Deutsche Familienromane: Literarische Genealogien und internationaler Kontext 3770550021, 9783770550029

Als eine der populärsten literarischen Gattungen der letzten Jahre hat der Familienroman verschiedene Interpretationen a

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Table of contents :
DEUTSCHE FAMILIENROMANE: Literarische Genealogien und internationaler Kontext
Inhaltsverzeichnis
Chronotopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman
1. PAPIERGEBILDE
Die Aufgabe der Familie / das Ende der Moderne: Eine kleine Geschichte des Familienromans
Familienbegriffe und Begriffsfamilien: Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs und Friedrich Nietzsches Kritik der Vererbung
Papiergebilde. Familie, Roman und Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs
Die Wiederkehr der Merowinger. Heimito von Doderers Roman über eine „totale Familie“
Kaiserhofstraße 12 und Die Buchsweilers. Valentin Sengers Familiengeschichten zwischen Realität und Fiktion
2. BUDDENBROOKS-SYNDROM
Vom Roman zu Film und Doku-Fiktion sowie retour. Die Buddenbrooks und Die Manns
„Du solltest im ‚Familienton‘ schreiben“: Walter Kempowskis Deutsche Chronik
Filmische Familiensagas: zu Francis Ford Coppolas The Godfather und zu Edgar Reitz’ Heimat
Die Macht der Familie. Ökonomische Diskurse in Familienromanen
Familienkatastrophen. Über die Erzählfigur des Familienfestes in der Gegenwartsliteratur
3. FAMILY PLOTS
Ausschau halten nach den Toten. Marcel Beyers Spurensuche im Feld der Familie
Family Plots. Literarische Strategien dokumentarischen Erzählens
Erdachte Nähe und wirkliche Ferne. Fiktion und Dokument im neuen deutschen Familienroman
4. SIPPENHAFT
Endstation Seniorenheim. Die Thematisierung des Alters im deutschsprachigen Familienroman der Gegenwartsliteratur
Kontinuität und Bruch der Genealogie. Die Inszenierung archaischer Familienstrukturen im Roman der ‚Migranten‘
Sippenhaft: Amerikanische Familienromane der Gegenwart zwischen Gattungsdiskurs und Sozialreferenz
Der Familienroman im Nicht-Familienroman. Beobachtungen an Jonathan Littells Die Wohlgesinnten und Dietmar Daths Waffenwetter
AUF DER SUCHE NACH EINEM FAMILIENROMAN
Berlin Isle de Memoire: Mediale Spuren einer Geschichte auf der Suche nach ihrem Familienroman
Personenregister
Bio-Bibliographische Notiz
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Deutsche Familienromane: Literarische Genealogien und internationaler Kontext
 3770550021, 9783770550029

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Costagli, Galli (Hrsg.) DEUTSCHE FAMILIENROMANE

Simone Costagli, Matteo Galli (Hrsg.)

DEUTSCHE FAMILIENROMANE Literarische Genealogien und internationaler Kontext

Wilhelm Fink

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2010 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5002-9

Inhaltsverzeichnis Matteo Galli/Simone Costagli Chronotopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman......................

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1. PAPIERGEBILDE Mark M. Anderson Die Aufgabe der Familie / das Ende der Moderne: Eine kleine Geschichte des Familienromans...................................................................................... 23   Stefania Sbarra Familienbegriffe und Begriffsfamilien: Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs und Friedrich Nietzsches Kritik der Vererbung ................. 35   Britta Herrmann Papiergebilde. Familie, Roman und Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs ............................................................................................. 47   Stefan Willer Die Wiederkehr der Merowinger. Heimito von Doderers Roman über eine „totale Familie“............................................................................. 59   Elena Agazzi Kaiserhofstraße 12 und Die Buchsweilers. Valentin Sengers Familiengeschichten zwischen Realität und Fiktion .................................... 71  

2. BUDDENBROOKS-SYNDROM Heinz-Peter Preußer Vom Roman zu Film und Doku-Fiktion sowie retour. Die Buddenbrooks und Die Manns ............................................................................................. 85   Raul Calzoni „Du solltest im ‚Familienton‘ schreiben“: Walter Kempowskis Deutsche Chronik ......................................................................................... 97   Matteo Galli Filmische Familiensagas: zu Francis Ford Coppolas The Godfather und zu Edgar Reitz’ Heimat ......................................................................... 109   Viviana Chilese Die Macht der Familie. Ökonomische Diskurse in Familienromanen ......... 121   5

INHALTSVERZEICHNIS

Friedhelm Marx Familienkatastrophen. Über die Erzählfigur des Familienfestes in der Gegenwartsliteratur ............................................................................ 131  

3. FAMILY PLOTS Norbert Otto Eke Ausschau halten nach den Toten. Marcel Beyers Spurensuche im Feld der Familie.................................................................................................... 145   Simone Costagli Family Plots. Literarische Strategien dokumentarischen Erzählens ............ 157   Gerhard Friedrich Erdachte Nähe und wirkliche Ferne. Fiktion und Dokument im neuen deutschen Familienroman............................................................. 169  

4. SIPPENHAFT Petra Brunnhuber Endstation Seniorenheim. Die Thematisierung des Alters im deutschsprachigen Familienroman der Gegenwartsliteratur................... 183   Martin Hielscher Kontinuität und Bruch der Genealogie. Die Inszenierung archaischer Familienstrukturen im Roman der ‚Migranten‘ ........................ 195   Jörg Thomas Richter Sippenhaft: Amerikanische Familienromane der Gegenwart zwischen Gattungsdiskurs und Sozialreferenz ............................................. 207   Moritz Baßler Der Familienroman im Nicht-Familienroman. Beobachtungen an Jonathan Littells Die Wohlgesinnten und Dietmar Daths Waffenwetter ..................... 219  

AUF DER SUCHE NACH EINEM FAMILIENROMAN Thomas Elsaesser Berlin Isle de Memoire: Mediale Spuren einer Geschichte auf der Suche nach ihrem Familienroman........................................................................... 233   Personenregister ........................................................................................... 251 Bio-Bibliographische Notiz.......................................................................... 260 6

MATTEO GALLI / SIMONE COSTAGLI

Chronotopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman Obwohl der Familienroman als eine der populärsten literarischen Gattungen der letzten Jahre betrachtet werden kann, ist der Terminus kein in der Literaturwissenschaft allzu festgelegter Begriff. Schaut man literaturwissenschaftliche Lexika an, so ist angesichts der heutigen Popularität erstaunlich, dass der Terminus in ihnen nicht immer verzeichnet ist, wie es etwa bei anderen Begriffen, wie ‚Bildungsroman‘ oder ‚Künstlerroman‘ der Fall ist. Noch bezeichnender ist die Tatsache, dass dieser eher in älteren Nachschlagewerken auftritt, als wäre der fragile Begriff ‚Familienroman‘ eine Zeit lang aus der Mode des literaturwissenschaftlichen Diskurses geraten, um dann Anfang des letzten Jahrzehnts doch wieder aufgenommen zu werden. Fragt man dann nach der in diesen Lexika dargestellten Bedeutung der Gattungsbezeichnung ‚Familienroman‘, findet man sehr allgemeine Definitionen, die sich bei einer genauen Kategorisierung der Texte als nicht sehr hilfreich erweisen. Es fehlen Hinweise auf genretypische Erzählstrukturen, die durch Ein- und Ausschlussmechanismen über die Gattungszugehörigkeit eines Textes entscheiden können. In Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur (1955) sind Familienromane als Romane definiert, die „stofflich im Problemkreis des bürgerlichen und adeligen Familienlebens, den Konflikten und Bindungen des Zusammenlebens, im weiteren Sinne auch noch der Generationen und der Ehe“ angesiedelt sind. Weist diese Definition auf ein sehr breites Feld hin, dann wirkt sie noch verschwommener, wenn hinzufügt wird, dass der Familienroman sich „selten nur in dieser thematischen Begrenzung“ darbietet, und dass „meist andere umgreifendere Fragen [hinein]spielen“. Kurz skizziert wird eine knappe Gattungsgeschichte, die mit den Briefromanen Richardsons beginnt, und in der die Eheromane Tolstois, Flauberts und Fontanes zusammen mit anderen trivialliterarischen Beispielen in eine Reihe gestellt werden. Der Artikel schließt mit der Bemerkung, dass der Generationenroman (u. a. Zolas Rougon-Macquart und Thomas Manns Buddenbrooks) „eine neue Form“ bilde.1 Der sehr knappe Artikel – weniger als eine Spalte – in Hermann Pongs Kleinem Lexikon der Weltliteratur stellt eine sozialgeschichtliche Entwicklung der Gattung dar. Der Familienroman entstehe im 16. Jahrhundert als „Spiegel ausgereifter Familienkultur“. Mit der Verfestigung der bürgerlichen Lebensform werde „die richtige Heirat“ zum Gegenstand zahlreicher literarischer Werke, unter denen sich insbesondere Richardsons empfindsame Romane 1

Sachwörterbuch der Literatur, hg. v. Gero von Wilpert, Stuttgart, 1955, Stichwort: „Familienroman“, S. 176.

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CHRONOTOPOI

hervorheben würden. Die Untergattung ‚Eheroman‘ (einige hier angeführte Beispiele sind etwa Stifters Nachsommer und Fontanes Unwiederbringlich) sei „eine besondere Inkarnation des Familienromans“ für das 19. Jahrhundert, bis dieser vom „Stammbaum- oder Geschlechterroman“ ersetzt werde, der „seine Ursprünge im Sagastil“ habe, zu denen Zolas Rougon-Macquart, Stifters Witiko und Gustav Freytags Die Ahnen gehörten. Mit den Buddenbrooks erfolge die „Einbegrenzung auf eine Familie“, welche auch das englische Gegenstück The Forsyte-Saga von John Galsworthy charakterisiere.2 Ähnliche Definitionen und Entwicklungslinien präsentiert das von Claus Träger herausgegebene Wörterbuch der Literaturwissenschaft von einem marxistischen Standpunkt aus: „seiner urspr. begrenzten Anlage [des Familienlebens] ungeachtet“, vermöge der Familienroman „in seinen bedeutenden Beispielen mit den Konflikten einer Familie zugleich eine weitergesteckte Thematik oder Problematik zu erfassen“. Sein Ursprung wird nochmals auf die Romane Richardsons zurückgeführt. Um 1800 werde der Familienroman vom Entwicklungsroman und Gesellschaftsroman verdrängt und überlebe nur in der Trivialliteratur. Zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert avanciere das Genre mit (bereits genannten) Werken wie Anna Karenina, Les Rougon-Macquart oder Die Buddenbrooks wieder „zum Medium sozialkrit. Gestaltung von Epochenproblemen“.3 In sämtlichen Lexikonartikeln bleibt zwar eine Reduzierung auf wenige, klare Charakteristika aus, doch ergeben sich einige Leitfäden für eine Gattungstypologie. An der Fülle der möglichen Gattungsbeispiele ist ‚Familie‘ erstens als einer der wichtigsten Topoi in der Geschichte des modernen Romans zu erkennen, was zumindest auf eine direkte zeitliche Verbindung zwischen modernem ‚Roman‘ und bürgerlicher ‚Familie‘ hinweist.4 Diese Fülle jedoch ist thematisch nicht weiter präzisiert, denn es wird mehrmals ausdrücklich auf die sehr unterschiedlichen Themenkomplexe aufmerksam gemacht, die in den Familienromanen angesprochen werden können. An diesem Mangel an Fokussierung liegt es möglicherweise, dass sich der Begriff weniger als andere Untergattungen (Bildungs-, Künstler-, Entwicklungsroman) im literaturwissenschaftlichen Diskurs etabliert hat. Ein zweites wichtiges Ergebnis ist die Unterscheidung zwischen ‚Familienroman‘ und ‚Generationenroman‘.Ersterer kann als allgemeine Bezeichnung für Texte mit Handlungsfokus innerhalb einer Familie gelten, während der zweite Romane betrifft, die chro2 3 4

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Das kleine Lexikon der Weltliteratur, hg. v. Hermann Pongs, Stuttgart, 1964, Stichwort: „Familienroman“, S. 452 f. Klingenberg, A., Träger, C., „Familienroman“, in: Wörterbuch der Literaturwissenschaft, hg. v. Claus Träger, Leipzig, 1986, S. 158. So zum Beispiel Tony Tanner, der jedoch vor einem einseitigen Determinismus warnt, den aus dieser Verbindung abgeleitet werden könnte. Tanner bemerkt auf jeden Fall, dass „the rise of the novel and the emergence of what we call the modern family are approximately coeval and clearly exerted some kind of reciprocal influence on each other.“ (Tanner, Tony, Adultery in the Novel. Contract and Transgression, Baltimore/London, 1979, S. 368).

CHRONOTOPOI

nologisch mehrere Generationen umfassen. Es sei nebenbei angemerkt, dass gerade die dieser zweiten Bezeichnung entsprechenden Texte oft als die Familienromane schlechthin angesehen werden.5 Zieht man die oben angeführten literaturtheoretischen Ausführungen in Betracht, könnte man in Bezug auf die neuen Familienromane nicht nur von einer Renaissance sondern von einer Neuentdeckung (oder sogar von einer Neuerfindung) des Begriffs sprechen. Die Schweigephase, in der der Terminus aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden war, hat wohl zu manchen Unterschieden zwischen dem älteren und dem heutigen Verständnis des Wortes geführt. Problematisch ist der Bezug auf die Lexika, weil in der Forschung über die neuen Familienromane literaturtheoretische Überlegungen eine marginale Rolle spielen, denn ihre Haupttendenzen haben überwiegend eine von soziologischen bzw. kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden geprägte Interpretationslinie verfolgt. Trotzdem lässt sich feststellen, dass der in der Forschung dominante Gattungsbegriff sich nicht völlig mit demjenigen deckt, den die Lexika vor Augen führen. Die oben genannte Trennung zwischen Familien- und Generationenromanen spielt noch eine Rolle, jedoch scheint der erste Begriff vom zweiten überschattet zu sein. Spätestens im Frühjahr 2003 wurde die Rückkehrtendenz zum Thema ‚Familie‘ in der deutschen Belletristik endgültig festgestellt. Volker Hage gruppiert in einem Artikel im Spiegel einige Werke der vergangenen Monate um das gemeinsame Thema der „Versuche mehrerer Autoren, die Kriegserfahrungen der Großeltern neu aufzuarbeiten“.6 Auf die Gattungsbezeichnung wird in der Besprechung von Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land hingewiesen. Der Autor führe den Leser mit dem Etikett ‚Familienroman‘ „ein wenig in die Irre, da er den Begriff im Sinne von Sigmund Freud versteht, der 1909 in seinem Essay vom ‚Familienroman der Neurotiker‘ sprach“.7 Fast gleichzeitig mit Hages Artikel stellt Ursula März anhand von (noch einmal) Stephan 5

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Es sei beispielsweise auf die Studie von Yi-ling Ru The Family Novel. Toward a Generic Definition hingewiesen. Was die amerikanische Literaturwissenschaftlerin unter family novel versteht, könnte man ebenfalls Generationenroman nennen. Das zeigt sich sowohl an der Auswahl der behandelten Texte, als auch am ersten der vier ausschlaggebenden Kriterien, welche die Zugehörigkeit eines Textes zur family novel entscheiden sollen: „The family novel as a whole is best defined in terms of its four distinguishing characteristics: first, it deals realistically with a family’s evolution through several generations; second, family rites play an important role and are faithfully recreated in both their familial and communal contexts; third, the primary theme of the novel always focuses on the decline of a family; and fourth, such a novel has a peculiar narrative form which is woven vertically along the chronological order through time and horizontally among the family relationships.“ (Ru, Yi-Ling, The Family Novel. Toward a Generic Definition, New York, 1992, S. 2). Ru räumt zwar ein, dass Familie schon immer ein zentrales Motiv der Literatur sei; jedoch lässt sich ihrer Meinung nach von true family novel nur dann sprechen, wenn diese vier Charakteristika vorhanden sind (ebd., S. 3). Hage, Volker, „Die Enkel wollen es wissen“, in: Der Spiegel, 12/2003, S. 170. Ebd.

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CHRONOTOPOI

Wackwitz und Simon Werle in der Zeit die Renaissance des „klassische[n] Genre[s] des Familienromans“ fest: Obwohl dem Begriff „etwas leicht Braves, Geschichtströstliches, der Geschmack gemütlicher Fernsehabende, kurzum etwas Anachronistisches“ anhafte, kehre dieses Genre „unverwüstlich [...] seit der Bibel und Homer immer wieder zur Literatur zurück“.8 In diesen Artikeln zeichnen sich zwei Möglichkeiten für die Behandlung vieler Neuerscheinungen ab, die in familiärem Milieu spielen. Hages Schwerpunkt liegt in der Analyse ihres gemeinsamen Themas, das in der Konfrontation der jüngeren Generationen mit ihren Großeltern bzw. Eltern besteht. Im Mittelpunkt steht die problematische Frage nach den Verwicklungen von Familienangehörigen in dunkle Aspekte der deutschen Geschichte. Ohne Frage zielt Hages Hinweis auf Freuds Familienroman – der in Wackwitz’ Text tatsächlich auftaucht – darauf ab, das Phänomen als Reflex des traumatischen Verhältnisses zwischen den Generationen zu interpretieren, und also diese Texte im Hinblick auf die für die Autoren generationsspezifischen psychologischen Implikationen zu lesen. Ganz anders ist März’ Ausgangspunkt, der sich auf gattungsgeschichtliche sowie gattungstypologische Aspekte konzentriert. Damit wird auf eine Kontinuität hingewiesen, die Tolstoi und Thomas Mann mit Jonathan Franzen und Péter Esterházy verbindet.9 Was sich über Jahrhunderte und Kontinente selbst treu bleibt, ist das „Hauptprinzip“ des Genres, „das Erzählen entlang einer Generationenfolge, die Auslegung des familiären Mikrokosmos als Fallbeispiel historischer Zeitgeschichte“.10 März führt ihre literaturanalytischen Erwägungen fort, indem sie exemplarisch zwei zeitgenössische Variationen dieses Hauptprinzips vergleicht. Simon Werles Der Schnee der Jahre wirke traditionell mit seiner klassisch linearen, vier Generationen umspannenden Chronologie; dieser Form sei Ein unsichtbares Land durch seine „assoziative Sprunghaftigkeit, Überlagerung historischer Zeitebenen, Exkurse in verschiedenste Richtungen, Montage verschiedenen Materials“ eher fremd.11 Ein Blick auf die bald darauf entstandene wissenschaftliche Analyse zeigt, wie diese Hages Standpunkt weitergeführt hat. Die Texte werden vor allem in den Kontext der Diskussion über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gestellt, und als Dokumente über die Umstrukturierung des kollektiven Gedächtnisses im familiären Archiv gelesen. Den Auftakt in dieser Richtung gab nicht ein Literaturwissenschaftler sondern der Hauptexperte in Sachen Familiengedächtnis Harald Welzer, der Ulla Hahns Unscharfe Bilder, Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land, Reinhard Jirgls Die Unvollendeten, Tanja Dückers’ Himmelskörper – kurzum den Kanon des neuen deutschen Familienromans – in einem Essay analysierte, der von den Grundannahmen ausgeht, dass „in der Sphäre privaten Erinnerns 8 9 10 11

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März, Ursula, „Erforschen oder Nacherzählen“, in: Die Zeit, 19/2003. Ebd. Ebd. Ebd.

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ein ganz anderes Bild von der Vergangenheit gepflegt wird als im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik“, und dass sich ein „Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik ankündigt“.12 Welzer bemerkt, dass beide Aspekte bereits im vorigen Jahrzehnt mit der Goldhagen-Debatte und mit der Veröffentlichung von Bernhard Schlinks Der Vorleser auftauchten.13 Letzteres ist im Zusammenhang mit den Familienromanen insofern signifikant, als das Buch auf eine Versöhnung abziele, „in der die 68er ihren Frieden mit der Tätergeneration schließen, weil sie nicht nur deren schuldhafte Verstrickung, sondern auch ihr ernsthaftes Bemühen anerkennen, aus der durch sie verantworteten Geschichte zu lernen“.14 Dieses Motiv, das bei Schlink als Liebesgeschichte getarnt vorkommt, prägt – gewiss mit unterschiedlichen Schattierungen – ebenfalls die Familien- und Generationenromane. Am auffälligsten ist das bei Ulla Hahns Unscharfe Bilder festzustellen, das als ein „Plädoyer“ dafür gelesen wird, „die Täter endlich in Frieden zu lassen“ und als einen „Akt nachholender Überidentifikation mit ihren Eltern und Großeltern“ der 68er-Generation.15 Mit Welzers Essay ist nicht nur der Interpretationsschlüssel für diese Texte gegeben, welche weiterhin in Verbindung mit dem zeitgenössischen deutschen Erinnerungsdiskurs gebracht werden.16 Ebenfalls verwendet man dieselbe, an psychologische, juristische bzw. soziologische Konzepte wie ‚Trauma‘, ‚Täter/Opfer‘ und ‚Generationen‘ orientierte Terminologie. Überall bezieht man sich auf den zwischen den Gebieten der Psychologie, der Historiografie, der Soziologie und der Literatur quer angelegten Gedächtnisdiskurs. Bereits 2005 lag die erste umfangreiche wissenschaftliche Analyse Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende von Friederike Eigler vor, welche auf dieselben Kategorien wie Welzer rekurriert. Aufgrund der zeitlichen Nähe kann man wohl nicht von einem direkten Einfluss sprechen, obwohl Eigler sich zwar in der Einleitung auf Welzers, Mollers und Tschug-

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Welzer, Harald, „Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane“, in: Literatur. Beilage zu Mittelweg 36, Nr. 1, 2004, S. 53 f. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 56. Nicht so deutlich präsentiert sich solche Versöhnung bei Uwe Timm, denn eine komplette Identifikation mit dem in die Gräuel des Nationalsozialismus verstrickten Bruder findet nach Welzer nicht statt: Trotz der „Annäherung an jene wenigen Fragmente, die der im Krieg gefallene Bruder hinterlassen hat“, könne er „sich eines moralischen Urteils nicht enthalten“, was das Buch „inkompatibel mit dem neuen deutschen Opferdiskurs“ mache. (ebd., S. 59). Vgl. Fiedler, Matthias, „Das Schweigen der Männer. Geschichte als Familiengeschichte in autobiographischen Texten von Dagmar Leupold, Stephan Wackwitz und Uwe Timm“, in: Merkur, 53 (2007), S. 5.: „[...] Bildet doch das anstehende oder bereits erfolgte Ableben eines – zumeist männlichen – Familienmitgliedes, das über den Nationalsozialismus als Zeitzeuge Rechenschaft geben könnte, häufig das stille Zentrum dieser Familienerzählungen. Damit stehen diese Texte in einem engen, wenngleich mehrstelligen Bezug zum aktuellen Erinnerungsdiskurs über die nationalsozialistische Vergangenheit in Deutschland.“

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CHRONOTOPOI

gnalls Studie über das familiäre Gedächtnis Opa war kein Nazi bezieht.17 Eigler setzt sich jedenfalls mit einer ganz anderen Textauswahl auseinander, welcher nur Ein unsichtbares Land mit der Welzers gemeinsam ist. Gewiss zählt zu den Verdiensten Eiglers, dass sie sich auch auf Gattungsbeispiele des vorigen Jahrzehnts konzentriert, mit denen die Renaissance der Familienromane rückdatierbar ist. Über die hermeneutischen Kategorien kann man auch in ihrem Fall sagen, dass sie überwiegend gesellschaftlichen sowie kulturwissenschaftlichen Ansätzen verpflichtet sind, wie bereits ein Blick auf die zwei einleitenden Kapitel zeigt. Eigler beruft sich in ihrer Einführung auf Ansgar Nünnings Theorie des „metahistorischen Romans“, wenn sie die nachfolgend untersuchten Texte von einem gattungstypologischen Standpunkt aus definiert.18 Weitere Artikel und Essays sind in die oben genannte Kontextualisierung des zeitgenössischen deutschen Erinnerungsdiskurses einzuordnen, indem sie den Standpunkt von Hages Artikel variieren und weiterführen.19 Als Haupttendenz der zuletzt veröffentlichten Analysen ist der Rekurs auf die heutzutage ebenfalls sehr populäre Generationenforschung anzusehen. Diese neigt sogar dazu, den ganzen Komplex ‚Familienroman‘ wissenschaftlich zu besetzen. In den Büchern von Aleida Assmann und Sigrid Weigel werden Familien- und Generationenromane als Teile für den ganzen Kontext des ‚Problems der Generationen‘ behandelt. Weigel widmet den Familienromanen ein Kapitel ihrer 17 18

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Vgl. Eigler, Friederike, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin, 2005, S. 22-24. Im ersten Kapitel setzt sich Eigler mit dem Problem der öffentlichen und privaten Erinnerung an Nazionalsozialismus und DDR in den 90er Jahren in Deutschland auseinander; im zweiten Kapitel diskutiert die Autorin verschiedene Modelle der Gedächtnisforschung: Assmanns „kulturelles Gedächtnis“, Pierre Noras „Erinnerungsorte“ und das u. a. von Vittoria Borsò untersuchte Verhältnis zwischen „Medialität und Gedächtnis“. Das kann sowohl für Gesamtanalysen des Phänomens als auch für Einzelanalysen der Werke gelten. Vgl. Rossbacher, Brigitta, „Cultural Memory and Family Stories. Uwe Timm’s Am Beispiel meines Bruders“, in: Gegenwartsliteratur, 4/2005, S. 238-258; Schumann, Caroline, „A Third-Generation World War II Narrative: Tanja Dückers Himmelskörper“, in: Gegenwartsliteratur 4/2005, S. 259-270 Fuchs, Anne, „From ‚Vergangenheitsbewältigung‘ to postwar memory contexts in Günter Grass, Monika Maron und Uwe Timm“, in: German Life and Letters, 2/2006, S. 169-186; Fiedler, Matthias, „Das Schweigen der Männer“, a.a.O.; Friedrich, Gerhard, „Opfererinnerung nach der deutschen Vereinigung als ‚Familienroman‘“, in Gedächtnis und Identität: die deutsche Literatur nach der Vereinigung, hg. v. Fabrizio Cambi, Würzburg, 2008, S. 205-222. Auch wenn nicht alle Analysen die Begriffe ‚Familienroman‘ oder ‚Generationenroman‘ einführen, zählen sie doch zu den Forschungsergebnissen über das Thema, denn sie verweisen auf den ihnen gemeinsamen familiären Zusammenhang. Vgl. zum Beispiel Fuchs, Anne, „ From ‚Vergangenheitsbewältigung‘ to postwar memory contexts“, a.a.O., S. 181: „All three works are highly self-reflexive in that they explore the complex cross-switching of history and memory, memory and narrativity and memory and trauma on a metatextual level. Maron’s opening reflection ‚warum jetzt, warum erst jetzt, warum jetzt noch‘ (PB 7) is echoed in Grass’s first sentence: ‚Warum erst jetzt‘, sagte jemand, der nicht ich bin‘ (IK 7). ‚Why now?‘ and ‚why only now?‘ – the three novels address these interconnected questions at the juncture of the transition from the memory to the postmemory of National Socialism within an intergenerational framework.“

CHRONOTOPOI

umfangreichen Studie Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. Kurz dargestellt werden Reinhard Jirgls Die Unvollendeten, Tania Dückers’ Himmelskörper, Wibke Bruhns’ Meines Vaters Land und Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land, der sich mit der Gattungsbezeichnung Familienroman „als Wiedergänger einer totgeglaubten Gattung“ vorstelle.20 Weigels Analyse charakterisiert sich dadurch, dass sich in der Diskussion über diese Texte zwei Themenbereiche überlappen: Im Unterkapitel Familiengeschichte und Phantombilder - verschüttete Spuren der Geschichte wird die „Wiederentdeckung der Familienbande als Band, das für die Nachgeborenen eine Unmittelbarkeit zur Vergangenheit herstellt“ diskutiert, die „in der jüngeren Literatur nicht selten als Zugang zu einem verschwiegenen Wissen der Geschichte“21 gesehen werde. Im folgenden Unterkapitel Generationsdiskurs und Identitätspolitik wird dann auf „die Konjunktur eines ganz anders gelagerten Generationskonzepts“ hingewiesen, nämlich die Generation „als Titel – wenn nicht Label – einer Jahrgangsgruppe, deren Namen den spezifischen politisch-kulturellen Habitus einer Gruppierung bezeichnet, für die eine bestimmte historische Erfahrung oder Situation mentalitäts- und stilbildend ist“.22 Dieses Konzept, das auf Karl Mannheims epochemachenden Essay über das „Problem der Generationen“ zurückgeht, wird von Weigel anhand von Florian Illies’ Generation Golf (2000) und Heinz Budes Generation Berlin (2001) dargestellt: zwei Texte, die mit den Familienromanen thematisch sowie typologisch wenig gemeinsam haben. Weil diese Konjunktur jedoch der „Wiederaufwertung der Herkunft im jüngsten deutschen Generationsdiskurs“23 vorausgegangen, so muss sie als direkter Vorläufer der Neuentdeckung der Gattung des ‚Generationenromans‘ bewertet werden.) Im Verlauf des Kapitels skizziert Weigel eine kurze Geschichte des Generationsbegriffs vor dem Hintergrund nachkriegszeitlicher Debatten über kollektive Schuld im Zweiten Weltkrieg. „Die jüngst beobachtete Wiederkehr von Generationserzählungen“, rekapituliert Weigel abschließend, ließe sich „vor dem Hintergrund dieser Generationssemantik nach 1945 [...] nicht nur als Herkunftserzählung deuten“, sondern auch„als Antwort auf die Verschiebungen in den elementaren ‚Strukturen der Verwandtschaft‘“.24 Aus der „dominanten Rolle“25 des Generationsbegriffs sowie aus der Gesamtgliederung des Buchs lässt sich folgern, dass Weigel die Renaissance der Gattung ‚Familienroman‘ als Symptom – sowohl im natur- als auch im kulturwissenschaftlichen Sinn – komplexerer Phänomene interpretiert, denen gegenüber das Literarische eine untergeordnete Rolle spielt. 20 21 22 23 24 25

Weigel, Sigrid, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München, 2006, S. 88. Ebd., S. 91. Ebd., S. 93. Ebd. Ebd., S. 103. Ebd.

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CHRONOTOPOI

Eine ähnliche, jedoch überwiegend auf die Diskussion der Darstellung deutscher Geschichte im öffentlichen und im privaten Bereich gerichtete Perspektive vertritt Aleida Assmann in Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. Auch hier sind Familienromane der Gegenstand eines Kapitels, wobei der Generationsbegriff im ganzen Buch als grundlegend für die „kulturelle Dynamik“ angesehen wird, welche den Transformationen von Geschichtsdarstellung zugrunde liegt.26 Deshalb werden Ein unsichtbares Land und Dagmar Leupolds Nach den Kriegen auch hier symptomatisch gedeutet: als Manifeste einer im Vergleich zur 68erGeneration und zur sogenannten ‚Väterliteratur‘ verwandelten Haltung den vorangegangen Generationen gegenüber, welche nicht mehr wie bei jener „im Zeichen [...] des Bruchs“ sondern „im Zeichen der Kontinuität“ stehe.27 In einem neueren Beitrag versucht Aleida Assmann, Erinnerungsdiskurs und Generationsdiskurs als komplementäre Deutungsansätze zu kombinieren. „Erinnerung“ sei „die Muse des neuen Generationenromans“, was in der Wechselwirkung bedeute, dass „im gegenwärtigen Familienroman die Erzählstruktur mehrfach gebrochen [ist]“.28 In den Familienromanen würden Generationen „zu anschaulichen Repräsentanten kollektiver Dispositionen und Erfahrungen“. Konkreter heißt es später, „die Verschränkung und zeitliche Dynamik“ unterschiedlicher Generationenanlagen sei der „Gegenstand der neueren Familienromane“.29 Im Folgenden werden diese analytischen Ansätze miteinander in Verbindung gebracht. Weil „die Zeitdimension und der sich in ihr vollziehende Wandel der Generationen eine wichtige Rolle für die Dynamik der Erinnerungen [spielt]“, seien „Generarationenromane, deren AutorInnen drei Generationen angehören, selbst eingebettet in die Erinnerungsdynamik der Gesellschaft“.30 Dass ‚Generation‘ zunehmend als hermeneutische Kategorie verwendet wird, kann ebenfalls mit einer terminologischen Verschiebung in Zusammenhang gebracht werden. In vielen Analysen wird kein Unterschied zwischen ‚Familienromanen‘ und ‚Generationenromanen‘ gemacht. Das führt sehr häufig zu der Formel ‚Familien- und Generationenromane‘, oder auch – wie man in der literaturwissenschaftlichen Analyse bereits beobachtet hat – zur Übereinstimmung zwischen beiden Begriffen, bei der der ‚Generationen-

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Vgl. Assmann, Aleida, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München, 2007, S. 68. Ebd., S. 73 (Hervorhebung Assmanns). Assmann, Aleida, „Unbewältigte Erbschaften. Fakten und Fiktion im zeitgenössischen Familienroman“, in: Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität, hg. v. Andreas Kraft, Mark Weißhaupt, Konstanz, 2009, S. 53. Ebd., S. 54 f. Ebd., S. 58. Auf eine ähnliche Verbindung von Erinnerungs- und Generationendiskurs zielt auch Elena Agazzi ab (vgl. Agazzi, Elena, „Familienromane, Familiengeschichte und Generationenkonflikte. Überlegungen zu einem eindrucksvollen Phänomen“, in: Gedächtnis und Identität, hg. v. Fabrizio Cambi, a.a.O., S. 187-203).

CHRONOTOPOI

roman‘ als der ‚Familienroman‘ schlechthin angesehen wird.31 Damit geht auch die Tatsache einher, dass man dem Begriff ‚Familienroman‘ skeptisch entgegentritt,32 oder dass man ihn nicht literaturtheoretisch sondern psychoanalytisch mit Bezug zugleich auf Wackwitz und auf Freud interpretiert.33 Diese Übereinstimmung lässt sich übrigens damit erklären, dass die zeitliche, epochen- und generationsüberbrückende Dynamik die Form und das Thema des neuen deutschen Familienromans ausmacht. Dennoch kann der Begriff – wie die Lexika gezeigt haben – auch anders interpretiert werden. Zu fragen wäre dann aber, warum etwa andere Formen des Familienromans – beispielsweise der Eheroman – heutzutage weniger interessant erscheinen. Jenseits aller epochengeschichtlicher Deutungen soziologischer oder kulturwissenschaftlicher Natur ist die Bezeichnung ‚Familienroman‘ gewiss in der Diskussion noch nicht eingehend gattungstheoretisch hinterfragt worden. Kaum beachtet wird zudem die Frage nach den literaturgeschichtlichen Modellen, auf welche die zeitgenössischen Texte angesichts einer historischen Kontinuität zurückbezogen werden können.34 Wenn Familie nicht als Thema sondern als ein von den thematischen Eigenschaften jeweiliger Texte unabhängiges Element der Narration genommen 31

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Assmann, Aleida, „Unbewältigte Erbschaften“, a.a.O., S. 49: „In der letzten Dekade des letzten Jahrhunderts setzte sich im deutschsprachigen Raum eine neue literarische Gattung durch, die heute als Familien- oder Generationenroman bezeichnet wird und einen wichtigen Zweig der deutschen Erinnerungsliteratur ausmacht [...]. Im Familienroman weitet sich der zeitliche Horizont auf drei und mehr Generationen.“ Vgl. Friedrich, Gerhard, „Opfererinnerung nach der deutschen Vereinigung als ‚Familienroman‘“, a.a.O., S. 219: „Den ‚Familienroman‘ ‚Familienroman‘ zu nennen verstärkt die Illusion des Privaten und verleugnet dessen eminent geschichtlichen Charakter. Der Begriff sollte daher nicht gebraucht werden“. Vgl. den Aufsatz von Costagli in diesem Band. Weigel stellt dem Kapitel über die Familienromane eine Analyse des Freudschen Begriffs voran (vgl. Weigel, Sigrid, Genea-Logik, a.a.O., S. 76-80). Um ihn vom Freudschen Familienroman abzugrenzen, nimmt Weigel dort auf den Familienroman „als Bezeichnung für ein literarisches Genre“ Bezug, „in dem familiale Genealogien über mehrere Generationen hinweg erzählt werden“ (ebd., S. 76). Weigel weist also eigentlich auf die besondere Variante des Generationenromans hin. Im Unterschied dazu stellt Bernhard Jahn eine klare Differenzierung zwischen beiden Begriffen fest: „Die neuen Familienromane sind Generationenromane, die über die Problematisierung familiärer Zwei-Generationen-Konflikte hinausgehend, zeitausgreifend mindestens drei Generationen erzählerisch aus deren je eigener Perspektive vorstellen.“ (Jahn, Bernhard, „Familienkonstruktioncn 2005. Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman“, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, XVI-3/2006, S. 581). Auch dieser Beitrag stellt sich in die Reihe der überwiegend auf den Generationendiskurs zurückgehenden Analysen. Es fehlt aber nicht an Hinweisen auf den Unterschied zwischen dem heutigen und dem Modell des 19. Jahrhunderts, das von den Ideen des Verfalls und Vererbungsidee charakterisiert war. (Vgl. Jahn, Bernhard, „Familienkonstruktionen 2005“, a.a.O., S. 582: „Die in der Literatur seit dem 19. Jahrhundert angebotenen Lösungen reichen vom Schicksalsdrama, bei dem der Fluch eines Spitzenahns alle Generationen verbindet, über verschiedene Konzepte von Vererbungslehren bis hin zur Rassenlehre.“ Der Unterschied besteht also darin, dass „an all diese Traditionen, zu denen noch verschiedene, von biologischen Degenerationslehren inspirierte Verfallsmodelle treten, nicht problemlos angeknüpft werden [kann]“.)

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wird, ist sie als raumzeitliche Konstellation entscheidend, in die jene „umgreifendere[n] Fragen“ hineinspielen, auf die im Wilpert schon hingewiesen wurde. Bei der Unterscheidung zwischen ‚Familienroman‘ und ‚Generationenroman‘ ist die Behandlung der Zeitebene prägend. Letzterer kennzeichnet sich aufgrund seiner mehrere Generationen umfassenden Handlung durch eine ausgesprochene zeitliche Ausdehnung, die sich ebenfalls auf das Gesamtthema auswirkt, wie etwa die auf die Darstellung des Verfalls einer Familie angelegte Form der Buddenbrooks zeigt. Trotzdem kann man sie als Varianten desselben typologischen Modells auffassen, in der sich Familie entweder als räumliche (wie im Eheroman) oder als zeitliche (im Generationenroman) Dimension auffassen lässt. Die raumzeitliche Natur des Familienromans ist an literaturwissenschaftlichen Studien zu bemerken, welche die ‚Familie‘ von einem formalanalytischen Standpunkt her untersuchen, und sie jeweils entweder als simultanes oder als diachrones literarisches Konstrukt behandeln.35 Familie ist deswegen unter der Kategorie des ‚Chronotopos‘ zu verstehen, und kann als „grundlegende[r] wechselseitige[r] Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen“ betrachtet werden.36 Es kann deshalb nicht verwundern, dass Familien- und Generationenromane ihren Platz in Michail Bachtins Untersuchung finden. Dort ist nämlich von ‚Familie‘ in zwei längeren Passagen die Rede. Bachtin weist zuerst auf sie als „realen Chronotopos“ hin, in dem „die römischen Autobiographien und Memoiren“ als „Dokument des familiar-gentilen Selbstbewußtseins“ entstehen.37 Nicht nur von ‚Familie‘ sondern gerade vom ‚Familien- und Generationenroman‘ – in der üblichen Doppelformel – ist im Kapitel über den idyllischen Chronotopos die Rede. Bachtin schlägt hier eine sozialgeschichtliche Ent35

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Zur ersten Gruppe gehören z. B. Ru, Ying Li, The Family Novel (a.a.O.) und Patricia Drechsel Tobins Time and Novel. The genealogical Imperative, deren Ausgangspunkt „die homogene Übereinstimmung zwischen Zeitlinie, Familienlinie und Erzählungslinie“ bildet. (Drechsel Tobin, Patricia, Time and Novel. The genealogical Imperative, Princeton, 1978, S. IX.) Den Gegenpol zu dieser Interpretationslinie stellt The Matrix of Narrative von Denis Jonnes dar. Wie bei Tobin werden Familienverhältnisse hier als strukturbildendes Prinzip der Erzählung angesehen. In den sechs Erzählmodalitäten, auf die Jonnes hinweist, wird Familie in ihren simultanen Beziehungen untersucht, die zu unterschiedlichen Plots (z. B. Eheromane, Vater-Sohn-Romane usw.) führen. Ausgeschlossen sind jedoch diejenigen Erzählmodalitäten, die eine in der Zeit weit ausgedehnte Chronologie aufweisen, wie diejenigen, die einem mehrere Generationen umfassenden Modell entsprechen (Jonnes, Denis, The Matrix of Narrative. Family Systems and the Semiotics of Story, Berlin/New York, 1990, S. 207). Bachtin, Michail, Der Chronotopos, Frankfurt am Main, 2008, S. 7. Ebd., S. 64. In der für die römische Gesellschaft charakteristischen Verschmelzung von ‚Familie‘ und ‚Staat‘ dienten die römischen Autobiografien der Archivierung und Tradierung von bestimmten familiären und staatlichen Werten. (Vgl. ebd., S. 65: „Die familiar-gentilen Traditionen müssen vom Vater an den Sohn weitergegeben werden. Die Familie hat ihr eigenes Archiv, in dem die schriftlichen Dokumente aller Glieder der Gens aufbewahrt werden. Die Autobiographie wird zur Übermittlung der familiar-gentilen Traditionen von Glied zu Glied niedergeschrieben und im Archiv abgelegt. [...] Diese spezifische Historizität unterscheidet das römische autobiographische Selbstbewußtsein vom griechischen, das auf lebendige, auf dem Marktplatz direkt anwesende Zeitgenossen orientiert ist.“)

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wicklung des Chronotopos Familie vor, die als Variante der in den Lexika auf den sentimentalen Roman des 18. Jahrhunderts zurückgeführten Linie zu betrachten ist. Die Familie ist schon in der klassischen Idylle der Handlungsmittelpunkt, aber zum eigentlichen Familienroman kommt es erst mit dem Übergang von der agrarischen zur städtischen Gesellschaft.38 Als die „klassische Spielart des Familienromans“ versteht Bachtin ein Narrativ, in dem der Held am Anfang von den familiären Bindungen losgelöst ist, und dann endlich die idyllische Einheitswelt rekonstruieren kann.39 Dem Generationenroman ist dagegen „zumeist die Zerstörung der Idylle und der idyllisch-familiaren und patriarchalischen Beziehungen“ als Hauptthema eigen.40 Bachtins Theorie betrachtet den Familien- und Generationenroman aus einer eigenen Perspektive, die sich von den zuvor diskutierten distanziert, und sich mit einem teilweise anderen Kanon von Texten auseinandersetzt. Der ‚weiblichen‘ Entwicklungslinie der Eheromane, die von Richardson bis Tolstoi reicht,41 wird eine ‚männliche‘ entgegengestellt, die mit Fielding ansetzt, und mit Dickens – wohl aber auch mit Goethes Wilhelm Meister, Balzacs Romanen und Flauberts L’éducation sentimentale – ihren Höhepunkt hat. Wohl kann man auch von jeglicher historischen Perspektive absehen und Familie als archetypischen Bestandteil des Erzählens betrachten. In der antiken Tragödie war sie der Ort der Konflikte zwischen den Figuren; die Verbindung zwischen Chronologie und Geschlechterfolgen kommt bereits in der Bibel – ausgerechnet im Buch der Chronik – zum Ausdruck: […] Chus aber zeugte Nimrod; der fing an, gewaltig zu sein auf Erden. Mizraim zeugte die Luditer, die Anamiter, die Lehabiter, die Naphthuhiter, die Pathrusiter, die Kasluhiter, von welchen sind ausgegangen die Philister, und die Kaphthoriter. Kanaan aber zeugte Sidon, seinen ersten Sohn und Heth, den Jebusiter, den Amoriter, den Girgasiter, den Heviter, den Arkiter, den Siniter, den Arvaditer, den Zemariter und den Hamathiter. Die Kinder Sems sind diese: Elam, Assur, Arphachsad, Lud, Aram, Uz, Hul, Gether und Mesech […]42

Weitet man das Forschungsfeld auf die neuen deutschen Generationenromane aus, dann hat man nicht mehr ausschließlich mit der einzigen Typologie des Mehrgenerationenschemas zu tun. Es gibt z. B. zeitgenössische Familienromane – wie John von Düffels Houwelandt –, in denen die zeitliche Dimension 38 39

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Vgl. ebd., S. 167. Ebd., S. 168: „Die Bewegung des Romans führt den Haupthelden (oder die Helden) aus der großen, doch fremden Welt der Zufälligkeiten in die zwar kleine, aber gesicherte und stabile heimische Mikrowelt der Familie.“ Die Beispiele für diese Spielart sind Fieldings Tom Jones und Dickens, „mit dem der europäische Familienroman den Gipfel erreichte“ (ebd.). Würde man von Bachtins Auffassung vom Familienroman ausgehen, so ließe sich bestimmt eine Übereinstimmung zwischen diesem und dem ‚Entwicklungsroman‘ feststellen. Ebd., S. 169. Als Beispiele von Autoren von Generationenromanen werden Thackeray, Freytag, Galsworthy und Thomas Mann genannt (vgl. ebd.). In Gero von Wilperts Artikel heißt es, der Familienroman sei „eine häufige Form der Frauendichtung“ (Sachwörterbuch der Literatur, a.a.O., S. 176). Die Bibel, „Buch der Chronik“, 1, 13-17.

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weniger prägend erscheint, denn dieser folgt eher einem synchronen, multiperspektivischen Erzählmodell.43 Dasselbe gilt auch für einen bedeutenden nicht-deutschen Familienroman der Gegenwart, Jonathan Franzens The Corrections: In diesem ist die räumliche Dimension sicherlich wichtiger, die Form basiert auf einer multiperspektivischen Narration, in der die jeweiligen Kapitel Geschichten der zerstreut in den USA lebenden Angehörigen der Familie Lambert erzählen. Um diese Abweichungen korrekt zu interpretieren, ist wohl eine Deutungsperspektive nötig, welche die Renaissance des Familienromans als ein globales, und dementsprechend von der Erinnerung an die deutsche Vergangenheit unbelastetes Phänomen betrachtet.44 Dieser Band versteht sich als Anstoß in die Richtung eines komplexeren Verständnisses der literarischen Kategorie ‚Familienroman‘, das sich zwar von der (in Deutschland) herrschenden Interpretationslinie nicht völlig distanzieren will, diese eher in einen breiteren Zusammenhang stellen möchte. Manche Beiträge in diesem Band befassen sich z. B. mit Werken, welche ‚Familie‘ eindeutig als räumlich-synchrones Konstrukt darstellen. Die nach dem Titel von Britta Herrmanns Beitrag genannte Sektion „Papiergebilde“ ist den Analysen von Werken gewidmet, die zeitlich vor der Renaissance des Genres anzusiedeln sind. Im Beitrag von Mark Anderson wird das Verhältnis von Individuum und Familie im Roman der Moderne untersucht, dessen Ausgangspunkt Richardsons Romane darstellen. Dass etwa Kafkas Romane oder Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge – die mit der tradierten Form des Generationenromans eigentlich wenig zu tun haben – als Krisenmoment in dieser Entwicklungslinie genommen werden, zeigt nochmals die Vielfältigkeit der literarischen Form ‚Familienroman‘. Ebenfalls weicht von der generationsüberbrückenden Struktur Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs ab, ein Werk, das in diesem Band in zwei unterschiedlichen diskursiven Zusammenhängen analysiert wird. In seiner Handlung tritt ‚Familie‘ einerseits als räumliches Konstrukt – und zwar konkret als das Haus des Vogelsangs –, und andererseits als schriftliche Fiktion und – mit Bezug auf die von Bachtin untersuchten römischen Autobiografien – auch als „realer Chronotopos“ auf. Diese Struktur wird dagegen – wie Stefan Willer erläutert – in Heimito von Doderers Die Merowinger nochmals aufgenommen und zugleich auf groteske Weise ad absurdum geführt. Das Prinzip selbst des Generationenromans, die zeitliche Abfolge, wird bei Doderer in sein Gegenteil umgewandelt: „Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“. Zweifelsohne spielt das Modell Buddenbrooks sowohl für die Autoren als auch für die Interpreten in der Diskussion über die Gattung Familienroman 43 44

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Vgl. dazu den Beitrag von Friedhelm Marx in diesem Band. Zu nennen ist in diesem Kontext der Vorschlag von Sigrid Löffler, das Ableben des abgenutzten Genres der „alten Familien-Saga“ in der „Ära der Kleinfamilie und des Anderthalbkindertums“ auf „die Lust an Kompensatorischem der Lektüre“ zurückzuführen. (Löffler, Sigrid, „Geschrumpft und gestückelt, aber heilig“, in: Literaturen, 6/2005, S. 18-26.)

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eine maßgebliche Rolle. Das Buddenbrooks-Syndrom, auf das Viviana Chilese in ihrem Aufsatz eingeht – definiert in der wirtschaftlichen Welt das Unvermögen vieler Familienunternehmen, über die dritte Generation hinauszugehen; es bezeichnet hier darüber hinaus den wiederkehrenden Bezug auf Thomas Manns ersten Roman, der in der Analyse von Familienromanen kaum wegzudenken ist. Mit Ausnahme von Heinz-Peter Preußers Beitrag, der u. a. auf die Spur der Interferenzen zwischen Thomas Manns Roman und Alfred Breloers Verfilmung von Die Manns eingeht, behandeln die in dieser zweiten Sektion enthaltenen Beiträge Die Buddenbrooks meist nur indirekt. Sie verweisen auf deren ‚Erbe‘ nicht nur in der Literatur sondern auch im Film als Modell von epischer Narration, die sich über mehrere Generationen erstreckt. Zur dritten Sektion gehören Beiträge, die sich mit den neuen deutschen Familienromanen befassen, in denen der bereits besprochene Komplex von Schuld/Opfer der Eltern- bzw. Großelterngeneration verhandelt wird. Der Sektionstitel „Family Plots“, welcher Hitchcocks letzten Film zitiert, spielt in der Doppelbedeutung des englischen Worts ‚Plot‘ (‚Komplott‘, ‚Intrige‘ oder ‚Handlung‘) sowohl auf das durch ein gemischtes Gefühl von Anklage und Aussöhnung charakterisierte Generationsverhältnis, als auch auf die Form des neuen Familienromans an, welche seiner meist autobiografischdokumentarischen Natur zum Trotz immanente Plotstrukturen aufweist. In der letzten Sektion „Sippenhaft“ werden zeitgenössische Texte kontextualisiert, die sich nicht auf die typischen Diskursivierungen über den Familienroman der Gegenwart zurückführen lassen. Es wird also u. a. die Rede von der Migrantenliteratur sowie der amerikanischen Literatur sein, welche beide selbstverständlich der Thematisierung der deutschen Vergangenheit fern sind. Im Beitrag über den amerikanischen Familienroman von Jörg Thomas Richter kann man dann nochmals sehen, wie das Generationenschema sich als nicht so prägend erweist, wenn man sich von dem vergangenheitsbelasteten deutschen Familienroman entfernt. Am Schluss dieses Bandes stellen wir den Beitrag von Thomas Elsaesser Berlin Isle de Memoire: Mediale Spuren einer Geschichte auf der Suche nach ihrem Familienroman vor, der sich von den übrigen Texten abhebt. Es handelt sich dabei um einen kurzen Familienroman über den Großvater, den Architekten Martin Elsaesser, über das von ihm angeregte Siedlungsprojekt der ‚Sonneninsel‘ Dommenwall. Zugleich präsentiert sich Elsaessers Beitrag als Reflexion über die Bedingungen und die Praxis der literarischen Rekonstruktion einer Familiengeschichte. Der Text bleibt damit in der Schwebe zwischen Erzählung und Essay, was übrigens ebenfalls für viele Familienromane der Gegenwart, namentlich Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land, Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders oder Dagmar Leupolds Nach den Kriegen, charakteristisch ist. Wie der Autor mehrmals betont, kann man diesen Familienroman in zweifacher Weise lesen. Er bietet sich als originelle Familiengeschichte dar und auch als Kommentar zum ganzen Phänomen der neuen deutschen Familienromane. 19

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Der vorliegende Band geht zurück auf eine Tagung in Ferrara mit dem gleichen Titel, die im Oktober 2008 stattgefunden hat. Folgenden Institutionen und Personen sei hier herzlich gedankt: dem Dipartimento di Scienze Umane der Universität Ferrara und der Fondazione della Cassa di Risparmio di Ferrara, die ein dreijähriges Forschungsstipendium zu diesem Thema finanziert haben; dem Deutsch-Italienischen Hochschulzentrum, das die Tagung sowie die Publikation dieses Bandes großzügig unterstützt hat; der fgs-Kommunikation (Steffen Gryzbek und Martin Schulz), die das Plakat und das Faltblatt der Tagung sowie das Umschlagbild des vorliegenden Bandes entworfen hat; Anne Krüger, die den Band redigiert hat. Ferrara und Florenz im März 2010.

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1. PAPIERGEBILDE

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MARK M. ANDERSON

Die Aufgabe der Familie / das Ende der Moderne: Eine kleine Geschichte des Familienromans Fangen wir mit einer Provokation an: Haftet nicht dem Familienroman ein Geruch von Altmodisch-Realistischem, Unkritisch-Biederlichem, ja WeiblichSentimentalem an, den die neueste Welle deutscher Gedächtnis- bzw. Generationsromane nicht immer zu lüften vermag? Die Lexika einer früheren Generation stimmen zu seiner Deklassierung ziemlich alle überein, behauptet doch der Wilpert, der Familienroman gedeihe „meist in Zeiten der Unterdrückung öffentlichen Lebens oder geringen Interesses an diesem“, setze eine „realistische Gestaltungsweise voraus“ und sei „eine häufige Form der Frauendichtung“.1 Ähnlich abwertend äußert sich Hermann Pongs: „Spiegel ausgereifter Familienkultur, die sich mit den Werten des Seßhaft-Bürgerlichen gegen den Abenteuerroman durchsetzt“, wobei „Heiraten und Geburten“ durch mehrere Generationen als das Bürgerideal schlechthin propagiert werden. Das Dauerthema? „Die richtige Heirat“.2 Mit Gellerts erfolgreichem Text Die schwedische Gräfin (1746), so Pongs, setze ein Dauerstrom deutscher Familienromane ein, der die Durchseelung des bürgerlichen Miteinander vorantreibe. Die ganze Entwicklung der Gattung sei durch Unterhaltung, Trivialität wenn nicht gerade Frivolität von und für Frauen gekennzeichnet, von den frühen Anfängen bei Sophie La Roche und Johanna Schopenhauer bis zu den in der Gartenlaube ab 1853 veröffentlichten Fortsetzungsromanen von Eugenie Marlitt, und endlich zu der Massenproduktion von Hedwig Courths-Mahler, die noch heute einen breiten weiblichen Leserkreis findet.3 Diesen durchaus abwertenden Perspektiven der Liebes- und Familienprosa zufolge stehe eine robustere, zeitkritische, am Realismus nicht allzu gebundene Form des Romans als das positive Ideal zum ‚weiblichen‘ Familienroman: Eine virile Fortsetzung des epischen Modells, die den alleinstehenden antiken Helden in den bürgerlichen Alltag (wenn auch manchmal ironisch) versetzt. Don Quijote sei der erste in einer langen Tradition von großen und großartigen Einzelgängern in der neuen Prosawelt, die sich von Robinson Crusoe und Tom Jones bis zu Julien Sorel und Lucien de Rubempré erstreckt, ja sogar bis zu den Ehebruch-Heldinnen Anna Karenina, Emma Bovary und Effi Briest, deren Signifikanz ja nicht in 1 2 3

Wilpert, Gero von, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart, 1955, 8. Ausgabe, 2001, Stichwort: „Familienroman“. Pongs, Hermann, Das kleine Lexicon der Weltliteratur, Stuttgart, 1956, Stichwort: „Familienroman“. Siehe hier das in der DDR kurz vor Mauerfall veröffentlichte Nachschlagewerk, das am Familienroman die positive mimetische Leistung hervorhebt, von Richardson bis Willy Bredel und Anna Seghers: Wörterbuch der Literaturwissenschaft, hg. v. Claus Träger, 1986, Stichwort „Familienroman“.

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ihrem ehelichen Status liegt, sondern im Versuch, sich von der Familie zu befreien und als autonome Subjekte zu wirken. Die Helden bzw. Antihelden der deutschen Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – sprich: Chandos und Aschenbach, Malte Laurids Brigge und Josef K., Franz Biberkopf und Adrian Leverkühn – könnte man gerade als Musterbeispiele dieser Romantradition betrachten, als den Inbegriff eines exaltierten, wenn auch entfremdeten und leidenden, immer aber rigoros familienlosen Außenseiters. Liegen die Dinge so einfach? Ich für meinen Teil würde eine andere Entstehung des Romans skizzieren, die ohne Frauen, Ehen und Familien kaum auskommt. Don Quijote (1605) sehe ich zwar als Fortsetzung der epischen Dichtung, vor allem des mittelalterlichen Ritterromans, die aber wenig zu tun hat mit dem schlagartig neuen psychologischen Realismus des modernen bürgerlichen Romans, der sich vor allem in England im 18. Jahrhundert entwickelt. Cervantes’ Text folgt im Grunde dem episodischen Muster des Picarooder Schelmenromans, das der wegweisende, zwei Generationen früher erschienene Text La vida de Lazarillo de Tormes (1554) entworfen hat: eine road story, wenn man so will, die den immer gleichen Charakter in ständig neue Abenteuer verwickelt, die aber unfähig ist, ihm eine tiefenpsychologische Dimension zu verleihen. Der Picaro taucht zwar immer wieder in der europäischen Literatur im Laufe der Jahrhunderte auf; in der deutschen von Simplicissimus bis Felix Krull. Aber der schelmenhafte Wanderer ist ein ‚Typ‘ wie die festgeschriebenen Rollen der commedia dell’arte, das Wichtige bei ihm ist das Abenteuer, das er gerade erlebt, nicht seine Herkunft und nicht sein Lebensziel, sein ‚Schicksal‘. Daher auch die relative Unsignifikanz seines Familiennamens (der Held vom Lazarillo ist der namenlose Sohn einer Prostituierten), denn er steigt sozusagen aus dem Nichts, um wieder zu verschwinden. Er bleibt seinem Wesen treu und lässt sich selbstverständlich nicht durch Heirat und Familie binden – er muss immer fortwandern, on the road bleiben. Doch der Picaro, so unterhaltsam er ist, hat wenig mit dem modernen bürgerlichen Roman zu tun. Das wahrhaft Innovative und Wichtige dieser neuen Prosa ist eine Darstellungsart, die realistische Beobachtungen vom Leben eines sozial niedrigen Charakters mit dem psychologisch tiefen Innenleben tragischer Helden verbindet, wie Odysseus und Achilles bei Homer, oder Abraham beim Opfer vom eigenen Sohn im Alten Testament.4 Daraus entsteht ein moderner Held, dessen Geschichte sich zu einem zusammengehörenden Ganzen bildet: Jemand, der nicht nur an der oberflächlichen Handlungsebene (plot) agiert, sondern auch ein Innenleben besitzt, d. h., ein Gedächtnis, eine Vergangenheit, eine Seele hat. Jemand, der sich durch Leiden, Erfahrung und Vernunft ändern kann, der Geschichte trägt und geschichtlich einzigartig ist. Wie Ian Watt in einer älteren aber immer noch informativen und überzeugenden Studie gezeigt hat, vollzog sich diese Wende zum Innenleben des bürger4

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Auerbach, Erich, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern, 1946, 5. Aufl., 1971, S. 26.

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lichen Helden zunächst im englischen Roman des 18. Jahrhunderts. Dieser tauschte die episodische Struktur der Fabel gegen eine einzige dem ganzen Roman obliegende Handlung, die der Liebeswerbung, aus.5 Defoe, Fielding, Richardson und andere haben dem ‚kleinen Helden‘ bzw. der ‚kleinen Heldin‘, eine psychologische Tiefe und eine bewegende story gegeben, die früher nur Figuren aus den höheren Klassen zukamen. Sie dürften in die Literatur eintreten, weil sie aus dem Leben stammten, als ‚wirkliche Fälle‘ aus der zeitgenössischen Gesellschaft, die das Geschick von ihren Lesern glaubwürdig vertreten konnten. Dazu war freilich eine ganz andere Vorstellung der Liebe wie auch der Familie nötig. Wenn die Alten keine Romane im modernen Sinn geschrieben haben, so ist das (einer Bemerkung Madame de Staëls folgend) wohl durch den niedrigen gesellschaftlichen Stand der Frauen in der Antike zu erklären, die den Gefühlsbeziehungen zwischen Mann und Frau wenig Bedeutung zumaß.6 Die ‚romantische‘ Ehe, der die Wahlfreiheit (besonders bei der Frau) zu Grunde lag, ist ein verhältnismäßig neues Phänomen in der europäischen Gesellschaft, das vor allem in England durch die geänderte soziale und ökonomische Stellung der Frau zu bemerken ist.7 Erst in diesem Kontext wurde der Roman zu dem vollständigen Bericht der menschlichen Verhältnisse, den wir von ihm erwarten und den als erster der englische Autor Samuel Richardson erfolgreich für ein neues Publikum verfasst hat. Man mag seinen Roman Pamela (1740) überlang und sentimental finden – der Text markiert immerhin eine entscheidende Wende in der Entstehung des modernen Romans: nicht nur weil die Hauptfigur dieser ernsthaften ‚Frauengeschichte‘ ein Dienstmädchen ist (und so den klassizistischen Stände-Kanon durchbricht), sondern vor allem weil der Roman den ganzen Innenbereich der turbulenten Gefühle der Hauptfigur freilegt, erforscht und benutzt, um die emotionale Anteilnahme des Lesers, bzw. Leserin zu erwecken. Durch die Geschichte (story) einer Liebeswerbung bekommt Pamela ihre Geschichte, die sie als besonderen Fall in die Geschichte (history) setzt. Nun ist es sicher kein Zufall, wenn Richardsons Briefroman gleich ein Familienroman ist, denn die Erzählung des gefahrvollen Aufstiegs einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen in eine neue und reiche Adelsfamilie traf die damalige Situation der arbeitenden, immer mehr auf dem Heiratsmarkt gefährdeten Frauen auf dem Nerv. Pamela ist aber auch ein Familienroman der Struktur nach. Er wird von der Tochter durch Briefe an ihre Eltern erzählt, wie der Untertitel gleich vorweg gibt: In a Series of Familiar Letters from a Beautiful Young Damsel, To her Parents. Das heißt, der Leser dieser familiar letters wird an die Stelle der Eltern, sozusagen in den Schoß der Familie, gesetzt: Der ‚Akt des Lesens‘ selber setzt die Familienper5

6 7

Watt, Ian, Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung. Defoe-Richardson-Fielding, Frankfurt, 1974, S. 157. Madame de Stäel, De la littérature, in: Œuvres complètes, Paris, 1820, Bd. IV, S. 215-217. Watt, Ian, Der bürgerliche Roman, a.a.O., S. 161.

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spektive voraus. Entscheidend ist hier das Wortspiel im Titel auf „familiar“, denn es geht nicht nur um Familienangelegenheiten, sondern auch um intime Beziehungen und Geständnisse in der Familie: Pamela offenbart den Eltern ihre geheimsten Wünsche, Ängste, Glücksmomente und sexuelle Gefahren in Betreff ihres Verführers, der schließlich auch ihr Liebhaber und Ehemann wird. ‚Familie‘ ist gleich familiär. Wir können die sich auf zwei Jahrhunderte erstreckende Geschichte des europäischen Romans hier nicht annähernd skizzieren, müssen leider auch die Vielfalt der Romananfänge zur Zeit Richardsons, Fieldings und Defoes in England außer Acht lassen. Halten wir am Wesentlichen fest: Wenn das Ideal der Liebesehe einen entscheidenden Wert der modernen bürgerlichen Gesellschaft darstellt,8 im England der Elisabethanischen Ära beginnend und sich von dort immer mehr auf dem Kontinent verbreitend, so wundert es kaum, wenn das literarische Vehikel dieser neuen Klasse, der Roman, immer wieder mit Liebe, Heirat und Familiengründung zu tun hat. Und auch wenn der Familienroman als solcher vom Bildungs-, Künstler- oder Gesellschaftsroman gelegentlich zur Seite geschoben wird, bildet die Familie wie auch die familiäre Herkunft des neuen Prosahelden den entscheidenden Spielplatz romanhaften Geschehens. Für Jane Austen, Stendhal, Tolstoi, Dickens, Fontane und viele andere Schriftsteller des 19. Jahrhunderts ist diese Grundregel der Familienherkunft eine Selbstverständlichkeit, für Balzac bis zu den Naturalisten sogar eine soziologische Gewissheit. Emile Zola (um nur ein Beispiel hervorzuheben) nennt im Untertitel seine 20 Bände umfassende Romanserie Les Rougon-Macquart schlicht und einfach Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Seconde Empire. Umso wunderlicher ist es, dass die deutsche literarische Moderne am Anfang des 20. Jahrhunderts gerade der Familie den Rücken kehrt. Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (begonnen im Jahr 1903), Kafkas Process (1914) und Schloß (1922), Thomas Manns Zauberberg (1913), Döblins Berlin Alexanderplatz (1927), wie auch Musils Mann ohne Eigenschaften (1921), um nur einige der bekanntesten Beispiele zu nennen, haben alle als Hauptfigur Junggesellen, bzw. alleinstehende Protagonisten mit einer problematischen, wenn nicht gar schematischen oder unwirklichen Verbindung zur Familie. Schon der letzte große bürgerliche Roman in Deutschland, Thomas Manns Buddenbrooks (1901 veröffentlicht), protokolliert den „Verfall einer 8

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In seinen Richtlinien der Philosophie des Rechts (1821) setzt Hegel die Familie, nicht das einzelne Individuum, als die moralische Grundlage der Gesellschaft: „Die Familie hat als die unmittelbare Substantialität des Geistes seine sich empfindende Einheit, die Liebe, zu ihrer Bestimmung, so daß die Gesinnung ist, das Selbstbewußtsein seiner Individualität in dieser Einheit als an und für sich seiender Wesentlichkeit zu haben, um in ihr nicht als eine Person für sich, sondern als Mitglied zu sein. (Absatz 158, Hervorhebung von Hegel). Im Gegensatz zu Kants Vorstellung der Ehe als Vertrag schreibt er ferner: „Die Ehe ist wesentlich ein sittliches Verhältnis [...] [Sie] ist daher näher so zu bestimmen, daß sie die rechtlich sittliche Liebe ist, wodurch das Vergängliche, Launenhafte und bloß Subjektive derselben aus ihr verschwindet.“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main, 1986, S. 312.

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Familie“ und nimmt so den familienkritischen Geist der damaligen Jugend auf. Am Ende des Romans taucht beim familienbewussten Vater Thomas der Gedanke auf, er könne ohne die Familie auskommen: In meinem Sohne habe ich fortzuleben gehofft? […] Kindische, irregeführte Thorheit! Was soll mir ein Sohn? Ich brauche keinen Sohn! [...] Ich trage den Keim, den Ansatz, die Möglichkeit zu allen Befähigungen und Bethätigungen der Welt in mir.9

Diese späte Erkenntnis von Thomas Buddenbrook, durch die Lektüre Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung angeregt, setzt sein vorheriges, streng gesittetes, ‚gutbürgerliches‘ Familienleben dem Tod gleich und lässt ihn von einem mythischen, sich aus Raum und Zeit herauslösenden, geschichtslosen Dasein träumen: Die trügerischen Erkenntnisformen des Raumes, der Zeit und also der Geschichte, die Sorge um ein rühmliches, historisches Fortbestehen in der Person von Nachkommen, die Furcht vor irgend einer endlichen historischen Auflösung und Zersetzung – dies Alles gab seinen Geist frei und hinderte ihn nicht mehr, die stete Ewigkeit zu begreifen. Nichts begann und nichts hörte auf. Es gab nur eine unendliche Gegenwart […] Ich werde leben! flüsterte er in das Kissen. (FA 726)

Diese epiphanische, sich von der Geschichte absetzende Vision des individuellen ‚Lebens‘, die freilich in Manns Text gleich durch den kläglichen Tod von Thomas und dessen Sohn Hanno ironisch unterminiert wird, prägt einen Gutteil der europäischen Prosa am Anfang des 20. Jahrhunderts: Joyce, Proust, Woolf, aber auch Musil, Rilke, Kafka, Jünger und andere deutschsprachige Schriftsteller. Man könnte meinen, im Zeitalter des Jugendaufbruchs und des durch Freud unterstützten Kampfes gegen den väterlichen ‚Machtwillen‘ (so der Titel einer von Otto Gross und Franz Kafka geplanten, nie verwirklichten Zeitschrift)10 , blühe der modernistische, bzw. avantgardistische Einzelheld auf. Dies trifft in gewissem Sinne auch zu, und der Versuch, den Ketten der Familie zu entkommen, begleitet häufig bahnbrechende formale Innovationen in der Erzählweise, von dem mosaikartigen Plan Maltes Aufzeichnungen bis zu den Montagetechniken in Berlin Alexanderplatz. Aber auch dieser unkonformistische Held kommt ohne Familie schwerlich aus. Betrachten wir zum Beispiel einen der ‚Urtexte‘ der deutschen literarischen Moderne, Hofmannsthals Ein Brief (1902). Gleich am Anfang wird der Protagonist als Familienmitglied identifiziert: „Dies ist der Brief, den Philipp Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, an Francis Bacon […].“11 Die 9

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Mann, Thomas, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Thomas Mann. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hg. v. Heinrich Detering u. a., Frankfurt am Main, 2002, Bd. 1.1, hg. v. Eckhard Heftrich, S. 724 f. (als Sigle FA). Siehe Kafkas Brief vom 7. oder 8. Oktober 1917 in Kafka, Franz, Briefe. April 1914-1917, hg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main, 2005, S. 343 und 678. Hofmannstahl, Hugo von, Ein Brief, in: Sämtliche Werke, Bd. XXXI (Erfundene Gespräche und Briefe), hg. v. Ellen Ritter, Frankfurt am Main, 1991, S. 45 (als Sigle EB).

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DIE AUFGABE DER FAMILIE/DAS ENDE DER MODERNE

Krise des adeligen Familiensohnes Chandos, der hier auch als Familienvater auftritt, liegt dessen zum Paradigma gewordener Sprachkrise zu Grunde. Das beeindruckende Bild der Worte, die wie „modrige Pilze“ aus seinem Mund fallen, betrifft explizit seine Unfähigkeit, abstrakte Begriffe beim Ausüben seiner Autorität als Vater bzw. Gutsherr zu benutzen. Unmittelbar nach dem Bild der Giftpilze gibt er folgendes Beispiel: [...] es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Katharina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ [...] (EB 49).

Chandos berichtet zwar von Augenblicken unaussprechlicher Gefühle, er blicke in eine neue Welt, der eine völlig andere Sprach- und Daseinsform zu Grunde liege. Aber der Preis für diese Vision ist hoch. Er verlässt seine Tochter und lebt „ein Leben von kaum glaublicher Leere“; er hat Mühe, „die Starre [s]eines Innern“ vor seiner Frau zu verbergen, wie auch seinen „Leuten“ die Gleichgültigkeit, „welche mir die Angelegenheiten des Besitzes einflößen“ (EB 52). Bedrückt von „furchtbarer Einsamkeit“ und an Paranoia grenzender Angst, sucht er ständig das Freie. Den Gipfel dieser epiphanischen SelbstEntfremdung bildet eine Familien-‚Mutter‘ ganz besonderer Art, als das verdrängte Familiäre zurückkehrt. Chandos hat den Befehl gegeben, Gift in seinen Milchkellern zu streuen, um die dort einnistenden Ratten zu töten. Kurz darauf wird er plötzlich von einer Vision der sterbenden Ratten befallen: Da war eine Mutter, die ihre sterbenden Jungen um sich zucken hatte und nicht auf die Verendenden, nicht auf die unerbittlichen steinernen Mauern, sondern in die leere Luft, oder durch die Luft ins Unendliche hin Blicke schickte und die Blicke mit einem Knirschen begleitete! (EB 51)

Chandos’ Identifikation mit dem Tiersein erfolgt in dem Augenblick, als die „Mutter“, die eigenen sterbenden „Jungen um sich vergessend, dem Tod entgegensieht. Furchtbar und erhaben zugleich ist ihm, als „die Seele dieses Tieres gegen das ungeheure Verhängnis die Zähne bleckte“ (EB 51). Es liegt nahe, im Bild der sterbenden Rattenfamilie die familiäre Krise von Chandos selber zu sehen, wobei die „Seele“ dieses Tieres alles andere darstellt, als die Seele von Richardsons Dienstmädchen oder die bürgerliche Innerlichkeit bei Jane Austen oder Fontane. Ja, man könnte sogar meinen, die Tierseele bei Hofmannsthal sei so etwas wie eine unlesbare Chiffre, die das PsychologischVerständliche im menschlichen Protagonisten, wie es sich im realistischen (Familien)-Roman etabliert hatte, zunichte macht und auf ein jenseits menschlicher Sprache, nicht näher zu bezeichnendes, diskontinuierliches ‚Anderssein‘ hinweist. Dies ist eigentlich das Fazit der ‚epiphanischen‘ Offenbarung, das 28

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Karl-Heinz Bohrer in seiner klassischen Studie von ‚Plötzlichkeit‘ gezogen hat (hier in Hinblick auf Hofmannsthals Chandos, aber es gilt für viele Schriftsteller der Moderne): Die ‚Epiphanie‘ des ‚Augenblicks‘ ist das einzig substantiell Gebliebene. Es ist nicht ‚symbolisch‘ interpretierbar, weist nicht über sich hinaus, sondern stellt umgekehrt jede Art von vorweggenommener Kontinuität in Frage.12

Nicht anders verfährt Franz Kafka – begeisterter Leser übrigens des ChandosBriefes – mit seinen Tiergestalten. Seine ersten Erzählungen, etwa Das Urteil und Die Verwandlung (beide 1912 geschrieben), bleiben einem traditionellen Erzählrahmen verhaftet, wo die bürgerliche Familie und deren Wohnung zum Schauplatz der Handlung wird. Aber diese Familien stecken schon in der Krise, zu der sich aus dem realistischen Rahmen herausfallende Vorkommnisse hinzufügen, wie die Verwandlung eines alten, schwachen Vaters in ein Schreckbild vom allmächtigen Urvater, oder die eines braven Sohnes und gewissenhaften Handelsreisenden in ein „ungeheures Ungeziefer“. Dabei unterminieren diese Geschichten die tradierte Psychologie des durchsichtigen Innenlebens, denn man weiß plötzlich nicht mehr, was ‚draußen‘ in der Welt und ‚drinnen‘ im Protagonisten stattfindet. Hat sich Gregor Samsa tatsächlich in ein Ungeziefer verwandelt, oder bildet er es sich nur ein? Wo liegt die Grenze zwischen Mensch und Tier? Wie die ‚Seele‘ der Ratte bei Hofmannsthal ist Kafkas Ungeziefer eher ein Bild, das die Transparenz der realistischen Darstellungsweise sowie die Kontinuität zwischen einzelner Familiengeschichte und Geschichte überhaupt verweigert. Kafkas erster Roman Der Verschollene, im gleichen Jahr begonnen wie diese Erzählungen, fängt mit der willkürlichen Machtgeste einer Familie an, indem der junge Held Karl Roßmann, der von einem Dienstmädchen verführt wurde und einen Sohn bekommen hat, gleich nach Amerika geschickt wird. Er hat also zum Beginn des Romans nicht nur sein Familienhaus verloren, er hat auch keine Verbindung mit seinem eigenen Sohn und dessen Mutter. Das Komische sollte dabei das Traumatische dieses Vorfalls nicht kaschieren, denn, wenn die Eltern den Sohn anstelle des Dienstmädchens aus der Familie weisen, so tun sie es aus einem grausamen‚ ‚ökonomischen‘ Bedenken: um der Alimentenzahlung dadurch zu entkommen und den Familienskandal zu vermeiden.13 Dieses Machtspiel der Eltern fügt sich zum sexuellen Trauma hinzu, das Karl Roßmann durch die gewalttätige Handlung des Dienstmädchens erlebt hat: Eine ihm ältere und überlegene Frau, die ihn in ihr Zimmer einsperrt, ihn „würgend“ umarmt, entkleidet und schließlich in seinen Körper auf eine so „widerliche“ Weise eindringt, dass er „Kopf und Hals aus den Kissen heraus schüttelte“, bis 12 13

Bohrer, Karl-Heinz, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main, 1981, S. 63. Dies ist mindestens die Ansicht von Karls Onkel Jakob in Amerika, der ihn aufnimmt. Ob dies stimmt, oder nur eine unbegründbare Behauptung ist, bleibt offen. Vgl. Kafka, Franz, Der Verschollene, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt am Main, 1983, S. 40 (als Sigle DV).

