für Strafsachen entscheidet gemäß § 132 Abs. 2 GVG, wenn ein Strafsenat von einem anderen Strafsenat oder von dem Großen Senat für Strafsachen abweichen will. Das Abweichen bedeutet, dass der beabsichtigten Entscheidung die bisherige Rechtsprechung eines anderen Senats entgegensteht.5 Eine Vorlage an den Großen Senat ist gemäß § 132 Abs. 3 GVG nur dann zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Gerichts erklärt hat, dass er an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält. • Fragen von grundsätzlicher Bedeutung Ferner hat der Große Senat für Strafsachen noch eine andere wichtige Aufgabe. Er beantwortet Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, die der jeweils erkennende Senat vorlegen kann, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Beantwortung der Frage der Aufstellung eines Grundsatzes bedarf.6 Davon kann nur dann die Rede sein, wenn die Frage künftig voraussichtlich wiederholt Bedeutung erlangen wird7 und damit ihre Beantwortung entweder präjudizielle Wirkung auf andere Verfahren haben kann8 oder aber richtungweisend für die Rechtsanwendung im materiellen Recht oder im Verfahrensrecht wirkt.9 • Rechtsfortbildung Eine weitere Aufgabe des BGH (als Großer Senat) liegt in der Fortbildung des Rechts. Durch Art. 3 der Gesetzesnovelle von 1935 wurde in das GVG ein neuer § 137 (§ 132 Abs. 4 n. F.) eingefügt,10 wonach der erkennende Senat in einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung die Entscheidung des Großen Senats herbeiführen kann, „wenn nach seiner Auffassung Fortbildung des Rechts oder 5 R. Hannich, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, R. Hannich (Hrsg.), 7. Auflage, 2013, § 132 GVG Rn. 5. 6 Ebenda, § 132 GVG Rn. 18. 7 Beschluss des BGH vom 22.3.2001, GSSt 1/00, BGHSt 46, 321. 8 Beschluss des BGH vom 7.2.1968, 4 ARs 48/67, BGHSt 22, 58; Beschluss des BGH vom 17.10.1983, GSSt 1/83, BGHSt 32, 115. 9 Beschluss des BGH vom 3.5.1994, GSSt 2/93, GSSt 3/93, BGHSt 40, 138; R. Hannich, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, R. Hannich (Hrsg.), 7. Auflage, 2013, § 132 GVG Rn. 18. 10 Zur Geschichte siehe: Ch. Hillgruber, „Neue Methodik“ – Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsfortbildung in Deutschland, JZ 15–16/2008, S. 745 ff.

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Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung es erfordern.“ Damit wird die schöpferische Funktion des BGH gesetzlich explizit anerkannt.11 Es ist auch nicht zu übersehen, dass diese Regelung sowohl für Zivilsenate als auch für Strafsenate gilt, „so dass der Gesetzgeber offensichtlich davon ausgegangen ist, dass eine ,Fortbildung des Rechts‘ in Strafsachen nicht anders als in Zivilsachen durch die Rechtsprechung verfassungsrechtlich zulässig ist.“ 12 Die richterliche Kompetenz zur schöpferischen Rechtsfindung findet auch eine Stütze in den einschlägigen Kompetenzzuweisungen im Grundgesetz und im Gerichtsverfassungsgesetz.13 Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung nicht nur an das Gesetz, sondern an „Gesetz und Recht“ gebunden, „was einem bloßen Positivismus im Sinne einer strikten Unterwerfung unter den Machtspruch des Gesetzgebers eine Absage erteilt“.14 Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art. 92 GG dem Richter die „rechtsprechende Gewalt“ anvertraut, „wodurch ebenfalls der Vorstellung von einem die Worte des Gesetzes nur nachsprechenden, quasi papageienhaften Automatismus eine Absage erteilt wird.“ 15 • Andere Aufgaben Der Bundesgerichtshof entscheidet ferner über Beschwerden gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte in den in § 138d Abs. 6 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 und § 310 Abs. 1 der StPO bezeichneten Fällen, über Beschwerden gegen Verfügungen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofes (§ 169 Abs. 1 Satz 2 der StPO) in den in § 304 Abs. 5 der StPO bezeichneten Fällen sowie über Anträge gegen Entscheidungen des Generalbundesanwalts in den in § 161 a Abs. 3 der StPO bezeichneten Fällen.

II. Die Aufgaben des OG • Die Kassation Die Kassation spielt im polnischen Strafprozess eine doppelte Rolle16: Zum einen ermöglicht sie es, offensichtlich mangelhafte Entscheidungen aus dem 11 B. Schünemann, Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensionaler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz, in: FS für Puppe, 2011, S. 245. 12 Ebenda. 13 Ebenda. 14 Ebenda, S. 245 f. mit Verweis auf M. Sachs, in: Sachs, GG, 5. Auflage, 2009, Art. 20 Rn. 103; E. Schmidt-Aßmann, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 2, 2004, § 26 Rn. 41; F. E. Schapp; in: v. Münch/Kunig, GG, Band 2, 5. Auflage, 2001, Art. 20 Rn. 43. 15 B. Schünemann, Vagheit und Porosität der Umgangssprache als Horizont extensionaler Rechtsfortbildung durch die Strafjustiz, in: FS für Puppe, 2011, S. 246. 16 Zur Geschichte der Kassation siehe L. K. Paprzycki, Model kasacji w polskiej procedurze karnej, Palestra 7–8/2008, S. 9 f.

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Rechtsverkehr zu eliminieren, zum anderen gibt das Kassationsverfahren dem OG Gelegenheit, zu vielen wichtigen Auslegungsproblemen Stellung zu nehmen.17 Die Rechtsnatur dieses Rechtsinstitutes ist umstritten.18 Die Kassation kann gemäß Art. 519 § 1 S. 1 KPK nur gegen ein rechtskräftiges Urteil, welches das Verfahren in einer Sache abschließt, eingelegt werden. In Betracht kommen somit nur die Urteile des Bezirksgerichts und des Appellationsgerichts, die im Rahmen des Appellationsverfahrens erlassen wurden. Die Kassation kann nur aufgrund der in Art. 439 KPK genannten Fehler (von Amts wegen zu berücksichtigende Aufhebungsgründe wie z. B. die mangelhafte Besetzung des Gerichtes) oder einer anderen groben Rechtsverletzung eingelegt werden, wenn diese wesentlichen Einfluss auf den Inhalt der Entscheidung gehabt haben kann. Die Kassation kann gemäß Art. 519 Abs. 1 S. 2 KPK nicht ausschließlich aufgrund der Unverhältnismäßigkeit der Strafe eingelegt werden. Ferner kann gemäß Art. 519 § 2 KPK die Kassation zugunsten des Angeklagten nur dann eingelegt werden, wenn er wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe ohne Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung verurteilt worden ist. Demgegenüber kann die Kassation zulasten des Angeklagten nur dann eingelegt werden, wenn er freigesprochen worden ist oder wenn das Verfahren wegen der Geringfügigkeit der Sozialschädlichkeit der Tat (Art. 17 § 1 Nr. 3 und 4 KPK) oder aufgrund der Unzurechnungsfähigkeit des Täters eingestellt worden ist. Die letzten beiden Beschränkungen betreffen nicht die Kassation, die auf die von Amts wegen zu berücksichtigenden Fehler (Art. 439 KPK) gestützt ist oder die vom Minister für Justiz oder vom Ombudsmann eingelegt wird. Im Rahmen des Kassationsverfahrens hat das OG nur zwei Möglichkeiten: Entweder es weist die Kassation ab oder es hebt die ganze oder einen Teil der angefochtenen Entscheidung auf (Art. 537 Abs. 1 KPK). Demzufolge kommt eine Änderung der angefochtenen Entscheidung nicht in Betracht. Nach der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung hat das OG drei Möglichkeiten: Es verweist die Sache zur erneuten Verhandlung an das zuständige Gericht zurück, stellt das Verfahren ein oder spricht den Angeklagten frei. • Die konkrete Rechtsfrage Grundsätzlich entscheiden die Strafgerichte die tatsächlichen und rechtlichen Fragen eigenständig und sind an die Entscheidungen eines anderen Gerichts oder Organs nicht gebunden (Art. 8 Abs. 1 KPK).19 Eine Ausnahme von diesem Prinzip sieht Art. 441 § 1 KPK vor, nach dem das Rechtsmittelgericht (Bezirksgericht 17 P. Hofman ´ ski, Die Kassation im System der Rechtsbehelfe im polnischen Strafprozeß, in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Band 7, 2003, S. 173. 18 M. Rogacka-Rzewnicka, Kasacja w polskim procesie karnym, 2001, S. 48. 19 Nach Art. 8 Abs. 2 KPK sind jedoch rechtskräftige Entscheidungen eines Gerichts, die ein Recht oder ein Rechtsverhältnis gestalten, bindend.

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bzw. Appellationsgericht) eine konkrete Rechtsfrage an das OG stellen darf, wenn ihre Beantwortung eine grundlegende Auslegung des Gesetzes erfordert. Der Beschluss des OG ist gemäß Art. 441 § 3 KPK in der jeweiligen Sache bindend. Obwohl Art. 441 § 1 KPK das Wort „Gesetz“ verwendet, ist nach der herrschenden Meinung auch die grundlegende Auslegung einer Verordnung (rozporza˛dzenie), eines internationalen Übereinkommens20 oder der Verfassung21 zulässig. Die Rechtsfrage kann sowohl das materielle Recht als auch das Verfahrensrecht betreffen.22 Das Rechtsmittelgericht muss dabei auf die Vorschrift verweisen, die einer grundlegenden Auslegung bedarf.23 Nach herrschender Meinung bedarf eine Vorschrift einer grundlegenden Auslegung dann, wenn sie unklar formuliert ist oder in der Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich ausgelegt wird.24 Das OG ist jedoch nicht dazu befugt, eine Entscheidung in der Sache zu treffen; es beantwortet nur die Rechtsfrage, die in einem engen Zusammenhang mit der jeweiligen Sache steht, und überlässt die Entscheidung dem Rechtsmittelgericht. 25 Die Literatur ist sich darüber einig, dass das Rechtsinstitut der konkreten Rechtsfrage vor allem der Vereinheitlichung der Rechtsprechung dient.26 • Die abstrakte Rechtsfrage Die abstrakte Rechtsfrage unterscheidet sich von der konkreten Rechtsfrage dadurch, dass die Letztere nur im Rahmen eines konkreten Rechtsmittelverfahrens gestellt werden kann. Demgegenüber kann die abstrakte Rechtsfrage gemäß

20 R. A. Stefan ´ski, Rola Sa˛du Najwyz˙szego w kształtowaniu jednolitos´ci orzecznictwa w sprawach karnych, in: S. Waltos´ (Hrsg.), Jednolitos´c´ orzecznictwa w sprawach karnych, 1998, S. 279. 21 L. K. Paprzycki, Przedstawienie zagadnien ´ prawnych Sa˛dowi Najwyz˙szemu, Trybunałowi Konstytucyjnemu i Europejskiemu Trybunałowi Sprawiedliwos´ci – problematyka kompetencji w poste˛powaniu karnym, FS für Bulsiewicz, 2004, S. 204. 22 R. A. Stefan ´ski, Instytucja pytan´ prawnych do Sa˛du Najwyz˙szego w sprawach karnych, 2001, S. 266. 23 Beschluss (Uchwała) vom 25.4.1996, I KZP 6/96, OSNKW 1996, Nr. 5–6, S. 9; Beschluss (Postanowienie) vom 19.4.2000, I KZP 6/2000, Wokanda 2000, Nr. 8, S. 25; Beschluss (Uchwała) vom 16.11.2000, I KZP 35/2000, OSNKW 2000, Nr. 11–12, S. 11. 24 Beschluss (Uchwała) vom 16.4.1993, I KZP 14/93, Wokanda 1993, Nr. 11, S. 9 f.; Beschluss (Postanowienie) vom 28.7.1994, I KZP 18/94, OSNKW 1994, Nr. 7–8, S. 46 f.; Beschluss (Postanowienie) vom 12.3.1996, I KZP 1/96, Wokanda 1996, Nr. 7, S. 20; Beschluss (Postanowienie) vom 24.9.1997, I KZP 13/97, OSNKW 1997, Nr. 11– 12, S. 78; Beschluss (Postanowienie) vom 22.6.1999, I KZP 20/99, OSNKW 1999, Nr. 7–8, S. 38. 25 R. A. Stefan ´ski, Instytucja pytan´ prawnych do Sa˛du Najwyz˙szego w sprawach karnych, 2001, S. 270. 26 P. Hofman ´ ski/E. Sadzik/K. Zgryzek, Kodeks poste˛powania karnego, Band 2, 4. Auflage, 2011, Art. 441 Rn. 2.

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Art. 60 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht27 gestellt werden, wenn in der Rechtsprechung Unterschiede in der Auslegung des Rechts entstanden sind. Der Kreis der Rechtssubjekte, die die abstrakte Rechtsfrage stellen können, ist jedoch strikt beschränkt. In Betracht kommen: Der Erste Vorsitzende des OG, der Ombudsmann, der Generalstaatsanwalt und der Vertreter der Versicherten. Bei der Erörterung der abstrakten Rechtsfrage entscheidet das OG gemäß Art. 60 § 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht in einer erweiterten Besetzung (mit sieben Richtern bzw. in einer noch anderen Besetzung). • Die Verfahrensverzögerung Das OG hat auch Aufgaben im Rahmen eines Verfahrens, das wegen einer Verfahrensverzögerung eingeleitet wurde. Das polnische Recht kennt im Gegensatz zu der deutschen Rechtsordnung ein gesondertes Gesetz28, das Verfahrensverzögerungen entgegenwirken soll. Dieses Gesetz regelt sowohl die erforderlichen Maßnahmen als auch eine Entschädigung für die am Verfahren Beteiligten, die die zuständigen Organe zu einem zügigen Verfahrensablauf motivieren sollen. Im Falle der Verfahrensverzögerung darf ein gesondertes Verfahren eingeleitet werden, an dem sich, wie bereits angeführt, gegebenenfalls auch das OG beteiligen kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Verfahrensverzögerung vor dem Appellationsgericht entsteht. In dieser Situation ist das OG gem. Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes vom 17.6.2004 für jenes Verfahren zuständig, das die Feststellung der Verfahrensverzögerung vor dem Appellationsgericht zum Gegenstand hat. • Die Beschwerde auf die Verweigerung der Annahme der Kassation Das OG entscheidet auch gemäß Art. 530 § 3 KPK in denjenigen Fällen, in denen das Bezirksgericht (sa˛d okre˛gowy) bzw. das Appellationsgericht (sa˛d apelacyjny) die Annahme der Kassation verweigert hat.29 Der Präsident des Bezirksbzw. Appellationsgerichts lehnt die Annahme der Kassation ab, wenn die Voraussetzungen des Art. 530 § 2 KPK30 gegeben sind. Falls eine Partei eine Be-

27

Ustawa z dnia 23 listopada 2002 r. o Sa˛dzie Najwyz˙szym, Dz. U. 2013 Pos. 499. Ustawa z dnia 17 czerwca 2004 r. o skardze na naruszenie prawa strony do rozpoznania sprawy w poste˛powaniu przygotowawczym prowadzonym lub nadzorowanym przez prokuratora i poste˛powaniu sa˛dowym bez nieuzasadnionej zwłoki, Dz. U. 2004 Nr. 179, Pos. 1843. 29 Nach Art. 524 § 1 KPK wird die Kassation durch Vermittlung des Rechtsmittelgerichts (sa˛d okre˛gowy bzw. sa˛d apelacyjny) beim OG eingereicht. 30 Art. 530 § 2 KPK lautet: „Der Präsident des Gerichts, bei dem die Kassation eingelegt worden ist, lehnt deren Annahme ab, wenn die in Art. 120 § 2 oder in Art. 429 § 1 genannten Umstände vorliegen oder wenn die Kassation auf andere als die in Art. 523 § 1 genannten Gründe gestützt worden ist.“ Übersetzung nach M. Jakowczyk, Kodeks poste˛powania karnego, 2001. 28

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schwerde gegen diese Entscheidung beim OG einlegt, prüft das OG die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung.

III. Vergleich der Aufgaben beider Gerichte Aus dem Vorstehenden geht hervor, dass sich zwischen dem Aufgabenbereich des BGH und dem des OG erhebliche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten feststellen lassen. Zunächst ist hervorzuheben, dass das OG in denjenigen Strafsachen entscheidet, in denen eine Kassation gegen ein rechtskräftiges Urteil eingelegt wurde.31 Demgegenüber entscheidet der BGH als Revisionsgericht in denjenigen Strafsachen, in denen eine Revision gegen eine nicht rechtskräftige Entscheidung des Land- oder Oberlandesgerichtes eingelegt wurde. Der Unterschied besteht somit darin, dass die Kassation gegen ein vollstreckbares Urteil eingelegt werden kann. Ferner ist zu beachten, dass sich der BGH im Rahmen des Revisionsverfahrens nur mit den Verfahren auseinandersetzt, die erstinstanzlich vom Landgericht oder Oberlandesgericht entschieden wurden. Demgegenüber können zu dem OG auch diejenigen Fälle gelangen, die in der ersten Instanz durch die Kreisgerichte abgeurteilt wurden. Diese Fälle erfassen ebenfalls die Kleinkriminalität. Außerdem ist zu beachten, dass das OG im Rahmen der Kassationsverfahren nur in den Fällen entscheidet, in denen die Strafsache schon in zwei Instanzen erörtert worden ist; demgegenüber ist die Revision vor dem BGH gegen alle erstinstanzlichen Urteile des Landgerichts und des Oberlandesgerichts zulässig. Gleichwohl weisen Kassations- bzw. Revisionsverfahren Gemeinsamkeiten auf. Beide Gerichte sind in ihrer Tätigkeit auf die Beantwortung von Rechtsfragen beschränkt, sie treffen grundsätzlich keine eigenen Tatsachenfeststellungen. Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Gerichten liegt allerdings im Bereich der Rechtsfragen, die an sie gerichtet werden können. Während in Polen ein Rechtsmittelgericht (Bezirksgericht bzw. Appellationsgericht) gem. Art. 441 § 1 KPK eine Rechtsfrage an das OG richten kann (konkrete Rechtsfrage), sieht die deutsche StPO diese Möglichkeit nicht vor. Von dieser Möglichkeit machen die polnischen Rechtsmittelgerichte nicht selten Gebrauch. Die deutsche Rechtsordnung kennt auch nicht das Rechtsinstitut der abstrakten Rechtsfrage. Wie bereits gezeigt wurde, kann diese Rechtsfrage nur von den im Gesetz ausdrücklich genannten Subjekten (z. B. Generalstaatsanwalt) gestellt werden, wenn in der Rechtsprechung Unterschiede in der Auslegung des Rechts entstanden sind. An dieser Stelle darf der Unterschied nicht übersehen werden, der in der Vorgehensweise der Strafsenate bzw. -abteilungen beider Gerichte besteht, wenn sie 31 P. Hofman ´ ski, Die Kassation im System der Rechtsbehelfe im polnischen Strafprozeß, in: G. Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Band 7, 2003, S. 165; S. Waltos´, Die neue polnische Strafprozeßordnung im Vergleich mit dem deutschen Strafprozeßrecht, in: FS für Hirsch, 1999, S. 1012.

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von der Rechtsprechung eines anderen Senats bzw. einer anderen Abteilung abweichen wollen. In diesem Fall muss sich die Abteilung des OG nicht an die anderen Strafabteilungen wenden, wie dies die deutsche Rechtsordnung fordert. Die Abteilung des OG kann nach seiner Rechtsansicht entscheiden und ist formell nicht an die Rechtsprechung der anderen Abteilungen gebunden. Dies kann zu der Situation führen, dass eine Rechtslage entsteht, in der zwei voneinander abweichende Entscheidungen des OG gleichzeitig Bestand haben. Schließlich ist hervorzuheben, dass kein Gesetz in Polen das OG zur Rechts(neu)schöpfung (Rechtsfortbildung) ermächtigt.

Anhang C

Weitere Entscheidungen mit Relevanz für die vorliegende Untersuchung I. Verweise auf die eigene Rechtsprechung BGH Fall 1 Ob die Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB ist, entschied der BGH auf der Grundlage der folgenden Kriterien. „Diese Frage „hat der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten. Hier fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsprechung an jedermann stellt (vgl. für den ,berauschten Täter‘ BGHSt 43,66, 77; BGH NStZ-RR 1999, 295, 296 jew. m.w. N.). Diese Anforderungen sind um so höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist (BGH, Urt. vom 21. März 2001 – 1 StR 32/01).“ 1

BGH Fall 2 Das Richterrecht spielt eine wichtige Rolle auch in dem Urteil vom 28.10. 20042, in dem der BGH den Begriff der „nicht geringen Menge“ bei Khat-Pflanzen ausgelegt hat. Ein wichtiger Bezugspunkt der Argumentation in dieser Entscheidung ist offenkundig die bisherige Rechtsprechung des BGH zu dem Begriff der „nicht geringen Menge“ bei Amphetaminen: „aa) Wie der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung BGHSt 42, 1 näher ausgeführt hat, kann die ,nicht geringe Menge‘ eines Betäubungsmittels wegen der in illegalen Betäubungsmitteln sehr unterschiedlichen Wirkstoffgehalte grundsätzlich nicht anders festgesetzt werden als durch ein Vielfaches des zum Erreichen eines Rauschzustandes erforderlichen jeweiligen Wirkstoffs (Konsumeinheit). Dabei müssen die Grenzwerte für die verschiedenen Betäubungsmittel gerade wegen ihrer qualitativ unterschiedlichen Wirkung aufeinander abgestimmt sein (BGHSt 42, 1, 10). Ausschlaggebend ist deshalb zunächst die pharmakodynamische Wirkung von Cathinon im Verhältnis namentlich zu Amphetamin. Insoweit entnimmt der Senat dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. K., daß für eine ,adäquate Dosis‘ zur Erzielung einer stofftypischen Rauschwirkung bei Amphetamin 20 bis 50 mg (vgl. auch BGHSt 33, 169, 170), dagegen bei Cathinon als reinem Wirkstoff 40 bis 80 mg erforderlich sind. Davon aus1 2

Urteil vom 21.1.2004, 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 53. 4 StR 59/04, BGHSt 49, 306.

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gehend, stehen Amphetamin und Cathinon hinsichtlich ihrer Wirkung grob gerechnet im Verhältnis 1:2. Legt man den von der Rechtsprechung für Amphetamin mit 10 g Base festgelegten Grenzwert der ,nicht geringen Menge‘ zugrunde, so wäre der Grenzwert für Cathinon auf das Doppelte, mithin auf 20 g des Wirkstoffs festzulegen.“ 3

Auf der Grundlage des Gutachtens eines Sachverständigen, das eine stofftypische Rauschwirkung bei Amphetamin und Khat-Pflanzen feststellt, setzt der BGH die Wirkung beider Rauschmittel im Verhältnis 1:2 fest.4 Dieses Ergebnis wurde noch angesichts weiterer Umstände korrigiert; es liegt jedoch auf der Hand, dass die bisherige Rechtsprechung eine wichtige Rolle bei dieser Feststellung gespielt hat. BGH Fall 3 In dem Urteil vom 19.8.20045 befasste sich der BGH mit der Frage, ob ein absoluter Revisionsgrund im Sinne des § 338 Nr. 6 StPO vorliegt, wenn das Gespräch über eine Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung stattfindet und das Ergebnis dieser Verständigung nicht in die öffentliche Hauptverhandlung eingeführt wird. Der BGH befasste sich mit dieser Frage in einer Zeit, in der der Große Strafsenat des BGH noch nicht in seiner grundlegenden Entscheidung (1 GSSt 1/04) zu dieser Problematik Stellung genommen hatte und die StPO keine Regelungen zu den Urteilsabsprachen vorsah. Trotzdem waren Urteilsabsprachen schon in der Rechtsprechung anerkannt und auf diese Rechtsprechung nimmt der BGH in einer Weise Bezug, als ob sie eine dem Gesetz ähnliche Quelle wäre. Dazu der Leitsatz: „Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO wird weder durch den Umstand, daß Gespräche über eine Verständigung außerhalb der Hauptverhandlungen stattfinden, noch dadurch begründet, daß das Ergebnis dieser Verständigung entgegen den Grundsätzen von BGHSt 43, 195 ff. nicht in die öffentliche Hauptverhandlung eingeführt wird.“ 6

Aus dieser Passage geht hervor, dass der BGH die Grundsätze, die in den früheren Entscheidungen herausgearbeitet wurden, als gleichrangig mit den Vorschriften selbst erachtet. BGH Fall 4 In dem Urteil vom 2.12.20057 beantwortete der BGH die Frage, ob ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen im Bereich der Daseinsvorsorge, an dem ein 3 4 5 6 7

Ebenda, S. 312. Cathinon ist der Hauptwirkstoff der Khat-Pflanze. Ebenda. 3 StR 380/03, BGHSt 49, 255. Ebenda. 5 StR 119/05, BGHSt 50, 299.

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Privater mit einem Anteil von 25,1% beteiligt war, unter „sonstige Stellen“ im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB subsumiert werden kann. Diese Frage war im Hinblick auf die Delikte der Bestechlichkeit bzw. Bestechung relevant. Der BGH verneinte diese Frage auf der Grundlage der Prämisse, dass privatrechtlich organisierte Unternehmen (Abfallentsorgungs- und Verwertungsgesellschaft Köln GmbH, im Folgenden: AVG) im Bereich der Daseinsvorsorge keine „sonstigen Stellen“ im Sinne der bereits erwähnten Vorschrift sind, „wenn ein Privater daran in einem Umfang beteiligt ist, daß er durch eine Sperrminorität wesentliche unternehmerische Entscheidungen mitbestimmen kann.“ 8 Diese Annahme geht sicherlich aus dem Gesetz nicht ausdrücklich hervor. Der BGH leitete sie vor allem aus den Grundsätzen ab, die er auf dem Gebiet dieser Problematik bei vergleichbaren Fällen entwickelt hat. Den Einstieg in die Argumentation bilden folgende Definitionen, die in der vorliegenden Untersuchung zugleich der Kategorie „Juristischer Wortlaut“ zugeordnet wurden. „Sonstige Stellen‘ sind – ohne Rücksicht auf ihre Organisationsform – behördenähnliche Institutionen, die zwar keine Behörden im organisatorischen Sinne sind, aber rechtlich befugt sind, bei der Ausführung von Gesetzen und bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben mitzuwirken (BGHSt 43, 370, 375 ff.; 49, 214, 219). Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, daß auch als juristische Personen des Privatrechts organisierte Einrichtungen und Unternehmen der öffentlichen Hand als ,sonstige Stellen‘ den Behörden gleichzustellen sind, wenn bei ihnen Merkmale vorliegen, die eine Gleichstellung rechtfertigen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie bei ihrer Tätigkeit öffentliche Aufgaben wahrnehmen und dabei derart staatlicher – gegebenenfalls auch kommunaler – Steuerung unterliegen, daß sie bei einer Gesamtbewertung der sie kennzeichnenden Merkmale als ,verlängerter Arm‘ des Staates erscheinen (vgl. BGHSt 49, 214, 219 m.w. N.).“ 9

Nach der Auffassung des BGH liegen diese Voraussetzungen bei der AVG nicht vor. Wieder ausgehend von den Vorentscheidungen stützt der BGH diese Rechtsauffassung auf die folgenden Argumente: „aa) Die AVG ist zwar nach dem Gesellschaftsvertrag auf dem Gebiet der Müllentsorgung und damit in einem Bereich der Daseinsvorsorge tätig (vgl. BGHSt 40, 355, 360; BGH MDR 1983, 824; KG Report 2005, 145); solche Tätigkeit wird von der Rechtsprechung als öffentliche Aufgabe angesehen (vgl. BGHSt 12, 89, 90; 31, 264, 268; 45, 16, 19; BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 7; vgl. auch den Gesetzentwurf zum Korruptionsbekämpfungsgesetz BT-Drucks. 13/5584, S. 12). Als ,verlängerter Arm‘ des Staates und damit als ,sonstige Stellen‘ im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB können aber privatrechtlich organisierte Unternehmen im Bereich der Daseinsvorsorge jedenfalls dann nicht mehr verstanden werden, wenn ein Privater an dem Unternehmen in einem Umfang beteiligt ist, daß er durch eine Sperrminorität wesentliche unternehmerische Entscheidungen mitbestimmen kann.“ 10

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Ebenda, S. 299 f. Ebenda, S. 303. 10 Ebenda, S. 303 f. 9

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Auch die weiteren Argumente knüpfen grundsätzlich an die Vorentscheidungen an. bb) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist anerkannt, daß eine Tätigkeit auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge für sich genommen nicht ausreicht, um eine der Behörde gleichgestellte „sonstige Stelle“ im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB anzunehmen (vgl. BGHSt 43, 370, 377; 45, 16, 19). (. . .). cc) Mit der Ergänzung von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB durch die Worte „unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform“ durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13. August 1997 (BGBl. I 2038) hat der Gesetzgeber klargestellt, daß die Wahl der Organisationsform – privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich – für sich gesehen kein solches Abgrenzungskriterium sein kann. Der Bundesgerichtshof hat anstelle eines solchen formalen ein inhaltliches Abgrenzungskriterium entwickelt: Die „sonstige Stelle“ muß bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben derart staatlicher Steuerung unterliegen, daß sie als „verlängerter Arm“ des Staates erscheint; erforderlich ist dabei eine Gesamtbewertung aller relevanten Umstände des Einzelfalls (BGHSt 43, 370, 377; 45, 16, 19; 46, 310, 312 f.; 49, 214, 219; BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 6; BGH NJW 2004, 694 m. Anm. Krehl StV 2005, 325 und Dölling JR 2005, 30, insoweit in BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 7 nicht abgedruckt).11

Den Schwerpunkt der Argumentation scheint folgender Teil der Begründung zu tragen, der sich auch auf die Rechtsprechung des EuGH bezieht. „Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sind weder die alleinige Inhaberschaft einer Gesellschaft noch die damit verbundenen Aufsichtsbefugnisse für sich genommen geeignet, eine für die Annahme von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB ausreichende staatliche oder kommunale Steuerung zu bejahen (vgl. BGHSt 43, 370, 378; 45, 6, 20; BGH NJW 2001, 3062, 3064, insoweit in BGHR StGB § 11 Abs. 1 Nr. 2 Amtsträger 6 nicht abgedruckt, BGH NJW 2004, 693, 694). (. . .) Ist schon die Alleininhaberschaft der öffentlichen Hand bei Unternehmen auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge kein hinreichendes Kriterium zur Annahme behördenähnlicher staatlicher Steuerung, gilt dies erst recht, wenn Private an einem Unternehmen beteiligt sind, das sich lediglich im Mehrheitsbesitz der öffentlichen Hand befindet. Unabhängig von der Frage, ob jede Beteiligung von Privaten an öffentlich beherrschten Unternehmen schon die Anwendung von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB hindert, liegt die Gleichstellung eines Unternehmens mit der Behörde jedenfalls dann fern, wenn der Private durch seine Beteiligung über derart weitgehende Einflußmöglichkeiten verfügt, daß er wesentliche unternehmerische Entscheidungen mit bestimmen kann (vgl. auch EuGH NVwZ 2005, 187, 190 zum Vergaberecht). Räumt der Gesellschaftsvertrag dem Privaten aufgrund der Höhe seiner Beteiligung eine Sperrminorität für wesentliche unternehmerische Entscheidungen ein, kann das Unternehmen nicht mehr als ,verlängerten Arm‘ des Staates und sein Handeln damit nicht mehr als unmittelbar staatliches Handeln verstanden werden.“ 12 11 12

Ebenda, S. 304. Ebenda, S. 305.