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sie ihn endlich loslässt (DV 43). Es ist eine schlichte Vergewaltigung, wo die Frau die männliche Rolle der Aggression annimmt. Mit diesem dem Roman zu Grunde liegenden Handlungsschema schafft Kafka, wohl unabsichtlich, die ziemlich genaue Umkehrung der Geschichte von Richardsons Pamela. Auch da geht es um ein Dienstmädchen, das ständig vor der Gefahr einer Vergewaltigung innerhalb des eigenen Hauses steht, die sie in den sozialen wie ökonomischen Ruin stürzen würde. Diese ‚familiäre‘ Bedrohung bringt sie zum Schreiben jener Briefe, die ihre innere Gefühlswelt den Eltern und dem Leser vermitteln. Bei Kafka ist es gerade umgekehrt: der junge Sohn, der von dem Dienstmädchen vergewaltigt und von den Eltern ‚beiseite geschafft‘ wird („wie man eine Katze vor die Tür wirft“, erklärt der Onkel, DV 38), kommt „mit unverantwortlich ungenügender Ausrüstung“ (DV 40) nach New York, um nach verschiedenen Abenteuern an einen katastrophalen ökonomischen, sozialen und emotionalen Tiefpunkt zu gelangen. Die Quelle dieses Scheiterns ist das familiäre Trauma, wie wir im Anfangskapitel erfahren, wenn sein reicher Onkel die beschämende Vorgeschichte seines Neffen Reise vor einem fremden Publikum ausbreitet. Mit einer ihm sonst unüblichen Deutlichkeit zeigt Kafka die enge Verflechtung zwischen traumatischem Familienerlebnis und Vergangenheitsverlust auf: „Karl hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen. Im Gedränge einer immer mehr zurückgestoßenen Vergangenheit saß sie in ihrer Küche [...]“ (DV 41, meine Hervorhebung). Der umgekehrte Zusammenhang mit Richardsons Briefroman wird noch enger durch die Tatsache, dass der Onkel diese Familiengeheimnisse aus Briefen des Dienstmädchens erfahren hat, die sie an ihn, den Onkel, nicht an Karl gerichtet hatte. So wird der ‚Held‘ des Romans nicht nur aus dem Kreis der Familie ausgeschlossen, sondern auch aus dem des familiären Briefverkehrs. Gleich in seinem ersten Roman definiert Kafka also die intime Familiensphäre als einen traumatischen Machtraum, der dem Leser den Zugang zu Karl Roßmanns Vergangenheit, seinen Gefühlen, seinem ganzen Innenbereich versperrt. „Karl hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen“: Im ‚unendlichen‘, gewissermaßen geschichtslosen Amerika wird Karl Roßmann (ein Zufall, dass sein Name das Tierische evoziert?) zu einem psychologischen Hohlraum, zu einer undurchsichtigen Chiffre, die die bürgerliche, sich auf die seelische Entwicklung des Hauptcharakters stützende Erzählweise abbaut. Insofern ist dieser doppelt familienlose Protagonist der Wegbereiter für seine radikaler alleinstehenden Nachgänger Josef K. im Process-, oder K. im SchloßRoman. Traumatisiert, fast ohne Erinnerungen an die eigene Familie lebend, kommt Karl immer wieder in neue Ersatzfamilien, zunächst bei dem Onkel, dann im Hotel Occidental und schließlich bei der Prostituierten Brunelda mit ihren zwei Bediensteten, aus denen er wie aus der eigentlichen Familie herausgewiesen wird. So wiederholt sich im Laufe des Romans das Urtrauma in der eigentlichen Familie, Karl geht von einem Abenteuer zum nächsten, ohne sich zu entwickeln, ohne nach dem Grundmuster der immigrant novels in der neuen Welt aufzusteigen. Im Grunde steigt er aus dem bürgerlichen Familien30

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roman in eine Picaro-Erzählung ein, er erlebt die neue Welt buchstäblich on the road, allerdings nicht als abenteuerliche Bestätigung seiner Freiheit und individueller Autonomie, sondern als ein Albtraum, der den Verlust seiner vorherigen, durch die Familie gewährleisteten Identität immer wieder hervorhebt. Thomas Buddenbrooks Vision von einer euphorischen, ‚unendlichen Gegenwart‘ verwirklicht sich in Kafkas Verschollenen im Negativen als das Präsens eines andauernden Familientraumas, das noch weiter und radikaler in den späteren Romanen geführt wird, auch wenn die Familie als solche verlorengeht. Ursprünglich schwebte sie aber Kafka noch vor. Der erste Auftritt des Namens ‚Josef K.‘ findet nicht im Process-Roman statt, sondern in einer kurzen Tagebucheintragung vom 29. Juli 1914.14 Es handelt sich hier offenbar um eine Vorstudie zum eigentlichen Process-Roman, mit dessen Niederschrift Kafka kurz darauf begonnen hat. Auffallend ist natürlich die Figur des Vaters, der im tatsächlichen Roman, wie wir ihn kennen, völlig verschwindet. Bruchstücke einer Familie werden behalten – ein Onkel und eine Nichte tauchen aus dem Nichts herauf, ein Kapitelentwurf heißt „Fahrt zur Mutter“ – aber auf die festumrissene Struktur einer Familie hat Kafka verzichtet. Ein Vater, mehr noch, ein Streit mit einem Vorwürfe machenden, befehlshaberischen Vater, fungiert also nicht mehr als der alles in Gang setzende Anfangspunkt der Handlung, wie es noch bei Gregor Samsa, Georg Bendemann und Karl Roßmann geschieht. Josef K., der allein in einer Pension wohnende Junggeselle, wird nicht definiert durch seine familiäre Herkunft, seine Vergangenheit, seinen inneren ‚Charakter‘, sondern durch ein bürokratisches Gerichtssystem, das eines Tages, „ohne dass er etwas Böses getan hätte“, plötzlich in sein Leben kommt und ihn festnimmt. Dabei ist hier schon das für Kafka charakteristische Ineinanderverwobensein der Innen- und Außenwelt zu bemerken. „Diese stummen untergeordneten Personen machen alles, was man von ihnen voraussetzt“, überlegt sich Josef K. über den Türhüter. „Denke ich, dass er mich mit unpassenden Blicken beobachtet so tut er es wirklich.“15 „Zum letztenmal Psychologie!“ hat Kafka im Tagebuch ausgerufen, vielleicht auf seine Romanhelden verweisend.16 Was nicht heißt, es gebe kein Verhältnis zwischen dem Gericht und dem Innenleben von Josef K. Obwohl dieses fast durchweg als eine psychologische Leerstelle von Kafka behandelt wird, er14

15 16

Kafka, Franz, Tagebücher, Hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley, Frankfurt am Main, 1990, S. 666: „Josef K., der Sohn eines reichen Kaufmanns, ging eines abends nach einem großen Streit den er mit seinem Vater gehabt hatte – der Vater hatte ihm sein liederliches Leben vorgeworfen und dessen sofortige Einstellung verlangt – […] in das Haus der Kaufmannschaft, das von allen Seiten frei in der Nähe des Hafens stand. Der Türhüter verneigte sich tief.“ Ebd., S. 666 f. Kafka schrieb diesen Satz zweimal: im sogenannten „Oktavheft“ am 1. Februar 1918 (Nachgelassene Schriften und Fragmente, II, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt am Main, 1992, S. 81; und dann im Frühjahr 1918 in einem von Kafka selber nummerierten „Aphorismenkonvolut“ (Nachgelassene Schriften, S. 134), die Max Brod unter dem Titel Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg erstmals 1931 herausgegeben hat.

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fährt K. gleich am Anfang seiner Verhaftung von den Wächtern, das Gericht werde von der Schuld ‚angezogen‘. Als er sich zu seiner ersten Begegnung mit dem Gericht begibt, fällt ihm ein, dass er keine genaue Adresse dafür hat. Dann aber bringt ihn der Gedanke an das ‚Angezogensein‘ der Schuld zu dem Schluss, er könne eine beliebige Richtung wählen und aufs Gericht stoßen, was dann tatsächlich passiert. Was er denn findet, wenn er schließlich ins Gericht kommt, sind schmutzige Gesetzbücher, die pornografische Zeichnungen enthalten oder einen Roman, dessen Titel auf eine abgeartete Familienerzählung hinweist (Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu erleiden hatte). Die Richter selber sind unersättliche Frauenjäger, die Frauen ihren Männern gewaltsam entführen. Das Raster einer Verbindung zwischen dem inneren psychologischen Raum der Romanfiguren mit der geschichtlichen Außenwelt, wie ihn Auerbach beispielhaft bei Stendhal und Balzac vorfindet, bleibt in Kafkas Process bestehen, aber anders als im Realismus kann der Leser dem Protagonisten nicht mehr zuverlässig „in die Karten“ schauen. Josef K.s innere Gefühls- bzw. Gedankenwelt wird selten mitgeteilt, man bleibt an der Oberfläche der Handlung. Kafka wird noch weiter auf diesem Weg im Schloß-Roman (1922) gehen, wo das Schrumpfen des Namens auf eine einzelne Initiale (gehört sie dem Familiennamen oder dem Vornamen?) dem fast restlosen Verschwinden der Familienherkunft gleichkommt. Beide Romane machen deutlich, dass das Aufgeben der Familie zugunsten eines anonymen, überall lauernden, undurchschaubaren Machtsystems genau den Ort markiert, wo Kafka seinen Weg in die literarische Moderne eingeschlagen hat. Es gibt im Grunde keine Geschichte mehr und infolgedessen verschwindet die Verbindung zwischen fiktiver Einzelgeschichte und Historie, die die Basis des echten Familienromans seit jeher ausmacht.17 „Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein“ stellt der Hauptprotagonist von den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge fest.18 Der nach Paris gekommene junge Däne erzählt also nicht, er zeichnet die Welt modernen Großstadtlebens auf. Beobachtung, genaueste Beschreibung, „sehen lernen“ ist die Formel für diesen allein lebenden Schriftsteller, der sie nicht nur im Hinblick auf die Schrecken erregenden Bilder der Metropole anwendet, sondern auch auf die eigenen Ängste und Schwächen. Dabei werden die Grenzen des Ichs porös, die Außenwelt drängt gleich in das Innere des Protagonisten ein: „Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin“ (MLB 710). Gleich Hofmannsthals Lord Chandos wird Malte eine höhere Anschauungskapazität zugeschrieben, die zu teils epiphanischen, teils halluzinatorischen Visionen führt. Und wie bei Chandos soll Maltes fast divinatorische Sehergabe auf eine psychologische Tiefe hinweisen, die sich nur andeutungsweise verstehen lässt. 17 18

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Siehe hier Ru, Yi-Ling, The Family Novel: Toward a Generic Definition, New York, 1992. Rilke, Rainer Maria, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, Frankfurt am Main, 1966, S. 844 (als Sigle MLB).

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Die innere Tiefe wird durch die Schreckensbilder der Pariser Außenwelt angedeutet, deckt sich aber nicht mit ihnen; es handelt sich bei Malte – wie bei Lord Chandos oder dem traumatisierten Karl Roßmann – um Gefühle und Erlebnisse, die jenseits der Sprache liegen. Das Individuelle bei Malte, sein Beharren auf dem „Großen“ und dem Künstlerischen in einer ‚gesichtslosen‘ Welt, wo selbst der Tod fabrikmäßig produziert wird, gilt zurecht als das Kennzeichnen seiner Modernität, denn es entspricht der innovativen, montageartigen Organisation des Romans selbst, der auf eine kontinuierliche Erzählart verzichtet. Nichtsdestotrotz stehen diese Aufzeichnungen in der Tradition des Familienromans, die umso belastender wirkt, weil es die Familie längst nicht mehr gibt. „Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist“ (MLB 715), notiert er gleich am Anfang seiner Notizen. In der entscheidenden Geister-Szene seiner Kindheit in Urnekloster (die, wie wir aus dem Nachlass wissen, ursprünglich den Anfang des Romans hätte bilden sollen) betont Malte das Unheimliche, Bruchstückhafte und Verfremdete seiner übriggebliebenen, mutterlosen Familie, die als ein undefinierbares ‚es‘ erscheint: Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch die andern diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willkürlich war. Denn obwohl diese vier Menschen miteinander in entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen standen, so gehörten sie doch in keiner Weise zusammen. (MLB 731)

Sogar die Sprache bezüglich der Familiennamen ist verfremdet: als Kind kann Malte sich nicht entschließen, den Vater seines Vaters „Großvater zu nennen“, und dieser gibt Maltes Namen stets „eine scherzhafte Betonung“ (MLB 733). Das Beisammensein verursacht in allen eine lähmende Leere.19 Dieses „merkwürdige Haus“, sagt Malte, das er später nie wiedergesehen hat und nach dem Tod seines Großvaters in „fremde Hände kam“, ist: [...] ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment, aufbewahrt ist. [...] Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde zerschlagen. (MLB 729)

Mehr vielleicht als andere Autoren der deutschen Moderne hat sich Rilke bewusst mit dem Problem der bürgerlichen Familie auseinandergesetzt: nicht nur in der Reflexion über das Problematische seiner eigenen Erziehung oder, kurz vor der Niederschrift von den Aufzeichnungen, über seinen missratenen Versuch, eine Familie zu gründen. Er hat auch viel gelesen und geschrieben zu diesem Thema. Mit seiner Frau liest er zum Beispiel Karl Larsens Eheroman Was siehst du den Splitter von 1902, der das gegenseitige Missverstehen zwischen Mann und Frau behandelt (und den Antrieb zu seinem eigenen Drama über die Ehe gab). Er rezensiert positiv Thomas Manns Buddenbrooks mit seiner vornehm ‚objektiven‘ Darstellung der Krise der bürgerlichen Familie, 19

„Man saß da wie aufgelöst; völlig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle.“ (MLB 730).

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den „Abstieg [...] in das Nichts“.20 Ähnlich positiv bespricht er Ellen Keys Reformschrift über Familie und Erziehung, Das Jahrhundert des Kindes (1900), wie ihre früher erschienene Verteidigung der „missbrauchten Frauenkraft“. Wie Kafka, der „das Eigentümliche“ im Kinde als das Besondere im Menschen preist, das durch Erziehung und Schule zerstört wird, sieht Rilke die Familie als den Ort, der das Individuelle und das Künstlerische zu Grunde richtet.21 Wenn man Malte gewissermaßen als den konsequenten Versuch versteht, das durch Familie und Schule Individuelle und Künstlerische im Kinde zu retten, so wundert es kaum, dass die Legende des verlorenen Sohnes, mit der der Roman schließt, die Geschichte dessen ist, der von seiner Familie „nicht geliebt werden wollte“ (MLB 938). Schon als Knabe will er „seine Gewohnheiten ablegen“, und wenn er nach all den Reisen endlich zur Familie zurückkehrt, ist er ihnen nicht mehr verständlich, seine Gefühle sind „allgemein“ und „anonym“ geworden (MLB 942), sodass er zu einer, für die Nahestehenden, unlesbaren Chiffre wird. „Was wußten sie, wer er war“ (MLB 946). Rilke, Musil, Döblin und andere deutsche Romanautoren des frühen 20. Jahrhunderts, haben alle auf ihre Weise mit dem problematischen Erzählerbe des Familienromans gerungen, alle haben sie versucht, ihre Hauptfiguren der familiären Herkunft zu entbinden, um sie in einer autonomen, allerdings höchst ambivalenten Existenz einzurichten. Die Angstzustände, die etwa Malte Laurids Brigge in Paris oder Karl Roßmann in Amerika erleben, sind dem paranoiden Zustand des sprachlosen Chandos’ durchaus vergleichbar und sollten die Auffassung einer nur positiv gedeuteten Epiphanie der Moderne Lügen strafen. Dass der familienlose deutsche Roman am Anfang des 20. Jahrhunderts häufig nicht in der Lage ist, die Erzählung zu einem befriedigenden Ende zu bringen, ist nur folgerichtig, zielte er doch von Anfang an auf eine Ausschaltung aus der Geschichte in eine neue, ‚unendliche‘ oder gar mythische Existenzform, die, wie bereits in Buddenbrooks vorweggenommen, allzu oft in eine „verstummende Finsternis“ (FA 726) ausläuft. Das Thema der Familie ist kein triviales für die ‚ernsthafte‘ Literatur, kein ausschließlich von Frauen bevorzugtes, und so sehr man es ausklammern möchte, umso hartnäckiger meldet es sich zurück. Die nachkommenden Schriftsteller, die die erzähltechnischen Innovationen der literarischen Moderne im Laufe des 20. Jahrhunderts fortzusetzen versuchten (man denkt an Uwe Johnsons Jahrestage, oder Ingeborg Bachmanns Todesarten-Zyklus, oder W. G. Sebalds Austerlitz), können allzu gut bestätigen, wie sehr ein Schreibproblem mit einem Lebensproblem verbunden ist. Der moderne Held, aber auch der moderne Roman, kommt ohne Familie schlecht aus. 20 21

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Rilke, Rainer Maria, „Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘“, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Frankfurt am Main, 1965, S. 578. „Die ganze Erziehung, wie sie heute ist, besteht in einem fortwährenden Kampf mit dem Kinde, in dem schließlich beide Teile zu den verwerflichsten Mitteln greifen. Und die Schule setzt nur fort, was die Eltern begonnen haben.“ (MLB 588).

STEFANIA SBARRA

Familienbegriffe und Begriffsfamilien: Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs und Friedrich Nietzsches Kritik der Vererbung In Heinrich Manns Bibliothek stößt man auf ein Buch von Lothar Engelbert von Schücking, Die Reaktion in der inneren Verwaltung Preußens (1908), das ihm wahrscheinlich beim Verfassen der Kaiserreichtrilogie zugute gekommen ist. „Philosophisch“, liest man darin, „bedeutet Nietzsche für diese Periode eine gewisse Höhe“.1 Zu den Grundlagen dieser Periode, die die Idiosynkrasie des preußischen Bürgertums ausmachen, rechnet er dann u. a. „die aristokratischen Ziele des Familienegoismus“.2 Eine Seite später stellt Schücking fest, dass noch nie davor das Wissen um Heraldik und Genealogie so wichtig gewesen sei. Es handelt sich also hier um die Bestandsaufnahme von zwei entgegengesetzten Tendenzen, die in ihrer Kontiguität wahrgenommen werden: Die Hegemonie des Genealogischen im öffentlichen Diskurs des Wilhelminismus und dessen Dekonstruktion im Denken vom Autor einer Genealogie der Moral. Auf die Hochkonjunktur sämtlicher Genealogien im 19. Jahrhundert hat Sigrid Weigel mehrfach hingewiesen. Aus einem Vergleich zwischen Lexikonartikeln zum Lemma „Ahnen“ in Zedler (1732), Adelung (1811) und Pierer (1824-65) geht der Eintritt eines wachsenden genealogischen Interesses in die Semantik der bürgerlichen Familien deutlich hervor.3 Dafür, dass diese Hegemonie des Genealogischen eine radikale Hinterfragung desselben geradezu provoziert, gibt Nietzsche ein regelrechtes Paradebeispiel. Seine Dekonstruktion alles Überlieferten fängt bekanntlich in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne bei einer Untersuchung der Sprachgenese an. Der Weg vom ursprünglichen Nervenreiz zu einem ‚Bild‘, ‚Laut‘, ‚Wort‘ und ‚Begriff‘ geht durch eine Kette von Metaphern, bei der das singuläre Erlebnis des ersten Nervenreizes gelöscht wird und bald in Vergessenheit gerät: Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. […] Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine

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Schücking, Lothar Engelbert von, Die Reaktion in der inneren Verwaltung Preußens, BerlinSchöneberg, 1908, S. 8. Ebd., S. 9. „Während die symbolischen Darstellungen familialer Genealogien zuvor exklusiv als Thema des Adels behandelt wurden, entsteht aus dem Ahnen als Bezeichnung für die Vorfahren von Adligen ein zweiter, aber allgemeiner Begriff von Ahnen im Sinne von Vorfahren.“ Weigel, Sigrid, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München, 2006, S. 156.

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Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X.4

Dieser schon im Keim lügenhafte Abstraktionsprozess ermöglicht die Entstehung dessen, was man Wahrheit nennt: Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Antropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind […].5

Diese Wahrheiten dienen zur Errichtung eines Werte- und Machtsystems: [I]m Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, wie niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulierende und Imperativische.6

Das wird aber erst aufgrund einer bewährten Mechanik der Wiederholung und der Tradierung ermöglicht. Das willkürlich und ohne alle Notwendigkeit Festgelegte kann erst durch Vererbung in den Rang der Wahrheit erhoben werden: Selbst das Verhältnis eines Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde ist an sich kein nothwendiges; wenn aber eben dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist, ja zuletzt bei der gesammten Menschheit jedesmal in Folge desselben Anlasses erscheint, so bekommt es endlich für den Menschen dieselbe Bedeutung, als ob es das einzig nothwendige Bild sei und als ob jenes Verhältnis des ursprünglichen Nervenreizes zu dem hergebrachten Bilde ein strenges Causalitätsverhältniss sei;7

Die Lügenhaftigkeit in der Entstehung der Begriffe dreht sich vor allem um die Auslöschung des Individuellen, wie sie bei Nietzsche in vielen Institutionen, u. a. in der Familie, zugunsten einer verallgemeinerten Mittelmäßigkeit am Werk ist. Hier ist wie bei der Sprachbildung „das Gleichsetzen des NichtGleichen“ vorrangig, die Erscheinung des absolut Einzigen ist nicht zugelassen: Der heuchlerische Anschein, mit dem alle bürgerlichen Ordnungen übertüncht sind, wie als ob sie Ausgeburten der Moralität wären […] z. B. die Ehe; die Arbeit; der Beruf; das Vaterland; die Familie; die Ordnung; das Recht. Aber da sie insgesammt auf die mittelmäßigste Art Mensch hin begründet sind, zum Schutz

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Nietzsche, Friedrich, „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York, 1980, Band 1, S. 880. (Im Folgenden zitiert als KSA 1, 880). Ebd., S. 880-881. Ebd. Ebd., S. 884.

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gegen Ausnahmen und Ausnahme-Bedürfnisse, so muss man es billig finden, wenn hier viel gelogen wird.8

Wie bei jeder Institutionalisierung ist bei der Durchsetzung der Familie ein Verfahren am Werk, das auf Wiederholung beruht, und die Variante dieser Wiederholung äußert sich spezifisch in der Vererbung von einer überindividuellen Identität, bei der alles Abweichende totgeschwiegen wird. Bei Nietzsche kommt die Durchsetzung der Familie als Symptom eines politischen Verfalls vor, der schon im Hellenismus ansetzt: Aber auch in der Sitte des hellenischen Volks war das Anrecht der Familie auf Mann und Kind auf das geringste Maaß beschränkt: der Mann lebte im Staate, das Kind wuchs für den Staat und an der Hand des Staates. Der griechische Wille sorgte dafür, dass nicht in der Abgeschiedenheit eines engen Kreises sich das Kulturbedürfniß zu befriedigen wusste.9

Erst „bei der völligen Zerrüttung der Staatstendenz“ und der Durchsetzung der Frau als „Helferin“ wird die Familie zum „Notbehelf für den Staat […]: und in diesem Sinne musste sich auch das Kunstziel des Staates zu dem einer häuslichen Kunst erniedrigen“.10 Spürbar ist in diesen Zeilen nicht so sehr der Wunsch nach Abschaffung der Familie als Geflecht von tiefen affektiven Bindungen, wie es bei dieser Aufwertung des Staates in der Erziehung der Kinder scheinen kann, sondern vielmehr das Unbehagen am Wohnzimmer als kulturellem Horizont, d. h. das Unbehagen an der Stagnation der Bildung in der schlechten Luft des Häuslichen. Die Festlegung und Tradierung von Begriffen als verbindlichen Wahrheiten beruht bei Nietzsche auf einem bewährten Vererbungsmechanismus. Es ist das Epiphänomen einer sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollziehenden Wandlung, die mit der juridischen Engführung von „biologischer und ökonomischer Kontinuität des Geschlechts“ ihren Anfang hat, wenn der Code Napoléon (1804), das Modell der europäischen bürgerlichen Gesetzbücher, das Erben zum einen zu den herausragenden Formen des Eigentumserwerbs zählt, und zum anderen die Erbfolge regelt, d. h. die Rangfolge von Erbansprüchen nach der Anzahl der Generationen, die zwischen Erblasser und Erben stehen.11 Wilhelm Raabes Roman Die Akten des Vogelsangs (1896) kann als ein Paradebeispiel für das Kulminieren und die Krise zugleich dieses Komplexes gelten, wenn man den Zusammenhang von Familie und Vererbung ins Auge fasst. Er ist die wehmütige Darstellung der unaufhaltsamen Zerstörung einer Vorstadtidylle, deren gemütliche Interieurs und Gartenlauben innerhalb von ein paar Jahrzehnten neuen Fabriken und lauten Kneipen weichen müssen. Der Ich-Erzähler, Doktor Juris Karl Krumhardt, hat das Stadtviertel „Im Vogelsang“ schon längst verlassen, als ihn die Nachricht vom Tod des Jugend8 9 10 11

KSA 12, 505. KSA 7, 171. Ebd., S. 172. Vgl. Weigel, Sigrid, Genea-Logik., a.a.O., S. 146.

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freundes Velten Andres erreicht und dazu bewegt, die Geschichte seiner Kindheit und darüber hinaus die letzten Jahre bis zur Erzählzeit zu protokollieren. Im Mittelpunkt der Akten steht Velten und dessen an den bürgerlichen, soliden Verhaltensnormen des Vogelsangs gemessener exzentrischer Lebenslauf, der bei der als erweiterte Familie konzipierten Nachbarschaft sowohl Faszination als auch Irritation erregt. Dem väterlicherseits verwaisten Kind und seiner Mutter wird ein Familienfreund, Karls Vater, amtlich zugewiesen, und das Einzelkind Karl, dessen einzige Schwester an einer Kinderkrankheit früh gestorben war, findet in den Nachbarkindern Velten und der vorübergehend auch vater- und mittellosen Helene aus Amerika einen Ersatz für das fehlende Geschwister. Während sich Karl den Wünschen seines Vaters selbstverständlich fügt, seinen Spuren folgend eine Karriere als hoher Beamter antritt und eine Familie gründet, ist Velten von seiner Liebe für Helene besessen, scheitert aber in seinem Versuch, sie in New York für sich zu gewinnen. Bevor er nach einem abenteuerlichen Leben vereinsamt in Berlin an Lebensmüdigkeit und „ohne Eigentum in und an der Welt“12 stirbt, verbrennt er sein Erbe vom Vogelsang im Ofen, womit der Höhepunkt des Romans erreicht ist. Eine Reihe von Nebenfiguren bildet eine Art Chor, der sich fast ausschließlich zu Veltens Lebensweise entsetzt ausspricht. Wenn dieser Roman streng genommen nicht als Familienroman bezeichnet werden kann, ist er immerhin ein Roman zur Familie im ausgehenden 19. Jahrhundert und für den Familiendiskurs in der Prosa des Realismus sehr einleuchtend. Wesentlich ist die Spannung zwischen den Lebensentwürfen Karls einerseits und Veltens andererseits, wobei der eine die Kontinuität der Generationen in der Vermittlung des Erbes, und der andere die Verweigerung einer solchen statuiert.13 Eine zentrale Rolle spielt also dabei die Frage des Erbes, die sowohl beim Erzähler als auch beim Chor des Vogelsangs die materielle und metaphysische Grundlage jeder Existenz darstellt, während es Velten als bedrückend empfin12

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Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, in: ders., Sämtliche Werke (Braunschweiger Ausgabe), hg. v. Karl Hoppe, Freiburg i. Br./Braunschweig/Göttingen, 1951 ff., Band XIX, bearb. von Hans Finck und Hans Jürgen Meinerts, Freiburg i. Br./Braunschweig, 1957, S. 348. Die Natur dieser konkurrierenden Lebensläufe ist von Peter Sprengel und Marianne Wünsch mit soziologischem Ansatz, von Michael Limlei auf dem Hintergrund der hegelschen Romantheorie, von Eberhard Geisler in Bezug auf den poetischen Realismus, und von Walter Erhart als Beispiel von alternativen Entwürfen des Männlichen im Familiendiskurs erörtert worden. Vgl. Sprengel, Peter, „Interieur und Eigentum. Zur Soziologie bürgerlicher Subjektivität bei Wilhelm Raabe“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, 9 (1974), S. 127-176; Limlei, Michael, „Die Romanschlüsse in Wilhelm Raabes Romanen ‚Stopfkuchen‘ und ‚Die Akten des Vogelsangs‘“, in: Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk, hg. v. Leo A. Lensing und Hans-Werner Peter, Braunschweig, 1981, S. 342-364; Geisler, Eberhard, „Abschied vom Herzensmuseum. Die Auflösung des Poetischen Realismus in Wilhelm Raabes ‚Die Akten des Vogelsangs‘“, ebd., S. 365-382; Wünsch, Marianne, „Eigentum und Familie. Raabes Spätwerk und der Realismus“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 31 (1987), S. 249-266; Erhart, Walter, „Das ‚Familienarchiv‘ und die Grenzen der Schrift. Wilhelm Raabes ‚Die Akten des Vogelsangs‘“, in: ders., Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München, 2001, S. 208-231.

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det. Ähnlich wie bei Nietzsche „die Übersättigung einer Zeit in Historie dem Leben feindlich und gefährlich zu sein“ scheint, weil „durch dieses Übermass […] der jederzeit schädliche Glaube an das Alter der Menschheit, der Glaube, Spätling und Epigone zu sein, gepflanzt [wird]“14 , bedroht laut Velten das Erbe mit seiner Last die freie Entfaltung der Nachkommenschaft. Zu Goethe, den er immer wieder zitiert, äußert er sich dementsprechend: Der schickte seine Vulpius nach Frankfurt am Main, um den Hausrat seiner Mutter zu versteigern; aber der Tor hatte selbst sich schon längst einen neuen gesammelt und sammelte weiter daran, um ihn Erben zu hinterlassen, denen er schwer auflag. Ja, so seid ihr, Karl Krumhardt! Du hast es ebenfalls recht behaglich in deinen sicheren vier Wänden und doch aus dem alten, verschwundenen Neste, weiland hier zur Linken, manches mit in das neue Haus hinübergenommen, was Kindern und Kindeskindern dereinst schwer aufliegen wird (365).

Karls Lebenslauf erscheint unter diesen Bedingungen streng prädeterminiert. Bar jedes auch nur schwachen Impulses zur Abweichung von der vorgeschriebenen Bahn ist er zur Beteuerung eines durch die Ahnen ein für alle Mal im Familiennamen kristallisierten Werdegangs bestimmt. In seiner vorprogrammierten Lebensgestaltung fallen Pflicht und Neigung auf eine möglichst kastrierende Weise zusammen: Die moralische Utopie der Weimarer Klassik muss sich ein Jahrhundert später in einem faden Philisteralltag gefallen, der keine Denkräume außerhalb vom tradierten patriarchalischen Lebensentwurf duldet. Zur Zeit der Aktenverfassung Familienvater, wohnte Karl nämlich als Kind in dem Haus, das seinem Großvater gehört hatte, und auf seinen Schreibtisch blickt noch das Porträt seines Vaters herunter. Dass er ein Einzelkind ist, verleiht ihm den Status des unumstrittenen Erben. Erbfragen spielen bei ihm um so mehr eine zentrale Rolle, als er sich damit auch beruflich beschäftigt: Ich habe sie häufig in meinem Berufe zu suchen, die Verschollenen in der Welt; sie zu einem bestimmten Termin zu zitieren und sie, wenn sie nicht erscheinen, für tot zu erklären und ihren Nachlass den Erben oder dem Fiskus zu überantworten (317).

Selbst seine Motivation, diese Akten anzulegen, hat mit der Übertragung eines Familienerbes zu tun, es erscheint ihm der „Kinder wegen wohl der Mühe wert zu sein“ (227): Ich habe eben wahr zu sein, wenn ich durch diese Blätter bei meiner Nachkommenschaft irgendeinen Nutzen stiften will […] (234)

Ganz im Sinne des eigenen Vaters betont er die Kette von Verpflichtungen, die die Generationen miteinander verknüpft: Ich habe und halte meiner Kinder Erbteil. Das Spielzeug des Menschen auf Erden, das ja auch einmal meinen Händen entfallen wird, wollen sie aufgreifen, und ich – ich fühle mich ihnen gegenüber verantwortlich! – (345). 14

KSA 1, 279.

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Auch das über Generationen vererbte Elternhaus zeigt die semantische Dichte des Erblichen in diesem Roman auf, denn nicht etwa von Napoleons Feldzügen in Deutschland, sondern ausgerechnet des spanischen Erbfolgekrieges musste es Zeuge sein, eines Konflikts nämlich, der in seiner Bezeichnung das Erbe evoziert (219). Ganz anders verhält es sich bei Velten und Helene: Veltens Großvater war reich gewesen, der Reichtum verschwindet aber „in der Folge der Geschlechter“ (221). Sein Vater hatte das Haus im Vogelsang zwar gekauft, nach seinem Tod musste es aber mit einer Hypothek belastet werden. Die noch mittellose Helene, bevor ihr Vater endlich zum sie von der Armut erlösenden finanziellen Durchbruch in den USA kommt, wohnt mit ihrer Mutter sogar in einer Mietwohnung. Die Aura des tradierten Familieneigentums, wie sie noch Karl an seinem Haus erlebt, wird schließlich vom industriellen Fortschritt vernichtet, ihre Erosion ist aber schon im Lebenslauf des exzentrischen Freundes angekündigt. Nur Veltens Mutter hält an ihrem ärmlichen Eigentum fest, indem sie alleine im Vogelsang zurückbleibt: „Sie haben es ihr zugebaut, das sonnige, grünende, blühende, lachende Familienerbe“ (346), sagt ihr Sohn und setzt die vorindustrielle Idylle mit dem Familienerbe gleich. Der Höhepunkt wird im Roman erreicht, als Velten nach dem Tod der Mutter seinen Erbteil im Ofen verbrennt und das verwüstete Haus verschenkt. Eigentumsmüdigkeit macht den gutherzigen Velten längst vor diesem Zerstörungswerk zum Ungeheuer in den Augen der anderen. Karls Schwager, dem er einmal das Leben gerettet hat, bezeichnet ihn als „endemisch gefahrbringend“ (357), seiner Frau Anna ist er „unheimlich“ (347): „aber ein Eigentum hat der nicht mehr in der Welt und an der Welt, und was für mich und unseresgleichen sehr trostlos ist: will es auch nicht haben […] das ist ein sehr gefährlicher Mensch“ (348). Und Velten selber, der als einziger in seiner Umgebung durch die Welt gereist ist, spricht sich von der Gemeinschaft des deutschen Interieurs los, indem er ausgerechnet in der guten Stube die Stätte des Unheimlichen verortet: „Es ist unheimlich warm bei dir, Velten“, bemerkt Karl, während der ganze Hausrat in den Ofen verschwindet. „Gemütlich!“, lautet die Antwort, „Deutschgemütlich, was? Ihr habt ja den Ausdruck, macht Anspruch darauf, ihn in der Welt allein zu haben, also bleib auch du ganz ruhig bei ihm, Krumhardt!“ (370). Wenn nichts Verbrennbares mehr übrig bleibt, öffnet Velten sein Haus für eine regelrechte Plünderung. Vom nahen Varieté kommt ein ganz besonderer Gast, Herr German Fell, „von der Anthropologie genannt ‚das gefundene Mittelglied‘, der unübertrefflichste Affendarsteller beider Hemisphären“ (376), der in sich jene Eigenschaften vereinigt, die Karls aufgebrachter Vater Jahre davor den Kleinen – Helene und Velten – zugeschrieben hatte: „Affe“ die eine, „Komödiant“ der andere (253). Keinem wird im Roman auf einmal länger das Wort erteilt als German Fell, der nach dem Studium in Wittenberg zu den Anthropoiden übergegangen ist (381). Im Vogelsang meldet sich hiermit eine verwilderte Variante des Nachbarn, einer „vom nächsten Ast“ (381), der die 40

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größte Affinität zu Velten offen legt. Dieser hatte schon während seiner Studienzeit in Berlin seine Existenz mit einer Affenmetapher beschrieben: Das war der meinige – mein Ast meine ich! Was durch Nachklettern und naturhistorisch als Wickelaffe zu leisten war, glaube ich möglich gemacht zu haben (300).

Mit der Erscheinung von German Fell verwandelt sich nun das bürgerliche Interieur in der Wahrnehmung der bestürzten Nachbarschaft in eine verwilderte Landschaft, wo der darwinistische Kampf erst ansetzt: „Alles wie vor die Hunde. Wer die besten Zähne hat, zuerst damit dran!“ (379). Die Unterbrechung der Vererbungskette bedeutet für die entsetzten Zuschauer dieses Autodafés den Rückfall in einen primitiven, ja tierischen Zustand, der die durch Darwin festgestellte Evolution rückgängig macht. German Fell und sein Freund Velten führen die Erfüllung der philiströsen Angst vor Augen, die auch Karl gelegentlich packt: Es ist zwar eine Torheit, aber wie oft griff ich später meinen Jungen nach den Köpfen und tastete sorgenvoll nach den Höckern und Gruben, die ihnen die Begabung zum ruhigen Wandel auf der breiten Straße der Mittelmäßigkeit verbürgen sollten! Und am bedenklichsten dann, wenn meine Gattin einen außergewöhnlich offenen Kopf an einem der armen Kerle bemerkt haben wollte (262263).

Wenn wir vom Erzähler absehen, der in der Liebe zum Freund zwischen Schrecken, Bewunderung und Neid schwebt, besteht ein schroffer Gegensatz zwischen dem Sonderling und dem chorartigen Vogelsang, wo die Äußerungen der Empörung kein Ende nehmen. Mit der Verbrennung des Erbteils scheint sich in aller Augen der Weltuntergang anzukündigen, und zwar der Untergang der einzig möglichen Welt, die sich jeder anderen Codierung verweigert. Ein Präzedenzfall dieses Skandals ist in größerem Umfang in der Rousseaurezeption im 18. Jahrhundert zu verorten. In Ch. M. Wielands Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit (1770) sind die „Betrachtungen über Jean-Jacques Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen“ zu lesen, wo der homme naturel schier als Rückfall in den Affenzustand interpretiert wird, eine Aufforderung an die Menschheit „in die Wälder zu den Orang-Utangs und den übrigen Affen, ihren Brüdern, zurückzukehren, aus welchen sie eine unselige Kette von Zufällen zu ihrem Unglücke heraus gezogen habe“.15 Woran Wieland besonders Anstoß nimmt, ist Rousseaus Relativierung der Familie als anthropologische Konstante, wie er sie in einer Stelle aus dem Discours sur l’inégalité wahrnimmt, laut der der Naturmensch seine Kinder nicht als 15

Wieland, Christoph Martin, „Betrachtungen über Jean-Jacques Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen“ in: Sämmtliche Werke, hg. v. der Hamburger Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem „Wieland-Archiv“ Biberach/Riß und Hans Radspieler, Band V/14, „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“, Hamburg, Nördlingen, 1984, S. 124.

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solche erkennt.16 Dagegen sträubt sich in Wieland der empfindsame Schriftsteller und Zeitgenosse Lessings, der seine Dramen im häuslich-familiären Milieu angesiedelt hatte: Ist aber der Trieb der Geselligkeit den Menschen so natürlich: so haben diejenigen, welche sich die ersten Menschen in einer Familie vereinigt vorstellen, den Vorwurf nicht verdient, Begriffe aus der bürgerlichen Gesellschaft in den Stand der Natur herein getragen zu haben.17

In seiner Verteidigung der Familie als anthropologischer Gegebenheit greift Wieland auf schon längst etablierte Argumente zurück. Schon lange bevor Rousseau mit seinem ersten Discours die ganze Aufklärung zur harten Auseinandersetzung herausforderte, hatte Voltaire in seinem Traité de Métaphysique (1737) den Naturzustand im Sinne von Shaftesburys The Moralists behandelt, wo dem „bellum omnia contra omnes“ eines Hobbes die natürliche „benevolence“ des Menschen entgegen gesetzt wurde: Il suffit, pour que l’univers soit ce qu’il est aujourd’hui, qu’un homme ait été amoureux d’une femme. Le soin mutuel qu’ils auront eu l’un de l’autre, et leur amour naturel pour leurs enfants, auront bientôt éveillé leur industrie, et donné naissance au commencement grossier des arts.18

Die Familie erscheint schon als die Wiege jeglicher Kultur. Ist bei Raabes Chor die Vererbungskette die tragende Struktur der Zivilisation schlechthin, ohne die die Menschheit in tierische Zustände zurückfällt, so ist beim Aufklärer Wieland die Familie die Stätte einer heilbringenden ‚Vervollkommnung‘, und Rousseaus Negation ihrer Natürlichkeit unterminiert beide. Der perfectibilité, einem Neologismus Rousseaus, haftet beim Genfer Philosophen die ambivalente Bedeutung von technischem Fortschritt des Subjektes und ethischem Verfall der Gattung, Glück und Unglück zugleich, wobei der Zufall die entscheidende Rolle bei ihrer Entfaltung spielt. Eine Ambivalenz, die Wieland leugnet, indem er die Vervollkommnung absolut positiv besetzt: […] die möglichste Benutzung des Erdbodens und die möglichste Vervollkommnung und Verschönerung des menschlichen Lebens [ist] das große Ziel aller Bestrebungen, welche die Natur in den Menschen gelegt hat, und also im Grunde der Natur eben so gemäß [sey], als die Einfalt, in so fern diese eine unzertrennliche Gefährtin der ersten Periode des Lebens bey der ganzen Gattung so wie bey dem einzelnen Menschen ist.19

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Rousseau, Jean-Jacques, Œuvres complètes, hg. v. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris (Bibliothèque de la Pléiade), 1959-1969, Bd. III, S. 160. Wieland, Christoph Martin, „Betrachtungen über Jean-Jacques Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen“, a.a.O., S. 147. Voltaire, Mélanges, hg. v. Jacques van den Heuvel, Paris (Bibliothèque de la Pléiade), 1961, S. 193. Wieland, Christoph Martin, „Koxkox und Kikequetzel“, in: Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. V/14, S. 235.

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Ursprünglicher Ort dieser blühenden Landschaften ist die Familie, wie Wieland in seiner mexikanischen Legende über die Wiederbevölkerung der Erde nach der Sintflut, Koxkox und Kikequetzel erzählt. Ein Philosoph mit einem unaussprechlichen Namen ordnet die Entstehung verschiedener häuslicher Errungenschaften geschlechtsspezifisch dem ersten Menschenpaar zu, das sich nach der Katastrophe zusammengefunden hat: Tlantlaquakapatli schreibt die erste Erfindung dieser und aller anderen Künste der Mexikaner dem sinnreichen Koxkox und der zärtlichen Kikequetzel zu. Wenn wir ihm glauben, so erfand jener auch die Flöte, und diese die Kunst aus den bunten Federn des Kolibri und des Sensütl Kleidungsstücke und andere feine Arbeiten zu verfertigen.20

Gegen Rousseau und seinen ungebundenen, einsamen Naturmenschen wird die Familie als die Stätte des kosmetisch Schönen und der Kern einer kultivierten Gesellschaft auf den Plan gerufen. Die höchste Glückseligkeit bietet sich diesem Paar, dem die Natur eine Verlängerung der schon als Interieur gedachten Hütte ist: Rousseau ist nicht dieser Meinung. Er sieht den Übergang aus dem Stande der Natur in den Stand der Policierung als eine Sache an, die von allen Seiten mit unübersteiglichen Schwierigkeiten umgeben ist. Er kann nicht begreifen, wie ein Mensch zuerst habe auf den Einfall kommen können, ein Weibchen für sich selbst zu behalten, eine Hütte für sie zurechte zu machen, und der Vater von seinen Kindern zu seyn?21

Sobald aber ein Single die Szene betritt und die Frau verführt, erfährt die Idylle der Vervollkommnung eine jähe Unterbrechung: Die Liebe im edlern Verstande, die Liebe die eine Empfindung des Herzens ist, hörte auf. Eine Frau war für einen Mann – was die Hindin für den Hirsch ist, und umgekehrt. Die Kinder waren nicht mehr das Liebste was die Ältern in der Welt hatten. Ein Kind hatte gar keinen Vater, eben darum weil so viele Männer gleich viel Anspruch an diesem Nahmen machen konnten. Die Kinder wurden also mit sehr vieler Gleichgültigkeit der Natur und dem Zufall überlassen; und weil sich die Mütter selbst so wenig als möglich mit ihrer Erziehung zu thun machen wollten, so entstand nach und nach die unmenschliche Gewohnheit, kränkliche oder gebrechliche Kinder wegzusetzen.22

Ähnlich wie Rousseaus Naturmensch bei Wieland ist Velten bei Raabes Personal in seiner Affinität zu German Fell der ungebundene, familienlose Sonderling, der die bürgerliche Ordnung unterminiert, an der der Chor des Vogelsangs verzweifelt festhält. Nicht die Priorität der aufklärerischen Vervollkommnung, sondern die Vererbung als Struktur des Daseins ist es, was hier 20 21 22

Ebd. Wieland, Christoph Martin, „Betrachtungen über Jean-Jacques Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen“, a.a.O., S. 140. Ebd., S. 112.

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gekündigt wird. Der bei Wieland Gesellschaft stiftenden Empfindsamkeit, die zwar die Einbeziehung des Menschen in eine Familie, aber auch in den breiteren Horizont der Natur intendierte, weicht in der vorindustriellen Idylle die Pietät für die Gegenstände des Interieurs, die ihre Aura durch die Generationen erhalten haben und in Veltens Katalog der Zerstörung entweiht werden. Wenn Wieland vor Rousseaus Warnung vor der instrumentellen Vernunft taub war und in seinen Discours nichts weiter als die Absage an die zivilisatorischen Bemühungen der in Deutschland noch schwer Fuß fassenden Aufklärung erblickte, war er entschieden zukunftsorientiert. Bei Raabe ist dagegen die ängstliche, epigonale Fixierung an Vergangenem und Tradiertem, die zur Dämonisierung des Sonderlings führt und seine Bewegung „von Ast zu Ast“ weg vom Ballast des Vererbten als Rückfall in die Wildheit anprangert, anstatt darin auch die Chance einer Erneuerung des Lebens zu erblicken. Diese zweite Interpretationsmöglichkeit bleibt weder dem Erzähler, noch dem Chor im Vogelsang ganz verborgen, denn Veltens Taten erregen nicht nur Empörung, sondern gelegentlich auch Neid. Die Bilanz der gegeneinander konkurrierenden Lebensentwürfe zieht schließlich der Protokollführer mit Resignation: Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte; er nichts – wie die Welt sagt – und – wie ich mich zusammennehmen muss, um den Neid gegen ihn nicht aufkommen zu lassen! Was kann ich heute an seinem Grabhügel andres sein als ein nüchterner Protokollführer in seinem siegreich gewonnenen Prozess gegen meine, gegen unsere Welt? Was aber würde erst sein, wenn ich auch nicht mein liebes Weib, meine lieben Kinder gegen diesen „verlorengegangenen“, diesen – besitzlosen Menschen mir zu Hülfe rufen könnte? (295)

Karl, als Einzelkind der unanfechtbare, willige Erbe schlechthin, hat den Kampf um die eigene Existenz anders als die frühverstorbene Schwester überstanden. Der vom darwinistischen Standpunkt aus Stärkere gibt sich aber vor dem erblosen, zu Grunde gegangenen Velten geschlagen. Sein Unbehagen an dem Erreichten verrät, was Nietzsche über seine Zeit zum herrschenden Darwinismus als Interpretationsparadigma des Lebens bemerkt hatte: Anti-Darwin. Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht ist, immer das Gegentheil vor Augen zu sehen von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zu Gunsten der Stärkeren, Besser-Weggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegentheil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher gerathenen Typen, das unvermeidliche Herrwerden der mittleren, selbst der untermittleren Typen. […] die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisirte Heerdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, der Überzahl gegen sich haben.23

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Nietzsche geht dann so weit, den Begriff der Vererbung in all seiner Fragwürdigkeit zu beleuchten24 und seine Rolle in Bezug auf den Fortschritt entschieden zu leugnen: Anti-Darwin. […] Man theilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß jeder Vortheil sich vererbt und sich in abfolgenden Geschlechtern immer stärker ausdrückt (während die Erblichkeit so capriziös ist…);25 Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung am leichtesten zu Grunde. Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon décadents… Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Caesar, ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich: ein Typus ist nichts Extremes, kein „Glücksfall“[...]26

Nietzsche bestreitet an anderer Stelle, dass man eine Sache erklärt habe, indem man sie auf „Gewöhnung und Vererbungskette zurückgeführt“ hat, und fragt sich, „wie Gewohnheit möglich [sei]? Wie ist Vererbung möglich?“27 Dass die Beschreibung eines Tatbestandes nicht hinter denselben zu kommen vermag, hat dem Genealogen der Kultur eingeleuchtet. Am Beispiel des Typus Krumhardt kann man zumindest beobachten, dass eine Bedingung für seine Vererbbarkeit in der Pflege des häuslichen Sachen-Katalogs liegt. In Karls Wohnung begegnet man seit Generationen vertrauten Gegenständen, die sich in ‚die Gemütlichkeit des Interieurs machende Sachen‘ verwandelt haben, d. h. in Dinge, die das Leben ihrer Eigentümer vereinnahmt hat, dadurch ihr ‚Dagegen-stehen‘ verloren haben, und sowohl emotional als auch mnemonisch besetzt sind.28 Im Schatten der vererbten Sachen sind Wohnung und Gewohnheit ihrer etymologischen Verwandtschaft entsprechend einen symbolischen Pakt eingegangen, der den Einbruch vom Neuen und Fremden abwehrt und dadurch das Gemütliche hypostasiert. „Weil Gewohnheit“, so Vilém Flusser, „Wahrnehmungen abschirmt, weil sie anästhetisiert, wird sie als angenehm empfunden. Als gemütlich. Die Gewohnheit macht alle hübsch ruhig. 24

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Schon 1880 hatte er notiert: „Irgendwann einmal wird ‚Vererbung‘ eben auch als Schlupfwinkel der Unklarheit und der Mythologie gelten: einstweilen ist es noch etwas“. KSA 9, 109. Später, 1885: “Dass ‚Vererbung‘, als etwas ganz Unerklärtes, nicht zur Erklärung benutzt werden kann, sondern nur zur Bezeichnung, Fixierung eines Problems. Eben das gilt vom ‚Anpassungs-Vermögen‘. Thatsächlich ist durch die morphologische Darstellung, gesetzt sie wäre vollendet, nicht erklärt, aber ein ungeheurer Thatbestand beschrieben“. KSA 11, 562. Und 1887: „‚Vererbung‘ ein falscher Begriff“. KSA 12, 358. KSA 13, 315. Ebd., S. 317. KSA 11, 234. Zur ‚Transubstantiation‘ der Gegenstände in Sachen vgl. Bodei, Remo, La vita delle cose, Bari, 2009, S. 22 ff.

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Jede gewohnte Umgebung ist hübsch, und diese Hübschheit ist eine Quelle der Vaterlandsliebe. (Welche allerdings Hübschheit und Schönheit verwechselt). Wird die Decke der Gewohnheit weggezogen, dann entdeckt man. Alles wird dann ungewöhnlich, monströs, im wahren Sinne des Wortes ‚entsetzlich‘.“29 In Krumhardts Horizont, der von seiner Frau Anna am solidesten jenseits von seinen Zweifeln verkörpert wird, ist die Wattedecke der Gewohnheit gegen jede Zerreißprobe gefeit. Es ist eine Bereitschaft zur Reproduktion des Interieurs, die das Leben des Erben sowohl im Öffentlichen als auch im Privaten prägt. Die Stagnation des materiellen und geistigen Eigentums, oder mit Flussers Worten, die Abschirmung von den Informationen jenseits der Schwelle schafft die idealen Voraussetzungen für eine Entwicklung der Hausfrömmigkeit in Nationalismus, wie der viel gereiste, in den Augen der Vogelsangsgemeinschaft entsetzliche Velten mit seinem ironisch betonten „deutschgemütlich“ durchblicken lässt. Karl scheint in seinem schlechten Gewissen eine Ahnung von seiner Beschränktheit als Typus zu haben, hat aber weder die Kraft noch den Mut oder einfach die Lust, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Darüber hinaus verrät die Motivation seines Schreibakts – nämlich die Sorge um die eigenen Kinder –, dass er für die wahrscheinlichste Auswirkung seiner Erzählung auf sie blind ist. Im Sinne der parallelen Lebensbeschreibungen Plutarchs ist Velten als das abschreckende Beispiel aufgestellt. Als die Adressaten der Akten werden aber die Kinder nicht einfach mit einer gescheiterten Existenz konfrontiert, sondern auch mit einem spannenden, erfinderischen Abenteuerleben, während das positive, zur Identifikation angebotene Exemplum sich ganz in einer wenig attraktiven existenziellen Tautologie erschöpft. Eingebettet in die Folge der Geschlechter, ist Krumhardt weder ein Avantgardist, der die Bürde der Tradition mit einer befreienden Geste liquidiert, noch jener dem Tod geweihte Hanno Buddenbrook, der hellsichtig und frühreif der Vererbungskette mit einem Strich unter die Familienchronik ein Ende setzt. Wofür sich seine Kinder entscheiden könnten, steht offen.

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Flusser, Vilém, Von der Freiheit des Migranten. Einspruch gegen den Nationalismus, Bensheim, 1994, S. 105.

BRITTA HERRMANN

Papiergebilde. Familie, Roman und Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs 1) Familie, Roman und Gesellschaft im 19. Jahrhundert Familienromane haben gegenwärtig Konjunktur. Es gibt die These, dies sei so, weil die Ordnung der Familie im Rückzug begriffen sei und das bürgerlichpatriarchale Modell ausgedient habe.1 Aber möglicherweise ist es genau andersherum: Je mehr sich die Familie in und als Fiktion zeigt, desto weniger mag ihr zwar eine reale soziale Struktur korrespondieren – doch umso stärker funktioniert ‚Familie‘ als ein gesellschaftspolitisches Ordnungswort, mit denen die symbolischen Kräfteverhältnisse und kulturellen Imaginationen neu ausgerichtet werden.2 Denn Familie ist, so der Soziologe Pierre Bourdieu, ein „Papiergebilde“.3 Als solches stellt sie prinzipiell keine „unmittelbare Gegebenheit der sozialen Realität“4 dar, sondern ist ein Werkzeug, mit dem diese Realität erst hergestellt wird. Durch die Familie reproduziert sich die Struktur des sozialen Raums. Darüber hinaus sichert die Familie die Verortung des Individuums innerhalb dieses Raums und knüpft dessen singuläre Existenz in der Gegenwart an die historische Kontinuität der Generationenabfolge. Welches Modell der Familie jedoch als Norm erscheint, hängt zusammen mit den Bedürfnissen und Ängsten einer Gesellschaft – es ist also ein Ausdruck des kulturellen oder sozialen Imaginären. Dieses wiederum manifestiert sich in und wird geformt durch kulturelle Verhandlungen – und daran Teil haben mediale und fiktive Entwürfe von ‚Familie‘, nicht zuletzt solche der Literatur. Laut Sigmund Freud ist die Imagination von der idealen Familie, wie die Religion auch, ein Versuch, „die äußere Scheinwelt durch die innere

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Löffler, Sigrid, „Geschrumpft und gestückelt, aber heilig. Familienromane I: Sie haben sich überlebt, aber von ihrem Ende können sie noch lange zehren. Anmerkungen zur immergrünen Gattung der Generationen-Saga“, in: Literaturen, 6 (2005), S. 18-26 (bes. S. 21, S. 24). Dabei ist es natürlich nicht unerheblich, welches Familienmodell propagiert und welches verworfen wird: die Groß-, die Klein-, die Rumpf- oder die Patchwork-Familie. ‚Familie‘ ist ja keineswegs per se als ‚bürgerlich-patriarchale‘ Kleinfamilie definiert. Dieses Modell dominiert vielmehr erst seit dem 19. Jahrhundert und markiert die Ablösung von alternativen Formen der Gemeinschaft. Siehe dazu etwas ausführlicher meinen Beitrag „Verweigerte IchAusdehnung, historische Kontinuitätsbildung und mikroskopierte Wirklichkeit: Familienroman im 19. Jahrhundert“, der demnächst in Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte erscheint und anders perspektiviert ist. Bourdieu, Pierre, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main, 1999, S. 127. Ebd., S. 134.

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Wunschwelt zu bewältigen“.5 In der familialen Wunschwelt verbinden sich Abkunftsmythen, die Sehnsucht nach einer idealen Gemeinschaft, nach Macht, nach historischer Bedeutsamkeit, Dauer und Telos der eigenen Existenz. Unter dem Titel Der Familienroman der Neurotiker ordnet Freud die familialen Fantasien der Seelentätigkeit des (männlichen) Kindes zu – jeder Sohn ein „dichtende[r] Held“.6 Doch nicht nur Neurotiker dichten. Freud ist vielmehr überzeugt davon, dass die Gesellschaft selbst immer schon einem Familienroman folgt, dass dieser Mythos, Dichtung, überhaupt die gesamte „Volksphantasie“ strukturell prägt und immer wieder aufs Neue fantasiert, erzählt und geschrieben werden muss.7 Freuds Ansatz resultiert aus dem Denken des 19. Jahrhunderts – derjenigen Epoche also, in der auch der literarische Familienroman entsteht und populär wird. Dieser literarhistorischen Entwicklung wiederum korrespondiert die Beobachtung, dass die Familie zeitgleich zum zentralen gesellschaftlichen Fantasma avanciert. Der Historiker Thomas Nipperdey spricht sogar von einer „Familienreligion“.8 Sowohl diese quasi-sakrale Aufladung der Familie als auch die Konjunktur von literarischen Familiengeschichten samt Herausbildung einer eigenen Gattung markiert die Vehemenz des von Freud genannten Versuches einer Gesellschaft und einer Epoche, die „äußere Scheinwelt durch die innere Wunschwelt zu bewältigen“. Sie verweist gleichermaßen auf einen drohenden Verfall der realen Familie wie auf eine antagonistische Dynamik der Normierung und Normalisierung mithilfe verschiedener Institutionen zur Restitution der Familie. Gerade weil diese ein Konstrukt zwischen Ideal und Realität ist, avanciert sie zu einem ‚Ordnungswort‘, dessen normative Kraft soziale Realität erzeugen soll. In diesem Sinn konstatiert auch Nipperdey: Die Geltung der Familie und die Verbindlichkeit des Familienverständnisses wurden von einer schier ununterbrochenen Folge von Instanzen eingeprägt und befestigt: Elternhaus, Schule und Kirche; Recht und Verwaltung; Ärzten und Fürsorge; Literatur und Zeitungen: Familienromanen, -zeitschriften, -beilagen der Zeitungen. [...] Wer die Familie angriff, stellte sich außerhalb der Gesellschaft und provozierte die stärksten Emotionen.9

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Freud, Sigmund, Zweig, Arnold, Briefwechsel, hg. v. Ernst L. Freud, Frankfurt am Main, 1968, S. 51 (Brief vom 08. 05. 1932). Freud, Sigmund, „Der Familienroman der Neurotiker“, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, Bd. VII (= Werke aus den Jahren 1906-1909), London, 1955, S. 227-231 (hier S. 230). Freud, Sigmund, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, in: ebd., Bd. XVI (= Werke aus den Jahren 1932-1939), S. 101-246 (hier S. 108 f.). Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd.1: „Arbeitswelt und Bürgergeist“, 3., durchges. Aufl., München, 1993, S. 43. Ebd., S. 45. Zur Normalisierungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts vgl. zudem Foucault, Michel, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt am Main, 2006 und Foucault, Michel, „Die Sicherheit und der Staat“, in: ders., Analytik der Macht, Frankfurt am Main, 2005, S. 137-143 (bes. S. 140-143).

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All diese Normalisierungsbemühungen sind freilich explizit gespeist vom Wunsch nach Erneuerung des Familienlebens.10 Sie reagieren also auf gesellschaftliche Erscheinungen, welche zu diesem Zeitpunkt bereits nahe legen, dass die Ordnung der Familie im Rückzug begriffen sei. Demgegenüber wird nun im 19. Jahrhundert die Familie emphatisch beschworen. Familienlosigkeit erscheint als ein soziales Stigma; Hagestolze und Jungfern sind Gegenstände von Spott und Karikatur, von Dramen der Schuld und des Unglücks. In ihnen manifestiert sich jene Unbehaustheit, jene Vereinzelungs- und Entfremdungserscheinungen, an denen die Moderne spätestens seit dem 19. Jahrhundert laboriert. Familienlosigkeit torpediert zudem das bürgerliche Bedürfnis nach einer „ewigen sozialen Dauer“:11 jene aus der Vergangenheit sich speisende und in die Zukunft weisende Reproduktion des Individuums sowie des sozialen Gefüges, mit der gewaltige „Anstrengungen für die Aufstiegsmobilität“12 des Bürgertums motiviert werden können. Bourdieu vertritt die These, dass Familie ein Instrument sei, das Biologische ins Soziale zu übersetzen. Es ist aber, scheint mir, zugleich ein Instrument, das kulturelle Imaginäre und dessen symbolische und ästhetische Produktionen anzureizen. Zur Erneuerung und Stabilisierung des Familienlebens gehört im 19. Jahrhundert nämlich auch die Verdoppelung des Biologischen durch die Schrift. Empfohlen wird zum Einen das Anlegen von Chroniken oder die Einrichtung von Familienarchiven.13 Genus findet sich überführt in logos. Zum Zweiten aber avanciert der „Heerd der Familie“ innerhalb des bürgerlichen Romans zum „wahre[n] Mittelpunct des Weltbildes“.14 Diese Beobachtung macht Theodor Vischer bereits 1857 in seiner Kunstlehre. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt fest, dass die Familie den bürgerlichen Roman überhaupt erst konstituiert. Anders gesagt: Der bürgerliche Roman des 19. Jahrhunderts ist immer schon Familienroman. So gesehen wäre ‚Familie‘ ein Instrument, das Biologische nicht nur in Schrift, sogar in eine bestimmte ästhetische Form (Roman) und in ein poetologisches Programm (bürgerlicher Realismus) zu verwandeln. Und wieder zurück. Denn so, wie der Roman des Realismus sich durch das Erzählen von Familie motiviert und legitimiert, trägt er umgekehrt dazu bei, das „Papiergebilde“ Familie als potenzielle soziale Realität zu plausibilisieren. Dies führt letztlich zur Frage, welche Korrelationen zwischen genus und Gattung, zwischen Roman, Poetik und dem Konstrukt der bürgerlichen Fami10

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Vgl. etwa den programmatischen Titel von Ferdinand Tönnies, „Fünfzehn Thesen über die Erneuerung des Familienlebens (Schluß)“, in: Ethische Kultur. Wochenschrift zur Verbreitung ethischer Bestrebungen 1, 39 (1893), S. 302-312. Comte, Auguste, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, hg. v. Friedrich Blaschke, 2. Aufl., Stuttgart, 1974, S. 126. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866-1918, a.a.O., S. 44. Tönnies, Ferdinand, „Fünfzehn Thesen“, a.a.O., S. 311 f. Vischer, Friedrich Theodor, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, Tl. 3: „Die Kunstlehre“, Abschn. 2, H. 5, § 881, Stuttgart, 1857, S. 1314.

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lie zu beobachten sind. Eine Frage, die hier freilich noch nur perspektiviert, nicht aber befriedigend beantwortet werden kann. Denn dazu bedürfte es künftiger, umfassender Forschungen. Doch soll im Folgenden zumindest exemplarisch an Wilhelm Raabes Roman Die Akten des Vogelsangs (1896) gezeigt werden, welche Rolle die Schrift und der Akt des Schreibens für die Konstitution des Fantasmas Familie innerhalb dieses Romans spielt; welches ästhetische Programm damit verbunden ist; und wie sehr dieses Fantasma Dichtung und Mythenbildung in Gang setzt. Raabes Roman bietet sich deswegen an, weil er selbstreflexiv die Genese des Familienromans – als Freudsche Fantasietätigkeit und als bürgerliche Erzählung – thematisiert; weil er dafür zu Mitteln greift, die bereits in die Frühe Moderne weisen; und weil er sehr deutlich das Wissen präsentiert, dass ‚Familie‘ als ein bestimmter, Stabilität, Bindungen, Intimität und Zukunft sichernder bürgerlicher sozialer Raum gegen alternative Formen der Gemeinschaft bzw. gegen Familienlosigkeit errichtet werden muss. Und eben dadurch zeigt sich der Roman wiederum dem von Grenzziehungen dominierten Darstellungsparadigma des Realismus verpflichtet.

2) Gespenstische Zeichen: Krumhardts Familienroman Blut mag ein ganz besonderer Saft sein. Doch erst, wenn er zu Schrift und Zeichen gerinnt, entsteht auch eine Genealogie. Denn Namen und Geschichte bewahren sich dauerhaft nur in Stammbäumen, Mappen, Akten, (auto-) biografischen Aufzeichnungen – kurz: in schriftlichen Überlieferungen auf. Und nirgendwo wird vielleicht deutlicher, dass die Familie ein ‚Papiergebilde‘ ist, als im wiederholten Bemühen des 19. Jahrhunderts, derartige Verzeichnisse, Memorabilia und Urkunden in sinnhafte Erzählungen von historischer Kontinuität zu übersetzen – seien es solche der zur Leitdisziplin avancierenden Geschichtswissenschaft oder solche der Literatur. Denn nicht zuletzt die neu entstehende Gattung des Familienromans macht wiederholt (fiktive) Schriftzeugnisse der Vergangenheit zum Zentrum ihres Erzählens. Diese wiedergebend, kommentierend, um- und fortschreibend, demonstrieren die Romane, dass Geschichte sich im Erzählen von Geschichten konstituiert und dass die dargestellte Vergangenheit aus einer eigenen Logik der Narrativierung heraus entsteht. Nicht selten ist dabei die Fiktion der Welt des Faktischen in ihrer realitätsstiftenden Wirkung überlegen. So sind beispielsweise die Erinnerungsprotokolle des Karl Krumhardt, die Wilhelm Raabes Akten des Vogelsangs füllen, das restaurative und zugleich erklärtermaßen gar nicht ‚aktenmäßige‘ Projekt, in der Schrift etwa zu dokumentieren, was nicht – oder nicht mehr – existiert. Die Auslöschung des Faktischen bildet die Urszene und zugleich den Grund für Krumhardts Aufzeichnungen. Sie wird eingeleitet durch eine entscheidende Aktion des Freundes Velten Andres. Der nämlich veranstaltet nach dem Tod seiner Mutter einen „letzte[n] Kehraus“ im Elternhaus und verbrennt alle 50

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Dinge, welche die Mutter von den Familienmitgliedern gesammelt und in ihrem „Herzensmuseum“ aufbewahrt hatte.15 Dies ist der Moment, den Krumhardt, wie er notiert, sein ganzes Leben lang nicht vergisst. Es ist der Moment, der Krumhardt verdeutlicht, wie „wir im Vogelsang [...] trotz allem doch wie eine Familie gelebt hatten [...].“ Denn kaum ein Stück aus dem Haus des Freundes wandert in den Ofen, „an dem nicht auch für mich eine Erinnerung hing und mit ihm in Flammen aufging und zu Asche wurde.“16 Statt jedoch eine „psychologisch-philosophische Abhandlung“ über die Gründe zu schreiben, aus denen er, Krumhardt, bei diesem Vernichtungswerk selbst noch mithilft, stellt er vielmehr fest, dass er seine „Lebensakten in wünschenswerter Weise dadurch vervollständigen“ kann.17 Gerade der Verlust der materiellen, ‚faktischen‘ Erinnerungsträger führt also zur Wunsch-Biografie und motiviert einen imaginären Familienroman im späteren Freudschen Sinn: als eine Tätigkeit des Unbewussten, in der aus Sehnsucht nach einer glücklichen Kinderzeit die realen Familienverhältnisse umgedichtet werden.18 Krumhardts ‚Akten‘-Notizen erweisen sich nämlich zunehmend als eine Art écriture automatique, als ein nächtliches Anfüllen der Blätter mit unkontrollierbaren, gar gespenstischen „Zeichen und Bildern“,19 welche die bisherige Ordnung der Dinge, ja sogar das schreibende Ich selbst gefährden: „Wie mir mein von Vorgesetzten und Untergebenen anerkannter guter Geschäftsstil abhanden kommt, je länger ich diese Blätter beschreibe, je klarer und deutlicher ich mir das zu Sinnen und Gedanken bringe, was ich hier dem Papier übergebe! Was bis jetzt das Nüchternste war, wird jetzt zum Gespenstischen. Sie wackeln, die Aktenhaufen, sie werden unruhig und unruhiger um mich her in ihren Fächern an den Wänden und machen mehr und mehr Miene, auf mich einzustürzen. Ich kann nichts dagegen: zum erstenmal will [...] die Feder in meiner Hand nicht so wie ich“.20 Zwar wundert sich der Verfasser über die Eigenmächtigkeit der Schrift, aber das solcherart entstehende ‚Papiergebilde‘ soll dennoch im „Hausarchiv[ ]“ aufbewahrt21 und dem eigenen Sohn als Zeugnis dafür überliefert werden, wie es denn eigentlich gewesen sei. Scheinbar nur ganz nebenbei verweist die Wandlung der Zeichen vom Nüchternsten ins Gespenstische auf die Verknüpfung von zeitgenössischen spiritistischen Experimenten mit der Erforschung der Seelentätigkeit und dem

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Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, in: ders., Sämtliche Werke (Braunschweiger Ausgabe), hg. v. Karl Hoppe, Bd. 19, Göttingen, 1970, 2. Aufl., S. 211-408 (hier S. 375, 372). Zur Charakterisierung des Fiktiven siehe S. 262: „Ich habe es in den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig. Ich hole dies alles aus Ungeschriebenem, Unprotokolliertem, Ungestempeltem und Ungesiegeltem heraus und stehe für es ein.“ Ebd., S. 372. Ebd., S. 373, S. 372. Freud, Sigmund, „Der Familienroman der Neurotiker“, a.a.O. Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, a.a.O., S. 358. Ebd., S. 270. Ebd., S. 385.

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Versuch, daraus ein neues Autorschaftskonzept zu gewinnen.22 Und doch ist dieser Verweis nicht unbedeutend für die Frage nach der Zuverlässigkeit der Erzählinstanz und für die literarhistorische Situierung der Akten zwischen Realismus und Früher Moderne. Und auch nicht für die Genese des Familienromans. Denn hier wird deutlich, dass das Erzählen von der einen, ‚heilen‘, Familie eine Imagination ist, die sich erst über den Akt eines Schreibens generiert, dem das Ich gleichsam unterworfen ist. Aus den (para-)psychologischen Erfahrungen um 1900 generiert sich die Überzeugung, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist – und auch nicht über die Sprache. Die Erkenntnis der Differenz zwischen Rede- oder Autorintention und Zeichenbedeutung mündet nicht nur in eine Sprachkrise, sondern zugleich in ein neues Autorschaftskonzept, für welches nun gerade nicht der Wille und das Ich, sondern die mediale Befähigung des Künstlers zentral ist, Botschaften eines Nicht-Ich, sei dies ein Geist oder das eigene Unbewusste, aufzeichnen zu können. Wenn Krumhardt also dem Papier übergibt, was die Feder statt seiner will und wovon er erst weiß, je länger er sich das Aufgezeichnete zu „Sinnen und Gedanken“ führt, dann entspricht sein Schreiben bereits diesem Zeitgeist und dem Dichtungskonzept der literarischen Moderne: einem passiven, empfangenden, an der Mystik und der Inspirationslehre orientierten Vorstellung von Autorschaft,23 wie sie dann später etwa auch in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge evoziert wird: „Aber diesmal werde ich geschrieben werden.“24 Doch schon früher, ein Jahr vor Publikation der Akten des Vogelsangs, formuliert Hugo von Hofmannsthal jene Überzeugung von der Macht der Sprache und ihrer Eingebungen. In seinem Aufsatz Eine Monographie heißt es: „[…] für gewöhnlich stehen nicht die Worte in der Gewalt der Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte.“25 22

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Etwa im Umfeld der Psychologischen Gesellschaft in München. Siehe insbesondere Carl du Prel, „Das automatische Schreiben“, in: Sphinx. Monatsschrift für die geschichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage VI, 11 (1891), S. 65-70, S. 152-160, S. 201-207. Vgl. zudem das Material in dem Band Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare, hg. v. Priska Pytlik, Tübingen/Basel, 2006. Prel, Carl du, „Das automatische Schreiben“, a.a.O., S. 158. Ein solches Konzept richtet sich gegen die ‚starke‘, auf Urheberschaft und Originalität gegründete Autorschaft des Genies aus dem 18. Jahrhundert und hat einen Vorläufer in der ironisch gebrochenen Zeichentheorie des Frühromantikers Novalis. Siehe dazu Herrmann, Britta, „‚So könnte dies ja am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?‘ Über ‚schwache‘ und ‚starke‘ Autorschaften“, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, hg. v. Heinrich Detering. Stuttgart/Weimar, 2002, S. 479-500. Rilke, Rainer Maria, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6, hg. v. Rilke-Archiv. Frankfurt am Main, 1966, S. 705-946 (hier S. 756). Siehe dazu Pytlik, Priska, Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn, 2005, S. 187-194. Hofmannsthal, Hugo von, „Eine Monographie“, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Bernd Schoeller, Bd. 8, „Reden und Aufsätze I (1891-1913)“, Frankfurt am Main, 1979, S. 480.

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Konstitutiv für Krumhardts Familienroman ist also die Differenz von Autorintention und einer sich selbst reproduzierenden symbolischen Ordnung der Sprache. Was hier dem Papier übergeben wird, widerspricht nicht nur dem Modus und Aufschreibesystem der Akten, sondern auch dem IchBewusstsein. Krumhardts Schreiben bezeugt so weniger das Erzählte selbst als eine Krise der Sprachbeherrschung. Und damit zugleich eine Krise des (bürgerlichen) Subjekts. Dass diese Krise als bedrohlich wahrgenommen wird, entspricht dem Weltbild des Realismus, in dem weder das Unbewusste noch Ich-Krisen an Bedeutung gewinnen dürfen.26 Dass aber genau dies Krumhardt zum Verwalter der Zeichen, zum ‚Aufzeichner‘, zum „scripteur“27 macht, entspricht dem poetologischen Diskurs der Frühen Moderne. Begründet das Erzählen über die Familie also zum Einen die Gattung des bürgerlichen Romans, wie Vischer konstatiert hat, so zeigt sich nun zum Anderen, dass es auch an ein produktionsästhetisches Konzept geknüpft ist: In diesem Fall freilich an eines, welches dieses Erzählen als etwas ausweist, dem das Ich passiv ausgesetzt ist. Dass Sprache und Wörter gespenstische Erscheinungen sind, liegt aber nicht nur in der Subjekt- und Sprachkrise um 1900, sondern auch in der Etymologie der Sache begründet. In der frühen wortgeschichtlichen Bedeutung bezeichnen Gespenster nicht etwa die Gegenstände, sondern die Intention der Rede: Eingebung, Einflüsterung, Verführung, Täuschung.28 Der Paradigmenwechsel vom Nüchternsten zum Gespenstischen markiert bei Raabe daher auch die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz: Wer spricht/schreibt, wenn von der fremdgesteuerten Feder die Rede ist – Krumhardt oder eine andere Instanz? Hier zeichnet sich ein ähnlich ironisches Paradox ab, wie beinahe einhundert Jahre zuvor in Novalis’ Monolog (1799/1800), wo die Spannung zwischen der durch die Gesetze der Sprache gesteuerten Zeichenproduktion einerseits und der Ich-Rede des Autors andererseits herauspräpariert wird – und nicht aufzulösen ist.29 Und ist das, wovon dann in Raabes Text die Rede ist, nicht vor allem eine sprachliche Verführung durch eine Täuschung, durch ein Simulakrum dessen, was doch angeblich von Krumhardt bezeugt und historisch verbürgt werden soll – aber die Aktenhaufen bedenklich zum Wackeln bringt? Nicht zuletzt in dieser Erschütterung manifestiert sich die – durchaus 26

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Titzmann, Michael „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘“, in: ders., Realismus und Frühe Moderne. Beispielinterpretationen und Systematisierungsversuche, hg. v. Lutz Hagestedt, München, 2009, S. 275-307. Barthes, Roland, „La mort de l’auteur“, in: ders., Le bruissement de la langue. Essais critiques IV., Paris, 1984, S. 63-69. Schmitz-Emans, Monika, „Gespenstische Rede“, in: Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, hg. v. Moritz Baßler, Bettina Gruber und Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg, 2005, S. 229-252 (hier S. 229 f.). Novalis, Schriften, hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, 2., nach den Handschriften erg. u. verb. Aufl., Bd. 3, „Das philosophische Werk II“, hg. v. Richard Samuel, Darmstadt, 1968, Nr. 571, S. 365.