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Da die AVG diese Kriterien nicht erfüllt, kann sie nicht als „sonstige Stelle“ im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB angesehen werden. BGH Fall 5 Ein weiterer Fall, in dem die bisherige Rechtsprechung eine einflussreiche Rolle bei der Entscheidung spielte, ist mit dem Urteil vom 16.3.200613 gegeben. Im Hinblick auf den Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) hat der BGH ausgeführt: „Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht auch eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) verneint. Des Verbrechens nach § 227 StGB macht sich schuldig, wer eine vorsätzliche Körperverletzungshandlung begeht, der das Risiko eines tödlichen Ausgangs anhaftet, sofern sich das der Handlung eigentümliche Risiko im Eintritt des Todes des Angegriffenen verwirklicht und dem Täter hinsichtlich der Verursachung des Todes zumindest Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist; da der Täter schon durch die schuldhafte Verwirklichung eines der Grunddelikte der §§ 223 f. StGB stets objektiv und subjektiv pflichtwidrig handelt, ist dabei allerdings Merkmal der Fahrlässigkeit hinsichtlich der qualifizierenden Tatfolge die Vorhersehbarkeit des Todes des Opfers (st. Rspr. BGHR StGB § 227 [i. d. F. 6. StrRG] Todesfolge 1 m.w. N.). Hierfür ist entscheidend, ob vom Täter in seiner konkreten Lage nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten der Eintritt des Todes des Opfers – im Ergebnis und nicht in den Einzelheiten des dahinführenden Kausalverlaufs – vorausgesehen werden konnte (BGHR StGB § 226 [aF] Todesfolge 6 m.w. N.) oder ob die tödliche Gefahr für das Opfer so weit außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit lag, daß die qualifizierende Folge dem Täter deshalb nicht zuzurechnen ist (vgl. BGHSt 31, 96, 100; BGH NStZ 1997, 82 f. und 341).“ 14

Dieses Zitat macht auch deutlich, in welchem Ausmaß die Begründungen des BGH von Selbstreferenzen durchdrungen sein können. Jedenfalls darf dieses Zitat vor dem Hintergrund der herangezogenen Stichprobe nicht als Ausnahme betrachtet werden. BGH Fall 6 Im Urteil vom 5.5.200415 befasste sich der BGH unter anderem mit den Auslegung des § 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) Abgabenordnung. Gemäß dieser Regelung kommt eine strafbefreiende Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung nicht in Betracht, wenn vor der Berichtigung, Ergänzung oder Nachholung der Angaben ein Amtsträger oder eine Finanzbehörde zur steuerlichen Prüfung oder zur Ermittlung einer Steuerstraftat oder einer Steuerordnungswidrigkeit erschienen ist. Der BGH schränkt jedoch den Anwendungsbereich dieser Vorschrift in der be-

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4 StR 536/05, BGHSt 51, 18. Ebenda, S. 21. 5 StR 548/03, BGHSt 49, 136.

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handelten Entscheidung in Bezug auf die bisherige Rechtsprechung mit folgenden Worten ein: „Einer Selbstanzeige steht die Sperrwirkung nach § 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) AO allerdings dann nicht entgegen, wenn zum Zeitpunkt, in dem ein Amtsträger zur Ermittlung einer Steuerstraftat erschienen ist, der von einer späteren Selbstanzeige umfaßte Sachverhalt weder vom Ermittlungswillen des Amtsträgers erfaßt war noch mit dem bisherigen Ermittlungsgegenstand in engem sachlichen Zusammenhang stand (vgl. BGHR AO § 371 Abs. 2 Nr. 1 Sperrwirkung 3). Für die Annahme einer Tatentdeckung im Sinne des § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO reicht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein bloßer Anfangsverdacht nicht aus. Erforderlich ist mehr als die Kenntnis von Anhaltspunkten, auch wenn die Wahrscheinlichkeit späterer Aufklärung gegeben ist. Der Tatverdacht muß sich vielmehr soweit konkretisiert haben, daß bei vorläufiger Tatbewertung die Wahrscheinlichkeit einer verurteilenden Erkenntnisses gegeben ist (vgl. BGHR AO § 371 Abs. 2 Nr. 2 Tatentdeckungen 3).“ 16

Aus dem Wortlaut der Vorschrift des § 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) lassen sich die zitierten Einschränkungen des Anwendungsbereichs der erwähnten Vorschrift sicherlich nicht ableiten. Zudem hat der BGH in dieser Entscheidung auch nicht ausgeführt, welche substanziellen Gründe für die angenommenen Einschränkungen sprechen. Er ging davon aus, dass der Verweis auf die bisherige Rechtsprechung ausreicht, um das Ergebnis zu begründen.

II. Verweise auf die Rechtsprechung des BVerfG BGH Fall 1 Im Beschluss vom 22.2.200617 steht der Begriff der „neuen Tatsachen“ im Vordergrund. Um die restriktive Handhabung dieser Vorschrift zu fördern, führt der BGH unter Bezug auf das Urteil des BVerfG vom 10.2.200418 aus: „Die Vorschrift des § 66b StGB ermöglicht die nachträgliche Anordnung der schwersten Unrechtsfolge, die zum Strafrecht im weiteren Sinne gehört (vgl. BVerfGE 109, 190, 211 ff. [Urteil, Anm. des Verf.]): der zeitlich unbefristeten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Eine derart schwerwiegende nachträgliche Anordnung von Freiheitsentziehung geht mit einer massiven Einschränkung von Vertrauensschutz einher, da sich der Verurteilte, anders als in allen Regelfällen, nicht auf ein gesichertes Ende des Freiheitsentzugs auf der Grundlage seiner rechtskräftigen Verurteilung verlassen kann. Dieser gewichtige Eingriff in Freiheitsgrundrecht und Vertrauensschutz ist auch nach Abwägung mit den Anliegen einer effektiven Gefahrenabwehr zugunsten der Bürger, die vor drohenden Verletzungen gewichtiger Rechtsgüter durch gefährliche Wiederholungstäter geschützt werden sollen, nur dann verfassungsrechtlich hinnehmbar, wenn die Anwendung so restriktiv gehandhabt wird, wie dies der Gesetzgeber ausdrücklich wollte, die Anordnung sich also auf seltene Einzelfälle 16 17 18

Ebenda, S. 140 f. 5 StR 585/05, BGHSt 50, 373. 2 BvR 834, 1588/02, BVerfGE 109, 190.

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extrem gefährlicher Täterpersönlichkeiten beschränkt (Gesetzesbegründung a. a. O. S. 10, 12 f.; vgl. auch BVerfGE 109, 190, 236 [Urteil, Anm. des Verf.]; BGH NStZ 2005, 561, 562; StV 2006, 67, 71; BGH, Beschluss vom 9. November 2005 – 4 StR 483/05, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen, StV 2006, 66). An diesem gesetzgeberischen Anliegen, das aus verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt, hat sich die Auslegung und Anwendung von § 66b StGB vorrangig zu orientieren.“ 19

BGH Fall 2 Auf die verfassungsrechtliche Argumentation nimmt der BGH ausdrücklich Bezug im Urteil vom 21.1.200420, in dem die Beweiswürdigung des Landgerichtes beanstandet wurde. Das Landgericht hat zu Lasten des Angeklagten ausgeführt, dass er über einen Zeitraum von sechs Monaten die (freiwillige) Abgabe einer Speichelprobe hinausgezögert hat, obwohl er den Vorwurf „bei reinem Gewissen umgehend durch die Abgabe einer Speichelprobe hätte ausräumen können“.21 Diese Auffassung lehnt der BGH in dem behandelten Fall im Anschluss an die ablehnenden Kammerbeschlüsse des BVerfG ab: „Das Bundesverfassungsgericht hat im Blick auf die Beweisbedeutung der Nichtabgabe einer Speichelprobe in einem Kammerbeschluss ausgeführt, zur Begründung des Tatverdachts dürfte nicht der Umstand herangezogen werden, daß ein Beschuldigter eine freiwillige Teilnahme an einer DNA-Untersuchung abgelehnt habe. Eine solche Erwägung verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze (BVerfG, Kammer, NJW 1996, 1587, 1588 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]; 1996, 3071, 3072 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 22

BGH Fall 3 Im Urteil vom 22.4.200523 legte der BGH dagegen unter anderem § 168 Abs. 1 Alt. 2 StGB aus. Auch in dieser Entscheidung stütze sich der BGH auf eine ablehnende Kammerentscheidung des BVerfG, die neben einem Senatsbeschluss und einem Verweis auf die Literatur erwähnt wird. „Geht es um den postmortalen Achtungsanspruch, ist dementsprechend ein beschimpfender Charakter gegeben, wenn der Täter dem Toten seine Verachtung bezeigen will und sich des beschimpfenden Charakters seiner Handlung bewußt ist (BGH NStZ 1981, 300; RGSt 39, 155, 157; RGSt 42, 145, 146; Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 9 S. 399, 400). Geht es hingegen um das Pietätsgefühl der Allgemeinheit, so kommt es darauf an, ob der Täter dem Menschsein seine Verachtung bezeigen bzw. die Menschenwürde als Rechtsgut an sich mißachten will.

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Ebenda, S. 378. 1 StR 364/03, BGHSt 49, 56. Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 58. 2 StR 310/04, BGHSt 50, 80.

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Denn die Vorstellungen der Allgemeinheit hinsichtlich des Umgangs mit Toten gründen letztlich in dem Bewußtsein der jedem Menschen zukommenden und über den Tod hinauswirkenden Würde (BVerfG NJW 2001, 2957, 2959 [ablehnender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]; BVerfGE 30, 173, 196 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]; vgl. Tröndle/Fischer StGB 52. Aufl. § 168 Rdn. 2; Hörnle in MünchKomm § 168 Rdn. 2). Die Würde des Menschen verbietet es, ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektsqualität prinzipiell in Frage stellt. Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen (BVerfGE 87, 209, 228 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 24

BGH Fall 4 Im Beschluss vom 10.8.200525 steht die Befangenheit eines Richters im Vordergrund. In Bezug auf die Rechtsprechung des BVerfG führt der BGH aus (insbesondere beruft sich der BGH auf den stattgebenden Kammerbeschluss vom 9.7.200426): „aa) Nach der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juni 2005 – 2 BvR 625 und 638/01 [stattgebender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.] – (vgl. auch schon BVerfG [Kammer] StraFo 2005, 109 [stattgebender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]; BGH NStZ 2005, 218, 219) darf die Anwendung von § 26a StPO nicht dazu führen, dass der abgelehnte Richter sein eigenes Verhalten beurteilt und damit „Richter in eigener Sache“ wird. Werden die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO in sachlich nicht nachvollziehbarer Weise dahingehend ausgelegt, dass das Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung des abgelehnten Richters in der Sache auf seine Begründetheit überprüft wird, entzieht dies dem Beschuldigten im Ablehnungsverfahren seinen gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Zugleich kann ein solches Vorgehen den Anspruch des Beschuldigten auf Wahrung rechtlichen Gehörs verletzen (BVerfG [Kammer], Beschluss vom 2. Juni 2005 – 2 BvR 625 und 638/01 [stattgebender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]). bb) Ist ein Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung des abgelehnten Richters (§ 26a Abs. 2 Satz 1 StPO) als unzulässig verworfen worden, darf das Revisionsgericht sich demnach nicht darauf beschränken, die hypothetische Begründetheit des Ablehnungsgesuchs nach Beschwerdegrundsätzen (§ 28 Abs. 2 StPO) zu prüfen; vielmehr muss das Revisionsgericht zunächst darüber entscheiden, ob die Grenzen der Vorschrift des § 26a StPO, die den gesetzlichen Richter gewährleistet, eingehalten wurden (vgl. BVerfG a. a. O. [stattgebender Kammerbeschluss, Anm des Verf.]). Jedenfalls bei einer willkürlichen oder die Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erheblich missachtenden Überschreitung des durch § 26a StPO abgesteckten Rahmens hat das Revisionsgericht – eine ordnungsgemäße Rüge des Verfahrensfehlers gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorausgesetzt – das angefochtene Urteil aufzuheben und

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Ebenda, S. 89 f. 5 StR 180/5, BGHSt 50, 217. 2 BvR 836/04.

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die Sache an das Tatgericht zurückzuverweisen (vgl. BVerfG a. a. O. [stattgebender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 27

Und weiter führt der BGH aus: „dd) Für die Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO hat dies insbesondere folgende Konsequenzen: Grundsätzlich ist die Gleichsetzung eines Ablehnungsgesuchs, dessen Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist, mit einem Ablehnungsgesuch ohne Angabe eines Ablehnungsgrundes (§ 26a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StPO) – auch aus verfassungsrechtlicher Sicht – unbedenklich (BVerfG a. a. O. [stattgebender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]; BGH NStZ 1999, 311). Entscheidend für die Abgrenzung zu ,offensichtlich unbegründeten‘ Ablehnungsgesuchen, die von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht erfasst und damit nach § 27 StPO zu behandeln sind (BGH StraFo 2004, 238; BGHR StPO § 26a Unzulässigkeit 9), ist die Frage, ob das Ablehnungsgesuch ohne nähere Prüfung und losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet ist (BVerfG a. a. O. [stattgebender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]). Über diese bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe im Rahmen von Entscheidungen nach § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO zum ,Richter in eigener Sache‘ machen. Dabei muss die Auslegung des Ablehnungsgesuchs darauf ausgerichtet sein, es seinem Inhalt nach vollständig zu erfassen, um nicht im Gewande der Zulässigkeitsprüfung in eine Begründetheitsprüfung einzutreten (BVerfG a. a. O. [stattgebender Kammerbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 28

BGH Fall 5 Auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung im Kontext des Rückwirkungsverbots bezieht sich der BGH auch in seinem Beschluss vom 22.2.200529, der sich auf den Senatsbeschluss des BVerfG bezieht. „c) Die Verlängerung der Verjährungsfrist verstößt nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Rückwirkungsverbot (vgl. BVerfGE 72, 200, 240 f. [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 30

BGH Fall 6 Im Beschluss vom 6.8.200431 befasst sich der BGH mit der Frage, ab wann die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde für den bei der Urteilsverkündung abwesenden Betroffenen beginnt, falls das Urteil nicht mit Gründen versehen war 27 28 29 30 31

Ebenda, S. 219. Ebenda, S. 220. KRB 28/04, BGHSt 50, 31. Ebenda, S. 39. 2 StR 523/03, BGHSt 49, 230.

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und die Voraussetzungen des § 77b Abs. 1 S. 3 OWiG nicht vorlagen. Der BGH entschied, dass in diesem Fall die Frist mit der Urteilsverkündung beginnt. Eine andere Lösung würde zu Rechtsunsicherheit führen. Zur Betonung der Bedeutung der Rechtsicherheit beruft sich der BGH auf die Autorität des BVerfG (Senatsbeschluss) mit folgenden Worten: „Die Rechtssicherheit ist ein wesentliches Element des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsgebots (BVerfGE 60, 253, 267 m.w. N. [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]; Herzog in Maunz/Dürig, GG Art. 20 VII Rdn. 60 f.; Schnapp in von Münch, Grundgesetzkommentar 5. Aufl. Bd. II Art. 20 Rdn. 30) und ist, auch wo sie durch gerichtliche Verfahren herbeigeführt werden soll, binnen angemessener Frist zu verwirklichen (BVerfG 60, 253, 269 [Senatsbeschluss, Anm. des Verf.]).“ 32

In dem angeführten Zitat wird die Auslegung des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3) mit der Rechtsprechung des BVerfG und Kommentarliteratur unterstützt.

III. Subjektive Auslegung BGH Fall 1 Im Urteil vom 9.5.200633 rekonstruiert der BGH das Ziel des § 108e StGB auf der Grundlage der Gesetzesmaterialien, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Vorschrift des § 108e StGB eine im Verhältnis zu den §§ 331 ff. StGB abschließende Regelung enthält: „bb) Der historische Gesetzgeber hat § 108e StGB als abschließende Sondernorm für Zuwendungen an Mandatsträger auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene in Bezug auf ihr Handeln in Wahlen und Abstimmungen in den Volksvertretungen verstanden (vgl. Dahs/Müssig NStZ 2006, 191, 195 f.; Marel StraFo 2003, 259, 261). Der Gesetzgeber ging in der Gesetzesbegründung ausdrücklich davon aus, dass er mit dem neuen Straftatbestand des § 108e StGB eine ,Sonderregelung‘, einen ,Sondertatbestand der Abgeordnetenbestechung‘ (Gesetzesbegründung BT-Drucks. 12/1630 S. 6; 12/5927 S. 6) schafft. Mit der Sondernorm sollten die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit für alle Mandatsträger des Deutschen Bundestags, der Länderparlamente und der Volksvertretungen in den Gemeinden und Gemeindeverbänden eng und abschließend geregelt werden (vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucks. 12/1630 S. 6; 12/5927 S. 6; 12/6092 S. 6). Eine Fassung des § 108e StGB im Sinne der damals geltenden §§ 331 ff. StGB wurde mit der Begründung abgelehnt, der Amtsträger solle eine Entscheidung im Rahmen der maßgeblichen Rechtsvorschriften stets unparteiisch und frei von unsachlichen Einflüssen treffen, während bei der Ausübung von Stimmrechten im Parlament auch politische Gesichtspunkte und Rücksichtnahmen eine Rolle spielten; es sei nicht zu beanstanden, wenn bei der Stimmabgabe politische Zwecke mitverfolgt würden, die dem eigenen Interesse des Stimmberechtigten entgegenkämen. Weil bei

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Ebenda, S. 239. 5 StR 453/05, BGHSt 51, 45.