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bedrohliche – Macht der Sprache, eine kontrafaktische Realität zu generieren. Neben der neuen produktionstheoretischen Dimension moderner Autorschaft enthält der Verweis auf die gespenstischen Zeichen also auch einen deutlichen rezeptionstheoretischen Hinweis, die Einflüsterungen auch als solche wahrzunehmen. Im Heraufbeschwören der alten (Groß-)Familie des Vogelsangs, der sich nach dem bisher Gesagten also weniger als einstige Realität denn als topos – oder genauer: als kontrafaktischer u-topos, als Utopie – von Krumhardts Familienroman erweist, in der von der Feder diktierten Imagination einer vergangenen Gemeinschaft, für die das ‚ganze‘ Haus der Mutter Andres samt Inventar steht,30 gründet Krumhardt seine bürgerliche Kleinfamilie und die künftige Genealogie. Ohne diese imaginäre Neuverortung, ohne den Entwurf der Familie als ewige soziale Dauer und als Anknüpfung der Zukunft an die Vergangenheit, droht das (männliche) Individuum unbehaust zu bleiben und zu einer Art ewigem Wanderer zu werden. Diese Alternative nämlich verkörpert Velten Andres, dessen Zerstörungsakt für ihn selbst nicht in einer familialen Neugründung mündet. Er stirbt in einer Mietwohnung und, so heißt es, „[w]ie einer, der seit einem Menschenalter nicht von den Füßen gekommen ist!“.31 Mit der Wanderschaft als Teil der ihm zugewiesenen (oder selbstgewählten) Identität wird Andres zu jenem Fremden, dem Simmel in seiner Soziologie 1908 einen eigenen Exkurs widmet:32 Er ist der unzugehörige, aber inkludierte ‚Andere‘, der innerhalb eines sozialen Raums die stete Möglichkeit markiert, denselben (wieder) zu verlassen. Andres’ Schicksal demonstriert in nuce die Gefahren der sozialen Mobilität sowohl für das bürgerliche Individuum (Entfremdung, Wurzellosigkeit) als auch für die bürgerliche Gesellschaft (Überschreitung ihres Geltungsbereichs), denen das 19. Jahrhundert – und mit ihm Krumhardt – Tradition, Geschichte, Heimatkonzept und Familie gegenüberstellt. Doch Krumhardt ist, und dies entspricht dem doppelbödigen Schreib- und Erzählmodus, darin durchaus ambivalent, geprägt von einer heimlichen Sehnsucht nach dem Leben und der Welt des Anderen – nach Identifikation mit Velten Andres. Stets sind es Zuschreibungen von außen, die in Krumhardt von Kindheit an den ‚einzig Vernünftigen‘ erkennen; insbesondere sucht später seine Frau mit Verweis auf Kind und Familie zu verhindern, dass Krumhardt zum perhorreszierten antibürgerlichen Anderen wird: „Wie kann ich mich beruhigen, wenn solch ein Unhold [gemeint ist Velten Andres, A.d.V.] dich mir unter den Händen austauscht und allmählich zu einem andern

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„Vom Keller bis zum Dache war in dem Häuschen kein Nagel eingeschlagen, an welchem nicht auch etwas für mich aus den Tagen hing [...].“ Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, a.a.O., S. 372. Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, a.a.O., S. 392. Simmel, Georg, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig, 1908, S. 685-691.

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macht?“.33 Krumhardt selbst aber ist noch als arrivierter und ‚alter‘ Mann von achtundvierzig Jahren durch ein heimliches Begehren nach dieser, schon im Namen des Freundes ausgewiesenen Alterität gefährdet, die es zu unterdrücken gilt34 – und die doch im Akt des Schreibens, dieses ‚anderen‘ Schreibens als es die Ordnung der Protokolle und Akten erfordert, auszubrechen droht: „Er ist doch mein Freund gewesen, und ich der seinige. Ich habe sein Leben miterlebt, und doch, gerade hier, vor diesen Blättern, überkommt es mich von Seite zu Seite mehr, wie ich der Aufgabe, davon zu reden, so wenig gewachsen bin. Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte; er nichts – wie die Welt sagt – und – wie ich mich zusammennehmen muß, um den Neid gegen ihn nicht in mir aufkommen zu lassen!“35 Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen – darin manifestieren sich die Grenzen der eigenen Welt. Krumhardts sprachliche Welt freilich ist nicht nur geprägt von der zeitgenössischen gesellschaftlichen Rede darüber, was ein bürgerlich erfolgreiches Leben ausmacht („wie die Welt sagt“), sondern auch von dem, was innerhalb des literarischen Systems überhaupt dargestellt werden kann. Realistisches Schreiben ist nicht zuletzt dadurch charakterisiert, was aus der Darstellung ausgegrenzt ist. Und dazu gehört auch das Unbewusste, gehören die Triebe und die Affekte. Ausgrenzungen sind in realistischen Texten, und insbesondere bei Raabe, oftmals durch bewusst gesetzte Lücken und Leerstellen aufgezeigt. Nicht selten sind sie auch topografisch markiert, folgen dem Gegensatz von innen und außen, von oben und unten. Wenn Krumhardt also die Unmöglichkeit seiner Rede betont, weil er den verspürten Neid nicht ‚aufkommen‘, aus der Tiefe des Inneren nach außen an die Oberfläche treten lassen darf, auch nicht an die des Textes, dann entspricht dies einer im Realismus bevorzugten Weltstruktur der Grenzziehungen und der Statik.36 Dem Ich ist es nicht möglich, aus den Grenzen dieser Welt auszutreten, denn das sorgt für erhebliche Unruhe (etwa bei Krumhardts Frau, welche sofort die Familie dagegen setzt). Einem Nicht-Ich aber gelingt dies schon, wie es scheint. So gesehen ist die frühmoderne Sprachkrise und die Idee eines unintentionalen Fremdsprechens sowohl das Resultat als auch die Umgehung der Grenzziehungen durch das realistische Literatursystem. Dass in den Akten des Vogelsangs dem Akt der materiellen Zerstörung jener der zeichenhaften Wiedererrichtung folgt, ist angesichts des geheimen Wunsches nach der Identifikation mit dem Freund kein Zufall: Krumhardts 33 34

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Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, a.a.O., S. 373. Dass es sich dabei nicht nur um ein heimliches, sondern zugleich um ein als unheimlich abgewehrtes Begehren handelt, wird nicht zuletzt durch Andres’ Vornamen –Velten – betont: ‚Sankt Velten‘ ist ein alter Euphemismus für Satan. Neben der Verteufelung als „Unhold“ seitens Krumhardts Frau wird Andres aber auch mehrfach direkt als Satan bezeichnet. Vgl. zu letzterem Jückstock-Kießling, Nathali, Ich-Erzählen. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Realismus, Göttingen, 2004, S. 245. Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, a.a.O., S. 295. Titzmann, Michael „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘, a.a.O.

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Aufzeichnungen heben die von Velten zerstörten Erinnerungsträger in der symbolischen Ordnung der Schrift auf, bemächtigen sich ihrer und fügen sie seiner eigenen Geschichte ein. Auf diese Weise schreibt er seine Genealogie um und entwirft sich als den zweiten Sohn der Familie Andres, als Alter Ego von Velten: „Wie kam mir mit dem Schaukelpferd, das ich unter dem Dachwinkel hervorzog, jener Weihnachtsabend zurück, an welchem wir es zuerst ritten“.37 Krumhardt versucht nicht, wenigstens diesen Gegenstand, das Schaukelpferd, für seinen Sohn zu retten. Stattdessen wird dem Filius die erschriebene Ersatz-Familie des Vogelsangs samt verzeichnetem Spielzeug vermacht. Der Text führt so die Transformation von Dingen in Papiergebilde, von (Arte)Fakten in Fiktion, von genus in logos vor. Und er führt die Genese des Familienromans im 19. Jahrhundert vor, der anstelle jener Akten entsteht und jene Hausarchive füllt, von denen er scheinbar nur handelt.38 Krumhardts melancholische Aufzeichnungen zeigen, dass die bürgerliche Ideologie der Kleinfamilie sich aus der ‚gespenstischen‘ Sehnsucht nach einer kontrafaktischen sozialen Realität speist und sich gegen eine Gesellschaft richtet, in welcher die Menschen vereinzeln. Krumhardt beschwört mit Familie, Nachbarschaft und Freundschaft jene Formen der Gemeinschaft, die auch der Soziologe Ferdinand Tönnies 1887 in seinem Buch Gemeinschaft und Gesellschaft der modernen Gesellschaft gegenüber stellt. Insbesondere die Konzentration auf den Ort (Im Vogelsang) und auf die Nachbarschaft als Großfamilie entwirft eine Vergangenheit, in der eine Form der Sozialisation und Filiation herrscht, welche der engen bürgerlichen Reproduktionsgemeinschaft eigentlich vorzuziehen ist.39 Eine Vergangenheit, die sich bei Raabe aus den Kindheitserinnerungen seines Erzählers speist und also deutlich als regressives Fantasma markiert ist, die jedoch der konservative Familiensoziologe Wilhelm Heinrich Riehl Mitte des 19. Jahrhunderts sehr wirkungsmächtig als kulturgeschichtlichen Verlust dargestellt hat. In seinem Buch über die Familie schreibt Riehl 1855: „Die moderne Zeit kennt leider fast nur noch die ‚Familie‘, nicht mehr das ‚Haus‘, den freundlichen, gemüthlichen Begriff des ganzen Hauses, welches nicht blos die natürlichen Familienmitglieder, sondern auch alle [...] freiwilligen Genossen und Mitarbeiter der Familie in sich schließt [...]. Das Haus als Inbegriff einer socialen Gesammtpersönlichkeit, 37 38

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Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, a.a.O., S. 372. Zum intrikaten Verhältnis von Familiennarration und Geschichte im 19. Jahrhundert vgl. auch Fulda, Daniel, „Geburt der Geschichte aus dem Gedächtnis der Familie. Gotthelfs historisches Erzählen im Kontext vormärzlicher Geschichtsdarstellung“, in: Erzählkunst und Volkserziehung. Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf, hg. v. Walter Pape, Hellmut Thomke, Silvia Serena Tschopp, Tübingen, 1999, S. 83-110. „[I]m Wertsystem der fiktiven Welt Raabes bedeutet die Blutsverwandtschaft wenig oder nichts.“ So Sammons, Jeffrey L., „Die defekte Familie bei Wilhelm Raabe und die Fiktion der alternativen Gemeinschaft. Ein Versuch“, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1985), S. 27-43 (hier S. 38). Sammons versammelt zahlreiche Beispiele für zerstörte oder unvollständige Familien, die der alten These von der ‚Heiligkeit der Familie‘ bei Raabe eindrucksvoll widersprechen.

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das ‚ganze Haus‘ hat der Vereinzelung der Familie weichen müssen.“40 Familienlose Personen verlören so den Anschluss an die Gemeinschaft und auch Nachbarn, die „halb noch mit zum ganzen Hause“ gezählt haben, entfernten sich voneinander: „Das ist für die sociale Festigung eines ganzen Volkes von der tiefsten Bedeutung.“41 Erst das späte zwanzigste Jahrhundert wird langsam feststellen, dass es sich bei dem konstatierten Verlust der Gemeinschaft des „ganzen Hauses“ weniger um eine tatsächliche kultur- oder sozialgeschichtliche Entwicklung handelt, als um das Begehren eines von den Erfahrungen der Moderne gebeutelten kulturellen Imaginären42. Um den ‚Familienroman‘ einer ganzen Epoche, wenn man so will. Für den „Wiederaufbau des Hauses“ rät Riehl der bürgerlichen Familie zur Anlage einer Familienchronik.43 Und auch Ferdinand Tönnies empfiehlt 1893, also gut vierzig Jahre nach der von Riehl beklagten „Vereinzelung der Familie“ und zwei Jahre vor Raabes Akten, unter anderem die Anlegung eines Familien-Archivs.44 Was an synchronen Beziehungen verloren zu sein scheint, wird so diachron neu errichtet. Und erdichtet. Zumindest in den Akten des Vogelsangs erscheint der Erzähltext als Manifestation eines Schreibens, das sich von den Akten, die ein Historiograf als Quellen für die Rekonstruktion der Familiengenealogie nutzen müsste, distanziert und sie zugleich ersetzt; eines Schreibens, das gerade „aus Ungeschriebenem, Unprotokolliertem, Ungestempeltem und Ungesiegeltem heraus“ entsteht und für das explizit allein der Erzähler mit seinen Erinnerungen einstehen will.45 Dessen behauptete auctoritas und Zeugenschaft wird jedoch durch die bereits benannte Eigendynamik der écriture usurpiert: „Ich kann nichts dagegen: zum erstenmal will [...] die Feder in meiner Hand nicht so wie ich“.46 Nicht Dokumente, nicht oral history, nicht die Geschichtsschreibung, sondern Romane beantworten die Frage, wie es denn mit der Familie eigentlich gewesen sei. Mit ihren breit angelegten Fiktionen von Gemeinschaft und Behaustheit entsprechen sie einem individuellen wie kollektiven Begehren des 19. Jahrhunderts – und zeugen davon eher als jedes historiografische Dokument. 40 41 42 43

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Riehl, Wilhelm Heinrich, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik, 4 Bde, Bd. 3 „Die Familie“, Stuttgart/Augsburg, 1855, S. 147. Ebd., S. 148, S. 147. Vgl. etwa Coontz, Stephanie, The Way We Never Were. American Families and the Nostalgia Trap, New York, 1992. „Das bürgerliche Haus […] hat keinen Stammbaum und braucht keinen zu haben. Aber eine Familienchronik sollte in jedem Bürgerhause […] angelegt werden.“ Riehl, Wilhelm Heinrich, Die Naturgeschichte des Volkes, a.a.O., S. 263. Tönnies, Ferdinand, „Fünfzehn Thesen“, a.a.O., S. 311. Ärmere Familien können schon durch die Anlage einer Chronik den Zusammenhalt zwischen verstreut lebenden Verwandten stärken. Daneben plädiert Tönnies aber auch für „eine andere Gestaltung“ des Familienlebens, nämlich für den Zusammenschluss wahlverwandter Familien zu genossenschaftlichen Verbänden. Ebd., S. 311 f. Raabe, Wilhelm, Die Akten des Vogelsangs, a.a.O., S. 262. Ebd., S. 270.

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3) Familie und Roman: vorläufiger Schluss Mit ihrem Fokus auf die Familie zeichnet die Literatur Dynamiken der Umstrukturierung oder Aushandlung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht nur nach, sondern hat auf zweifache Weise Teil daran – einmal in sozialgeschichtlicher und einmal in poetologischer Hinsicht: Sie trägt dazu bei, den Bewusstseinszustand ‚Familie‘ zu plausibilisieren, ihn im kulturellen Imaginären festzuschreiben und in soziale Praxis zu überführen; im Gegenzug begründen und etablieren sich im Erzählen über Familie literarische Formen und Schreibweisen. So gesehen, ist Familie in mehrfachem Sinn ein ‚Papiergebilde‘. Schon Gerhard Kaiser hat mit Blick auf das bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass der kulturelle Diskurs über die Familie und die Ausbildung literarischer Gattungen miteinander korrespondieren. In der Krisenhaftigkeit der Familie um 1800 sieht er die Krise des europäischen Romans gespiegelt.47 Und die konflikthafte Wahrnehmung der Familie um 1900 manifestiert sich wiederum in Dramen. So nebulös dieser Zusammenhang bei Kaiser bleibt: Für das 19. Jahrhundert lässt sich nicht ganz unbegründet die Hypothese verfolgen, dass die Beschwörung von Familie und Genealogie der Erzählform des Romans bedarf und dass diese Form sich umgekehrt durch das Erzählen über die Familie auf spezifische Weise konstituiert – nicht zuletzt auch, weil diese Romane in Familienblättern erscheinen oder die Autoren Leser derselben sind.48 Darüber hinaus aber steht nun die Hypothese im Raum, dass die Art und Weise, wie Familie entworfen wird, auch eine der jeweiligen poetologischen Programmatik ist, also aus der jeweiligen Ästhetik und Schreibweise hervor geht und diese wiederum legitimiert. Ist der Realismus eine Kunsttheorie und ein literarisches Programm, das durch den ‚Herd der Familie‘ augenfällig geprägt wurde, so bietet die Frühe Moderne mit ihrer Sprach- und Subjektkrise eine ästhetische Form, um die doppelte Verortung des Erzählens über Familie zwischen Individuum und symbolischer Ordnung, zwischen dem dichtenden Held und der Eigenmacht des Erdichteten, zwischen parole und langue sichtbar zu machen. Freilich: Als Resultat einer exemplarischen Lektüre bleibt dies vorerst ein tentatives Fazit.

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Kaiser, Gerhard, „Krise der Familie (Emilia Galotti/Kabale und Liebe)“, in: Recherches Germaniques 14 (1984), S. 7-22 (hier S. 22). Dies müsste viel genauer untersucht werden. Siehe dazu aber immerhin: Helmstetter, Rudolf, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des poetischen Realismus, München, 1998.

STEFAN WILLER

Die Wiederkehr der Merowinger. Heimito von Doderers Roman über eine „totale Familie“ Das genealogische Interesse des Mittelalters unterscheidet sich wesentlich von dem der Moderne. Es geht nicht von einem fest umrissenen Individuum aus, das sich über die Ermittlung von Herkunft und Abstammung seiner eigenen Position in der Welt versichern will. Vielmehr zielen mittelalterliche Genealogien auf die Stiftung und Bekräftigung überindividueller (geistlicher wie weltlicher) Ordnungszusammenhänge. Als Legitimationserzählungen begründen sie aktuell bestehende Herrschaft, etwa die eines Adelshauses, durch Herleitung aus vorgängiger, und zwar möglichst weit zurückreichender Autorität. Eine besondere Leistung jener Ausprägung genealogischen Denkens liegt in der Fähigkeit zur Verschränkung der Zeitebenen, die modernen Konzepten von Diachronie und geschichtlicher Spezifik eher fremd erscheinen muss: Die jeweilige Präsenz eines genealogischen Ego wird grundsätzlich mit der ebenso gegenwärtigen memoria seiner Vorfahren und der gleichfalls gegenwärtigen expectatio seiner Nachkommen angereichert, sodass sich eine „Verklammerung von Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft zwischen den einzelnen Gliedern“ ergibt.1 Wie ist es zu verstehen, wenn solche vormodernen legitimatorischen Genealogien und die mit ihnen verbundenen Zeitvorstellungen unversehens in einen Familienroman des 20. Jahrhunderts einwandern und man es noch dazu mit mittelalterlichen Vorstellungen von Adel und Heiratspolitik, Gewaltausübung und Unterordnung zu tun bekommt? Diese Frage wird sich jeder Leser des Romans stellen, um den es in diesem Beitrag gehen wird: Heimito von Doderers Die Merowinger oder Die totale Familie, 1962 erschienen als eine der letzten Buchveröffentlichungen des österreichischen Autors (1896-1966). Denn Doderer legt hier keinen historischen Roman vor, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn des Wortes. Die Handlung der Merowinger ist also nicht im Mittelalter angesiedelt. Gleichwohl ist der Roman aber an das Mittelalter angeschlossen; man könnte auch sagen: er wird vom Mittelalter heimgesucht. Diese latent unheimliche und manifest groteske Heimsuchung vollzieht sich auf genealogische Weise.2 Im Folgenden sollen vier Aspekte dieser genealogi1

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Kellner, Beate, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München, 2004, S. 16. Vgl. auch Parnes, Ohad, Vedder, Ulrike, Willer, Stefan, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt am Main, 2008, S. 42-51 („Legitimatorische Genealogien im Mittelalter“). Vgl. zur Funktion des Grotesken: Die Wut des Zeitalters ist tief. „Die Merowinger“ und die Kunst des Grotesken bei Heimito von Doderer, hg. v. Christoph Deupmann, Würzburg, angekündigt 2009. Dieser Sammelband, der die Beiträge einer gleichnamigen Tagung der Doderer-Gesellschaft (Landshut, Mai 2004) dokumentieren soll, war zum Zeitpunkt der Fertigstel-

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schen Struktur untersucht werden: (1.) die Funktion der Familie, (2.) der Entwurf einer trans-historischen zeitlichen Tiefendimension, (3.) im Kontrast dazu: der Stellenwert der Zeitgeschichte und (4.) das Konzept von Literatur als Kunst, das Die Merowinger letztlich doch als einen unverwechselbar und unverfügbar modernen Roman ausweist.3

1. Familie Held des Romans, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt, ist Childerich Freiherr von Bartenbruch, ein fränkischer Adliger und – gemäß Selbstdeutung seines Adelshauses – Nachfahre des frühmittelalterlichen Königsgeschlechts der Merowinger. Die titelgebende Totalisierung der Familie ist das Hauptanliegen dieses Helden. Er ist besessen von der Idee, in seiner eigenen Person, d. h. in seiner eigenen genealogischen Position, das Ganze der Familie zu bündeln, folgend seiner Devise: „la famille – c’est moi!“ (40). Diesen Anspruch versucht er in Form eines genealogischen „Ein-Mann-Prinzips“ umzusetzen, wie es der Erzähler des Romans nennt (ebd.). Von diesem Erzähler wird noch zu sprechen sein (im letzten Abschnitt dieses Beitrags). Zunächst aber zu den Komplikationen der Familiengeschichte. Childerich wird im Jahr 1890 geboren, als ältester Sohn und künftiger Majoratsherr über die Familiengüter. Trotz dieser unangefochtenen Position leidet er in seiner Kindheit und Jugend darunter, dass ihn seine Brüder und Schwestern bei jeder sich bietenden Gelegenheit verprügeln. Von „Vexationen und Huntzungen“ ist die Rede – die Wortwahl ist in diesem Roman, noch mehr als sonst bei Doderer, von ausgesuchter Manieriertheit. Mit fünfzehn Jahren sieht Childerich aus „wie ein trauriges Beutelchen“ (26); zugleich staut sich in ihm mehr und mehr Wut an, die nach einem Ventil sucht. Doderers Merowinger sind nicht nur ein Familien- und Generationenroman, sondern auch ein Roman über die Wut und das Ergrimmen. Beide Aspekte, Familie und Wut, werden immer wieder miteinander enggeführt, vor allem in den bizarren Sitzungen des Psychiaters Professor Dr. Horn, an denen Childerich

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lung des vorliegenden Aufsatzes noch nicht erschienen. Nach Konsultation der Verlagsankündigung (http://koenigshausen-neumann.gebhardt-riegel.de/product_info.php/info/p6315, letzter Zugriff am 20.7.2009) erscheinen mir für meine Fragestellung besonders einschlägig: Arend, Stefanie, „Formen des Grotesken in Doderers Roman ‚Die Merowinger‘“; Jäger, Hans-Wolf, „Waren die alten Merowinger wirklich so wie Doderers neue?“; Klotz, Volker, „Zerrissen zwischen Epos und Posse“; Mayer, Franziska, „‚Enge Beziehungen‘ – Funktionen selbstreferentiellen Erzählens in Heimito von Doderers Roman ‚Die Merowinger oder Die totale Familie‘“; Meyer, Matthias, „Die Kunst der Fußnote in Doderers Roman ‚Die Merowinger‘“; Schmidt-Dengler, Wendelin, „Die Last der Familie – die Lust des Erzählens“; Wolf, Yvonne, „Selbstreflexivität, Metanarration und Metafiktion in Doderers Roman ‚Die Merowinger‘“. Nachweis der Seitenzahlen direkt im Text nach der Ausgabe Heimito von Doderer, Die Merowinger oder Die totale Familie, München, 2001.

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ebenso teilnimmt wie diverse andere Akteure des Romans und bei denen schmerzhafte Nasenzangen, rhythmisches Stampfen zu Blasmusik und das Zerschmettern von Porzellanfiguren eine entscheidende Rolle spielen. Noch vor aller Psychotherapie entdeckt der heranwachsende Childerich, auf welchem Weg er „Ruhm und Rache“ erlangen kann: durch „seine das gewöhnliche Maß weit übersteigende Manneskraft“. Zugleich „trat bei ihm enorme Bärtigkeit auf, er konnte kaum genug sich schaben, und doch trugen seine schlaffen Hängebacken stets tiefblaue Schatten.“ (27) Aus dieser Kombination von Potenz und Bärtigkeit versteht Childerich einiges zu machen. Er heiratet nacheinander vier Witwen, die zum Teil bereits eigene Kinder haben, und zeugt mit ihnen weitere Kinder: neun Töchter und einen Sohn. Von den verstorbenen ersten Ehemännern der Gattinnen übernimmt er gleichsam als Trophäen die jeweiligen Barttrachten, so dass er schließlich Knebelbart, Backenbart, Schnauzer und Kehlbart gleichzeitig trägt – und zwar so, dass die Einzelbärte „durch sorgfältig ausrasierte Kanälchen“ (40) voneinander getrennt sind. Mit dieser differenzierten Gesichtsbehaarung macht er dem Geschlechtsnamen Bartenbruch alle Ehre. Die Bärte Childerichs sind nicht nur Zeichen von generativer, also zeugungsmäßiger Potenz, sondern auch von genealogischer. Denn mit seinen Heiraten verfolgt er das Ziel, mit sich selbst auf möglichst vielfältige Weise verwandt zu werden. Er vermählt sich nacheinander mit den zweiten Frauen seines Großvaters und Vaters sowie schließlich mit der unterdessen erwachsen gewordenen Tochter, die seine erste Frau einst mit in die Ehe gebracht hatte. Da er also die Frau seines Großvaters, die Frau seines Vaters und seine eigene Stieftochter geheiratet hat, ist es ihm – nach der Generationenzählung, die er selbst aufstellt – gelungen, sein eigener Großvater, sein eigener Vater, sein eigener Schwiegervater und sein eigener Schwiegersohn zu werden. Es geht also im Großen und Ganzen darum, eine negative Generationserfahrung durch die kreative Umbiegung und Umdeutung von Genealogien zu bewältigen: Childerich ist von seinen unmittelbarsten Generationsgenossen, nämlich den eigenen Geschwistern, unterdrückt worden und rächt sich, indem er im Stammbaum aufwärts klettert, in die Vorgänger- und Vorvorgängergeneration. Durch diese spezielle Art von Generationswechsel setzt er sich über die Geschwister, die er nun in gerader Linie abwärts beherrschen kann. Trotzdem verbleibt er ja auf einer genealogischen Ebene mit seinen Geschwistern. Er ist sein eigener Vater und Großvater, gerade diese Feststellung ist ihm wichtig; das heißt: er ist zugleich Ego und Vater bzw. Großvater des Ego. Man möchte hier mit Wilhelm Pinders klassischer generationstheoretischer Formulierung geradezu von einer „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ sprechen.4 4

Pinder, Wilhelm, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin, 1926, S. 11. Bekannt wurde die Formel vor allem durch Karl Mannheim, der sie in seinem Aufsatz „Das Problem der Generationen“ als „genial“ bezeichnet (in: Mannheim, Karl, Wissenssozio-

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Für Childerich ist diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen vor allem ein Mittel der Selbstermächtigung und Machtausübung. Doch das hat seine Tücken, wie sich zeigt, als sein einziger Sohn, Childerich IV. – aus der Ehe mit der Witwe des Großvaters – einen Generationenkonflikt im mehrfachen Sinne des Wortes vom Zaun bricht. Als Halbwüchsiger herrscht er einmal plötzlich seinen Vater an: „Wie sprichst du mit deinem Oheim?“ (71). Denn als Sohn der Großmutter sei er schließlich der Onkel seines Vaters und könne somit wohl einigen Respekt erwarten. Childerich III. erblickt auf diese Weise „das Loch in seinem System […]. Hier zeigte sich die Kehrseite der zum Teil schon verwirklichten familiären Totalität.“ (72) Es ist also die angestrebte Totalisierung der Familie selbst, die genealogisches Chaos produziert. Der besagte Sohn, Childerich IV., ist in seiner körperlichen Konstitution das genaue Gegenbild zum schwächlich wirkenden Vater: übermäßig groß, stark und kraftstrotzend. So ist er in der Lage, seinen wütenden Vater am Genick in die Höhe zu heben und einen Meter über dem Boden zu halten. In einer ganzen Reihe von grotesken, fast comicartigen Prügel-, Kampf- und Gewaltszenen, mit denen der Roman großzügig versehen ist, schleudert er seine Kontrahenten gleich reihenweise durch die Luft. „Man mußte sich wirklich fragen“, so der Erzähler, „woher dieses Mannsbild eigentlich komme, aus was für einer Zeit, von welchem urtümlichen Volke, und ob ein derartiges Wesen unseren heutigen Verhältnissen im Leiblichen und Seelischen nicht gänzlich unangemessen sei. […] Ja, solch eine alte Familie ist wie ein Schlammvulkan, und plötzlich kommt irgend etwas Unterstes zuoberst, prähistorische Hölzer oder riesige Knochen; solche eigneten Childerich IV. wirklich.“ (36)

2. Zeitliche Tiefe Damit ist eine genealogische Tiefendimension benannt, die sich im Fortgang des Erzählens immer wieder eröffnet und Die Merowinger zu einem Generationenroman sehr eigentümlicher Art macht. Denn der Geschlechtsname der Merowinger führt in zeitlich-genealogische Abgründe. Der Erzähler bekennt sich in einer gelehrten Fußnote voller teils fiktiver Quellen und Forschungsliteratur ausdrücklich zu der Ansicht, dass das Adelshaus der Bartenbruchs von unmittelbar königlicher Abkunft sei. Doderer selbst hatte mittelalterliche Geschichte studiert, zunächst nach dem Ersten Weltkrieg an der Universität Wien, dann nochmals Ende der 40er Jahre am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Er parodierte also diesen Fußnotenstil aufgrund genauer akademischer Kenntnis. Die mittelalterlichen fränkischen Merowinger, so heißt es in der Fußnote, hätten bis um das Jahr 1000 herum „in zahlreichen Seiten-Ästen der Familie logie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied, 1964, S. 509-565, hier S. 521).

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eine geradezu unheimliche Fruchtbarkeit entwickelt und eine Überfülle auch männlicher Descendenten hervorgebracht, von denen die meisten Childerich hießen.“ Anschließend wird die numerische Bedeutung der Generationenreihung betont, die sich im Durchzählen der immer gleichnamigen Herrscher ausdrücke: „Die alte Zählung geht bis Childerich XXXIV. Sein Name kehrt dann erst im 19. Jahrhundert bei den Bartenbruchs wieder, dem einzigen nicht bürgerlich bastardierten Zweige der Merowinger, welche eben damals und deshalb mit einer neuen Zählung begannen.“ (34) Das Zählen ist ein wichtiger Darstellungsmodus generationeller Abfolge und Fortzeugung, nicht zuletzt was den Aspekt der Vergegenwärtigung des Vergangenen betrifft. Dabei spielt vor allem die Verbindung von Zahlen und Namen eine wesentliche Rolle – als Anschluss an die Vorgänger, aber auch als Distanzierung von ihnen. Die Verbindung von Namen und Zahlen soll also Ordnung stiften, Generationen unterscheiden und einen linearen Ablauf konstruieren (Childerich I., II., III.), der sowohl in die Zukunft hineinragt (es wird auch Childerich IV. und V. geben) als auch Vergangenheit aufschließt (Childerich III. kommt von Childerich II., der auf Childerich I. zurückgeht). Dabei geht es nicht nur um eine pragmatische historiografische Erleichterung. Im Gegenteil kann die Zählung auch zur Vervielfältigung der Ursprünge und historischen Verläufe beitragen, wenn beispielsweise doppelt gezählt wird, wie bei der von Doderer erfundenen neuen Zählung der Merowinger im 19. Jahrhundert. Daher kann die genealogische Namenszählung auch typologische Effekte haben – in dem Sinn des fundamentalen christlichen Verstehens- und Selbstdeutungsmodells der typologischen Lektüre, d. h. der Interpretation eines alttestamentlichen Ereignisses als Vorschein eines neutestamentlichen. Dabei handelt es sich um einen Umgang mit Zeit und Vergangenheit, der nur eingeschränkt mit zeitlich linearer Abfolge zu tun hat, dafür viel mehr mit – so Friedrich Ohly – einem „spiegelnden Sichbeleuchten“ des Alten und des Neuen. Typologisches Denken ist das „Produkt einer kühn und geistreich weltaufschließend kombinierenden Phantasie“, deren Besonderheit „in ihrer Zusammenschau des in der Zeit Getrennten, in der Zusammenrückung zweier aus der Sukzession der Zeit gehobener Szenen, in der Augenfälligmachung einer Simultaneität des Ungleichzeitigen“ liegt.5 Auch in der Typologie als nicht-historischer, jedenfalls nicht-historistischer Art und Weise der Zeitwahrnehmung, liegt also ein Wechselverhältnis von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit vor, wie in der oben zitierten berühmten Formel Wilhelm Pinders. Während es dort aber um „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ ging, herrscht im typologischen Denken „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“: Zwei ungleichzeitige Ereignisse oder Personen werden zu einer gleichzeitigen Figuration zusammengefasst; das eine wird im anderen 5

Ohly, Friedrich, „Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung“, in: Typologie, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt am Main, 1988, S. 22-63 (hier S. 22, 24 und 29).

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erkannt und umgekehrt. Das historische Denken im modernen Verständnis setzt hingegen damit ein, dass innerhalb ein und derselben geschichtlichen Situationen eine Ungleichzeitigkeit erkannt wird: eine interne Inkohärenz, deren historische Ursachen zu ermitteln sind. Historisierung heißt also zunächst einmal Selbstdistanzierung, Heraustreten aus der eigenen Zeit, Verungleichzeitigung des eigenen Zeitgefühls. In Doderers Merowinger-Roman zeigt sich, dass die beiden Ausprägungen der Formel, „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ und „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, ineinander spielen können, so dass sie miteinander eine Art von Kippfigur ergeben. Der Freiherr Childerich von Bartenbruch arbeitet mit Beharrlichkeit an seiner eigenen Verungleichzeitigung, an der Besetzung verschiedener Stammbaum-Positionen durch seine eigene Person. Dabei wird aber seine Selbstherrlichkeit durch die genealogische Tiefendimension seines Treibens nachdrücklich in Frage gestellt. Er selbst wird vom historischen Akteur zum typologischen Objekt; ihn ereilt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Diese spezifische Typologie geschieht als eine Wiederkehr des Ähnlichen, was Doderers Roman immer wieder mit dem Befund der Familienähnlichkeiten hervorhebt. Die Bartenbruchs als durchweg groteske Figuren, entweder übergroß und kraftmeierisch wie Childerich IV. oder winzig klein wie Childerich III., spiegeln in sich eine ganze Ahnengalerie merowingischer Riesen und Zwerge, auf die der Erzähler immer wieder hinweist. Mit ihren entschieden unmodernen Verhaltensweisen – vor allem mit dem gegenseitigen Verprügeln und der übersteigerten dynastischen Heiratspolitik – unterstützen sie fortwährend diese altertümlichen Entsprechungen. Daher bemerkt der Erzähler, die Abstammung der Bartenbruchs von den Merowingern müsse „allein schon in Ansehung der Aufführung dieser Familie“ (34) als gewiss gelten. Diese „Aufführung“ gestaltet sich so, dass man für die neuen Merowinger das Schlimmste befürchten muss. Immer wieder werden alle Angehörigen der Familie von unvermittelten Wutanfällen gepackt oder versinken in finsterstem Brüten. Es sind eben diese Attacken, in denen sich die zeitliche Tiefe ihres Geschlechts offenbart. Über den Protagonisten wird einmal gesagt: Hier und jetzt erfolgte die Antwort auf eine gepeinigte Jugend; und hatte man jener Knüppel oder Stecken in den Weg geworfen, so waren daraus jetzt Stämme geworden, mächtige Stämme eines in seine rückwärtige Finsternis sich erstreckenden Waldes der Wut, sonor rauschend, feierlich hingebreitet und hoch gekuppelt. Man könnte auch sagen, Childerichs Grimm habe jetzt erst seinen rechten Faltenwurf gefunden. Dieser aber war schon keine bloße Antwort auf die Huntzungen der Jugend mehr; dieser kam von weiterher; er war die Form, in welcher sich einst der Vorfahren furchtbare Auftritte abgespielt hatten, dahinten in der Ferne der Zeiten. (80)

Über diese „Ferne der Zeiten“ und das „tiefste Brüten“ des Helden darüber heißt es in einer anderen Passage:

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Langhin in Childerichs Innerem dehnte sich die Flucht der Räume in ferne Vergangenheiten hin, und ganz dort rückwärts, die Zimmer, sie waren nieder und eng, nach unseren Begriffen kaum eines Fürsten Gemächer zu nennen, dennoch wie solche geschmückt, und mit abenteuerlichem Kram orientalischer Art, Teppiche, Schilder und Lanzen, vielleicht Beute aus den siegreichen Schlachten gegen die Araber bei Tours und Poitiers. So entschwindet uns Childerich, wie in sich selbst hineingehend, wandelnd in den Gedärmgängen der eigenen Herkunft, wandelnd unter der Zeit, wie einer, der unter Wasser zu gehen vermöchte. (215)

Zu dieser mittelalterlichen Merowinger-Vergangenheit gehört ganz entscheidend die Enteignung und Absetzung, insbesondere die sukzessive Machtübernahme durch die Hausmeier aus dem Geschlecht der Karolinger. Im Jahr 751 wurde der letzte Merowinger durch den Hausmeier Pippin, den Vater Karls des Großen, gestürzt. Name und laufende Nummer jenes letzten Merowingers lauteten wie die von Doderers Helden: Childerich III. So wiederholt sich im Merowinger-Roman geradezu zwanghaft die fränkische Geschichte des frühen Mittelalters. Denn auch der Childerich des Romans engagiert einen Hausmeier, einen Maiordomus, wie er auf lateinisch genannt wird. Dieser Herr ist ein Seitenverwandter aus Südfrankreich, heißt Graf Pépin und wird, weil sein Vater Karl heißt, als „Karolinger“ bezeichnet. Zum Ende des Romans verbündet sich Pépin mit den zahlreichen unzufriedenen Bartenbruchs, denen Childerich seit Jahren und Jahrzehnten ihr Erbteil und ihre Selbstständigkeit vorenthält. Es kommt zu einer Reihe von Kampfhandlungen, zu einem regelrechten Stellungskrieg in Childerichs weitläufigem Stadtpalais. Schließlich wird der totalitäre Patriarch entmachtet. Der Karolinger stürzt den Merowinger, fast genau 1200 Jahre nach dem historischen Vorgängerereignis.

3. Zeitgeschichte Warum aber ein solcher Roman im Jahr 1962? Warum die Querelen einer verrückten Adelsfamilie erzählen und das frühe Mittelalter als Spiegelfläche benutzen, wenn das Ende von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg gerade einmal fünfzehn Jahre zurückliegt? Und da doch die Geschichte ausdrücklich in der jüngsten Vergangenheit, der Zeit zwischen 1900 bis 1950 angesiedelt ist: Warum nur einige wenige und unmarkierte, kaum als ironisch zu klassifizierende Nebenbemerkungen über das, so mehrmals wörtlich, „Tausendjährige Reich“? Warum in einem genealogischen Roman nur eine einzige Erwähnung von so etwas wie „Ariernachweisen“? All das vonseiten eines Autors, der in Österreich schon 1933 Mitglied der (damals dort noch verbotenen) NSDAP geworden war und sich erst in den späten 30er Jahren im Zuge seiner Konversion zum Katholizismus innerlich vom Nationalsozialismus distanziert hatte.6 6

Vgl. Sommer, Gerald, Luehrs, Kai, „Nach Katharsis verreist. Heimito von Doderer und der Nationalsozialismus“, in: Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 19331945, hg. v. Christiane Caemmerer und Walter Delabar, Opladen, 1996, S. 53-75.

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Ging es Doderer als Nachkriegsautor möglicherweise bloß um die Flucht aus der Zeitgeschichte in eine unverbindliche historische Humoristik? Angesichts dieser Fragen herrschte lange Jahre ein gewisses Unbehagen in der Doderer-Forschung. Die Merowinger wurden eher zurückhaltend behandelt. Wenn sie mit Blick auf die Zeitgeschichte interpretiert wurden, dann teils als eskapistisch, teils – und in eher vereinfachender Weise – als Allegorie auf den Nationalsozialismus: in der Weise, dass, vor allem mit Blick auf Gewaltdarstellungen, die „totale Familie“ ein verkleinertes Abbild des totalitären Staates darstellen sollte. Demgegenüber hat Matthias Meyer Ende der 1990er Jahre in einem Aufsatz „zur Funktion von Geschichtlichem in Doderers Merowingern“ darauf hingewiesen, dass weder die allegorische Lektüre noch der Befund des völlig Unpolitischen zuträfen. Stattdessen stellt er die These auf, dass der Roman wie Doderers Geschichtsbild insgesamt „durch eine Hinwendung zur Peripherie“ gekennzeichnet sei, also „die Relevanz einer politischen, ‚großen‘ Geschichte leugne[ ].“7 Dafür spricht nach Meyer allein schon, dass Doderer überhaupt die Merowinger als historische Folie gewählt habe: Schließlich sei diese Dynastie in jeglicher Hinsicht durch die Karolinger marginalisiert worden, nicht nur historisch-faktisch, sondern auch als Forschungsgegenstand. Zumindest zur Zeit von Doderers Geschichtsstudien, so Meyer, seien die Merowinger „ein Stiefkind der Geschichtsschreibung und -forschung“ gewesen. Auf diesem Umweg ist Doderers Merowinger-Roman in Matthias Meyers Lesart nun aber durchaus ein „Roman über Geschichte“, und zwar im Sinne „postmoderner“ Theoriemodelle (so bezieht er Doderers Hinwendung zum Peripheren ausdrücklich auf den New Historicism). In der Vorwegnahme einer solchen Skepsis gegenüber „großen Erzählungen“ und in der pessimistischen Perspektive auf die Sinnlosigkeit von Geschichtsforschung und Geschichtsdeutung findet Meyer somit den zeitgeschichtlichen Bezug des Romans, insbesondere auf den Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte. Das auf diese Weise vorgebrachte Argument des Peripheren ist nicht unproblematisch. Es führt zu einer Geschichtsdeutung ex negativo, die den Anschein erweckt, als bekundeten Die Merowinger letztlich doch vor allem eines: die Unverbindlichkeit politisch-historischer Zusammenhänge. Dagegen spricht aber die Erbarmungslosigkeit des geschichtlichen Zwanges, dem Doderer seine Figuren unterwirft. Handlungsalternativen hat keiner von ihnen; sie alle sind Wiedergänger ihrer merowingischen oder karolingischen Vorfahren und Vorbilder – und zwar genau im Sinn der berühmten Bemerkung von Karl Marx, dass sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen „das eine Mal

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Meyer, Matthias, „Genealogie, Geschichte und Gregor. Zur Funktion von Geschichtlichem in Doderers ‚Merowingern‘“, in: „Excentrische Einsätze“. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers, hg. v. Kai Luehrs, Berlin/New York, 1998, S. 206-224 (hier S. 222, die folgenden Zitate S. 219 und 206).

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als Tragödie, das andere Mal als Farce“ ereignen.8 Denn immerhin gestaltet sich das Ende der Geschichte, das Ende der Bartenbruchs und des in ihnen nachlebenden Merowinger-Geschlechts, denkbar rabiat, nach der Art einer Farce. Um das Ende des Geschlechts geht es dabei im doppelten Sinne des Wortes. Childerich wird von den Aufständischen seiner Familie unter Führung des Karolingers Pépin gefesselt, geschoren und kastriert; er verliert also die miteinander verbundenen Inbegriffe seiner Potenz: Bärtigkeit und Zeugungskraft. Am selben Tag im Oktober 1950 wird am anderen Ende der Welt, in Indochina, der mittlerweile in englischen Militärdiensten stehende Childerich IV. ebenfalls entmannt, „von herumstreifenden Eingeborenen“, wie es heißt (73). Die Bartenbruchs sind damit in der männlichen Linie erledigt. Die Kastration des Vaters findet allerdings eben nicht im Dschungel, sondern in einem fränkischen Städtchen statt, in der frisch gegründeten Bundesrepublik Deutschland (auch wenn der Name dieses Staatsgebildes niemals fällt). Ausdrücklich wird erwähnt, dass es sich bei der Entmannung Childerichs um ein Gewaltverbrechen handelt, das „das Gesetz mit schweren Strafen bedroht“ (292). Allerdings sind sich alle Beteiligten einig, dass das kodifizierte bürgerliche Recht überhaupt nicht zu Rate zu ziehen wäre. „Hier berühren wir wieder den entscheidenden Punkt merowingischer Grund-Auffassungen. Entmannung war Entmachtung. […] Ein Herr läuft nicht zum Kadi.“ (292) Aufgrund dieses Rechtsverständnisses vollziehen sich die archaischen Gewalttätigkeiten, in denen sich die Akteure des Romans ergehen, zwar im augenscheinlichen Widerspruch zu moderner Legitimität, aber nicht in einem rechtsfreien Raum. Vielmehr erscheinen sie als fortexistierende Relikte einer untergegangenen Ordnung, als archaische „Überlebsel“ in der Welt des 20. Jahrhunderts. Mit diesem Begriff des „Überlebsels“ beziehe ich mich auf eine kulturgeschichtliche und kulturtheoretische Denkfigur, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts überaus häufig verwendet wurde, um eben solche Archaismen – Ungleichzeitigkeiten im Gleichzeitigen – zu kennzeichnen. Um bei dem Bereich des Rechts und der Genealogie zu bleiben, sei hier nur Max Weber zitiert, der in seinen nachgelassenen Überlegungen zu Wirtschaft und Gesellschaft den gesamten Bereich des Erbrechts wie folgt charakterisierte: Derjenige Rechtserwerb, welcher dem Erbrecht entstammt, bildet nun in der heutigen Gesellschaft das wichtigste Überlebsel jener Art von Besitzgrund legitimer Rechte, die einst – gerade auch in der ökonomischen Sphäre – ganz oder nahezu alleinherrschend war. Denn in der Sphäre des Erbrechts kamen und kommen, wenigstens dem Schwergewicht nach, für den Einzelnen Tatbestände zur Geltung, auf welche sein eigenes Rechtshandeln, prinzipiell wenigstens, kei-

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Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 8, Berlin, 1969, S. 115-207 (hier S. 115).

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nen Einfluß übt, die für jenes vielmehr in weitem Umfang die von vornherein gegebene Grundlage darstellen.9

Der von Doderer in den Merowingern erfundene Ausschnitt der modernen Welt steht gänzlich unter dem Regime dieser Überlebsel. Das ist von Bedeutung auch über den fiktiven Fall der Bartenbruch-Dynastie und über das Groteske der geschilderten Handlungen hinaus. Was Doderers Roman in Abrede stellt, ist das leitende Konzept westlich-moderner Zeitlichkeit als solches, also die Orientierung auf Innovation, auf beschleunigte, fortschreitende Zeitlichkeit, auf zukünftige Generationen, deren Schicksal wesentlich durch Unabsehbarkeit gekennzeichnet ist.10 Gegenüber dieser Emphase der Futurisierung betont der Roman das archaische Erbe, die Atavismen in der modernen Zivilisation und den historischen Wiederholungszwang.

4. Literatur als Kunst Bei alldem ist Doderers Merowinger-Roman aber keineswegs ein altertümelnder literarischer Text. Vielmehr geht es um das Experimentieren mit den erzählerischen Möglichkeiten, die solche aus der Zeit gefallenen, in die Tiefen der Zeit hineingezogenen Figuren wie die Bartenbruchs bieten – Möglichkeiten für die Literatur als Kunst. Dieser Aspekt des Artifiziellen und Technischen ist von entscheidender Bedeutung für die Art und Weise, wie Doderer literarisch die geschichtliche Differenz von Vormoderne und Moderne ausmisst. Die Kunst funktioniert in den Merowingern als Distanzierungs- und Distinktionsmerkmal gegenüber den Archaismen und historischen Rückfällen der Moderne sowie gegenüber jeglicher Logik eines wie auch immer gearteten ancien régime. Programmatisch wird einmal gesagt, man könne „den Künstler als einen Fall des Zustandekommens von Adel ansehen“ (109). Und so gelingt es einer Künstlerfigur in diesem Roman tatsächlich, eine ästhetisch ganz eigentümliche symbolische Form des Genealogischen herzustellen. Thomas Wiesenbrink, so heißt dieser fiktive Künstler, fertigt ein Wachsmodell von Childerich III. an – und zwar zunächst bartlos. Dem Künstler Wiesenbrink „war gegeben, durch diese tiefen Wälder bis in des Freiherrn Vergangenheit zu dringen, wo sich jene wieder lichteten und dieses selbe Antlitz nun sichtbar wurde und doch ähnlich blieb, wenngleich glatt.“ (88). Und das ist noch nicht alles: In einem zweiten Arbeitsschritt macht sich ein Barbier daran, das Wachsmodell mit einem künstlichen Bart zu versehen. Damit wird die genealogische Zeit im 9

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Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2005, S. 510 (Kap. VII, § 2: „Die Formen der Begründung subjektiver Rechte“). Vgl. Parnes, Ohad, Vedder, Ulrike, Willer, Stefan, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, a.a.O., S. 82-119 („Innovation und Revolution: Die Generation als Zukunftsmodell um 1800“).

DIE WIEDERKEHR DER MEROWINGER

Medium der Kunst – und des Kunsthandwerks – formbar und umkehrbar. Dieser Barbier ist übrigens derselbe, der dem Herrn von Bartenbruch täglich die säuberlichen „Kanälchen“ zwischen die Bärte rasiert; und er ist es auch, der seine abschließende Scherung durchführt, unmittelbar vor der Kastration. Das ist exemplarisch für die Künstlerfiguren in Doderers Roman: Sie arbeiten im Dienst des adligen Herrn, aber letztlich gegen ihn; sie porträtieren und schmücken den Protagonisten der totalen Familie, aber gerade damit befördern sie das Abdanken des bloßen Geburtsadels. Das gilt ganz besonders für den heimlichen Helden des Romans: seinen Erzähler. Dabei handelt es sich um einen gewissen Doctor Döblinger, der in den zahlreichen Fußnoten sein Unwesen treibt und der den Leser von Anfang an als höchst dubiose Randfigur aus allen Ecken und Enden gleichsam angrinst. So findet er sich etwa auf einem Ölgemälde des besagten Thomas Wiesenbrink in einer Gruppe von „zechenden Halbstarken“ abgebildet (so der Titel des Bildes, 105). Dieses Bild ist offenbar von einem sehr herausfordernden Realismus und sorgt für einen Skandal. Besonders Childerich von Bartenbruch ist wider Willen fasziniert, erwirbt das zunächst öffentlich ausgestellte Gemälde und platziert es an herausgehobener Stelle in seinem Stadtpalais. Diese Episode, etwa nach einem Drittel des Romans erzählt, spielt doch schon kurz vor der Kulmination der Handlung – der Kastration im Jahr 1950 – und führt unmittelbar darauf hin. Der Handlung nach bald darauf, dem Romantext nach aber fast zweihundert Seiten weiter, erscheint also der Schriftsteller Doctor Döblinger selbst in diesem Palais und kommt dort erstmals in Person Childerich unter die Augen, und zwar genau in der Phase des Geschehens, als die feindlichen Parteien der Merowinger und der Karolinger sich dort bereits verschanzt haben. Die näheren Umstände der Begegnung zwischen Döblinger und Childerich sind zu kompliziert, als dass sie hier noch kurz zusammengefasst werden könnten. Wichtig ist vor allem der Effekt dieser Begegnung mit der Gestalt aus dem Gemälde, der wie folgt geschildert wird: Childerich „sah voll tiefster Nachdenklichkeit auf jenes Individuum, das von rechtswegen in ein von ihm selbst gekauftes Bild gehörte“ (274). Es entsteht eine merkwürdige Pause, eine Art Fermate im finalen Schlachtengetümmel der Handlung. „So kam alles zum Stehen“ (274). Childerich versteht diese Begegnung als Vorausdeutung seines nahen Endes, wie bald darauf deutlich wird. Childerich spricht hier in Versform (wie auch sonst mehrmals in diesen Schlusspassagen): „Dort hinterm Speisesaal im Stadtpalast / verließ ein Kerl das Bild, und sitzt noch gleichwohl drinnen. / O Thomas Wiesenbrink, jetzt lehrst du mich, / der Macht des Künstlers nachzusinnen!“ Und weiter über Döblinger: „Er hatte sich dorthin gestellt, / mich anzugrinsen und mir noch zu winken. / Seit dieser Stunde weiß ich’s: unser Haus muß sinken.“ (281) Befördert von der „Macht des Künstlers“ Wiesenbrink, entpuppt sich also Döblinger am Romanende mit einer so triumphalen wie hämischen Geste als eigentlicher Arrangeur des Ganzen. Döblinger: das ist die Maske des Autors Doderer, der sich als Parasit und Durcheinanderwer69

DIE WIEDERKEHR DER MEROWINGER

fer, also als diabolische Figur, in die Genealogien seiner Erzählung einmischt. Dieses Spiel mit der Rahmenerzählung – verdeutlicht durch das Motiv des gerahmten Bildes – ist ein genuin modernes literarisches Darstellungsmuster, ebenso wie das damit einhergehende fortwährende Hin- und Herspringen in der Zeit und die Entkoppelung von Erzählzeit und erzählter Zeit. Das Spiel mit Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit verlagert sich somit von den genealogisch-generationellen Verhältnissen der handelnden Figuren auf die Ebene der Darstellung und der künstlerischen Programmatik. Dafür steht emblematisch der Produktionsprozess von Childerichs Wachsmodell – eine Bewegung „von der Gegenwart in die Vergangenheit […], durch Wälder wandernd, bis diese sich lichteten“ und „von solcher Lichtung aus wieder in die gewachsene Finsternis der Zeit“ (88 f.).

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ELENA AGAZZI

Kaiserhofstraße 12 und Die Buchsweilers. Valentin Sengers Familiengeschichten zwischen Realität und Fiktion Die Informationen und Analysen, die wir heute über Valentin Sengers (19181997) Werk haben, sind spärlich (nur eine Magisterarbeit zu seinem Leben und sozialen Engagements liegt vor).1 Ich habe mich tatsächlich gewundert, als ich sein Profil als Schriftsteller im Metzler Lexikon der Jüdischen Literatur entdeckt habe. Drei Seiten, in denen Carola Seiz Leben und Werk zusammenfasst und ausdrücklich darauf hinweist, dass für Sengers Familie, „eine jüdische zu sein“ einerseits mit ihrem Vertrauen in die Traditionen und nichts mit jüdischem Bewusstsein zu tun hatte, andererseits den Sinn bekam, einer politisch verfolgten Minderheit anzugehören und als Staatenlose und Osteuropäer, in einer Emigrantenstadt während der Nazi-Zeit leben und überleben zu müssen.2 Die Sengers gehörten zum jüdischen Widerstand in Deutschland, der sich nach den KPD Parteiinstruktionen richtete und damit auch die Antizionistische Propaganda entgegennahm. So ist Senger u.a. auch als Sprachrohr einer Realität zu verstehen, die bis zum Anfang der 90er Jahre – wie der Historiker Arnold Paucker betont – kaum untersucht worden ist: Die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft oder gar ein Bekenntnis zum jüdischen Volkstum kann nicht Maßstab einer Betrachtung sein. Als jüdische Historiker haben wir uns alle – einige zögernd, manche sogar etwas widerwillig – zu dem Standpunkt durchgedrungen, daß für die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte des deutschen Judentums alle die einbezogen werden müssen, die dem Judentum entstammen, das Judenschicksal erlitten haben oder von der Außenwelt als Juden betrachtet werden.3

Die Sengers tauchten zwischen 1933 und 1945 in Deutschland unter, sie wurden – sooft es möglich war – unsichtbar, und auf unheimliche Weise mussten sie in der Frankfurter Kaiserhofstraße 12 in der unmittelbaren Nähe des Fechtezentrums „Hermannia“ (bis 1933) und danach der Gesellschaft „Kraft durch Freude“ wohnen. Das stellt schon ein Abenteuer für sich dar, sodass die autobiografische Familiengeschichte der Kaiserhofstraße 12, erschienen im Jahr 1 2

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Speckmann, Guido, Valentin Senger (1918-1997). Überleben, politische Aktivität, Aufarbeitung. Magisterarbeit an der Universität Marburg, 2005. Seiz, Carola, „Valentin Senger (1918-1997)“, in: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. v. Andreas B. Kilcher, Stuttgart/Weimar, 2000, S. 530-532. Paucker, Arnold, „Jüdischer Widerstand in Deutschland“, in: Lustiger, Arno, Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945, Köln, 1994, S. 47-56 (hier S. 55).

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1978, dadurch unmittelbar die Ingredienzien eines Romans gewinnt. Man könnte aus jeder Familiengeschichte eine fiktionalisierte entwickeln, hier ist aber schon im Kern des mit der historischen Situation inkompatiblen Erlebnisses ein Grund zur dramatischen Spannung zu finden. Schon im Bezug auf Gustav Freytags monumentales Werk, Die Ahnen (1873-1881) schrieb Gustav Karpeles 1909: „Gerade die jüdische Geschichte bietet hierzu überreichen Stoff. Die Schicksale einer jüdischen Familie etwa von der Zeit der spanischen Blüte an bis auf die Gegenwart könnten vier gute und ausführliche Romane füllen“.4 Trennen wir auf jeden Fall, wie es sich gehört, das Reale vom Fiktiven, obwohl Lebenserinnerungen an sich nicht frei von Schönfärberei sind. Valentin Senger, hat nach diesem Werk eine Fortsetzung unter dem Titel Kurzer Frühling (1984) geschrieben und später den Roman Die Buchsweilers (1991), der ein Familienroman der jüdischen Tradition ist. Er hat auch Geschichten, wie z. B. Das Frauenbad (1994) verfasst, die oft in eine legendäre Wirklichkeit führen und von seiner Beschäftigung mit der Kabbala und mit dem Entstehen des Chassidismus Zeugnis ablegen.5 Im einem Zustand permanenter Angst zu leben, ist sicher die dominante Erfahrung in Sengers Leben gewesen, wobei seine Familie sich schon in früheren Zeiten in die Illegalität flüchten musste, da der Vater Ende 1905 an der Ersten Russischen Revolution teilnahm und sobald er den deutschen Boden erreicht hatte, weiter mit der KPD in Verbindung stand. Leider wurden Valentin Sengers spätere Hoffnungen in einem demokratischen Europa enttäuscht, da er sich mit der sowjetisch-antisemitischen Haltung im Dissens befand und nach dem XX. Kongress 1958 aus der KPdSU ausgetreten war, als Staatenloser und in seinem Innersten überzeugter Demokrat bis 1981 auf die Anerkennung seiner deutschen Staatsbürgerschaft warten musste, während er in Frankfurt schon seit 1951 als Journalist arbeitete. Das Büchlein, das meine Aufmerksamkeit auf Sengers Tätigkeit als Selbstbiograf und literarischer Autor gelenkt hat, besteht aus seinem Bericht über die letzten Kriegsmonate, in denen er als Angehöriger jener Familie, die in den gefälschten Papieren als eben staatenlos angegeben war, 1944 als Wehrmachtssoldat an die Front musste.

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Karpeles, Gustav, „Literarische Jahresrevue“, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 12 (1909), S. 18-63 (hier S. 55). Die genaue Liste seiner Werke ist im Deutschen Literatur-Lexikon (BiographischBibliographisches Handbuch) zu finden. Hier werden auch folgende Titel erwähnt: Die Brücke von Kassel. Ein Tatsachenbericht (1954), Am seidenen Faden. Roman (1956), Einführung in die Sozialpolitik (hg.1970), Die jüdischen Friedhöfe in Frankfurt (1985), Die rote Turnhose und andere Fahnengeschichten (1997). Vgl. Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-Bibliographisches Handbuch, begründet von Wilhelm Kosch, hg. v. Carl Ludwig Lang et al., Bd. 17, hg. v. Hubert Herkommer, 3. Aufl., Bern/München, 1997, S. 468-469, unter „Senger Valentin (Ps. Valentin Rabis)“.

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Die Überlegung über die Absurdität des Lebens, die man im folgenden Satz wahrnimmt, gehört stets zum Hintergrund Sengers autobiografischer, wie fiktionaler Texte: Zehn Jahre Verleugnung und Mimikry sind nicht mit Verstandesgründen aus der Welt zu schaffen oder wie ein Fieber auszuschwitzen. Ich überlege, wie lange es noch dauern wird, bis ich – im rechten Sinne des Wortes – wieder zu mir komme.6

Die Kaiserhofstraße 12 kommt als zweites Buch von Senger auf den Markt und wird einige Jahre später als Fernsehfilm produziert. Die Verfilmung stimmt im Großen und Ganzen mit der schriftlichen Version überein, beginnt aber unmittelbar mit dem Tod der Mutter, die im Jahr 1944 an einem Herzinfarkt starb. Dieser Faktor soll noch eine gewisse Bedeutung erlangen, insbesondere wenn wir die Machtkomponente und Autoritätsdynamiken in der familiären Struktur von Sengers Familiengeschichte Kaiserhofstraße 12 – die als Autobiografie in den Lexika bezeichnet wird, obwohl wir keine spezifische Gattungsbezeichnung im Untertitel finden – mit denen des späteren Romans Die Buchsweilers vergleichen. Dieser ist ein Familienroman der deutschjüdischen Tradition, in dem Senger zum Teil Anspielungen auf seine ideologischen Stellungnahmen in Sachen Ethik und Politik sichtbar werden lässt. Ich komme aber später auf dieses Thema zurück. Wie Karl Grözinger in seiner Studie Kafka und die Kabbala betont, „[ist] in der traditionellen jüdischen Gesellschaft die Frau zunächst die Stütze des Hauses, der ruhende Pol der Familie, deren Sittsamkeit und Fleiß als die Familie tragend nicht genug gerühmt werden kann“.7 Sengers Mutter spielt sofort eine primäre Rolle in der Familiengeschichte auch dadurch, dass ihr das erste Kapitel gewidmet ist. Diese Widmung, die dem Versuch entspricht, ihre Präsenz an der Seite des Erzählers zu beschwören, hebt um so mehr die affektive Abhängigkeit des Sohns von ihrem Sein und Tun hervor und die Trauer um ihren frühen Tod. Sie, die ewige Antagonistin der Frauen, die ihren Sohn lieben, verkörpert sowohl die besten Attitüden einer Hausfrau und Arbeiterin, die sich sechzehn Stunden am Tag mit allen möglichen Aufgaben und Versorgungen zugunsten ihres Mannes und ihrer Kinder beschäftigt, aber auch den harten Willen einer Widerstandskämpferin hat: Sie gehörte gleichzeitig dem Vorstand des linksorientierten Jüdischen ArbeiterKulturbunds, der Antiimperialistischen Liga und einer Aktionsgemeinschaft zur Abschaffung des Paragraphen 218 an, war aktiv in der Roten Hilfe und der In-

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Senger, Valentin, Der Heimkehrer. Eine Verwunderung über die Nachkriegszeit, München, 1995, S. 22 (aus dem Tagebuch, 29. April 1945). Grözinger, Karl Erich, „‚Die Frauen haben eine große Macht‘ – Das weibliche Element im Rahmen der Gerichtshierarchien“, in: ders., Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka, Frankfurt am Main, 1992, S. 93-99 (hier S. 93).

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ternationalen Arbeiterhilfe, die beide der KPD nahestanden, und war auch Mitglied der KPD selbst.8

Man kann schnell erahnen, wer zwischen Vater und Mutter den guten Rat gibt, wenn es darum geht, schwierige Lebensprüfungen zu bestehen. Der Dank, den Senger der bereits verstorbenen Mutter in der Öffentlichkeit aussprechen will, weil sie die ganze Familie im turbulenten Strom der Geschichte heil auf die andere Seite des Ufers gebracht hat, konkretisiert sich am Ende des Kapitels in der Form einer direkten Ansprache, die wie ein offener Brief lautet: Du hast in deinem Leben immer nur Gutes gewollt, Mama, für uns, deine Familie, und für andere, deine politischen Freunde. Du hast dich aufgeopfert. Dein Herztod war letzten Endes der Preis, den du dafür zahlen mußtest. Wenn es einen Gott gibt und wenn er gerecht ist, wird er seine Arme ausgebreitet, um dich geschlungen und dich lange festgehalten haben. Eine ganze Kindheit über habe ich mir gewünscht, daß du mich einmal so umarmen würdest. Aber Du hattest nie Zeit dafür, warst immer mit anderen Dingen beschäftigt. Ich spüre noch die Küsse von Papa, seine Lippen, seinen Bart, weiß noch, wie er mich dabei festhielt. Deine Küsse, Mama, spüre ich nicht mehr. In Erinnerung ist mir nur noch der unangenehme Geruch, wenn du den Zipfel eines Taschentuchs über den Finger gezogen und draufgespuckt hast, um mir damit über die Nase oder den Mund zu wischen. Hast du mir jemals einen Kuß gegeben? Ich erinnere mich nicht mehr daran.9

Ich habe die lange Stelle aus dem Grund zitiert, weil die mütterliche Fürsorge hier die sichtliche Lücke einer nicht ausreichenden Zärtlichkeit zeigt. Zu praktisch und zu beschäftigt ist die Mutter, um ihre Nähe wirklich spüren zu lassen, obwohl sie ihren Sohn und seine Geschwister sicherlich liebt. Ohne an die dramatischen Töne von Kafkas Brief an den Vater denken zu müssen, bilden sich im Laufe von Sengers Erinnerung an seine Familie die Konturen des Schuld-Sühne-Komplexes, der zweifach ist: zum einen seine Mutter überlebt zu haben, mit dem Gefühl, ihr mit seiner Leichtsinnigkeit bei gefährlichen Situationen gesundheitlich eine Last gewesen zu sein. Zum zweiten, Millionen von ermordeten Juden überlebt zu haben, und sich zu fragen, mit welchem Recht das geschehen sei. Das Familienmitglied, das sich übrigens für die Familie durch seine ständige Leistung in Arbeit und Familienversorgung aufopfert, löst Schuldkomplexe aus, die sich schwer tilgen oder ausgleichen lassen. Hier ist die Frau die Autoritätsfigur; mit dem Vater gibt es keinen Konflikt weil er zu alt ist, nämlich schon 48 als Valentin geboren wurde. Vermutlich ist der Vater, ein ehemaliger Revolutionär, auch früh gealtert, weil er in der Vergangenheit wegen seiner Verteidigung der Menschenrechte gegen das imperialistische System auf eine harte Probe gestellt worden ist. Er trägt die Spuren des verlorenen Kampfes und der ideologischen Krise in seinem Gemüt, auch 8 9

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Senger, Valentin, Kaiserhofstraße 12, München, 1978, S. 7. Ebd., S. 9.

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kann er sich nicht ganz als einen heiteren und glaubwürdigen Vertreter der jüdischen Traditionen ausgeben und schaut deshalb mit einem leicht skeptischen Auge auf die Ernsthaftigkeit, mit der die religiösen Bräuche gewahrt werden: Und weil Jom Kippur nicht nur der Tag der Versöhnung mit Gott, sondern auch mit allen Menschen ist, gab es da ein endloses Händeschütteln schon auf dem Weg zur Synagoge und erst recht später auf dem Nachhauseweg, jeder wünschte jedem das Beste und Schalom und Vergessen-wir-das. Und wir Kinder machten uns einen Spaß daraus und spielten auch Versöhnung. Ich empfand, daß meine Eltern dieses Ritual nicht nur einfach mitmachten, weil sie sich dem in ihrem jüdischen Freundeskreis nicht entziehen konnten – es war vielmehr ihre mosaische Tradition, in die sie immer wieder zurückkehrten. Sie konnten gar nicht anders. Die Witze und Majsses, die Papa vorher und nachher über den Versöhnungstag erzählte, sollten zwar zeigen, wie wenig ernst er diese religiösen Bräuche nahm, machten aber in Wirklichkeit nur die Bindung an die jüdische Religion deutlich.10

Ich werde nun im Großen und Ganzen an die sich wiederholenden Hinweise auf die Solidarität der Familie in ihrem internen Kern und gegenüber anderen Juden erinnern, eine Familie die sich durch die äußeren Umstände – Anzeigen der Nachbarn zu Last der noch versteckten Juden, Absuchungen, Kontrollen jeder Art und letztendlich Abtransportierungen – genötigt sieht, sich wie ein Igel zusammenzurollen. Oft muss sich aber Senger wundern, wie leichtsinnig oder blind sogar seine Eltern sich verhalten können, zum Beispiel als anstelle des Vaters – der trotz NS-Durchsuchungen, sich das Essen noch bis zur letzten Gelegenheit bei der Jüdischen Fürsorge holt – nun der junge Sohn Alex zur Mensa geschickt wird.11 Das Buch, das in vierzig Kapitel unterteilt ist, lässt sich dank der kurzen Episoden wohl genießen und der Ton, in dem die Situationen dargestellt sind, ist manchmal sehr lustig, trotz der Tragik der Zeit. Jüdischer Witz und fester Glaube an mögliche Wunder (es sei beiläufig daran erinnert, dass die längere Episode über die Heimkehr von der Front, die die Selbstbiografie ab Kapitel 35 aufholt und zum Teil in der Form eines Tagebuches 1995 separat veröffentlicht wird, im Untertitel Eine Verwunderung über die Nachkriegszeit heißt) bestimmen den Rhythmus der Erzählung. Als Überlegung zum Thema des „Verwunderlichen“ sei hier ein kurzes Zitat gegeben: Ein Wunder ist’s, Mama, daß wir aus dem Schlamassel herauskamen, und sicherlich ist es zum Teil deinem Reschel zu verdanken, denn du allein hast dir ausgedacht, wie man Behörde und Nachbarn, Lehrer und Ärzte und wen sonst noch alles hinters Licht führt – aber eben nur zum Teil, darüber hinaus auch einer gesunden Portion Masel. Ich höre schon, wie du fragst, die Handflächen in der den Juden eigenen Weise umwendend: „Was ist schon Masel, Walja?“ Recht 10 11

Ebd., S. 19. Ebd., S. 92-93.

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hast du, Mama, was ist schon Masel? Ich weiß es nicht. Aber wir überlebten […] Und ich frage mich, ob es das wirklich gibt, daß in einem einzigen Leben so viele Zufälle Platz haben?12

Der Autor neigt gerne zum Thema des Wunders, wie am Beispiel des später entstandenen Buchsweilers-Romans zu sehen ist, als die gütige Tante Feigele ihrem Neffen einen Ring gibt, mit der Begründung, dass dieser als „Spurensucher“ und „Schützer“ dienen soll. Die vorsichtige Distanz, die Senger gegenüber den Geboten der jüdischen Religion einnimmt wird schon dadurch ersichtlich, dass es im talmudischen Rechtgesetz ausdrücklich verboten ist, sich in menschlichen Geschäften und Entscheidungen „auf Wunder“ zu stützen. Aber der Wunderglaube ist in seinem fiktionalen Text nicht als Mittel zum größeren Glück ins Spiel gebracht, sondern als ein Abwehrmittel gegen Missgeschick, was der zum Räuber gewordene Jude David mit seinem Hochmut nicht wahrhaben will. Die Episoden, welche die Kaiserhofstraße 12 bilden, erwecken zum Teil den Eindruck, ins anekdotenhafte fließen und als exemplarische Fälle gelten zu wollen. Der Charakter und das Aussehen der Menschen, die in demselben Block oder im Vorderhaus der Kaiserhofstraße 12 wohnen, werden genau beschrieben, sodass man meint, sich als Leser in einem Mikrokosmos bewegen zu müssen, weil die Wohnung den unverzichtbaren und nicht austauschbaren Anhaltspunkt für jede weitere Erfahrung bietet. Die Wohnung ist wie ein Panoptikum, von dem aus man nämlich keine autoritäre Kontrolle ausübt, aber feindliche Vorkehrungen aus den Fenstern genau betrachtet, um mögliche letale Fehler zu vermeiden. Man könnte noch sagen: Sengers Wohnung ist auch eine Kommune, die sich als Zufluchtsort lebensbedrohten Juden anbietet und eine Alternative zu den nach der Zerstörung der Synagogen fehlenden Begegnungsorten darstellt. Im Unterschied zur Kaiserhofstraße 12 ist Kurzer Frühling, die Fortsetzung von Sengers Geschichte, als weit mehr als nur ein persönlicher Bericht der unmittelbaren Nachkriegszeit anzusehen. Das kann man an der Tatsache erkennen, dass die Familie weniger zentral ist – die Mutter fehlt nun, weil sie bereits gestorben ist – und die Haupthandlung kreist um die Ersatzfamilie, welche nun die Kommunistische Partei geworden ist. In dem Kapitel Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, liest man: In meiner Ehe war ich immer zu Kompromissen bereit, vielleicht zu schnell und zu oft; schwieg, wo ich besser hätte mit der Faust auf den Tisch schlagen sollen […] Nicht selten gab es Mißverständnisse und Streitigkeiten. In welcher Ehe gibt es keine? Aber sie stellten unser Zusammenleben nicht in Frage. Wer denkt schon bei jedem Krach gleich ans Auseinandergehen! Auch mein Verhältnis zur Kommunistischen Partei war wie eine Ehe. Setze ich sie im Vergleich zu meiner Ehe mit Irmgard, schneidet die Partei, wen wundert’s, allemal schlechter ab. Meine Beziehung zu ihr war weniger angenehm, weniger harmonisch. Viel häu12

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Ebd., S. 93.

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figer gab es Ärger und Auseinandersetzungen, und sie steigerten sich. Trotzdem dachte ich nicht an die Scheidung. Noch nicht.13

In einem noch in Trümmern liegenden Frankfurt trifft sich Senger sowohl mit Menschen, die sich im Alltag mühsam durchschlagen müssen (z. B. die Jüdin Henriette, deren Eltern von SA-Leuten aus der Wohnung geholt und in ein Konzentrationslager verschleppt worden sind, sodass das Mädchen zuerst in einem Bauernhof Unterkunft findet, später davon läuft und ganz alleine über Landstraßen irrt, bis sie dann in Frankfurt dank der Prostitution bei den USSoldaten ihr erstes Geld verdient und letztendlich beraubt und getötet wird), oder Individuen wie Joseph Schlonski, der seine Zerrissenheit zwischen Judeund Kommunist-Sein nicht verträgt und sich am Ende aufhängt. Diese Menschen weihen Valentin in ihre Familiengeheimnisse ein, sie rekonstruieren die vergangene Geschichte ihrer Familie, die nun verschollen oder sogar mit Sicherheit schon vernichtet worden ist. Aber nun bietet sich das wichtigste Element für unser Hauptthema an: Diese Figuren, von deren wirklicher Existenz wir ausgehen können, geben zusammen mit den Mitgliedern der Familie Senger die Folie für die erfundenen Figuren des Buchsweilers-Romans ab. So können tatsächlich neben pseudoautobiografisch-dokumentarischen Herangehensweisen dank derer die Familien der jeweiligen Autoren in Szene gesetzt werden, fiktive Dynastien erfunden werden, die meist dazu dienen, eine noch als dunkel empfundene Vergangenheit zu erhellen, oder zumindest aufzuarbeiten. Zeit und Ort des Buchsweilers-Romans werden aufs Genaueste angegeben: Das erste von achtzehn Kapiteln weist auf einen Menschenzug hin, der sich im Jahr 1801 entlang der Kinzing von Fulda nach Hanau bewegt, um sich in die vom Vogelsberg, von Spessart und Rhön umschlossene Gegend des Bergwinkels zu begeben, wo eine Hochzeit stattfinden soll. Obwohl man nicht gleich erfährt, wer die Reisenden sind, merkt man an den Reaktionen der Bauern, die in den umliegenden Feldern arbeiten, dass sie nicht willkommen sind. Anschließend die Erklärung: Die Sprache der Reisenden, die üppigen Vollbärte, die Kopfbedeckungen und die schwarzen Gehröcke der Männer verrieten, welche Reisegesellschaft da unterwegs war. Es handelte sich um Juden. Die Gehröcke waren Kaftans, ihre übliche Festtagsbekleidung. Mit Juden wollten die Feldarbeiter nichts zu tun haben. Juden waren allesamt verwerfliche Kreaturen, sie huldigten dem falschen Messias und waren verflucht bis in alle Ewigkeit. Die Blutschuld am Tod des Herrn Jesu konnte durch nichts getilgt werden.14

Die Familie der Braut wird einige Seiten später beschrieben. Es handelt sich um die Familie Pelzkappe, die als „klein“ (Vater, Mutter und drei Kinder) bezeichnet wird. Vater Mordechai ist ein Spitzenhändler und ein orthodoxer Jude, er hält viel auf Glaube, Ehre und Stand und möchte seiner Tochter Sarah 13 14

Senger, Valentin, Kurzer Frühling, Zürich, 1984, S. 175. Senger, Valentin, Die Buchsweilers. Roman, München/Hamburg, 2. Aufl., 1992, S. 8.