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zahlreichen Abgeordneten die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe von wesentlicher Bedeutung für ihre Aufstellung als Kandidat und die Interessenwahrnehmung auch außerhalb des Parlaments Bestandteil des politischen Kräftespiels sei, könnten die Voraussetzungen für die strafbare Bestechung und Bestechlichkeit bei der Ausübung von Stimmrechten nicht die gleichen sein wie bei der Tätigkeit von Amtsträgern im öffentlichen Dienst (Gesetzesbegründung BT-Drucks. 12/5927 S. 5), Bestechung und Bestechlichkeit deshalb nur insoweit mit Strafe bedroht werden, als sie sich auf eine konkrete Unrechtsvereinbarung hinsichtlich einer künftigen Stimmabgabe beziehen (BT-Drucks. 12/1630 S. 6; 12/5927 S. 6; 12/6092 S. 6). Alle anderen Formen der Einflussnahme sollten dagegen beabsichtigtermaßen straflos bleiben.“ 34

Dieses Zitat zeigt, wie umfangreich der BGH die Gesetzesmaterialien in seinen Begründungen berücksichtigt. BGH Fall 2 Im Urteil vom 17.9.200435 hat der BGH festgestellt, dass eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB in der Regel nicht zur Anwendung kommen kann, wenn die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit auf zu verantwortender Trunkenheit beruht und sich das Risiko der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls vorhersehbar signifikant infolge der Alkoholisierung erhöht hat. Um das gefundene Ergebnis zu unterstützen, versucht der BGH anhand von Gesetzesmaterialien den Willen des Gesetzgebers zu rekonstruieren: „c) Dem gefundenen Ergebnis widersprechen weder die historischen Absichten des Gesetzgebers noch der Rechtsgedanke des § 323a StGB. (1) Die Überlegungen des historischen Gesetzgebers sprechen nicht für einen Grundsatz, wonach im Falle vorwerfbarer Alkoholisierung eine Strafmilderung stets zu versagen ist (Neumann StV 2003, 527, 528 m.w. N.; vgl. aber BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 31; Foth DRiZ 1990, 417, 418 ff.; ders. NStZ 2003, 597, 598; zur historischen Entwicklung ausführlich: Rautenberg, Verminderte Schuldfähigkeit, 1984, S. 9 ff. m.w. N.; Schnarr in: Hettinger [Hrsg.], Reform des Sanktionenrechts, 2001, Band 1, S. 7 ff.). Eine dem heutigen § 21 StGB entsprechende Vorschrift wurde erstmals durch das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl. I, 995) in das deutsche Strafgesetzbuch eingeführt. Aus der amtlichen Gesetzesbegründung ergeben sich für die aufgeworfene Frage keine tragfähigen Hinweise (vgl. ReichsAnz 1933, Nr. 277, Erste Beilage, S. 1, linke Spalte). Die Gesetzesänderung fußte indes auf der umfangreichen kriminalpolitischen Reformdiskussion der Zwanziger Jahre (hierzu näher Foth, jeweils a. a. O.; Rautenberg a. a. O.). Dabei wurde zwar auch eine gesetzliche Ausnahme der vorgesehenen Milderung bei vorwerfbarer Alkoholisierung vorgeschlagen (vgl. § 17 Abs. 2 Satz 2 des 34 35

Ebenda, S. 56 f. 5 StR 93/04, BGHSt 49, 240.

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Amtlichen Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1925; ebenso bereits § 18 Abs. 2 des Entwurfs zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1919 und § 63 Abs. 2 des Vorentwurfs zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1909; ausführlich hierzu Rautenberg a. a. O.). Gegen diese Vorschläge wurden jedoch auch zur damaligen Zeit gewichtige Bedenken geltend gemacht (vgl. Alsberg in Aschrott/Kohlrausch [Hrsg.], Reform des Strafrechts, 1926, S. 51, 73 ff.). Letztlich sind die in den Entwürfen verschiedentlich vorgesehenen ausdrücklichen Ausnahmen bei vorwerfbarer Alkoholisierung nicht Gesetz geworden. In den Beratungen der Reichstagsvorlage von 1927 wurde hierzu erklärt, den Reichsrat hätten zwei Gründe veranlaßt, den vorgesehenen Ausschluß einer Strafmilderung bei Trunkenheit (§ 17 Abs. 2 Satz 2 des Amtlichen Entwurfs von 1925) zu streichen und statt der obligatorischen eine fakultative Milderung vorzuschlagen: Zum einen erscheine die Konsequenz unerträglich, dem ganz betrunkenen Täter eine Milderung zu gewähren, nicht aber dem nur halb betrunkenen; zum anderen sei nicht einzusehen, warum die Frage der Selbstverschuldung nur bei der Trunkenheit berücksichtigt werden sollte (vgl. Rautenberg DtZ 1997, 45, 47 m.w. N.). Dies legt nahe anzunehmen, daß der Gesetzgeber in Kenntnis entgegenstehender Vorschläge bewußt auf eine solche Regelung verzichtet hat, also gerade keine zwingende Versagung der Strafmilderung in diesen Fällen wollte (Neumann StV 2003, 527, 528). In der Gesetzesbegründung von 1933 heißt es lediglich, die Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit sei Grundlage für eine Strafmilderung, wobei das Gesetz von den Beschlüssen der Reichstagsausschüsse insoweit abweiche, als die Milderung nicht zwingend sei, sondern in das Ermessen des Richters gestellt werde (ReichsAnz a. a. O.). Die Gesetzesmaterialien zur Reform des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs in den Sechziger Jahren, die zur Formulierung des § 21 StGB in der heutigen Form geführt hat, sprechen gleichermaßen für eine differenzierende Lösung. § 21 StGB wurde einerseits als Kann-Vorschrift konzipiert, um dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Verminderung der Schuldfähigkeit nicht notwendig zu einer Minderung der Schuld in ihrer Gesamtheit führt; im Rahmen einer Gesamtwürdigung sollten außer dem Grad der Schuldfähigkeit auch andere schuldrelevante Umstände berücksichtigt werden können (BT-Drucks. IV/650, S. 142 linke Spalte). Hierzu gehören nach Auffassung des Gesetzgebers nicht nur unmittelbar der Tat anhaftende Schuldumstände wie etwa eine große Anzahl getöteter Menschen, sondern auch schuldrelevante Umstände vor der Tat wie insbesondere die schuldhafte Herbeiführung der verminderten Schuldfähigkeit (ebd.). Ausdrücklich sprach sich der Gesetzgeber andererseits gegen eine Vorschrift aus, wonach die Strafmilderung – entsprechend den Vorschlägen in den Entwürfen von 1909 und 1925 – bei vorwerfbarer Alkoholisierung stets zu versagen sei (BT-Drucks. IV/650, S. 142 rechte Spalte). Zu der entsprechenden Regelung in § 7 WStG, wonach bei selbstverschuldeter Trunkenheit eine Strafmilderung ausscheidet, wenn die Tat eine militärische Straftat ist, gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt oder in Ausübung des Dienstes begangen wurde, wird dabei auf die besonderen Anforderungen an militärische Disziplin verwiesen. In das allgemeine Strafrecht könne dieser Rechtsgrundsatz nicht ohne weiteres übertragen werden (ebd.).“ 36

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Ebenda, S. 248 ff.

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BGH Fall 3 Im Urteil vom 11.5.200537 setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, ob die Verweigerung oder der Abbruch einer Therapie durch den Verurteilten als neue Tatsachen im Sinne von § 66b Abs. 1 und 2 StGB betrachtet werden können und für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ausreichen. Der BGH kam zu dem Resultat, dass diese Tatsachen grundsätzlich als neue Tatsachen betrachtet werden können, aber nicht allein dazu ausreichen, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen. Die Argumentation, die das Ergebnis begründen soll, ist mit einer erheblichen Anzahl von Verweisen auf die Gesetzesmaterialien gesättigt. „Allerdings ist bei der zu treffenden Entscheidung über die nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung in gleicher Weise dem Freiheitsgrundrecht Betroffener in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Insbesondere kann die Unterbringung nach voller Verbüßung der Schuldstrafe im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen nur dann verhältnismäßig sein, wenn bei der Gefahrenprognose sämtliche entscheidungserheblichen Daten aus der Lebens- und Kriminalitätsgeschichte des Betroffenen berücksichtigt werden (BT-Drucks. 15/2887 S. 10; vgl. auch BVerfGE a. a. O. S. 241). Dabei ist sorgfältig abzuwägen zwischen dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Verurteilten, von denen auch nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe die vorbezeichneten Straftaten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, und den Freiheitsgrundrechten der durch die nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung Betroffenen. Danach kommt eine solche Maßnahme nur bei einer geringen Anzahl denkbarer Fälle in Betracht, wovon auch der Gesetzgeber ausgegangen ist (BT-Drucks. 15/2887 S. 10; vgl. auch BVerfGE a. a. O. S. 236). 2. Unter Berücksichtigung vorstehender Grundsätze kommen als Grundlage einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nur solche ,neuen‘ Tatsachen in Betracht, die nach einer Verurteilung erkennbar werden und auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. [Nach den Gesetzesmaterialien sollen beispielsweise wiederholte verbal-aggressive Angriffe auf Bedienstete der Justizvollzugsanstalt als Anknüpfungspunkt für eine weitere Prüfung ebenso denkbar sein wie die Drohung des Verurteilten, nach der Entlassung weitere Straftaten zu begehen, die Begehung einer erneuten Straftat während des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder intensive Kontakte zu einem gewaltbereiten Milieu aus der Haft heraus (BT-Drucks. 15/2887 S. 12).] Damit soll nach dem Willen des Gesetzgebers einerseits klargestellt werden, daß es sich um Tatsachen jenseits einer gewissen Erheblichkeitsschwelle handeln muß. Andererseits soll durch den Verzicht auf eine exemplarische oder ,namentliche‘ Nennung von Tatsachen zum Ausdruck gebracht werden, daß monokausale Erklärungsmuster fehl am Platz sind. Zugleich soll hierdurch der Weg geebnet werden für den weiteren Prüfungsschritt in Gestalt der von Verfassungs wegen gebotenen Gesamtwürdigung (BT-Drucks. 15/2887 S. 12). Dem Schutzinteresse der Allgemeinheit wird nur dann im gebotenen Umfang entsprochen, wenn es nicht auf den Entstehungszeitpunkt der einer nachträglichen Anordnung zugrunde 37

1 StR 37/05, BGHSt 50, 121.

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zu legenden Tatsachen ankommt, sondern allein auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme und Berücksichtigung im vorangegangenen Strafverfahren. Insoweit ist das Gemeinwohlinteresse als vorrangig vor dem Freiheitsgrundrecht des Verurteilten zu betrachten. Umstände, die für den ersten Tatrichter erkennbar waren, scheiden demgegenüber als neue Tatsachen im Sinne des § 66b StGB aus. Durch deren Nichtberücksichtigung entstandene Rechtsfehler können durch die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht korrigiert werden. Die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung zielt auch nicht darauf ab, die Frage einer späteren Unterbringung länger als bisher offen zu halten (BT-Drucks. a. a. O. S. 12). 3. Grundsätzlich können die Verweigerung oder der Abbruch einer Therapie zu den in § 66b Abs. 1 und 2 StGB genannten neuen Tatsachen gehören, die erst nach der Verurteilung und vor Ende des Vollzuges erkennbar werden und auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit nach seiner Entlassung hinweisen. Ein solcher Umstand reicht aber für sich allein nicht aus, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen (BT-Drucks. a. a. O. S. 13; BVerfGE a. a. O. S. 241), zumal sich aus der Stellung des Gefangenen bei der Gestaltung seiner Behandlung im Strafvollzug (§ 4 Abs. 1 StVollzG) ergibt, daß gegen seinen Willen eine Behandlungsmaßnahme nicht erzwungen werden kann (vgl. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG 10. Aufl. § 4 Rdn. 5). Vielmehr ist nach § 66b Abs. 1 StGB eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzuges vorzunehmen, welche einer Übergewichtung der Verweigerung von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen entgegensteht. Es verengt den Blick auf die gesamte Persönlichkeit des Betroffenen und seine bisherige Lebensgeschichte und Kriminalitätsentwicklung in unzulässiger Weise, wenn das Gericht eine Unterbringung allein mit einer derartigen Verweigerungshaltung begründet (BVerfGE a. a. O. S. 241). Offenbart daher der Verurteilte während des Vollzuges der Freiheitsstrafe seine ablehnende Haltung gegenüber erforderlichen therapeutischen Maßnahmen, dokumentiert dies zunächst nur sein Verhalten im Strafvollzug; es kann jedoch eine Entscheidungshilfe sein. In gewichtigerem Maße sind allerdings die Persönlichkeit und die Lebensumstände des Verurteilten außerhalb des Strafvollzugs sowie seine Straftaten zu werten. Andernfalls würde die Unterbringung zu einer unverhältnismäßigen Sanktion für fehlendes Wohlverhalten im Vollzug (BVerfGE a. a. O. S. 241). Zudem verliert die zu erstellende Gefährlichkeitsprognose an Plausibilität, wenn diese nur einen schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit – die Zeit der Strafverbüßung – zur Grundlage hat. Auch nach Auffassung des Gesetzgebers bietet das Merkmal der Therapieverweigerung oder des Therapieabbruchs eine zu schmale Tatsachenbasis, um die besondere Gefährlichkeit des Täters während des Strafvollzugs zu begründen (BT-Drucks. 15/2887 S. 13; s. auch Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 15/ 3346 S. 17). Täterpersönlichkeit und Legalbiographie können die Entscheidung ebenso beeinflussen wie konkrete Änderungen physischer Natur, etwa fortgeschrittenes Alter, Krankheiten, ferner Unterkunft, Arbeit und persönliche Bindungen und zuvor erfolgte Lockerungsversuche sowie alternative Kontrollmöglichkeiten in Form der Führungsaufsicht oder ambulante Therapiemaßnahmen. Nur wenn die Gesamtwürdigung unter Einschluß der Tatsachen, die die Prüfung ausgelöst haben, die geforderte besondere Gefährlichkeit ergibt, kann ein über das Strafende hinausgehender Freiheitsentzug gerechtfertigt sein (BT-Drucks. 15/2887 S. 13).