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die beste Partie verschaffen, worauf er einen Hochzeitspakt mit dem Bijouteriehändler Isaak Meyer schließt. Er muss für die Tochter mit einer ziemlich teuren Mitgift aufkommen, akzeptiert aber trotzdem die Bedingungen, die Meyer gesetzt hat. Das ist aber die Vorgeschichte, die viel Unglück mit sich bringen wird, da die Tochter Sarah – sich den Traditionen des väterlichen Rechts entgegenstellend – keineswegs Meyers Sohn als Gemahl annehmen will. Sarah ist die Vorläuferin des Typus der selbstbewussten Frau, die zur selben Zeit, als in Berlin die von aufgeklärten Frauen geleiteten jüdischen Salons florieren, nicht nur nach Selbstbestimmung strebt, sondern auch ihre Meinungsfreiheit verteidigend, gegen die Vorgaben der Gemeinde verfährt. Der von Sarah gewählte Bräutigam besitzt die besten menschlichen Tugenden, er ist Lehrer und möchte mit Sarah eine ehrbare Familie gründen, nur ist das Maschinenwerk des Unglücks schon in Bewegung gesetzt. Es geht hier nicht um die böse Macht einer unsichtbaren Präsenz, sondern um die Vergeltung des beleidigten Juwelenhändlers, der die ganze Gemeinde gegen Pelzkappes Familie aufhetzt und auch um den Fluch von Vater Mordechai selbst, dem er die Tochter weggenommen hatte.15 Die heuchlerische Haltung des Vorsitzenden der Gemeinde wird in der Geschichte so präsentiert, dass wir sogleich an Sengers Zweifel über die Gerechtigkeit der Rabbinischen Vorschriften denken müssen. Sie werden ihm bestätigt, sobald man an die Tatsache denkt, dass er sich 1951 mit seiner Schwester zu einem Beitritt als ordentliches Mitglied der Jüdischen Gemeinde entscheidet, aber einen falschen Schritt macht – zumindest beim ersten gescheiterten Versuch – weil er sich als Kommunist enthüllt.16 Senger versetzt den Buchsweilers-Roman (der Name weist auf Sarahs Mann hin) in eine Zeit, in der die Folgen der aufklärerischen Emanzipationsbewegung der Juden noch nicht überall in Deutschland ersichtlich sind, aber 15 16

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Ebd., S. 109. Das Misslingen von zwei Versuchen, ordentliches Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu werden, wird von Senger in Kurzer Frühling im Kapitel „Übertreibungen“ erzählt. Senger versteht unter „Übertreibungen“ die Unnachgiebigkeit der Juden: „Wir schilderten ihm [dem Rabbi Weinberg, A.d.V.] das wundersame Überleben der Familie Senger inmitten der Hitlerbarbarei und erzählten ihm bedenkenlos – und auch ein wenig blauäugig –, daß wir Mitglieder der Kommunistischen Partei seien und, auf seine Nachfrage hin, nicht die Absicht hätten, aus ihr auszutreten. Wir hielten ihre politischen Ziele für richtig und hofften, mit ihr auch der Verfolgung der Juden für immer ein Ende zu setzen. Das wollte Rabbileben partout nicht verstehen. Er schalt uns naiv und fand sehr böse Worte über den Kommunismus schlechthin. Ich widersprach. Keineswegs heftig, denn mir lag es fern, seinen Unmut noch weiter anzustacheln. Aber seine innere Erregtheit steigerte sich, ich merkte es deutlich an seinen unruhigen Händen, so sehr er sich auch bemühte, nach außen Ruhe und Konzilianz zu zeigen. Schließlich verstieg er sich zu der Behauptung, in der Sowjetunion und in anderen von Kommunisten regierten Ländern habe man die jüdische Kultur vernichtet und damit letztendlich das Judentum genau so rigoros zerstört, wenn auch in einem längeren Zeitraum, wie es Hitler in den wenigen Jahren seiner blutigen Herrschaft getan habe. Darum seien die Kommunisten auch nicht besser als die Faschisten“; vgl. Senger, Valentin, Kurzer Frühling, a.a.O., S. 69.

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die Stimme der Verfechter der Haskala schon überall zu vernehmen ist, so wie es am Beispiel der Gedanken eines von Sarah getroffenen wandernden Scholaren klar wird: Während dieser Zeit begegnete ihr in der Herberge ein wandernder Scholar, offenbar ein ehemaliger Jeschiwe-Bocher, an den sie später oft erinnert wurde. Bereits sein Aufzug war bemerkenswert. Er trug eine blaue Studentenjacke mit Stehbund, um den Hals ein buntes Sacktuch, seinen Kopf bedeckte eine bäuerliche Ballonmütze […] Er sprach vom Zeitalter der Aufklärung, nannte Namen, die sie zuvor wohl schon gehört hatte, mit denen sie aber nichts anzufangen wußte, Voltaire, Lessing und Kant. Er sprach diese Namen mit einem ehrfurchtsvollen Klang in der Stimme aus, als handele es sich um Heilige. Er schwärmte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Sturmwind der Französischen Revolution, erklärte er Sarah, sei jetzt auch in Deutschland angekommen und werde über kurz oder lang vieles verändern, was seit Jahrhunderten Bestand hatte. […] Sogar vor der jüdischen Tradition machte er nicht halt. Er behauptete, das Beschneiden der Knaben, die strenge Unterscheidung zwischen koscher und trejfe, das absolute Ruhegebot an Schabbat und auch die traditionelle Rolle der Frau in der Familie und der gesamten jüdischen Gesellschaft seien überholt.17

David Buchsweilers Leben hat sich im Zeichen der Rebellion, dieses Mal aber gegen die gesellschaftliche Ordnung überhaupt, zu entwickeln. Die versprochene Dienststelle als Lehrer wird ihm entzogen; es ist sogar der Gemeindevorsteher der ihn in die Arme von Verbrechern treibt, als er ihm empfiehlt, mit der Frau in der verhängnisvollen Herberge von Schuchardt Unterkunft zu suchen. Unmittelbar werden wir an die Figur des Michael Kohlhaas erinnert, weil Davids Persönlichkeit in Zusammenhang mit dem Topos des gerechten Räubers steht.18 Wichtiger ist aber zu betonen, dass erst in der dritten Generation von Sarahs Familie, nämlich in der Person ihres Sohnes Saul, der am Anfang versucht ist in die Fußstapfen des Vaters zu treten, wirklich das Vorbild von Sengers Freiheitskämpfer als Alter Ego verkörpert wird. David gehört sozusagen zur Schar der literarischen Helden der klassisch-romantischen Zeit, die – wenn man sie mit dem gegenwärtigen Auge anschaut – aus Papier und Tinte gemacht sind. Saul lebt dagegen als Mensch aus Fleisch und Blut in der Gegenwart weiter, weil er mit seiner Teilnahme an dem Hambacher Fest von 17 18

Senger, Valentin, Die Buchsweilers, a.a.O., S. 37. Es könnte auch für David Buchsweiler gelten, was Klaus-Michael Bogdal über die Figur des Kohlhaas schreibt: „Im ‚Kohlhaas‘ taucht das Bürgerlich-Familiäre exakt im Zusammenhang mit jener Ökonomie von Lust und Leid auf. Da gibt es die Beerdigung der Gattin von Kohlhaas, die Fürsorge um die Kinder und das Gesinde […], das Verhältnis zu den Nachbarn und Kunden und die eigene Gefühlswelt […] Die schöne Autonomie der familiären Sphäre bleibt aber nicht erhalten. Die ‚Entsetzlichkeit‘ des Kohlhaas markiert den Übergang zum ‚selbst kreierten Heroismus‘“; Bogdal, Klaus-Michael, Heinrich von Kleist. „Michael Kohlhaas“, München: Fink, 1981, S. 50. David ist auch aus der Not zum Räuber geworden, ist aber vollkommen im Unrecht als er, sobald er aus dem Gefängnis kommt, sich am Kerkermeister rächen will, der ihn und seinen Kumpel gefoltert hat; vgl. Senger, Valentin, Die Buchsweilers, a.a.O., S. 142 ff.

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1832 und seinem Kampf auf den Barrikaden im Jahre 1848 eine Brücke zu Sengers ideologischer Stellungnahme gegen jede Form von Unterdrückung schlägt. Auf der letzten Seite des Buches gelangt man zur Gewissheit über Sauls Gedankenkonstellation, nachdem die Frankfurter Bürger den Arbeitern, den Handwerkern und den Studenten 1848 das Privileg gegeben haben, allein auf den Barrikaden zu sterben:19 Ungeordnete Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf und mischten sich mit Sätzen aus Hiobs Jammern und Jeremias’ Klagen. Hatte er recht daran getan, seine Jüdischkeit aufzugeben, sich den Revolutionären anzuschließen und von einer verlorenen Schlacht in die andere zu taumeln? War das noch jüdisches Leben? Ist es eine Angelegenheit der Juden, die Fürsten davonzujagen? Wer sagt denn, daß der tiefe Haß der Christen gegen das Volk Israel sich ändern wird, wenn nicht mehr die Fürsten sondern Männer ohne Adelstitel regieren?20

Es ist sicher möglich hierin eine Anspielung auf einen der Gründe der späteren Entstehung des NS-Regimes zu sehen, das auch infolge der Angst der kleinbürgerlichen Schichten vor sozialem Abstieg in der Mittelschicht eben Unterstützung fand, aber Valentin Senger hat Schritt für Schritt sein fiktionales Werk so geplant, dass – wenn man seine Familiengeschichte und seine Berichte zu den letzten zwei Jahren seines Wehrmachtsdienstes wahrnimmt – einige weitere Hinweise auf die Selbstbiografie deutlich werden.21 Das Augenfälligste ist, dass Sarah so wie Sengers Mutter vor ihrem Mann stirbt, wie auch Davids Mutter, die ertragen muss, von den Greueltaten ihres Sohnes anlässlich der Polizeiuntersuchungen in der eigenen Wohnung zu erfahren. David wird als einer bezeichnet, der wie ein „Jakobiner“ denkt, so wie Sengers Vater, der ein Revolutionär gewesen ist; aber noch unheimlicher – vergleicht man die Selbstbiografie mit dem Roman – ist der Hinweis auf die Zwangsrekrutierung der Bauern im Fürstentum Waldeck, an einem Ort an dem weit mehr als hundert Jahre später etwa Senger als Deserteur die amerikanischen Kontrollen umgehen muss und Angst davor hat, noch vor Ende des

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„Die Bürger, die ebenfalls republikanisch eingestellt waren, überließen das Kämpfen und Sterben den anderen. Am Tag zuvor, am 17. September, waren über zehntausend Menschen auf die Pfingstweide in Frankfurt zu einer Protestversammlung zusammengekommen. Aber jetzt blieben die, die ‚Lieber tot als Sklav‘ gesungen hatten, zu Hause.“ Siehe Senger, Valentin, Die Buchsweilers, a.a.O., S. 428. Ebd., S. 429. Die ganze Folie für den Buchsweilers-Roman ist schon in der Kaiserhofstraße 12 ersichtlich, als Senger vom Veto seines Großvaters gegen die Verbindung zwischen seiner Tochter Olga (Sengers Mutter), das 1905 eingelegt wurde, erzählt und einen Akzent auf das politische Engagement seines Vaters, das von der Mutter nicht geteilt wurde, setzt. Großvater, nämlich Mutters Vater, kann mit Mordechai Pelzkappe identifiziert werden, weil er den Mann seiner Tochter als Hungerleider (so wie auch David mit Verachtung wahrgenommen wird) bezeichnet; nur weicht das Fiktive vom Realen etwas ab, weil David nicht den politisch engagierten Mann darstellt, sondern den Außenseiter aus Verzweiflung, während der Vertreter der dritten Generation, Saul, wirklich die revolutionären Ideale von Sengers Vater verkörpert. Vgl. Senger, Valentin, Kaiserhofstraße 12, a.a.O., S. 11.

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Krieges in einem KZ eingesperrt zu werden. Im Tagebuch über die Heimkehr ist zu lesen: Drei Wochen sind nun vergangen, seit die Amerikaner den Bezirk Waldeck besetzt haben. Im Grunde brauchte ich keine Angst mehr zu haben, als Deserteur von den Heldenklaus erwischt und erschossen zu werden. Und doch ist noch ein Zittern in meinem Kopf und meinem Körper. Vorbei ist die Bedrohung, als Jude entlarvt und in ein Vernichtungslager geschafft zu werden. Und doch bin ich noch immer nicht imstande, aus meinem Tarnanzug zu schlüpfen und frei zu bekennen: ich bin Jude – und ich lebe, trotz allem, was geschehen ist!22

Schließlich, wie schon früher angedeutet worden ist, bezieht Senger seine Inspiration von den in seiner Nachkriegszeit getroffenen Figuren und baut ihre Erfahrungen so in den Familienroman ein, dass sie klar erkennbar werden. Das Mädchen Julchen, das Saul während seiner Flucht aus Hannover zusammen mit einer Kinderbande kennenlernt, muss auf der Straße von Notbehelfen leben, so wie die junge Prostituierte Henrietta in Kurzer Frühling. Julchen wäre eine potenziell gute Frau für Saul, der sie aber zurückweist, weil er sich darüber bewusst ist, dass ein Leben als Nicht-Jüdin mit einem Juden ihr das größte Unheil bringen könnte. Wenn es so ist, dass einiges im Roman unklar bleibt (wie z. B. Davids Initiative, den Ring in der Nähe von Sarahs Grab unter der Erde zu verstecken, den Sarahs Tante David gegeben hatte, um ihn vor Unheil zu schützen) und anderes historisch nicht ganz stimmt (der Hinweis auf das Datum des Hambacher Festes in Bezug auf die Handlung),23 zielt die Entwicklung der Geschichte entschieden auf eine Bezugnahme des Autors auf die Grundwerte des Individuums ab, die in den Begriffen von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ resümiert werden können. Der Glaube an eine geistige und politische Leitfunktion der Intellektuellen, welche die gesellschaftliche Realität des 19. Jahrhunderts und das Scheitern der Revolution von 1848 gründlich erschüttert hat, beweist sich andererseits als direkte Anspielung auf die utopische Vorstellung Sengers von einem toleranten und aufgeklärten Leben des deutschen Volkes, das sich in der Nachkriegszeit dank des Kommunismus hätte realisieren sollen.24

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Senger, Valentin, Der Heimkehrer, a.a.O., S. 21-22. Am Ende des XV. Kapitels schreibt Senger, dass Saul aufgrund der Teilnahme am Hambacher Fest von der Schule, in der er lehrt, entlassen wird, dann am 1. Maitag 1832 Deutschland verlässt und sich nach Straßburg begibt; das Hambacher Fest hat aber vom 27. bis zum 30. Mai 1832 stattgefunden. „Die jüdischen Kommunisten, ich habe viele kennengelernt, denn die politischen Freunde meiner Eltern waren fast alle Juden, lebten in der festen Überzeugung: Für uns gibt es kein gesondertes jüdisches Problem. Wir kämpfen für eine sozialistische Gesellschaft. Und haben wir erst einmal den Sozialismus errungen löst sich das jüdische Problem von allein, denn in ‚unserem Staat‘ werden alle Rassen und Völker gleichgesellt sein, uneingeschränkt. Welch ein unverzeihlicher, verhängnisvoller Irrtum. Viele haben mit ihrem Leben bezahlt.“ Siehe Senger, Valentin, Der Heimkehrer, a.a. O., S. 69-70.

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Revolten, Bürger- und Bauernkriege verschiedener Staaten und Jahrhunderte sowie kirchliche Konflikte wie die Reformation sind äußerst beliebte Stoffe für historische Romane im neunzehnten Jahrhundert. Aber Hauptgrund für die Wahl dieser Gattung ist für Senger die Möglichkeit einer Distanzierung von seiner Epoche, indem er die unbequeme Problematik der jüdischen Intoleranz (die er in Kurzer Frühling vorsichtshalber als „Übertreibung“ bezeichnet) gegenüber den sich nicht an die Regeln der Religion haltenden Menschen frei darlegen kann. So versetzt er den Konflikt zwischen seinen demokratischen Bestrebungen als Kommunist und dem „Jüdisch-Sein“ in eine Vergangenheit und richtet sich vielleicht (was noch nachzuweisen ist) nach dem ideologischen und literarischen Muster von Berthold Auerbach, der sich in seinen historischen Romanen Spinoza (1837) und Dichter und Kaufmann (1840) vornahm, „jüdische Autoren gegen die Polemik zu verteidigen, mit der die Feinde der Jungdeutschen Bewegung jedwede demokratischen Bestrebungen als ‚jüdisch‘ das Junge Deutschland als ‚eigentlich ein junges Palästina‘ zu diffamieren versuchten“.25 Der Roman Die Buchsweilers ist zu einer Zeit erschienen, nämlich 1991, in der der Familienroman noch nicht im Trend lag. Man sollte übrigens bedenken, dass Sengers Familiengeschichte (oder Selbstbiografie, wenn man will) dreiundzwanzig Jahre zuvor veröffentlicht wurde und so das Lesepublikum kaum die Möglichkeit hatte, die persönlichen Ereignisse mit dem Plot des fiktiven Textes zu verbinden. Es geht aber sicherlich auch darum, dass der Autor sich vermutlich sowohl der jüdischen Gemeinde wie auch den Kommunisten gegenüber, derart unbeliebt gemacht hatte, dass auch der literarische Markt samt der Literaturwissenschaftler Sengers Werk stillschweigend in eine Ecke geschoben hat. Wie Arnold Paucker sehr prägnant beobachtet: Gerade die Propaganda der Kommunisten muß man hierbei unter die Lupe nehmen, die von argen Geschmacklosigkeiten begleitet war, die aus taktischen Gründen in der Weimarer Zeit vielleicht noch verständlich gewesen sein mögen, doch nun unter der nationalsozialistischen Herrschaft für kaum einen Juden akzeptabel sein konnten. Diese Dinge müssen ausgesprochen werden und dämpfen natürlich auch ein wenig unsere Anerkennung dieser antifaschistischen jüdischen Aktivität. Andererseits stand nach der Pogromnacht die kommunistische Untergrundpresse im Zeichen vorbildlicher Solidarität mit der drangsalierten jüdischen Bevölkerung [...] Und überhaupt – schon in Anbetracht der großen Opfer, die sie gebracht haben, sind und bleiben die Kommunisten die Helden des deutschen Widerstands.26

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Vgl. Krobb, Florian, „‚Zeitgemäß, an der Hand der Geschichte:‘ Berthold Auerbach und der deutsch-jüdische historische Roman des 19. Jahrhunderts“, in: Travellers in Time and Space/ Reisende durch Zeit und Raum. The German historical Novel/Der deutschsprachige historische Roman, hg. v. Osman Durrani und Julian Preece, Amsterdam/New York, 2001, S. 25-38 (hier S. 30). Paucker, Arnold, Jüdischer Widerstand in Deutschland, a.a.O., S. 51.

2. BUDDENBROOKS-SYNDROM

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HEINZ-PETER PREUSSER

Vom Roman zu Film und Doku-Fiktion sowie retour. Die Buddenbrooks und Die Manns 1. Dekadenz und Wille Verfall einer Familie, so lautet der eindeutige Untertitel des 1901 erschienenen Romans über die Buddenbrooks und das gerade abgeschlossene Jahrhundert, der einen großen Bogen schlagen wird über vier Generationen im Zeitintervall von 1835 bis 1877. Man sieht in dem jeweils erreichten Alter der männlichen Firmenvorstände bereits den Gedanken der Dekadenz vorgeprägt. Johann Sigmund stirbt im Alter von 77 Jahren, Jean bereits mit 56, Thomas mit 49 Jahren. Hanno schließlich erliegt nur 16-jährig dem Typhus.1 Aber die simple Verfallsidee nachlassender Vitalität greift zu kurz, wie der Autor selbst konstatiert. Sie ist nur das Grundmotiv der ursprünglich als Novelle konzipierten Narration um Hanno und Thomas Buddenbrook. Doch das Werk entwickelt „Eigenwillen“.2 Dekadenz ist außerdem, im späteren 19. Jahrhundert, ein Topos und erhält insbesondere in Frankreich, etwa durch die theoretischen Schriften Paul Bourgets in den achtziger Jahren, eine positive Gegenseite.3 Das Ganze zerfällt, aber das Individuum emanzipiert sich. Denn nun entwickelt sich ein subtileres Verständnis für die Lust der Sinne, das von zersetzendem Skeptizismus begleitet wird. Das „Übermaß der feinen Empfindungen und die Auserlesenheit seltener Gefühle“ machen aus den décadents deshalb zugleich „unfruchtbare, aber raffinierte Virtuosen der Wollust und des Schmerzes“.4 Verfeinerung und psychologische Reizbarkeit sind für Nietzsche primär Anzeichen der Dekadenz, die den Zerfall des Ganzen herbeiführen: „Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, ‚Freiheit des Individuums‘“.5

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Der Text nach Mann, Thomas, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman [1901], in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering u. a., Frankfurt am Main, 2002, hier Bd. 1.1 (als Sigle FA), hg. v. Eckhard Heftrich. Der Kommentar ebd., FA Bd. 1.2, hg. v. Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski, S. 429, 437, 439-441, 449 f., 452 f., 469 f., 477 f., 479-481 und öfter. So der Autor in Thomas Mann. Ein Leben in Bildern, hg. v. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin, Frankfurt am Main, o. J. [Lizenz Zürich, 1994], S. 115. Zitat aus Lübeck als geistige Lebensform. Rede [1926]. Der literaturgeschichtliche Topos wird, auch mit Erwähnung Hermann Bahrs, der Bourget in Deutschland populär machte, z. B. erwähnt bei Neumann, Michael, Thomas Mann. Romane, Berlin, 2001, S. 10 f., 15. Bourget, Paul, Psychologische Abhandlungen über zeitgenössische Schriftsteller [1883], übers. aus dem Frz. v. A. Köhler, Minden, 1903, S. 24. So, im Anschluss und mit Kritik an Bourget, Nietzsche, Friedrich, Der Fall Wagner [1888], in: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Darmstadt, 1997, Bd. 2, S. 917.

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Bei Mann bringt diese spezifische Lebensphilosophie mit der Verfallsgeschichte zugleich den Künstler hervor. Der Verlust organischer Fülle, der lebendigen Mitte des Seinszusammenhangs, kulminiert in einer ästhetischen Figur. Nicht mehr die tätige Entschlossenheit, in das Geschehen der Welt eingreifen zu können, sich einen Platz in ihr zu behaupten, ist dann das Ziel, sondern künstlerische Schöpfung, Formung des geschauten, eigentlich nihilistischen Kreislaufs von Werden und Vergehen, in dem das Individuum, wie Thomas Buddenbrook nach seiner Schopenhauerlektüre bemerkt, nur eine große Täuschung und eine vergebliche Anstrengung des Willens darstellt (FA, 721-727). Rettung, besser Trost, bietet für Schopenhauer allein die Kunst, genauer: die ästhetische, interesselose Anschauung. In der Schau gibt sich das Subjekt dem Bild hin, entledigt sich seiner Individualität und geht im Objekt auf. Das Anschauen macht sich gerade frei von allen Zwecken, von der Tyrannei des treibenden Willens, und versetzt das Selbst in eine kontemplative, „reine Vorstellung“.6 Der Wille ist ein „Sein ohne Vorgestelltsein“:7 ein dunkler Lebenstrieb, der alle Erscheinungen der Welt durchdringt.8 Wenn er aber „rein angeschaut“, bloß „vorgestellt“ oder in der „Kunst wiederholt“ wahrgenommen wird, verschwinden Leid und Qual, die sonst untrennbar mit dem Willen verbunden sind; dann erst gibt er ein „bedeutsames Schauspiel“ und wird goutierbar.9 Nietzsche hat diese Figur aufgenommen und in einen Pessimismus der Stärke verwandelt. In seiner mehrfach wiederholten Sentenz, das Dasein und die Welt seien „nur als ästhetisches Phänomen [...] ewig gerechtfertigt“,10 wird die Anerkenntnis des Willens vorbereitet, die im „Willen zur Macht“ gipfelt.11 Das aber ist nicht Schopenhauers Perspektive. In der ästhetischen Kontemplation, noch deutlicher in der Askese,12 entfernt sich das Selbst vom „schnöden Willensdrang [...]“, von der „Zuchthausarbeit des Wollens“,13 und öffnet sein Selbstsein dem Nichts. Thomas Buddenbrook hat diesen Horizont des schopenhauerschen Weltbegreifens nur gestreift (FA 726 f.). Denn er bleibt der Tyrannei des Willens durchaus unterworfen. Er ist, anders als die Amsterdamer Familie Arnoldsen und unter ihnen vor allem Gerdas Vater, als Kaufmann nicht zugleich Künstler (FA 315), der im schöpferischen musikalischen 6 7 8

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Vgl. Safranski, Rüdiger, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie [1987], Reinbek, 1990, S. 313-332. Ebd., S. 319. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung [1819], in: Sämtliche Werke, textkritisch bearb. und hg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1986, S. 180. Ebd., S. 372. Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie [1872/1886], in: Werke in drei Bänden, a.a.O., Bd. 1, S. 7-134 (hier S. 40). Nietzsche, Friedrich, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Werke in drei Bänden, a.a.O., Bd. 3, S. 775 f., vgl. S. 755. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., S. 516-532. Ebd. S. 280.

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Rausch den Verzicht kompensieren könnte, den er sich selbst abnötigt.14 Tom leidet an seiner Individualität, statt sich in reiner Kunst, als Asket von ihr zu befreien und der „Knechtschaft der vitalen Urmacht“, die Schopenhauer „Wille“ nennt, zu entsagen.15 Er übt Zwang gegen das Selbst aus, um sich nicht vorzeitig zu verlieren – und schafft genau damit den Grund für sein vorzeitiges Ende. Das schließliche Nachlassen der Lebenszucht ist deshalb nicht die Überwindung der Todesfurcht, sondern der Vorbote eines schmachvollen Todes.16 Das Schopenhauerkapitel, sagen darum manche, sei nur aufgesetzt, ein unorganischer Appendix im Familienroman.17 Tom hat nur als außenstehender Betrachter Zugang zu dieser Sphäre, nähert sich rein gedanklich, als unvorgebildeter Laie gewissermaßen dessen Philosophie (FA 721 f.).18 Seine Frau Gerda und der gemeinsame Sohn Hanno leben – immerhin – in der Musik (FA 559; vgl. 712, 714): eine gleichfalls verzückte wie kontrollierte Ekstase. Hanno wird der Erbe dieser zuchtvollen Entgrenzung sein und gerade wegen seiner passiven, reproduktiven Kunstausübung als lebensuntauglich eingeschätzt vom Vater (FA 562, 685, 691, 718). Glücklich ist Hanno nur, wenn er sein Selbst verlieren kann, wenn er im Schwelgen der Musik untergeht (FA 700). Es ist ein dionysischer Akt der Auflösung, mit Nietzsche gesprochen, der seine zerstörerischen Tendenzen in sich trägt, weil ihm das apollinische Gegenstück, der Behauptungswille des Bildenden, vollkommen fehlt.19 Ansonsten registriert der Roman, wie Hannos „Herz [...] weicher, verwöhnter, träumerischer, empfindlicher“ wird, „noch viel unfähiger, [...] tapfer zu bleiben“ und „nicht vollständig zu verzagen“ (FA 701). Neben dem Künstler als Genie bringt die nervliche Anfechtung des Zeitalters der Dekadenz auch den Dilettanten hervor. Thomas’ Bruder Christian ist eine solche Figur: Hingerissen vom Glanz des Künstlertums, von der Scheinwelt des Theaters insbesondere, wird er doch ganz unfähig zu jeder Form von Broterwerb. Er imitiert den Künstler, statt selbst einer zu sein.20 Er spielt den Schauspieler, statt sich auf der Bühne einem Publikum und dessen Urteil aus-

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Vgl. Heftrich, Eckhard, Vom Verfall zur Apokalypse. Über Thomas Mann, Frankfurt am Main, 1982, S. 97. Reed, Terence J., „Thomas Mann und die literarische Tradition“, in: Thomas Mann Handbuch [2001], hg. v. Helmut Koopmann. 3. Aufl. Frankfurt am Main, 2005, S. 95-136 (hier S. 101). Vgl. Koopmann, Helmut, „‚Buddenbrooks‘. Die Ambivalenz im Problem des Verfalls“, in: Thomas Manns „Buddenbrooks“ und die Wirkung, 1. Teil, hg. v. Rudolf Wolff, Bonn, 1986, S. 37-66 (hier S. 59). Vgl. ebd. Siehe auch Reents, Edo, Zu Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption, Würzburg,, 1998, S. 149 f. Vgl. Wysling, Hans, „Buddenbrooks“, in: Thomas Mann Handbuch, a.a.O., S. 381. Siehe auch FA Bd. 1.2, S. 30 f. Vgl. Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie, a.a.O., S. 133 f. Siehe auch Kurzke, Hermann, Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, München, 1985, S. 77. Vgl. Vogt, Jochen, Thomas Mann. „Buddenbrooks“ [1983], 2. Aufl., München, 1995, S. 50 f.

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zusetzen.21 Sein Leben insgesamt wird zu einer Ansammlung nie professioneller Rollen, ein Reservoir für den Anekdotenerzähler, der häufig genug die Grenzen des Anstandes und guten Geschmacks verletzt.22 Zu dieser Selbstinszenierung des Dilettanten passt der pathologische Befund des Hysterikers, seine Krankheitsschilderungen, Halluzinationen und Zwangsvorstellungen.23

2. Standhaftigkeit und Risikobereitschaft Die Gegenbewegung einer Feinfühligkeit, die in nervlichen Anfechtungen ausmündet, bebildert der Roman aber auch: gerade in den tragenden männlichen Charakteren. Der ältere Johann hat der Kaufmannsfirma Buddenbrook nur Zuwächse gebracht, stattliche Verbesserungen des Kapitals, eine Etablierung unter den führenden Familien in Lübeck. Der zweite Johann, Jean, ist der Mann der Konsolidierung, der die Geschäfte in Maßen ausweitet, das Grundkapital festigt und doch immer noch den moralischen Grundsatz pflegt, am Tage nur solche Geschäfte zu unternehmen, die ihn bei Nacht noch gut schlafen ließen (FA 530). Jean ist kein Spekulant, Thomas wird es, notgedrungen, werden müssen. Darin liegt zunächst ein scheinbarer Zuwachs an Vitalität gegenüber dem Vater Jean, an kapitalistischem Biss: „ein genialerer, ein frischerer und unternehmenderer Geist“ (FA 292). Thomas öffnet das Haus Buddenbrook partiell der Risikowirtschaft.24 Doch er kann sich darin nicht behaupten: anders als sein Konkurrent Hermann Hagenström. Die „Pöppenrader Ernte“, gekauft „auf dem Halm“ zum Schleuderpreis vom insolventen von Maiboom (FA 498 f., 517, 520, 522), ist eine „Teufelswette“25 – und sie wird vernichtet durch Hagel, statt den erwünschten Profit abzuwerfen. Das Ergebnis zeichnet Thomas Buddenbrook als gebrochenen Mann: „die Bewegungen seines Körpers [wurden] langsamer; seine halb geschlossenen Augen verschleierten sich mit einem müden und fast gebrochenen Ausdruck“ (FA 542 f.).26 Jean hingegen ist ein Mann der Festigkeit, der sich nach außen zu verteidigen weiß. Man sieht das bei seinem beherzten Auftreten in den Revolutionswirren des Jahres 1848, in die auch die Hansestadt Lübeck hineingezogen

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Vgl. August Diehl zu seiner Rolle in: Breloer, Heinrich, Thomas Mann. „Buddenbrooks“. Ein Filmbuch. Mit Auszügen aus dem Drehbuch von Heinrich Breloer und Horst Königstein. Mit Standfotografien von Stefan Falke, Frankfurt am Main, 2008, S. 176. Vogt, Jochen, Thomas Mann. „Buddenbrooks“, a.a.O., S. 51. Vgl. Max, Katrin, Niedergangsdiagnostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in „Buddenbrooks“, Frankfurt am Main, 2008, S. 148, 152 f., 154 f., 168, 191-194. Vgl. ebd., S. 105. Siehe aber auch S. 115, 118 zu den Symptomen Erschöpfung und Reizbarkeit bei Thomas Buddenbrook. Breloer, Heinrich, Thomas Mann. „Buddenbrooks“. Filmbuch, a.a.O., S. 288. Vgl. Max, Katrin, Niedergangsdiagnostik., a.a.O., S. 117.

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wird.27 Jean kneift nicht, will nicht, wie manche Konsuln, aufs Dach der Bürgerschaft flüchten, sondern stellt sich dem ‚Pöbel‘, wie es heißt. Und er versteht dessen Sprache, weiß sie, in Gestalt von Corl Smolt, zu packen und die angespannte Lage in einen Scherz zu überführen, der die Spannung wieder löst (FA 208 f.). Thomas wird den Wortführern aus dem Volk, Grobleben etwa, immer nur betreten bis peinlich berührt begegnen können (FA 441). Der aristokratische Habitus hat sich verselbständigt, seine bei Jean noch gewinnende Seite abgelegt. Er ist, anders gesagt, volksfern geworden. Auch das ist ein Zeichen von Dekadenz bei einer Figur, deren wohlgeformte Wangen bereits „weißlich, bleich, ohne Blut und Leben“ sind (FA 652). Bethsy, Jeans Frau, die als erste weibliche Figur deutliches Profil erhält, scheint von ähnlicher Unerschütterlichkeit zu sein wie ihr Mann. Aber ihre Position ist schon eine moralisch gestützte durch ihre regelmäßigen Bibellektüren, Morgen- und Abendandachten und christlichen Singstunden. Sie imitiert Jeans Frömmigkeit, macht dessen „fromme Weltanschauung vollends zu der ihren“ (FA 303 f., 306 f., vgl. 275.).28 Ganz anders Tony, deren Tochter und die Schwester von Thomas und Christian. Sie wird eine, vielleicht die Hauptfigur der dritten Generation, eine „Gans früher, ein dummes Ding“, die so wenig vom Lebens wusste, wie sie selbst immer wieder beteuert (FA 309), und sich deshalb in zwei unglückliche Ehen begibt, sich zweimal scheiden lässt, immer wieder zurückkehrt in das Familienhaus in der Mengstraße. Und noch mit der Verheiratung ihrer Tochter, Erika, wiederholt sich das Missgeschick, das Tony gleich als ihre „dritte Ehe“ verbucht (FA 491) und als persönliches Scheitern erlebt. Tony begreift ihr Leben als Opfer, das sie für die Familie zu erbringen hat (FA 253).29 Wie bei Thomas hat das viel mit Verzicht und Selbstzwang zu tun. Die Liebe ihres Lebens, der junge angehende Arzt Morten Schwarzkopf, entspricht nicht dem gesellschaftlichen Stand der Familie Buddenbrook und muss deshalb zurückgewiesen werden (FA 152 f., 157-161). Bendix Grünlich, der falsche Charmeur (FA 105, 108), den die Tochter zurecht intuitiv ablehnt, wird ihr von den Eltern als Ehemann nahezu aufgezwungen (FA 159-161) – und die Ehe scheitert schnell (vgl. FA 250-252). Alois Permaneder, der Münchner, ist nur noch ein kurioser Versuch, das Drama der ersten Scheidung, den damit verbundenen Ansehensverlust, wieder wett zu machen – und führt geradewegs in die zweite (FA 410 f., 432). Doch genau dadurch verschlimmert sich die Lage: im moralischen wie – durch die Mitgift – im pekuniären Sinne. Bei Erika wiederholt sich das Schauspiel durch die Verheiratung mit Hugo Weinschenk (FA 484, 488 f., 576-580, 609 f.). 27

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In keinem anderen seiner großen Romane hat Thomas Mann Zeitgeschichte so unmittelbar einfließen lassen. Vgl. Zeller, Michael, „Seele und Saldo. Ein texttreuer Gang durch ‚Buddenbrooks‘“, in: Thomas Manns „Buddenbrooks“ und die Wirkung, 2. Teil, hg. v. Rudolf Wolff, Bonn, 1986, S. 9-42 (hier S. 24 f. insb.). Dazu Max, Katrin, Niedergangsdiagnostik., a.a.O., S. 242. Vgl. Zeller, Michael, „Seele und Saldo.“, a.a.O., S. 13.

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Tony verliert also permanent an symbolischem wie ökonomischem Kapital. Sie leidet darunter wie unter dem frühen Verzicht auf die wahre Liebe, für den sie sich hat Gewalt antun müssen. Sie hat die Außenzwänge zu Selbstzwängen erhoben30 und sich dadurch, zivilisationskritisch gesprochen, entfernt von ihrem wahren Ich. Das ist auch die Biografie von Thomas, der seine Blumenverkäuferin Anna in jenem Moment verlässt, wo er Verantwortung übernehmen muss für die Familie (FA 182-184). Weidenmanns filmische Adaption hat beide gescheiterten Liebespaare darum immer wieder parallel inszeniert. Doch nur Tom trennt eigenes Begehren und Habitus konsequent: „Er war nicht nur er selbst; man ehrte in ihm noch die unvergessenen Persönlichkeiten seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters, und abgesehen von seinen eigenen geschäftlichen und öffentlichen Erfolgen war er der Träger eines hundertjährigen Bürgerruhmes.“ (FA 451). Tom ist der protestantische, säkularisierte Ethiker, der, aus religiöser Bindung längst entlassen, an sich selbst scheitert: „ganz erfüllt von dem ernsten, tiefen, bis zur Selbstpeinigung strengen und unerbittlichen Verantwortlichkeitsgefühl“ (FA 719).31 Tony dagegen bleibt, eigentlich unbegreiflich, immer sie selbst: auch sie eine Standhafte, die letzte in der dritten Generation. Die Familie, ihr Glanz, definiert ebenfalls ihr Selbstgefühl, aber verbiegt sie nicht wie Thomas. Sie hält aus in ihrer grandiosen Naivität, schafft eine Ebene der Konstanz innerhalb des Verfalls,32 trotz aller Fehlschläge und mit erstaunlicher Vitalität, während das Ungenügen an sich selbst, Folge des genealogischen Drucks, Thomas innerlich aufzuzehren scheint.

3. Transfer – vom 19. ins 20. Jahrhundert Der Film von Alfred Weidenmann aus dem Jahr 1959, an dessen Drehbuch Erika Mann beteiligt war, erhebt Tony Buddenbrook darum zur Zentralgestalt. Mit ihr beginnt der Zweiteiler,33 und zwar nicht auf dem Schoß des Großvaters sitzend, als achtjähriges Mädchen (FA 9), sondern als erwachsener ‚junger Gans‘; mit ihr endet er: in der Zerstreuung der Restfamilie (FA 836). Die beiden Vorgenerationen, ja nicht einmal Bethsy Buddenbrook kommen so recht ins Bild. Die Dekadenz hat, anders gesagt, keinen hinreichenden Zeitraum, sich zu entfalten. Wäre da nicht der frühe Tod Hannos, der eher als Neunjähriger zu sterben scheint, man könnte das Werk glatt als vergnügliche Unterhaltung auffassen. Tom stirbt auch nicht in der Gosse, sondern bricht beim Eid 30 31 32 33

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So das Muster bei Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen [1936], 2 Bde., 14. Aufl., Frankfurt am Main, 1989. Vgl. Reents, Edo, Zu Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption, a.a.O., S. 160. Vgl. Max, Katrin, Niedergangsdiagnostik., a.a.O., S. 258. Buddenbrooks. Ein Film in zwei Teilen nach dem Roman von Thomas Mann, BRD 1959, Regie: Alfred Weidenmann, Buch: Erika Mann u. a. Mit Liselotte Pulver, Nadja Tiller, Hansjörg Felmy, Hanns Lothar u. a., DVD bei Kinowelt, Arthaus Video 1999, 197 Min.

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auf das eben errungene Senatorenamt zusammen. Der Senator hat, in dieser Version, sogar den Tod Hannos überlebt. Näher am Buch, wenngleich nicht immer textgetreu, ist da sicher der Elfteiler von 1978 unter der Regie von Franz Peter Wirth,34 übrigens mit dem Kameramann Gernot Roll (und dem Regieassistenten Peter Steinbach), der nicht nur bei Edgar Reitz’ HeimatZyklus mitwirkte, sondern auch bei der Doku-Fiktion Die Manns und der Neuverfilmung der Buddenbrooks fürs Kino von 2008 die Kamera führte. Aber gerade der frühere Zweiteiler (mit Lieselotte Pulver als Tony und Hansjörg Felmy als Tom) nimmt die Verkürzung vorweg, die auch Heinrich Breloers Die Manns wie seinen späteren Kinofilm Buddenbrooks charakterisieren wird. Der Blick auf die eine Generation soll das Jahrhundert ausdeuten – und kann es doch nicht. Die Starbesetzung der Fernsehreihe von 1978 war, mit den Schauspielern Ruth Leuwerik und Martin Benrath, gerade auf die zweite Generation fixiert: auch dies ein eindeutiger Akzent für die Zeiterstreckung, die der Roman vorgibt. Breloer nun hat sich kürzer fassen wollen. Genauer gesagt erfahren wir in der Chronologie der laufenden Ereignisse – mit einigen eingestreuten Rückwendungen ergänzt – nur vom Zeitraum 1923 bis 1955, dem Todesjahr Thomas Manns. Das kann einerseits dem Rahmen des Dreiteilers von 2001 geschuldet sein,35 andererseits aber auch den Wunsch bekräftigen, Thomas Mann von Anbeginn als Patriarchen der Familie zu etablieren und alle anderen Mitglieder an seinen reiferen Mannesjahren auszurichten. Thomas Mann nimmt demnach die Stelle des Tom im Film von Weidenmann ein (nicht etwa die Hannos). Er soll das 20. Jahrhundert repräsentieren wie jener den Niedergang des 19. bebildert hat. Seit dem Erscheinen der Buddenbrooks ist sattsam bekannt, dass sich, wie in einem Schlüsselroman, Realfiguren hinter den fiktionalen Charakteren verbergen. Regelrechte Entschlüsselungslisten kursierten. Demnach hatte sich etwa der Onkel Friedrich Mann über seinen Neffen Thomas öffentlich beklagt, weil er sich in der Gestalt des Christian Buddenbrook karikiert fand.36 Doch diese Dechiffrierung ist nur die offenkundigste. Tony lässt sich der Tante Elisabeth Mann zuordnen, Clara der Tante Olga Sievers, Gerda der Mutter des Thomas Mann, Julia, und deren Sohn Hanno primär dem Schriftsteller selbst. 34

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Thomas Mann – Buddenbrooks, Teile 1-3 [Ausstrahlung ursprünglich in 11 Teilen], BRD/F 1978, Regie: Franz Peter Wirth, Buch: Bernt Rhotert u. a. Mit Ruth Leuwerik, Martin Benrath, Volkert Kraeft, Reinhild Solf, Gerd Böckmann u. a., Videobänder bei Kinowelt 1999, 616 Min. Die Manns. Ein Jahrhundertroman, Teile 1-3, D 2001, Regie: Heinrich Breloer, Buch: Heinrich Breloer und Horst Königstein. Mit Armin Mueller-Stahl, Jürgen Hentsch, Monica Bleibtreu, Sebastian Koch, Sophie Rois, Veronica Ferres, Katharina Thalbach u. a., DVD bei EuroVideo 2003, 312 Min. Mit Zusatzmaterial, Unterwegs zur Familie Mann. Begegnungen, Gespräche, Interviews, 90 Min., Making-of, 45 Min., Gesamtlaufzeit 630 Min. Vgl. z. B. Reents, Edo, Thomas Mann, München, 2001, S. 41. Siehe auch Wißkirchen, Hans, Die Familie Mann [1999], 4. Aufl., Reinbek, 2002, S. 32, mit der Anzeige des Onkels im Lübecker Generalanzeiger.

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Rund 30 Charaktere sind getreulich in der Realgeschichte Lübecks abzubilden.37 Heinrich Breloer nun dreht diese Konstellation des Schlüsselromans um und fiktionalisiert die Realfiguren nach dem Muster des Familienromans. Gelebte Biografien werden so gestaltet, wie das analoge Figuren in der narrativen Fiktion präfigurierten. Nicht umsonst nennt der Regisseur sein Werk im Untertitel einen „Jahrhundertroman“, was für ein – vielfach prämiertes – filmästhetisches Werk des Fernsehens zumindest ungewöhnlich ist.38 Thomas Mann und die Seinen39 belegen nun die vakanten Positionen der Buddenbrooks. Das ergibt ein erstaunliches Verschiebemodell der Generationen, der DekadenzIdee wie der Standhaftigkeit. Denn der Befund des Romans war ja, die Künstlerseele scheitern zu lassen an den Ansprüchen des Kaufmannsethos’. Nun lebt Hanno quasi in der Figur seines Vaters wieder auf. Der doku-fiktionale Thomas Mann kopiert also auch den Thomas Buddenbrook – nun aber als arrivierter Künstler (DM 89 f.).

4. Kunst und Leben Und dennoch bleibt auch der rekonstruierte Thomas Mann eine Person, die von ihrer Selbstverleugnung aufgerieben wird. Das Werk wird dem Lebensverzicht abgetrotzt. Seit die Tagebücher bekannt sind, weiß man von der unterdrückten Homophilie des Schriftstellers.40 Bei Breloer wird sie zur alles überschattenden Obsession. Thomas Mann bangt, die Nazis, die sein Haus in München, in der Poschinger Straße durchsuchen, könnten die ihn kompromittierenden Tagebücher finden und veröffentlichen. Der Sohn Golo muss sie beiseite schaffen, ihm den Koffer mit dem brisanten Inhalt senden, um den Schein bürgerlicher Existenz zu wahren (DM 164-179). Die beiden ältesten Kinder, Erika und Klaus Mann hingegen wollen Kunstproduktion und Leben nicht trennen. Wie im Selbstanspruch der historischen Avantgarde beharren sie darauf, dass beides zugleich sein solle. Die freie, auch homosexuelle Wahl der Geschlechtspartner gehört quasi naturwüchsig zu diesem bohemeartigen Lebensstil (DM 71-75, 153-155, 241 f., 266 f.). Was sich das Familienoberhaupt verbietet, nur in den zartesten Sublimierungen, etwa in Bezug auf die Zufallsbekanntschaft des jungen Christian Heuser andeutet (DM 95-97, 9937

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Vgl. Thomas Mann. Ein Leben in Bildern, hg. v. Hans Wysling und Yvonne Schmidlin, a.a.O., S. 118, dort auch eine ausführliche Liste der ‚Urbilder der Buddenbrooks‘. Eine weitere Entschlüsselungsliste bietet Schröter, Klaus, Thomas Mann [1964], überarbeitete Neuausgabe, Reinbek, 2005, S. 93. So Heinrich Breloer und Horst Königstein in ihrer Buchpublikation Die Manns. Ein Jahrhundertroman, Frankfurt am Main, 2001 (Sigle DM). Dass die „engere Familiengeschichte [...] ziemlich genau ein Jahrhundert deutscher Geschichte“ umfasst, bemerkt auch Wißkirchen, Hans, Die Familie Mann, S. 9. So auch der Titel von Reich-Ranicki, Marcel, Thomas Mann und die Seinen, Stuttgart, 1987. Vgl. etwa Renner, Rolf Günter, Lebens-Werk. Zum inneren Zusammenhang der Texte von Thomas Mann, München, 1985.

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104), wird bei den Geschwistern rauschhaft ausgelebt. Als treue Erben des Christian Buddenbrook ist das Theater für Erika und Klaus das erste Metier. Bei Erika Mann wird es später auch das Kabarett sein (DM 50-56, 60 f., 191195). Verglichen mit dem Vater, der als Ästhet aus dem Strudel der Selbstauflösung flieht, sind Klaus und Erika die wahrhaft dekadenten Akteure. Auch wenn sich Breloer bemüht, seine alte Sympathie für Klaus zur Geltung zu bringen, lässt sich dieser Befund nicht unterdrücken.41 Sein Werk gelingt nicht, weil er, Klaus Mann, dargestellt von Sebastian Koch, anders als der Vater ein Leben jenseits der bürgerlichen Konventionen realisieren will. Ihm wird gerade zum Verhängnis, sich zugleich beständig am Vater und dessen Leistungen als Schriftsteller zu messen (DM 36). Die Flucht ins Morphium (DM 139 f., 268, 392-395), ist nur eine Konsequenz dieser Überforderung. Die Position des Christian ist nicht nur mit den Kindergeschwistern Erika und Klaus belegt, sondern zugleich mit dem Bruder Heinrich Mann. Der Konflikt zwischen den beiden scheint gerade darin zu bestehen, dass sich Thomas das Werk abtrotzt, indem er sich vom sinnlichen Leben abschottet, während Heinrich, bei allen zum Teil halbseidenen Exzessen, nach dem Untertan (1916) zwischenzeitig fast mit dem jüngeren Konkurrenten gleichzuziehen vermag.42 Nelly Kröger, Heinrichs zweite Frau mit ihrer Vorvergangenheit als Bardame (DM 118 f., 186-189, 295-300, 332), ist da die zur Abgrenzung dienliche „Person“ (FA 634; vgl. DM 188), gespielt übrigens von Veronica Ferres. Das entspricht wiederum dem Verhalten der Buddenbrooks gegenüber Aline Puvogel, der langjährigen Geliebten und späteren Frau des Christian (FA 430, 633-635). Auch die Abhängigkeit des einen vom anderen Bruder passt in dieses Bild. Im amerikanischen Exil ist Heinrich nahezu mittellos, während Thomas den großbürgerlichen Lebensstil durch seine laufenden Einnahmen fast ungebrochen aufrecht erhalten kann. Heinrich wird abhängig von der Gunst Thomas’ (DM 384 f.), so wie auch Christian nicht mehr auf eigenen Beinen durchs Leben kommt und die Familienkasse beständig leert. Thomas ist in der inszenierten Realwelt der Doku-Fiktion wie in der Romanhandlung der Arbeiter, der die Arbeitsunfähigen versorgt. Klaus Mann ist da auf einer Ebene mit seinem Onkel Heinrich zu sehen (DM 320 f.). Gerade der Künstler, der sich, nach Schopenhauer und Nietzsche, doch befreien sollte von den Zwängen außerkünstlerischer Anforderungen, der Ästhet als Beobachter, Thomas Mann, wird so zur Kopie des Kaufmanns, des Verwalters eines Familienvermögens, dem es Genugtuung bereitet, gerade auf dem ökonomischen Feld, als Villenbesitzer, mit den Vorfahren mithalten, ja sie überbieten zu können. Er kokettiert damit, dass der schlechte Schüler Hanno, in dem er sich offensichtlich spiegelt, doch noch alle übertrumpft hat (DM 89 f.). Und 41 42

Breloer, Heinrich, Unterwegs zur Familie Mann. Begegnungen, Gespräche, Interviews. Frankfurt am Main, 2001, S. 8 f. Ebd., S. 9.

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beim Ethos übertrifft er sogar um Längen den Großvater, der in der Romanfiktion Jean Buddenbrook heißt. Klärt der die politische Verwirrung im kleinen Hansestädtchen, so erhebt Thomas Mann seine Stimme als die der verlassenen Heimat, gibt hochmütig bekannt, wo er sich befände, sei kein Exil, sondern das wahre Deutschland; er verwahre sich dagegen, ihm sein „Deutschtum abzusprechen“ (DM 218 f.). Ein Jahrhundertroman wird die Doku-Fiktion aber erst, weil diese Anmaßung des Intellektuellen als Gewissen der Nation funktioniert. Dann wieder wird er, im Ehebett, neben seiner Frau sitzend, ganz klein, weil er wegen der Tagebücher und deren Verbleib um seinen Ruf fürchtet (DM 166 f.). Aber eben dass ist die Intention von Breloer: Wir sollen Thomas Mann als schillernde Figur, als ambivalenten Heros der Moderne schätzen lernen, nicht ihn verehren, sondern verstehen.43 Für meine Begriffe ist das etwas zu viel Einfühlung, die sich gemein machen will mit dem zur Größe Stilisierten. Auch das Eingangsbild der Buddenbrooks, die kleine, eben achtjährige Antonie oder Tony, die dem scherzenden Großvater den Katechismus aufsagen soll, wird zitiert bei Breloer. Hier kommt die jüngste Tochter, Elisabeth Mann-Borgese, ins Bild. Sie sieht sich selbst als etwa Achtjährige auf dem Stuhl des Vaters sitzen, als dieser den Raum betritt und so tut, als könne er die Kleine gar nicht sehen und sich scherzhaft auf sie setzt. Sie, Elisabeth, die später doch eine anerkannte, ja berühmte Meeresforscherin werden wird in Halifax, kopiert in vielem die naive Tony. Gleich ihr führt sie in den Reigen ein, erinnert sich, trauert und beweint die vielen Toten, die auch die reale Familie Mann zu beklagen hat (DM 439). Ein Stammbaum verlischt: fast vollständig. Michael, der jüngste Sohn, hat ein Kind, Frido, das fast ausschließlich beim Großvater Thomas aufwächst. Der Musiker Michael, begabt und lebensschwach wie Hanno, hat sich das Leben genommen, so wie Klaus Mann in Cannes (DM, 394-396), wie Thomas’ Schwester Carla zuvor (DM 78). Frido überlebt, im Unterschied zu den Buddenbrooks, die mit der Klage um Hanno enden (FA 836). Weniger naiv, dennoch gerührt und lebensecht, sind das, in etwa, auch die Worte der Elisabeth Mann-Borgese, die als sich erinnernde Erzählerin durch einen filmischen Roman und eine fiktionalisierte Dokumentation geführt hat,44 zugleich einfühlend, beobachtend, in der Vorstellung mitspielend und kommentierend. Frido ist da konkreter und verletzender in seinen letzten Worten über Thomas Mann. Es sei, sagt er, eine „merkwürdige Mischung aus Trauer und Triumph gewesen“ an seinem Grab. Und er erklärt, auf die Nachfrage hin: „Ja, [...] das Gefühl, der König ist tot, jetzt bin ich frei, das zu tun, was ich will. Und zugleich die Trauer. Ja, eine merkwürdige Mischung aus Trauer und einem Gefühl der Kraft.“ (DM 437).

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Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 184-187, 190 f.

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5. Konstruktion, Beglaubigung und der neue Film Buddenbrooks Die Buddenbrooks sind ein Werk der Camouflage. Mit ihnen sollte eben nicht direkt die Familiengeschichte ausgeplaudert, der eine oder die andere in ein schlechtes Licht gerückt werden, auch wenn sich dies, wegen der offenkundigen Nähen von fiktiver Figur und realer Gestalt, nicht immer vermeiden ließ. Ein Interesse an der Dekuvrierung freilich konnte Thomas Mann nicht haben, dieser Effekt war ihm wohl eher hinderlich. Ganz anders sieht das bei Breloer aus. Hier sollen Fiktion und Dokument verschmelzen, um wechselseitig die Bedeutsamkeit zu generieren, um derentwillen der Film allererst gedreht wurde. „Was für eine sonderbare FAMILIE sind wir! Man wird später Bücher über UNS – nicht über einzelne von uns – schreiben“, bemerkt Klaus Mann in seinem Tagebuch (DM 439). Dazu eben wird die subtile Form der Erinnerungsarbeit betrieben, die dann doch nur den fiktionalen Konstruktionsregeln des Erzählens folgen kann. Räume werden erschlossen, Schlüsselszenen in die Vorstellung der sich erinnernden Figur gerufen – und dann sind sie, in aller Plastizität der gespielten Szene, plötzlich da. Das Gedächtnis wird reich an Eindrücken, weil nun alles konkret werden muss im Bild: die verschiedenen Häuser und Exilstationen zum Beispiel. In der Bewegung wird erinnert, im Gehen, Ausschreiten zumeist, wenn es sich um neuere Aufnahmen, nicht um die Archivbestände der Interviews von Golo und Monika Mann z. B. handelt. Aus dieser Bewegung wird die Bewegung der Kamera in den Raum, sie wird zu einem Erzählinstrument des Befragten, zur Beglaubigung seiner subjektiven Erinnerungsleistung. „Die Menschen sind meine Kamera, mit der ich in die Vergangenheit hineinblicke“, schreibt Breloer.45 Die Spielszene, mit der dann gegengeschnitten wird, bietet deshalb starke Fiktionalitätssignale und zugleich den Anspruch des Dokumentarischen. Wir sehen nur, was die durch Lebensteilhabe verbürgte Erinnerung vor allem der Elisabeth Mann in die Präsenz zwingt. Das Reich dazwischen ist immer wieder die Verblüffung; so könnte es gewesen sein. Das Gedächtnis wird gestützt durch die Konkretion der Bilder, die vorgeben, nur zu illustrieren – und die doch viel mehr eine neue Welt bauen, die den Regeln eines Romans folgt. Realbilder, etwa Fotografien aus der Ufa, werden durch einen Schwenk mit der Kamera lebendig, um dann in die Bewegung des Heinrich Mann überzugehen, des von Jürgen Hentsch gespielten, versteht sich. Der hat dann wieder eine erotische Fotografie der Marlene Dietrich in Händen (DM 114 f.), die in seinem Blauen Engel (1930), der Verfilmung des Professor Unrat (1905), auftreten wird. Die Ebenen von Fiktion und Dokumentation amalgamieren und sind dennoch klar zu benennen. Anders als im fast reinen Dokumentarfilm, Unterwegs zur Familie Mann, in dem allerdings Spielszenen wie gelebte Erinnerungen in 45

Ebd., S. 15.

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die Gespräche eingefügt sind, verliert sich die Haltung des Dokumentarischen im Fortgang der fiktionalen Narration Die Manns. Die Fiktion überformt die Wirklichkeitsaussage, gliedert sie nahezu ein, wenn man nicht analytisch an die Sequenzen herangeht. Sie verdichten sich so zu einem Gesamtbild des Königs, Thomas Mann, und der von ihm Abhängigen. Die Quintessenz ist wohl, dass sich die Dekadenz der Buddenbrooks nur einmal hat umkehren lassen: im Glanz des großen Künstlers, der aber nicht fähig ist, seine Individuation zu leugnen, der nicht frei wird zur eigentlich ästhetischen Anschauung, und deshalb, ängstlich fast wie Thomas Buddenbrook, sein symbolisches und ökonomisches Kapital verwaltet. Thomas Mann, vom Film gefeiert als Figur der Toleranz und dargestellt von Armin Mueller-Stahl, wird erst im Kontext mit seinem Jugendroman, auf den Breloer so vielfältig rekurriert, dann doch zu jener Figur, die von Versagensängsten geplagt ist und sich beständig fragt, ob denn der Verzicht, die Lebensanstrengung an sich, noch gerechtfertigt werden kann. Breloer aber will den König inszenieren. Darum verschiebt er ein letztes Mal die Karten im Generationenspiel und besetzt, wie Franz Peter Wirth, nun den Jean Buddenbrook mit dem Darsteller seines Thomas Mann aus der Doku-Fiktion. Den Rest des Dokumentarischen, das sonst in Die Manns noch sperrig aus dem Fluss des Erzählens herausragt, wird hier gänzlich getilgt. Breloer wäre sicher besser bei den Brüchen und den verwischten Übergängen zwischen beiden Ebenen geblieben: ein Metier, in dem er eindeutige Meisterschaft erreicht hat. Nun aber scheitert er als Erzähler von reiner Fiktion. Statt der Fernsehästhetik, die selbst bei Wirth, mit seinen schon recht zahlreichen Außenaufnahmen, durchscheint und bei Weidenmann konstitutiv war, vertraut er nun auf das, was man von großem Kino erwarten darf. Statt der Serie und ihren Gesetzmäßigkeiten zu folgen, wie bei Wirth,46 schwelgt nun alles in Opulenz. Der Ball zu Eröffnung der Haupthandlung markiert das bereits.47 Es geht nun mehr um das Strahlen als um den Verfall. Zu üppig ist das, zu viel Glanz legt sich um Ein Geschäft von einiger Größe, wie es im neuen Untertitel heißt.48 Wieder führt Gernot Roll die Kamera. Doch die Rückkehr zur alten Generation hat, anders als bei Wirth, nicht Nähe erzeugt zu den scheiternden späten Figuren. Breloer rekapituliert vielmehr, wie gerade „diese Untergangsgeschichte [...] das Startkapital der Firma Thomas Mann“ bildete,49 indem er nur die Fiktion in zu glatten Bildern nacherzählt.

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Dazu ausführlich Kost, Rudi, „Hannos Vollendung. Anmerkungen zu einer Fernsehserie“, in: Thomas Manns „Buddenbrooks“ und die Wirkung, 2. Teil, hg. v. Rudolf Wolff, Bonn, 1986, S. 43-55 (hier S. 43, 45, 50 insb.). Breloer, Heinrich, Thomas Mann. „Buddenbrooks“. Filmbuch, a.a.O., S. 28-43. Buddenbrooks. Ein Geschäft von einiger Größe. D 2008, Regie: Heinrich Breloer, Buch: Heinrich Breloer und Horst Königstein. Mit Armin Mueller-Stahl, Jessica Schwarz, August Diehl, Mark Waschke, Iris Berben u. a., DVD-Video Warner 2009, 145 Min. Breloer, Heinrich, Thomas Mann. „Buddenbrooks“. Filmbuch, a.a.O., S. 364 f.

RAUL CALZONI

„Du solltest im ‚Familienton‘ schreiben“: Walter Kempowskis Deutsche Chronik Am 7. August 2005 wurde Walter Kempowski in Lübeck der Thomas-MannPreis mit der Begründung verliehen, der Autor stehe als detailbesessener Beobachter und gewissenhafter Zeitschriftsteller in der Tradition Thomas Manns. Ohne Bezug auf Kempowski zu nehmen, hat Marcel Reich-Ranicki fünf Tage später, d.h. anlässlich Thomas Manns fünfzigsten Todestags, eine Rede in der Lübecker Marienkirche gehalten, in der er u.a. das Folgende hervorgehoben hat: Der noch unlängst von manchen Kritikern verspottete Familien- und Generationenroman ist wieder modern. […] Die alte Familien-Saga, einst von Thomas Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert ins zwanzigste hinübergerettet und kräftig modernisiert, lebt auch noch im einundzwanzigsten Jahrhundert, in Deutschland zumal und in Österreich. Ob die vielen Autoren, die jetzt diese Gattung aufgegriffen haben, tatsächlich die Buddenbrooks gelesen haben, weiß ich nicht. Nur bin ich sicher, daß diese Erzähler der Prosa Thomas Manns ungleich näher stehen als jener von James Joyce.1

In seiner Rede hat Reich-Ranicki keinen expliziten Bezug auf das Werk Kempowskis genommen, zumal hat der Literaturkritiker bis dato wenig Begeisterung für den Rostocker gezeigt. Allerdings kann die Lübecker Rede ReichRanickis als Ausgangspunkt gelten, um Überlegungen zu Kempowskis Deutscher Chronik und der Tradition des deutschen Familienromans zu entwickeln.2 Zunächst kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Kempowski die Buddenbrooks gelesen hat, wie u.a. viele Hinweise auf diese Familiensaga in den Romanen des Autors beweisen,3 und wie der Schriftsteller 1

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Reich-Ranicki, Marcel, „Zum Gedenken an Thomas Mann. Deutschlands Glück in Deutschlands Unglück“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 08. 2005, S. 29. Die Rede ist mit dem Titel „Festvortrag zum 50. Todestag Thomas Manns“ nachgedruckt worden, in: Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005, hg. V. Ruprecht Wimmer und Hans Wißkirchen, Frankfurt am Main, 2007, S. 241-250. Kempowski, Walter, Die deutsche Chronik, 9 Bde., München, 1999. Die Bände im Einzelnen: Aus großer Zeit. Roman [1978]; Schöne Aussicht. Roman [1981]; Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten [1973]; Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman [1971]; Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie [1972]; Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten [1979]; Ein Kapitel für sich. Roman [1975]; Schule. Immer so durchgemogelt [zuerst, Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit, 1974]; Herzlich willkommen. Roman [1984]. Vgl. z. B. Kempowski, Walter, Tadellöser & Wolff, a.a.O., S. 30: „Im Bücherschrank links Luther und die Geschichte des Rauhen Hauses. In der Mitte Wiechert, Hesse und Ruth Schaumann. Aber auch die ‚Buddenbrooks‘ und ‚Professor Unrat‘ (‚traun fürwahr‘). Ganz unter Kunstbücher mit den unvergänglichen Werken großer Meister. Ich hatte sie mit Zettelchen versehen, damit ich nicht auf die Kreuzigungsbilder stieße“.

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selbst betont hat: „Von den ‚Buddenbrooks‘ sind ja gewisse Parallelen zum ‚Tadellöser‘ zu ziehen. Ich kenne den Roman natürlich sehr gut, ich habe ihn bestimmt vier- oder fünfmal gelesen“.4 Der 1929 geborene Autor kannte die Buddenbrooks sehr gut und er nahm auf sie für die Rekonstruktion der situativen Einbettung derjenigen Romane Bezug, die die ersten Kapitel der Deutschen Chronik ausmachen. Es scheint allzu evident, dass das Substrat von Manns Epochenroman in der Sammlung Kempowskis durchscheint: vor allem im ersten Roman der Deutschen Chronik, der die Urgeschichte seiner Familie erzählt.5 Fast als wolle er den Verfall einer Familie, der im Untertitel der Buddenbrooks festgeschrieben ist, besingen, entwirrt sich dieser Roman mit dem Titel Aus großer Zeit wie sein berühmter Mann’scher Vorläufer in der Wilhelminischen Epoche und wie eben jener ist er in der Atmosphäre des Hanseatischen Großbürgertums angesiedelt. Abgesehen von den inhaltlichen Ähnlichkeiten, die die Buddenbrooks und Aus großer Zeit verständlicherweise charakterisieren, sollte die Aufmerksamkeit vor allem auf einen besonderen Unterschied zwischen dem Familienroman Manns und der Familiensaga Kempowskis gelenkt werden, den der Autor selbst in Erwägung gezogen hat: Der große Unterschied ist, daß Thomas Mann sehr viel kommentiert und ich überhaupt nicht. Bei mir wird auch nicht der Verfall einer Familie beschrieben, wohl im „Tadellöser“, aber das Projekt spannt sich ja weiter, es geht später wieder „aufwärts“. Und ich sehe in diesem „Wiederaufwärts“ eigentlich etwas viel Schlimmeres als im Verfall: Etwas, das sich auflöst, geht ein in ein anderes, aber etwas, das sich wieder etabliert, das heißt alle Fehler zementieren.6

Diese Äußerung hat offensichtlich mit der von Reich-Ranicki aufgeworfenen Frage der Modernisierung des Familienromans zu tun, eine Frage, die wichtig ist, um Kempowskis Deutsche Chronik als nachkriegszeitliche Entwicklung des Mann’schen Musters zu betrachten. Etwa siebzig Jahre trennen die Veröffentlichung der Buddenbrooks von der Entstehung der Deutschen Chronik: Dazwischen liegen zwei Weltkriege und der endgültige „Verfall“ (Mann) einerseits und das „Wiederaufwärts“ (Kempowski) andererseits jenes deutschen Bürgertums, die die Autoren in ihren Sagas beschreiben. Dazwischen liegt vor allem der nationalsozialistische Bruch und jene nachkriegszeitliche Suche nach „einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land“,7 die der Au4

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Kempowski, Walter und Hage, Volker, „Eine Art Gedächtnistraining“, in: Hage, Volker, Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen, München, 2009, S. 29. [Das Interview ist zuerst mit dem Titel „Walter Kempowski: eine Art Gedächtnistraining“, in: Akzente, Nr. 19, 4/1972, S. 340-349 erschienen.] Vgl. Jurgensen, Manfred, „‚Die zitierte Vergangenheit‘. Walter Kempowski: ‚Aus großer Zeit‘“, in: Erzählformen des fiktionalen Ich: Beiträge zum deutschen Gegenwartsroman, Bern, 1980, S. 176-207. Kempowski, Walter und Hage, Volker, „Eine Art Gedächtnistraining“, a.a.O., S. 29-30. Böll, Heinrich, „Frankfurter Vorlesungen“, in: Werke, hg. v. Bernd Balzer, Bd. I (Essayistische Schriften und Reden I 1952-1963), Köln, 1977, S. 49.

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tor der Deutschen Chronik in dem „Familienton“ der Kempowskis treffen dürfte: „Im Knast verfaßte ich auf Schiefertafeln oder Topfböden Gedichte wie Rilke, die Gott sei Dank alle abhanden gekommen sind, dann schrieb ich wie Kafka […]. Nach einigem Rumfummeln habe ich mir gesagt: Du solltest im ‚Familienton‘ schreiben, in dem dir eigenen Ton.“8 Dies waren die Voraussetzungen für Kempowskis Modernisierung einer Gattung, die in den letzten Jahrhunderten die literarische Szene beherrscht hat, nämlich „der historische Familien- und Generationenroman“,9 oder im Falle der Deutschen Chronik vielleicht besser der metahistorische Generationenroman. Bei den ersten Bänden der Sammlung, d.h. Aus großer Zeit und Schöne Aussicht, geht es tatsächlich um „Romane, in denen Familiengeschichte erforscht oder mühsam rekonstruiert […] wird, und nicht [um] Romane, in denen multigenerationelle Familiengeschichten nacherzählt werden, wie zum Beispiel in Thomas Manns Die Buddenbrooks“.10 In diesem Kontext schrieb Kempowski erst zwei Jahre nach seiner Entlassung aus Bautzen, wo er wegen Spionage von 1948 bis 1956 inhaftiert war, in seinem Werktagebuch eine Notiz, die das Ziel seines künftigen erzählerischen Werks zusammenfassen sollte: „Ich habe die Familie zerstört, nun suche ich sie auf Papier wieder aufzubauen.“11 Explizit hat Jörg Drews auf diese Anmerkung in seiner Laudatio auf Kempowski bei der Übergabe des Thomas-Mann-Preises Bezug genommen, in dem der Germanist Die deutsche Chronik als „zeitgeschichtlich anders kolorierte Variante“12 der Buddenbrooks gekennzeichnet hat. Besonders interessant ist daher die Analyse der Erzählstrategien, die dieser „zeitgeschichtlich anders kolorierten Variante“ des Romans von Mann zu Grunde liegen und dem Schriftsteller erlaubten, seine eigenen Geschichtserinnerungen mit dem deutschen kollektiven Gedächtnis in einer Erzählpraxis miteinander zu verweben, die auf einer „sprachlichen Polyphonie“ beruht.13 Das führte unweigerlich zur definitiven Abwendung von den Stilmitteln des bürgerlichen Romans zu Gunsten einer Montagetechnik von Erzählfragmen8 9

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Ebd., S. 29. Kämmerlings, Richard, „Am Tellerrand gescheitert. Warum die Gegenwartsliteratur die Gegenwart meidet“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01. 02. 2008, S. 35. Eigler, Friederike, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin, 2005, S. 25. Zitiert nach Dierks, Manfred, Autor – Text – Leser: Walter Kempowski. Künstlerische Produktivität und Leserreaktionen am Beispiel „Tadellöser & Wolff“, München, 1981, S. 23. Vgl. Drews, Jörg, „’Die Dämonen reizen – und sich dann blitzschnell umdrehen‘. Laudatio auf Walter Kempowski bei der Übergabe des Thomas Mann-Preises am 7. August 2005 im Scharbausaal der Stadtbibliothek“, in: Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005, a.a.O., S. 16. Hage, Volker, „Ein Fall von Philisterei. Walter Kempowski, ein Plagiator?“, in Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen, a.a.O., S. 78. Es geht hier um eine Behandlung der Sprache der Geschichte, die in den kollektiven Tagebüchern des Echolot-Projekts von Kempowski ihren Gipfel erreicht, vgl. Calzoni, Raul, „Vielstimmigkeit der Zeitgeschichte in Walter Kempowskis ‚Das Echolot‘“, in: Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945, hg. v. Wolfgang Hardtwig und Erhard Schütz, Göttingen, 2008, S. 130-150.

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ten, die sich in der deutschen Nachkriegsliteratur als Antwort auf das „Krisenbewußtsein des Erzählers“ etablieren sollte.14 Über eine Konstellation von Erzählfragmenten, die durch spezielle, stilistisch-rhetorische Kunstgriffe aufgebaut werden, ist der Schriftsteller tatsächlich zu einer literarischen Praxis gelangt, in der das „kollektive“ und „kulturelle“ Gedächtnis Deutschlands in einem Archiv der Vergangenheit zusammenfließen und zu einer kollektiven Erzählstrategie erheben können. In der Chronik dieses „Protokollanten“ vereinen sich nach den verschiedenen Modalitäten der sie konstituierenden Texte die persönlichen Erinnerungen Kempowskis, die Transkriptionen der von ihm selbst durchgeführten Interviews und das dokumentarische Material, das der Autor in der Nachkriegszeit gesammelt hat. Nicht nur zufällig hat Kempowski immer wieder an die Wichtigkeit des „dokumentarischen Details“ für die Entstehung der Romane der Deutschen Chronik erinnert: [...] für mich sei das dokumentarische Detail wichtiger als die frei schwebende Phantasie. Ich glaube, bei mir ist es so, daß ich immer mißtrauisch bin, ich denke: wenn schon die Bilder, die sich mir zeigen, so enorm wichtig sind für das, was ich sagen möchte, dann könnten doch auch noch Bilder vorhanden sein, die ich jetzt nicht sehe. Ich muß sie also hervorrufen: wo sind sie? Und dann warte ich auf andere Bilder, die sich ebenfalls einstellen.15

Es erscheint auch in diesem Textausschnitt, dass Kempowski in den „Bildern“ den Schlüssel zur Wende in seinem literarischen Schaffen ausmacht, zumal er selbst auf den kreativen Prozess der Sammlung besteht; jedes Erzählfragment kristallisiere eine Erinnerung, die dem Leser angeboten werde, damit letzterer sich Bild für Bild ein glaubwürdiges Gemälde aus der Vergangenheit zusammensetzen könne. Auf die gleiche Weise, wie sich während des schöpferischen Prozesses die Abbilder im Gedächtnis des Schriftstellers einstellten und so weitere hervorriefen, verwiesen sie in vertikaler Prospektive in die Tiefe zu neuen Darstellungen. Ebenso schienen unter den in der Deutschen Chronik erzählten Episoden des bürgerlichen Lebens die Ereignisse der Geschichte hindurch.16 Sie werden dem Leser indirekt über die erzählerischen Fragmente vermittelt, die einerseits Kempowskis persönliche Erinnerungen wiedergeben, aber auch andererseits die Archivdokumente und „fremde Erinnerungen“ verarbeiten.17 Kempowskis Prosa bewegt sich also von der Visualisierung der 14 15

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Hillebrand, Bruno, Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit, Frankfurt am Main, 1996, S. 374. Lenz, Siegfried, „Gespräch mit Walter Kempowski“, in: Über Phantasie: Siegfried Lenz: Gespräche mit Heinrich Böll, Günter Grass, Walter Kempowski, Pavel Kohout, Hamburg, 1982, S. 112. Zur Entwicklung dieser Erzählperspektive nach der Wende, vgl. Garbe, Joachim, Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der Neunziger Jahre, Würzburg, 2002, insbesondere Kapitel IV (Familiengeschichten), S. 97-125. Vgl. Ladenthin, Volker, „Geschichte oder Geschichten? Die ästhetische Konzeption der ‚Befragungsbände‘ Walter Kempowskis“, in: „Was das nun wieder soll?“. Von ‚Im Block‘ bis ‚Letzte Grüße‘. Zu Leben und Werk Walter Kempowskis, hg. v. Carla Ann Damiano, Jörg Drews und Doris Plöschberger, Göttingen, 2005, S. 115-136.

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individuellen und kollektiven Erinnerungen hin zu ihrer Transkription in den Erzählfragmenten. Vielleicht aus diesem Grund hat die Kritik auf der Tatsache bestanden, dass die Lektüre der Deutschen Chronik mit dem Blättern in einem „literarischen Fotoalbum“ zu vergleichen sei.18 Nach den methodologischen Überlegungen Gérard Genettes kann diesbezüglich festgestellt werden, dass der Erzähler in Aus großer Zeit und Schöne Aussicht „heterodiegetisch“ ist und eine „Null-Fokussierung“19 die ersten zwei Romane der Deutschen Chronik charakterisiert. In Bezug auf die Unterscheidung zwischen ‚Stimme‘ („wer spricht“) und ‚Modus‘ („wer sieht“) einer Erzählung20 kann man zudem feststellen, dass in diesen Romanen derjenige, der die Figuren sieht, immer der Schriftsteller ist, wohingegen derjenige, der spricht das kollektive und kulturelle Gedächtnis des deutschen Bürgertums ist. Während der ‚Modus der Erzählung‘ auch für die folgenden Bände der Sammlung Kempowskis der gleiche bleibt, wird die ‚Stimme‘ des deutschen Bürgertums – oder besser gesagt, seine durch Ironie gefilterten Erinnerungen – in Tadellöser & Wolff an Walter übergehen. Den individuellen Erinnerungen verleiht Kempowski eine literarische Form eben mittels dieser Ironie, die eine Distanz zwischen dem ‚Erzähler‘ und dem ‚Erzählten‘21 herstellt: Aus diesem Grund verläuft der Roman weiterhin wie eine ironische (Auto-)Biografie, aus der die Schreibweise des Autors in vollen Zügen schöpft. Deshalb können Aus großer Zeit und Schöne Aussicht als (Vor-)Texte der Sammlung verstanden werden, da sie sich auf die Gründung und den sozialen Aufstieg der Familie Kempowski im Rostock zu Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den ersten drei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts beziehen. Auch die Auswahl der narrativen Mittel vereint die Romane: Der Gebrauch des historischen Präsens und der dritten Person Singular enthüllen die Absicht Kempowskis, die Erzählung als Familiengründergeschichte zu inszenieren. Wie bereits Émile Benveniste unterstrichen hat, ist der Gebrauch der dritten Person Singular in einer absoluten Vergangenheitsform distinktiv für die „hi18

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In den siebziger Jahren erkannte nur Norbert Mecklenburg den Wert Kempowskis Schreiben als vertrauenswürdiges Zeugnis der Vergangenheit an. Dieser Literaturwissenschaftler gehörte zu den ersten, die den zentralen Charakter der Sammler- und Montagetechnik der Vergangenheitsexponate im Werk des Schriftstellers verstanden, als er bestand auf der Tatsache, dass dessen Romane „literarischen Fotoalben“ ähnelten, vgl. Mecklenburg, Norbert, „Faschismus und Alltag in deutscher Gegenwartsprosa: Kempowski und andere“, in: Gegenwartsliteratur und Drittes Reich: Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, hg. v. Hans Wagener, Stuttgart, 1977, S. 16. Genette, Gérard, Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch, München, 1998, 2. Aufl., S. 277. Zur Besprechung dieser zwei Aspekte der Erzählung bei Genette vgl. Blödorn, Andreas, Langer, Daniela, Michael, Scheffel, Stimme(n) im Text: Narratologische Positionbestimmungen, Berlin: W. de Gruyter, 2006, und insbesondere den Beitrag von Andreas Blödorn und Daniela Langer, „Implikationen eines metaphorischen Stimmenbegriffs: Derrida – Bachtin – Genette“, S. 53-82. Vgl. White, Hayden, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Culture, Baltimore/London, 1973, S. 45-80.

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storische Erzählung“, in der die Wiedergabe jeder autobiografischer Notiz dem ‚Diskurs‘ untersagt bleibt.22 Nimmt man die Definition des Sprachwissenschaftlers wörtlich, müsste man also an der Tatsache zweifeln, dass Aus großer Zeit eine historische Gründererzählung darstellt, weil Kempowski im Roman mit der Präsensform des Verbs auf die Vergangenheit Bezug nimmt. Allerdings bemerkt auch Benveniste, dass trotz allem der Gebrauch des Präsens in Bezug auf eine Handlung in der Vergangenheit ein konkretes Ziel aufweist: Es dient dazu, ein Problem oder eine Situation zu aktualisieren, indem dem Erzählten ein gewisser Grad von Unsicherheit gegeben wird.23 Außerdem wird eine bereits vergangene Epoche dergestalt mit der Gegenwart konfrontiert, um Fortsetzungen, Übereinstimmungen beziehungsweise Unterschiede oder gar Brüche tragisch, ironisch oder fatalistisch hervorzuheben. Um diesen Prozess der Konfrontation zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterstützen, greift Kempowski auf das Indikativ Präsens zurück und verleiht der deutschen Gesellschaft zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts somit den Charakter eines Freskos, ohne jedoch direkt in die Erzählung einzugreifen: Weder interpretiert der Schriftsteller noch bewertet er die damalige deutsche Gesellschaft. Kempowski beschränkt sich darauf, fremde Erinnerungen zu ‚zeigen‘, oder eine ironische (Neu)Interpretation des kollektiven bürgerlichen Gedächtnisses zu liefern. Durch die Ironie wird der Leser in die Lage versetzt, an der Aufrichtigkeit nicht nur der Dokumente zu zweifeln,24 sondern auch an der der Erinnerungsprotokolle, die Kempowski in den Text eingefügt hat. Die ironische Perspektive vermittelt aber auch z. B. das Wissen um das ungehemmte Verlangen Walters Großvaters nach dem anderen Geschlecht und um die Tatsache, dass die Mutter eine außereheliche Beziehung führte. Auf die Liaison zwischen Anna Kempowski und einem Tenor des Stadttheaters bezieht sich mit Ironie das folgende Romanfragment: Ist der Vorhang gefallen, dann fahren sie mit Droschken in die Stephansstraße, die Königin-Mutter in ihrem Coupé vorweg. Müller, der Tenor aus Hamburg, wird in das Coupé genommen; die Gardine zieht man zu: ‚Die kleine Linz war ja mal wieder verheerend …‘“.25 22 23

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Benveniste, Émile, „‚Sein‘ und ‚haben‘ in ihren sprachlichen Funktionen“, in Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München, 1974, S. 210-234. Außer den bereits zitierten Theorien von Genette, vgl. hierzu Weinrich, Harald, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart, 1971, S. 18 ff., in dem der Linguist und Literaturwissenschaftler in Anlehnung an Benveniste die Unterscheidung zweier Tempusgruppen vornimmt: „Tempusgruppe I“ (Präsens, Perfekt) und „Tempusgruppe II“ (Präteritum und Plusquamperfekt), wobei er die erste Gruppe „Gruppe der besprechenden Tempora“ und die zweite als „Gruppe der erzählenden Tempora“ definiert. Wie Phyllis McCord zu Recht darlegte, ist es legitim, an der Objektivität von Dokumenten und Interviews zu zweifeln, da beide auf Diskurselementen beruhen, die sich aus einer Beurteilung ergeben, zumal sie aus einer subjektiven Grundlage heraus produziert wurden; vgl. McCord, Phyllis, „The Ideology of Form: The Nonfictional Novel“, in: Genre, 19/1986, S. 221. Kempowski, Walter, Aus großer Zeit, a.a.O., S. 43.

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In der narrativen Struktur Kempowskis dialogisieren diese ironischen Fragmente, die die Erinnerungen eines „sekundären Gedächtnisses“26 verarbeiten, mit einigen Erzählsplittern historisch-dokumentarischen Charakters, die vom Schriftsteller mit einem konkreten Ziel in die Romane eingefügt wurden: Sie stellen sich als objektive Zeugnisse der Vergangenheit dar und sie verankern Kempowskis Niederschrift des Gedächtnisses in einer bestimmten historischen Zufälligkeit. Zusätzlich erfüllen diese dokumentarischen Daten die Funktion, den Leser zu animieren, die Wahrhaftigkeit der protokollarischen Erinnerungen in den Texten zu überprüfen. Der Prozess der Integration von erzählerischen, dokumentarischen Fragmenten und Gedächtnisprotokollen, die die Romane Kempowskis dem Leser abverlangen,27 kann anhand der Episode der Festlichkeiten zu Gedenken des Sieges bei Sedan exemplifiziert werden. Sie wird in narrativer Form im elften Kapitel von Aus großer Zeit wiedergegeben und im nächsten Kapitel dank des Gedächtnisprotokolls eines älteren Rostockers wieder aufgenommen. Hinsichtlich der Gedenkfeier informiert uns Herr Wesselhöft, ein Schulkamerad des Vaters von Kempowski, nämlich über Folgendes: Die Sedanfeier fand jedes Jahr in den Barnstorfer Anlagen statt. Ein großer Auftrieb war das, mit Verbänden, Vereinen und natürlich Schulen. Man hielt Reden und lagerte sich, und am Schluß wurde ein großes Feuerwerk entzündet, ein gewaltiges Feuerwerk, mit alten Tonnen, Reisig und Hobelspänen, die glühend in die Luft flogen, und wir, die Studentenschaft und die höheren Schüler, wir zogen mit Fackeln von Barnstorf in die Stadt zurück, und auf dem Neuen Markt wurden sie zusammengeworfen.28

Die Beschreibung der Feierlichkeiten, die im Kapitel vor diesem Gedächtnisprotokoll enthalten ist, entwickelt sich über einige Seiten, in denen die Teilnahme Karl Kempowskis am Festzug in dritter Person erzählt wird: Der Festzug mündet pfeifend und trommelnd, mit großer und mit kleiner Musik auf dem Sedanplatz, einer Wiese im Barnstorfer Wald. Hier wimmelt und wogt es von Menschen. Vom Podium spricht ein Mann, der viele Orden trägt. Körling stellt sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, aber vor ihm wehen die Fahnen der Handwerker. [...] Um die Abendbrotszeit geht’s wieder in die Straße zurück. Jede Straßenlaterne trägt eine Vorrichtung, aus der Gasflammen sprühen in Form von Eisernen

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So definiert Kempowski selbst die Protokolle fremder Erinnerungen, die in seinem Archiv aufbewahrt wurden; vgl. Hempel, Dirk, Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie, München: Knaus 2004, S. 130. Zum „zweiten Gedächtnis“ gehören folglich auch die Erinnerungen der Mutter, des Bruders, der Schwester Kempowskis. Vgl. hierzu Calzoni, Raul, „Ergänzung als historische Hermeneutik. Literarische Darstellung der Wirklichkeit bei Walter Kempowski“, in: Der fragile Körper. Zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch, hg. v. Elena Agazzi und Eva Kocziszky, Göttingen, 2005, S. 191205. Kempowski, Walter, Aus großer Zeit, a.a.O., S. 121.

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Kreuzen und Kaiserkronen. Um das Blücherdenkmal herum sind Feuerschalen angeordnet, rot und grün.29

Um auf die Episode Bezug zu nehmen, griff Kempowski trotz allem nicht nur auf das kollektive Gedächtnis der Rostocker zurück, sondern er hat die Erinnerungen seiner Mitbürger auch mit konkreten historischen Daten versehen:30 Am 2. September sind die Sedanfeiern. 101 Böllerschüsse auf dem Wall, und durch die ganze Stadt geht der Festzug. An der Spitze marschieren die Veteranen von 70/71, mit Zylinder und Gehrock, mancher blank wie Bratenfett, denn ein Gehrock wird nur einmal im Leben gekauft. Auf der linken Brust glänzen Orden und Medaillen, und in der Rechten tragen sie den Regenschirm, wie „Gewehr über“.31

Die einzelnen Abschnitte der Gedenkfeier werden demnach dank des Zusammenflusses der individuellen Erinnerungen und der objektiven, historischen Daten hervorgerufen. Der Roman basiert folglich auf einer dialogischen Architektur, die durch die Integration von objektiven und subjektiven Elementen eine umfassende Darstellung der deutschen Vergangenheit ermöglicht, wohingegen die Ironie als rhetorisches Element fungiert, das die unter sich heterogen gestalteten Thematiken miteinander vereint und die geschichtliche Amnesie der Rostocker demaskiert: „Ein Regenschauer nieselt hernieder, das ist an jedem Sedantag so, das kennen die Rostocker schon. Die nachdenklichen Leute meinen, das sind die Tränen der Toten, weil die Menschen so oberflächlich in die Zeit hineinleben“.32 Die Neigung der Rostocker, sich dem Vergessen der Vergangenheit hinzugeben, manifestiert sich in diesem Roman nicht nur hinsichtlich geschichtlicher Ereignisse, sondern vor allem auch in Bezug auf die Familiengeschichte der Kempowskis. Hinreichenden Beweis dafür liefern uns exemplarisch die Kapitel in Aus großer Zeit, die die Erinnerungsfragmente derjenigen Rostocker wiedergeben, die ein direktes Zeugnis des sozialen Aufstiegs der Familie am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ablegen können. So ist beispielsweise das zweite Kapitel des Romans vollständig den Erinnerungen einer Nachbarin der Kempowskis gewidmet. Stilistisch ist es in Form eines Interviewprotokolls aufgebaut, indem die vom Schriftsteller gestellten Fragen absichtlich aus dem Text gestrichen worden sind. Das Erinnerungsprotokoll der Maria Jesse scheint sich aufgrund freier Ideenassoziationen zu entwickeln; eine Tatsache, die die Erzählung der Frau an die literarische Fiktion annähert. Ihre Erläuterungen nähren im Leser den Zweifel, dass es trotz der Quellenbelege, die die

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Ebd., S. 119-120. Das von Kempowski verwendete Material für die Niederschrift der historischen Fragmente der Deutschen Chronik wird jährlich in der Zeitschrift Die Spatien. Texte und Bilder aus dem Kempowski-Archiv in Teilen veröffentlicht. Kempowski, Walter, Aus großer Zeit, a.a.O., S. 118. Ebd., S. 120.

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Existenz des Gesagten bezeugen sollen, nicht möglich sein wird, die Familiengeschichte der Kempowskis zu rekonstruieren: Nein, die Kempowskis gehörten nicht zur guten, alten Rostocker Gesellschaft. Gute Gesellschaft ist still und bescheiden und einfach. [...] Und man sieht ja auch, was daraus geworden ist. Ich hab noch bis 1972 in Rostock gewohnt, in meinem Haus, in der Stephansstraße, und bin dann ordnungsgemäß und mit allen Sachen ausgereist, was weiß Gott nicht einfach war. Aber die Kempowskis? Weggepustet ohne Spur.33

Die ersten Romane der Deutschen Chronik entstehen tatsächlich aus dem Willen Kempowskis heraus, der Überzeugung zu widersprechen, dass das Vergehen der Zeit jede Spur seiner Familie ausgelöscht habe. Kempowski ist also ein Spurensucher, der sich der Rekonstruktion der Vergangenheit annähert, indem er eine „Bricolage“ der subjektiven und objektiven Erinnerungsstücke der Kollektivität vornimmt34 und dergestalt mittels der Parabel seiner Familie einen Ariadnefaden durch die Geschichte zieht. Es ist die Spannung zwischen dokumentarischen („historisch-objektiven“) und ironischen („mnemotechnisch-subjektiven“) Fragmenten, die Schöne Aussicht und Aus großer Zeit miteinander verbindet und aus ihnen Erinnerungsräume der Vergangenheit zwischen ‚historischer Erzählung‘ und ‚Diskurs‘ gestaltet, die auch in den nachfolgenden Romanen der Sammlung nicht aufgegeben werden. Ab dem achten Kapitel in Schöne Aussicht gestaltet sich darüber hinaus der strukturelle Aufbau der Romane komplexer, zumal der Schriftsteller in die Erzählung auch die Wiedergabe seiner Kindheitserinnerungen hineinwebt. Das Fragment, in dem Walter als Alter Ego des Schriftstellers vorgestellt wird, markiert einen wichtigen Wendepunkt in der Sammlung: Es führt in die Familiengeschichte die Figur ein, um die herum sich alle erzählten Ereignisse der nachfolgenden Bände der Deutschen Chronik entwickeln werden. Demzufolge erhält das Familienepos schließlich die Eigenschaften, um nach Benveniste zum ‚Diskurs’ zu gehören: Es wird zu einer Narration, in der jemand erzählt, um andere zu beeinflussen.35 Dennoch kann nur bei Tadellöser & Wolff und Uns geht’s ja noch gold die Rede von einem ‚Diskurs’ sein, denn hier hat sich Kempowski dank des homodiegetischen Erzählers eine zentrale Rolle in der „erinnerten Geschichte“ seiner Familie gesichert.36 Allerdings führt die Präsenz Walters nicht nur zu einer Verschiebung des Erzählschwerpunktes, sondern sie impliziert auch eine Bestimmung der Beziehungen zwischen den Romanfiguren. Während es in den ersten beiden Romanen der 33 34

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Ebd., S. 33. „Bricolage“ wird hier in Anlehnung an Claude Lévi-Strauss verwendet, der mit diesem Begriff eine Art Aufdeckungstechnik zur konzeptionellen Opposition Natur/Kultur kennzeichnete. Vgl. Lévi-Strauss, Claude, Mythologiques I: Le cru et le cuit, Paris, 1978. Ebenso wird ‚Diskurs’ in Opposition zur ‚historischen Erzählung‘ definiert. Vgl. Benveniste, Émile, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 239 f. Vgl. hierzu Agazzi, Elena, Erinnerte und rekonstruierte Geschichte. Drei Generationen deutscher Schriftsteller und die Fragen der Vergangenheit, Göttingen, 2005.

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Deutschen Chronik nicht möglich ist, eine Hierarchie der Figuren aufzustellen, bietet sich hingegen Walter in Tadellöser & Wolff und Uns geht’s ja noch gold als ‚Spiegel‘ der Familiensaga während des Dritten Reiches und in der Nachkriegszeit. Der Protagonist nimmt allerdings die Eigenschaften eines ‚Zerrspiegels‘ seiner Familiengeschichte an, der durch die Ironie die Schwächen des deutschen Bürgertums in der Nazizeit erheblich vergrößert und seine Tugenden dagegen fast mikroskopisch bis hin zu ihrer Auflösung verkleinert.37 Die „in-eventu-Perspektive“,38 durch die der Roman die Ko-Existenz des Bürgertums mit dem Regime darstellt, erlaubte es Kempowski, Walter in das Zentrum der erzählten Ereignisse zu stellen und gleichzeitig die Vergangenheit mittels eines Dialoges zwischen dem jungen Protagonisten und dem kollektiven und kulturellen Gedächtnis Nazideutschlands zu rekonstruieren. Um diesen Prozess der Vergangenheitsrekonstruktion zu unterstützen, wurde der Autor dennoch dazu gezwungen, im Roman hinter den eigenen Erinnerungen, den Redensarten seiner Familie und dem dokumentarischen Material zu verschwinden. Er beschränkte sich darauf, die eigene Präsenz grammatikalisch mit deiktischen Verweisen und Personalpronomen und stilistisch mit dem Konjunktiv der indirekten Rede anzudeuten.39 Folglich hat der Schriftsteller die Saga seiner Familie während des zweiten Weltkrieges aus der ‚Skaz‘Perspektive berichtet, dank derer in einer Erzählung mündliche Sprachelemente, die in Kempowskis Fall in Form der indirekten Rede wiedergegeben werden, in das Innere eines Erzählflusses integriert werden können.40 Um es anders auszudrücken, ist es Kempowski gelungen, den Roman um die Niederschrift der eigenen Kindheitserinnerungen herum aufzubauen. Dabei hat der Schriftsteller die expressiven Möglichkeiten jener „Vermittlerstimme“ ausgenutzt, die – wie es folgerichtig Hayden White unterstrichen hat – dem Schriftsteller ermöglicht, historische Fakten in die dem Text eigene Subjektivität einzubauen und somit seine Erzählung der reflexiven Form stark anzunähern.41 Diese rhetorischen Kunstgriffe lassen sich Tadellöser & Wolff 37

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Zur Rolle der Ironie in den Romanen der Deutschen Chronik, vgl. Riley, Christopher, Walter Kempowski’s Deutsche Chronik. A Study in Ironic Narration, Frankfurt am Main/Berlin, 1997. Vgl. Preisendanz, Wolfgang, „Zum Vorrang des Komischen bei der Darstellung von Geschichtserfahrung in deutschen Romanen unserer Zeit“, in: Das Komische, hg. v. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München, 1976, S. 153, zitiert nach Mahal, Gunther, „Literarische Erfolgsbildung – am Beispiel Walter Kempowski“, in: Festschrift for E. W. Herd, hg. v. August Obermayer, Dunedin, 1980, S. 154. Vgl. Eroms, Hans-Werner, „Die Funktion von Verb- und Satzmodus bei Walter Kempowski“, in: Zur Rolle der Sprache im Wandel der Gesellschaft/The Role of Language in Changes of Society, hg. v. Matti Luukkainen und Riitta Pyykkö, Helsinky, 2002, S. 180-193. Vgl. Bachtin, Michail, Probleme der Poetik Dostoevskijs, Berlin, 1980, S. 239. Zu dem Erzähler-‚Skaz‘ in der Deutschen Chronik, vgl. Fischer, André, Inszenierte Naivität. Zur ästhetischen Simulation von Geschichte bei Günter Grass, Albert Drach und Walter Kempowski, München, 1992, S. 294-305. Vgl. White, Hayden, „Historical Emplotment and the Problem of Truth“, in: Probing the Limits of Representation, hg. v. Saul Friedländer, Cambridge (Mass.), 1992, S. 37.

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und Uns geht’s ja noch gold als Räume literarischer Darstellungsformen der Vergangenheit konstituieren, während der Leser durch die Vermittlung der individuellen Erinnerungen Walters in einen Dialog mit dem deutschen kollektiven Gedächtnis tritt. Diese Romane thematisieren den zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit und sie bauen tatsächlich auf verschiedenen Erzählsträngen auf: a) einerseits führen sie die Erzählung der ‚Familienbiografie‘ Kempowskis fort, indem sie die Transformationen beleuchten, die die bruchartigen Veränderungen seiner Mikrogeschichte in der deutschen Makrogeschichte bewirkt hatten; b) andererseits nehmen sie autobiografische Züge des Autors an. Walter ist hier nicht eindeutig als der Schriftsteller zu identifizieren, sondern er wird als Phantasiefigur auf der Durchreise zwischen Geschichte und Gedächtnis vorgestellt. Aus diesem Grund verbirgt die Sprache in Tadellöser & Wolff unter ihrer lakonischen Oberfläche eine Schichtung verschiedener Bedeutungen, die dem geschriebenen Wort einen eindeutigen Referenten entzieht. Die idiomatischen Redewendungen der Familie und ihre ‚kalkulierte Wiederholung‘ – die dem Autor sichere Zuflüchte vor der Auflösung der eigenen Sprache und der eigenen Vergangenheit liefern – werden zu kohäsiven Elementen in diesem Erzählraum, der durch die Fragmentierung und den Verlust sicherer Bezüge dominiert ist.42 Daraus kann man verstehen, dass der Lauf der Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert den erzählerischen Möglichkeiten des bürgerlichen Romans erheblichen Auftrieb gab und zur Modernisierung der Gattung des Familienromans führte. Das wurde bereits von Thomas Mann zu Beginn des Jahrhunderts verstanden,43 doch der Bruch des zweiten Weltkrieges hat Kempowski gezwungen, sich auf die Suche nach einer neuen Beziehung zwischen erzählendem Ich und dem Betrachtetem zu begeben:44 Sie hat zu einer Fragmentie-

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Manfred Dierks unterstreicht folgerichtig die „kalkulierte Wiederholung“ der Redensarten von Kempowski. Wie auch in einigen dokumentarischen Fragmenten nimmt sie in der Deutschen Chronik eine zentrale Rolle in der Werkstruktur ein, wobei sie nicht nur als kohäsives Element fungiert sondern auch als Strategie eingesetzt wird, um das Vertrauen des Lesers in die Wahrhaftigkeit der erzählten Fakten zu gewinnen, vgl. Dierks, Manfred, Walter Kempowski, München, 1984, S. 68. Dieser „Riß“, wie Eckart Goebel betont hat, „öffnet sich vollends am Ende des bürgerlichen Zeitalters. Joyce, Proust, Kafka, Musil, Gide und Thomas Mann arbeiten angesichts und jenseits des Zerfalls, reagieren auf je unterschiedliche Weise – Durchbrechung der Formimmanenz durch die Reflexion, Angriff auf die dem traditionellen Roman wesentliche ästhetische Distanz, Aufhebung der realistischen Illusion durch ubiquitäre Ironie“; Goebel, Eckart, „Stationen der Erzählforschung in der Literaturwissenschaft“, in: Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste, hg. v. Eberhard Lämmert, Berlin, 1999, S. 22. Vgl. Adorno, Theodor W., „Über den Standort des Erzählers im neuzeitlichen Roman“ (1954), in: Noten zur Literatur I, Frankfurt am Main, 1958, S. 41 ff. Vgl. dazu Figal, Günter, Für eine Philosophie von Freiheit und Streit. Politik – Ästhetik – Metaphysik, Stuttgart, 1994, S. 103: „Was die Geschichte fraglich werden läßt, sind vielmehr die Zäsuren, die Brüche und Hindernisse: bestimmte Ziele sind erreicht, bestimmte Möglichkeiten durch die Umstände verbaut, ehemals offene Perspektiven durch Zufälle oder Schicksalsschläge verschüttet. [...] Das Licht der Kontinuität ist das des Lebensvertrauens, das die leeren Räume nicht kennt und

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rung des realistischen und bürgerlichen Erzählflusses zu Gunsten einer Collage von Erinnerungsfetzen und dokumentarischen Daten geführt, dank derer Nachkriegszeit-Familiengeschichten möglich wurden, so wie es in emblematischer Form in den Romanen der Deutschen Chronik geschieht. Die Darstellung der Familiengeschichte und der deutschen Geschichte im Allgemeinen entspringt deswegen in der Sammlung aus einer Gedächtniscollage, die ein überzeugendes Bild der Vergangenheit entstehen lässt. Zunächst mit der Deutschen Chronik und dann mit den kollektiven Tagebüchern des EcholotProjekts hat Kempowski also ‚literarische Collagen‘ geschaffen: Die Romane der Sammlung sind wahrhaftige Kunstwerke, deren Anliegen es ist, die Familiengeschichte des Schriftstellers sichtbar zu machen und zu vergegenwärtigen. Das wird in dem Moment ermöglicht, in dem der Leser seiner Romane Teile anordnet und sie in neue Zusammenhänge stellt. Viele Literaturwissenschaftler waren sich dieser Besonderheit im Schaffen des Autors nicht völlig bewusst und haben ihn schändlich verrissen, so u.a. Reich-Ranicki, der am 24. Februar 1994 im Fernsehprogramm Das Literarische Quartett sein Urteil über Das Echolot so ausgedrückt hat: „Mich ärgert das, vier Bände, so ein Zeug, was soll das? [...] Ich bin für Literatur und nicht für diesen Haufen an Text“.45 Sehr wahrscheinlich hat der einflussreichste Literaturkritiker aus diesem Grund nicht in seiner Rede in der Marienkirche an Kempowski erinnert: So hat Reich-Ranicki die Nachfolge des Mann’schen Modells und der Tradition des von ihm begründeten, deutschen Familienromans nicht anerkannt, in die unser Autor dagegen unbedingt aufgenommen werden sollte.46 .

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nicht wirklich kennen will – am Ende nicht kennen darf. In diesem Licht haben die Zeichen der Zerstörung sich immer schon zu Symptomen des Neuen gewandelt“. Zitert nach Calzoni, Raul, Walter Kempowski, W.G. Sebald e i tabù della memoria collettiva tedesca, Pasian di Prato, 2005, S. 145. Zur literaturkritischen Debatte über Kempowski seit der Veröffentlichung seines Erstlings bis zu seinem Tod vgl. Henschel, Gerhard, Da mal nachhaken: Näheres über Walter Kempowski, München, 2009, S. 19-75.

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MATTEO GALLI

Filmische Familiensagas: zu Francis Ford Coppolas The Godfather und zu Edgar Reitz’ Heimat 1. Zeit Inter-generationelle, genealogische Erzählungen, Familienromane brauchen sicher viel Raum, brauchen viel Zeit, um erzählt zu werden, denn sie handeln nicht zuletzt vom Vergehen, vom Wandel der Zeit, der Zeiten. Es ist bekannt, dass Thomas Manns Buddenbrooks ursprünglich als eine im Prinzip mono-generationelle Knabennovelle konzipiert war, die nicht länger als 250 Seiten werden sollte. Doch als sich Thomas Mann entschied, auch Hannos Vorgeschichte und damit die Geschichte von drei weiteren Generationen zu erzählen, wurde der Text mehr als dreimal so lang. Epische Gebilde brauchen Raum und Zeit. Beispiele inter-generationeller Familienerzählungen, die sich über mehrere Hunderte von Seiten erstrecken, sind in jeder Nationalliteratur zu finden – egal ob der Text nach dem Prinzip des Sequels in mehreren Etappen veröffentlicht wurde – wie etwa die dreibändige Forsyte Saga (1906 bis 1921) von John Galsworthy oder Uwe Johnsons Jahrestage (1971 bis 1983) – oder ob das Werk aus einem einzigen Band besteht, man denke an Cien años de soledad (1967) von Gabriel García Márquez, an Harmonia caelestis (2000) von Péter Esterházy oder an Amos Oz’ Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (2002). So wie Bücher, in denen Familiengeschichten erzählt werden, mit ihrem Umfang oft neue Maßstäbe aufstellen, sprengen auch Filme – oft sogar in einem stärkeren Maße den Rahmen der „normalen“ Spielfilme. Dies lässt sich entweder im Sinne einer Überlänge verstehen – man denke hier an Ingmar Bergmans Fanny und Alexander (1982, 197 Minuten in der Kinofassung, 312 in der TV-Fassung), an Bille Augusts Das Geisterhaus (1993, immerhin 140 Minuten), an Ettore Scolas La Famiglia (1986, ebenfalls 140 Minuten), an Giuseppe Tornatores Baaria (2009, 150 Minuten), um das jüngste Beispiel dieser Filmsorte zu nennen, oder im Sinne eines mehrteiligen doch gleichzeitig erscheinenden Films (siehe z. B. Bernardo Bertoluccis Novecento aus dem Jahre 1976 oder Marco Tullio Giordanas La meglio gioventù aus dem Jahre 2003, aber auch schon Fritz Langs Die Nibelungen aus dem Jahre 1924). Oder aber man versteht es im Sinne eines sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden familiengeschichtlichen Sequels – egal, ob die jeweiligen Filme nach einer Romanvorlage gedreht wurden oder ob die Regisseure Originalstoffe verarbeiten.

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FILMISCHE FAMILIENSAGAS

Letztere werden üblicherweise mit der Gattungsbezeichnung „Saga“ bedacht, einer Bezeichnung, die ihrer lexikografisch attestierten Bedeutung einer „literarisch gestalteten oder für das Fernsehen aufbereiteten Familiengeschichte, -chronik“ (Duden) immer weniger entspricht und sowohl im literarischen als auch (vor allem) im filmischen Bereich mittlerweile überstrapaziert wird – man denke an die Indiana Jones-, Rambo-, Rocky-, Harry-Potter-, Herr-derRinge-, Pirates-of-the-Caribbean-, jüngst sogar an die Biss-Saga, im Bezug auf die Romane von Stephenie Meyer und deren Verfilmungen. Der Verdacht liegt nahe, dass ‚Saga‘ inzwischen im Kulturbetrieb bloß als Synonym von ‚Serie‘ verwendet wird, wobei anzumerken ist, dass diese semantische Koinzidenz vor allem bei Fällen von Serien anzutreffen ist, die zum großen Teil der Gattung ‚Fantasy‘ zuzurechnen sind. Es ist, als würde die Bezeichnung ihre realistische Verankerung (‚Geschichte‘ oder sogar ‚Chronik‘) mehr und mehr verlieren und sich gleichsam die des semantischen Felds vom Nachbarwort ‚Sage‘ stillschweigend aneignen. Im Falle der zwei Texte, die im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen werden, handelt es sich hingegen um zwei Filmsagas im ursprünglichen Sinne des Wortes, Familiengeschichten also, Familienchroniken. Die Familien heißen Corleone und Simon und stammen aus dem gleichnamigen sizilianischen Dorf bzw. aus dem fiktiven Dorf Schabbach im Hunsrück.1 Edgar Reitz erklärte kürzlich, er habe Coppolas The Godfather nicht gesehen, als er anfing an dem Heimat-Projekt zu arbeiten: „Damals, Anfang der Siebziger war ich zu sehr mit meiner Selbstfindung beschäftigt. Später, als ich selbst auf der Suche nach Familiengeschichte war, wollte ich mich nicht in den Sog des Erfolgsfilms von Coppola begeben, gerade auch weil es bei den Fernsehanstalten Leute gab, die mich bei der Konzeption der Figur des Paul und später des Anton auf Coppola aufmerksam machen wollten. Jetzt wäre es allerdings an der Zeit meine filmhistorische Bildungslücke zu schließen.“2 Ob Coppola wiederum, als er sich Ende der Achtziger Jahre an die Arbeit setzt, um den dritten Teil seiner Trilogie zu drehen, Heimat gesehen hat, dürfte äußerst fraglich sein. Auf einer philologischen Grundlage basieren die Überlegungen, die nun folgen, also durchaus nicht – und dies obwohl gewisse, wohl zufällige Parallelitäten zwischen Coppolas Trilogie und der HeimatTrilogie nicht von der Hand zu weisen sind.

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Umberto Ecos Typologisierung folgend handelt es sich bei The Godfather und Heimat sowohl um eine „Reprise“ als auch um eine „Saga“. Vgl. Eco, Umberto, „Die Innovation im Seriellen“, in: ders., Über Spiegel und andere Phänomene, München, 1990, S. 158 und 161 f. Reitz, Edgar, E-Mail an den Verfasser vom 13. 10. 2008.

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FILMISCHE FAMILIENSAGAS

2. Threequels Zunächst einmal geht es in beiden Filmen um mehrere Generationen: Bei Heimat sind es fünf: Matthias – Paul, Pauline, Eduard – Ernst, Anton, Hermann – Lulu – Lukas, mit dessen Klavierspiel Heimat 3 endet; beim Godfather sind es vier: Vitos Mutter – Vito Corleone – Sonny, Fredo, Michael und Connie – Anthony Vito und Mary, mit deren Erschießung auf den Treppen des Teatro Massimo in Palermo The Godfather III schließt. Die Fabel beider Sagas erstreckt sich demnach über eine sehr lange Zeitspanne: 78 Jahre (von 1901 bis 1979) in Coppolas Film, 81 Jahre (wenn wir vom Paralipomenon Heimat-Fragmente absehen) im Falle von Heimat, von Pauls Rückkehr nach Schabbach am Ende des ersten Weltkriegs bis hin zum neuen Jahrtausend. Aufgrund der weit über die Norm gehenden Dimensionen haben beide Filmemacher sich ausdrücklich auf die Romanform als explizites Vorbild bezogen. Reitz hatte sie – d. i. die Romanform – bereits 1968, d. h. gute sechzehn Jahre vor Drehbeginn evoziert, als er in einer Phase intensiver Experimentierlust in einem Aufsatz mit dem Titel Der Film verlässt das Kino mehrere alternative Filmarten und -formate in Betracht gezogen hatte, u. a. „einen 500Minuten-Film mit romanartiger Handlung von wirklich epischen Dimensionen, eine Gattung, die das Kino nie hervorbringen kann“.3 Auch Coppola hat sich dazu in mehreren Interviews bekannt, und dies nicht nur, weil der Trilogie Mario Puzos Romane als Vorlage dienen. Beide Filme sind bekanntlich Dreiteiler, die Experten des Seriellen sprechen von ‚Threequels‘. Der zweite Teil von Reitz’ Trilogie ist jedoch nicht bloß als ‚Sequel‘ anzusehen. Mittlerweile hat sich zwar im Rahmen einer simplifizierten sequel-artigen Auffassung die Bezeichnung Heimat 2 eingebürgert, man darf jedoch nicht vergessen, dass der Originaltitel Die zweite Heimat lautet, wobei das Wort „zweite“ kein einfaches Zahlwort ist, sondern einer ontologisch anderen, geradezu entgegengesetzten Idee von Heimat entspricht. Auch im Hinblick auf die Chronologie des Erzählten präsentieren sich die zweiten Teile deutlich anders: Stellt Heimat 2 in der Hauptsache einen so genannten Midquel dar (die erzählte Zeit spannt sich zwischen 1960 und 1970, also mitten in die Chronologie von Heimat 1, genauer gesagt zwischen das Ende von Teil 9 und den Anfang von Teil 11), so kombiniert Coppola in The Godfather II gleichzeitig einen Prequel (Vito Corleones Emigration und Aufstieg in Little Italy) und einen Sequel, der das Schicksal der Corleone-Familie, nach Michaels Konsekration zum Paten schildert, womit Teil 1 schließt. Sowohl beim Godfather als auch bei Heimat stehen Konzeption und Dreharbeiten der ersten zwei Teile relativ dicht beieinander. Dass es bei Reitz etwas länger gedauert hat, liegt am Umfang des zweiten Teils: Die zweite Heimat, 1992, d. h. acht Jahre nach Heimat erschienen, musste zunächst von Reitz ganz allein geschrieben und gedreht werden (im Gegensatz zu Heimat, der 3

Reitz, Edgar, „Der Film verläßt das Kino“, in: ders., Liebe zum Kino, Köln 1984, S. 46.

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zusammen mit Peter Steinbach geschrieben wurde und bei Heimat 3, wo Thomas Brussig als Ko-Autor wirkte). Es handelt sich immerhin um 1.532 Minuten Film, die Reitz sofort nach der Fertigstellung von Heimat 1 in Angriff nahm. Der jeweilige dritte Teil kam hingegen bei beiden wesentlich später, bei Coppola hat es 16 Jahre gedauert, bei Reitz zwölf. Dies hatte auch einen markanten filmästhetischen Bruch zur Folge, der kaum zu übersehen ist. Noch eine weitere Gemeinsamkeit der jeweiligen dritten Teile verbindet die Werke: Im Gegensatz zu den jeweiligen vorangegangenen Filmen spielen sie in der Gegenwart oder besser in der unmittelbaren Vergangenheit. Bei Coppola ist die gesamte Story im Jahre 1979 angesiedelt, d. h. zehn Jahre vor Drehbeginn, bei Reitz sind es am Anfang fünfzehn und im sechsten und letzten Film nur noch vier Jahre, denn Heimat 3 beginnt bekanntlich am 9. November 1989, am Tag des Mauerfalls und endet am 1. Januar 2000. Sowohl Coppola als auch Reitz wollen sich also im jeweiligen dritten Teil in zeitgenössische Diskurse einmischen, was ihren Drehbüchern und ihrer Filmästhetik durchaus nicht zugute kommt. Coppola zeigt z. B. den umfangreichen italovatikanischen Strang, der zuweilen den Film in einen Schlüsselfilm verwandelt. Zudem wird der Film von einer Reihe dubioser Figuren bevölkert, die vor allem für den italienischen Zuschauer sofort erkennbar sind: der Minister, der wie Giulio Andreotti spricht, der Leiter der vatikanischen Bank, der nach dem Vorbild des Erzbischofs Paul Marcinkus konzipiert ist, der Bankier Keinszig, der – so wie der italienische Bankier Roberto Calvi im Jahre 1982 – ermordet wird und den man unter der Blackfriars Bridge in London hängend auffindet. Sogar der geheimnisumwobene Tod von Papst Johannes Paul dem Ersten wird im Film verhandelt. Dem gleichen Muster folgt Heimat 3: Mauerfall, WM in Italien, Jugoslawienkrieg, Sonnenfinsternis – eine Ereignisdichte, die man in den ersten zwei Zyklen vergeblich suchte. Somit fehlt es den dritten Teilen von The Godfather und von Heimat an einem wichtigen Element, das zum Erfolg der ersten zwei Teile nicht unerheblich beigetragen hat: Es fehlt die historisierende Patina mit nostalgischem Mood.4 Es sind zwei Kunstwerke, die nach Jamesons Kategorien in formaler Hinsicht als postmodern zu bezeichnen wären:5 Sie wurden gedreht im Stil der Epoche, die sie zu schildern gedenken. Alles andere als postmodern ist jedoch bei beiden Filmen der starke ethisch-kulturelle Ansatz: Gilt es Coppola (vor allem in The Godfather) das Bild solider Familienstrukturen, einer ‚heilen‘ und ethnisch reinen kriminellen Welt im Zeitalter der Familienkrise, des Vietnamkriegs und diffuser und konkurrierender Verbrechergruppen zu evozieren und gleichzeitig zu hinterfragen, so will Reitz das soziale und ästhetische Modell der Heimat pro-

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Dika, Vera, „The Representation of Ethnicity in The Godfather“, in: Francis Ford Coppola’s The Godfather Trilogy, ed. by Nick Browne, Cambridge, 2000, S. 92-94. Jameson, Fredric, „Postmodernism and Consumer Society“, in: The Anti-Aesthetic, ed. by Hal Foster, Port Townsend, 1983, S. 111-125.

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pagieren oder nach dem Ende der 68er-Utopie und eines solidarischen Internationalismus wenigstens dialektisch zur Diskussion stellen. Dass die jeweils ersten Teile nämlich The Godfather und Heimat (als es noch keine Fortsetzungen gab, hießen sie einfach so) eine gewaltige und zum Teil unerwartete Wende in die Karriere beider Regisseure brachten, gehört zu den weiteren Gemeinsamkeiten zwischen Coppola und Reitz. Francis Ford Coppola, der 32 Jahre alt war, als The Godfather in die Kinos kam, hatte bis dahin vier kleine, unabhängige Filme gedreht, die eine gewisse Aufmerksamkeit unter Fachleuten erregt hatten. Sein größter Erfolg war sicherlich das Drehbuch des preisgekrönten Patton (1969, Regie: Franklin J. Schaffner, sieben Academy Awards). Durch The Godfather aber wurde er reich, außerdem einer der führenden Regisseure des New Hollywood. Edgar Reitz, einer der 27 Unterzeichner des Oberhausener Manifests sowie Ko-Autor von Alexander Kluges Abschied von gestern (1966), hatte ein gutes Dutzend mäßig bis gar nicht erfolgreicher Filme hinter sich und mit Der Schneider von Ulm (1978) einen spektakulären Flop. Mit Heimat gelang ihm ein unerhörter Wurf, der ihn mit 52 Jahren überall in der Welt bekannt machte.

3. Familie/Familien, Gender-Konstellationen Bei Coppola bedeutet Familie6 – ganz im Sinne der Filme über die Mafia, eine nicht irrelevante Untergattung des (vor allem) US-amerikanischen Gangsterfilms – zweierlei: Auf der einen Seite stellt sie ein hoch strukturiertes und traditionsgebundenes, biologistisches System inter-generationeller und intragenerationeller Beziehungen dar, mit einer sehr rigiden Rollenzuweisung, was die Beziehungen zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn bzw. Vater und Töchter anbelangt. Aber es gibt auch noch die andere Familie, die Familie im verbrecherischen Sinne, die Familie als Firma, als Machtzentrum, in dessen Mittelpunkt selbstverständlich eine Familie im ersten Sinne steht, in diesem Fall die Familie Corleone, um die aber eine Vielzahl Krimineller und Handlanger kreist, die mit der Familie im biologischen Sinne nur bedingt zu tun haben. Dem kann selbstverständlich abgeholfen werden, indem „interfamiliäre Verbindungen geschaffen werden, die den gleichen Wertestrukturen unterliegen wie die familiären“7, wie z. B. die Patenschaften und die Adoptionen (man denke an die große Rolle, die die Bezeichnung „godfather“ schon in der ersten Sequenz mit Bonasera spielt oder an die Figur des Tom Hagen), die die Geschäftsfamilie und das Familiengeschäft mit bestimmen. Innerhalb dieser Konstellation spielen Frauen überhaupt keine Rolle, sie kochen, sie gebären Kinder, sie weinen, wenn sie von den Männern misshandelt werden. Kurzum: 6 7

Weyand, Gabriele, Der Visionär. Francis Ford Coppola und seine Filme, St. Augustin, 2000, S. 66. Ebd., S. 67.

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sie spielen eine bloß dekorative Rolle – bis auf Kay, Michaels Frau. Sie ist die einzige, die gegen dieses System der Rollenzuweisung rebelliert, die einzige Frau, die überhaupt in der Trilogie zu Worte kommt. Michaels Frau ist der einzige Fremdkörper in der Familie Corleone. Ihre Rebellion zeigt sich in der Tatsache, dass sie sich von ihrem Mann scheiden lässt, aber viel mehr noch darin, dass sie sich weigert, ihre Schwangerschaft zu Ende zu bringen und der Familie Corleone einen weiteren Sohn zu schenken. Kay wird auch diejenige sein, die in The Godfather III bei ihrem Ex-Mann für die Sängerkarriere des Sohns plädiert, für den Michael im Rahmen seiner geplanten innerlichen Erlösung und der Erlösung seiner Familie eine erfolgreiche Anwaltskarriere vorgesehen hatte. Kay weigert sich zunächst, einen Sohn auf die Welt zu bringen, weil sie nicht will, dass er als biologisches Mitglied der Familie automatisch Teil oder womöglich sogar zum künftigen Paten der Familie im verbrecherischen Sinne wird. Die einzigen Figuren, welche beide Familienbegriffe in sich kohärent und restlos vereinen, sind die jeweiligen Godfathers, d. h. in Coppolas Trilogie lediglich der alte Don Vito und Michael. Auch wenn er nicht ermordet worden wäre, wäre Santino/Sonny dieser Doppelrolle nicht gerecht geworden. Schon deshalb, weil diese doppelte Rolle vom jeweiligen Anwärter eine absolute, nahezu asketische Treue zu beiden Familien und zu beiden Familienbegriffen verlangt. Während Santino ein Frauenheld und ein untreuer Ehemann ist, sind sowohl Don Vito (es ist wohlgemerkt keine Frage des Alters: dies gilt für den alten Brando als auch für den jungen De Niro) als auch Michael nicht nur ausnahmslos treu, sondern auch während der ganzen Trilogie zwar charmant aber durchaus keusch konnotiert. Santinos unehelicher Sohn Vincent (Andy Garcia) kann demnach im dritten Teil der Trilogie das Erbe der Familie Corleone überhaupt erst antreten, nachdem er auf Mary Corleone verzichtet hat – und dies nicht nur aufgrund der Eifersucht seines Schwiegervaters, aufgrund inzestuöser Implikationen oder auch wegen vermeintlicher Gefahren, denen er seine künftige Frau aussetzen würde, sondern vor allem, weil er diesem asketischen Vorbild entsprechen soll – ob er diesem Vorbild entsprechen können wird, sei dahingestellt. Vor allem war die Beziehung Vincents zu Mary zu stark sexuell konnotiert, um mit seiner angehenden Rolle als Godfather vereinbar zu sein. Ein Godfather – Pate ja, aber Gott und Vater und Vater Gott in einem8 – kanalisiert seinen Eros in eine reine Machtausübung innerhalb der Familien, der biologischen wie der verbrecherischen. Den zwei Familienbegriffen entsprechen zwei ganz unterschiedliche Darstellungsstrategien, was sich an der Eingangssequenz des ersten Films exemplarisch zeigen lässt: Anlässlich der Hochzeit von Connie, Vitos einziger Tochter, feiert die Familie im biologischen Sinne in der Sonne, es wird gesun8

Ebd., S. 66. Vgl. auch Kawin, Bruce, „Coppola, Stallone e i seguiti“, in: L’immagine al plurale. Serialità e ripetizione nel cinema e nella televisione, a cura di Francesco Casetti, Venezia, 1984, S. 163-184 (hier S. 178).

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gen, es wird getanzt, es wird gelacht. Es ist klar, dass am Familienfest auch Mitglieder der anderen, der verbrecherischen Familie teilnehmen, dass sie sogar das gesamte Fest bewachen, so dass die Familie in aller Ruhe feiern kann. Aber die Geschäfte der Familie im verbrecherischen Sinne werden nicht dort abgewickelt, sondern in einem dunklen Raum, in dem der Pate, der an einem solchen Tag allen, auch den ausgefallensten Wünschen nachkommen soll, wie ein Papst seine Audienz hält. In dieser ungefähr 25-minütigen Eingangssequenz, bewegt sich Vito Corleone ständig zwischen der einen und der anderen Familie, zwischen innen und außen, zwischen Licht und Dunkelheit: Im Hause verteilt er Aufträge, draußen tanzt er mit Frau und Tochter oder lässt sich im Kreise der Familie fotografieren. Die beiden Räume bleiben jedoch streng getrennt, die Kinder dürfen das Heiligtum der anderen Familie nicht betreten und Sonnys Quickie im ersten Stock gilt aus der Perspektive des Godfathers als doppelte Profanation: Profanation der Treue zu seiner Frau sowie Profanation des Headquarters der anderen Familie: „a man who doesn’t spend time with his family can never be a real man“, resümiert Don Vito Corleone, während der Zuschauer im Hintergrund den unscharfen Sonny erblickt, dem die Botschaft eigentlich galt. Das Familienfoto wird aber nicht sofort geschossen. Vito Corleone will unbedingt auf seinen Sohn Michael warten, welcher erst später mit seiner WASP-Freundin Kay und noch in der Uniform eines frischen Heimkehrers aus dem zweiten Weltkrieg eintrifft. Man könnte behaupten, dass der erste Film die Geschichte der gelungenen Re-Sozialisierung des Michael Corleone ist, des asketischen Soldaten und Intellektuellen. In der Hochzeitssequenz wirkt Michael wie ein Fremdkörper innerhalb der beiden Familien. Als Kay sich über den vor sich hinbrütenden Luca Brasi erkundigt, erklärt Michael ihr, dass dieser Herr zahlreiche Aufträge im Namen seines Vaters erledigt habe. Um den Sänger Johnny Fontane von seinem ehemaligen Manager zu befreien, habe sich Vito Corleone an Brasi gewandt. Die damaligen Ereignisse resümiert Michael mit folgenden Worten: „My father made him an offer he couldn’t refuse“. Auf Kays Frage „What was that?“, antwortet Michael: „Luca Brasi held a gun to the bandleader’s head, and my father assured him that either his signature or his brains would be on the release“. Es folgt ein Schnitt, die Kamera zeigt 10 Sekunden lang den singenden Johnny Fontane, schwenkt zu Michael zurück, der gegenüber der recht fassungslosen Kay die Episode folgendermaßen glossiert: „That’s my family Kay, that’s not me.“ Im Laufe des ersten Films wird er sich aber zu beiden Familien – zur biologischen wie zur verbrecherischen – bekennen. Michaels Wende vollzieht sich im Rahmen seines Doppelmordes an Sollozzo und Captain McKluskey, und vor allem infolge des Attentates an seiner sizilianischen Frau Apollonia, das eigentlich Michael galt. Erst danach, auch aufgrund des erlittenen Schmerzes für den Verlust der geliebten Frau und aus Rache, wird sich Michael vorbehaltlos zu beiden Familien bekennen und seine ganze Kaltblütigkeit und Erbarmungslosigkeit entfalten. Diese Wandlung des Charakters erlebt ihren Hö115

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hepunkt in der letzten, berühmten Sequenz des ersten Teils, in der mit alternierendem Schnitt die Taufe des Neffen mit der systematischen Ermordung aller Familienfeinde montiert wird. Seine doppelte Patenschaft ist damit statuiert. Auch ganz real steht bei Godfather eine Familie im Mittelpunkt: Das getaufte Kind am Ende des ersten Teils ist die spätere Regisseurin Sofia Coppola, die dann im dritten Teil der Trilogie Mary, die Tochter Al Pacinos, spielen wird. Deren Tod auf den Treppen des Teatro Massimo und Michaels Ur-Schrei haben sicherlich auch mit dem Tod des ältesten Sohnes von Francis Ford Coppola Giancarlo – Giò genannt – zu tun, der mit 24 Jahren verstorben war. Michaels Schwester Connie wird von Talia Shire, Coppolas Schwester, gespielt. Vergleicht man den ersten Teil der Godfather-Trilogie mit dem ersten Teil von Heimat, so lassen sich auch hier deutliche Parallelen ziehen. Auch hier geht es zunächst einmal um die Re-Sozialisierung eines Heimkehrers, die diesmal jedoch nicht gelungen ist – sowohl bei der biologischen Kleinfamilie Simon als auch bei der sozialen Großfamilie Heimat. Im Gegensatz zur Eingangssequenz des Godfather sind am Anfang von Heimat diese zwei Dimensionen keineswegs getrennt: In die Küche der Familie Simon kommen nicht nur die engen Verwandten, sondern auch zahlreiche Schabbacher, um den entfremdeten und schweigenden Paul willkommen zu heißen, der vor sich hinträumt und nur mit einem verstorbenen Kommilitonen im Hunsrücker Platt zu kommunizieren vermag. Der gesamte erste Film schildert Pauls vergeblichen Versuch, wieder in der Heimat Fuß zu fassen und sein unstillbares Fernweh zu bändigen. Er flüchtet sich zunächst in eine distanzierte Sprachlosigkeit und in Träumereien, später in die Welt der Technik, mit der er über das Radio eine Art Ersatz-Ferne zu erreichen glaubt, dann aber, als sich alle ErsatzProzeduren als vergeblich erweisen, flieht er wie Vito Corleone nach Amerika. In der biologischen Kleinfamilie Simon mitten im Hunsrück herrschen ähnlich rigide systemische Verhältnisse wie in Little Italy oder in Long Island: Das Weibliche wird auf den engelhaften und ewigmütterlichen Inbegriff der Permanenz und Tradition reduziert, die Frauen der Heimat stehen als Hüterinnen des Heims und als Trostspenderinnen im Dienste der sich abmühenden Männer: für den Schmied Matthias (Katharina), für den Kleinunternehmer Anton (Martha) oder für den Ingenieur Otto (Maria). Schon die streng katholischen Frauennamen sprechen Bände. Als Paul Mitte der Vierziger Jahre für eine kurze Zeit nach Schabbach zurückkehrt und krank wird, fällt er sofort in die Rolle des ewigen Sohns zurück und wird von der siebzigjährigen Katharina wie ein kleines Kind gepflegt. Die madonnenhafte Maria, seit dem berühmten Titelbild des Spiegels im Jahre 1984 als Verkörperung und Schutzgöttin der Heimat angesehen, darf in den Dreißiger Jahren ihre Sehnsüchte und Wünsche höchstens in die Filme mit Zarah Leander kanalisieren. Die Heimat wird als komplett a-sexueller Raum dargestellt, die Betonung des Körperlichen, die Leidenschaft, der Sex strömen nur von außen auf sie ein: von Apol-

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lonia, der Fremden, Lucie und Martina, den Huren, oder Klärchen, der Vertriebenen. Noch in der Zweiten Heimat wird der neo-avantgardistische und emanzipierte Künstler Hermann Mitte der Sechziger Jahre, nachdem er mit einem Gutteil der Frauen, die ihm begegnet sind, geschlafen hat und eine gewisse Vorliebe für ältere Frauen bekundet hat, in den Armen der mütterlichen, bodenständigen Schnüßchen landen, während hingegen die eher emanzipierten, allesamt im künstlerischen Bereich versagenden Frauen vor einem unglücklichen Schicksal stehen: die Dichterin Helga wird Terroristin, die Schauspielerin Olga wird drogenabhängig und begeht einen Selbstmordversuch, eine weitere Schauspielerin, Renate, verwandelt sich in einen pathetischen Clown, die Fotografin Esther sucht vergeblich, mit ihrem Vater Frieden zu schließen. Nur Clarissa scheint am Ende von der Zweiten Heimat einen gewissen künstlerischen Erfolg verzeichnen zu können, ist jedoch innerlich zerrüttet.

4. Tradition, Ethnizität Ein weiterer Komplex, den beide Sagas verhandeln, ist die Frage nach der Tradition, und zwar inwieweit Mitglieder späterer Generationen in der Lage sind, bestimmte Wertkomplexe zu transportieren. Vielleicht könnte man mit Umberto Eco – leicht variierend im Hinblick auf Sagas – von der Frage nach dem Altern der Tradition sprechen.9 In Heimat ist der zu transportierende Wertkomplex die Heimat selbst. Heimat ist im Film von Edgar Reitz eine hoch kompliziertes Gebilde aus Landschaft, Sprache, Handwerk, Liedern, Geräuschen, Gerüchen, Farben. Wie kann man diese archaische Welt, die von Reitz durchaus dialektisch und nicht zelebrierend geschildert wird, in die Moderne hinüberretten? Davon handelt letztendlich der ganze erste Teil: Zunächst, als die zum großen Teil von den Nazis verkörperte und geförderte Technologie ihren Einzug in die ‚heile‘ Welt der Heimat hält und die Kommunikationsstruktur der Orte und der Menschen überformt, später, nach dem zweiten Weltkrieg und nach dem Zivilisationsbruch, geht es darum, eine plausible Art zu finden, die Werte der Heimat neu zu beleben und weiterzuvermitteln. Insbesondere in der zehnten und vorletzten Episode von Heimat werden die Vorschläge der drei Simon-Brüder (Anton, Ernst und Hermann) präsentiert und einander dialektisch gegenübergestellt. Anton Simon trifft die Entscheidung, die Optischen Werke nicht zu verkaufen und versucht mit großem Stolz (Die stolzen Jahre heißt denn auch der zehnte Teil), die Werte der handwerklichen Tradition zu retten, die er von seinem Vater Matthias geerbt hat und die er im Grunde unverändert aufrecht erhalten will. Seine Rede vor den versammelten Arbeitern darf in dieser Hinsicht als beispielhaft gelten. Ernst dagegen entscheidet sich für den zynischen, systematischen Ausverkauf der Heimat9

Eco, Umberto, „Die Innovation im Seriellen“, a.a.O., S. 162.

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werte. Er lässt die alten Türen und Fenster abmontieren, sammelt sie und verkauft sie schließlich an großbürgerliche Düsseldorfer weiter. An die alten Häuser seiner Heimat lässt er dafür hässliche Fenster aus eloxiertem Aluminium montieren. Die dritte und letzte Option wird von Hermann verkörpert, der mit der technologischen und wirtschaftlichen Hilfe seines Stiefvaters Paul eine äußerst raffinierte elektronische Musik komponiert, die auch in der Lage ist, die Laute und die Geräusche der Heimat wiederzugeben. Dass Reitz vor allem auf Hermanns Seite steht, beweist die wunderbare Szene, in der der SWF aus Baden Baden die Komposition von Hermann ausstrahlt und fast alle Schabbacher irritiert das Dorfgasthaus verlassen, weil sie diese Musik überhaupt nicht verstehen. Fast alle, nur einer bleibt zurück, Glasisch, die mythische Verkörperung der Heimat: Er hat sie verstanden und gutgeheißen, diese hochkomplizierte, intellektualistische Musik, die von der Heimat handelt.10 Mit der Frage der Tradition befasst sich Reitz auch in Heimat 3, sowohl im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung (Episoden 1-2) als auch im Hinblick auf die Transformation der Heimatwerte im Zeitalter der Globalisierung (Episoden 3-6). Wie kann in Reitz’ (und in Brussigs) Augen das zusammenwachsen, was zusammengehört? Die Wiedervereinigung kann nur aufgrund einer gemeinsamen kulturellen Grundlage gelingen, die aus Bildung, Traditionen und Landschaft besteht: die Romantik, der Rhein, die klassische Musik, das Handwerk, die gute deutsche Wertarbeit.11 Der alternierende Schnitt zwischen dem Beethoven spielenden und dirigierenden Hermann und den auf die alten Schieferplatten pochenden ostdeutschen Handwerkern verdeutlicht dies nur zu klar. An die Stelle des intellektualistischen Voluntarismus dieses Vorschlags tritt in den Episoden 3-6 Reitz’ sachlicher Kulturpessimismus, der ja die unmögliche Synthese zwischen den traditionellen Heimatwerten und den hochentwickelten Kulturprodukten der Moderne, der Avantgarde und der Postmoderne statuiert, wie die ganze Episode um die Verschüttung von Ernst’ Kunstsammlung beweist.12 Um die Frage der Tradition geht es auch bei Coppola, und zwar mit den etwa gleichen Aporien wie bei Reitz. Tradition heißt zunächst einmal die gute alte Mafia-Tradition,13 wovon in den Little-Italy-Sequenzen von The Godfather II einige deutliche Beispiele geliefert werden. In der Phase der Initiation des jungen Don Vito wird auf die schützende, im Grunde positive Rolle des 10 11

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Galli, Matteo, Edgar Reitz, Milano, 2006, S. 172-176. Costagli, Simone, „Ein glücklicher Ausgang für die deutsche Geschichte? ‚Heimat 3‘ und die Romantik als Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschlands“, in: Deutsche Gründungsmythen, hg. v. Heinz-Peter Preußer / Matteo Galli, Heidelberg, 2008, S. 235-244. Galli, Matteo, „‚Keine Lieder, keine Paläste, keine Bilder, vor allem keine Gedanken, die bleiben.‘ Arte e artisti nella trilogia di Edgar Reitz“, in: Cronaca di un secolo concluso. La trilogia di Heimat di Edgar Reitz, a cura di Tomaso Subini, Trento, S. 51-72 (hier 71-72). Camon, Alessandro, „The Godfather and the Mythology of Mafia“, in: Francis Ford Coppola’s The Godfather Trilogy, ed. by Nick Browne, a.a.O., S. 56-75. Siehe auch Vorauer, Markus, Die Imaginationen der Mafia im italienischen und US-Amerikanischen Spielfilm, Münster, 1996, S. 114-130.

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jungen Mafioso hingewiesen: Als ein moderner Robin Hood beschützt er eine Frau, die von einem geizigen Vermieter schikaniert wird, er ermordet einen Verbrecher, der Terror im ganzen Viertel verbreitet und der durch seine ständigen Erpressungen Vitos Arbeitgeber de facto zwingt, ihm zu kündigen. Diesem Modell wird Don Vito alles in allem sein ganzes Leben lang treu bleiben – nur die Welt der Mafia und des Verbrechens haben sich geändert, und er ist nicht bereit, diese Veränderungen zu akzeptieren, was ihn beinahe das Leben kostet. Es gelingt ihm jedoch noch, auf eine ganz private und sanfte Weise zu sterben, während er mit dem kleinen Enkelkind spielt. Wie verändert sich die Mafia-Tradition im zweiten und dritten Film? Der neue Pate Michael versucht zunächst nicht, die ‚edle‘ Tradition des Vaters zu retten; sein Handeln wird von den zynischen Prinzipien der Realpolitik und der kalten Rache regiert, wie die Schlusssequenzen der ersten beiden Filme zeigen: die Ermordung der Feinde und die Eliminierung des Bruders Fredo.14 Sizilien und die gesamte Welt der Tradition sucht man im zweiten Film vergeblich, die Welt des Michael Corleone ist die Welt eines kaltblütigen, professionellen, erbarmungslosen, assimilierten Mörders, der keine Zeit hat, etwaigen Träumen oder Sehnsüchten nachzugehen.15 Wie auch in der Zweiten Heimat wird zunächst einmal radikal mit der Tradition gebrochen: In der Eingangssequenz von The Godfather II können die Musiker, die für das Kommunionsfest engagiert wurden, nicht einmal eine Tarantella spielen. Und einem genauso späten wie unmöglichen Versuch, einen Bezug zur Heimat wiederherzustellen, wohnen wir in The Godfather III bei, wenn Michael als kranker und gebrochener Mann auf der vergeblichen Suche nach Erlösung ist, und zum ersten Mal wieder an seine verlorene Apollonia zurückdenkt. Welch ein Zufall: die am meisten geliebten Frauen von Michael Corleone und von Paul Simon heißen beide Apollonia, sicherlich kein geläufiger Frauenname. Mit der Frage nach der Tradition auf das Engste verbunden ist der Komplex ‚Ethnizität‘, der bei Coppola und Reitz eine nicht unerhebliche Rolle spielt. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1988 sprach der Amerikanist William Boelhover im Bezug auf eine Reihe von dreiteiligen amerikanischen Romanen aus dem ersten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts, die von eingewanderten Schriftstellern verfasst worden waren, von „Ethnic Trilogies“16. Diese Trilogien (genannt werden u.a. Werke von Ole Rølvaag, August Derleth, William Carlos Williams, Pietro di Donato) seien gekennzeichnet von einem poetischen Programm, das „intrinsically genealogical [...] fundamentally generational“17 sei 14

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Kawin, Bruce, „Coppola, Stallone e i seguiti“, a.a.O., S. 182-183: „Vito wird zu einem gerechten Godfather (Gott/Vater), Michael verkörpert nicht die Christus- sondern die Kainrolle.“ Man, Glenn, „Ideology and Genre in the Godfather Films“, in: Francis Ford Coppola’s The Godfather Trilogy, ed. by Nick Browne, a.a.O., S. 109-132. Boelhover, William, „Ethnic Trilogies: A Genealogical and Generational Poetics“, in: The Invention of Ethnicity, ed. by Werner Sollors, New York, 1989, S. 158-175. Ebd. S.159.

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und würden auf einer „affermative evaluation of ethnicity“ basieren. Die drei Narrative entsprächen jeweils dem Modell von „construction“ (1.Teil), „deconstruction“ (2. Teil) und „reconstruction“ (3. Teil). Im jeweiligen dritten Teil würde das Ziel der „reconstruction“ tatsächlich gelingen, wenn auch bloß als „semiotic space of ethnic reconstruction“. Bei Coppola und Reitz, deren Trilogien ein halbes Jahrhundert später Ethnizität fundamental verhandeln, erweist sich das von Boelhover vorgeschlagene Schema zwar plausibel, die Chance einer effektiven „reconstruction“ von Ethnizität scheint jedoch in The Godfather III und in Heimat 3 auf weiten Strecken unmöglich zu sein. Inwiefern koinzidieren Tradition und Ethnizität in den beiden Trilogien? Bei Coppola hat Ethnizität von Anfang an nur bedingt mit Tradition zu tun, da sie nicht als Identitätsmerkmal aus einer alten Welt angesehen werden darf, sondern als ein opportunistisches Zusammenwirken von „strategies to deal with the unequal distribution of wealth, power, and status“, Ethnizität als Interessengemeinschaft, als Lobby „who use symbols of common descent and tradition to create or maintain power“.18 Michaels Sizilienaufenthalt nach dem Mord an Sollozzo und an McKluskey entbehrt jeglichen mythischen Symbolcharakters, er ist durchaus kein Nostos, sondern eine untergrundartige Zwischenstation auf dem Weg zur Selbstbestimmung. Michaels später Versuch einer ethnischen Neu-Verwurzelung in The Godfather III kann demnach unmöglich gelingen. Bei Reitz verläuft es teilweise anders. Dass Tradition und Ethnizität zunächst einmal ein und dasselbe sind, das beweisen als Prolegomena zur Heimat-Trilogie die Geschichten aus den Hunsrückdörfern (1981), weite Teile von Heimat 1, sowie Reitz’ Ausführungen im Aufsatz Unabhängiger Film nach Holocaust? (1978)19, in dem er die deutschen (und europäischen) Regisseure explizit aufforderte, regionale Geschichten zu erzählen und den Amerikanern nicht das Gedächtnis- und Deutungsmonopol zu überlassen. Die „Ober-Münchhausener“ – wie die Kinoleute in der Zweiten Heimat genannt werden (eine selbstkritische und selbstironische Kondensation aus München, Oberhausen und Münchhausen) – verzichten bewusst sowohl auf die Tradition (wenn auf eine Tradition zurückgegriffen wird, dann auf die Tradition der europäischen Avantgarden) als auch auf jegliche Spur von Ethnizität: Hermann Simon besucht in München eine Schule um den Hunsrücker Dialekt abzulegen und von der assimilierten und kosmopolitischen Welt der (Neo-) Avantgarde besser akzeptiert zu werden. In Heimat 3 ist entweder die Tradition eine gesamtdeutsche geworden oder komplett verlorengegangen, man könnte sogar behaupten, dass der Hauptkonflikt des dritten Teils gerade die unmögliche Synthese zwischen Tradition und Ethnizität geworden ist. 18

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Ferraro, Thomas J., „Blood in the Marketplace“, in: Sollors, Werner, The Invention of Ethnicity, a.a.O., S. 176-207 (hier S. 179). Reitz, Edgar, „Unabhängiger Film nach Holocaust“, in Reitz, Liebe zum Kino, a. a. O., S. 98105.

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VIVIANA CHILESE

Die Macht der Familie. Ökonomische Diskurse in Familienromanen Dass die Familie das Kernstück bildet, „auf dem der Staat, das Volk oder auch das Menschsein insgesamt beruhen“, ist ein allgemein anerkannter Gedanke aus der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.1 Auch wenn man heute von der Umstrukturierung des traditionellen Familienbildes spricht und über neue, bereits praktizierte Formen des sozialen Zusammenlebens und der biologischen Reproduktion diskutiert wird, bleibt die klassische Familienstruktur bevorzugter Schauplatz für historische, politische, wirtschaftliche oder trivialpopuläre Auseinandersetzungen mit unserer Gesellschaft. Wenigstens im deutschen Fernsehen ist das Stichwort ‚Familie‘ omnipräsent: In den meisten der so beliebten Soap-Operas wird der narrative Kern um die Geschichte einer Familie, ihre mythisierten Erfolge oder Misserfolge konstruiert und dabei bietet der Schauplatz Familie genug Raum für Intrigen, Eifersüchteleien, Geheimnisse, Machtkämpfe, Gier etc. Die gesamte Palette der sogenannten Doku-Soaps, von der Super-Nanny zu Raus aus den Schulden, vom Abenteuer im 19. Jahrhundert bis zu Mein neues Leben, findet sich innerhalb der Familie oder ihrer gebrochenen Formen wieder. Sogar Musiksendungen entdecken die familiären Beziehungen ihrer Mitwirkenden als ausschlaggebendes Moment für den Erfolg einer Band und so bekommen wir Die erfolgreichsten Familien in den Charts zu sehen. Nicht selten drehen sich die Fälle der Kult-Serie Tatort um Mörder aus gutbürgerlichen Familien. Schon gar nicht verschont uns die Klatschpresse vor den Geheimnissen und oft intimsten Hintergründen bekannter Familien, und wenn man der Diskussion über die Leitungsnachfolge der Bayreuther Festspiele folgt, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich mit der Geschichte und den Spaltungen der Wagner-Familie zu beschäftigen. Auch die Politik wird ständig mit der Bedeutung der Familie in unserer Gesellschaft konfrontiert. Sei es, dass es um Erbschaftssteuer, Kindergartenplätze, Eltern- und Kindergeld oder Rente geht. Obwohl sich die soziale Struktur der Familien in den letzten fünfzig Jahren geändert hat, wollen die Politiker in den Diskussionen nicht vom Bild der traditionellen Familienstruktur mit Vater-Mutter-Kind abrücken. In der Wirtschaft spielt die Familie in Form von Familienunternehmen2 eine entscheiden1 2

Parnes, Ohad, Vedder, Ulrike, Willer, Stefan, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt am Main, 2008, S. 150. In der wissenschaftlichen Literatur zu Familienunternehmen existiert keine einheitliche Definition zu diesem Begriff. Eine Systematisierung versucht die Studie des ‚Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)‘ im Auftrag des ‚Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie‘ aus dem Jahr 2008 zu geben. Hier werden anhand der Struktur von den Unternehmen drei Definition umrissen. Unter nominellen Familienunternehmen werden Unter-

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de Rolle, in diesem wie in den vergangenen zwei Jahrhunderten.3 Glaubt man aber dem Historiker David Landes, dessen Buch Die Macht der Familie. Wirtschaftsdynastien in der Weltgeschichte mich zum Titel meines Beitrags inspiriert hat, ignoriert allerdings der derzeitige Hauptstrom der Wirtschaftswissenschaft die familiär strukturierten Unternehmen als Gegenstand seriöser Forschung. Und wenn man sich doch mit dem Modell Familienunternehmen beschäftigt, wird das Modell als überholtes und bedeutungsloses Relikt abgetan.4 Vor allem scheint eine allgemeine Skepsis über die Zukunftsfähigkeit der Familienunternehmen zu herrschen. Sei es, dass Familienunternehmen unter dem „Buddenbrook-Syndrom“ leiden, d. h. sie gehen nicht über die dritte Generation hinaus, oder unter dem „Prince-Charles-Syndrom“, d. h. sie können die Nachfolge nicht regeln, nicht selten entscheidet der Generationswechsel über Erfolg oder Untergang eines Familienunternehmens.5 Doch gerade die Interaktion von wirtschaftlichen Faktoren und familiären Beziehungen, die Interaktion von Recht und Natur, auf die Familienunternehmen ihre Macht gründen, birgt eine ungebrochene Faszination in sich, die die deutschen Verlage und Autoren längst für sich entdeckt haben. Man denke nur an die Fülle von Biografien über Familien – zum Beispiel Die Mommsens6, Die Flicks7, Die Oet-

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nehmen gruppiert, deren Namen mit dem Namen einer Familie übereinstimmen aber von der namengebenden Familie nicht kontrolliert werden. Bei familienkontrollierten Unternehmen und eigentümergeführten Familienunternehmen haben die Familien das mehrheitliche Eigentum inne, wobei nur bei der dritten Definition die Familie auch die Leitung des Unternehmens in Anspruch nimmt. Siehe: Broer, Eva et al., Wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Familienunternehmen, Mannheim 2008, S. III ff. Die Kurzfassung der Studie ist abrufbar unter: ftp://ftp.zew.de/pub/zewdocs/gutachten/FamilienunternehmenZEWBMWIKurzfassung.pdf (Letzter Abruf 06. 01. 2010). Ein kurzer Blick auf die Statistik der verschiedenen Staaten lässt erahnen, wie präsent und effektiv das Konzept „Familienunternehmen“ immer noch ist. Einer Studie der ‚Stiftung Familienunternehmen‘ ist zu entnehmen, dass in Deutschland 93,2 % der aktiven Unternehmen familienkontrollierte Unternehmen und 90,6 % eigentümergeführte Familienunternehmen sind. Siehe: Die wirtschaftliche Bedeutung der Familienunternehmen, hg. v. der Stiftung Familienunternehmen, München, 2009, S. 15, abrufbar unter: http://www.familienunternehmen.de/media/public/pdf/studien/Die_volkswirtschaftliche_Bed eutung_der_Familienunternehmen.pdf (Letzter Abruf 06. 01. 2010). In der Europäischen Union sind laut David Landes 60 bis 90 % aller Firmen Familienbetriebe. In den Vereinigten Staaten seien Mitte der 90er Jahre mehr als 90 % aller Firmen in Familienbesitz gewesen. Siehe: Landes, David, Die Macht der Familie. Wirtschaftsdynastien in der Weltgeschichte, München, 2008, S. 16. Ebd. S. 16 f. Simon, Wimmer und Groth zufolge bleiben weniger als 10 % der Familienunternehmen bis in die vierte Generation im Besitz der Familie. Gut die Hälfte aller Unternehmen schafft es nur bis in die zweite Generation. Siehe Simon, Fritz B., Wimmer, Rudolf, Groth, Torsten, MehrGenerationen-Familienunternehmen. Erfolgsgeheimnisse von Oetker, Merck, Haniel u. a., Heidelberg, 2005, S. 39 f. Vgl. Baus, Kirsten, Die Familienstrategie. Wie Familien ihr Unternehmen über Generationen sichern, Wiesbaden, 2003, S. 43 ff. Köpf, Peter, Die Mommsens von 1848 bis heute – Die Geschichte einer Familie ist die Geschichte der Deutschen, Hamburg, 2004.