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Daher ist eine Therapieverweigerung, sofern sie im konkreten Fall ein erst nach der Verurteilung erkennbarer Umstand ist, zunächst für die Einleitung der Prüfung der Voraussetzungen des § 66b StGB maßgeblich. Kern der materiellrechtlichen Prüfung ist hingegen die Gesamtwürdigung des Verurteilten. In diese Prüfung fließt dann auch die Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzugs ein (vgl. BTDrucks. 15/2887 S. 12) – ebenso Erkenntnisse aus einer zwischenzeitlichen Unterbringung nach Landesrecht (vgl. BT-Drucks. 15/2887 S. 20). Mit welchem Gewicht eine Verweigerungshaltung des Verurteilten (etwa bei einer noch im Strafverfahren erklärten Therapiebereitschaft) die Gesamtwürdigung und die Gefährlichkeitsprognose beeinflussen kann, wird vom konkreten Einzelfall abhängen.“ 38

BGH Fall 4 Im Beschluss vom 2.11.200539 stand die Frage im Mittelpunkt, in welcher Besetzung eine Jugendkammer über die Eröffnung des Hauptverfahrens in der Hauptverhandlung entscheiden soll, wenn das Hauptverfahren bisher nicht eröffnet wurde und die Kammer die Hauptverhandlung in reduzierter Besetzung durchführt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH40 kann die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens in der Hauptverhandlung nachgeholt werden, und diese Auffassung vertritt der BGH auch in diesem Fall. Bisher wurde jedoch nicht entschieden, in welcher Besetzung der Beschluss nachgeholt werden soll, wenn die Jugendkammer in reduzierter Besetzung die Hauptverhandlung durchführt. Der BGH stellte fest, dass die Jugendkammer in reduzierter Besetzung darüber nicht entscheiden konnte. Für die Unterstützung seiner Auffassung griff der BGH wiederum auf die Gesetzesmaterialien zurück, um das Ziel des Rechtspflegeentlastungsgesetzes zu rekonstruieren: „Daran hat die durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz vom 11. Januar 1993 (BGBl. I 50) eingeführte reduzierte Besetzung der Großen Straf- und Jugendkammern (§§ 76 Abs. 2 GVG, 33 b Abs. 2 JGG) nichts geändert. Dieses Gesetz hat die Besetzung der großen Straf- bzw. Jugendkammern für die außerhalb der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens mit jeweils drei Berufsrichtern unberührt gelassen (vgl. BT-Drucks 12/1217 S. 48, 50). Vielmehr hat der Gesetzgeber lediglich die Möglichkeit eröffnet, die Besetzung der großen Straf- bzw. Jugendkammern für die Hauptverhandlung von drei auf zwei Berufsrichter zu reduzieren, und die – regelmäßig zusammen mit der Eröffnung des Hauptverfahrens zu treffende – Entscheidung hierüber ebenfalls der Kammerbesetzung mit drei Berufsrichtern zugewiesen (BT-Drucks. a. a. O.). Nach dem Zusammenhang der Vorschriften der §§ 199 ff. StPO einerseits und der §§ 76 Abs. 2 GVG, 33 b Abs. 2 JGG andererseits setzt die Bestimmung über die (reduzierte) Besetzung 38

Ebenda, S. 125 ff. 4 StR 418/05, BGHSt 50, 267. 40 Beschluss vom 18.3.1980, 1 StR 213/79, BGHSt 29, 224; Beschluss vom 9.6. 1981, 4 StR 263/81, NStZ 11/1981, 448; Beschluss vom 4.4.1985, 5 StR 193/85, BGHSt 33, 167; Beschluss vom 31.1.1986, 2 StR 726/85, NStZ 6/1986, 276; Beschluss vom 9.1.1987, 3 StR 601/86, NStZ 5/1987, 239. 39

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grundsätzlich die Eröffnung des Hauptverfahrens durch die Straf- bzw. Jugendkammer in der dafür vorgesehenen Besetzung voraus. Daraus folgt ohne weiteres, dass die Eröffnungsentscheidung nicht ihrerseits einer Beschlussfassung durch die Strafbzw. Jugendkammer in der reduzierten Besetzung zugänglich ist. Das gilt für das Verfahren insgesamt und läßt auch dann keine Ausnahme zu, wenn eine zunächst unterbliebene Eröffnungsentscheidung nachgeholt werden soll. Aus der Einfügung von § 76 Abs. 2 Satz 2 GVG und § 33 b Abs. 2 Satz 2 JGG durch das Gesetz zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern vom 19. Dezember 2000 (BGBl. I 1756) ergibt sich nichts anderes. Der Gesetzgeber hat damit die Möglichkeit geschaffen, nach Zurückverweisung einer Sache durch das Revisionsgericht an das Landgericht erneut über die (reduzierte) Besetzung zu entscheiden (vgl. BGH StraFo 2003, 134), und diese Entscheidung der ,nunmehr zuständigen‘ Straf- bzw. Jugendkammer zugewiesen. Weder dem Wortlaut der Vorschriften noch den Materialien (BT-Drucks. 14/3370 S. 2 und 14/4542 S. 4) ist aber ein Hinweis zu entnehmen, der Gesetzgeber habe damit etwa aus verfahrensökonomischen Gründen an der Besetzung der für die Eröffnungsentscheidung zuständigen Kammer mit drei Berufsrichtern etwas ändern wollen.“ 41

BGH Fall 5 Im Beschluss vom 22.2.200542 ist der BGH zu dem Ergebnis gekommen, dass die durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13.8.1997 angeordnete Verlängerung der Verjährung für die Kartellordnungswidrigkeiten auch für Taten gilt, die vor dem Inkrafttreten des Verlängerungsgesetzes begangen wurden, soweit sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt waren. Bei der Entscheidungsfindung hat der BGH in Bezug auf die Gesetzesmaterialien ausgeführt: „Aus den Gesetzesmaterialien läßt sich gleichfalls nicht entnehmen, daß der Wille des Gesetzgebers bestanden hätte, die Verlängerung der Verjährung auf solche Ordnungswidrigkeiten zu beschränken, die nach Inkrafttreten des Gesetzes begangen wurden. Zwar waren die – relativ spät in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachten – Änderungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und des Ordnungswidrigkeitengesetzes als flankierende gesetzliche Maßnahme im Zuge der Einführung des Straftatbestandes der wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Ausschreibungen (§ 298 StGB) für notwendig erachtet worden (BT-Drucks. 13/8079, S. 16). Dies läßt jedoch nicht den Schluß zu, der Gesetzgeber habe auch die verlängerte Verjährungsfrist auf solche Ordnungswidrigkeiten beschränken wollen, die erst nach Inkrafttreten des mit dem Korruptionsbekämpfungsgesetz geschaffenen Straftatbestands des § 298 StGB begangen wurden. Vielmehr ergibt sich aus der Begründung, daß bereits im Hinblick auf häufig erforderliche zeitraubende Ermittlungen wegen des Verdachts des Betruges (§ 263 StGB) die bisherige dreijährige Verjährungsfrist als unangemessen kurz empfunden wurde (BT-Drucks. a. a. O.).

41 42

BGHSt 50, 269 f. KRB 28/04, BGHSt 50, 31.

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Die Materialien deuten damit eher auf die Absicht des Gesetzgebers hin, generell für Ordnungswidrigkeiten nach § 38 Abs. 1 Nr. 1 und 8 GWB aF, bei denen wegen ihres gravierenden wettbewerbsbeschränkenden Charakters häufig auch Straftaten nach § 236 StGB in Betracht kommen werden, die Verjährungsfrist zu verlängern.“ 43

BGH Fall 6 Im Beschluss vom 11.10.200544 legt der BGH den Begriff „Anstalt“ im Sinne von § 201 Nr. 3 S. 3 StVollzG45 aus. Strittig war, ob der Begriff einzelne Hafthäuser erfasst oder sich auf den Gesamtzustand der Justizvollzugsanstalt bezieht. Der BGH entschied sich im Ergebnis für die zweite Lösung und unterstützte seine Auffassung mit historischen Überlegungen, die in einem weiten Ausmaß auf die Gesetzesmaterialien Bezug nehmen. „3. Die historische Auslegung eröffnet nicht die vom Kammergericht vertretene einschränkende Anwendung der Norm. a) Die Bundesregierung hat in der Begründung des Gesetzentwurfs nicht zwischen alten und neuen (oder umgebauten) Vollzugsbauten, sondern zwischen bestehenden und neuen Vollzugsanstalten unterschieden (vgl. BT-Drucks. 7/918 S. 55 f.; 107). Etwas anderes ergibt sich nicht aus den vom Kammergericht herangezogenen Teilen der Begründung. Zwar könnte die zum Erfordernis eines späteren Inkrafttretens des § 18 StVollzG (a. a. O. S. 55) mitgeteilte Erwägung, dass ,wegen der noch notwendigen erheblichen Umbauten auch diese Vorschrift vorerst vollständig nur für neue Vollzugsbauten in Kraft treten (kann)‘, bei isolierter Betrachtung für den Standpunkt des Kammergerichts streiten. Dem stehen aber die genaueren Erläuterungen zum Verhältnis von Umbauten und Neubauten zur Begründung der Übergangsvorschrift (a. a. O. S. 107) entgegen: ,Der genannte Grundsatz soll nur für Neubauten voll eingeführt werden. Außerdem sollen auch in den bestehenden Anstalten bis 1982 außer in den unvermeidbaren Fällen Zellenarbeit und übergroße Schlafsäle abgeschafft werden‘. Danach wird aber zwischen erforderlichen Umbauten in den bestehenden Anstalten mit dem Ziel der Schaffung von Werkräumen nebst der Abschaffung übergroßer Schlafsäle und der Errichtung von Neubauten differenziert. Letzteres bedeutet, was sich aus dem Gegensatz zu den bestehenden Anstalten erhellt, dass neu zu errichtende Justizvollzugsanstalten und nicht einzelne Hafthäuser gemeint sind. Demnach wird für die Anwendung von § 18 StVollzG auch in der Gesetzesbegründung lediglich zwischen bestehenden und neuen Justizvollzugsanstalten unterschieden. b) Nur bei weitestgehender Suspendierung des § 18 Abs. 1 Satz 1 StVollzG konnte die vom Strafvollzugsgesetz intendierte Gesamtreform des Strafvollzugs überhaupt 43

Ebenda, S. 38. 5 Ars (Vollz) 54/05, BGHSt 50, 234. 45 Die Übergangsvorschrift des § 201 Nr. 3 StVollzG lautet: „Für Anstalten, mit deren Errichtung vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begonnen wurde, gilt folgendes: (. . .) 3. Abweichend von § 18 dürfen Gefangene während der Ruhezeit auch gemeinsam untergebracht werden, solange die räumlichen Verhältnisse der Anstalt dies erfordern. Eine gemeinschaftliche Unterbringung von mehr als acht Personen ist nur bis zum Ablauf des 31. Dezember 1985 zulässig.“ 44

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gelingen. Nach der Strafrechtsreform 1969 waren infolge der kriminalpolitischen Erwartung eines deutlichen Rückgangs der Zahl der Strafgefangenen Gefängnisse geschlossen worden (vgl. Kaiser/Schöch, Strafvollzug 5. Aufl. § 10 Rdn. 8). Bereits 1971 wurde aber die Belegungssituation wieder kritisch (vgl. Oberheim ZfStrVo 1985, 15, 17). Der Gesetzgeber stand damit vor dem Problem, das zur Verwirklichung der Reformziele in großem Umfang zusätzlich erforderlich werdende Fachpersonal, Haft- und Fachräume mit den fehlenden finanziellen und räumlichen Ressourcen in Einklang zu bringen; die vorhandenen Strafanstalten mussten schon aus finanziellen Gründen weiter verwendet werden (vgl. Kaiser/Schöch a. a. O.). Der notwendige Umbau in den Anstalten war zudem nur mit Verlust von Haftraumkapazität möglich. Die meisten Gemeinschaftsräume sollten nicht mehr zur Unterbringung von Gefangenen, sondern zu anderen Zwecken verwendet werden (vgl. Böhm, Strafvollzug S. 89). So wurden zahlreiche bisherige Hafträume zu Arbeits-, Ausbildungs-, Weiterbildungsräumen sowie zu Diensträumen für zusätzlich eingestellte Fachkräfte umgewidmet (vgl. Böhm in Schwind/Böhm, StVollzG 3. Aufl. § 146 Rdn. 6). Nur die weiterhin erlaubte gemeinsame Unterbringung konnte vor diesem Hintergrund Abhilfe schaffen. So wurden Einzelhafträume in Mehrbetträume ,umdefiniert‘ oder umgestaltet (vgl. Dünkel/Morgenstern in FS für Heinz Müller-Dietz S. 150). Damit ermöglichte nur eine weitestgehende Anwendung der Übergangsvorschrift – bei den besonders langen Planungs- und Bauzeiten für neue Anstalten (vgl. zum beachtlichen Umfang des aktuellen Neubauprogramms Dünkel/Morgenstern a. a. O.) – die vom Gesetzgeber seit 1977 gewollte grundlegende Umgestaltung des Strafvollzugs.“ 46

BGH Fall 7 Im Urteil vom 28.10.200447 hat der BGH §§ 331, 333 StGB im Zusammenhang mit der Einwerbung von Wahlkampfspenden durch einen Amtsträger, der sich um seine Wiederwahl bewirbt, einschränkend ausgelegt. Hierzu führt der BGH aus: „Mit dieser Erweiterung von § 331 Abs. 1 StGB und § 333 Abs. 1 StGB sollten zum einen Fälle, in denen durch die Vorteile nur das generelle Wohlwollen des Amtsträgers erkauft bzw. ,allgemeine Klimapflege‘ betrieben wird, in den Tatbestand einbezogen sowie die Schwierigkeiten überwunden werden, die sich bei der Anwendung dieser Vorschriften in ihrer ursprünglichen Fassung daraus ergaben, daß vielfach die Bestimmung des Vorteils als Gegenleistung für eine bestimmte oder zumindest hinreichend bestimmbare Diensthandlung aufgrund der Besonderheiten der Sachverhaltsgestaltungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisbar waren (vgl. den Bericht und die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestags vom 26. Juni 1997, BT-Drucks. 13/8079 S. 15). Zum anderen sollen auch die – strafwürdigen – Fälle erfasst werden, in denen der Amtsträger den Vorteil zwar für eine Diensthandlung, aber, oftmals auch zur Umgehung der einschlägigen Vorschriften für ,Personenvereingungen‘ – fordert, sich versprechen läßt oder annimmt, ohne daß erkennbar bzw. nachweisbar ist, daß die Zuwendung auch den Amtsträger zumindest mittelbar besserstellt; denn – so die Begründung – die geschützten Rechtsgüter seien 46 47

BGHSt 50, 242 f. 3 StR 301/03, BGHSt 49, 276.

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durch derartige Zuwendungen in gleicher Weise beeinträchtigt wie bei Vorteilen, die dem Amtsträger selbst zugute kommen (Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und FDP vom 24. September 1996, a. a. O. S. 16).“ 48

BGH Fall 8 Weshalb der Antrag auf die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung begründet sein muss, obwohl das Gesetz es nicht verlangt, erklärt der BGH im Urteil vom 25.11.200549 überzeugend. Dabei greift er auf die Gesetzesmaterialien zurück, um das gefundene Ergebnis zu erhärten. „Damit sich der Betroffene auf das Verfahren einrichten kann, ist es aber auch geboten, ihm mit der Antragstellung mitzuteilen, auf welcher Variante des § 66 b StGB der Antrag beruht und insbesondere welche neue Tatsachen während der Strafvollstreckung erkennbar geworden sind, die Anlaß zur Antragstellung geben. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich die Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung angeordnet, um sicherzustellen, daß dem Verurteilten bei der Entscheidung die gleichen verfahrensrechtlichen Rechte zukommen, wie wenn das Gericht die Sicherungsverwahrung gleich im ersten Urteil angeordnet hätte (BT-Drucks. 15/2887 S. 15). Für das Verfahren auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gelten damit die allgemeinen strafprozessualen Grundsätze, d.h. sowohl der Grundsatz des fairen Verfahrens als auch das Gebot des rechtlichen Gehörs. Beide Verfahrensgrundsätze gebieten es, dem Verurteilten frühzeitig mitzuteilen, welche Vorfälle die Staatsanwaltschaft zu der ungünstigen Gefährlichkeitsprognose und damit zur Antragstelllung bewogen haben. Nur wenn er weiß, was ihm vorgeworfen wird, kann er sich auf weitere Verfahren sachgemäß vorbereiten und seine Rechte in der Hauptverhandlung adäquat wahrnehmen, etwa selbst zeugen oder andere Beweismittel benennen.“ 50

BGH Fall 9 Im Urteil vom 22.4.200551 legt der BGH den Begriff „beschimpfend“ im Sinne des § 168 Abs. 1 Alt. 2 StGB aus. In Bezug auf die Gesetzesmaterialien stellt der BGH fest: „Daß die Vorschrift jedenfalls auch ein Rechtsgut der Allgemeinheit schützt und nicht etwa nur ein Individualrechtsgut, zeigt sich bereits an ihrer systematischen Verankerung im Kontext der dem Schutz des öffentlichen Friedens dienenden Strafnormen. Anderenfalls wäre § 168 Abs. 1 Alt. 2 StGB eher als eine Art ,tätliches‘ Verunglimpfen des Andenkens Verstorbener im Abschnitt über die Beleidigungsdelikte einzuordnen gewesen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 168 Rdn. 2). Dies war nicht gewollt, wie die Gesetzgebungsmaterialien, wonach das ,religiöse Gefühl‘ (Drucksachen des Norddeutschen Reichstages, 1. Legislaturperiode, Nr. 5, S. 98),

48 49 50 51

Ebenda, S. 281. 2 StR 275/05, BGHSt 50, 285. Ebenda, S. 290 f. 2 StR 310/04, BGHSt 50, 80.