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kers8, Die Reemtsmas9 um nur einige Titel zu erwähnen. Dynastien, verstanden als „Abfolge und Interaktion von Familienmitgliedern über Generationen hinweg, und ihr Alter Ego, das Familienunternehmen als Verkörperung und Ausdruck dieser Interaktion“,10 werden hier historisch dargestellt, analysiert, nicht selten mythisiert. Dabei ist, wie Thomas Macho in einem Artikel in Literaturen feststellt, die wahre Heldin im Genre der Familienbiografie die Zeit: Nicht nur die historische Zeit von bekannten Abschnitten deutscher Geschichte, sondern auch die Industrialisierungsgeschichte der jeweiligen Branchen.11 Richtet man den Blick auf die fiktionale Literatur, ist zunächst festzustellen, dass in zeitgenössischen Romanen die ökonomische Relevanz von Familienunternehmen wenig Beachtung zu finden scheint, da der Fokus vielmehr auf die Bearbeitung der deutschen Vergangenheit gerichtet wird. Nichtsdestotrotz spielen ökonomische Diskurse auch in jenen Familienromanen, in denen die geschilderten Familien nicht in Besitz eines Unternehmens sind, eine bedeutende Rolle. Die ökonomische Relevanz in familiären Diskursen wird hier im Sinne von Erbschaft, versorgerischen Ansprüchen, Vermächtnis oder Schenkungen thematisiert. Man denke zum Beispiel an Hans Pleschinskis letzten Roman Ludwigshöhe,12 in dem ein Geschwistertrio ein bedeutendes Vermögen nur unter der Bedingung erbt, dass sie die geerbte Villa in ein Hospiz für Lebensmüde umwandeln. Die Erben sollen diesen von ihnen so genannten „Finalisten“ auch dabei helfen, ihr Ansinnen in die Tat umzusetzen. Oder man denke an Arno Geigers Es geht uns gut,13 in dem die Villa, die der Protagonist erbt, zum Inbegriff der schweren Last der Vergangenheit und die Entrümpelung des großelterlichen Hauses Anlass für eine produktive Spannung von Wissen(wollen) und Nichtwissen(wollen oder -können) werden. In der fiktionalen Literatur ist die Erbschaft ein probates Mittel, um zögernde Mitglieder an die Familie zu binden und die muss nicht notwendigerweise erst nach dem Tod eines Vorfahrens zum Druckmittel werden. Albert Papenbrock sichert sich das Bleiben der Tochter Lisbeth, verheiratete Cresspahl, in der mecklenburgischen Heimat durch das Vererben der Ziegeleivilla an die Nichte Gesine und zwingt damit Heinrich Cresspahl zu einer Rückkehr ins nationalsozialistische Deutschland. Welche Folge diese Erbschaft für die Familie Cresspahl haben wird, kann man in Johnsons Jahrestage nachlesen.14 Anders

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Ramge, Thomas, Die Flicks. Eine deutsche Familiengeschichte über Geld, Macht und Politik, Frankfurt am Main, 2004. Jungbluth, Rüdiger, Die Oetkers. Geschäfte und Geheimnisse der bekanntesten Wirtschaftsdynastie Deutschlands, Frankfurt am Main, 2004. Lindner, Erik, Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie, Hamburg, 2007. Zitiert nach Landes, David, Die Macht der Familie, a.a.O., S. 13. Macho, Thomas, „Die wahre Heldin ist die Zeit“, in: Literaturen 10, Oktober 2007, S. 12-17. Pleschinski, Hans, Ludwigshöhe, München, 2008. Geiger, Arno, Es geht uns gut, München, 2005. Johnson, Uwe, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Frankfurt am Main, 1988.

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in Annette Pehnts Roman Haus der Schildkröten.15 Hier bildet ein Altenheim den zukunftslosen Schauplatz, auf dem pflegebedürftige Eltern das Leben ihrer erwachsenen Kinder fest im Griff haben. In Form ökonomischer Erpressung durch die Erbschaft sichern sich die jeweiligen Vorfahren ihr Auskommen und zwingen ihre Nachfolger zur Verwirklichung ihrer Wünsche. Man könnte sicherlich viele Beispiele für ökonomische Verquickungen in zeitgenössischen Familienromanen finden. Hier wird aber, angesichts der Bedeutung von Familienunternehmen in unserem kapitalistischen System und da dieses Modell scheinbar wenig Beachtung in der wissenschaftlichen Literatur findet, eine Auswahl von Romanen präsentiert, die sich in die Serie der klassischen Form von Familiensagas à la Buddenbrooks einreihen.

I. Der Vater erstellt’s, der Sohn erhält’s, dem Enkel zerfällt’s! Romane, die von Generationswechseln innerhalb der Familien handeln, die zugleich Wechsel in der Unternehmensführung sind, haben meist „eine vegetationszyklische Struktur von Blüte, Reife und Verfall“.16 Am mythischen Anfang steht die idealtypische Figur des Patriarchen, eines tatkräftigen Unternehmers, der dank seiner Fähigkeiten und begünstigt durch besondere äußere Umstände den Grundstein für ein Imperium legt. Ladislaus Theo Kahn, Reinhard von Heuken und Paul Kobe, sowie ihr Prototyp Johann Buddenbrook der Ältere, sind, trotz der unterschiedlichen Epochen, in denen ihre Leben spielen, Vertreter eines unternehmerischen Geistes, der durch Weltläufigkeit, nüchterne Sachlichkeit und Selbstvertrauen gekennzeichnet ist. Starke Männer mit dilettantischem Interesse für Kultur und Kunst. Ihre Nachfolger müssen sich an ihrem Vorbild messen und das Familienunternehmen weiter zum Erfolg führen. In guter, kapitalistischer Manier muss Fortbestand und Vermehrung des Familienvermögens gesichert werden, selbst um den Preis persönlichen Glücks. Das Zusammenspiel von Geld, Macht und Verwandtschaft wird für die Unternehmerkinder zum verhängnisvollen Schicksal, dem sie sich nicht entziehen können. Es erstaunt deshalb nicht, wenn sie selten denselben Erfolg wie ihre Vorfahren haben. Die Chronik des Unternehmens wird zum Protokoll eines Untergangs. Schon Thomas Mann hatte seinen Roman mit dem Untertitel Verfall einer Familie versehen und dabei die Geschichte vierer Generationen und die Geschichte des Familienunternehmens, eines Getreidegroßhandels, als Untergangsgeschichte präsentiert.17 Auch wenn am Anfang des Romans die Familie noch soziale Anerkennung und unternehmerischen Erfolg genießt, deuten sich 15 16 17

Pehnt, Annette, Haus der Schildkröten, München 2006. Macho, Thomas, „Die wahre Heldin ist die Zeit“, a.a.O., S. 14. Mann, Thomas, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering et al., Bd. 1.1 hg. v. Eckhard Heftrich, Frankfurt am Main, 2002.

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bereits in der Figur von Jean, in seiner kultischen Verehrung der Vergangenheit, die ersten Zeichen des Verfalls an. In ihm ist nicht mehr der vitale Esprit von Johann spürbar, sondern die dekadenten Züge einer der Vergangenheit zugewandten schwachen Lebenskraft. Seine Kinder Thomas, Tony, Christian und Clara sind zunächst bloß die Erben dieses unaufhaltsamen Unterganges, der genau betrachtet bereits zum Zeitpunkt Johanns zweiter Ehe mit der Tochter eines reichen Hamburger Händlers einsetzt, weil mit dieser zweiten Ehe die Tradition von Ehebündnissen aus wirtschaftlichen Interessen initiiert und der ökonomische Vorteil zum Paradigma der Familie Buddenbrook erklärt wird. Wie Luca Crescenzi in der Einleitung zur neuen italienischen Übersetzung des Romans unterstrichen hat, unterliegt der erotische Trieb in Buddenbrooks der Zwangsläufigkeit der Vermehrung und der Konsolidierung des Kapitals.18 Während aber in Johann die erotischen Begierden in vitalistische Lebenskraft im Sinne Nietzsches umgewälzt und unter die Vermehrung des Reichtums sublimiert werden, unterdrückt der Wunsch nach Beständigkeit in Jean Leidenschaft und Instinkt. Als Unternehmer ist er zwar noch erfolgreich, es handelt sich aber um einen Erfolg gespeist aus der Tradition und der Vergangenheit.19 Die Logik der Familienräson setzt sich mit Thomas fort, der sich von seiner heimlichen Geliebten, der schönen aber armen Blumenverkäuferin Anna, mit der Begründung trennt, später werde er die Firma übernehmen und als Erbe des familiären Vermögens solle er für die Gründung einer eigenen Familie „eine Partie“ machen.20 Jeans zweiter Sohn Christian versucht zwar, sich mit seiner dandyhaften Art der Logik der Familienräson zu entziehen, wird aber durch ökonomische Erpressung wieder an die Familie gebunden und dann auf Veranlassung von Aline Puvogel in einer psychiatrischen Anstalt interniert. Bezeichnenderweise geht das Familienunternehmen infolge eines Rates von Tony zu Grunde. Gerade Tony musste sich dem Willen des Vaters beugen und im Namen der Familienräson ihren geliebten Morten für eine Vernunftehe aufgeben. Ihre unterdrückten erotischen Begierden werden weder in einem aktiven unternehmerischen Handeln noch in kultischer Verehrung der Vergangenheit kanalisiert, sondern münden in einen zerstörerischen Drang. Mit ihren zwei Scheidungen untergräbt sie zunächst das erste Fundament des Erfolgs der Buddenbrooks – Ehebündnisse aus Interesse –, mit ihrem Rat zerstört sie das zweite Fundament des vorsichtigen und ethisch korrekten Handelns. Am Ende dieser Dynastie bleibt der Schlussstrich, den Hanno unter der Familienchronik gezogen hat: zunächst ein kindlicher Streich, am Ende aber Symbol des vorher geahnten Untergangs des Imperiums und Ende der Familie. 18

19 20

Crescenzi, Luca, „Introduzione“, in: Mann, Thomas, Romanzi, Vol. I, a cura di Luca Crescenzi, Milano, 2007, S. 5-45. Vgl. ebd. S. 19 f. Mann, Thomas, Buddenbrooks, a.a.O., S. 184.

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Um Blüte, Reife und Verfall eines Familienimperiums geht es auch in Sybille Mulots Die Fabrikanten.21 Die Autorin porträtiert hier eine schwäbische Fabrikantenfamilie, die halbjüdische – oder wie im Roman räsoniert wird, vielleicht doch vierteljüdische – Familie Kahn in ihren letzten einhundertfünfzig Jahren. Eine Familie, die stolz auf fünfhundert Jahre erfolgreiches Unternehmertum in der Holzbranche zurückblicken darf. Auf den ersten Blick kein Opfer des Buddenbrook-Syndroms, erweist sich auch die Geschichte der Familie Kahn als Geschichte eines unaufhaltsamen Untergangs. Auch in dieser Familie müssen sich die Nachfolger mit der unbequemen Figur des Familienpatriarchen messen. Im Unterschied aber zur Vorbildfamilie aus Lübeck und obwohl die klassische Geschlechterrolle auch im Kahn-Clan aufrecht erhalten wird – es gibt nichts schlimmeres für eine Dynastie, als das Fehlen eines „Stammhalters“ – verkörpern die Kahn-Frauen, im primis Lilo Thea, genannt die Pharaonin, Frau des Patriarchen Ladislaus Theo, den wahren Geist unternehmerischer Kreativität, rechnerischer Härte und zukunftsorientierten Agierens. Paradoxerweise sind es aber auch die Frauen, die den ersten Anstoß für den Untergang des Familienimperiums geben. Aufgrund des badischen Erbgesetzes haben die sieben Schwestern des Patriarchen Ladislaus Theo gleichberechtigten Anteil am Erbe. Er ist dadurch zur lebenslänglichen Auszahlung seiner Schwestern verpflichtet und das Firmenvermögen zerfällt in acht Teile. „Die Fugger und Welser des Schwarzwalds“,22 wie die Kahns genannt werden, haben den Fortbestand des Familienunternehmens durch einen kreativen unternehmerischen Geist gesichert, der von der Produktion von Telegraphenmasten über die Herstellung von Holzbaracken für den Reichsarbeitsdienst, später von Gartenpavillons bis zu Nachttopfuntersetzern, Bierdeckeln, Papierrollen und Büchern reicht. Über Generationen hinweg haben die Kahns es geschafft, aus dem Familienunternehmen eine expandierende Firma zu machen. Erst im 20. Jahrhundert beginnt der unaufhaltsame Untergang des Familienimperiums und zwar in dem Moment, in dem auch die Geschichte Deutschlands dramatische Wendungen nimmt. So wird zum Beispiel in den zwanziger Jahren das Unternehmen aufgrund einer ausgebliebenen Lieferung von Telegraphenmasten, die als Reparationszahlung an Frankreich geliefert werden sollten und deren Folge die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich ist, zu einer Aktiengesellschaft umgewandelt und die Kahns verlieren die Mehrheit der Firma. Seitdem ist es das stete Bemühen der Familie, die Aktienmehrheit zurückzukaufen – auch unter Last unermesslicher Schulden.23 Diese Last soll schließlich von Lis Kahn getragen werden, mit ihrem Zwillingsbruder Lazi die letzten Kahns. Was schon ihr Großvater Wilhelm bemerkte – „Man hat die Wahl nicht wirklich“24 – muss Lis 21 22 23

Mulot, Sibylle, Die Fabrikanten. Roman einer Familie, Zürich, 2005. Ebd., S. 12. Dass Ladislaus Felix Kahn, der „jüngste Fabrikdirektor Deutschlands“, von der Verantwortung seines Onkels Hans für den Börsengang des Familienunternehmens erst Ende der fünfziger Jahre erfährt, gehört zur typischen Struktur familiärer Erzählungen: Ein Geheimnis darf nie fehlen.

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„Man hat die Wahl nicht wirklich“24 – muss Lis schließlich an ihrer eignen Haut erfahren: „Die meisten Unternehmerkinder übernahmen irgendwann den Laden ihrer Eltern. Die meisten Unternehmerkinder mussten dafür irgendetwas abbrechen. Immer war es so gewesen, immer. Opfer wurden verlangt und gebracht.“25 Anders ausgedrückt lässt ein Familienunternehmen keinen eigenen Lebensentwurf zu, da das eigene Leben nicht mehr einem selbst gehört, sondern dem gemeinsamen Unternehmen. Lis’ Aufopferung für die Familie könnte nicht größer sein. Mit 25 bricht sie ihr Studium ab, verlässt ihre Liebe, übernimmt in der schwäbischen Heimatstadt die hoch verschuldete Wirtschaftsbuchhandlung des Vaters, unterschreibt einen Erbvertrag zugunsten ihres Zwillingsbruders und verpflichtet sich auf lebenslängliche Auszahlung der Schulden des Vaters. Es ist bedrückend festzustellen, dass Lis auch nach achtzehn Jahren nicht in der Lage ist, ihre Position in der Familie und im Familienunternehmen kritisch zu hinterfragen und ihr Leben neu zu denken. Fast möchte man meinen, in ihrer Opferrolle wird der Versuch unternommen, die Schuld der sieben Schwestern des Urgroßvaters zu verbüßen und in Umkehrung der Figur von Tony Buddenbrook – Lis als Retterin des Familienunternehmens – die Frauenrolle in der Familie neu zu definieren. Die Rechnung geht jedoch nicht auf. Am Ende verlangt Lis eine Revision der Erbverhältnisse und zieht damit nicht nur einen Schlussstrich unter die Familiengeschichte, sondern beendet auch die Geschichte des Familienimperiums. Die Mischung aus wirtschaftlichen Faktoren und erpressbarer Familienliebe, die wohl die Basis von Romanen über Familienunternehmen ausmachen, summiert sich in diesem Roman mit sämtlichen Merkmalen der generationsübergreifenden Erzählungen: Geschwisterzwiste und Übergang der Generationen, Intrigen und Geheimnisse, sowie die Problematik der Geschlechterrollen innerhalb traditioneller Unternehmen- und Familienstrukturen. Um Blüte und Reife, nicht aber um Verfall geht es in Die geheimen Stunden der Nacht von Hanns-Josef Ortheil, erschienen 2005.26 Der Plot ist schnell erzählt: Es gibt einen Patriarch, Rainhard von Heuken, der partout die Leitung des Familienunternehmens nicht aus der Hand geben will, ein Familienimperium, die mächtige Heuken-Verlagsgruppe, und die drei Nachfolger Georg, Christoph und Ursula. Es geht hier hauptsächlich nur um zwei Generationen, die dritte ist zwar im Roman in den Figuren von Georgs Kindern präsent, sie spielen allerdings aufgrund ihres Alters keine Rolle, zumindest noch nicht. Der Patriarch erleidet eines Tages eine Herzattacke und da er seine Nachfolge noch nicht geregelt hat – also ein typischer Fall des Prince-Charles-Syndroms –, geraten die drei Kinder im Nachfolgezwist aneinander, vor allem die beiden Söhne Georg und Christoph. Im Zentrum des Romans stehen weniger die Geschichte des Aufstiegs des Patriarchen und noch weniger die Erfolge oder 24 25 26

Ebd., S. 270. Ebd., S. 72. Ortheil, Hanns-Josef, Die geheimen Stunden der Nacht, München, 2005.

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Misserfolge der drei Kinder. Vielmehr geht es hier um einen klassischen Vater-Sohn-Konflikt und den Vergleich von Lebensentwürfen der jüngeren deutschen Vergangenheit. Wenn es Georg schließlich gelingt, den Konzern zu übernehmen, gleicht sein Aufstieg einer regelrechten Entthronung des Vaters, bei der er sich gleichzeitig auch die Geliebte und den Lebensstil des Vaters aneignet. Dabei wird stets der Akzent auf den Unterschied zwischen der „jüngeren“ Generation, die hier die von Fünfzigjährigen ist, und der Generation der Väter, die den Krieg noch erlebt haben und quasi dadurch eine unvergleichliche Lebensfreude und -energie entwickelt haben, gesetzt. In Umkehrung des allgemeinen Verständnisses wird im Roman suggeriert, dass gerade die jüngere Generation sich der Vergangenheit zuwendet, wobei hingegen die ältere sich zumindest wirtschaftlich als tatkräftiger und zukunftsorientierter erweist.27 Je mehr sich Georg das Leben seines Vaters aneignet, desto mehr wirkt er wie eine schlechte Kopie und dies weil er zwar Gewohnheiten, Rituale, Wohnung und Arbeit übernimmt, seinen vitalistischen Esprit hat er aber nicht inne.28 Aus ökonomischer Sicht wird der Roman interessant, da das Problem einer Gesellschaft thematisiert wird, deren Alterung nicht nur die konkrete Frage ihrer ökonomischen Tragfähigkeit einschließt, sondern auch die Möglichkeiten der Verwirklichung der jüngeren Generation gegenüber einer länger an der Macht bleibenden älteren Generation hinterfragt. Letztere schließt die Frage mit ein, ob dieser Machtwechsel zumindest zum Teil nicht zu recht so spät erfolgt. Es bleibt offen, und der Fantasie der Leser überlassen, ob die Kinder von Georg von Heuken in der Lage sein werden, den Vater zu entthronen und das Unternehmen erfolgreich weiterzuführen, und dementsprechend wie der Generationswechsel künftig erfolgen und darstellbar sein wird. Offen bleibt auch, ob der Konzern – just um einige gegenwärtige ökonomische Diskurse aufzugreifen – am Sprung in den Digitalen Büchermarkt scheitern oder ob er der Finanzkrise zum Opfer fallen wird. So problematisch es auch sein mag, die Literatur an das Auf und Ab von Wirtschaftszyklen zu binden, lässt sich nicht übersehen, dass gesellschaftliche Faktoren ökonomischer Art auch eine Wirkung auf Kunst und Kultur haben. Dies scheint um so mehr für jene Romane zuzutreffen, die sich mit Geschichten, Konzepten und Strategien von Familienunternehmen beschäftigen. Es ist nicht zu übersehen, dass die hier besprochenen zeitgenössischen Romane das Zusammenwirken von familiären Beziehungen und wirtschaftlichen Interessen anhand des Themenfeldes „Familienunternehmen“ in einer leicht negativen Sichtweise präsentieren. Offensichtlich erzeugt das Konzept in der Erzählliteratur Unbehagen, da in ihm mögliche repressive Strategien von familiären, ökonomischen und gesellschaftlichen Beziehungen, sei es in Form von Nach27

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„Er [Rainhard] spricht nicht von der Vergangenheit oder ruht sich wie unsereins in solchen Erinnerungen aus, für ihn es gibt nur die Zukunft […].“, ebd., S. 84. In der Wirtschaftsliteratur würde man Georg von Heuken eine „Epigonen-Psychose“ attestieren. Siehe Baus, Kirsten, Die Familienstrategie, a.a.O., S. 43.

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folgerzwist, Generationswechsel, Geschlechterrollenproblematik, Erfolgszwang oder Anpassungsfähigkeit exponentiell hervortreten können. Es überrascht allerdings, dass man seit dem Erscheinen von Buddenbrooks von der typischen Struktur von Blüte, Reife und Verfall nicht abgerückt ist.

II. Vaters ehemaliger Betrieb Es mag erstaunen, wenn in dieser Reihe von Familiengeschichten im kapitalistischen System nun von Annett Gröschners Moskauer Eis aus dem Jahr 2000 die Rede sein wird.29 Wahrscheinlich haben viele noch nie die Namen „H. Kästner – Diskreter Versand“ – ein Kondomhersteller –, „Wagner und Apel Porzellan“ oder „Landskorn Brauerei“ gehört. Einige kennen aber vielleicht die „Halloren Kugeln“, die „Pianofabrik Blüthner“ oder „Schilkin Wodka“, allesamt Betriebe der DDR. Private Betriebe waren in der DDR bis 1972 keine Seltenheit. Die meisten von ihnen waren einstige Familienunternehmen, die erst in Betriebe mit staatlicher Beteiligung umgewandelt wurden und in denen die Besitzerfamilien noch Führungspositionen besaßen.30 Dann bekamen sie die Rechtsform VEB (Volkseigener Betrieb) oder treffender im Volksmund „Vaters ehemaliger Betrieb“. Ab 1972 – im Zuge der Machtübernahme Honeckers – wurden alle verbliebenen Familienunternehmen komplett enteignet und verstaatlicht.31 Auf diese Tradition der Familienunternehmen im sozialistischen Staat bezieht sich der Roman von Annett Gröschner. Erzählt wird die Geschichte der Familie Kobe, vom Patriarchen Paul Kobe bis zur Nachfolgerin und letzten Vertreterin der Familie Annja Kobe. Strukturell ähnelt diese Familiengeschichte denen des uns bekannten Modells: Ein tatkräftiger Patriarch, Paul Kobe, gründet ein Unternehmen, in diesem Fall einen Konservierungsbetrieb, spezialisiert auf Kühltechnik, das dann in ein Kälteinstitut umgewandelt wird. Paul Kobe führt das Institut zum Erfolg, entwickelt neue Gefrierkonservierungstechniken, die Vakuumgefriertrocknung, trotz der schwierigen ökonomischen Situation in der Anfangszeit der DDR. Nicht ohne die Problematik im Generationswechsel zu thematisieren – vor allem den VaterSohn-Konflikt – wird die Institutsleitung später von Pauls Sohn Klaus Kobe übernommen. Er erforscht weiter die Gefriertechnik, bis das Institut zwangsweise in eine Eisfabrik umgewandelt wird und schließlich im Jahr 1991 im Zuge der Wiedervereinigung geschlossen wird. Klaus hinterlässt seiner Tochter Annja die Kühltruhe der Familie, darin seine tiefgekühlte Leiche, die ge29 30 31

Gröschner, Annett, Moskauer Eis, Leipzig, 2000. Für einen historischen Überblick über die schrittweise Verstaatlichung von Privatunternehmern in der DDR siehe: Arp, Agnès, VEB. Vaters ehemaliger Betrieb, Leipzig, 2005. Am 8. Februar 1972 beschloss das Politbüro des ZK der SED die schrittweise Durchführung des Beschlusses der 4. Tagung des ZK der SED. Auf dieser Tagung im Dezember 1971 gab Erich Honecker bekannt, dass die Privatunternehmen in volkseigene Betriebe umgewandelt werden sollten. Siehe ebd., S. 21 f.

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froren bleibt, obwohl die Kühltruhe nicht angeschlossen ist. Er hat offensichtlich die ultimative Kühltechnik entwickelt, was als Erbe und Vermächtnis an seine Tochter zu verstehen ist. Rückblickend und aus Annjas Perspektive, lässt sich kaum übersehen, dass der Konservierungsdiskurs und Klaus’ gefrorene Leiche als Symbol für die DDR-Wirtschaft und für ihr Ende zu verstehen sind. Forschungsmöglichkeiten, Ergebnisse und Misserfolge des Kälteinstituts decken sich zeitlich mit den verschiedenen Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR: von der ersten Enteignungswelle der Nachkriegszeit, zur Einführung des NÖSPL (Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung) im Jahr 1963 und des Ökonomischen Systems des Sozialismus im Jahr 1968 bis zur wirtschaftspolitischen Kehrtwende im Jahr 1971 durch Honecker. Wenn bereits die Jahre unter dem sozialistischen DDR-System für die zwei Kälteingenieure als „Handicap“ bezeichnet werden und Annjas Erzählung als postumer Versuch verstanden werden kann, ihnen die gebührende Anerkennung zu erweisen – „Wenn ich tot bin, wird niemand mehr die Geschichte zweier Kälteingenieure verstehen, deren einziges Handicap es war, auf der falschen Seite der Welt gelebt zu haben“32 –, präsentieren die Erzählpartien über die neunziger Jahre ein düsteres Szenario der Wiedervereinigung und deren verheerende Auswirkungen auf drei Generationen. Nicht nur erweisen sich die älteren und mittleren Generationen als unfähig, sich in der Nachwendezeit neu zu definieren, sondern auch die jüngere Generation kann mit der gewonnenen Freiheit nichts anfangen.33 Vierzig Jahre sozialistisches System und seine ökonomische wie ideologische Abwicklung haben einerseits zur sukzessiven Zerstörung des einstigen Familienunternehmens und andererseits zum Verlust jeglicher ökonomischen und identitätsstiftenden Anhaltspunkte geführt. Und die gefrorene Leiche? Vielleicht ein Schlussstrich am Ende einer Verfallsgeschichte? Nur zum Teil. Die gefrorene Leiche von Klaus weist zwar auf seine Weigerung hin, die Ereignisse der Zeit weiterhin zu tragen, doch zugleich wird die nicht ausgesprochene Zukunftsperspektive suggeriert, dass sie wieder zum Leben erweckt werden kann. Diese Möglichkeit scheint es am Ende des Romans auch für Annja zu geben, wenn über ihr Verschwinden berichtet wird. Implizit bedeutet dies, dass die Erzählung zwar an ihr Ende gekommen ist, die Familie und ihre technischen Errungenschaften jedoch nicht.

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Gröschner, Annett, Moskauer Eis, a.a.O., S. 94. „Siehst du, […] das ist der Tag der Befreiung. Du weißt nur noch nicht, daß du mit der Freiheit nichts anfangen kannst, weil du dafür nicht gemacht bist“, ebd., S. 271.

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FRIEDHELM MARX

Familienkatastrophen. Über die Erzählfigur des Familienfestes in der Gegenwartsliteratur Seit den späten 1990er Jahren lässt sich im deutschsprachigen Raum eine Konjunktur literarischer Familientexte beobachten. Familienromane wie John von Düffels Vom Wasser (1997), Monika Marons Pawels Briefe (1999), Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders (2003), Gila Lustigers So sind wir (2005), Arno Geigers Es geht uns gut (2005), Eva Menasses Vienna (2005) und viele andere nutzen auf ganz unterschiedliche Weise das Erzählmuster der Familiengeschichte, um Geschichte und Gegenwart, Funktion und Dysfunktion, Dauer und Wechsel einer bürgerlichen Institution literarisch zu verhandeln. Das Spektrum reicht von autobiografischen Texten bis zu Romanen, die die prekäre nationale Geschichte am Beispiel einer Familie ausleuchten.1 Dafür lassen sich gleich mehrere Gründe anführen: Die in den 1990er Jahren einsetzende Beschäftigung mit den Medien des kulturellen Gedächtnisses befeuert die Renaissance des Familienromans ebenso wie die literarische Erschöpfung der unter dem Signum der POP-Literatur entstandenen Single-Texte, die ausschließlich Lebensformen der Gegenwart vorführen. In der Auseinandersetzung der Generationen ist die Familie als variable intersubjektive Struktur dazu angetan, paradigmatisch den gesellschaftlichen, ideologischen und ökonomischen Wandel vor Augen zu führen. Und sie bietet ungeachtet ihrer permanenten Veränderung ein Reservoir an genuin dramatischen, nahezu mythischen Konflikten: „Der Mikrokosmos Familie ist eine Kampfzone, ein Austragungsort von Konflikten, die deshalb so dramatisch sind, weil sie bei aller Erbitterung und Härte im Bereich der Intimität spielen“, schreibt John von Düffel in seiner Bamberger Poetikvorlesung Die erfundene Familie.2 Dabei weist er zugleich darauf hin, dass die Familie längst nicht mehr als gegebene Einheit wahrgenommen wird, sondern dass sie sich selbst unausgesetzt neu erfindet, indem sie ihre eigene Geschichte schreibt: „Jede Familie betreibt ihre eigene Geschichtsschreibung. […] Sie hat auch eine eigene Stimme, und diese 1

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Vgl. hierzu Müller, Lothar, „Der eine Name: Esterházy, der andere: Rothschild. Über die Wiederkehr des Familienromans“, in: Merkur, 57 (2003), S. 663-674; Eigler, Friederike, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin, 2005; Löffler, Sigrid, „Die Familie. Ein Roman: geschrumpft und gestückelt, aber heilig“, in: Literaturen (2005) 06, S. 17-26; Jahn, Bernhard, „Familienkonstruktionen 2005. Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman“, in: Zeitschrift für Germanistik, 16 (2006), H. 3, S. 581-596; Fiedler, Matthias, „Das Schweigen der Männer. Geschichte als Familiengeschichte in autobiographischen Texten von Dagmar Leupold, Stephan Wackwitz und Uwe Timm“, in: Weimarer Beiträge, 53 (2007), H. 1, S. 5-16. Düffel, John von, „Die erfundene Familie. Vom Schreiben am lebenden Sujet“, in: ders., Wovon ich schreibe. Eine kleine Poetik des Lebens, Köln, 2009, S. 86.

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Stimme vernimmt man immer wieder auf den berühmt-berüchtigten runden Geburtstagen und Weihnachtsfeiern.“3 In diesen Festen feiert sich die bürgerliche Familie selbst, indem sie die Wiederholung der eigenen Geschichte und Geschichten zelebriert: Auch in Zeiten des Verfalls der Institution Familie bildet das Fest den Mittelpunkt der Ritualkultur, aus der die Familie besteht. Eben darum drängt es sich als Erzählfigur auf, wenn es darum geht, die innerfamiliären Konflikte und Erosionserscheinungen literarisch zu vergegenwärtigen. Das lässt sich bereits in Thomas Manns Buddenbrooks beobachten: Dort markieren nicht zuletzt die Weihnachtsfeierlichkeiten den fortschreitenden Verfall der Familie. Hanno, dem jüngsten Buddenbrook wird übel, noch bevor das opulente Weihnachtsmahl aufgetischt wird, sein Onkel Christian erläutert der Familie in allen Details, wie man sich fühlt, wenn man zuviel Schwedischen Punsch getrunken hat. „Sonderbar und widerlich“, nach seinem Eindruck und seiner Erfahrung: „Du gehst umher und fühlst dich übel“, sagte er und wandte sich mit krauser Nase an seinen Bruder. „Kopfschmerzen und unordentliche Eingeweide ... nun ja, das gibt es auch bei anderen Gelegenheiten. Aber du fühlst dich schmutzig“ – und Christian rieb sich mit gänzlich verzerrtem Gesicht seine Hände – „du fühlst dich schmutzig und ungewaschen am ganzen Körper. Du wäschst deine Hände, aber es nützt nichts, […] dein ganzer Körper scheint dir klebrig und unrein. Dein ganzer Körper ärgert dich, reizt dich, du bist dir selbst zum Ekel ... […]“4

Mit dieser Vergegenwärtigung von unordentlichen Eingeweiden, Schmutz und Ekel am Weihnachtsabend erreichen die von Christian Buddenbrook inszenierten Taktlosigkeiten und peinlichen Auftritte innerhalb der Familie ihren Höhepunkt: Christians Gesprächsbeitrag signalisiert die Erosion der bürgerlichen Ess- und Feierkultur und damit den unaufhaltsam fortschreitenden Verfall der Familie. Auch auf dem Theater hat das Fest als Zentrum der Ritualkultur der bürgerlichen Familie eine lange Geschichte. Gerhart Hauptmanns Drama Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe von 1890 etwa führt innerhalb der naturalistischen Formensprache vor, was sich diesem Sujet abgewinnen lässt: Das weihnachtliche Versöhnungsprojekt der seit langem zerrütteten Familie Scholz einschließlich der erhofften Rückkehr des verlorenen Sohns Wilhelm schlägt um in Streit und wüste Hassausbrüche, an deren Ende der Vater stirbt. Alle denkbaren Gegensätze treffen hier (schon im Titel) aufeinander: Das weihnachtliche Friedensprojekt führt zur Eskalation des Familienstreits, die 3 4

Ebd., S. 114. Mann, Thomas, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns, Bd. 1.1, hg. v. Eckhard Heftrich und Stefan Stachorski, Frankfurt am Main, 2002, S. 599 f. Vgl. hierzu Verf., „Die Familie bei Tisch. Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘“, in: Buddenbrooks, Houwelandt & Co. Zur Psychopathologie der Familie am Beispiel des Werks von Thomas Mann und John von Düffel, hg. v. Rüdiger Sareika, Iserlohn, 2007, S. 39-57.

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Feier der Geburt Christi fällt mit dem Tod des Familienvaters zusammen, die Rückkehr des „verlorenen Sohns“ löst die Familienkatastrophe aus, am Fest der Heiligen Familie bricht die bürgerliche Familie auseinander. Die Spielidee der Zuspitzung und Entladung angestauter Aggressionen im Rahmen eines ritualisierten Familienfests schreibt sich in der literarischen und filmischen Gestaltung von Familienkonflikten bis in die Gegenwart fort. Für den Familienroman der Gegenwart bietet sie sich auch deswegen an, weil das Familienleben nicht mehr dauerhaft in einem räumlichen Punkt konvergiert. John von Düffel hat diese Entwicklung im Vergleich mit der Unternehmerfamilie der Buddenbrooks beschrieben: Die Buddenbrooks stehen für die Familie unter einem Dach, an einem Ort […]. Ihr Alltag ist geprägt vom Miteinander der Generationen, ihre Selbsterzählung vom Nacheinander der Geschichten, die sich nicht widersprechen, sondern zu einer bruchlosen Tradition addieren. Jede Generation fügt sozusagen ein neues Kapitel hinzu, während die Geschichten der Ahnen mit dem Erbe, der Firma, dem Inventar weitervererbt werden wie auch das Haus als familiärer Lebensraum. Eine solche Einheit des Ortes, eine derartige Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit ist heute selten. Man lebt nicht mehr eng zusammen, man lebt sich auseinander. […] Erst durch das unausweichliche Familienfest, durch den unwiderruflichen Anlaß gibt es wohl oder übel eine Bewegung der Einzelnen aufeinander zu, es entsteht noch einmal ein gemeinsamer Raum, in dem die verschiedenen Versionen und Stimmen zusammentreffen.5

Vor diesem literarischen und soziologischen Hintergrund wird plausibel, warum das Familienfest als Erzählfigur in den Familientexten und -filmen der Gegenwart gleich mehrfach auftaucht. Es erscheint als einzig verbliebenes Familienritual, bei dem die Eltern und die längst entlaufenen, erwachsenen Kinder zusammenkommen. Da die Generationen im Alltag unversöhnt nebeneinander her oder weit von einander entfernt leben, führt das Zusammentreffen in der Regel zu einem clash of cultures. Wie diese Erzählfigur in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur reformuliert wird, soll an zwei Familienromanen, John von Düffels Houwelandt (2004) und Harriet Köhlers Ostersonntag (2007) gezeigt werden. Beide Romane setzen sich dabei ihrerseits mit literarischen und filmischen Vorbildern, insbesondere mit Thomas Vinterbergs Film Festen (dt.: Das Fest) von 1997 und Jonathan Franzens Familienroman The Corrections von 2001 (dt.: Die Korrekturen, 2002) auseinander, die ihrerseits Familienfest und Familienkatastrophe zusammenfallen lassen.

5

Düffel, John von, „Die erfundene Familie“, a.a.O., S. 121. Zur soziologischen Beschreibung der Familie vgl. Rieger-Ladich, Markus, „Unbequeme Zaungäste? Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann beobachten die Familie und irritieren die Erziehungswissenschaft“, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 80 (2004), Heft 1, S. 85-102.

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1. John von Düffels Roman Houwelandt In John von Düffels Familienroman Houwelandt von 2004 läuft die gesamte Handlung auf den 80. Geburtstag des „Familienoberhaupts“ Jorge de Houwelandt zu. Seine Frau Esther versteht es, ihre Kinder und Enkelkinder in die Geburtstagsvorbereitungen einzubinden, obwohl Jorge selbst von einem Fest nichts wissen will: Er konnte die Feier immer noch absagen. Er war das Familienoberhaupt. Wenn er nicht wollte, würde sein Geburtstag nicht stattfinden, alle würden bleiben, wo sie waren. Er, Jorge, brauchte kein Fest.6

Dass die Feier trotz dieses Widerstands unaufhaltsam näher rückt, markiert bereits das Ende der patriarchalischen Lebensform des Familienoberhaupts. Die drei Generationen der Familie leben seit langem räumlich getrennt: Die Großeltern wohnen an der Costa Blanca in Spanien, Thomas, ihr 57-jähriger Sohn, versieht die Verwaltung des längst verfallenen Familiensitzes in Norddeutschland, wo das Fest stattfinden soll, dessen Sohn Christian wiederum, 33 Jahre, hat sich von seinem chronisch lethargischen und erfolglosen Vater abgewendet und erprobt ein Leben jenseits der Zumutungen der eigenen Herkunftsfamilie. Räumliche und mentale Vereinzelung, ja „Verinselung“7 kennzeichnet auf je unterschiedliche Weise alle Mitglieder der Familie. Das Geburtstagsfest für Jorge soll dem innerfamiliären Schweigen ein Ende setzen. Wie Jonathan Franzens Roman The Corrections von 2001, wo sich gleichfalls die erzählerische Spannung dem ehrgeizigen, geradezu rücksichtslosen Projekt eines gemeinsamen Familienfestes verdankt,8 steuert auch John von Düffels Roman nicht auf die Versöhnung, sondern auf eine Familienkatastrophe zu. Esther nimmt ihren Sohn Thomas in die Pflicht, eine Geburtstagsrede auf den Vater zu halten, gerade weil die beiden seit langem kein Wort mehr gewechselt haben. Dieser Aufgabe sucht Thomas sich zu entziehen, indem er sie an seinen Sohn Christian weitergibt, den er zeitlebens von seinem verhassten Vater ferngehalten hat: Ob diese Rede gehalten wird, von wem sie gehalten wird, und was sie an Erziehungs- oder vielmehr Erniedrigungstraumata hochspülen wird, bildet den Spannungsbogen der Romanhandlung. Am Ende wird die Geburtstagsrede allerdings durch eine Trauerrede substituiert, weil Jorge zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag stirbt. Christian verzichtet auf die Abrechnung mit dem einsamen, schmerzverliebten und autoritären Familienoberhaupt.

6 7 8

Düffel, John von, Houwelandt. Köln, 2004, S. 10. Düffel, John von, „Die erfundene Familie“, a.a.O., S. 121. Jonathan Franzens Roman, der 2002 in deutscher Übersetzung erschien und sogleich von zahlreichen Rezensenten als gelungene Wiederbelebung des traditionellen Familienromans gefeiert wurde, gehört neben Thomas Manns Buddenbrooks zu den Prätexten von Houwelandt.

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Dabei führt die Zumutung der Geburtstagsfeier innerhalb der Romanhandlung zunächst dazu, dass Thomas auf fünfunddreißig eng beschriebenen Seiten seinen Vater porträtiert – mitsamt der Deformationen, die dessen Lebensform und autoritärer Erziehungsstil in der Familie hinterlassen hat. Dieser Entwurf kommt bezeichnenderweise nicht zum Vortrag; Thomas wirft seine Generalabrechnung mit dem Familienoberhaupt seinem Sohn in den Briefkasten, der über die Lektüre erstmals seinen Großvater kennen lernt und seinen Vater zu verstehen beginnt. Im Unterschied zu Thomas Vinterbergs Film Das Fest von 1998, in dem anlässlich des 60. Geburtstags des Familienoberhaupts der Sohn die Misshandlungen des Vaters aufdeckt, kommt es bei den de Houwelandts zu keiner unmittelbaren Konfrontation.9 An die Stelle einer Schuldzuweisung und Vergangenheitsbewältigung zweier Generationen, die durch die Präsenz und Dominanz des alten Jorge dominiert wurden, treten Fragen nach der Zukunft, nach den Optionen für die eigene, noch zu erfindende Familie. Damit entspricht der Roman dem Profil des Familienromans, das John von Düffel in seiner Bamberger Poetikvorlesung entworfen hat: Der neue zeitgenössische Familienroman wird sich nicht länger im Präteritum siedeln und von Fragen der Vergangenheitsbewältigung dominiert sein, sondern sich ausrichten auf eine projizierte Zukunft und die erfundenen Familien, die sich erheblich von dem unterscheiden, was Familie einmal war.10

Das erzählerische Interesse verlagert sich von der Aufdeckung vergangener, traumatisch nachwirkender Schuld zur Frage, ob und wie sich die Familie de Houwelandt in Zukunft formieren wird. In dieser Angelegenheit gibt der Roman schon deshalb keine letzte Antwort, weil er sich erzähltechnisch jeder Eindeutigkeit entzieht. Die 30 Erzählabschnitte des Romans sind abwechselnd jeweils einem Familienmitglied perspektivisch zugeordnet: Jorge, Esther, Thomas und Christian wechseln sich ab. John von Düffel hat dieses Verfahren prägnant beschrieben: Es gibt keinen einheitlichen und verbindlichen Erzählstandpunkt mehr, der die Erfahrungen des Familienganzen gleichsam in einem Buch – dem Familienbuch – zusammenfaßt. Es gibt auch niemanden in der Familie, der die alleinige Erzählautorität unangefochten für sich beanspruchen könnte. Damit gerät die Hierarchie und Chronologie des Erzählens von Generation zu Generation aus dem Takt. […] Es entsteht eine Unruhe und Unordnung zwischen den Versionen, Erzählstränge überschneiden, konterkarieren oder verselbständigen sich. Aus der

9

10

Das Fest wurde 2003 am Thalia-Theater Hamburg in einer Bühnenbearbeitung von Stephan Kimmig inszeniert. Als Dramaturg am Thalia Theater wird sich John von Düffel mit diesem Projekt beschäftigt haben. Zwei Jahre später inszeniert Stephan Kimmig John von Düffels Theaterbearbeitung der Buddenbrooks in Hamburg. Vgl. dazu: Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John Düffels Bühnenfassung und Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg, hg. v. Ortrud Gutjahr, Würzburg, 2007. Düffel, John von, „Die erfundene Familie“, a.a.O., S. 113.

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einen verbrieften Familienlegende werden einzelne, lose Familiengeschichten, die nebeneinander bestehen in einer Art unfriedlicher Koexistenz.11

Die erzählerische Form des Romans, mithin die multiperspektivische Darstellung reflektiert das heterogene Erscheinungsbild der Familie, von der er berichtet.12 Noch bevor Thomas de Houwelandt seine furiose Abrechnung mit dem Vater niederschreibt, treibt ihn die Frage um, „ob die Familie der de Houwelandts neben ihren Mitgliedern auch so etwas wie sich selbst, wie einen gemeinsamen Nenner beinhaltet, aber eben nicht den kleinsten, sondern – unmathematisch gesprochen – eine Art Familiennenner, eine alle Variationen und Generationen umfassende Matrix, in der unsere Einzelexistenzen mit ihren Abweichungen und Übereinstimmungen enthalten sind. […] Sind wir, die de Houwelandts, eine Familie, die sich unabhängig vom Denken und Handeln jedes einzelnen selbst enthält, oder gehören wir nur zu der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, die nicht wirklich wissen, wer sie sind und wo sie sozusagen stehen?“13

Der Roman verweigert eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Aber Thomas’ Antwort auf die Frage seines Sohns, wie weit er denn schon sei mit seiner Rede, liefert zugleich das Programm der Darstellung. Wie Thomas antwortet: „‚Ich bin dabei. Es gibt – Varianten!‘“14, gibt auch der Roman Familiengeschichte und -geschichten nur in Varianten. Und diese Varianten der Geschichte bleiben unvermittelt nebeneinander stehen.

11 12

13 14

Ebd., S. 118 f. Michael Scheffel beschreibt John von Düffels Houwelandt-Roman in erzähltechnischer Hinsicht als moderne Kontrafaktur der Buddenbrooks: „Tatsächlich eröffnet die hier verwendete Form des multiperspektivischen Erzählens die Möglichkeit, anstelle eines familiären Zusammenlebens, das in der Gegenwart der erzählten Geschichte gar nicht existiert, grundlegend verschiedene Einstellungen gegenüber ‚Familie‘ als einer vergangenen Lebensform einerseits, aber auch als Möglichkeit in der Zukunft andererseits darzustellen. Von Düffels Roman nutzt die Form des multiperspektivischen Erzählens allerdings nicht allein, um ein Panorama unterschiedlicher Haltungen gegenüber dem Modell Familie zu entfalten. Aus der zitierten Eingangskonstellation und aus dem Nebeneinander von Figuren und Perspektiven entwickelt er überdies eine besondere Art von Generationengeschichte.“ Scheffel, Michael, „‚Glieder in einer Kette?‘ Bilder der Familie und Formen des Erzählens in Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘ und John von Düffels ‚Houwelandt‘“, in: Familien – Erzählen. Das literarische Werk John von Düffels, hg. v. Stephanie Catani und Friedhelm Marx. Göttingen, 2010, S. 129-143 (hier S. 140). Zum Begriff des multiperspektivischen Erzählens vgl. Nünning, Ansgar und Vera, „Von ‚der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte. Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität“, in: Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts“, hg. v. Ansgar und Vera Nünning, Trier, 2000, S. 3-38. Düffel, John von, Houwelandt, a.a.O., S. 92 f. Ebd., S. 94.

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2. Harriet Köhlers Roman Ostersonntag Auch Harriet Köhlers Romandebüt Ostersonntag von 2007 bietet „Familiengeschichte als die Geschichte ihrer Versionen“.15 Zum Ostersonntag finden sich wie in jedem Jahr die erwachsenen Kinder im Münchner Elternhaus ein. Hier sind es zwei Generationen, die bei diesem „Fest“ aufeinandertreffen: Der Roman beobachtet sowohl die beiden Eltern wie auch die verbliebenen, längst in Berlin wohnenden erwachsenen Kinder Ferdinand und Linda, indem er ihnen die Stimme leiht. Wie in John von Düffels Houwelandt sind die einzelnen Erzählabschnitte mit den Namen der vier Perspektivfiguren überschrieben, die jeweils in einer Art innerer Selbstanrede ihre Wahrnehmung der Familie protokollieren. Hier kämpft jeder für sich einen aussichtslosen Kampf: Heiner, emeritierter Professor, zeigt erste Anzeichen von Demenz, die er vor seiner eigenen Familie zu verbergen versucht, seine Frau Ulla erprobt in wechselnden Affären die Bestätigung ihrer verblichenen Schönheit, Linda, mit 36 Jahren erfolgreiche Kolumnistin in Berlin, lebt ein drogengestütztes einsames Leben in Berlin, Ferdinand schließlich, 28 Jahre, hat verschiedene Studien abgebrochen und stürzt sich unausgesetzt von einer Beziehung in die nächste. Bei den ritualisierten Familienfeiern werden diese verschiedenen Spielarten des Scheiterns allerdings ebenso sorgfältig verschleiert wie der Tod der Tochter Friederike vor sieben Jahren, der das Familienleben vollends zu einem „Albtraum aus gemeinsamen Weihnachtsfesten und Osteressen“ gemacht hat. Noch vor der Ankunft in München rechnet Linda auf: Wenn Ferdi und du zu Ostern daheim seid, dann haltet ihr die Blicke gesenkt und die Ellbogen eng am Körper, so viel Raum fordert das Verdrängen ein. Denn deine tote Schwester ist nur die eine Sache. Es hängt noch mehr Ungesagtes im Raum: Mamas Affären, Opas drohender Tod, Papas voranratternde Tattrigkeit, Ferdis Versagen in tatsächlich allen Bereichen des Lebens.16

Diesmal allerdings versagt die Routine der Verdrängung und Verschleierung: Ferdinand entdeckt zufällig einen Abschiedsbrief seiner Schwester Friederike, aus dem hervorgeht, dass sie ihrem Leben freiwillig ein Ende gemacht hat. Die von allen im Stillen bezweifelte Familienversion eines Autounfalls ist damit erledigt: [Ferdinand:] Papa ist schuld, Mama ist schuld. Linda ist schuld. Du bist schuld. Schuld. Ein Gefühl, als zerquetsche Dir jemand mit bloßer Hand das Herz in der Brust. Ein Gefühl, das so schwer ist, dass es wie ein Stein am Grunde deiner Seele liegen bleibt, wo es kalt ist. […] Du musst mit ihnen reden, mit Mama, Papa und mit Linda auch. Wenn es so weitergeht, wird etwas untergehen, wird es mit irgendetwas zu Ende gehen. 15 16

Düffel, John von, „Die erfundene Familie“, a.a.O., S. 118. Köhler, Harriet, Ostersonntag, Köln, 2007, S. 136.

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Wenn sich nichts ändert, ihr nicht endlich redet, du musst mit ihnen reden, vielleicht gibt es ja noch eine Chance.17

Mit dem Brief seiner verstorbenen Schwester im Gepäck reist Ferdinand nach München und sprengt das gewohnt schweigsame Osterritual. Der Roman beschreibt den Eklat konsequent aus der Wahrnehmung der Beteiligten, zunächst aus der Perspektive der Mutter: [Ulla:] Steht der Junge auf einmal vom Tisch auf und behauptet, er hätte einen Brief von Friede bekommen. Es sei kein Unfall gewesen. Kein Unfall! Und dass es nicht angehen könne, dass weiterhin nicht darüber gesprochen werde, dass in diesem Haus über nichts gesprochen werde, dass alles unter den Tisch gekehrt werde, dass das genau der Grund für Friedes Depressivität gewesen sein, dieses ewige Schweigen, dass die Wahrheit und alles, was wahr werden könnte, nicht ausgesprochen werde, dass das der Grund gewesen sein, warum sie zerbrochen sei, und dass er, Ferdi, fürchte, es werde noch viel mehr zerbrechen, wenn es so weitergehe.18

Ferdinands furioser Auftritt erscheint ein zweites Mal aus der Perspektive der Schwester Linda, die sich auf dem Rückflug nach Berlin fragt, wie sie ihrem Freund überhaupt von dem familiären Oster-Desaster erzählen kann, mithin davon, dass ihr rote Wangen bekamt und das Gelächter, wenn Mama etwas erzählte, kurz davor war, sich echt anzuhören, fast schon herzlich, und es also fast schon ein richtig nettes Familienessen war, als auf einmal dein Bruder, dieser Idiot, der sich schon immer viel zu viel aus Dogma-Filmen gemacht hat, mit der Rückseite seines Messers gegen das Rotweinglas schlug, aufstand und zu sprechen begann, ganz wie in Das Fest, dass er also dastand und betrunken in die Runde blickte und auf einmal seine eigene Familie des Mordes bezichtigte. […] Dass dein Vater überhaupt nicht in der Lage war, angemessen auf die Vorwürfe zu reagieren, die wirklich haltlos waren, und sich vor der eigenen Familie in die Hose pisste? Dass deine Mutter anfing, hysterisch zu schreien? […] Willst du ihm den erbärmlichen Anblick schildern, wie dein Vater, der bei Tisch immer gern den Herrn Professor gegeben hat, in seinem eigenen Urin vor einem Teller mit Lammrücken an Balsamico-Schalotten-Marmelade saß, völlig versteinert unter dem hysterischen Kreischen seiner Frau und im flackernden Licht der Kerzen, zu keiner Reaktion mehr fähig?19

Lindas Anspielung auf den Film Das Fest rückt einen wichtigen Prätext des Romans in den Blick. In mehrfacher Hinsicht lehnt sich der Roman an Vinterbergs Film an: Wie im Fest wird im Rahmen eines Familienfestes ein offenes Geheimnis aufgedeckt. Es geht um den ungeklärten Selbstmord eines Familienmitglieds, und ein Brief, der den Freitod erhellt, spielt in beiden Werken 17 18 19

Ebd., S. 141. Ebd., S. 187. Ebd., S. 188 f.

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eine entscheidende Rolle. Dass Ferdinands ältere Schwester den Namen Linda trägt, kommt einer kleinen Verbeugung vor dem Film gleich: dort heißt die abwesend-anwesende Selbstmörderin Linda.20 In beiden Werken übernimmt der Bruder, der der Toten am nächsten stand, die Anklage, indem er im Rahmen einer Tischrede die Ursachen für den Selbstmord der Schwester aufdeckt, mithin einen Mordvorwurf in den Raum stellt. Die Analogien in der Handlungsstruktur lassen allerdings auch erkennen, wie und wo sich der Roman von seinem filmischen Vorbild abstößt. Lindas Wahrnehmung deutet ja bereits an, dass dem furiosen Auftritt des Bruders etwas Inszeniertes und Unverhältnismäßiges zukommt. In Vinterbergs Film gibt es einen Schuldigen innerhalb der Familie: Christian bezichtigt seinen Vater Helge des sexuellen Missbrauchs an seiner Tochter. Aufgrund dieses ungeheuren Vorwurfs wird Christian gewaltsam von der Festgesellschaft ausgeschlossen, die zunächst munter weiterfeiert. Erst als der Vorwurf im Verlauf des „Fests“ durch einen Abschiedsbrief bestätigt wird, gerät der Vater in Bedrängnis und verlässt schließlich die verbliebene Festgesellschaft und seine Familie. Der Sturz des übermächtigen Vaters durch den Sohn, der seinerseits als Kind missbraucht wurde und diese Verletzung mit sich trägt, verleiht dem Film eine geradezu archaische Wucht. Harriet Köhlers Roman weicht in diesem Punkt radikal von seinem Vorbild ab: Der Abschiedsbrief der Schwester ist kurz und ohne jeden Vorwurf. Dementsprechend wird dem anklagenden Bruder noch im Moment der Anschuldigung bewusst, dass es keinen Schuldigen gibt: [Ferdinand:] Du hast immer gedacht, Friedes Tod hätte einen Sinn gehabt. Aber dann rannte Linda auf einmal weg und Mama hinterher, und auf einmal warst du mit Papa, deinem Vater, allein. Seinem Blick. Ein in die Falle gehetztes Reh, das es nicht wagt, der Flinte ins Auge zu sehen. Allein mit Papa, der wackelnd vom Tisch aufstand und in Richtung Badezimmer verschwand, eine Tropfspur auf dem Teppich hinterlassend. Du fühltest den Impuls, ihm zu folgen, ihm zu helfen, für ihn da zu sein, bis ans Ende aller Tage. Du hast Luft geholt, aber gespürt, dass du nur ein Krächzen in den Raum stellen könntest, zu laut, egal, wie leise es wäre. […] Da wurde dir auf einmal klar, dass Papa keine Schuld traf. Dass vielleicht niemanden von euch eine Schuld traf. Ihr Selbstmord vielleicht gar keine Botschaft hatte, Friede vielleicht einfach nur traurig war, so traurig, dass es in keiner Beziehung mehr stand zur wirklichen Welt. Vielleicht nur biochemisches Versagen war, eine Dysphorie durch Mangel an Noradrenalin und Serotonin, eine kleine Dissonanz im Hirnstoffwechsel, die dafür sorgte, dass sich ihr Leben nur um ein schwarzes Loch drehte und Zeit und Raum am Ende tatsächlich verstummen mussten.21

20 21

Das gilt auf ähnliche Weise für John von Düffels Roman Houwelandt, dessen Figuren Christian und Thomas namentlich an das Bruderpaar in Thomas Manns Buddenbrooks erinnern. Ebd., S. 209.

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Hier vollzieht sich nicht der Sturz eines Tyrannen, der sich mittelbar des Mordes schuldig gemacht hat. Harriet Köhlers Roman beobachtet eine Familie, deren vormals dominante Vaterfigur – wie in Jonathan Franzens Familienroman The Corrections – zunehmend in die Demenz abrutscht. Das Desaster der Familie lässt sich nicht einer eindeutig schuldigen Figur zuschreiben. An die Stelle des großen Einzelnen, der seine Kinder und seine Frau physisch und psychisch verletzt und erniedrigt, tritt das gespenstische Schweigen, das einvernehmlich von allen Familienmitgliedern über die Schwächen und Abgründe jedes Einzelnen gelegt wird. Es hat nicht den Anschein, dass der Auftritt Ferdinands in der Rolle des furiosen, wahrheitsenthüllenden Sohnes daran etwas auf Dauer ändern würde. Erzähltechnisch trägt der Roman diese radikale Vereinzelung der Familienmitglieder aus, indem er die gesamte Handlung abwechselnd aus der Wahrnehmung der Beteiligten und zudem in der Form der sog. Du-Erzählung schildert. Dem Leser wird sehr bald klar, dass die Figuren mit dem „Du“ nicht ihn als Leser, sondern nur sich selbst ansprechen. Damit macht sich der Roman eine spezifische Wirkung der Du-Erzählung nutzbar: Der Leser erhält eine schonungslose Innensicht.22 Zugleich wird die Diskrepanz zwischen den unaufhörlichen Selbstgesprächen der Familienmitglieder und dem Schweigen innerhalb der Familie spürbar. Innerhalb dieses Romans, der einem geradezu dramatischen Plot folgt, gibt es keinen Dialog zwischen den Figuren. Die Einzelstimmen haben sich mehr als verselbständigt, sie haben sich voneinander losgesagt. Sie bestehen nebeneinander, ohne daß es noch ein Miteinander des Sprechens geben würde, eine Form von Austausch oder Dialog. Vielmehr ist aus dem Kanon ein einsamer Familienmonolog geworden, den jeder vor sich hinspricht.23

Was John von Düffel über die Erzählregie seines Romans Houwelandt sagt, wird bei Harriet Köhler erzähltechnisch noch ein wenig höher geschraubt: Für die Familienmitglieder wie für den Leser besteht das familiäre Osterwochenende ausschließlich aus Selbstgesprächen. Der vergleichende Blick auf die Romane John von Düffels und Harriet Köhlers lässt erkennen, dass beide die Erzählfigur des Familienfestes nutzen, 22

23

Monika Fludernik hat darauf hingewiesen, dass der Du-Erzählung „eine noch bessere Präsentation von Innensicht“ gelingt als Reflektortexten in der personalen Ich- bzw. Er-Form. Fludernik, Monika, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt, 2006, S. 126. Darum geht es in diesem Roman. Zu weiteren Spielarten und Funktionen der Du-Erzählung vgl. Barbara Korte, „Das Du im Erzähltext. Kommunikationsorientierte Betrachtungen zu einer vielgebrauchten Form“, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 19 (1987), S. 169 -189, Zimmermann, Silke Cathrin, Das Ich und sein Gegenüber: Spielarten des Anderen im monologischen Erzählen, dargestellt an ausgewählten Beispielen der europäischen Erzählkunst des 20. Jahrhunderts, Trier, 1995, S. 137 ff. und Greber, Erika, „Wer erzählt die DuErzählung?“, in: Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme, hg. v. Sigrid Nieberle u. Elisabeth Strowick, Köln, Weimar, Wien, 2006, S. 45-72. Düffel, John von, „Die erfundene Familie“, a.a.O., S. 120.

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um die radikal gestörte Kommunikation innerhalb der Familie vorzuführen. Die erzähltechnische Parzellierung der Beobachterposition auf alle Beteiligten signalisiert, dass eine einzige, hierarchisch vermittelte Familiengeschichte nicht mehr vorhanden und nicht mehr zu erzählen ist. Alle Familienmitglieder etablieren Varianten oder Versionen der Familiengeschichte und sind unausgesetzt damit beschäftigt, „die eigene Version in Sicherheit zu bringen“.24 Der genuin dramatischen und kommunikativen Signatur des Familienfestes wird jeweils eine Erzählweise entgegengesetzt, die das Schweigen innerhalb der Familien umso deutlicher macht. Damit tragen beide Romane auf unterschiedliche Weise dazu bei, den Familienroman neu zu erfinden.

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Köhler, Harriet, Ostersonntag, a.a.O., S. 192.

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3. FAMILY PLOTS

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NORBERT OTTO EKE

Ausschau halten nach den Toten. Marcel Beyers Spurensuche im Feld der Familie I. Bruchstellen der Erinnerung In ganz eigentümlicher Weise arbeitet Marcel Beyer sich mit seinen zwischen 1995 und 2008 erschienenen Romanen ab an den labilen Erinnerungszuständen und prekären Erinnerungspolitiken, die über die Zäsur von 1989 hinaus die deutsche Nachkriegsgeschichte regulierend begleitet, gesteuert und geformt, dabei immer wieder auch den Bildraum der Erinnerung verstellt haben. Flughunde (1995), Spione (2000) und Kaltenburg (2008) sind – als vorläufige Trias des Nachdenkens über deutsche Geschichte – komplexe ästhetische Suchbewegungen, in denen die Verwerfungen und Bruchstellen dieser Erinnerungspolitiken ihren Ausdruck finden. In Spione, dem 2000 erschienenen Mittelstück dieser Trilogie, ist die Erinnerung selbst ganz unmittelbar Gegenstand dabei eines Spiels mit den Möglichkeiten des Narrativs generationeller bzw. transgenerationeller Vergangenheitskonstruktionen. In der Fluchtlinie dieses Narrativs, das in der deutschsprachigen Erzählliteratur seit dem Epochenumbruch von 1989 in evidenter Weise eine Revitalisierung erfahren hat,1 in Anlehnung zugleich an Strukturmomente des Jugend- und Geheimnisromans sowie der Detektivgeschichte, entwickelt Beyer in diesem Roman eine vielfach gebrochene Erkundung weniger des Geschichtsraums als vielmehr der Konstitutionsformen und -mechanismen kultureller (kollektiver) Erinnerung, die den Faden jener „dreifachen Vergangenheitsbewältigung“ (Konrad Jarausch)2 aufnimmt, in deren Fluchtlinie nach 1989 eine signifikante Neujustierung der Modellierungsprozesse sowohl nationaler wie kultureller Identität stattfindet – dreifach, weil in den 1990er Jahren der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nun nicht nur die Inspektion und Revision der DDRGeschichte an die Seite tritt, sondern auch (mit zeitlicher Verzögerung) und über die Milleniumswende hinaus eine kritische Musterung der Rolle der 68er-Generation in der Geschichte der Bundesrepublik. So verläuft die historische Spurensuche in Spione entlang den Bruchlinien eines doppelt gestaffelten Generationenkonflikts, über den hinweg und durch den hindurch im Rahmen einer Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte komplexe Subjekt- und

1 2

Vgl. Eigler, Friederike, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin, 2005. Vgl. Jarausch, Konrad H., „Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz“, in: Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, hg. v. Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow, Frankfurt am Main, 2002, S. 9-37 (hier S. 9).

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AUSSCHAU HALTEN NACH DEN TOTEN

Identitätsbildungsprozesse verlaufen:3 einerseits (Marcel Beyers eigenen Überlegungen in dem Essay Über eine Haltung des Hörens folgend) zwischen der „Schweigegeneration“ der ‚Kriegsteilnehmer‘, die Nationalsozialismus und Krieg (aktiv oder passiv) miterlebt haben, und der „Fragegeneration“4 von 1968, die sich – so Beyer – die schuldig gebliebenen Antworten ihrer Väter selbst hatte geben müssen, dabei das Hören verlernte und taub wurde gegenüber dem Schweigen (der Täter wie der Opfer);5 andererseits zwischen den zur „Antwortgeneration“6 gewandelten ‚zweiten‘ Vätern (und Müttern) von ’68, die nur noch sich selber zu hören in der Lage seien, und der dritten Generation der sogenannten Enkel. Der Einsicht folgend, dass sich der Nationalsozialismus nicht mit einfachen „Abwehrgefechten“ abhandeln und nicht allein „als Thema des Generationenkonflikts […] zwischen Schweige- und Antwortgeneration“ abschließen lässt, „zumal durch deren Rede- und Schweigeverhalten auch die dritte, die vierte Generation geprägt wird“7, hat Beyer von hier aus den historischen Bezugsrahmen seiner Durchmessungen des Geschichtsraums entscheidend erweitert durch die – wenn auch nur in wenigen Strichen angedeutete – Einschließung des Deutschen Herbstes von 1977 und damit einer zweiten prekären Vergangenheit in die ästhetische Suchbewegung. Auch diese ‚andere‘ deutsche Vergangenheit, die gemeinsam mit der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte die Eckpunkte des Koordinatenfeldes markiert, in das Beyer sich mit seiner Familiengeschichte einschreibt, ist im Abstand von dreißig Jahren als Erfahrung unscharf geworden, partiell verdrängt als Teil der Geschichte von 1968, ideologisch dem Freund-Feind-Schema folgend besetzt, entrückt und zugleich verfügbar geworden für die Konstituierung, Adjustierung und Kalibrierung (kultureller) Selbstbilder in einer Zeit, in der das Politische zunehmend entrückt scheint – erschöpft als Gestaltungsmacht, als System nichtsdestoweniger aber stabil. Das hat Konsequenzen auch für die literarische (ästhetische) Form der in Spione ‚erzählten‘ Erinnerungsbewegung,8 die aus der Perspektive der 1990er

3

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6 7 8

Vgl. Wasmeier, Marie Louise: „The Past in the Making: Invented Images and Fabricated Family History in Marcel Beyer’s ‚Spione‘“, in: New German Literature. Life-Writing and Dialogue with the Arts, hg. v. Julian Preece, Frank Finlay und Ruth J. Owen, Oxford u. a., 2007, S. 343-358 (hier S. 344 f.). Beyer, Marcel, „Über eine Haltung des Hörens. Rede anläßlich der Entgegennahme des UweJohnson-Preises 1997“, in: Internationales Uwe-Johnson-Forum. Beiträge zum Werkverständnis und Materialien zur Rezeptionsgeschichte, Bd. 7 (1998), hg. v. Carsten Gansel und Nicolai Riedel, Frankfurt am Main, 1998, S. 261-268 (Wiederabdruck in Beyer, Marcel, Nonfiction, Köln, 2003, S. 259-270), hier S. 262. Zur unterschiedlichen ‚Qualität‘ dieses Schweigens vgl. Beyer, Marcel, „Kommentar. Holocaust: Sprechen“, in: Literatur und Holocaust. Text + Kritik, H. 144, 1999, S. 18-24 (hier S. 19). Beyer, Marcel, „Über eine Haltung des Hörens“, a.a.O., S. 263. Ebd., S. 265. Für Flughunde kommt Sandra Schöll zu vergleichbaren Ergebnissen. Vgl. Schöll, Sandra, „Marcel Beyer und der Nouveau Roman. Die Übernahme der ‚Camera-Eye‘-Technik Robbe-

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AUSSCHAU HALTEN NACH DEN TOTEN

Jahre zurück blickt auf das Jahr 1977, in dem eine Gruppe von vier Jugendlichen sich ein Bild zu machen sucht von der Vergangenheit der Großelterngeneration, drei verschiedene Zeitebenen so ineinander schichtet. Beyer entwirft mit Spione kein durch das Prisma generationeller Konflikte gebrochenes ‚einfaches‘ Bild des widersprüchlichen Verlaufs der deutschen Nachkriegsgeschichte (zumindest nicht primär und vor allem erschöpft sich sein Roman nicht darin), sondern einen vielfach gebrochenen Erinnerungsdiskurs, der die narrativen Muster des Familien- und Generationenromans in ihrer Eigenschaft als Konstruktionsmodus von Geschichte9 zugleich zitiert und dekonstruiert. Das Narrativ familiengeschichtlicher Rekonstruktionen ist nur mehr Kontrastfolie und Assoziationsrahmen, über die Beyer eine selbstreflexive Erkundung des Geschichtsraums schichtet. Gleiches gilt für die oft aus der Position moralischer Überlegenheit geschriebenen literarischen Konfliktmodellierungen der sogenannten „Väterliteratur“10, also der in den 1970er und zum Teil noch 1980er Jahren in großer Spannweite erschienenen Abrechnungen der 68erGeneration mit den sprachlos-stummen Eltern.11 Der streng symmetrische Aufbau des Romans in neun, um die Mittelachse des fünften Kapitels zentrierte Abschnitte unterstreicht den selbstreflexiven Charakter der Narration auch formal. Vier Kapitel laufen auf diese Mittelachse zu, die den Gesamttitel des Romans aufnimmt (Sporen → Anrufe → Verschwiegene → Boten → Spione), vier gleich lautende Kapitel führen in gegenläufiger Richtung von ihr weg (Spione → Boten → Verschwiegene → Anrufe → Sporen). Die zyklische Struktur folgt einer ab- und einschließenden Bewegung – mit dem letzten Kapitel ist die Erzählung wieder an ihrem Anfang angelangt. Die Transformation des narrativen Grundmodells selbst erfolgt vor dem Hintergrund eines für die Formierungs- und Formatierungsprozesse individueller und kollektiver Identitäten über die Generationsfolge hinweg12 einschneidenden Umbruchs von der Erinnerung der Zeitzeugen zur medialen Konstruk-

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Grillets in ‚Flughunde‘ im Dienste einer Urteilsfindung durch den Leser“, in: Auskünfte von und über Marcel Beyer, hg. v. Marc-Boris Rode, Bamberg, 2000, S. 144-157 (hier S. 144 f.). Vgl. dazu Weigel, Sigrid, „Generation as Symbolic Form. On the Genealogical Discourse of Memory since 1945“, in: The Germanic Review 77, 2002, Nr. 4, S. 264-277. Vgl. etwa Henisch, Peter, Die kleine Figur meines Vaters, Plessen, Elisabeth, Mitteilung an den Adel, Piwitt, Hermann Peter, Die Gärten im März, Härtling, Peter, Nachgetragene Liebe, Meckel, Christoph, Suchbild. Über meinen Vater, Seuren, Günter, Abschied von einem Mörder etc. Zur Unterscheidung zwischen den neueren Generationenromanen und der Väterbzw. Elternliteratur der siebziger und achtziger Jahre vgl. Eigler, Friederike, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, a.a.O., S. 25. Auf den Unterschied innerhalb der narrativen Konstellation von Spione zur sogenannten Väter- (und Töchter-)literatur ist verschiedentlich bereits hingewiesen worden. Vgl. Wasmeier, Marie Louise, „The Past in the Making“, a.a.O., (bes. S. 344 f.); Ganeva, Mila, „From West-German ‚Väterliteratur‘ to Post-Wall ‚Enkelliteratur‘: The End of the Generation Conflict in Marcel Beyer’s ‚Spione‘ and Tanja Dückers’s ‚Himmelskörper‘“, in: Seminar 43, 2007, Nr. 2, S. 149-162 (bes. S. 157 f.). Zu diesem Vorgang: Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, 1992, S. 18.

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tion von Erinnerung, mit der sich die Frage nach dem Verhältnis von ‚Wahrheit‘/Authentizität und Wirklichkeitskonstruktion in neuer Dringlichkeit stellt. Die kulturwissenschaftliche ‚Memoria‘-Forschung hat wiederholt auf die bestimmende Eigenheit der Erinnerung als dynamische Konstruktion im Rahmen eines gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs hingewiesen.13 Erinnerung ist Interpretation, Deutung der Vergangenheit, an der die verschiedenen Medien der Repräsentation (Historiografie, Literatur, Film, Denkmäler, Gedenktage usw.) mit ihren je spezifischen Ausdruckweisen ‚mitschreiben‘. Nicht nur hängt, was erinnert wird, „davon ab, wie es erinnert wird“14 (so James Edward Young in seiner wegweisenden Studie Writing and Rewriting the Holocaust). Um so mehr sich die Erinnerung der Vergangenheit vom ‚authentischen‘ Gedächtnis der Zeitzeugen abkoppelt, um so weniger können sich die späteren Generationen außerhalb ihrer Vermittlungen, d. h. unabhängig von einer ‚empfangenen‘, durch Fotografien, Filme, Bücher und Zeugenaussagen vermittelten ‚Geschichte‘, erinnern. Die gehäuft in der Gegenwartsliteratur im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen historischer Erinnerung begegnenden Selbstreflexions- und Selbstbeobachtungsprozesse sind Indikator dafür, dass diese Umstellung vom Zeitzeugengedächtnis auf ein medial vermitteltes Nachgedächtnis der späteren Generationen nicht ohne Reibungsverluste abgeht, wird doch mit dem Absterben der Zeitzeugen die Wechselwirkung zwischen individueller und kollektiver Erinnerung prekär. Sind aber die Linien der über narrative Erinnerungsprozesse im Spannungsfeld von Lexikon (wissensbasierte Überlieferung von Vergangenheit) und Album (persönliche Überlieferung durch Familiengeschichten)15 regulierten Kontinuität zwischen vergangener und gegenwärtiger Erfahrung durchtrennt, ist die Konstituierung und Organisation von kultureller Erinnerung auf andere Kanäle (Medien) verwiesen. Hier ordnet sich Marcel Beyer als Angehöriger der Generation, die nicht mehr aus einem Erfahrungs- und Erinnerungsfundus, sondern vielmehr aus einem „Fundus von Wissen und Überzeugungen“16 heraus agiert, mit seinem Roman Spione ein, der nicht nur um das Verhältnis von innerem und äußerem Sehen, um die Frage der Verlässlichkeit der Bilder und die Möglichkeit der Erkenntnis aus der Distanz heraus kreist, sondern zugleich auch in ganz 13

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Vgl. Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hg. v. Aleida Assmann und Dietrich Harth, Frankfurt am Main, 1991; Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O.; Konstruktionen des Erinnerns – Transitorische Turbulenzen, hg. v. Hans Ulrich Reck (= Kunstforum, Nr. 127/128, 1994); Memoria – Vergessen und Erinnern, hg. v. Renate Lachmann und Anselm Haverkamp, München, 1993. Young, James Edward, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt am Main, 1992, S. 13. Zur Unterscheidung zwischen Lexikon und Album: Welzer, Harald, Moller, Sabine und Tschuggnall, Karoline, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main, 2002. Assmann, Aleida, „Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit (Teil 1)“, in: Assmann, Aleida und Frevert, Ute, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart, 1999, S. 19-147 (hier S. 22).

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zentraler Weise die Literatur als Konstruktions-Medium von Wirklichkeit in den Blick nimmt.17 Dass sie als Schrift Speichermedium ist und als solches im Schnittpunkt jenes Vorgangs der Herausbildung einer Kultur der Erinnerung steht, in deren Pflege Gesellschaften Selbstbilder imaginieren, stabilisieren und vermitteln sowie Orientierung stiften, dass sie als Kunst zugleich aber auch Feld subjektiver Verschiebungen und Verformungen von (vergangener und gegenwärtiger) Wirklichkeit ist – all dies bildet den Referenzrahmen eines theoriegesättigten Romans, in dem Beyer wie schon zuvor in Flughunde ein raffiniertes Spiel mit den Medien der Erinnerung in Szene setzt.

II. „Verschwiegenheit prägt unsere Familie, von Anfang an.“ Im Zentrum von Spione steht der Prozess der Formung von Erinnerung im Vorgang des Erzählens. Das verbindet diesen Roman mit seinem Vorgänger Flughunde, der deutsche Geschichte als Geschichte der Stimmen und ihrer Aufzeichnungen erzählt, dabei Perspektiven (Erzählerstimmen) wie Bilder übereinander legt, ohne die dadurch entstehenden Überblendungen, Brechungen und Brüche in der Stimme eines Dritten, d. h. einer übergeordneten Erzähler-Instanz aufzufangen.18 Ist Erinnerung in Flughunde aber noch körperlich konnotiert, als Einschreibung eines einmaligen intensiven Erlebnisses und Narbenspur (hier auf den Stimmbändern und den Schallaufzeichnungsgeräten des Akustikers Karnau), zielt die Erzählkonstruktion von Spione auf die andere Gedächtnisspur der Sprache: sprachliches Erinnern vollzieht sich in Spione in der Verlängerung visueller Perzeptionen als wieder- und zurückholendes Erzählen ‚geheimer‘ Geschichte(n) im Rahmen sozialer (Gruppen)Kommunikationen.19 17

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Silke Horstkotte und Mila Ganeva haben von hier aus jeweils Zugang zu Beyers Roman über das „postmemory“-Konzept Marianne Hirschs (Family Frames. Photography, Narrative, and Postmemory, Cambridge, 1997) gesucht. Vgl. Horstkotte, Silke: „Literarische Subjektivität und die Figur des Transgenerationellen in Marcel Beyers ‚Spione‘ und Rachel Seifferts ‚The Dark Room‘“ in: Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, hg. v. Stefan Deines, Stephan Jaeger und Ansgar Nünning, Berlin, New York, 2003, S. 275-293 (hier S. 277); Ganeva, Mila, „From West-German ‚Väterliteratur‘ to Post-Wall ‚Enkelliteratur‘“, S. 150 f. Zum poetologischen Verfahren von Flughunde vgl. Simon, Ulrich, „Assoziation und Authentizität. Warum Marcel Beyers ‚Flughunde‘ auch ein Holocaust-Roman ist“, in: Auskünfte von und über Marcel Beyer, a.a.O., S. 124-143 (hier S. 137). Siehe auch Birtsch, Nicole, „Strategien des Verdrängens im Prozeß des Erinnerns. Die Stimme eines Täters in Marcel Beyers Roman ‚Flughunde‘“, in: Reden und Schweigen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Fallstudien, hg. v. Carsten Gansel und Pawe ł Zimniak , Wrocław, Dresden, 2006, S. 316-330 (hier S. 316 f.). Ich greife hier zurück auf Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen dem Gedächtnisspeicher des Körpers und demjenigen der Sprache. Vgl. dazu Assmann, Aleida, „Wie wahr sind Erinnerungen?“, in: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, hg. v. Harald Welzer, Hamburg, 2001, S. 107.