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bzw. Pietätsempfinden (E 1962, BT-Drucks. IV/650 Begr. zu § 191 S. 346) geschützt sein sollte, belegen.“ 52

Im Ergebnis kommt der BGH zu dem Schluss, dass das Einverständnis des Tatopfers in beschimpfenden Unfug an seiner Leiche die Strafbarkeit des § 168 Abs. 1 StGB nicht entfallen lässt. BGH Fall 10 Im Beschluss vom 9.5.200653 hat der BGH die Anwendung des § 354 StPO zu Gunsten eines früheren Mitangeklagten verneint, wenn für diesen die Revision wegen § 55 Abs. 2 JGG54 unzulässig war. Zur Unterstützung dieses Ergebnisses beruft sich der BGH u. a. auf das Ziel des § 55 Abs. 2 JGG: „§ 55 Abs. 2 JGG dient der Verfahrensbeschleunigung, um die erzieherische Wirkung der jugendstrafrechtlichen Sanktion zu gewährleisten (vgl. BT-Drucks. I/3264 S. 46; Diemer/Schoreit/Sonnen a. a. O. § 55 Rdn. 41). Zu diesem Zweck hat der Gesetzgeber ein erhöhtes Risiko von fehlerhaften Verurteilungen in Kauf nehmen müssen. Daß sich dieses Risiko auch tatsächlich verwirklichen kann, ist dabei zwingende Folge des Regelungszwecks.“ 55

BGH Fall 11 Die historischen Gesichtspunkte spielen eine erhebliche Rolle auch bei der Beantwortung der Frage, ob im Falle der Erstellung und Versendung eines Anhörungsbogens aufgrund des individuellen elektronischen Befehls eines Sachbearbeiters zusätzlich dessen handschriftliche Unterschrift oder die Anbringung eines Namenskürzels unter der Eingriffsverfügung in der Akte notwendig ist, um die Verjährung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG zu unterbrechen (Beschluss vom 22.5.200656). Der BGH verneinte diese Frage und stützt das Ergebnis u. a. auf das folgende Argument: „Das Ergebnis der systematischen Auslegung wird durch die historische Auslegung bestätigt. Der Gesetzgeber wollte keine Formerfordernisse für die Wirksamkeit der verjährungsunterbrechenden Handlungen statuieren (vgl. OLG Frankfurt NJW 1976, 337, 338; Göhler JR 1981, 42, 43; Olizeg NZV 2005, 130, 131). Die Vorschrift des § 33 Abs. 2 OWiG sollte lediglich die bis dahin bestehende, praktisch sehr wichtige Zweifelsfrage klären, in welchem Zeitpunkt die Verjährung unterbrochen wird, falls

52

Ebenda, S. 89. 1 StR 57/06, BGHSt 51, 34. 54 § 55 Abs. 2 JGG lautet: „Wer eine zulässige Berufung eingelegt hat, kann gegen das Berufungsurteil nicht mehr Revision einlegen. Hat der Angeklagte, der Erziehungsberechtigte oder der gesetzliche Vertreter eine zulässige Berufung eingelegt, so steht gegen das Berufungsurteil keinem von ihnen das Rechtsmittel der Revision zu.“ 55 BGHSt 51, 42. 56 5 StR 578/05, BGHSt 51, 73. 53

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die Unterbrechungshandlung schriftlich vorgenommen worden ist (vgl. BT-Drucks. 7/550 S. 345 und 216; Rotberg, OWiG 5. Aufl. § 33 Rdn. 21).“ 57

IV. Gesetzliche Materialien BGH Fall 1 Im Beschluss vom 3.2.200458 versucht der BGH dagegen, den Entscheidungshorizont des Gesetzgebers zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt dieser Begründung steht die Frage, ob die Vollzugsbehörde die Anordnung eines Trennscheibeneinsatzes bei einem Verteidigerbesuch auf § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG stützen darf. Der BGH bejahte diese Frage unter der Voraussetzung, dass die Gefahr besteht, dass ein Strafgefangener seinen Verteidiger zur Freipressung als Geisel nimmt. Um dieses Ergebnis zu begründen, führte der BGH mit Bezug auf die Gesetzesmaterialien aus: „c) Die Erwägungen der am Verfahren zum Erlaß eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1984 beteiligten Gesetzgebungsorgane bestätigen, daß die hier zu beurteilende Fallgestaltung nicht von der Sonderregelung der § 27 Abs. 3, Abs. 4 Satz 3, § 29 Abs. 1 Satz 2 StVollzG, § 148 Abs. 2 Satz 3 StPO umfaßt ist. Bundesrat und Bundesregierung hatten andere Fallgestaltungen im Blick. Unter Bedacht auf den Beschluß des Senats vom 17. Februar 1981 hatte der Bundesrat ein dringendes Bedürfnis der Vollzugspraxis dafür erkannt, auch in anderen Fällen als nach § 129 a StGB bei besonders gefährlichen Straftätern die Verwendung von Trennvorrichtungen bei Verteidigerbesuchen anordnen zu können, etwa bei schweren terroristischen Gruppenverbrechen oder gefährlichen Rauschgifttätern (BT-Drucks. 10/1313 S. 58). Nur für diese Fälle ist die Bundesregierung unter Hinweis auf den hohen Wert des freien Verkehrs zwischen dem Strafgefangenen und seinem Verteidiger dem Gesetzesvorhaben entgegengetreten (BT-Drucks. a. a. O. S. 61). Die Konstellation, daß ausschließlich der Strafgefangene die Gesprächssituation zu verteidigungsfremden Zwecken mißbraucht, war ersichtlich nicht Gegenstand der Erörterungen.“ 59

BGH Fall 2 Im Kontext des Zeugnisverweigerungsrechts des Notars und seines Gehilfen im Sinne der §§ 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 53a StPO hat der BGH im Urteil vom 7.4. 200560 die Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften anhand der Gesetzesmaterialien rekonstruiert. „Ausgehend von der Entstehungsgeschichte der Gesetzesänderung erstreckt sich die – mittelbare – Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO danach nicht auf frühere, bereits vor der Erweiterung des Kreises 57 58 59 60

Ebenda, S. 78. 5 Ars (Vollz) 78/3, BGHSt 49, 61. Ebenda, S. 66. 1 StR 326/04, BGHSt 50, 64.

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der Anzeigepflichtigen des § 11 GwG abgeschlossene Vorgänge. Zwar ist es grundsätzlich nicht schutzwürdig, ,wenn der Mandant die Rechtsberatung in doloser Absicht im Hinblick auf eine zukünftig von ihm beabsichtigte Geldwäschehandlung in Anspruch nehmen will und dem Berater dies positiv bekannt ist‘ (BT-Drucks. 14/ 8739 vom 8. April 2002 – Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Geldwäschebekämpfungsgesetz – S. 15; Richtlinie 2001/97 EG vom 4. Dezember 2001, Erwägungsgrund 17). Dem haben – im hier maßgeblichen Bereich – der europäische und der deutsche Gesetzgeber aber bewußt erst mit der Richtlinie (Europäisches Parlament und Rat) 2001/97 vom 4. Dezember 2001 sowie mit dem Geldwäschebekämpfungsgesetz vom 8. August 2002 – Rechnung getragen und nicht schon mit der Richtlinie 91/308/EWG zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und dem hierauf basierenden Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten – jetzt Geldwäschegesetz – vom 25. Oktober 1993. Demgemäß soll die Gesetzesänderung über die Erweiterung des Kreises der Anzeigepflichtigen früher abgeschlossene Vorgänge nicht erfassen. ,Im Ausschuß bestand Einigkeit darüber, daß Geldwäsche im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzentwurfs ausschließlich zukünftige Geldwäschehandlungen umfaßt‘ (Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses vom 5. Juni 2002 – BT-Drucks. 14/9263 – S. 8). Dementsprechend und im Hinblick auf das Gewicht und die Bedeutung des durch das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO geschützten berufsbezogenen Vertrauensverhältnisses – unabhängig von dessen Inhalt – muß das Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich der Erkenntnisse aus früheren Vorgängen unberührt bleiben. Nur dies wird dem berechtigten Interesse der Beteiligten an der Verlässlichkeit dieses Vertrauensverhältnisses gerecht.“ 61

BGH Fall 3 Im Urteil vom 10.8.200562 hat sich dagegen der BGH mit der Frage auseinandergesetzt, ob ein in einem Krankenzimmer mittels akustischer Wohnraumüberwachung aufgezeichnetes Selbstgespräch des Angeklagten zu dessen Lasten zu Beweiszwecken verwertbar ist. Der BGH verneinte diese Frage für den Fall, sofern das Gespräch dem durch Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Kernbereich zuzurechnen ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Gesetzesmaterialien, die bei der Auslegung der Begriffe „Gespräche“ und „Äußerungen“ im Sinne von § 100c Abs. 4 S. 3 StPO hilfreich sind. „Diese Bestimmung differenziert zwischen ,Gesprächen‘ über begangene Straftaten und ,Äußerungen‘, mittels derer Straftaten begangen werden. Daraus folgt im Gegenschluß, daß ,Gespräch‘ nur solche Äußerungen – wenigstens im ,Zwiegespräch‘ – meint, die dazu bestimmt sind, von anderen zur Kenntnis genommen zu werden. Die Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 15/4533 S. 14) macht das deutlich: ,Sofern man dabei den Gedanken des Sozialbezugs entsprechender Äußerungen zugrunde legt . . ., werden in der Regel auch Äußerungen eines Beschuldigten, die dieser tätigt, wenn er 61 62

Ebenda, S. 77 f. 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206.

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sich alleine in der überwachten Wohnung aufhält, oder Äußerungen, die nicht dazu bestimmt sind, von anderen zur Kenntnis genommen zu werden, wie etwa unbewußt artikulierte Äußerungen, dem absolut geschützten Kernbereich unterfallen.‘“ 63

V. Folgen BGH Fall 1 Eine weitere Entscheidung, in der die Folgen berücksichtigt wurden, erließ der BGH am 14.12.2004.64 In diesem Urteil musste der BGH entscheiden, ob die Handlung des Angeklagten (Vergewaltigung seiner Ehefrau in der Anwesenheit ihres siebenjährigen Sohnes) den Tatbestand des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB erfüllt. Der BGH verneinte im Ergebnis die Subsumtion, weil sexueller Missbrauch eines Kindes durch die Vornahme von sexuellen Handlungen vor einem Kind voraussetzt, dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von Bedeutung ist. Diese Voraussetzung geht aus dem Wortlaut des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB offenkundig nicht hervor. Bei der Auslegung des § 176 Abs. 4 StGB stellte jedoch der BGH fest: „Erforderte die vor der Gesetzesänderung durch das 6. Strafrechtsreformgesetz gültige Vorschrift des § 176 Abs. 5 StGB (eingeführt durch das 4. Strafrechtsreformgesetz vom 23. November 1973 – BGBl. I 1725, 1727) für einen strafbaren sexuellen Mißbrauch eines Kindes bei sexuellen Handlungen ohne unmittelbaren Körperkontakt in subjektiver Hinsicht noch die Absicht des Täters, durch die Tathandlung sich, das Kind oder einen anderen sexuelle zu erregen, ist im 6. Strafrechtsreformgesetz dieses finale, den subjektiven Tatbestand einschränkende Merkmal entfallen. Dies hätte bei isolierter Betrachtung nach dem Wortlaut der geänderten Vorschrift eine unangemessene Ausdehnung der Strafbarkeit wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes – jedenfalls bei der Tatvariante der Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind – zur Folge; so würden etwa bereits der Austausch von Zärtlichkeiten der Eltern in Gegenwart ihres Kindes oder Handlungen im Rahmen der Sexualerziehung oder Fälle, die ausschließlich auf beengte Wohnverhältnisse zurückzuführen sind, erfaßt (vgl. Horn/Wolters a. a. O.; Lenckner/Perron a. a. O. § 176 Rdn. 17; Bussmann a. a. O.). Einer solchen ausufernden Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes wollte die frühere Gesetzesfassung mit der Absichtsklausel entgegenwirken (BT-Drucks. VI/1552 S. 15 und 17). Diese Folgen des Wegfalls des einschränkenden subjektiven Tatbestandsmerkmals hat der Gesetzgeber ersichtlich nicht bedacht. Vielmehr sollte die Streichung der Absichtsklausel lediglich dazu dienen, Spannungen des § 176 Abs. 3 StGB a. F. im Verhältnis zu § 176 a Abs. 2 StGB a. F. (jetzt: § 176 a Abs. 3 StGB) zu vermeiden, der die Absicht, die Tat zum Gegenstand einer pornografischen Schrift zu machen, die im Sinne des § 184 Abs. 3 und 4 StGB a. F. (jetzt: § 184 b Abs. 1 bis 3 StGB) verbreitet werden soll, verlangt (BT-Drucks. 13/9064 S. 11). Das Ziel einer Ausdehnung der Strafbarkeit des 63 64

Ebenda, S. 214. Urteil, 4 StR 255/04, BGHSt 49, 376.

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sexuellen Mißbrauchs eines Kindes hat der Gesetzgeber durch diese Gesetzesänderung nicht verfolgt.“ 65

Gegen die Orientierung an dem Wortlaut spricht nach der Auffassung des BGH auch folgende unerwünschte Konsequenz: „Die Rechtsauffassung des Landgerichts führt darüber hinaus zu einem Wertungswiderspruch innerhalb der Rechtsnorm des § 176 Abs. 3 StGB aF bzw. § 176 Abs. 4 StGB nF. Das Gesetz stellt nämlich bei den übrigen Varianten des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes, bei denen ein Körperkontakt nicht erforderlich ist, strengere Anforderungen an die Tatbestandsverwirklichung, als dies nach den Ausführungen im angefochtenen Urteil bei der 1. Alternative des § 176 Abs. 3 StGB a. F. bzw. des § 176 Abs. 4 n. F. der Fall wäre. Während § 176 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 StGB a. F. bzw. § 176 Abs. 4 Nrn. 2 bis 4 StGB n. F. voraussetzen, daß der Täter entweder das Kind zu einem (sexuellen) Verhalten ,bestimmt‘ (Nr. 2) oder daß er mittels Schriften oder pornografischer Abbildungen auf das Kind ,einwirkt‘ (Nrn. 3 und 4 n. F.), er mithin das Kind – auch wenn sich dieses der sexuellen Bedeutung der Handlung nicht bewußt zu sein braucht (BGHSt 29, 336; 38, 68, 70) – als Objekt in das (sexuelle) Geschehen einbezieht, enthält die 1. Tatbestandsvariante eine vergleichbare Einschränkung nicht. Danach liegt nach dem reinen Wortlaut des Gesetzes ein sexueller Mißbrauch eines Kindes vielmehr auch dann vor, wenn dem Täter die Anwesenheit des Kindes bei Vornahme der sexuellen Handlung gleichgültig oder – wie hier – sogar unerwünscht ist und er lediglich die – optische oder akustische (BGHSt 41, 285, 287) – Wahrnehmung des Geschehens durch das Kind duldet. Mit dem Begriff des ,Mißbrauchs‘ eines Kindes, der in den übrigen Tatbestandsvarianten durch die Tatbestandsmerkmale des ,Bestimmens‘ oder ,Einwirkens‘ Ausdruck findet, ist dieses weite Verständnis der Gesetzesfassung des § 176 Abs. 3 Nr. 1 StGB a. F. bzw. § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB n. F. nicht vereinbar.“ 66

BGH Fall 2 Im Urteil vom 6.4.200667 hat der BGH entschieden, dass ein Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit i. S. d. § 66b Abs. 1 StGB nur dann vorliegt, wenn der Tatbestand im Abschnitt „Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit“ des Besonderen Teils des StGB enthalten ist. Entscheidend ist für diese formelle (und nicht rechtsbezogene) Betrachtungsweise nach der Ansicht des BGH folgendes Argument: „Bei rechtsgutbezogener Betrachtungsweise wäre daher Raub in allen Formen, also auch in der Grundform des § 249 StGB, von den in § 66 b StGB genannten Verbrechen gegen die persönliche Freiheit umfaßt. Auf der Grundlage dieser Annahme wäre es unklar und verwirrend, daß in § 66 b Abs. 1 StGB zusätzlich noch einige, aber nicht alle Formen des Raubs aufgeführt sind. Diese Unklarheiten bestehen dagegen bei der aufgezeigten formalen Betrachtungsweise nicht. Raubdelikte sind in den

65 66 67

Ebenda, S. 378 f. Ebenda, S. 380. 1 StR 78/06, BGHSt 51, 25.

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bisher aufgezeigten Abschnitten des Besonderen Teils nicht enthalten, sondern im 20. Abschnitt ,Raub und Erpressung‘. Die Überschrift dieses Abschnitts nennt der Gesetzgeber in § 66 b Abs. 1 StGB nicht, sondern zählt statt dessen diejenigen der darin enthaltenen Verbrechen auf, die nach seinem Willen Grundlage für nachträgliche Sicherungsverwahrung sein können. Bei dieser Betrachtungsweise können jedenfalls hinsichtlich des Gegenstands der Anlaßverurteilung Unklarheiten und Zweifel nicht entstehen.“ 68

BGH Fall 3 Im Urteil vom 14.12.200669 hat der BGH festgestellt, dass § 66a Abs. 2 S. 2 keine Ordnungsvorschrift ist und die Einhaltung der Frist vielmehr eine grundsätzlich materiellrechtliche Voraussetzung für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung darstellt. „Würde man die zeitliche Vorgabe als unverbindliche Ordnungsvorschrift ansehen und ungeachtet dieser Zeitgrenze die Anordnung der Sicherungsverwahrung für jederzeit möglich erachten, würde das Anliegen der gesetzlichen Regelung verfehlt werden. Dann weder würde die erforderliche Klarheit für den Verurteilten geschaffen noch eine sinnvolle Vollzugsplanung ermöglicht werden.“ 70

BGH Fall 4 Im Urteil vom 8.7.200571 stellt der BGH fest, dass der Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung die Feststellung eines Hanges i. S. v. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB voraussetzt, obwohl die Gesetzesmaterialien ein anders Ergebnis nahe legen. „Ginge man hingegen davon aus, daß neben der Gefährlichkeit auch der Hang nicht sicher festgestellt sein muß, so würde das dazu führen, daß später die Sicherungsverwahrung ohne jegliche Hangfeststellung angeordnet werden könnte. Denn nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 66 a Abs. 2 StGB bedarf es für die Maßregelanordnung aufgrund vorherigen Vorbehalts lediglich einer positiven Gefährlichkeitsprognose. Der Annahme, daß eine Sicherungsverwahrung ohne jegliche Hangfeststellung möglich ist, steht zudem § 67 d Abs. 3 StGB entgegen. Diese Vorschrift, die die Erledigung der Maßregel der Sicherungsverwahrung betrifft, geht ersichtlich davon aus, daß ein Hang festgestellt wurde (möglicherweise auch noch fortbesteht). Der Verzicht auf den Hang als Voraussetzung des § 66 a Abs. 1 StGB würde schließlich auch zu einem sachlich nicht begründbaren Auseinanderfallen der materiellen Voraussetzungen nach § 66 und § 66 a StGB führen. Denn dann wäre bei den Tätern, bei denen jedenfalls zum Zeitpunkt der Aburteilung die Gefährlichkeit noch nicht sicher feststellbar war, ein Weniger an Voraussetzungen zu prüfen als bei denjenigen,

68 69 70 71

Ebenda, S. 27 f. 3 StR 269/06, BGHSt 51, 159. Ebenda, S. 161. 2 StR 120/05, BGHSt 50, 189.

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die bereits zu diesem Zeitpunkt mit der hinreichenden Sicherheit als gefährlich eingestuft werden konnten.“ 72

BGH Fall 5 Im Beschluss vom 3.3.200473 setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, ob im Falle der nachträglichen Einbeziehung einer Verurteilung zur Jugendstrafe auf Bewährung in eine Verurteilung zur Jugendstrafe ohne Bewährung die erbrachten Bewährungsleistungen angerechnet werden können, wie dies der Fall bei einer nachträglich gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe ist. Der BGH verneinte diese Möglichkeit und führte aus: „Dieses Ergebnis wird auch nicht durch die Überlegung in Frage gestellt, daß es ein Gebot der Gerechtigkeit sei, den Widerruf einer Bewährung gemäß § 26 JGG und den Wegfall einer Bewährung im Hinblick auf § 31 Abs. 2 JGG gleich zu behandeln, da sonst derjenige, der sich um die Bewährungsauflagen nicht gekümmert hat, unangemessen bevorzugt würde (so OLG Köln a. a. O. 66). Im Fall des § 26 JGG steht die nach einem Widerruf zu vollstreckende Strafe ihrer Höhe nach fest. Ein etwa gebotener Ausgleich für Bewährungsleistungen kann nur durch Anrechnung, also eine konkret (,rechnerisch‘) zu bestimmende Verkürzung der Dauer der zu vollstreckenden Strafe erfolgen. Im Falle des § 31 Abs. 2 JGG ist dagegen, wie dargelegt, eine umfassende Neubestimmung der Strafe vorzunehmen. In diesem Rahmen ist in jeder Richtung Raum für die Berücksichtigung der Erfüllung oder der Nichterfüllung von Bewährungsauflagen.“ 74

VI. Sonstige Entscheidung OG Fall 1

75

Ein Gericht in Großbritannien erließ im Jahre 2007 einen europäischen Haftbefehl gegenüber einem polnischen Bürger (Jakub T.), dem die Begehung einer Vergewaltigung und eines Tötungsversuchs vorgeworfen wurde. Auf der Grundlage des Beschlusses des polnischen Bezirksgerichtes wurde Jakub T. nach Großbritannien ausgeliefert,76 wobei gemäß Art. 607t § 2 KPK angemerkt wurde, dass im Falle der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe die Überstellung des Verurteilten nach Polen stattfinden muss. 72

Ebenda, S. 195. 1 StR 71/04, BGHSt 49, 90. 74 Ebenda, S. 92. 75 Beschluss (Uchwała) des OG vom 3.3.2009, I KZP 30/08, OSNKW 2009, Nr. 4, S. 27. Diese Entscheidung gehört nicht zu der Gruppe der 100 Entscheidungen des OG, die für die vorliegende Untersuchung herangezogen wurden. 76 Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten wurde auf der Grundlage des Gesetzes vom 18.3.2004 (ustawa z dnia 18 marca 2004 r. o zmianie ustawy – Kodeks karny, ustawy – Kodeks poste˛powania karnego oraz ustawy – Kodeks wykroczen´, Dz. U. 2004 Nr. 69, Pos. 626) in die polnische Rechtsordnung implementiert. 73

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Nach der Auslieferung von Jakub T. nach Großbritannien wurde er dort im Jahre 2008 wegen einer Vergewaltigung und einer schweren Körperverletzung jeweils zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, wobei das Gericht anmerkte, dass eine vorläufige Entlassung im Falle der Verurteilung wegen der Vergewaltigung nach neun Jahren und im Falle der Verurteilung wegen der schweren Körperverletzung nach sechs Jahren beantragt werden kann. Nach derselben Entscheidung sollen beide Verurteilungen gleichzeitig vollstreckt werden, wobei ein Antrag auf vorläufige Entlassung frühestens nach neun Jahren gestellt werden kann. Nach der Entscheidung wurde Jakub T. wieder nach Polen ausgeliefert. Das Gericht in Polen, das die Entscheidung des Gerichtes aus Großbritannien gemäß Art. 607t Abs. 2 KPK77 i.V. m. mit Art. 607s Abs. 4 KPK a. F.78 umsetzen musste, stand vor folgendem Problem. Jakub T. wurde zu einer Strafe (lebenslange Freiheitsstrafe) für Straftaten verurteilt, die nach polnischem Strafrecht nur mit einer zeitigen Freiheitsstrafe bedroht sind. Im Falle der Vergewaltigung sieht das polnische Strafrecht gemäß Art. 197 Abs. 1 KK eine Freiheitsstrafe in einer Höhe von bis zu 12 Jahren vor. Für eine schwere Körperverletzung droht Art. 156 Abs. 1 eine Freiheitsstrafe in einer Höhe von bis zu 10 Jahren an. Hätten die Gerichte die Verurteilung von Jakub T. ohne Anpassung an das polnische Strafrecht umgesetzt, würde dies bedeuten, dass er eine Strafe in einer Höhe verbüßen müsste, die das polnische Strafrecht nicht vorsieht. Das Gericht der ersten Instanz kam zu einer für Jakub T. ungünstigen Entscheidung: Die Strafe wurde ohne Anpassung an die korrespondierenden polnischen Strafandrohungen umgesetzt. Als Begründung hat sich das Gericht der ersten Instanz auf den Wortlaut des Art. 607s § 4 KPK a. F. und des Art. 607t § 2 KPK sowie auf die Begründung zu dem Entwurf des Gesetzes berufen, das den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl in das polnische Rechtssystem implementierte. Gegen diese Entscheidung wurde von den Verteidigern 77 Art. 607t § 2 KPK lautet: „Wurde die in § 1 genannte Person zu einer Freiheitsstrafe verurteilt oder wurde gegen diese eine andere freiheitsentziehende Maßnahme angeordnet, so findet Art. 607s §§ 3–5 entsprechende Anwendung.“ Eigene Übersetzung. 78 Art. 607s § 4 KPK a. F. lautete: „In dem Beschluss nach § 3 nimmt das Gericht die rechtliche Einordnung der Tat nach dem polnischem Recht vor. Das Gericht ist hierbei an das Strafmaß der verhängten Sanktionen gebunden (. . .).“ Eigene Übersetzung. Art. 607s § 4 KPK n. F. (neugefasst durch das Änderungsgesetz vom 20.1.2011, Dz. U. 2011 Nr. 48, Pos. 245) lautet: „In dem in § 3 genannten Beschluss nimmt das Gericht die rechtliche Bezeichnung der Tat nach polnischem Recht vor. Überschreitet die von der Justizbehörde des Ausstellungsstaates verhängte Strafe oder angeordnete Maßnahme die obere Grenze der gesetzlichen Strafandrohung, so bestimmt das Gericht die zu vollstreckende Strafe oder Maßnahme nach polnischem Recht, und zwar in der Höhe, die der oberen Grenze der gesetzlichen Strafandrohung entspricht; es berücksichtigt dabei die Dauer des tatsächlich im Ausland verbüßten Freiheitsentzugs sowie die dort bereits vollstreckte Strafe oder Maßnahme. (. . .)“. Übersetzung nach E. Weigend/ P. Nalewajko, in: M. Małolepszy/G. Hochmayr/P. Nalewajko (Hrsg.), Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen Deutschland und Polen, 2012, S. 253.

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Beschwerde eingelegt. Bevor das Gericht der zweiten Instanz seine Entscheidung traf, wendete es sich auf der Grundlage von Art. 441 § 1 KPK (siehe dazu im Anhang B Pkt. 2.) mit der Frage an das OG, ob die Anwendung des Art. 114 § 4 KK79 im Lichte des Art. 607s § 4 S. 2 KPK a. F.80 gegenüber einem polnischen Bürger ausgeschlossen ist, der auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ins Ausland ausgeliefert wurde und nach der Verurteilung wieder nach Polen zurückgekehrt ist. Für den Fall der Bejahung dieser Frage richtete das Gericht der zweiten Instanz noch die sich anschließende Frage an das OG, ob bei der Vollstreckung der umgesetzten Strafe in Polen auch die zusätzlichen Voraussetzungen berücksichtigt werden sollten, die im ausländischen Urteil bezüglich der Zulässigkeit der Gewährung einer vorzeitigen Entlassung festgelegt wurden. Das OG lehnte im Ergebnis die Möglichkeit einer Anwendung des Art. 114 § 4 KK ab und stellte fest, dass die im Ausland verhängte Strafe in dem vorliegenden Fall ohne Anpassung an die polnischen Strafandrohungen vollstreckt werden müsse. Dabei seien auch die vom ausländischen Gericht gestellten zusätzlichen Voraussetzungen bezüglich der Zulässigkeit der Gewährung einer vorzeitigen Entlassung zu berücksichtigen. Die vorliegende Untersuchung kann die vollständige Argumentation des OG nicht darstellen. Es reicht hier jedoch aus festzustellen, dass für diese Entscheidung vor allem die Anwendung der sprachlichen Auslegungsmethode maßgebend war. Im Vordergrund stand die Auslegung des Art. 607s § 4 S. 2 KPK a. F. Nach Ansicht des OG kann die Bedeutung dieser Vorschrift „keine Zweifel erwecken“. Es gebe – so das OG – keine Gründe, die die Annahme rechtfertigen könnten, dass diese Vorschrift einer einschränkenden Auslegung bedürfe, wenn die im Ausland verhängte Strafe die vom polnischen Strafrecht vorgesehene Strafandrohung überschreitet. Dafür spreche auch die Begründung zum Entwurf des Gesetzes, das den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl in das polnische Recht umgesetzt hat (historische Auslegungsmethode). Weder systematische noch verfassungsrechtliche Erwägungen vermögen nach der Ansicht des OG hier die Entscheidung zu ändern.

79 Wie oben gezeigt wurde, lässt Art. 114 § 4 KK i.V. m. Art. 661c § 2 KPK die Anpassung der im Ausland verhängten Strafen an die polnischen Strafandrohungen zu. 80 Art. 607s § 4 S. 2 KPK a. F. lautete: „Das Gericht ist hierbei an das Strafmaß der verhängten Sanktionen gebunden.“ Eigene Übersetzung.

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Stichwortverzeichnis Kursive Zahl – Verweis auf die ganze Texteinheit, die auf der genannten Seite mit einer Überschrift beginnt. Ablehnung eines Richters 278, 283, 306, 402, 427, 467 Absprache im Wettbewerb siehe Wettbewerbsbeeinträchtigung Absurdes Ergebnis siehe außergesetzliche Argumente – argumentum ad absurdum Akzeptanz durch den Gesetzgeber siehe außergesetzliche Argumente allgemeine Rechtsprinzipien 125, 144, 192, 194–195, 309, 407 Amtshaftung siehe Staatshaftung Amtsträger – Begriff 237, 369, 462 – Vorteilsannahme 342, 353, 400, 469, 477 Analogie – Abgrenzung von Auslegung siehe Auslegung – Verbot 129, 148 Fn. 13, 187, 191, 209, 229–230, 235 Analogie siehe Schlussfolgerungen – argumentum a simile Anonymzeuge 239 Apotheker (Prüfungspflicht) 397 Appellation (Form, Faxgerät) 244, 249 argumentum a fortiori siehe Schlussfolgerungen argumentum a maiore ad minus siehe Schlussfolgerungen argumentum a minore ad maius siehe Schlussfolgerungen argumentum e contrario siehe Schlussfolgerungen Ausländerrecht – Aufenthaltsgenehmigung 264, 314, 352

– Freiheitsentziehung 404 – unerlaubter Aufenthalt 264, 314, 352, 362 Auslegung – Abgrenzung von Analogie 131–133 – Abgrenzung von Rechtsfortbildung 125 – dynamische 190, 192, 197 – einschränkende 113, 125–126 – erweiternde 113, 131 – grundlegende 155, 246 Fn. 331, 246, 456 – Methoden siehe Auslegungsmethoden – objektive vs. subjektive 116, 137, 139–141 – sensu stricto/largo 124, 126, 412, 434, 436, 442 Auslegungsmethoden – funktionell siehe Auslegungsmethoden – teleologisch – historisch 76, 83, 105, 121, 374, 375, 479 – genetisch 82, 375, 380, 407 – Rangverhältnis einzelner Methoden 66, 75, 94, 96–97, 109, 116, 122, 128– 130, 159, 197, 229, 235, 240, 253, 262, 285, 324, 368, 387, 444 – rechtsvergleichend siehe Rechtsvergleichung – Reduktionismus 50, 143–144, 223, 443 – sprachlich 34, 64, 82–83, 87, 93, 95– 97, 105, 110, 115, 121, 143, 181, 191, 193, 204, 219, 249, 268, 287–288, 323, 359, 364, 433, 487 – Wörterbuch siehe Wörterbuch