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Die Störungen im Generationengedächtnis vor Augen, legt Beyer in Spione ein Mosaik aus verschiedenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erfindungen aus, das seinen Fluchtpunkt hat im Nichterzählten, dem ebenso präsenten wie beredten Schweigen in den Familien (nicht allein) über die Geschichte der Großväter und Großmütter, dessen Folgen im Roman in einem ebenso einfachen wie zwingenden Bild verdichtet sind: Unter der Folie, mit der der Schutt der Geschichte sorgsam abgedeckt worden ist, um darauf neuen Wohnraum zu schaffen, wuchert schon seit langem ein riesiger Pilz, der mit seinen Sporen den ganzen Lebensraum gleichsam von Grund auf verseucht. Auf die Spur dieser beschwiegenen Familiengeschichte begeben sich in den Schulferien des Jahres 1977 vier Jugendliche, drei Geschwister und ihr Cousin, aus einer Erfahrung des Anders- und Fremdseins heraus. Das gemeinsame Merkmal ihrer dunklen, südländischen Augen sondert die Heranwachsenden von ihrer Umwelt ab; innerhalb der ‚deutschen‘ Umgebung gibt es Anlass zu Irritationen, ist es Störung (die ‚Anderen‘ fühlen sich von ihnen auch beobachtet), Zeichen einer Differenz, welche die Jugendlichen in einer schwierigen Phase der Identitätsfindung ihrerseits verunsichert, zu Erklärungen nötigt und verführt, ihnen andererseits aber auch ihre Zusammengehörigkeit bewusst werden lässt. Wir vier haben dieselben Augen. Schon als wir Babys waren, müssen die Leute über unsere Augen gesprochen haben. Sie konnten nicht anders, als Bemerkungen zu machen, noch als wir in die Schule kamen. […] Der schwarze Punkt, der braune Rand, das Weiße. Als ob wir Spanier wären. […] Andere Leute meinten: ‚Eher Italiener.‘20

Diese Differenz- und Alteritätserfahrung gibt den Anstoß zur Auskundschaftung ihrer Herkunft und damit ihrer Familiengeschichte, die ihnen aufgrund des in der Familie vorherrschenden Schweigens zwischen den Vorgängergenerationen der Eltern und Großeltern als Geheimnis bzw. als geheimnisvoll erscheint. Die drei und ich haben diese Italieneraugen, daneben nur ihr Vater und meine Mutter, die Geschwister sind. Gehen die anderen mit ihrer Mutter oder ich mit meinem Vater in die Stadt, glauben die Leute wahrscheinlich, wir wären adoptiert. Unsere Eltern sind weder Spanier noch Italiener. Woher haben wir dann alle vier die gleichen Italieneraugen.21

Als Kundschafter (Spione) im Feld der Familie halten die vier fortan ‚Ausschau‘ nach den Toten (und Lebenden). Im Zentrum ihrer Spurensuche, die zunehmend die Züge eines paranoiden (Wahn-)Systems annimmt,22 steht ein blinder Fleck: die Leerstelle im Familiengedächtnis, verdecktes und durch das Tabu geschütztes Terrain – das als Verschwiegenheit gedeutete Geheimnis, 20 21 22

Beyer, Marcel, Spione, Köln, 2000, S. 18 f. Ebd., S. 19. Vgl. dazu: „Ich bin alle fünf Autoren zusammen. Gespräch mit Marcel Beyer – 25. Juni 1999“, in: Lenz, Daniel, Pütz, Eric, LebensBeschreibungen. Zwanzig Gespräche mit Schriftstellern, München, 2000, S. 217-227 (hier S. 226 f.).

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die klandestine Familiengeschichte: „Verschwiegenheit prägt unsere Familie, von Anfang an.“23 Ein zufällig im Bücherschrank der Eltern gefundenes Familienalbum aus der Vorkriegs- und Kriegszeit wird mit seinen auffälligen Lücken zum Assoziationsraum einer ‚Geheimgeschichte‘ der Familie. Es ist Auslöser einer von Beyer nicht linear, sondern – in Analogie zu den fragmentarischen und verschlungenen Prozessen subjektiver Erinnerungsvorgänge – gebrochen und in Varianten erzählten narrativen Erfindung hypothetischer Geschichte(n), hier des Großvaters, zu dem es keinen Kontakt gibt, und der früh verstorbenen Großmutter, deren Gedächtnis im Familienalbum weitgehend ausgelöscht ist – im Unterschied zum Großvater existieren von ihr keine Porträtaufnahmen mehr. Auf drei verschiedenen Zeitebenen angelegt, die sich beständig überlappen – der Vergangenheit der Vorkriegs- und Kriegsjahre, der die Jugendlichen nachdenken, der Zeit des/ihres Kinderspiels der erfundenen Erinnerung (1977) und der Zeit der späten 1990er Jahre, von denen aus der Erzähler auf das Kinderspiel zurückblickt – entstehen dabei nicht deckungsgleiche Geschichten, Versionen mithin einer im Verborgenen aufgehobenen, stets nur in „Schattierungen“24 sichtbaren, Vergangenheit, die die Wirklichkeit möglicherweise einholen, möglicherweise aber auch überholen. Die Lücken im Familienalbum sind als Blindstellen der Wahrnehmung kodiert, die narrative (Re-)Konstruktion der Familiengeschichte wiederum als imaginative (subjektive) Eroberung des Blickfeldes. Diese aber verfehlt nicht nur die Gemeinschaft stiftende Funktion des kulturellen Gedächtnisses;25 sie bleibt als solche auch prekär. Möglicherweise war der Großvater als Luftwaffenoffizier Mitglied der Legion Condor und als solcher an der Zerstörung Guernicas beteiligt, möglicherweise war seine erste Frau eine italienische Opernsängerin (was das Merkmal der dunklen „Italieneraugen“ zumindest genealogisch erklärbar machte) und möglicherweise hat die zweite Frau des Großvaters, die stets nur „die Alte“ genannt wird und als mythische Figur des Vergessens (genauer: des Vergessenmachens) in den Imaginationen der Enkel geradezu überlebensgroße Züge gewinnt, die Familie später zerstört – möglicherweise war alles aber auch anders. Beyer schließt die Spurensuche seiner Protagonisten an narrative Muster des Geheimnis-/Detektivromans an, hebt dessen Finalstruktur in einem zweiten Schritt aber sofort wieder auf: um so tiefer die Suchbewegung, desto ferner die Lösung des Geheimnisses. Zeichnete sich der klassische Geheimnis-/Detektivroman durch Rationalität, Selbstsicherheit und fraglose Identität, durch eine verrätselte, aber nie unlösbare Detektion und deutliche Erzählmuster aus, so stellt Beyer in seinem Roman all diese ‚Gewissheiten‘ in Frage. Alle Spuren führen ins Leere zurück, aus der 23 24

25

Beyer, Marcel, Spione, a.a.O., S. 75. Beyer selbst hat in seinem Vortrag „Schatten“ diese Fluchtlinie des Romans als Nacherzählung einer immer nur in Schattierungen wahrnehmbaren Familiengeschichte genauer beschrieben: Vgl- Beyer, Marcel, „Schatten. Vortrag in Tokyo Oktober 2001“, in: Neue Beiträge zur Germanistik 1, 2002, H. 1, S. 25-32 (hier S. 27). Vgl. dazu Beyer, Marcel, Spione, a.a.O., S. 73 f.

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heraus sie gelegt wurden. Die narrative Erinnerung mündet nicht in die Sicherheit einer plausiblen Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Rekonstruktionen sind denkbar, aber unzuverlässig. Nirgends gewinnt der Leser die Sicherheit, dass das Erzählte mehr als nur imaginativ wahrgenommen, nämlich ‚wahr‘ ist, zumal den gefundenen Bildern des Fotoalbums nicht nur erfundene Bilder als Lückenfüller an die Seite treten, sondern die manifesten Bilder des Familienalbums selbst auch von den ‚Spionen‘ in zunehmendem Maße fiktionalisiert, die Übergänge zwischen beiden Bereichen damit fließend werden.26 Die Kohärenz des generationellen (genealogischen) Musters wird auch von hier aus brüchig. Die beständigen Perspektivenwechsel tragen das ihrige dazu bei, die Matrix des Genealogischen als Konstruktionsform von Geschichte zu durchlöchern. Nichts ist sicher. Und am Ende verkündet der Erzähler, der sich über die Jahre in den erdachten Geschichten zu verlieren droht, in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit keine Stabilisierung seiner Identität erreicht, es sei nun „ein erfundenes Familienalbum entstanden, in dem nicht nur unsere Großeltern, unsere Eltern und wir zu sehen sind, sondern genauso auch die Alte, die immer unsichtbar hat bleiben wollen. Eine Sammlung ausgedachter Bilder, auf denen man verzerrte Gesichter und Altersflecken, sogar an manchen Stellen Geister sieht. Verwischte Szenerien darunter, zum Teil verwackelte Aufnahmen, doch keine unter ihnen mit der Absicht einer Retuschierung undeutlich gemacht, im Gegenteil: Jedes einzelne Bild scheint gewisse Züge ohne jedes Erbarmen ans Licht zu bringen, ungerührt.“27

III. Blicke Als Fluchtpunkt der narrativen Erinnerung, die Gegenwart und Vergangenheit in teils ge-, teils erfundenen Bildern zueinander ins Verhältnis setzt, sind die Fotografien des aus dem Verborgenen (Geheimen) zurückgeholten Familienalbums eingebettet in ein multiperspektivisches Spiel mit Blicköffnungen, Blickverdichtungen und Blickverstellungen. Die ‚Wirklichkeit‘ der Fotografien ist zunächst einmal etwas, das wahrgenommen werden kann: sichtbare Präsenz. Georges Didi-Huberman hat im Hinblick auf den Vorgang des Betrachtens von Kunstwerken das Modell eines Wechselspiels von Blicken entworfen, in dem erst sich die Dimension eines Kunstwerks eröffnet: im Zwischenraum zwischen dem wirklich Sichtbaren, also dem, was das Auge wahrnimmt, was es beeindruckt, und dem nicht Sichtbaren, dem erst mit dem ‚inneren Auge‘, der produktiven Einbildungskraft, Wahrnehmbaren. „Was wir sehen“, so Didi-Huberman, „gewinnt in unseren Augen Leben und Bedeutung nur durch

26 27

Vgl. Horstkotte, Silke, „Literarische Subjektivität“, a.a.O., S. 289 f. Beyer, Marcel, Spione, a.a.O., S. 299.

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das, was uns anblickt, uns betrifft“.28 Das wiederum bestimmt in entscheidender Weise die Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Objekt der Betrachtung. Beschränkt sich der optische Vorgang des Sehens auf den Reiz der Netzhaut, ist der Blick zum einen dasjenige, „mit dem die Dinge, in Erwiderung unseres Sehens, uns anblicken“; der Blick ist zum anderen derjenige, „der das, was er er-blickt, selbst erst erzeugt“. Mit anderen Worten: „‚Der Blick‘ formt das Gesehene um. [...] Der Blick konstruiert Wirklichkeiten, die für das Sehen des Auges so oder vielleicht gar nicht vorhanden wären.“29 Dafür bedarf es eines Momentes des visuellen Getroffen- oder Ergriffenseins, mit dem das Objekt der Betrachtung sich öffnet, Bedeutung gewinnt. In der Spur dieser Augen-Blicke visuellen Getroffen- oder Ergriffenseins durchqueren die Protagonisten von Beyers Roman den lückenhaften Bildraum der familiären Überlieferung, suchen sie Bild(er) und Wirklichkeit miteinander zu verknüpfen. Die Spurensuche wird dabei zum Erfinden von DenkBildern, die Erinnerung dort ersetzen, wo der Bildraum leer ist – so wie der Hausflur, auf den der Erzähler im prologhaften Anfang des Romans durch einen Tür-Spion hinausschaut. Manchmal stehe ich eine Weile am Spion und sehe in den Flur, auch wenn ich weiß, ich werde keinen Menschen zu Gesicht bekommen. Ich stehe am Spion und warte. Ich warte nicht einmal, ich schaue nur, die Tür ist zu. So habe ich als Kind gestanden, auf einem Hocker, einer Kiste, dann auf Zehenspitzen. Und so stehe ich nun. Ich höre Atmen. […] Ich darf die Linse nicht berühren. Das Treppenhaus liegt keinen Schritt entfernt, nur diese Tür trennt mich von ihm. Das Bild aber erreicht mich von weither. Hält mein Auge dem Ausblick stand, rücken die Gegenstände langsam näher, dann auch die Schatten an den Rändern. Die unscheinbarsten Einzelheiten draußen treffen das geschliffene Glas, als wollten sie die Netzhaut gleich durchdringen. Durch den Spion steht alles nah und zugleich ungreifbar vor meinem Auge. Flucht ist unmöglich. Flucht ist ausgeschlossen, doch immerhin läßt sich der Fluchtweg überblicken. So stehe ich. Ich sehe niemanden. Ich werde eine Weile stehen bleiben.30

Mit dem Vorgang des Ausspähens als Blick aus dem geschützten Innenraum der Verborgenheit heraus nach draußen entwirft der Prolog eine sprechende perzeptorische Grundkonstellation: Der Erzähler am Tür-Spion erblickt den leeren Raum. Vergleichbar ist diese Situation mit derjenigen der jugendlichen ‚Spione’ angesichts der Lücken im Familienalbum: der Blick ins Familienalbum geht (zumindest zum Teil) ins Leere. Subjekt und Objekt der Betrachtung sind in dieser Eröffnungsszene getrennt durch die Tür und verbunden zugleich durch das Medium der Betrachtung (die Linse, im Falle der Jugendlichen 28

29 30

Didi-Huberman, Georges, Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, München, 1999, S. 10. Theweleit, Klaus, Heiner Müller. Traumtext, Basel, Frankfurt am Main, 1996, S. 26 f. Beyer, Marcel, Spione, a.a.O., S. 7.

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übernimmt diese Funktion das fotografische Bild), das Wahrnehmung ermöglichen soll. Aber nicht nur der Erzähler schaut hinaus, auch der Leser, der dem Erzähler in dieser Eröffnungsszene gleichsam über die Schulter schaut, sich mit ihm zu Beginn des Romans also in derselben Situation, d. h. im selben Innenraum befindet: „der gemeinsame Blick“, so Beyer in seinem Essay Länge und Dauer, „ist einer Tür von innen zugewandt“.31 Mit dem Erzähler also schaut der Leser von drinnen nach draußen: in den menschenleeren Hausflur hinein – im übertragenen Sinn heißt das: in die Welt, in die Vergangenheit. Der (als solcher erst einmal distanzierte) Blick durch die optische Apparatur der Linse projiziert zunächst dabei ein Bild der Leere, blinde Flecken. Belebt wird die Leere, das leere Draußen der Vergangenheit, durch die Imagination, kurz die produktive Einbildungskraft. Dem standhaften Hinsehen (der Erzähler steht und harrt aus, während seine ganze Aufmerksamkeit auf das Außen gerichtet ist) rücken die Gegenstände näher – er sieht mit dem ‚inneren‘ Auge: „Hält mein Auge dem Ausblick stand, rücken die Gegenstände langsam näher, dann auch die Schatten an den Rändern. Die unscheinbarsten Einzelheiten draußen treffen das geschliffene Glas, als wollten sie die Netzhaut gleich durchdringen.“32 Übertragen auf die Grundsituation des Romans, in dem nicht zufällig mit allen erdenklichen Hilfsmitteln und optischen Gerätschaften: dem Auge, dem (Tür-)Spion, dem Fernglas, mit Lupen und Kameralinsen geschaut, gespäht und spioniert wird – aus dem Verborgenen heraus und über die Wirklichkeit hinaus – bedeutet dies: Der Erzähler (als Repräsentant der Enkelgeneration) macht sich ein Bild von dem, was im Familiengedächtnis nicht kommuniziert wird und für das es im Generationengedächtnis kein Zeugnis gibt. Durch mediale Vermittlung erinnert er; Apparaturen des Sehens helfen das wieder in den Blick zu nehmen, was das Generationengedächtnis nur noch in der Form der Leerstelle kennt. Als Konstruktion wiederum tritt es den anderen Konstruktionen (auch der Blick des Zeugen konstruiert) an die Seite33 31 32 33

Beyer, Marcel, „Länge und Dauer“, in: Edit. Papier für neue Texte 23, 2000, S. 52-57 (hier S. 56). Beyer, Marcel, Spione, a.a.O., S. 7. Vgl. ebd., S. 65 f.: „Was ich nicht sehen kann, muß ich erfinden. Ich muß mir Bilder selbst ausmalen, wenn ich etwas vor Augen haben will. Es bleibt keine andere Möglichkeit, jeder erwachsene Mensch ist sich dessen bewußt, hat gelernt, daß die ausgedachten Bilder unersetzlich sind. Vielleicht kann man an dieser Einsicht den Erwachsenen erkennen. Als Kind, noch als Jugendlicher erscheinen einem die eigenen Erfindungen als Möglichkeiten, hinter denen sich eine Wirklichkeit verbirgt, und diese Wirklichkeit, glaubt man, wird irgendwann zum Vorschein kommen, sie wird die erfundenen Bilder nach und nach zurück ins Dunkel sinken lassen. Wenn ich heute am Spion stehe, stehe ich nicht mehr da als Kind. Früher wollte ich draußen unbedingt etwas entdecken und wurde ungeduldig, falls dort nichts geschah, selbst wenn ich eine ganze Weile schaute. So ungeduldig, wie man wird, wenn man beim Telefon auf einen Anruf wartet, ungewiß, ob er je kommt. […] Im Lauf der Zeit ist die Ungeduld schwächer geworden, langsam begreife ich, die Bilder und Geschichten, deren Zeuge ich werden kann, unterscheiden sich am Ende in nichts von denen, die keine Zeugen haben.

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Mit der imaginativen (produktiven) Erfindung der Vergangenheit, die im Prolog als konstruierende Tätigkeit der Wahrnehmung ‚erzählt‘ wird, verlässt der Spion den geschützten Posten des Beobachters und verortet sich selbst in einem nicht allein die familiäre Vergangenheit, sondern stets auch sich selbst in den Blick nehmenden „Netzwerk des Schauens, in dem die Blicke der Anderen – der Cousins und Cousinen – jeweils die eigene Identität bestätigen“.34 Dass Marcel Beyer sich als Autor selbst in dieses Netzwerk einbezogen hat, fügt der selbstreflexiven Spiralbewegung des Erzählens eine weitere Drehung hinzu: Auf der Innenseite des Schutzumschlags findet sich inmitten einer Collage alter Photos ungewisser Provenienz an zentraler Stelle ein Photo, das den Autor als Schreibenden zeigt. So tritt er in die Mitte des Werks, als Urheber der fiktiven (gemachten) Erinnerung.35 Die Überkreuzung der Blicke als Grundmuster des Erzählens wird deutlich am Beispiel der ersten Fotografie, die im Roman genauer beschrieben wird. Sie zeigt den Großvater seinerseits als Beobachter (Spion): Aus dem Zuschauerraum eines Opernhauses heraus nimmt er – die Porträts der Akteure im aufgeschlagenen Programmheft vor Augen – mit einem Opernglas die Bühne in den Blick, vergleicht also Bild und Wirklichkeit (hier – so stellen es sich die jugendlichen ‚Spione‘ vor – der Sängerin, seiner Jugendfreundin und späteren ersten Frau, derentwegen er in die Oper gekommen ist). Genauso gehen die Jugendlichen bei ihrer Spurensuche vor. Das heißt: die Grundkonstellation wird hier in einer reflexiven Schleife wieder eingeholt: Das Foto doppelt die Vorgehensweise der Spurensucher, die es in den Blick nehmen.36 Auch dieses Bild freilich ist prekär. An späterer Stelle heißt es so, eine „derartige Aufnahme“ hätte nur „unter schwierigsten Bedingungen“ entstehen können. Sie wäre bei dem schlechten Licht verwackelt, vermutlich wäre kaum eine Ansammlung von grauen Schlieren festgehalten worden. Und dann ein Objektiv, mit dem sowohl der erste Rang als auch die Bühne zu erfassen ist, damit neben dem jungen Mann die Sängerin erscheint: Dieses Erinnerungsbild kann es nie gegeben haben.37

IV. Ausstülpungen Die auffällige Mediatisierung des Sehens in Beyers Roman ist Ausdruck des Verlusts – dies in Analogie zu der Sprachlosigkeit, dem Verschweigen und 34 35

36 37

Horstkotte, Silke, „Literarische Subjektivität“, a.a.O., S. 287 f. Zu Recht hat Harris in der Collage so eine Erweiterung des Buches gesehen, das als solches über das Medium nachdenkt: Harris, Stefanie, „Imag(in)ing the Past: The Family Album in Marcel Beyer’s ‚Spione‘“, in: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch/A German Studies Yearbook, 4/2005, hg. v. Paul Michael Lützeler und Stephan K. Schindler, Tübingen, 2005, S. 162-184 (hier S. 179). Ebd., S. 170. Beyer, Marcel, Spione, a.a.O., S. 245.

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Beschweigen, das in der Familie herrscht. Die Kommunikationslosigkeit setzt sich in der Blindheit fort, zu deren Überwindung es anderer Medien bedarf: der Linse des (Tür-)Spions, der imaginativen Einbildungskraft, letztlich der Kunst. Spione ist lesbar von hier aus als Ausstülpung, Veräußerung des mentalen Raums der Erinnerung, mit der das Narrativ des Familienromans als Medium der Repräsentation in der Fluchtlinie der skizzierten Fraktalisierungen einerseits fremdgestellt, andererseits damit für eine produktive, nicht allein ‚empfangende‘ Geschichtsbetrachtung wiedergewonnen wird. Mit der gebrochenen Art seiner Annäherung an die Vergangenheit schärft der Roman die Einsicht in den prekären Charakter noch jeder Wirklichkeitserfahrung, öffnet zugleich aber auf entscheidende Weise den erzählerisch geschlossenen oder in der doppelten Stille des Schweigens und der Taubheit verschlossenen Geschichtsraum. Das letzte im Roman erzählte Vorstellungsbild ist eines der Kreuzung der Blicke. Noch einmal kehrt der Erzähler als Erwachsener an den Ort seiner Jugend zurück. Um sich ein Bild zu machen, nimmt er den Großvater in den Sucher seiner Kamera – und wird von diesem nun seinerseits mit einer Kamera in den Blick genommen: der Blick des Beobachters fällt auf diesen zurück. Dieses Schlussbild zieht den Leser, der ja am Anfang des Romans dem Erzähler noch über die Schulter geschaut hatte, unmittelbar hinein in das Spiegelspiel der Erinnerungsprojektionen: Das durch das Medium des Romans als der anderen Linse des Blicks in den leeren Raum der Geschichte Angeblickte – und das ist nichts anderes als der im Erzählten deponierte Blick des Autors – schaut zurück. Noch einmal doppelt der Roman damit gleichsam die Situation der Spione wie zum Beweis der These, dass sich unser Sehen erst in einer Kette von Blickkontakten intersubjektiv konstituiert. Dass der Blick des Lesers in den Roman und durch den Roman hindurch auf die Vergangenheit sich nicht mehr als Bestätigung des eigenen Sehens instrumentalisieren lässt, dafür sorgt die dekonstruierende Transformation des tendenziell (nämlich über das Bild der Generationenkette) geschlossenen Erzählmusters ‚Familienroman‘, mit dem der Roman sich dem Leser einerseits entzieht, ihm andererseits aber von der Seite der Fremdheit her wieder entgegenkommt. Sie trägt der Erfahrung Rechnung, dass man sich zwar von der Geschichte (auch der Familiengeschichte) losschreiben, ihr letztlich aber nicht entkommen kann. Das wiederum betont das dialogische Moment der Erinnerung. In der Kreuzung der Blicke bildet sich eine Möglichkeitsform kultureller Erinnerung: als Gespräch, in dem die Form die Erfahrung macht bzw. Erfahrung überhaupt erst erfahrbar macht. Genau das sagt im Grunde genommen am Ende der Erzähler über das von ihm entworfene Bild der vor ihrem Schlafzimmerfenster „Ausschau nach den Toten“ haltenden ‚Alten‘: „Es ist nur eine Erfindung, um mir ein Bild von ihr zu machen.“38

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Ebd., S. 285.

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SIMONE COSTAGLI

Family Plots. Literarische Strategien dokumentarischen Erzählens Seit Stephan Wackwitz 2003 seinem Buch Ein unsichtbares Land den Untertitel „Familienroman“ gab, ist diese ehrwürdige und doch ein wenig veraltete Gattungsbezeichnung wieder aktuell geworden.1 Wie in der Einleitung zu diesem Band erörtert wird, hat man auf diesen Erfolg der Chronotopen ‚Familie‘ und ‚Generation‘ in der deutschen Literatur um 2000 überwiegend mit sozialen bzw. kulturgeschichtlichen Erklärungen reagiert, die auf die zeitgenössische Diskussion über den thematischen Komplex ‚Generation‘ zurückzuführen sind. Auch in der Interpretation dieses Untertitels hat die Kritik der literaturwissenschaftlichen Bedeutung kaum Aufmerksamkeit geschenkt, und sich überwiegend auf eine ebenfalls im Text erwähnte Alternativbedeutung bezogen, die auf den Familienroman der Neurotiker zurückgeht.2 „Familienroman“ wird zuerst als Bezeichnung für die Parallelbiografie des Autors und des Großvaters benutzt, die den Inhalt von Ein unsichtbares Land darstellt. Im zweiten Kapitel ist von einer Kamera, die dem Großvater gehörte, die Rede: Obwohl die darin enthaltenen Bilder nicht mehr zu entwickeln sind, wird die Kamera sich im folgenden „als unsichtbares Zentrum der verwirrenden, verborgenen und verschlungenen Windungen eines Familienromans“3 erweisen.

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Ein unsichtbares Land wurde bei seinem Erscheinen Anfang 2003 in einigen Presseartikeln präsentiert, in denen von der Renaissance des Genres „Familienroman“ die Rede ist. Vgl. Hage, Volker, „Die Enkel wollen es wissen“, in: Der Spiegel, 12/2003, und März, Ursula, „Erforschen oder Nacherzählen“, in: Die Zeit, 19/2003. Vgl. auch Assmann, Aleida, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, Wien, 2006, S. 52. In einer Endnote zum Familienroman erwähnt Assmann Stephan Wackwitz, der den Begriff „als Gattungsbezeichnung und Selbstbeschreibung“ gewählt hatte. Vgl. Assmann, Aleida, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München, 2007, S. 85: „Das Wort bezieht sich hier weniger auf die literarische Gestaltgebung [...] als auf den konstruktiven Charakter der Erinnerungsarbeit zwischen Finden und Erfinden, zwischen historischer Prägung und imaginativer Umformung. Der Begriff verweist noch direkter auf Freuds Verwendung in seinem Aufsatz über den ‚Familienroman des Neurotikers‘, in dem er auf die obsessiven, wahnhaften und halluzinatorischen Elemente innerhalb der Familienkonstellation eingeht.“ Horstkotte räumt zwar ein, dass der Untertitel Ein unsichtbares Land als „Familienroman“ „in einem doppelten Sinne“ etabliert sei: Zum Einen als „authentische Familiengeschichte“, und zum Zweiten, indem dieser einen intertextuellen Verweis auf Freuds Begriff darstelle. Es sei jedoch dieser letzte, der als „Leitmetapher für die Wackwitz’sche Familiengeschichte“ diene. Horstkotte, Silke, „Die Geister von Auschwitz. Fotographie und spektrale Erinnerung in Stephan Wackwitz’ ‚Ein unsichtbares Land‘ und ‚Neue Menschen‘“, in: Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, hg. v. Arne de Winke und Anke Gilleir, Amsterdam/New York, 2008, S. 284. Wackwitz, Stephan, Ein unsichtbares Land. Familienroman, Frankfurt am Main, 2003, S. 18.

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Mit derselben Bedeutung tritt der Begriff dann mehrmals auf.4 Als der Autor später das Geburtshaus seines Großvaters beschreibt, wird „Familienroman“ jedoch in einem anderen, auf die Freudsche Definition zurückgehenden Sinn verwendet.5 Dass die Alternativbedeutung besonderes Interesse auf sich gezogen hat, liegt m. E. zum Einen daran, dass sie ungewöhnlicher ist, zum Anderen daran, dass die literarische Bedeutung anscheinend diesem nichtfiktionalen, biografischen Text nicht entsprechen könnte.6 Dabei wird jedoch nicht genug betont, dass Wackwitz auf den Familienroman der Neurotiker eher ironisch Bezug nimmt.7 Im Folgenden wird der Begriff ‚Familienroman‘ beim Wort genommen und in seiner literaturanalytischen Bedeutung näher untersucht. Das soll anhand von Ein unsichtbares Land sowie anderer Texte, denen diese Gattungsbezeichnung zukommt, und die in ihrem konstruierten Dokumentarismus an Wackwitz’ Text erinnern, geschehen. Wie es in den kulturgeschichtlichen Deutungen der Fall ist, lassen sich die „neuen deutschen Familienromane“ auf der literaturgeschichtlichen Ebene in einen allgemeineren Zusammenhang stellen. Man kann in dieser Hinsicht auf zwei Debatten hinweisen. Auf der einen Seite geht es um die Verwendung von Dokumenten in literarischen Texten, die mit der sogenannten Dokumentarliteratur der 60er Jahre begann und die seit einigen Jahren wieder aktuell wurde.8 Ausgehend von dieser Debatte wird der Begriff ‚Dokumentarismus‘ für diejenigen textuellen Merkmale (auf Erinnerungen stützende Aussagen, geschichtliche bzw. sozialgeschichtliche Fakten, Dokumente usw.) verwendet, welche die Markierung der ‚empirischen Echtheit‘ tragen. Auf der anderen Seite zeigen diese Familienromane bewusst literarische Konstruktionsformen, was in nichtfiktionalen Texten keine Selbstverständlichkeit ist. Aufgrund ihres starken Interesses an der Rekonstruktion der geschichtlichen Zusammenhänge, die diese Texte ins Spannungsfeld zwischen Historie und Erzählung rücken lässt, kann man auf Hayden Whites Theorie der rhetorischen Strukturen der Geschichtsschreibung

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Vgl. zum Beispiel ebd., S. 35 und S. 59. Vgl. ebd., S.123. Vgl. Eigler, Friederike, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin, 2005, S. 188 f. Vgl. Wackwitz, Stephan, Ein unsichtbares Land, a.a.O., S. 123: „Der Großvater habe nicht, wie die Freudsche Psychoanalyse lehrt, in Träumen Vater und Mutter mit den Figuren des Kaisers und der Kaiserin ersetzt, sondern sich umgekehrt den Kaiser seines Lebens und das Reich, dem anzugehören sich lohnen würde […] zeitlebens so vorgestellt wie die Umstände und Bewandtnisse seines Vaters.“ Für eine Bestandsaufnahme des Themas in den 60er Jahre vgl. Plessen, Elisabeth, Fakten und Erfindungen. Zeitgenössische Epik im Grenzgebiet von ‚fiction‘ und ‚nonfiction‘, München, 1971. Über die Hybridisierung von Fiktion und Dokument in der zeitgenössischen Literatur, vgl. Oels, David, Porombka, Stefan, Schütz, Erhard, „Editiorial“ und Werle, Dirk, „Fiktion und Dokument. Überlegungen zu einer gar nicht so prekären Relation mit vier Beispielen aus der Gegenwartsliteratur“, beide in: Non-Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen, hg. v. David Oels, Stefan Porombka, Erhard Schütz, 2006, S. 108-111 und 112-122.

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verweisen, die den wichtigsten Impuls zur immer noch andauernden Debatte über das Verhältnis zwischen Geschichte und Erzählung gab.9 Offensichtlich hat Wackwitz den Untertitel nicht nur zur Definition seines Textes sondern auch zur Provokation des Lesers gewählt. Ein unsichtbares Land präsentiert sich keineswegs als Roman, wenn man unter dieser Bezeichnung ein fiktionales Werk versteht. Was Wackwitz erzählt, ist die Biografie seines Großvaters, die dann Ausgangspunkt für seine Autobiografie wird. Nach dem Modell von Plutarchs parallelen Lebensbeschreibungen sind beide Biografien miteinander zu vergleichen. Diese Kurzbeschreibung des Textinhalts zeigt bereits die Zugehörigkeit von Ein unsichtbares Land zur nonfiction. Der Untertitel stellt jedoch den dokumentarischen Charakter des ganzen Buchs in Frage, und bezieht es auf ein festgelegtes literaturtypologisches Modell mit genauen Gattungsmerkmalen zurück, das man sich unterschwellig während der Lektüre vor Augen halten soll.10 Mit seinem Untertitel bringt Wackwitz dieses Modell deutlich zum Ausdruck; auch in den anderen nichtfiktionalen Familienromanen kann man trotz ihrer dokumentarischen Basis literarische Strukturen erkennen, denn diese nichtfiktiven Familienromane weisen eine Vermischung von dokumentarischer Authentizität und Spiel mit literarischen Modellen auf. Deswegen können sie unter der allgemeinen Bezeichnung „postmoderne dokumentarische Familienromane“ zusammengefasst werden. Diese Bezeichnung erscheint nicht unkompliziert. Dokumentarisch sind diese Texte insofern, weil sie echte Dokumente im Text zitieren, und auch weil sie sich als autobiografische, d. h. als Erzählungen präsentieren, die auf ‚echten Erfahrungen‘ basieren. Setzt man das Dokument als Potenzierung des Mimetischen und des Erkenntnisorientierten im literarischen Text voraus, gerät dieses in Konflikt mit den Grundvoraussetzungen der Postmoderne, die sich gerade als Infragestellung der Literatur als Widerspiegelung des Realen versteht. Der Rückgriff auf die Postmoderne ergibt sich jedoch bezüglich des Spiels mit den literarischen Handlungsmodellen, die in der gebrochenen, nicht linearen Form dieser Texte variiert und kombiniert werden. Das ‚spielerisch-dokumentarische‘ Prinzip ist zum Beispiel an der Hybridisierung zwischen Erzählung und Geschichtsschreibung festzustellen. Es lässt sich sicherlich nicht von einer Zugehörigkeit dieser Texte zur Gattung des historischen Romans sprechen. Sie können weder György Lukács’ streng kodierter Definition, noch Hans Vilmar Gepperts offener Theorie des „anderen“ historischen Romans entsprechen. Ihrem dokumentarischen Charakter zufolge entfernen sie sich zu sehr von der für die Gattung charakteristischen „produk9

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Die Bibliografie über dieses Thema ist inzwischen uferlos geworden. Ich verweise auf den Essayband Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. v. Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp, Berlin/New York, 2002. Auch für sein folgendes Buch Neue Menschen hat Stephan Wackwitz als Untertitel eine Gattungsbezeichnung gewählt („Bildungsroman“), die im Widerspruch zu dessen essayistischer Form steht.

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tiven Differenz von Historie und Fiktion“.11 Einige interessante Bemerkungen lassen sich jedoch zuerst im Hinblick auf den ersten Bestandteil dieser zusammengesetzten Gattungsbezeichnung anführen. Von einem formalen Standpunkt der Analyse her benutzen diese Texte die genealogische Struktur, um vergangene Ereignisse in die Erzählung einzuordnen. So kann man von einer Gleichsetzung des Begriffs ‚Familienroman‘ mit seiner Variante ‚Generationenroman‘ sprechen. In ihrem Mittelpunkt steht vor allem das Verhältnis zwischen den Generationen. Andere mögliche, auf den familiären Kontext zurückgehende Themen, wie etwa das Verhältnis zwischen Ehemännern und Ehefrauen, werden hier kaum berücksichtigt.12 Das wirkt sich auch auf ihre Form aus, denn Geschichte, – so lässt sich zusammenfassend sagen – wird in den Chronotopos der ‚Generation‘ eingebettet. Man kann allerlei Beispiele dafür anführen. Wackwitz lässt ein Jahrhundert deutscher Geschichte Revue passieren. Mit der Erzählung der Jugend des Großvaters geht Ein unsichtbares Land bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück. Durch die „verwirrenden, verborgenen und verschlungenen Windungen eines Familienromans“ erstreckt sich die Parallelbiografie dann vom wilhelminischen Zeitalter zur 68erRevolte, von der Gegenwart wieder rückwärts bis zum Ersten Weltkrieg, und dann nochmals vorwärts über die koloniale Epoche und den Zivilisationsbruch Auschwitz bis in die globalisierte Welt der 90er Jahre. Im Kapitel „Eine erfundene Geschichte“ reicht die historische Rekonstruktion bis in die spätmittelalterliche Epopöe der Ostkolonisation und in die lutherische Reformbewegung zurück. Im Mittelpunkt steht die Geschichte von Anhalt (heute auf polnisch Hołdunow), einer kleinen Stadt in „jenem gespenstischen Landstrich zwischen Weichsel und Sola, zwischen Karpaten und Sumpf, zwischen Kattowitz und Auschwitz“,13 wo die Familie Wackwitz in den 20er Jahre gelebt hatte. Da im Text zwischen den Bewohnern von Anhalt und der Familie Wackwitz eine direkte Verbindung hergestellt wird – die durch das am Kapitelschluss stehende Wiedersehen des Autors mit dem Familienhaus symbolisiert wird –, ist hier das Generationenschema um die Vorgeschichte seiner Familie erweitert. Diese nach dem Chronotopos ‚Generation‘ strukturierte historische Rekonstruktion, in der die Einzelschicksale der Protagonisten durch das permanente Zitieren zeitgeschichtlicher Ereignisse in den ‚Weltenlauf‘ eingebettet werden, prägt ebenfalls die autobiografischen Familienromane Am Beispiel meines Bruders (2003) von Uwe Timm und In den Augen meines Großvaters (2004) von Thomas Medicus. Im ersten Text erscheint das Generationsmodell aufgrund des Altersunterschieds zwischen Autor und Bruder leicht verworren. Man könnte bei ihnen von zwei ganz unterschiedlichen Generationen spre11

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Geppert, Hans Vilmar, Der historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott zur Gegenwart, Tübingen, 2009, S. 157 ff. Zu diesem Unterschied im Genre des Familienromans siehe die Einleitung dieses Bandes. Wackwitz, Stephan, Ein unsichtbares Land, a.a.O., S. 59.

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chen, während der am Ende des 19. Jahrhunderts geborene Vater unter den ‚Großvätern‘ anzusiedeln ist. Diese Annahme wird bestätigt, wenn man die unterschiedlichen Denkmodelle der drei Figuren vergleicht, welche Einblick in die für die jeweilige Epoche charakteristischen Lebenshaltungen gewähren. Der im Ersten Weltkrieg freiwillig eingezogene Vater erscheint auf den Fotos aus seiner Soldatenzeit mit durchaus typischen Merkmalen der ‚Generation der Jugendbewegung‘, wie Helmut Schelsky sie bezeichnete.14 Gemeinsamkeiten zwischen Timms Vater und Wackwitz’ Großvater ergeben sich epochengeschichtlich auch angesichts der Beschreibung der Nachkriegszeit.15 Nirgendwo tritt der Altersunterschied zwischen Autor und Bruder so deutlich hervor wie dort, wo in der fragmentarischen, durch Erzählsplitter charakterisierten Form des Textes ihre unterschiedlichen Lebensstile nebeneinander gestellt werden. Die Denkform des in der Hitlerjugend sozialisierten Bruders manifestiert sich in seinem Wunsch nach Schnürstiefeln, „wie sie damals Piloten trugen, Motorradfahrer, SA-Männer“.16 Im folgenden Abschnitt wird durch eine filmähnliche Parallelmontage die völlig veränderte Situation der Nachkriegszeit präsentiert. Der Autor erinnert sich an seine erste Jeans, die er trug, als er mit 14 Jahren ins Amerikahaus in dem gerade befreiten Hamburg ging; er hatte „das lässige Gehen, das der Vater, der den deutschen Infanterieschritt lobte, nicht mochte“.17 Das Generationenparadigma wird in In den Augen meines Großvaters derart verabsolutiert, dass es Stereotypen liefert, die den Übergang vom Dokument zur Fiktion ermöglichen. Das Besondere wird aus dem Allgemeinen hergeleitet, der „Weltenlauf“ bedingt das „Einzelschicksal“. Nochmals erzählt ein Enkel das Leben seines Großvaters, eines Wehrmachtsoffiziers, der im Zweiten Weltkrieg in den Apenninen von Partisanen erschossen wurde. Das Interesse des Autors gilt den Umständen seines Lebens und seines Todes sowie den Motivationen für seine Entscheidung für die militärische Karriere, die seine Mitschuld am Jahrhundertverbrechen des Nationalsozialismus zur Folge hatte. Diese Rekonstruktion stützt sich zum größten Teil auf Erinnerungen sowie auf persönliche Erfahrungen des Autors, der in der Toskana die Orte des letzten Aufenthalts vom Großvater besuchte. Auf imaginierte Situationen wird jedoch da zurückgegriffen, wo es keine dokumentierten Fakten und keinen Anhaltspunkt für eine nichtfiktive Erzählform gibt. Das betrifft zum Bei14

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Timm, Uwe, Am Beispiel meines Bruders, Köln, 2003, S. 23: „Es war ein Leben, das wohl viele der Achtzehn-, Neunzehnjährigen führen wollten: Abenteuer, Kameradschaft, frische Luft, Schnaps und Frauen, vor allem keine geregelte Arbeit.“ Zu der ‚Generation der Jugendbewegung‘ vgl. Schelsky, Helmut, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln, 1957, S. 58-66. Für beide kann das gelten, was Uwe Timm über seinen Vater sagt: „Für den Vater der Krieg, die Nazizeit, die mit der bedingungslosen Kapitulation, nicht Anlaß zur Trauer, Trauer über die Zerstörung dessen, was er mit einer besonderen, die erste Silbe hervorhebenden Betonung aussprach: Das Deutsche Reich“ (Timm, Uwe, Am Beispiel meines Bruders, a.a.O., S. 134). Ebd., S. 89. Ebd.

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spiel das Kapitel über die Verlobung und Ehe seiner Großeltern Wilhelm und Annemarie Crisolli, in dem imaginierte Handlungen und Gefühlszustände beschrieben werden.18 Medicus spielt hier mit stereotypisierten Generationenporträts aus der Zeit des späten Wilhelminismus und der Weimarer Zeit, um sich in die Denkweise und die Gedanken des Großvaters und der Großmutter zu versetzen.19 Die historische Dokumentation wird hier zum historischen Roman, bzw. zum Familienroman im herkömmlichen Sinn. In der Form des ‚Generationenromans‘ erzählen diese Texte nur eine Geschichte, die die Geschichte Deutschlands ist. Diese präsentiert sich – wohlgemerkt – niemals als kontinuierliche, sondern immer als fragmentierte und chronologisch hin und her springende Narration. Ihre kohärente Einheit ergibt sich aus dem Vergleich zwischen der ersten Nachkriegsgeneration, der Generation der Täter und jener um die Jahrhundertwende.20 Das Generationsparadigma bedeutet etwas mehr als die „Verknüpfung von Einzelschicksal und Weltenlauf“, welche in der „gängige[n] Charakterisierung“ des Familienromans in Lexika und Untersuchungen als die besondere Leistung der Gattung angesehen wird.21 Auf der einen Seite prägen Bezüge zur Zeitgeschichte stark die Chronologie der Einzelschicksale; auf der anderen Seite deckt sich der Generationsbegriff mit dem Epochenbegriff, was um so mehr eine Interpretation dieser Texte als historiografische Reflexionen mit sich bringt.22 18

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Vgl. Medicus, Thomas, In den Augen meines Großvaters, München, 2004, S. 145: „Wilhelm war drauf und dran, der mal aus dem Zugfenster blickenden, mal gelangweilt in der ‚Dame‘ blätternden Annemarie diese letzten Gedankenfetzen ins Gesicht zu schreien. Gottlob kam der Zug in diesem Augenblick in Belgrad zum stehen. Annemarie blickte auf das Ortsschild draußen vor dem Abteilfenster. Wilhelm ergriff die Gelegenheit, ihr zu erzählen, hier seien die Leibhusaren stationiert, die des ‚Versailler Diktates‘ wegen aus Danzig hatte abgezogen werden müssen.“ Wie Medicus in der Danksagung erklärt, wurde er zur Verfassung des Buchs durch den Soziologen Heinz Bude angeregt, dessen Studien seit den 90er Jahren der Generationenforschung wichtige Impulse gegeben haben (vgl. ebd., S. 249). In der Bibliografie von In den Augen meines Großvaters werden mehrere Bücher und Artikel Budes sowie soziologische Texte über das deutsche Offizierskorps zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg verzeichnet, die dem Autor zur Abfassung dieses Kapitels geholfen haben mögen. Die mittlere Generation bleibt im Vergleich zu den anderen unfokussiert. Der Vater von Stephan Wackwitz wird im ganzen Buch nur als Bindeglied zwischen Enkel und Großvater und nicht als Generationstypus beschrieben. Bei Medicus ist der Vater kaum erwähnt. Bei Timm nimmt man zwar vom Bruder etwas mehr zur Kenntnis vor allem in Bezug auf das, was seine (und stellvertretend seiner Generation) Lebenshaltung war. Es lässt sich jedoch über ihn als eine konturlose Figur sprechen, bei der die Beschreibung absichtlich, weil dieser der Verschwundene ist, ins Ungewisse führt. Vgl. Lutosch, Heide, Ende der Familie – Ende der Geschichte. Zum Familienroman bei Thomas Mann, Gabriel Garcia Márquez und Michel Houellebecq, Bielefeld, 2007, S. 9. Die Frage, warum gerade diese Form der Epochengliederung sich für die Geschichte Deutschlands besonders eignet, lässt sich mit Heinz Bude beantworten: Deutschland sei „das Land der Generationen“, in dem „gesamtgesellschaftliche Zäsuren ganz selbstverständlich mit Generationswechseln in Verbindung gebracht [werden]“ (Bude, Heinz, Die 50er Jahre im Spiegel der Flakhelfer- und 68er-Generation, in: Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Reulecke, München, 2006, S. 145).

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Der Generationenroman könnte schließlich als epische Form definiert werden, um die Erzählung in überschaubare Abschnitte zu untertrennen und ihr Einheit und Rhythmus zu verleihen. Erfüllt wird diese Funktion von der Generationengliederung sowohl in der fiction als auch in der nonfiction. Sie prägt zum Beispiel auch Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang, die auch als gegensätzliches Beispiel für die bei Medicus festgestellte Tendenz angesehen werden kann, vom Dokument in die Fiktion überzugehen. Detaillierte historische Informationen über die Versenkung der ‚Wilhelm Gustloff‘ werden in einem nach dem Chronotopos ‚Generation‘ strukturierten Plot rekapituliert, der außerdem in den Perspektiven von Tulla, Paul und Konrad Pokriefke drei unterschiedliche generationelle Erinnerungsformen präsentiert.23 Es geht in der Besprechung von Im Krebsgang aber vielmehr um eine andere Gemeinsamkeit mit den dokumentarischen Familienromanen. Die Novelle von Grass hat mit diesen ebenfalls das Motiv der ,Suche‘ gemein, das sich hier durch den suggestiven Rekurs auf das Internet und auf die im Cyberspace typischen Recherchemethoden konkretisiert. Das gleiche Motiv lässt sich in Ein unsichtbares Land und In den Augen meines Großvaters feststellen, in denen es zusammen mit dem verwandten Motiv der Reise (bzw. der Spurensuche) vorkommt. Nicht so vordergründig erscheint es in Am Beispiel meines Bruders, doch tritt das Motiv auch hier auf, wenn der Schriftsteller den Ort besucht, wo der Bruder gestorben war. Das strukturelle Motiv der Suche nach Spuren gilt als typisches Stilmittel postmoderner Romane: Davon zeugen Umberto Ecos Der Name der Rose, Patrick Süskinds Das Parfum und Christoph Ransmayrs Die letzte Welt, indem sie auf das bloßgestellte Handlungsgerüst der detection reduziert werden können.24 Auch in fiktionalen oder halbfiktionalen Familienromanen der Gegenwart findet dieses Motiv sehr häufig Verwendung. Man denke an Hans-Ulrich Treichels halbautobiografischen Familienroman Der Verlorene und an die darin beschriebene Suche der Eltern nach ihrem im Krieg verschollenen Kind. Im ersten Kapitel von In den Augen meines Großvaters erzählt Medicus davon, wie er sich allmählich von der Idee faszinieren ließ, die Spur seines Großvaters Wilhelm Crisolli zu verfolgen, der im Zweiten Weltkrieg in der Toskana von den Partisanen erschossen wurde. Erst nach dem Ende des Kalten Kriegs und nach einem Besuch am großelterlichen Haus im ehemaligen Hinterpommern fasste Medicus den Entschluss, sich die hinterlassenen Fotos und Aufzeichnungen des Großvaters genauer anzusehen. Er 23

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Der dokumentarische Charakter des Buchs fiel vielen Kritikern auf, sodass „sie ,Im Krebsgang‘ eher den Status einer Abhandlung denn hoher Literatur verliehen“ (Wassmann, Elena, Die Novelle als Gegenwartsliteratur. Intertextualität, Intermedialität, und Selbstreferentialität bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Patrick Süskind und Günter Grass, St. Ingbert, 2009, S. 231). Zu den Detektiv-Figuren der Postmoderne vgl. Wittstock, Uwe, „Nachwort“, in: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, hg. v. Uwe Wittstock, Leipzig, 1994, S. 335 f. Zum Motiv der detection in Die letzte Welt, vgl., Anz, Thomas, „Spiel mit der Überlieferung. Postmoderne Aspekte in ‚Die letzte Welt‘“, in: Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr, hg. v. Uwe Wittstock, Frankfurt am Main, 1997, S. 124 f.

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begab sich dann auf eine Reise in die Toskana, die als der eigentliche Kern des ganzen Buchs angesehen werden darf. Der Leser wird sehr geschickt durch die vielen Irrwege – die Medicus aufgrund der wenigen und fehlerhaften Dokumente einschlägt – in eine Art Abenteuer- und Detektivgeschichte geführt. Sie findet ihr Ende, als man nach langem Herumsuchen zur kleinen Ortschaft mitten in den apenninischen Bergen kommt, wo Crisolli umgebracht wurde. Medicus bezieht den Leser von Anfang an durch vage Andeutungen in dieses Detektivspiel mit ein. Darunter verstehen sich die Beschreibung des Schlossparks, welcher von seinem Elternhaus durch eine hohe Mauer getrennt war, und der eine metonymische Darstellung des Familiengeheimnisses ist; oder der Besuch am Grab des im Ersten Weltkrieg gestorbenen englischen Dichters Rupert Brooke, der als Vorausdeutung des Motivs des Großvatertods zu lesen ist. Die „Suchbewegungen“ (so heißt das erste Kapitel) von In den Augen meines Großvaters sind ein Beispiel für die komplexen literarischen Strategien dieser dokumentarischen Familienromane. Damit verwandt ist das schon beiläufig erwähnte Motiv der Reise zu den Orten der Verwandten. Es mag auch interessant sein, dass diese Reisen ausnahmslos von einem Zentrum (Deutschland) in eine Peripherie (Polen bei Wackwitz und Medicus, das toskanische Land bei Medicus, Ukraine bei Timm) führen, was sich auch als Übereinstimmung mit der postmodernen Vorliebe für periphere Welten lesen lässt.25 Ebenfalls darf nicht übersehen werden, dass die Vermischung von mehreren sich überkreuzenden strukturellen Handlungsplots, die teilweise auch auf althergebrachte Motive fiktionaler Literatur zurückzuführen sind, an die postmoderne Pastiche-Poetik erinnert. In der Analyse von In den Augen meines Großvaters war bereits von Fotos und Aufzeichnungen des Großvaters die Rede, welche die ersten Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Biografie des Großvaters darstellen. Aufbewahrt wurde diese Hinterlassenschaft in Brieftaschen und Schatullen, die Medicus erstmals 1986 inspizierte. Drinnen befanden sich „Drucksachen, handgeschriebene Zettel, ein dickes Bündel alter Fotographien in kleinen Formaten [...] sowie ein Notizbuch in schwarzem Einband“.26 Eine Schatulle barg sogar die unheimliche Präsenz eines Ritterkreuzes mit Hakenkreuz. Medicus stellt eine Parallele zwischen dieser Hinterlassenschaft und der sogenannten time capsule („Zeitkapsel“ heißt dieses Kapitel) auf, einem metallischen Geschoss, das während der Weltausstellung in New York 1939 konzipiert wurde. Dieses sollte gewöhnliche Gegenstände der 25

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Zu diesem Motiv, vgl. Lützeler, Paul Michael, „Geschichte in der Postmoderne. Zur gegenwärtiger Literatur“, in: ders., Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte: Sondierung, Analyse, Interpretation, Berlin, 1997, S. 193. Zum Motiv der Reise in die „ehemaligen deutschen Gebiete“ in diesen Texten, vgl. Costagli, Simone, „Unverhofftes Wiedersehen. Erscheinungsformen des deutschen Ostens in der Gegenwartsliteratur“, in: Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, hg. v. Fabrizio Cambi, Würzburg, 2008, S. 277-291. Medicus, Thomas, In den Augen meines Großvaters, a.a.O., S. 38.

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Epoche einschließen, und erst im Jahre 6939 dann wieder aufgeschlossen werden, um der Zukunft zu zeigen, wie das Leben im XX. Jahrhundert aussah. Zu einem solchen Handlungsverlauf, bei dem die Rekonstruktion der Familienvergangenheit auf der Wiederentdeckung von ‚Zeitkapseln‘ beruht, bieten sich in den Familienromanen viele Parallelen und Variationen. Bei Uwe Timm hat das „Pappkästchen, mit Briefen, den Orden, ein paar Fotos, einer Zahnpastatube, und einem Kamm“,27 das zusammen mit dem Kriegstagebuch von der SS-Stelle an die Mutter zurückgeschickt wurde, eine ähnliche Funktion.28 Aus diesem Tagebuch, das der Bruder eigentlich nicht führen durfte, wird im Text ausgiebig zitiert: Dieses bildet die Grundlage sowohl für die Rekonstruktion der Figur des Bruders als Soldat als auch für die Reise des Autors in die Ukraine.29 Bei Wackwitz ist das Motiv etwas komplizierter gestaltet, denn es treten mehrere ‚Zeitkapseln‘ auf. Nach dem bereits erwähnten Fotoapparat, der aufgrund der Zersetzung des darin enthaltenen Films eigentlich diese Funktion nicht erfüllen kann, stößt Wackwitz in der Charlottenburger Wohnung seiner Tante auf einen Pappkarton mit dem surrealistisch anmutenden Aufdruck einer Bananen–Exportfirma, in dem verschiedene Hefte, Schriftstücke sowie das Kriegstagebuch seines Großvaters aus dem ersten Weltkrieg aufbewahrt sind.30 Als eine ‚Zeitkapsel‘ besonderer Art erscheint auch das Arbeitszimmer des Großvaters, in dem dieser jahrzehntelang an einer Autobiografie gearbeitet hat, deren halbdutzend grün marmorierte Bände jetzt dem Enkel gehören.31 Dass die Existenz oder die Wiederentdeckung solcher Dokumente auch als authentisch aufzufassen ist, lässt sich bei den Texten, die sich als nonfiction geben, sicherlich nicht bezweifeln. Das macht gerade das Dokumentarische an ihnen aus. Man kann auf alle Fälle auf eine lange Tradition auch fiktionaler Texte hinweisen, in denen das Motiv der Wiederentdeckung alter Texte strukturbildend ist. Man könnte nochmals die Postmoderne und den Namen der Rose zitieren, denn der Roman von Eco präsentiert sich als Neuschreibung eines wiedergefunden spätmittelalterlichen Manuskripts. Es wäre sicherlich schwer, diesen Handlungsplot bei den autobiografischen Familienromanen als konsequente und bewusste Intertextualität zu beurteilen, wie das bei Umberto 27 28

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Timm, Uwe, Am Beispiel meines Bruders, a.a.O., S. 159. Vgl. Galli, Matteo, „Schuhkartons und Pappschachteln. Uwe Timms mediale ‚Gedächtniskisten‘“, in: Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms, hg. v. Friedhelm Marx, Göttingen, 2007, S. 105 f. Das Verfahren wird von Timm am Ende metaliterarisch rekapituliert: „Es war verboten, Tagebuch zu führen, insbesondere bei der SS. Allzu leicht konnte daraus, fiel ein Tagebuch in die Hände der Feinde, etwas über die Stimmung der Truppe in Erfahrung gebracht werden, und man konnte die Bewegungen der Einheit verfolgen, was ich jetzt tatsächlich tue, aus der Distanz von 60 Jahren“ (Timm, Uwe, Am Beispiel meines Bruders, a.a.O., S. 159). Wackwitz vergleichet den Pappkarton mit der „durch die Zeit reisenden Barke“ des Jägers Gracchus aus Franz Kafkas gleichnamiger Erzählung (Wackwitz, Stephan, Ein unsichtbares Land, a.a.O., S. 81). Ebd., S. 25 ff.

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Eco, dessen Romananfang („Natürlich, eine alte Handschrift“) eine postmodern-ironische Anspielung an Alessandro Manzonis Die Verlobten darstellt, oder bei Ransmayrs Behandlung von Ovids Metamorphosen der Fall ist. Das Finden von alten Schriften ist allerdings ein traditionsreiches Mittel zur Darstellung von Biografien verstorbener Leute. Es sei an einen anderen Roman erinnert, der noch augenfälligere Parallelen mit den hier behandelten Texten aufzeigt, da dieser die fiktive Biografie eines längst gestorbenen Familienangehörigen ist. Im ersten Kapitel von Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters wird von einer zufälligen Entdeckung erzählt, die wohl an die ‚Zeitkapsel‘ erinnern kann. In einer Truhe werden vom Ich-Erzähler zwei vergessene Pergamentbücher nebst anderen losen Blättern ausfindig gemacht.32 Diese enthalten die Autobiografie des Doktor Augustinus, Urgroßvater des Ich-Erzählers, die dann den Inhalt der folgenden Kapitel bildet. In Stifters Roman bleiben die zwei Sphären des Ich-Erzählers und des Großvaters getrennt. Nach der Erzählung des merkwürdigen Fundes gibt sich der Urenkel ausschließlich als Herausgeber der Geschichte seines Urgroßvaters zu erkennen.33 In den Familienromanen verschmelzen hingegen die zwei Ebenen, da die Dokumente oft direkt zitiert werden, um dann von den Autoren kommentiert zu werden. Man hat also mit der ständigen Brechung der Erzählsituation zu tun, in der sich die Stimmen der verstorbenen Verwandten mit denen der Autoren vermischen. In der Hinterlassenschaft von Wilhelm Crisolli gab es nur einen Brief als einziges schriftliches Stück. In Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land erstrecken sich Auszüge aus den Memoiren von Andreas Wackwitz manchmal über mehrere Seiten. In Dagmar Leupolds Nach den Kriegen (2004), einem anderen autobiografischen Familienroman, bilden die Tagebuchaufzeichnungen und Erzählfragmente des 1986 gestorbenen Vaters der Autorin, den Hauptgegenstand der zweiten Hälfte. Diese werden in den Text zusammen mit anderen schriftlichen Zeugnissen über sein Leben hineingeschrieben. Die Autorin kommentiert sie und versucht durch ihre Hilfe die Biografie des Vaters zu erhellen. Ganz ähnlich wie bei Stifter ist dieses Verfahren Ausdruck der Verschriftlichung des Lebens der Familienangehörigen und der erschriebenen Zugehörigkeit der Autoren zur Familie.34 Das rhetorische Prinzip zielt darauf, das Private öffentlich werden zu lassen, indem man die unveröffentlichten Dokumente (oft sind es Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Fotos und Memoiren) in die Form eines geschlossenen Buchs integriert,

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Bekanntlich basieren Die Narrenburg und Nachkommenschaften auf demselben Motiv. Nur in der Studien-Fassung tritt dieser am Ende nochmals als Verfasser eines Nachworts auf. Zu denselben Motiven bei Stifter, vgl. Aspetsberger, Friedbert, „Die Aufschreibung des Lebens. Zu Stifters ‚Mappe‘“, in: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, Jg. 27 (1978) f. 1/2, S. 11-38, Wirtz, Thomas, „Schrift und Familie in Adalbert Stifters ‚Mappe meines Urgroßvaters‘“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 115 (1996), S. 521-540.

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wie zum Beispiel explizit in Dagmar Leupolds Nach den Kriegen gesagt wird.35 Nur im Falle von Wackwitz’ Buch lässt sich von bewusster Intertextualität sprechen. Das ist erstmals durch die vielen Hinweise auf schauerromantische Motive wie Spukgestalten und geisterhafte Erscheinungen festzustellen.36 Der Autor zitiert bereits im Titel des zweiten Kapitels Johann Peter Hebels Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen (1810). Er bezieht damit die Episode der wiedergefundenen Kamera des Großvaters auf ein vorgefundenes literarisches (fiktives) Muster. Handlungskern von Hebels Erzählung ist die Geschichte einer Figur, die allen geschichtlichen Umwälzungen zum Trotz in ihrer äußerlichen Erscheinung unverändert bleibt. Wackwitz vergleicht den Fotoapparat mit dem Bergmann von Falun in der Hoffnung, einige Bilder des längst gestorbenen Großvaters und seiner Familie zu sehen. Der intertextuelle Bezug zeichnet sich hier jedoch negativ aus: „Anders als Kupfervitriol von Falun“ hatte „das Halogensilber auf der Gelatinefolie keine überraschende historische Wendung der Art hervorgebracht, von der Hebels Kalendergeschichte erzählt“.37 Der darin enthaltene Film hatte sich während der Jahrzehnte, in denen dieser in der ‚Dienststelle für Benachrichtigung der Angehörigen ehemaliger Soldaten der Wehrmacht‘ vergessen blieb, endgültig zerstört. Wackwitz hat jedoch seinen Text dialektisch strukturiert, wie auch die Doppelbedeutung des Untertitels zeigt.38 So wird das Motiv des „unverhofften Wiedersehens“ mit der unveränderten Vergangenheit später bestätigt, und zwar in Verbindung mit dem Motiv der Reise. Zum Beispiel notiert Wackwitz nach seiner Reise 1999 nach Anhalt/Hołdunow, dass das Pfarrhaus, wo seine Familie gelebt hatte, „seine barocken Proportionen unter einer Verkleidung mit Blech- und Plastikplastik bewahrt“ habe.39 Wie der aus dem Kupfervitriol herausgezogene Bergmann wird die Fassade „zum Vorschein kommen, wenn Hołdunow [...] seine Vergangenheit wieder entdecken und restaurieren wird“.40 Fast unverändert erscheint ihm auch das großväterliche Geburtshaus im schlesischen Laskowitz.41 35

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Vgl. Leupold, Dagmar, Nach den Kriegen. Roman eines Lebens, München, 2004, S. 111: „So bleibt mir, dem damaligen Zuhörer, nur, alles Erzählte – nicht anders als das Nichterzählte – neu aufzusuchen, neu zu begreifen, zu einer Geschichte zu vollenden.“ Vgl. dazu Assmann, Aleida, Geschichte im Gedächtnis, a.a.O., S. 78. Vgl. dazu Assmann, Aleida, Geschichte im Gedächtnis, a.a.O., S. 91 und Horstkotte, Silke, „Die Geister von Auschwitz.“, a.a.O., S. 287. Wackwitz, Stephan, Ein unsichtbares Land, a.a.O., S. 17. Wenn die Episode des zersetzten fotografischen Films eine Metapher dafür ist, dass „Fotografien kein die Zeit überdauerndes Gedächtnis [stiften], sondern die Fotografie selbst der Zeitlichkeit und der Verwesung [unterliegt]“, so finden sich im Buch merkwürdigerweise einige Bilder, die den in der Kamera enthaltenen entsprechen könnten. (Horstkotte, Silke, „Die Geister von Auschwitz.“, a.a.O., S. 294). Wackwitz, Stephan, Ein unsichtbares Land, a.a.O., S. 77. Ebd. Vgl. ebd., S. 114 f.

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FAMILY PLOTS

Das Ergebnis der Debatten über Dokument und Fiktion sowie über Geschichtsschreibung und Literatur, die als Voraussetzung für die stilistischen Eigenschaften dieser Texte gelten können, lässt sich mit dem Fazit zusammenfassen, dass es sehr kompliziert ist, auf der literaturwissenschaftlichen Ebene Grenzen zwischen beiden Gegensätzen zu ziehen. Es scheint vor allem sinnvoller, sie als Synthese denn als Antithese aufzufassen. In diesen postmodernen dokumentarischen Familienromanen ist gerade die Verschmelzung der Gattungen erzielt, die sich seit den 60er Jahren in den Werken Alexander Kluges, Peter Weiss’ und Hans Magnus Enzensbergers abzeichnet und in den letzten Jahrzehnten durch Christoph Ransmayr, W. G. Sebald, Walter Kempowski (und selbst durch Uwe Timms Romane und autobiografische Texte) zu einer etablierten Tendenz der deutschen Literatur geworden ist. Was im Fall von Wackwitz explizit gemacht wird, wie sein Untertitel bereits zeigte, ist der metaliterarische Charakter dieser Texte, durch den diese über die einfache dokumentarische bzw. autobiografische Ebene hinausgehen, und sich als plotstrukturierte Erzählungen geben. Schließlich war die 1939 bei der Weltausstellung präsentierte time capsule in einem ganz anderen literarischen Kontext zu finden, obwohl Medicus nicht darauf Bezug nimmt: als Gegenstand von E. L. Doctorows postmodernem historischen Roman The World’s Fair (1984).42 Man könnte dazu weitere Mittel erwähnen, wie z. B. die Verwendung von Fotos. Sie fiel bereits der Kritik auf, welche in punktuellen Analysen gezeigt hat, dass auch Bilder – seien sie im Text reproduziert oder nur beschrieben – trotz ihres unmittelbaren dokumentarischen Charakters auf metonymische Bedeutungen hinweisen.43 Eine symbolische Ebene stellen auch, vor allem bei Wackwitz und Medicus, die Landschaftsbeschreibungen dar.44 Und offensichtlich sind alle diese ‚Zeitkapseln‘, Memoiren, Orte, Fotos, nichts anderes als metonymische Repräsentationen von Zeitlichkeit und Geschichte, in denen das Thema des Epochenbruchs mitreflektiert wird. Sie geben eine die Zeit übergreifende Kontinuität dort wieder, wo das Generationenschema fragmentiert erscheint.

42 43 44

Vgl. dazu Geppert, Hans Vilmar, Der historische Roman, a.a.O., S. 201 f. Zu den Bildern bei Wackwitz vgl. Horstkotte, Silke, „Die Geister von Auschwitz.“, a.a.O.; bei Timm vgl. Galli, Matteo, „Schuhkartons und Pappschachteln.“, a.a.O. Vgl. dazu Costagli, Simone, „Unverhofftes Wiedersehen“, a. a. O., und Fuchs, Anne, „Landschaftserinnerung und Heimatdiskurs: Tradition und Erbschaft in Thomas Medicus’ ‚In den Augen meines Großvaters‘ und Stephan Wackwitz’ ‚Ein unsichtbares Land‘“, in: Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität, hg. v. Andreas Kraft und Mark Weißhaupt, Konstanz, 2009, S. 71-92.

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GERHARD FRIEDRICH

Erdachte Nähe und wirkliche Ferne. Fiktion und Dokument im neuen deutschen Familienroman Der neue deutsche Familienroman, verstanden als Genrebezeichnung für die zahlreichen im letzten Jahrzehnt in Deutschland geschriebenen Familien- und Generationenromane, Familiengeschichten und in Familiengeschichte integrierte Autobiografien, nimmt als literarisches Genre teil am Prozess eines umfassenden Perspektivwechsels auf die deutsche Vergangenheit von Nationalsozialismus und Weltkrieg, der vor allem gekennzeichnet ist durch die Aufmerksamkeit, die nun der Veröffentlichung persönlicher und privater Erinnerung an diese Zeit gewidmet wird. Harald Welzer äußerte dazu: Ich vermute, daß diese Publikationen (Familienromane, autobiografische Texte und Dokumentationen, G. F.) gerade deshalb so auflagenstark sind, weil sie der gefühlten Geschichte der Bundesbürger viel näher stehen als die autoritative Erzählung über die Vernichtung der europäischen Juden und die anderen Verbrechen des „Dritten Reiches“.1

Welzer benutzt den in sich spannungsreichen Begriff der „gefühlten Geschichte“, der er eine andere, „autoritative Erzählung“ gegenüberstellt. „Gefühlte Geschichte“ und Geschichtswissen gehören wohl generell und überall unterschiedlichen Wahrnehmungsregistern an. Dass sie allerdings in Gestalt der sich einander ausschließenden Täter-Opfer-Perspektiven in ein antagonistisches Verhältnis treten können und Geschichtswissen die Form einer das Gefühlte disziplinierenden „autoritativen Erzählung“ annehmen kann, ist eher ein spezifisches Problem der jüngsten deutschen Geschichte. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach der Authentizität der Subjekte und ihrer Gefühle im Familienroman rasch zu einer auch geschichtspolitischen Frage. Denn wo sie nicht gewährleistet ist, kann schnell der Verdacht auf manipulative Absichten im Sinne einer Modifikation der „autoritativen Erzählung“ von der Gefühlsfront her aufkommen. Aber auch im Falle authentischer Subjektivität gibt diese noch keine Garantie für die Wahrhaftigkeit des Erinnerten, denn – wie die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung vielfach nachgewiesen hat – das Erinnerte wird häufig unbewusst organisiert nach den sich aus der Gegenwart ergebenden Anforderungen und Bedürfnissen. Von daher ist die authentische Subjektivität autobiografischer Erinnerung in keinem Fall als Wahrheitskriterium im Sinne geschichtlicher Wahrheit zu verstehen. Sie ist 1

Welzer, Harald, Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane, in: Literatur. Beilage zu Mittelweg 36, Hamburger Institut für Sozialforschung, Nr. 1 Januar/Februar 2004, S. 53.

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ein Tatbestand und ihr wesentlicher Unterschied zur „erfundenen“ Subjektivität ist der, dass ihre eventuelle „Falschheit“ nicht bewusst ist. Sie wäre im umgangssprachlichen Sinne „naiv“, während „erdachte Subjektivität“ als solche konstruiert ist nach Zeitgeist, Moden, Theoremen, politisch-ideologischen Absichten, Erzählmustern, narrativen Techniken – was ihrer Konstruiertheit wegen jedoch nicht „falsch“ sein muss. Im Folgenden soll versucht werden, Funktion und Beschaffenheit des subjektiven Moments als Autorenintention und Organisationsprinzip der Texte in seinem Verhältnis zum historischen Dokument in drei – gemeinhin dem Genre Familienroman zugerechneten – Texten zu analysieren. Es handelt sich um Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Ulla Hahn, Unscharfe Bilder und Günter Grass, Im Krebsgang. Ein wesentliches Ergebnis dieser Untersuchungen soll sofort vorweggenommen werden: In allen Texten erweist sich die individuelle Perspektive und Schreibintention des jeweiligen Autors als dominant gegenüber dem verarbeiteten historischen Material, gegenüber den eventuell integrierten Dokumenten, wobei sich eine relative Autonomie des Dokuments noch am ehesten in Timms autobiografischem Text finden lässt.

Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders Uwe Timm schreibt die Recherche zu seinem freiwillig der SS beigetretenen und 1943 an der Ostfront gefallenen Bruder Karl Heinz fast sechzig Jahre nach Kriegsende. Er lässt sie beginnen mit der einzigen ihm verbliebenen frühkindlichen Erinnerung an diesen Bruder. Er wird von den Eltern in die Küche geführt und aufgefordert sich umzuschauen: Dort, das hat sich mir als Bild genau eingeprägt, über dem Schrank, sind Haare zu sehen, blonde Haare. Dahinter hat sich jemand versteckt – und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch.2

Mehr als ein Jahrzehnt vorher taucht die gleiche Erinnerung in Timms autobiografischem Text über seinen Romaufenthalt, Vogel friß die Feige nicht, auf. Träumte von meinem Bruder, der – meine einzige Erinnerung an ihn – sich hinter einem Besenschrank versteckt hält. Er will mich, seinen kleinen Bruder, überraschen. Aber ich sehe seinen Kopf, sein blondes Haar.3

Der Nachweis dieser Erinnerung in einem anderen Text Timms lange vor dem Projekt vertiefter Nachforschungen zum Bruder muss zunächst als Indiz ihrer Authentizität wie auch ihrer Intensität gelten. Der Bruder tritt nicht erst nach dem Jahr 2000, als die veröffentlichte Erinnerung deutscher Kriegsopfer literarische Mode wurde, in das von Timm erinnerte Leben ein. Allerdings wird 2 3

Timm, Uwe, Am Beispiel meines Bruders, Köln, 2003, S. 9. Timm, Uwe, Vogel friß die Feige nicht, Köln, 1989, S. 17.

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ihr im späteren Text eine Bedeutung beigemessen, die dem früheren nicht abzulesen ist. Erhoben werden – Lachen, Jubel, eine unbändige Freude – diese Empfindung begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat, und mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis […].4

Es folgt die Erinnerung vom Bruder hinter dem Besenschrank. Mit dieser einzigen frühkindlichen Erinnerung an den Bruder lässt Timm sein Selbstbewusstsein, seine Ich-Identität beginnen. Bruder-Erinnerung und Ich-Identität erscheinen untrennbar miteinander verknüpft. Und ein weiteres bedeutendes Detail gegenüber dem früheren Text: der Bruder geht auf ihn zu und es kommt zum Körperkontakt. […] – und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. […] und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben – ich schwebe.5

Hier steigert Timm die gefühlte Nähe des Bruders zum Entgrenzungserlebnis – „ich schwebe“. Die Konstitution von Ich-Identität und deren ekstatische Verflüssigung in dem einen Moment des einzigen erinnerten Körperkontaktes mit dem Bruder – authentische frühkindliche Erinnerung erfährt eine so große psychodynamische Aufladung, dass ihre Konstruiertheit wahrscheinlich wird, zumal als Eröffnungstableau des Textes. So wird, sozusagen als Initialzündung, die psychische Energie freigesetzt, die den Gang der folgenden Ermittlungen und Reflexionen Timms vorantreibt, ihnen ihren erlebten und emotional involvierenden Charakter verleiht. Der eingangs freigesetzte psychoenergetische Schub kann den Schreibprozess allerdings nicht widerstandslos vorantreiben. Im Gegenteil. Der Text entwickelt sich kontrapunktisch. Die Kontrapunkte zum erinnerten Erlebnis des Eins-Seins mit dem Bruder sind seine Träume. Hin und wieder träumte ich vom Bruder. […] Ein Traum hat sich mir recht genau eingeprägt. Jemand will in die Wohnung eindringen. Eine Gestalt steht draußen, dunkel, verdreckt, verschlammt. Ich will die Tür zudrücken. Die Gestalt, die kein Gesicht hat, versucht sich hereinzuzwängen. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Tür, dränge diesen gesichtslosen Mann, von dem ich aber bestimmt weiß, dass es der Bruder ist, zurück. Endlich kann ich die Tür ins Schloss drücken und verriegeln. Halte aber zu meinem Entsetzen eine raue, zerfetzte Jacke in den Händen.6

Der Bruder, Teil der Ich-Identität des Autors, wird als gesichtslose Bedrohung nach außen abgedrängt. Die ihm als Existenzbeweis des Bruders zurückbleibende „raue zerfetzte Jacke“ verweist auf dessen Herkunft aus einer gefährlichen, unheimlichen Gegenwelt. Was aber führt Timm zur Abwehr, Abspal4 5 6

Timm, Uwe, Am Beispiel meines Bruders, a.a.O., S. 9. Ebd. Ebd., S. 12.