Stichwortverzeichnis – systematisch 82–83, 87, 93, 95, 105, 111, 115, 121, 179, 194, 196, 206, 250–251, 258, 260, 262, 268, 287–288, 364, 405, 433, 445 – internationale Rechtsakte 263, 405, 446 – teleologisch 64, 82–83, 85, 87, 90, 93, 95, 105, 111, 115, 121, 181, 250–251, 258, 260, 268, 288, 346, 382, 390 – objektiv 34, 118, 135, 141, 346, 356, 363, 389, 393, 445 – subjektiv 118, 346, 347, 407, 445, 469 – teleologische Reduktion siehe dort – unionskonform 25, 82, 95, 196, 323 – verfassungskonform 78, 82, 84, 123, 194, 196 Auslieferung siehe Europäischer Haftbefehl Ausschließung eines Richters siehe Ablehnung eines Richters außergesetzliche Argumente – ad absurdum 217, 387 – Akzeptanz durch den Gesetzgeber 217 – außerrechtswissenschaftliches Fachwissen 217, 387, 407, 387 – Autorität 49, 55, 104–105, 190, 194, 196, 206, 207, 217, 265, 269 – Billigkeit 76, 217–218, 387 – Folgen der Entscheidung 76, 219, 386, 396, 407, 482 – Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 218, 295–296, 321, 414, 416 – Gerechtigkeit 49, 76, 103, 140, 212, 214, 320, 485 – Moral 189, 192, 197 – Praktikabilität 76, 84, 217, 250 – Praxis 218, 387 – Prozessökonomie 217, 328, 415 – Rationalität 196, 218, 387 – Rationalität des Gesetzgebers 116, 183–184, 193–194, 198, 217, 387, 389, 391–393, 407, 443 – Rechtssicherheit 76, 250, 399

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– Ressourcen der Justiz 217, 414 – Sicherheit der Bürger 295, 321, 414 – Vernunft 103, 127, 217–218, 387 – Wesen der Sache 387 – Zweckmäßigkeit 103, 431 Außerrechtswissenschaftliches Fachwissen siehe außergesetzliche Argumente Autorität siehe außergesetzliche Argumente Bande 67 Fn. 109, 279, 379, 384 Befangenheit siehe Ablehnung eines Richters Benachrichtigung über eine Gerichtsverhandlung 357 Beschleunigungsgrundsatz 210, 217, 319, 321, 324, 415, 445 Besetzung des Appellationsgerichts 181 Bestimmtheitsgrundsatz 209, 264, 302, 312, 319, 407, 445 Betäubungsmittel 227, 251, 264, 279, 287, 301, 315, 367, 378, 388, 460 Betrug – Vermögensverfügung 281 – Vermögensvorteil 403 Beweisverwertungsverbot 234, 299, 304, 322, 336, 338, 342, 401, 425, 481 Bild-Ton-Aufzeichnung 157, 398, 425 Billigkeit siehe außergesetzliche Argumente Bindungswirkung einer Entscheidung 290, 292 Bundesgerichtshof – Aufgaben 452, 458 – Geschäftsordnung 62, 147, 449 Bundesverfassungsgericht – Einfluss auf die ordentliche Gerichtsbarkeit 105, 190, 269, 289, 406, 469, 465 – Entscheidungen 126–127 clara non sunt interpretanda, Grundsatz 91, 109, 112, 119–120, 162, 168, 268

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Stichwortverzeichnis

Constitutional Standards siehe Standards (engl.) Demokratieprinzip 211, 332 derivative Theorie 108, 113, 114, 116, 120 Disziplinarverfahren – als Beleidigung 260 – gegen Richter 362 Einbruchsdiebstahl 287, 377, 393 Eindeutigkeit einer Vorschrift 161, 171– 172, 181, 220, 221, 223, 225, 227, 405, siehe auch clara non sunt interpretanda, Grundsatz Einheit des Rechts 24 einheitliche Begriffsauslegung siehe terminologische Konsequenz einheitliche Tat (Begriff) 242, 401 Einstellung des Verfahrens wegen Alters 427 Entfernen vom Unfallort siehe Unfallort Entfernung aus dem Sitzungssaal 378, 428, 437 Entziehung der Fahrerlaubnis 355, 371, 401 Entziehungsanstalt 229, 349 Erschleichen von elektronischen Leistungen 256, 359 erst-recht-Schluss siehe Schlussfolgerungen – a fortiori Ethos 77 Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der, Einfluss auf die ordentliche Gerichtsbarkeit 304, 306, 406 Europäische Gerichtshof, der, Einfluss auf die ordentliche Gerichtsbarkeit 30, 306, 406, 463 europäische Straftatbestände 23, 30, 444–445 Europäischer Haftbefehl 27, 485 exceptiones non sunt extendendae 184, 197, 444

Fahrverbot 182, 187, 240, 365 Fairness siehe Grundsatz des fairen Verfahrens Falschaussage 285, 431–434 Folgen der Entscheidung siehe außergesetzliche Argumente Formalismus siehe Rechtskultur – formalistisch Freiheitsanspruch 212, 407 Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen siehe außergesetzliche Argumente – Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege Gebot des rechtlichen Gehörs 478 Geldstrafe (Anrechnung, Freiheitsstrafe) 257, 394 Gerät (Begriff) siehe Erschleichen von elektronischen Leistungen Gerechtigkeit siehe außergesetzliche Argumente Gerichtsbarkeit – Deutschland 448 – Polen 450 Gesamtstrafe 222, 345, 366, 485 Gesamturteil 437 Geschädigter 402 Gesellschaft bürgerlichen Rechts 178– 179, 305, 358 Gesetzesbindung der Rechtsprechung 126–128, 140, 188 Gesetzespositivismus siehe Rechtspositivismus Gesetzgebungstechnik 179, 208, 307 Gewalt (Begriff, PL) 252, 303, 385 Gewaltenteilung 34, 126–127, 447 gewerbsmäßiges Handeln 242 Gleichheitsgrundsatz 210, 295, 321, 414 Grausamkeit – der Tötung (OG-Rspr.) 255 – des Mordes (BGH-Rspr.) 427 Grundsatz des fairen Verfahrens 209, 319, 321, 337, 407, 417, 445, 478

Stichwortverzeichnis Handlungsnorm siehe Rechtsnorm In dubio pro reo, Grundsatz 192, 213 interpretatio cessat in claris, Grundsatz siehe clara non sunt interpretanda, Grundsatz interpretatio extensiva siehe Auslegung – erweiternde interpretatio restrictiva siehe Auslegung – einschränkende judicial activism 36, 140, 442 Jugendstrafrecht – Hauptverhandlung (Eröffnung) 474 – Jugendkammer (Besetzung) 474 – Jugendstrafe (BGH-Rspr.) 344, 485 – Jugendstrafe (OG-Rspr.) 360, 431 juristische Personen (strafrechtliche Verantwortlichkeit) 179, 306 juristischer Syllogismus 37, 50 Justizvollzugsanstalt 369, 476 Kartellordnungswidrigkeiten siehe Verjährung Kassation 329, 360, 434–435, 454, 457– 458 Kausalität (Fahrlässigkeitstaten) 279 klärende Theorie 108, 109, 114, 116 Klarheit einer Vorschrift siehe Eindeutigkeit einer Vorschrift Komparatistik siehe Rechtsvergleichung Kontinuität der Rechtsprechung 274 Körperverletzung 464 – Einwilligung 189, 313 Kriegszustand (PL) 345–346 Legaldefinition 87, 115, 178, 221 Lege non distinguente, nec nostrum est distinguere 181, 197, 444 Lex mitior agit, Grundsatz 208, 308 lex non clara est siehe clara non sunt interpretanda, Grundsatz Lex posterior derogat legi priori, Grundsatz 208, 308

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lex retro non agit siehe Rückwirkungsverbot Lex specialis derogat legi generali siehe Spezialität einer Vorschrift Liberalismus vs. Paternalismus 79 Literatur – dogmatische 265, 406 – methodische 266–269, 406 Logos 77 Maßregeln der Besserung und Sicherung 130–131, 230, 237, 326 – Entziehung der Fahrerlaubnis siehe dort – Entziehungsanstalt siehe dort – psychiatrische Anstalt (PL) siehe dort – psychiatrisches Krankenhaus siehe dort – Sicherungsverwahrung siehe dort materielle Wahrheit, Grundsatz 215, 439 Menschenwürde 210, 318–319, 466 Missbrauchsverbot im Strafprozess 429 Moral siehe außergesetzliche Argumente Ne bis in idem, Grundsatz 211 nemo tenetur se ipsum accusare, Grundsatz 214, 286, 344, 432 nemo tenetur se ipsum prodere, Grundsatz siehe nemo tenetur se ipsum accusare new textualism 104 nulla poena/nullum crimen, Grundsätze 128, 209, 212, 215 Oberste Gericht (PL), das – Aufgaben 454, 458 – Geschäftsordnung 62, 147, 451 öffentlicher Verkehrsraum (Begriff) 242 Paternalismus siehe Liberalismus vs. Paternalismus Pathos 77 per non est 183, 196–197, 391–393, 444 Pflichtverteidiger 224, 339

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Stichwortverzeichnis

Präjudiz 101, 278, 284, 406, 444, 453 Praktikabilität siehe außergesetzliche Argumente Protokollverlesung 393, 438 Prozessökonomie siehe außergesetzliche Argumente psychiatrische Anstalt (PL) 360, 430 psychiatrisches Krankenhaus 334, 448– 449 Rationalität siehe außergesetzliche Argumente Rationalität des Gesetzgebers siehe außergesetzliche Argumente Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer 180, 348 Rauferei siehe Schlägerei Recht auf den gesetzlichen Richter 157, 211, 215, 467 Recht auf Verteidigung 214, 285–286, 322, 432 rechtliches Gehör 213, 407, 445 Rechtsbeschwerde (Frist) 399, 468 Rechtsfortbildung 123, 138, 140, 157, 185, 187–188, 197, 285, 296, 325–326, 328–330, 340, 408, 411, 446, 453, 459 – Begriff 411–412 – Verbot (PL) 123–125, 188, 408, 412, 430, 441 Rechtskultur – formalistisch 48–51, 53–54, 62, 89, 99, 103, 105, 135, 139, 144, 159, 172, 177, 189, 192, 197–198, 200, 202 Fn. 190, 405–406, 408, 443–444, 447 – substantiell siehe Rechtskultur – wertorientiert – wertorientiert 48–51, 53–55, 62, 86, 103, 105, 159, 177, 190, 192, 198, 200, 346, 374, 386, 407–408, 443, 445 Rechtsnorm 114, 118 Rechtspositivismus 55, 126, 140, 156, 175, 188 Rechtsprinzip siehe allgemeine Rechtsprinzipien

Rechtssicherheit 54, 59, 214, 319, 469, siehe außergesetzliche Argumente Rechtsstaatsprinzip 168, 212, 295, 316, 321, 407, 445 Rechtsvergleichung 29, 37, 40, 45, 46, 82, 97 Reisekosten, Rückerstattung 225 Ressourcen der Justiz siehe außergesetzliche Argumente Restriktion, restriktive Auslegung siehe Auslegung – einschränkende Revision 250 Fn. 352, 452, 458, 461, 479 Rückwirkungsverbot 211, 274, 298, 317, 319, 323, 345–346, 468 sachlicher Gewinn siehe Wettspiel Schlägerei 259, 364 Schlussfolgerungen 446 – a fortiori 126, 436–441 – a maiore ad minus 125, 412, 436–439 – a minore ad maius 125, 412, 440 – a simile 125–126, 229, 412 – ad absurdum siehe außergesetzliche Argumente – e contrario 125–126, 412, 434, 439 Schöffe, zulässiges Alter 223 Schuldangemessenheit des Strafens 320– 321, 328, 415, 417, 419 Schuldfähigkeit (Verminderung) 470 Schuldgrundsatz 212, 417 seelische Abartigkeit 388–389, 460 Selbstreferenzen 270, 406, 444, 460 sens-clair-doctrine siehe clara non sunt interpretanda, Grundsatz sexuelle Handlungen 161, 228, 232–233, 380, 482–483 Sicherheit der Bürger siehe außergesetzliche Argumente Sicherungsverwahrung 234, 236, 243, 297, 317–318, 334, 353, 355, 383–384, 397, 422–425, 448–449, 465, 472, 478, 484 Soraya-Beschluss 64, 126

Stichwortverzeichnis Sozialforschung 41, 46–47 Speichelprobe 343, 466 Spezialität einer Vorschrift 189, 208, 308 Staatshaftung 210 Standards (engl.) – Constitutional Standards 88 – Standards External to law 88 – Standards from European law 88 – Standards Internal to law 88 Steuerstrafrecht – Selbstanzeige 372, 464 – Steuerhinterziehung 372, 400, 464 – verantwortliche Subjekte siehe Gesellschaft bürgerlichen Rechts Störung der Totenruhe 466, 478 Strafzumessung (Gesetzesverletzung) 230, 350 Substantialismus siehe Rechtskultur – wertorientiert supranationaler (Straf)tatbestand siehe europäischer (Straf)tatbestand Telekommunikationsüberwachung 304, 320, 329, 336, 401 teleologische Reduktion 125–126, 190 terminologische Konsequenz 177, 358, 392–393, 444 Tomczak, Rechtssache 33, 485 Topos (Begriff) 55, 61 Trennscheibe (Strafvollzug) 335, 480 Umkehrschluss siehe Schlussfolgerungen – e contrario unerlaubte Einreise siehe Ausländerrecht – unerlaubter Aufenthalt Unfallort 79, 136 Unmittelbarkeitsgrundsatz 439 Unschuldsvermutung 213–214 Unterschrift (Begriff, Strafprozessrecht) 244, 249 Untersuchungshaft – Entschädigung 186, 361, 395, 397 – gegen einen Richter 226

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– gegen Unschuldige 322 – Verfahrensverzögerung 327 – Vorführung in die Hauptverhandlung siehe dort Unverletzlichkeit der Wohnung 166, 215 Unzuständigkeit des Gerichts (Beschwerde) 226 Urteilsabsprache 188, 272, 294, 320– 321, 328, 413–421, 461 Verbot der Rechts(neu)schöpfung siehe Rechtsfortbildung – Verbot (PL) Verbot synonymischer Auslegung 180 Vereidigung 228, 378 Vereinigung, strafbare 243 Verfahrensverzögerung 325, 327, 330– 331, 435, 457 Verfall vom Wertersatz 282 Verfassungsbeschwerde 290 Verfassungsgericht (PL) – Einfluss auf die ordentliche Gerichtsbarkeit 92, 94, 105, 194, 196, 269, 289, 406 – Entscheidungen 123 verfassungsrechtliche Grundsätze 144, 192, 194 verfassungsrechtliche Rechtsgrundsätze 309, 407 Verhältnismäßigkeitsprinzip 194–195, 211, 230, 331, 407, 445 Verjährung 239, 479 – Kartellordnungswidrigkeiten 350, 475 Verlässlichkeit der Rechtsordnung 318– 319, 422 Vermögen (Begriff) 377 Vermutung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm 193–194, 390 Vernunft siehe außergesetzliche Argumente Versuch 245, 253, 288 Vertrauensschutzgebot 211, 317, 319, 407, 422, 445, 465 Vorführung in die Hauptverhandlung 357, 436

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Stichwortverzeichnis

vorläufige Festnahme, Entschädigung 308 Waffe 136 Wechsel in blanco 244 Wettbewerbsbeeinträchtigung 381 Wettspiel 359 widerrechtlicher Aufenthalt siehe Ausländerrecht – unerlaubter Aufenthalt Wiederaufnahme eines Verfahrens 330 Wohnraumüberwachung 234, 299, 342, 481

Wohnung (Begriff) 234, 300 Wörterbuch 83, 115, 220, 247, 249, 364, 405, 444 Zeugniserzwingungshaft 335 Zeugnisverweigerungsrecht 157, 162, 298, 373, 480 Zustellung 182 – Beginn einer Rechtsmittelfrist siehe Rechtsbeschwerde (Frist) Zweckmäßigkeit siehe außergesetzliche Argumente