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tung dieses Teils seines Selbst, das von seinem Bruder besetzt ist, als grauenvolle Bedrohung? Zunächst scheint Timm hier das Modell der traumatischen Erfahrung und ihrer Verarbeitungsform der Abspaltung, Ausgrenzung der vom Ich nicht beherrschbaren existenziellen Bedrohung oder Verletzung – hier der Verlust des Bruders – abzurufen. Die Vermutung wird bestätigt durch eine später beschriebene, mit dem Verlust des Bruders verbundene und dem Modell der Verletzung durch Traumata folgende flash back Erfahrung. Darauf wird im Folgenden noch eingegangen. Außerdem wissen wir, dass in einem Großteil der um Kriegserinnerungen kreisenden Familienromane und autobiografischen Texte der Rekurs auf das Modell der traumatischen Erfahrung und deren spezifischer Verdrängungsweise, wie auch deren Übertragung auf nachfolgende Generationen nachzuweisen ist. Eine genauere Lektüre allerdings zeigt, dass der Autor einerseits vom Verlusttrauma affiziert ist, es andererseits aber – nicht in seinen Träumen, sondern in der Wirklichkeit – letztlich sein Geschichtswissen ist, das zur Abwehr des Bruders führt. Auf der Bewusstseinsebene ist es Timms Wissen um die Kriegsverbrechen der Wehrmacht an der Ostfront und generell sein Wissen um den verbrecherischen Charakter des Nazi-Regimes, das ihn die Wirkung der traumatischen Beschädigung seiner Ich-Identität als moralische Entscheidung wahrnehmen und die Anonymisierung des Bruders akzeptieren lässt. Die scheinbare Identität von tiefenpsychologischer Verletzung und moralischer Stellungnahme löst sich auf und es eröffnet sich ein neuer Zugang zum Bruder, als Timm in ihm ein abgespaltenes Moment seiner Ich-Identität erkennt – ohne sein moralisch-politisches Urteil zu modifizieren. Den unheimlichen Eindringling als abgespaltenen Teil seines Selbst akzeptierend, ist er dazu in der Lage sich in selbstanalytischer Absicht auf den Bruder einzulassen und dessen moralische Verurteilung, als von der Abwehr des Traumas getrennter Schicht, einer erneuten Überprüfung zu unterziehen. Beim Lesen des Kriegstagebuchs des Bruders stößt Timm auf folgende Stelle: „[…] Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.“ 7. Der Autor kommentiert: Das war die Stelle, bei der ich, stieß ich früher darauf […] nicht weiterlas, sondern das Heft wegschloss. Und erst mit dem Entschluss, über den Bruder, also auch über mich, (Herv., G. F.) zu schreiben, das Erinnern zuzulassen, war ich befreit, dem dort Festgeschriebenen nachzugehen.8

Die moralische und kulturelle Distanz zum Bruder, die das „Fressen für mein MG“ aufreißt, muss nicht mehr Angst und Abwehr auslösen, nachdem der traumatisch abgespaltene Bruder als Teil der eigenen Ich-Identität akzeptiert wurde. Der moralische Schock wird vom Trauma dissoziiert und kann so zugleich in intimen Annäherungsversuch und in einen kulturideologie- und mentalitätskritischen Diskurs überführt werden, der die ganze Familie und vor 7 8

Ebd., S. 19 (Kursiv im Original). Ebd.

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allem den Vater mit einbezieht. In der minutiösen Analyse seines Tagebuchs wird der Bruder einerseits zum statuierten Exempel (Am Beispiel …) der Kritik der Traditionen preußischen Kadavergehorsams und eines über den Vater von den Freicorps herkommenden rechtskonservativen Nationalismus, der Moral und Humanität nur als Bewertungskriterien fremder – aber niemals der eigenen Gewaltanwendung kennt. Der Bruder erscheint als Repräsentant einer spezifischen Prägung, als Individuum wird er kaum greifbar und seine Notizen ermöglichen nicht die Rekonstruktion authentischen Erlebens eines deutschen Soldaten an der Ostfront – dessen gefühlte Subjektinnenseite; stattdessen bekannte Stereotype. Bestimmend bleibt die kritische Perspektive eines heute Schreibenden auf deutsche Weltkriegsvergangenheit, die Nachforschung zum Bruder kann keine verstehende Empathie erzeugen.9 Andererseits aber hören die Träume vom Bruder nicht auf. Es sind Träume von wiederholten und letztlich immer scheiternden Annäherungsversuchen, von nicht gelingender Kommunikation. Der Bruder steht da, das Gesicht schwarz, der Anzug – oder eine Uniform? – hell. […] Plötzlich wirft er mir eine Birne zu, die ich nicht fangen kann. Mein Schreck, als sie zu Boden fällt. Und dann sagt seine Stimme: Doldenhilfe.10

„Doldenhilfe“ ist nach einer schriftlichen Mitteilung des Autors ein „Traumwort“ von unbestimmter Bedeutung. Verständigung kann nicht stattfinden, aber das unerfüllbare Bedürfnis nach ihr – materialisiert im Paradoxon des bedeutungslosen Wortes – ist stark, denn es geht Timm dabei um nichts weniger, als die Integrität der eigenen Persönlichkeit. Gefühlte Nähe ergibt sich nicht aus der akribischen Recherche in Dokumenten aus dem Leben des Bruders – in ihr wird der Bruder vor allem zum Beispiel einer kritisierten Mentalität. Gefühlte Nähe teilt Timm aber mit als Trauma des Bruderverlustes indem er uns seine Träume zugänglich macht. Hier geht es allerdings nicht um Partizipation oder Empathie, nicht einmal um Erinnerung. Timm leidet an seiner seelischen Verletzung in seiner Gegenwart. Er berichtet von einem Erlebnis in einem Kiewer Hotel: Am Tag meiner Ankunft, es war zufällig die Zeit, in der der Bruder verwundet worden war, wurde ich morgens im Hotel durch Telefonschrillen geweckt. Ein Traum, ein dunkler, ein im plötzlichen Erwachen nur noch undeutlicher Traum, in dem er auch schattenhaft vorgekommen war. Im Schreckzustand versuchte ich aufzustehen. Ich konnte nicht. In beiden Beinen war ein unerträglicher Schmerz.11

9

10 11

Schmitz, Helmut, „Historicism, Sentimentality and the Problem of Empathy: Uwe Timm’s ‚Am Beispiel meines Bruders‘ in the Context of recent Representations of German Suffering“, in: A Nation of Victims? German Monitor No. 67, hg. v. Helmut Schmitz, Amsterdam/New York, 2007, S. 215. Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, a.a.O., S. 141 Ebd., S. 125.

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Diese Schmerzen, die aus der Vergangenheit kommen, sind in ihrer das Trauma charakterisierenden Zeitlosigkeit durch kein empathisches Verhalten gegenüber dem vergangenen Leid (des Anderen) zu lindern, sondern nur durch Bewusstmachung dieses Leids als vergangenem. Freilich fällt es an dieser Stelle schwer sich folgende Frage nicht zu stellen: ist Timm hier „naiv“ bei sich – oder hat er sich eingehend mit der neueren Traumaforschung befasst und einige von deren Ergebnissen und Theoremen – z. B. Lyotards Definition vom Trauma „als ein[em] Zustand des Todes inmitten des Lebens“12 erzählerisch assimiliert? Hier – wie in allen Träumen – wäre ein schmaler Raum für eine fiktionale Ausarbeitung seines Stoffes zu lokalisieren. Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage – die nur spekulativ sein kann – besteht die wahre Besonderheit im Buch Timms nach meiner Auffassung in der klaren Trennung in den am Bruder und an der Familiengeschichte entwickelten geschichtlichen ideologie- und kulturkritischen Diskurs auf der einen und den ihn selbst betreffenden therapeutisch-analytischen Diskurs auf der anderen Seite. Er trennt rigoros sein seelisches Leid vom Problem Deutschlands mit seiner Geschichte. Die eingangs zitierte „gefühlte Geschichte“ kommt in Timms Recherche nur vor als Gegenstand kritischer Analyse. Dass sein seelisches Leid ursächlich mit deutscher Geschichte verknüpft ist, führt nicht zur Vermengung der in Betracht gezogenen Heilungsverfahren.

Ulla Hahn, Unscharfe Bilder Die „Bilder“ im Titel des Romans von Ulla Hahn sind Bilder von Menschen, die mit mehr oder weniger Sicherheit die Identifikation von Individuen gestatten. Unschärfe ergibt sich – im physikalisch-optischen Sinne – aus großer Nähe, Schärfe aus der adäquaten Distanz. In dem als Motto vorangestellten Zitat von Ludwig Wittgenstein fragt sich dieser: „Ist das Unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“ Wittgensteins metaphorisches Plädoyer für die „Unschärfe“ von Bildern in seinen Philosophischen Untersuchungen steht im Kontext seiner Kritik einer formalistisch-statischen Regelkonzeption in der Sprachwissenschaft. Er geht dagegen aus vom Standpunkt der Pragmatik, der Sprache als dynamisch-lebendiges System begreift. Die relative Unschärfe von Regeln – und um diese geht es ihm – wäre Ausdruck der Anerkennung des dynamischen Charakters von Sprache seitens des sie beschreibenden Wissenschaftlers. Hier ist „Schärfe“ bildhafter Ausdruck der Schwäche von vorgefassten Konzepten gegenüber einer „Unschärfe“, die eine Perspektive der Nähe und Unmittelbarkeit auf den lebendigen Sprachorganismus gestattet. Eine derart gefasste Unschärfe kann in der Sprachwissenschaft tatsächlich – nur scheinbar paradoxerweise – Erkenntnisgewinn bedeuten. Ulla Hahn allerdings geht es nicht – wie Wittgenstein – um Sprache, sondern um die deutsche 12

Lyotard, Jean-François, Heidegger und ‚Die Juden‘, Wien, 1988, S. 38.

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Wehrmacht und deren Soldaten an der Ostfront. Was gewinnt sie aus der Nähe und Unmittelbarkeit bedeutenden „Unschärfe“, aus der Schwäche von Vorkonzepten – diachronisch gesprochen aus der Abwertung der „a posteriori“Perspektive – für ihr Thema? Im Kern geht es Hahn in ihrem Roman um die Diskussion und letztlich Diskreditierung des Werts von Bildern als Dokumenten einer präzisen und individualisierenden Rekonstruktion von Vergangenheit. Sie diskutiert dabei die komplexen Relationen von Geschichtswissen und einfühlendem Miterleben von Vergangenheit, von dokumentierter und erlebter Geschichte, von Außen- und von Innenansicht. Der Roman ist insgesamt fiktionalen Charakters. Er enthält keine erkennbaren autobiografischen Elemente noch integriert er Dokumente zur Rekonstruktion von Vergangenheit. Im Gegenteil: Das Bild als Dokument nimmt einen zentralen Platz ein in ihrem Diskurs – aber es geht um dessen Desintegration, um die Anzweiflung von dessen Aussagewert. An die Stelle der vom Bild gelieferten Außenansicht setzt sie die Emotionen mobilisierende Erzählung, die Einfühlung und Innenansicht vergangener Ereignisse und Erfahrungen etabliert und dabei den Schein der Authentizität des erlebten Dabeigewesen-Seins erzeugt. Die anfangs skeptische Tochter Katja des ehemaligen Wehrmachtssoldaten an der Ostfront und jetzigen pensionierten und altersweisen Studienrats Musbach reflektiert nach den ersten Kriegserzählungen des Vaters: Sie hatte geglaubt zu wissen, Vergangenes zu wissen. Nun wurde aus dem Vergangenen, dem Vorbeisein ein Mit-Dabeisein.13

Das „Wissen“ ist der vermittelten Außenansicht und damit auch eher dem Bild zugeordnet, als dem unmittelbar gefühlten, erzähl- aber nicht direkt abbildbaren Miterleben. Der Erzählbarkeit in diesem Sinne wird von Hahn ein prinzipiell höherer Aussagewert zugemessen als der Abbildbarkeit. Nun stellt sich allerdings die Frage, ob die beiden Darstellungsweisen notwendigerweise als einander ausschließend zu behandeln sind und warum Hahn dahin tendiert dies zu tun. Ihr Text will letztlich das Verschwinden des Bildes in der Erzählung erzeugen, alles auf subjektive Authentizität setzen, die ganz ohne Außenansicht auskommt. Auf der letzten Seite kommt es als Klimax des ganzen Romans zum Geständnis des Vaters gegen das schon vorher narrativ diskreditierte Bild seines Kriegsverbrechens und gegen die aus dieser Diskreditierung entstandene Unschuldsvermutung der Tochter. Die Nichtigkeit des Bildes angesichts der väterlichen Erzählung wird gerade durch sein Geständnis demonstriert.

13

Hahn, Ulla, Unscharfe Bilder, München, 2003, S. 121. Helmut Schmitz kommentiert dieses Zitat in seinem schon erwähnten Aufsatz: „In the course of Hahn’s novel, for example, the daughter ultimately ends up sharing in the father’s trauma, relinquishing her post-war perspective.“ Schmitz, Helmut, „Historicism, Sentimentality and the Problem of Empathy“, a.a.O., S. 209.

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‚Aber‘, stammelte Katja, ‚du bist nicht der Mann auf dem Foto! Du kannst es gar nicht sein. Du bist es nicht gewesen! Das Foto ist von dreiundvierzig. Winter. Da warst du doch schon bei den Partisanen! Du warst es nicht. Du hast nicht geschossen!‘ ‚Doch! Ich hätte nein sagen können, hörst du: nein! Ich habe geschossen. Das Foto ist von dreiundvierzig im Winter? Was tut das zur Sache? Ich bin es nicht auf diesem Foto? Spielt das denn eine Rolle? Ich weiß doch, was war. Dieses Foto oder nicht. Ein Foto oder keins. Verzeih mir – wenn du kannst.‘14

Der Frage „Ein Foto oder keins“ kommt keine Bedeutung zu vor der gefühlten Authentizität der erzählten Erinnerung. Da ist schon besser: keins. Hahns Zweifel am Bild ist aber weniger erkenntniskritischer Natur, sondern speist sich vor allem aus einem aktuellen Anlass, auf den sie im Roman selbst hinweist.15 Um ihren Schreibanlass der Diskreditierung des Bildes aus diesem Kontext genauer zu verstehen, ist kurz zu überlegen, welche spezifische Funktion das private Foto im gegebenen erinnerungspolitischen Zusammenhang haben konnte. Vor allem: es wirkte entmystifizierend. Die Mitscherlichs haben schon in den 60er Jahren darauf hingewiesen,16 wie in Deutschland durch die Abspaltung einer anonymen und mystifizierten Entität mit dem Namen ‚Nazis‘, der ‚anständige Deutsche‘ sich von Verantwortung frei fühlen konnte. Die Formel von den ‚Untaten im Namen des deutschen Volkes‘ ist beredter Ausdruck dieser Mystifikation. Die Veröffentlichung gerade von Privatfotos, die zeigen, wie ‚normale‘ Individuen diese ‚Untaten‘ verrichten, bringt Großgeschichtserzählung und individuelle Aktion zur Deckung und hebt die Mystifikation auf. Von Bedeutung ist dabei gerade die Schärfe dieser Bilder, denn nur sie gestattet die zweifelsfreie Identifikation der Individuen, und gerade Individualisierung ist die Voraussetzung für die Aufhebung der anonymisierenden Abspaltung des ‚Bösen‘. Hierin bestand die Sprengkraft der Wehrmachtsausstellung wie auch die der im gleichen Zeitraum erschienenen Arbeiten von Goldhagen und Browning.17 Klaus Theweleit hat in seiner Beobachtung zu den Fotos der Ausstellung beschrieben, wie ‚das Böse‘ von den Individuen Besitz ergreifen konnte: als seine Nicht-Wahrnehmung, als schon damaliges Unschuldsbewusstsein, entstanden aus Übereinstimmung mit der herrschenden politischen Unkultur, die zivilisatorische moralisch-ethische Normen suspendiert hatte und Straffreiheit garantierte: 14 15

16 17

Hahn, Ulla, Unscharfe Bilder, a.a.O., S. 275. Es handelt sich um die 1995 vom Hamburger Institut für Sozialforschung präsentierte Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“. Im Roman erscheint sie unter dem Namen „Verbrechen im Osten“. Diese Ausstellung hat heftige Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit hervorgerufen – sowohl Zustimmung wie auch höchst emotionale Abwehr – und Hahns Buch ist außerhalb dieser Kontroverse kaum zu verstehen. Mitscherlich, Alexander und Margaret, Die Unfähigkeit zu trauern, München, 1967. Browning, Christopher R., Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen, Hamburg, 1993; Goldhagen, Daniel J., Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin, 1996.

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Der Mord wird nicht als ‚Mord‘ wahrgenommen, weil er genehmigt ist, er kann als Urlaubsfoto nach Hause gehen oder neben die Familienbilder ins Portemonnaie geraten, weil er das eigene Leben im Zustand krimineller paradiesischer Freiheit zeigt, das sich dabei gefällt, die Erde von Ungeziefer zu befreien. ‚Strafe?‘ Keine zu erwarten. Wir werden gesiegt haben. Dieses Bewusstsein, diesen Blick zeigen die Fotos der fotografierenden Soldaten in Russland, in Polen oder auf dem Balkan in aller Klarheit; in aller unschuldigen Klarheit.18

Wie diese gefühlte „Unschuld“ sich in der Erinnerung erhält, indem sie nach 1945 nach den Normen des nun geltenden ethisch-moralischen Kodex umgerahmt wird, wie im narrativen Prozess der Familienerinnerung nach den nun geltenden Normen aus getöteten „gerettete“ Kinder werden können, haben Harald Welzer u. a. in ihrer Studie „Opa war kein Nazi“ gezeigt.19 Voraussetzung für das Gelingen dieser Operation der Umrahmung von Erinnerungsfragmenten ist allerdings das Fehlen der wirklichen Bilder. Diese passen in keinen andern Rahmen. „Unscharfe Bilder“ allerdings passen in viele. Was bei Hahn als Erzählung der einfühlenden Bemühung der Tochter um die Rekonstruktion der subjektiven Verfassung des Vaters an der Ostfront erscheint – die Vaterbindung ist bedeutend um glaubwürdig Affekt mobilisieren zu können – erweist sich als Projektion gegenwärtiger ethisch-moralischer Subjektkonstitution auf die Kriegsvergangenheit und als Modifikation des Verhaltens des Vaters nach deren Maßgaben. Dabei bewegt sie sich auf der Schiene der oben erwähnten Kontinuität gefühlter Unschuld sozusagen in der Gegenrichtung ihrer Genese. Das Gelingen dieser Operation setzt freilich die Anzweiflung der Beweiskraft präziser Bilder voraus. Wie heißt es am Ende des Romans?: „Ich bin es nicht auf diesem Foto? Spielt das denn eine Rolle? […] Ein Foto oder keins.“

Günter Grass, Im Krebsgang Es geht Grass um kein Einzelschicksal wie Ulla Hahn oder Timm, sondern um ein historisches Großereignis, die Versenkung des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff durch ein sowjetisches U-Boot in der Ostsee am 30. Januar 1945 nahe Gotenhafen. Die Schätzungen der Opfer schwanken zwischen 6000 und 8000 Toten – die Mehrheit von ihnen Flüchtlinge aus dem Osten; Frauen, Kinder, Alte. Schon dieser thematische Bezug macht für den Autor die historische Recherche, die Verifizierung von Ereignissen und Tatbeständen, auch im Detail, zur Pflicht. Es ist klar, dass Fiktion – auf ihr Vorhandensein lässt die Präsentation des Textes als „Novelle“ schließen – im Schreibprozess den tatsächlichen Ereignissen als ihrem Material auf die eine oder andere Weise 18

19

Theweleit, Klaus, „Schulddiskussion und Wehrmachtsausstellung“, in: Badische Zeitung, 11. 11. 2000. Welzer, Harald, Moller, Sabine, Tschuggnall, Karoline, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main, 2002.

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Rechnung zu tragen hat. Es sei vorausgeschickt, dass Grass sich von ihnen weiter entfernt, als hätte er einen historischen Roman über die Schiffskatastrophe geschrieben. Denn Grass evoziert – trotz aller historischer Recherche und Detailgenauigkeit – nicht primär ein vergangenes Ereignis belletristisch zu erzählen und es geht ihm auch nicht in erster Linie um eine erinnernde Würdigung der Opfer – wie er häufig missverstanden wurde – sondern ihn treibt vor allem eine angenommene deutsche Pathologie im Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit um. Mehr als um Vergangenheit selbst geht es ihm um das Verhältnis und Verhalten zu ihr. Vor allem nach dieser Arbeitshypothese und weniger nach den tatsächlichen Ereignissen organisiert er den narrativen Diskurs, Erzählperspektive, Figurenwahl, sowie Charakter und Verhalten der von ihm erzählend geschaffenen Personen. Zunächst die Wahl des fiktiven Ich-Erzählers Paul seitens des im Text erscheinenden, als „Alter“ verkleideten wirklichen Autors Grass. Paul berichtet, oder besser, Grass lässt Paul berichten, wieso „der Alte“ gerade ihm die Verantwortung des Erzählers aufgebürdet hat. Nachdem die Rede war vom erzählerischen „Versäumnis“ des Herrn Grass, heißt es weiter: Ersatzweise habe er mich zwar nicht erfunden, aber nach langer Sucherei auf den Listen der Überlebenden wie eine Fundsache entdeckt. Als Person von eher dürftigem Profil, sei ich dennoch prädestiniert: geboren, während das Schiff sank.20

Mit dem Scheincharakter der Wirklichkeit von Fiktion spielend, betont Grass, er habe seinen Erzähler nicht er- sondern gefunden. Besser wissend, dass er ihn tatsächlich erfunden hat, können wir nach den Motiven des Autors fragen, ihn nach den hier genannten Kriterien zu erfinden: „Als Person von eher dürftigem Profil, sei ich dennoch prädestiniert: geboren, während das Schiff sank.“ Trotz der mäßigen Eignung zum Erzähler – zu erwartende literarische Qualität zählt also wenig – fällt die Wahl auf ihn, ausschließlich nach dem Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit, der individuellen und existenziellen Verknüpfung mit der historischen Katastrophe. Paul ist nicht nur involviert sondern die Koinzidenz von Untergang und Geburt bindet ihn existentiell an die Katastrophe und weist symbolisch auf sein Leben in ihrem Zeichen voraus. Man versteht, es wird um einen lebenslangen Schiffsuntergang gehen. Grass lädt die Begründung seiner Erzählerwahl mit noch mehr Bedeutung auf. Zwar ist Paul beim Untergang körperlich, raum-zeitlich präsent, aber als Neugeborener nicht zum bewussten Augenzeugen berufen. Jemand oder etwas anderes muss aus ihm sprechen. Paul kann nur eine Art von Medium sein zur Artikulation einer Erfahrung, an der er zwar körperlich aber nicht bewusst teilgenommen hat. Pauls Situation als Neugeborener in der Katastrophe, von der er berichten soll, weist in symbolischer Verdichtung voraus auf die Konstellation der Novelle, das Organisationsprinzip ihrer fiktionalen Dimension, 20

Grass, Günter, Im Krebsgang, Göttingen, 2002, S. 78. (im Folgenden: IK)

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das dasjenige der traumatischen Erfahrung ist.21 Während Paul in seiner Neugeborenenlage das Trauma quasi allegorisch repräsentiert, ist es seine schon aus den Hundejahren bekannte Mutter Tulla, die sich in ihren konkreten Verarbeitungsweisen der Untergangserfahrung, nach der von der Psychatrie beschriebenen Symptomatologie, als traumatisiert erweist. Häufig, wenn sie die Katastrophe erwähnt, wird sie – im Wortsinn – von ihr heimgesucht: sie bekommt ihren „Binnichtzuhauseblick“, bzw. ihr „Binnichtzuhausegesicht“. Sie ist nicht mehr bei sich, ist absent, verschwindet in einer andern raumzeitlichen Dimension, der des Untergangs, der nicht vergangen, sondern in diesen Momenten ihre Gegenwart ist. Während Paul zwar wie „unter Zwang“ schreiben muss, es ihm mittels einer Art von apathischem Desinteresse aber gelingt nur partiell ins mütterliche Trauma integriert zu werden – hier reflektiert Grass das kritisch-distanzierte Verhalten der ersten Nachkriegsgeneration gegenüber den Eltern – wird Pauls Sohn und Tullas Enkel Konrad völlig zum Bestandteil des großmütterlichen Traumas. Er wird zu dem, was die Traumaforschung „Gedenkkerze“ genannt hat: Die unbewusste Konditionierung der Nachgeborenen seitens der traumatisierten Generation, so dass diese sich völlig in Funktion der Linderung, Kompensation oder auch Rache vergangenen – aber als Trauma gegenwärtigen – Leidens aufzehren, so als beträfe es ihr Leben und ihre Gegenwart, sie verhelfen der Vergangenheit zu einer spektralen Scheingegenwart, als deren selbstentfremdete Protagonisten sie agieren.22 Nach diesem Modell gestaltet Grass das Verhältnis von Großmutter Tulla und Enkel Konrad. So kommt Paul die Beschreibung des Untergangs durch Konrad „auf penetrante Weise bekannt vor“, (IK, 73), denn „Großmutter spricht aus Konrad“ (IK, 89). Darüber hinaus wird das Treiben der Gustloffnostalgischen Jung-Neonazis im Cyberspace ihrer Webseiten als Element dieser vampirhaften Dynamik erkennbar, wobei der Gebrauch des Internets als Medium virtueller Realität wohl den untot-spektralen Charakter dieser gegenwärtigen Vergangenheit hervorheben soll. „Mit dem wie aus der Gegenwart hallenden Ruf ‚Die Gustloff sinkt!‘ stieß die Homepage meines Sohnes aller Welt ein Window auf […]“ (IK, 149) Der Mord an Wilhelm Gustloff wird verhandelt, „als wäre der Mord von Davos gestern geschehen“ (IK, 63), „[…] wie eine Neuigkeit“ oder auch „erst neuerdings“ (IK, 64), „als seien bestimmte Zeitungsartikel gestern noch druckfrisch gewesen“ (IK, 63). Grass spitzt den aus dem Trauma kommenden zirkulär leer laufenden gespenstischen Wiederholungszwang von Geschichte melodramatisch und höchst artifiziell zu in dem mit der Ermordung des falschen Juden Wolfgang durch den falschen Gustloff-Konrad endenden Rollenspiel von Wilhelm-Konrad und DavidWolfgang im Chatroom des Sohnes. Mit Formulierungen wie „Schlagabtausch 21 22

Vgl. hierzu auch: Fricke, Hannes, Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie, Göttingen, 2000. Bohleber, Werner, „Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewusstsein“, in: Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein, hg. v. Jörn Rüsen, und Jürgen Straub, Frankfurt am Main, 1998, S. 262, 273.

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im Jenseits“ (IK, 48) und „geisterhafte[s] Rollenspiel“ (IK, 49) unterstreicht der Erzähler, wie hier gegenwärtiges Agieren von den Koordinaten einer fernen Vergangenheit determiniert wird. Verschiedene Zeitebenen schieben sich ineinander und die scheinbare Folge der Ereignisse ist nur sterile Reproduktion von schon Geschehenem, sie wird nicht bestimmt von der objektiven äußeren Zeit, sondern vom inneren Zeitstillstand, von der gefrorenen Zeit des Traumas. Obwohl Grass für seine Novelle detailgenau recherchiert und detailliert Wirklichkeitsmaterial in den Text integriert – von technischen Einzelheiten der Gustloff, Struktur und Aktivitäten der nationalsozialistischen KdFBewegung, bis hin zur Rekonstruktion der Biografien der historischen Figuren Gustloff, Frankfurter und des sowjetischen U-Boot-Kommandanten Marinesko und natürlich den Einzelheiten des Untergangs – obwohl dies alles auch einen breiten Raum des Textes einnimmt, wird die objektive, die „äußere“ Geschichte nach den Maßgaben seiner auf dem Traumamodell aufbauenden fiktionalen Erzählkonzeption „entkernt“, verfügt gegenüber der Statik des Traumas über keine Dynamik, ist nur präsent als Verursacher einer Krankheit an der Geschichte, die diese selbst zum Stillstand bringt. Fiktionales Erzählen beherrscht in seiner Umsetzung von Konzepten und Theoremen aus der Psychiatrie das ausgebreitete Geschichtsmaterial so vollständig, dass substanziell Neues nicht mehr stattfinden kann, nur noch die sterile Reproduktion des geschichtlichen Traumas. Die letzten beiden Sätze lassen daran in ihrer zirkulären Symmetrie keinen Zweifel zu: „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“ (IK, 216) Während Ulla Hahn das historische Dokument gegenüber der fiktional erzeugten subjektiv-empathischen Annäherung an Vergangenheit gezielt entwertet, entmachtet Grass Geschichte durch die fiktional erzählend vollzogene totalisierende Projektion des individualpsychologischen Traumamodells auf die makrohistorische Ebene. Bei Uwe Timm bietet das fiktionale Moment keinen Schlüssel einer Interpretation der Vergangenheit oder des Verhältnisses zu ihr. Wo es eventuell zu lokalisieren ist – vor allem in den Traumsequenzen – überschreitet es nicht den Raum seiner äußerst zurückgenommenen Subjektivität. Vergangenheit wird über Dokumente, autobiografische Erinnerung und – vor allem – deren kritische Reflexion erschlossen. Die bei Timm gefühlte Ferne zur Vergangenheit setzt diese zweifellos in ein produktiveres Verhältnis zur Gegenwart, als fiktional erzeugte emphatische Nähe bei Ulla Hahn, die aus der Vergangenheit nur den persönlichen Affekt rettet und auch als das narrativ totalisierte Traumamodell, aus dem Grass für Deutschland letztlich das Ende seiner Geschichte diagnostiziert.

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4. SIPPENHAFT

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PETRA BRUNNHUBER

Endstation Seniorenheim. Die Thematisierung des Alters im deutschsprachigen Familienroman der Gegenwartsliteratur Erst in den letzten Jahren ist aufgrund der anwachsenden Lebensdauer und dem bevorstehenden demografischen Wandel1 ein Thema, das immer mehr zu einer gesellschaftlichen Herausforderung wird, in das öffentliche Bewusstsein gerückt: Die Pflegebedürftigkeit der Eltern und Großeltern und das Leben im Altersheim. In Zeitungen und Zeitschriften erscheinen Texte mit bezeichnenden Titeln2 wie in Der Spiegel, „Generation Pflege. Pflegenotstand in Deutschland“3, in Die Zeit, „Die Welt der Alten. ‚Leere, Resignation, Geschrei‘“4, Filme wie The notebook (2004), Regie Nick Cassavetes, eine rührende Liebesgeschichte, die von einer an Alzheimer erkrankten Dame im Heim handelt, Pranzo di Ferragosto von Gianni di Gregorio (2008), oder The Curious Case of Benjamin Button, Regie David Fincher mit Brad Pitt (2008) beginnt im Altersheim und endet auch dort und der französische Film Ensemble c’est tout von Claude Berri mit Audrey Tautou (2007) beschäftigt sich mit der Altersproblematik und der Frage: Wer kümmert sich um die Menschen im vierten Lebensalter? Wo sollen sie leben? Ist das Altersheim die Lösung?5 Diese Fragen stellen sich auch immer häufiger zeitgenössische Autoren. Nahmen bisher die Alten meistens eine Nebenrolle in der Literatur ein, waren im Großen und Ganzen „entweder Ratgeber und Seher – ein Nestor, ein Teiresias, besorgte Ammen – oder Hexer und Miesmacher, vor denen sich die Ju-

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Vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, „Daten, Fakten, Trends zum demographischen Wandel in Deutschland“, Wiesbaden, 2008; vgl. auch Bundesministerium für Alter und Soziales, „Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation“, Berlin, 2005. Zum Thema Altersproblematik in der Literatur und den Printmedien vgl. Seidler, Miriam, „Liebe oder Entsorgung? Überlegungen zur Thematisierung der Pflegebedürftigkeit der Eltern in Literatur und Printmedien“, in: Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, hg. v. Heiner Fangerau, u. a., Berlin, 2007, S. 175-190. Fröhlingsdorf, Michael u. a., „Generation Pflege. Pflegenotstand in Deutschland“, in: Der Spiegel, H. 19, 1995, S. 86-96. „Die Welt der Alten. ‚Leere, Resignation, Geschrei‘“, ein Interview mit dem Autor Markus Breitscheidel über seine Erfahrungen als Pfleger in deutschen Altenheimen, in: Die Zeit online, 23. 03. 2006. Immer mehr Menschen verbringen im Altenheim ihren Lebensabend und die Nachfrage nach stationären Angeboten nimmt aufgrund der familiären Entwicklung weiterhin zu. So ist die Zahl der in ca. 12 400 deutschen Pflegeheimen betreuten Personen von 1999 bis 2008 um rund achtzehn Prozent, um 103 000 Personen gestiegen. Vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung „Daten, Fakten, Trends zum demographischen Wandel in Deutschland“, a.a.O., S. 29 f.

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gend tunlichst hüten sollte“6 und schrieb Simone de Beauvoir noch 1972 in dem Essay Das Alter, es sei „eine Art Geheimnis, dessen man sich schämt und über das zu sprechen sich nicht schickt“,7 hat sich seither – auch in der Literatur – einiges verändert. Das Einbeziehen der modernen Altersproblematik ist in den letzten Jahren auch zu einem neuen Aspekt der Gattung des Familienromans geworden. Wenn man den modernen Familienroman dem klassischen gegenüberstellt wird die Verschiebung des Handlungskonflikts nur zu deutlich. Der traditionelle Familienroman kann den Problemen der modernen Gesellschaft nicht entsprechen.8 Deshalb suchen die Autoren heute nach neuen Antworten, indem sie moderne Problematiken des Familienlebens wie die Einsamkeit und die Pflegebedürftigkeit der alten Menschen thematisieren. Beschreibt Thomas Mann in Fiorenza (1905) noch, wie das Familienoberhaupt Lorenzo de Medici, umgeben von seinen Lieben und Ärzten in seiner Villa Medicea in Careggi, in seinem eigenen Bett im Sterben liegt, so deutet sich bei Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) ein Innovationsprozess an, indem einerseits der Tod des Großvaters in der Familie (mit ganzen Sätzen, einer ausladenden Beschreibung unter Einbeziehung der Gefühle der Beteiligten), aber im Kontrast dazu das Sterben und der Tod in den Pariser Asylen (in kurzen Sätzen oder Ellipsen, mit einer großen Distanz) dargestellt werden; der eigene gegen den anonymen Tod. Die Darstellung der Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie und die Vereinsamung in der Gesellschaft gipfelt in Romanen wie La petite fille de Monsieur Linh von Philippe Claudel (2005), in dem sich ein alter Mann eine Familie erfindet, eine Puppe zur Enkelin erklärt, um so die Einsamkeit – auch die des Altenheims – ertragen zu können. Im Folgenden werde ich den Versuch unternehmen darzustellen, wie die Altersproblematik im zeitgenössischen deutschsprachigen Familienroman behandelt wird. Dabei werden als Schwerpunkte der Ausführungen die zunehmende Wichtigkeit des Altenheims in den Werken und die Beziehung der Heimbewohner zu ihren Kindern gesetzt, wobei ich vorab einen Überblick über die Entwicklung des Phänomens gebe, um anschließend durch die Analyse zweier Werke genauer auf die Problematik einzugehen. In der deutschsprachigen Literatur wurde vermehrt seit den 90er Jahren die Beziehung zu alternden Müttern, Vätern, die Erkrankung, Krankenhausaufenthalte und der Tod behandelt. Schriftsteller, die das Alter und die Krankheit eines Elternteils schildern, sind z. B. Dagmar Leupold mit Nach den Kriegen. Roman eines Lebens (2004) und Karl-Heinz Ott mit Ins Offene (1998). In ihren Werken erzählen beide von Krankenhausbesuchen bei dem sterbenskranken Vater bzw. der Mutter. Der Tod wird bei Ott als eine Art von Befreiung – für die 6

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Klüger, Ruth, „Ein alter Mann ist stets ein König Lear“. Alte Menschen in der Dichtung, Wien, 2004, S. 18 Beauvoir, Simone de, Das Alter, Hamburg, 1972, S. 5. Vgl. Bachmaier, Helmut, Das Altern in der Literatur, Grünwald, 2007.

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Gesellschaft und die Kinder – dargestellt. So setzt Ott dem Roman schon das folgende Vorwort von Euripides voraus: „Tod ward verhängt, / die Erde zu entlasten“.9 Auch in Judith Hermanns Werk Sommerhaus, später (1997), wird in Ende von Etwas das Thema des Alters und der Krankheit aufgegriffen, wobei weder vom Krankenhaus noch von dem Altersheim die Rede ist, sondern von einer alten Dame, die in ihrer eigenen Wohnung lebt, von ihren Kindern und Enkeln besucht wird und dort schließlich einen grausamen Tod stirbt, indem sie verbrennt. Zu erwähnen ist hier auch Philip Roths Roman Patrimony. A True Story (1991), in dem Roth mit aller Offenheit die Krankheiten, Ängste der letzten Lebensjahre seines Vaters mitteilt.10 Uwe Timm wählt als Rahmenort seiner Novelle Die Entdeckung der Currywurst (1993) ein Altersheim in der Nähe Hamburgs, wobei es sich bei dem Erzähler, der eine ältere Dame, die ihm ihre Lebensgeschichte berichtet, im Heim besucht, nicht um den Sohn handelt, sondern einen ehemaligen Kunden der Currywurstverkäuferin. Bei Timm wird das Altersheim als Teil der Realität, der Gesellschaft, des öffentlichen Bewusstseins der Leute und nicht mehr als ein Tabuthema behandelt, wobei der Ort und die Familienthematik nicht in den Vordergrund der Handlung gestellt werden. Die Problematik und Nachteile der Pflege der älteren, oft kranken Verwandten im Heim werden seit den 90er Jahren in Romanen wie Hermann Kinders Um Leben und Tod (1997), Die Entsorgung der Großmutter von Helga Königsdorf (1997), Margit Schreiners Nackte Männer (1997), Heißt lieben (2001), und Martin Suters Small World (1997) schon angesprochen, aber erst seit dem 21. Jahrhundert vermehrt die Örtlichkeit des Altersheim in den Mittelpunkt der Handlung gestellt, wobei es sich bei den Protagonisten in Marc Wortmanns Der Witwentröster (2001) und Annegret Helds Die letzten Dinge (2005) nicht um die Kinder der Pflegebedürftigen, sondern um ihre Pfleger handelt. Ulla Hahns Unscharfe Bilder (2003), Claudia Wolffs Letzte Szenen mit den Eltern (2004), Thomas Langs Am Seil (2006) und Annette Pehnts Das Haus der Schildkröten (2006) hingegen befassen sich mit den Vater/MutterSohn/Tochter-Beziehungen, mit den Familienverhältnissen und beschreiben die Besuche der Kinder im Heim. Meines Erachtens beachten die Schriftsteller erst ab der Mitte der 90er Jahre das Verhältnis der Eltern im Altersheim zu ihren Kindern, da sich immer mehr Menschen persönlich von diesem Problem betroffen fühlen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung mit drei verschiedenen Pflegestufen im Jahr 1995, die eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Pflege und Unterbringung der alten Eltern im Heim hatte. Die staatliche finanzielle Unterstützung er-

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Ott, Karl-Heinz, Ins Offene, Hamburg, 2006, S. 7. Zur amerikanischen Literatur vgl. Portales, Marco, Youth and Age in American Literature, New York, 1989.

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laubte vielen Mittelstandsfamilien die Eltern ins Heim zu geben und brachte das Thema immer mehr ins Gespräch.11

Das Warten auf den Tod in Annette Pehnts Das Haus der Schildkröten Annette Pehnts Roman beschreibt am genauesten die Lebensbedingungen im Heim. Sie stellt das Altersheim als Bannkreis, Gefängnis, Ort des Zerfalls, der Entmündigung und Sprachlosigkeit dar (HS 124).12 Schon mit dem Titel werden die Heimbewohner als Schildkröten, als verschrumpelte, faltige, urlangsame, schweigsame Reptilien bezeichnet. Die Zukunft hält für sie nur den Tod bereit, der ein weiterer stets gegenwärtiger, schweigender Bewohner des Altersheims „Haus Ulmen“ zu sein scheint. Man sieht ihn auf den Gesichtern der Heimbewohner (HS 127, 128), riecht ihn in den Zimmern, wenn das Sterben beginnt (HS 128), erkennt ihn im allgemeinen süßlichen Heimgeruch (HS 128), „der alles durchdringt“ (HS 48), einem Gestank nach Zerfall und Tod, der von „dem Geruch des Spätsommers in den Mänteln“ (HS 9) der Besucher, nach frischem süßen Schweiß, Seife, Butter der Kinder, „als rasch wirksamer Gegenzauber“ (HS 151) bekämpft wird. Mit dem Einzug in Haus Ulmen gibt man Häuser, Einrichtungen, Hoffnung und Zukunft und den bisherigen Alltag auf. Die Bewohner des Haus Ulmen werden die „Immergleichen“ genannt, die jede Woche am Eingang sitzen, die Besucher beobachten und das Leben an sich vorüberziehen lassen (HS 51). Die Autorin bezeichnet damit die Haltung der Alten, die ihr Leben bereits vorwiegend auf den kommenden Tod, die Zukunftslosigkeit ausrichten. Die einzelnen Personen verlieren ihre Identität und werden austauschbar. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, indem sich die alten Leute bei einem Heimabend, bei dem ihre Lieben Fotos aus der Vergangenheit mitbringen, sich selbst nicht mehr erkennen, sich mit anderen verwechseln (HS 162). Die Heimbewohner werden von der Autorin in beschämenden Situationen dargestellt (HS 32), werden oft sprachlos, willenlos, in verschiedenen Stadien der Entmündigung (vgl. HS 32, 36) oder als verrückt gezeigt (vgl. HS 33, 36). Sie verlieren immer mehr an Würde (HS 16, 17), nennen sich gegenseitig Greisinnen (HS 37) und warten auf die Besuche der Familienangehörigen, die meist ungern und nur aus Pflicht-, Schuldgefühl, Scham oder Fürsorge kommen (HS 21). Die Heimbewohner scheinen der Gesellschaft, in der nur für Jugendliche und Junggebliebene Platz ist, zur Last zu fallen und von den 11

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Vgl. „Alterssicherung“, Deutscher Bundestag Drucksache 14/8800, 14. Wahlperiode 28. 03. 2002. Schlussbericht der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel. Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“, Bonn, 2002, S. 149-178. Im Text werden folgende Ausgaben und Siglen verwendet: HS = Pehnt, Annette, Das Haus der Schildkröten, München, 2006; UB = Hahn, Ulla, Unscharfe Bilder, 3. Aufl., München, 2007.

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„Jungen“ nicht mehr gebraucht zu werden. Schon Jean Améry sah unsere heutige Gesellschaft im Zeichen einer „Jugend-Idolatrie“13, in der die Jugend unser aller Leitbild darstellt, wie uns in Werbung, Filmen, Zeitschriften, Mode und Kosmetikbranche u. a. suggeriert wird. Alte Menschen werden nicht mehr als ein weises Vorbild verstanden, deren Rat gefragt war, sondern sie versuchen mit immer neuen Wundermitteln so lange wie möglich an der Jugend festzuhalten. Denn wie auch Thomas Küpper betont: „Sie allein erscheint als maßgeblicher Wert, gegenüber dem das Alter allenfalls negativ besetzt ist“.14 In unserer westlichen Kultur ist die Angst vor dem Alter deshalb fest verankert. So können die Heimbewohner auch an dem täglichen Leben draußen nicht mehr teilnehmen, fühlen sich „abgeschoben“ und unterscheiden zwei Welten: drinnen und draußen (HS 32), wobei draußen ihrer aller Leben der Vergangenheit bedeutet, für die Besucher hingegen ein Gefühl der Freiheit nach dem Besuch in Haus Ulmen (HS 23, 120). Das Heim dagegen hält den Besuchern die Welt, die Zeit ihrer Zukunft vor Augen: „eine kinderlose, appetitlose, schlaflose, trockene Zeit, eine Zeit ohne Fahrkarten und Termine, ohne Mülltage und Einkäufe, auch ohne Waffelbacken und Sonntagsbraten.“ (HS 51). Denn man taucht in Haus Ulmen in eine andere Zeit ein (HS 50), in „die nicht vergehende Zeit“ (HS 51), wo man einen Kalender aufhängt, „zum Beweis, daß die Zeit vergeht“ (HS 179), wobei die Heimbewohner das Zeitgefühl der Außenwelt langsam verlieren (HS 122), wie Hans Castorp im Zauberberg – nur dass er in die Außenwelt zurückkehrt. Das Altersheim wird auch in den anderen Romanen als ein zeitloser Ort, ein Bannkreis fast ohne Entkommen, in einer anderen Zeit, einer anderen Welt vorgeführt. Repräsentativ für das Unverständnis zwischen Kindern und Eltern wird das Beispiel der Beziehung Ernsts zu seinem Vater, dem Herrn Professor Sander, und Reginas zu ihrer Mutter, Frau von Kanter, angeführt. Beide besuchen die Mutter, den Vater immer am Dienstag, beide zögern sie in die andere Welt mit einem anderen Lebensrhythmus, einer anderen Zeit einzutauchen (HS 51), wo „schon der Schotter auf dem Parkplatz anders klingt als sonst wo und ihre Schritte lähmt (HS 51)“; „sie [...] wünschen sich an das Ende des Tages, sie wünschen sich den Duft und die Jugend des Dienstagabends. Niemals sind sie freier.“ (HS 47). Beide empfinden den Besuch als Albtraum, nach dem eine große Erleichterung, ein Gefühl der Freiheit eintritt. Sie begegnen dem Altern und dem bevorstehenden Tod mit Angst, Unsicherheit und Verzweiflung und ihren Eltern mit schlechtem Gewissen (HS 23). Zwischen Regina und Ernst entwickelt sich eine Liebesbeziehung, sie „umklammern sich“ fest gegen die Kälte des Heims (HS 77), wehren sich gegen die Angst vor dem Alter durch die körperliche Nähe, die ihnen die Möglichkeit gibt, sich für einen Abend, 13 14

Améry, Jean, Über das Alter. Revolte und Resignation, 6. Aufl., Stuttgart, 1997, S. 64. Küpper, Thomas, Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches Programm von 17501850, Würzburg, 2004, S. 11.

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eine Nacht erneut jung und lebendig zu fühlen (HS 78). Diese Möglichkeit des zweisamen Glücks, wird aber von den stetigen Gedanken an die Eltern, das Heim und die damit verbundenen Schuldgefühle zerstört. Selbst im gemeinsamen Urlaub, auf der anderen Seite des Erdballs stehen zwischen ihnen das Heim, seine Bewohner und besonders ihre Mutter und sein Vater (HS 99, 102), von denen sie sich nicht frei machen können (HS 99). Die Autorin wählte bewusst zwei Protagonisten im Heim, die sich nur noch schwer mitteilen können: Frau von Kanter sitzt im Rollstuhl, kann nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen und nur noch seltsame Laute von sich geben. Der Professor leidet an Alzheimer und vergisst oft selbst die Bezeichnung ganz banaler Gegenstände (HS 14), sodass ein Gespräch mit ihm fast unmöglich ist. In seinem Fall entspricht das Alter, indem es sich zunehmend mit dem Gedanken des Nicht-mehr-vorhanden-seins auseinandersetzt, einem allmählichen Sich-abhanden-kommen, auf das das Subjekt wenig Einfluss hat. Ein Verständnis mit den alten Leuten wird selbst für ihre Kinder, die auf sie einreden, aber enttäuscht feststellen müssen, dass sie in zwei verschiedenen Welten leben und sich meist missverstehen, schwierig. Dem Professor drängte sich manchmal „ein Grunzen auf seine Lippen, das sich zu einem Stöhnen und dann zu einem schrillen Jaulen ausweitete, und er konnte nicht mehr aufhören. [...], eingefroren in seinem Schrei.“ (HS 13). Die endgültige, fatale Situation ist auch ihm klar, was deutlich wird, als sich der Professor und sein Sohn Ernst bei einem Besuch anschauen, „bis der Professor die Wehmut seines Sohnes nicht mehr ertragen konnte“ (HS 14). Regina leidet unter der komplexbeladenen, schuldbewussten Beziehung (vgl. HS 99) zu ihrer Mutter und dem gegenseitigen Missverstehen. Den Aussagen der Tochter werden die Gedanken der Mutter gegenübergestellt: Frau von Kanter hebt die Fingerspitzen, um ihrer Tochter durch das Haar zu fahren; diese interpretiert, dass sie Durst habe, wodurch deutlich wird, dass selbst die Körpersprache nicht von der Tochter verstanden wird (HS 19). Im Text wird als Konfliktpunkt angedeutet, dass die Vereinnahmung der Tochter, die seit ihrer Kindheit unter der Autorität ihrer Mutter leidet, sich umkehrt und diese mit der Mutterrolle auch die Deutung über die Empfindungen und Wünsche der Mutter übernimmt.15 Das egoistische, liebelose, grausame Verhalten der Mutter raubt Regina viel Energie und treibt sie zu harten Äußerungen wie: „ich habe gebetet, daß sie stirbt. Ja. Daß sie tot umfällt. Auf der Stelle.“ (HS 118). Dies hat die Funktion zu zeigen, dass die Tochter, die enorme Abgrenzungsschwierigkeiten hat, weil ihre Mutter sehr dominant ist, sich auch als erwachsene Frau von ihr kontrolliert und für sie verantwortlich fühlt. Fraglich ist, ob die Tochter noch vor dem Tod der pflegebedürftigen Mutter mit ihr Frieden schließen kann, wie es im Roman Heißt lieben – hier werden die Schwierigkeiten einer Mutter-TochterBeziehung mit dem körperlichen und geistigen Verfall der Mutter geschildert. 15

Die Umkehrung der Rollen ist auch in den anderen Romanen zu beobachten. Vgl hierzu Hertwig, Harald, Ins Heim oder daheim, München, 2009, S. 15 ff.

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Sicher beinhaltet diese dargestellte Beziehung eine Warnung und Aufforderung, wenn die Autorin schreibt: „Vielleicht lassen wir ja unsere Mütter nicht sterben, sondern pflegen sie daheim oder in Heimen, weil wir keine toten Mütter brauchen, um uns mit ihnen zu versöhnen“.16 Der Roman liefert auf der Handlungsebene durchaus Verbindungs- und Annäherungsmöglichkeiten, die aber von den Protagonisten nicht wahrgenommen werden. Nicht nur die Alten sind unfähig sich mitzuteilen, auch die Jungen reden aneinander vorbei, verstehen sich nicht. In einer scheinbar federleichten Sprache, einem humorvollen Ton zeigt Annette Pehnt hier das Dilemma der heutigen Gesellschaft. Die Sprachlosigkeit der Eltern symbolisiert auch die Unfähigkeit ihrer Kinder sich mitzuteilen. Die Autorin zeigt aber ebenfalls die Einsamkeit und Beziehungsunfähigkeit der einzelnen Personen in unserer derzeitigen „jugendlichen“ Erfolgsgesellschaft, die an die Selbstverwirklichung im Beruf und ihre Freizeit denken, und das nicht nur im Heim. Annette Pehnt zeichnet zwei Protagonisten, die sich beide vor den ersten körperlichen Alterserscheinungen fürchten und dagegen ankämpfen. Sie möchten sich jung und sportlich halten, fürchten sich vor dem Besuch im Altersheim, weil sie in den Eltern sich selbst erkennen (HS 159, 160) und in unserer Gesellschaft das Alter keinen Platz mehr hat, die Alten eher als Störfaktor dargestellt werden. Bezeichnend ist der Satz Ernsts: „Bevor ich ins Heim gehe, bringe ich mich um.“ (HS 56). So steht auch am Ende des Romans die Neujahrsfeier im Heim, wobei zum Schluss die Pflegefälle auf ihren Zimmern, die dem Tod, dem Gewinner, schon sehr nahe sind, erwähnt werden. Als einzige positive Aspekte stellt die Autorin die Beziehung der Enkelin zum Großvater, dem Professor, und die Schäferstündchen zwischen Frau Hint und Herrn Lukan dar (HS 41), wobei diesen Szenen nur eine Nebenrolle zugeteilt wird.17

Das Altersheim als Ort der Erinnerungen. Ulla Hahn: Unscharfe Bilder Das Verständnis zwischen zwei Generationen wird in Ulla Hahns Roman Unscharfe Bilder angestrebt. Die Tochter möchte die Vergangenheit aufarbeiten, aber nicht die ihrer Vater-Tochter Beziehung, sondern sie möchte die Kriegserinnerungen ihres Vaters auffrischen, um dank eines Buchs die Wahrheit zu erfahren. Hans Musbach, 82 Jahre alt, der früher als Oberstudienrat die Fächer Alte Geschichte, Griechisch und Latein unterrichtete, verbringt seinen „Ruhestand“ in einer Senioren-Residenz mit Elbblick, in die er sich wie in eine „Festung“ (UB 9) zurückgezogen hat. Es ist für ihn „Das Haus der alten Leute […]; wie ein Bollwerk […], feste Burg für soviel bestandenes Leben, ein Bunker der Erinnerungen, letzter Sammelplatz (für all die Gedanken, die immer schneller davonflogen aus den alten Gehirnen […].“ (UB 29). Er fühlt 16 17

Schreiner, Margit, Heißt lieben, Frankfurt am Main, 2003, S. 47 f. Vgl. Das Alter, hg. v. Pat Thane, Darmstadt, 2005.

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sich im inneren Frieden mit seiner Zeit, hofft auf einen verdienten Altersfrieden (vgl. UB 28, 30). Seine Möbel hatte er teilweise mitnehmen können. „Er fand sich gut zurecht in dem großzügigen Haus am Hafen.“ (UB 9) Die vornehme Senioren-Residenz wird von Ulla Hahn positiver dargestellt, als es die anderen Autoren tun. Es ist der einzige Roman, in dem es scheint, als ob sich die Herrschaften dort wohl fühlten. Das einzige, was Hans Musbach fehlt, ist die Beziehung zur Jugend, die er als Lehrer immer hatte (vgl. UB 11), die er aber auch in seinem Haus oder bei seiner Tochter nicht möglich wäre. Er versucht dies durch die Dialoge mit seiner Tochter und seinen Büchern zu kompensieren. Sie bedeuten für ihn einen Rest an Lebensqualität, die Verbindung zu seinen bisherigen Gewohnheiten, seiner Lebensweise, und das sich über die anderen Insassen Hinwegheben können. Die Bücher werden zur Metapher, werden die Möglichkeit, eine besondere innere Realität zum Ausdruck zu bringen, z. B. den verursachten Verlust von Erfahrungen mit der derzeitigen Außenwelt, Leben und Lebendigkeit. Der Fotoband hat die Funktion, die Erinnerungen einer verdrängten, entfernten Vergangenheit wachzurufen. Sprache wird zugleich zum Ausdruck der Auflösung wie zum Medium der Bewahrung. Die damalige Lebenswelt verknüpft sich als untergegangene und verdrängte Vergangenheit in der bisherigen Erinnerung. Die Tochter drängt auf die Rettung dieser zum Untergang bedrohten Vergangenheit.18 Auch wenn das Heim als positive Lösung für das Alter dargestellt wird, wird doch das Alter selbst eher als negativ gezeichnet. An den gemeinsamen Mahlzeiten mit den anderen Heimbewohnern findet Hans Musbach wenig Gefallen, da sie nur an die Vergangenheit denken. Sie erscheinen ihm wie: „ein langsam vertrocknender Teich, dem der einst quellende Bach versiegt war; […].“ (UB 10). Die Heimbewohner haben keine Funktion in der Gesellschaft mehr und der Protagonist gibt zu bedenken: „Schon rechnet man ja wieder, ab welchem Alter es nicht mehr lohnt, den Menschen zu reparieren.“ (UB 92). Insgesamt erscheint die Zeit im Heim auch hier als ein Warten auf den Tod, angenehmer, ertragbarer beschrieben als in den anderen Romanen, allerdings nicht glücklich: „[...], wie er sich fühle? […] wie’s eben so ist, wenn die Zeit abläuft.“ (UB 16). Auch in der Senioren-Residenz gibt es verschiedene Pflegetrakte, Abstufungen hin zum Tod: Die Rüstigen genießen den Platz an der Sonne, am Fenster mit Blick, je schlechter die geistige Befindlichkeit, umso weiter hinten im Raum werden sie gesetzt, die Kranken sind auf ihren Zimmern (vgl. UB 12). Die Herrschaften werden, sobald sie bettlägerig werden, zu Patienten (vgl. UB 13). Sie sprechen oft über den Tod: „Starb einer, wurde der unter freundlichen Nachrufen ausgiebig zu Grabe getragen, in den Stimmen der leise bebende Triumph der Lebenden über die Toten, glücklich, diesmal davongekommen zu sein.“ (UB 13). Der Tod und die Zeit werden 18

Vgl. hierzu Täter als Opfer? Deutschsprachige Literatur zu Krieg und Vertreibung im 20. Jahrhundert, hg. v. Stefan Hermes und Amir Muhic, Hamburg, 2007.

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mehrmals von Ulla Hahn thematisiert: „Das Ticken der Uhr beherrschte den Raum. Der Knochenmann ließ die Sense klingen.“ (UB 275). Häufig denkt der Protagonist an seine Zukunft, den Tod und überlegt z. B. wem er seine Bücher hinterlassen wird (UB 194). Die Rollen scheinen sich vertauscht zu haben, die Tochter ist in die Rolle der Mutter des Vaters geschlüpft und hat den Vater in ihre „respektvolle Obhut“ (UB 16) genommen, versucht mit ordnenden Handgriffen und der Kontrolle der Befolgung der Anordnungen des Arztes ihre Pflicht zu tun.19 Wie ein Kind hält sie ihn lange im Arm, als er nach einer Erzählung zusammensackt (vgl. UB 250, 251). Er hat sich ihr schutzlos ergeben (UB 84). Es sind viele Parallelen zwischen beiden zu erkennen: Die Tochter, groß, schlank „ganz der Vater“ (UB 16), sieht wie er die Bücher als „die besten und verlässlichsten Freunde“ (UB 17). Wie ihr Vater lehrt auch sie am Gymnasium und lebt allein in einem Einzelappartement. Anders als in Das Haus der Schildkröten scheint die Tochter nicht ungern ins Heim zu kommen und das Verhältnis zu ihrem Vater sehr gut zu sein, bis zu dem Tag, an dem Katja glaubt, ihren Vater auf einem Foto, das die Erschießung russischer Zivilisten zeigt, erkannt zu haben und ihren Vater, mit Hilfe eines Fotobandes, zur Rede stellt. Die Lektüre dient als Anlass der Gespräche, als Zugang in die Welt der Vergangenheit, und Grundlage der Fantasietätigkeit anlässlich der Fotos. Ulla Hahns Buch wird hiermit Teil der Erinnerungsliteratur und stellt nicht nur die Altersthematik, sondern auch die Aufarbeitungsthematik des Zweiten Weltkriegs in den Vordergrund.20 Beim Erzählen der erlebten Kriegsereignisse wird auch ein Generationenkonflikt zwischen der Kriegsgeneration und ihren Kindern angedeutet: „Wie sollten sich Generationen verstehen, wie konnten sie einander überhaupt erklären, wenn Worte nur die Umrisse auf einem Reißbrett bleiben, nur etwas umschreiben, was von eigenen Erfahrungen niemals erfüllt werden kann?“ (UB 52). Die Welt der Vergangenheit, der Erinnerungen des Vaters nimmt Überhand, obwohl der Vater all die Jahre versucht hatte, genau dieses Unglück zu vergessen. Stellvertretend für die Soldatengeneration lässt ihn Ulla Hahn die Verdrängung und das Vergessenwollen der Grausamkeit und des Schreckens ansprechen: „Sein Unglück vergessen können ist die Hälfte des Glücks“ (UB 25). Man müsse aus dem Fluss Lethe trinken, so könne man seine frühere Existenz vergessen und werde wiedergeboren (vgl. UB 25). Das Verhältnis verändert sich, die Tochter verliert an Vertrauen und Glauben an den Vater, er empfindet sie als herrisch, ärgert sich über ihre herablassenden Bemerkungen (vgl. UB 26) und über ihren Ton ihm gegenüber (vgl. UB 259). Ein wichtiges 19 20

Vgl. Hertwig, Harald, Ins Heim oder daheim, a.a.O., 2009, S. 15 ff. Bei den meisten anderen Romanen der Erinnerungsliteratur wird die Altersthematik nicht in den Vordergrund gestellt: vgl. z. B. Täter als Opfer?, hg. v. Stefan Hermes und Amir Muhic, a.a.O.; Welzer, Harald, Moller, Sabine und Tschuggnall, Karoline, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main, 2002; Assmann, Aleida, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen Erinnerungsliteratur, Wien, 2006.

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Thema der Machtausübung der Kinder gegenüber den Eltern und der Hilflosigkeit der Eltern wird von Ulla Hahn angesprochen. Hierbei erwähnt sie auch das Fehlen von Geduld und die Gedanken an Gewalt: „Die Tochter war stärker als der Vater, viel stärker. Sie hätte ihn hinstoßen können, wegstoßen, liegenlassen können.“ (UB 148 f.). In Helga Königsdorfs Entsorgung der Großmutter werden diese grausamen Gedanken und die Macht der Kinder auch in die Tat umgesetzt, indem sie die an Alzheimer erkrankte Mutter, die zuerst von der Tochter zu Hause gepflegt wird, wie einen ungeliebten Hund aussetzen und erfrieren lassen. Der Respekt und die Ehre sowie Ratfunktion der Alten hingegen werden in keinem Roman erwähnt. Deutlich wird in diesen Zitaten aber das Schweigen nach allem Gesagten. Aus der Verbindung dieser Stille mit den gesprochenen Teilen, ergibt sich die Bereitschaft zur Aufklärung der Vergangenheit: „Lange saßen sie stumm. [...] Vater und Tochter rührten sich nicht von ihren Stühlen und schienen doch einander näher gerückt. Geduldig würden sie warten, bis sich die Worte einstellten.“ (UB 275). „Miteinander reden, die rechten Worte finden. Beide Seiten. Der Wahrheit so nah wie möglich. Das Reden würde nicht enden.“ (UB 276). Diese Sätze gelten nicht nur für die Aussprache mit dem Vater sondern auch mit ihrem Exfreund, dem sie nach dem Gespräch einen Brief schreibt. Die Probleme werden durch das Reden miteinander gelöst. Ulla Hahn zeigt, wie Tochter und Vater gemeinsam die Wahrheit der Vergangenheit und zueinander finden; wobei das Altersheim der Ort einer Annäherung darstellt und das Alter den positiven Aspekt aufweist, die Erinnerung für die nächste Generation zu bewahren. Denn im Altersheim befinden sich die letzten Augenzeugen der Kriegsgeschehen, die ihre Erinnerung mit sich tragen und jeder von ihnen leidet unter dem Wissen über sich selbst.21 Alle ‚Altenheimromane‘ haben gemeinsam, dass das Altenheim als letzter Wohnort der Eltern gezeigt wird, wobei die Einstellung aller Protagonisten mit einem Zitat zusammengefasst werden könnte: „Die Wunder des Lebens enthüllen sich als Vorbereitungen zu den großen Ernüchterungen. Am Ende steht die Vergreisung.“22 Interessanterweise wird nur in den Romanen Die Entsorgung der Großmutter, Heißt lieben und in Small World das heikle, in den Medien oft genannte Schuldthema, die alten Herrschaften bei den Kindern zu Hause zu pflegen, erwähnt. Angesprochen werden verschiedene andere Themenbereiche, wie von Ulla Hahn die Erinnerungsthematik an den Zweiten Weltkrieg (was schon mit dem Titel Unscharfe Bilder angedeutet wird), von Thomas Lang die Flucht aus dem Altersheim, in die alte Heimat und in den Selbstmord (deshalb der Titel Am Seil) und von Annette Pehnt eine Liebesgeschichte der Besucher des Hauses der Schildkröten. Dabei werden in den be21

22

Allerdings erscheinen mir einige Stellen des Romans nicht glaubwürdig und übertrieben, so z. B. der Streit (UB 259) oder der Besuch bei dem Psychoanalytiker. Jahnn, Hans Henny, Fluß ohne Ufer. Roman in 3 Teilen., 1. Teil: „Das Holzschiff“, Hamburg, 1986, S. 41.

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handelten Romanen kaum klassische Motive des Alters (Figuren der Alten) aufgegriffen, weder das Alter als Übergang in die Narrheit noch der Zwist um Erbschaft und Macht wie in König Lear, noch die Ehrpreisung der Würde, Weisheit des Alters, sondern es werden einheitlich das menschenunwürdige Leben im Altersheim, der Verfall, die Altersschwäche, die Entsagung und die Beziehung Vater/Mutter zu Tochter oder Sohn und ihre Schwierigkeiten der Verständigung in den Mittelpunkt gestellt. Angedeutet wird ‚der verliebte Alte‘ in Am Seil, wo der Patient in die Pflegerin verliebt ist und in Das Haus der Schildkröten durch Frau Hint. Einzelne Szenen nehmen das Thema der Verjüngung auf. In Am Seil färbt sich ein Heimbewohner anfangs noch die Haare, um jung und sportlich zu erscheinen. Bevor er sich alt fühlt, möchte er lieber tot sein, denn sonst glaubt er, keinen Wert mehr für seine Umgebung und die Gesellschaft zu haben. Aber diese Themen bleiben immer im Hintergrund. Interessant ist hierbei, dass die Rolle der alten Frau insgesamt eine Aufwertung in der Literatur erfahren hat.23 Im Vergleich zur traditionellen Gattung des Familienromans kann man eine Veränderung der Erzählstruktur in Beziehung zur Veränderung der Raum-Zeit-Beziehung erkennen. Das Altersheim – wie auch die Intensivstation eines Krankenhauses – wird als Örtlichkeit außerhalb der Zeit dargestellt, als Ort jedoch, der in Bezug zu einem anderen Ort, in einer anderen Zeit steht. Dieser Ort, mit seiner eigenen Welt, wird zu einem Bannkreis, der die Insassen, Patienten nur in seltenen Fällen wieder freigibt.24 In den Werken wird die Vereinsamung unserer heutigen Gesellschaft, die Entfremdung und die Traurigkeit, Sinnlosigkeit, Verlust aller Werte, Glauben, Hoffnungslosigkeit dargestellt, wobei interessanterweise der Tod der Protagonisten nicht direkt beschrieben wird, die Bücher enden zuvor. Er ist aber trotzdem in allen Romanen stets gegenwärtig, beinhaltet aber nicht mehr, wie es früher oft der Fall war, eine christliche Sichtweise, die Erlösung im Jenseits. Das Vorwort von Haus der Schildkröten könnte für alle Romane als Motto stehen: Unser zukünftiges Nicht-mehr-da-Sein sitzt und geht und steht neben uns …25

Dargestellt wird von den Autoren nicht nur die Angst vor dem Tod und die Einsamkeit der Heimbewohner, sondern auch die ihrer Kinder, die entweder 23

24

25

Göckenjan, Gerd, Taeger, Angela, „Matrone, Alte Jungfer, Tante. Das Bild der alten Frau in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts“, in: Archiv für Sozialgeschichte 30 (1990), S. 4379 (hier S. 45); Seidler, Miriam, „Zwischen Demenz und Freiheit – Überlegungen zum Verhältnis von Alter und Geschlecht in der Gegenwartsliteratur“, in: Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, hg. v. Heike Hartung u. a., Köln, 2007, S. 196. Vgl. hierzu Ricoeur, Paul, Zeit und literarische Erzählung, in: ders., Zeit und Erzählung, Bd. 2, München, 1989. Genazino, Wilhelm, Die Belebung der toten Winkel, zitiert nach: Pehnt, Annette, Haus der Schildkröten, a.a.O., S. 5.

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als Single, geschieden oder allein leben; wodurch nicht nur das Alleinsein, sondern auch die Parallelen zu den Heimbewohnern hervorgehoben werden und es wird die Angst der jüngeren Generation vor ihrem eigenen Zerfall und der Heimzukunft thematisiert. Diese Furcht, die Verzweiflung und Unsicherheit angesichts des Todes, wird distanzlos und manchmal grausam in Worten artikuliert und die Macht der Kinder über die Eltern gezeigt. Ein Hauptanliegen der Autoren ist auch, das Unvermögen des gegenseitigen Verstehens auszudrücken, aber am Ende der Romane steht auch der Wunsch beider Generationen zur Verständigung. Im Altenheim ergibt sich somit neben der Resignation auch eine Möglichkeit zur Annäherung, eine Chance zur Aussöhnung und Erinnerung der eigenen Familiengeschichte. Auffällig, bedenklich ist aber, dass das Alter in allen behandelten Texten als negative, passive Phase, als ein Warten auf den Tod dargestellt wird. Könnte Literatur aber nicht auch positive Möglichkeiten und andere Lösungen für das Alter bieten? Schon Bertolt Brecht schuf mit der unwürdigen Greisin eine moderne Gegenfigur zu der kränklichen, schwächlichen konservativen Alten und Ingrid Noll lässt zwei alte Damen in Ladylike (2005) eine FrauenWG gründen und zu einer Reise aufbrechen. Hans-Georg Pott bemerkt: „Der literarische Altersdiskurs thematisiert die Vielfalt und Differenziertheit von Lebensformen und sozialen Milieus. [...] Und gerade deshalb ist Literatur deskriptiv und explikativ aber nicht normativ. [...] eher im Gegenteil Normen verletzend, überschreitend, negierend [...] eröffnet Freiheitsgrade, Spielräume des möglichen jenseits der herrschenden Diskurse und der Diskurse der Herrschenden.“26 Dieses Zitat scheint Daniel Kehlmann befolgt zu haben, indem er in seiner Erzählung Rosalie geht sterben, in der eine alte Dame in die Schweiz fährt, um ein Sterbezentrum aufzusuchen, als Autor eingreift, zu der Protagonistin spricht und sie vor dem Tod rettet und wieder jung werden lässt.27 Wichtig wäre die erneute Aufwertung des alten Menschen auch im Roman, wie er in der Antike gesehen wurde (seit Homers Nestor galt die Weisheit als Kennzeichen des Alters),28 denn gerade „die potenziellen Ressourcen älterer Menschen für die Gesellschaft werden in der öffentlichen Diskussion oftmals übersehen“.29 Der Roman könnte zu einem Wegweiser einer positiveren Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Alters werden. Autoren könnten einen radikalen Blickwechsel vornehmen30 und eine positive Veränderung des Altersbildes bewirken.

26 27 28 29 30

Pott, Hans-Georg, Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen, München, 2008, S. 179. Kehlmann, Daniel, Rosalie geht sterben, in: ders., Ruhm, Hamburg, 2009, S. 75. Vgl. Bachmaier, Helmut, Das Altern in der Literatur, a.a.O. Pott, Hans-Georg, Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen, a.a.O., S. 180. Vgl. Gross, Peter, Fagetti, Karin, Glücksfall Alter. Alte Menschen sind gefährlich, weil sie keine Angst vor dem Alter haben, Freiburg im Breisgau, 2008.

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MARTIN HIELSCHER

Kontinuität und Bruch der Genealogie. Die Inszenierung archaischer Familienstrukturen im Roman der ‚Migranten‘ Wenn aber Familien heute in Wirklichkeit kleiner werden, wenn sie nur noch zwei Generationen, oft auch nur zwei Personen umfassen, werden dann auch die Familiengeschichten kürzer, brüchiger, unzusammenhängender? Gibt es mit dem Kleinerwerden der wirklichen Familien ein verstärktes Bedürfnis nach großen, umspannenden Familiengeschichten? Marcel Beyer1

Die auffallende Renaissance des Familien- und Generationenromans in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, für die vermutlich auch Jonathan Franzens Welterfolg, der Roman Die Korrekturen, ein Auslöser gewesen ist, rückt eine Differenz in den Blick, die sich innerhalb der deutschsprachigen Literatur zwischen den Romanen deutscher und, was ihre Abkunft anbelangt, nicht-deutscher Autoren ausmachen lässt. Die vielen zuletzt erschienenen Romane und autobiografischen Berichte bzw. Erinnerungsbücher, die NSGeschichte als Familiengeschichte behandeln, zeugen von der Problematik genealogischen Erzählens in der deutschen Literatur nach 1945. Die Generation der Väter und Großväter, Mütter und Großmütter ist für diejenigen, die erzählen – erst sind es die Kinder, dann verstärkt die Enkel –, belastet, stigmatisiert, zweifelhaft, oft wird als Familiengeheimnis enthüllt, was zu befürchten war: Dass man es mit Tätern und Mitläufern zu tun hat, mit Menschen, die an unvorstellbaren Verbrechen teilgenommen oder sie gebilligt, die weggeschaut und verdrängt haben. Waren die diesem Thema gewidmeten Bücher zunächst Zeugnisse der Anklage und des Verwerfens, so sind sie mittlerweile eher Dokumente des Fragens und Suchens, des Versuchs einer Erklärung, eines Verständnisses geworden, das, jedenfalls in den meisten Fällen, keineswegs Schuld und Verstrickung in Abrede stellen will. Aber es bleibt die Hürde für die deutschen Autorinnen und Autoren, dass eine Versöhnung mit der Familiengeschichte – und damit die Erzählbarkeit der Familie – nur über eine Art schmerzhaften Zeugnisses möglich ist. Man kann sich in die Familiengeschichte nur einreihen, indem man gleichzeitig gewissermaßen mit ihr bricht.

1

Beyer, Marcel, „Vorsprechen, einreden, unterhalten, verschweigen“, in: Experiment Wirklichkeit. Renaissance des Erzählens? Poetikvorlesungen und Vorträge zum Erzählen in den 90er Jahren, hg. v. Gerd Herholz, Essen, 1998, S. 15.

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Die sogenannten Migrantenautoren – beispielhaft seien hier Alina Bronsky, Dimitré Dinev, Sherko Fatah, Catalin Dorian Florescu, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu genannt – die seit Beginn der 90er in immer stärkerem Maße die deutschsprachige Literatur prägen und inzwischen nicht selten die erfolgreicheren Bücher schreiben, inszenieren in ihren Romanen ein etwas anderes Generationenverhältnis. Das beginnt schon mit der Rolle der oralen Erzähltradition in diesen Büchern. Ihre Ästhetik ist von einer kunstvollen Artistik der gesprochenen Sprache geprägt, ja Zaimoglu erfindet mit der sogenannten „Kanak Sprak“ geradezu einen eigenen Jargon der Mündlichkeit türkischer Migranten und ihrer Nachkommen in Deutschland. Diese Mündlichkeit kann aber auch noch einen anderen, ganz buchstäblichen Hintergrund haben. In den Berichten und Reflexionen, den Romanen und Erzählungen deutscher Autoren seit 1945 wird immer wieder auf das Phänomen des ‚Schweigens‘ in den Familien hingewiesen, was einerseits heißt, dass in diesen Familien tatsächlich über die Verstrickung in den Nationalsozialismus und etwaige Kriegsverbrechen, an denen man teilgenommen hat, nicht gesprochen oder andererseits so obsessiv über den eigenen Opferstatus als Vertriebene oder Bombenopfer geredet wurde, dass der schuldhafte Anteil an den Schrecken der Geschichte ebenfalls in einer Art sekundärem Schweigen versank. In den Migrantenfamilien aber wird umgekehrt gerade über die Familiengeschichte gesprochen und erzählt, um sich der eigenen Geschichte in der ‚Fremde‘ zu vergewissern und um sich eine neue komplexe, hybride Identität konstruieren zu können – man ist weder, selbst wenn man die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, in konventioneller Weise ‚Deutscher‘, noch ist man mehr der Rumäne, Bulgare, Türke, der man, als die Eltern oder Großeltern ihr Land verließen, noch war, noch sind die in Deutschland geborenen Kinder und Enkelkinder von Einwanderern von ihrer Abkunft ungeprägt, können aber auch nicht mehr einfach in ihren ‚Ursprungsländern‘ als ‚normale‘ Bulgaren, Rumänen, Türken durchgehen. Man muss sprechen und erzählen, um herauszufinden, wer man überhaupt ist oder sein könnte. Das fundamentale Misstrauen, dass ein deutscher Autor etwa der Großvätergeneration entgegenbringen muss, fällt bei den Migranten aber eher weg. Ein deutscher, nicht-jüdischer, nicht-kommunistischer oder -sozialistischer Großvater dagegen war in den meisten Fällen irgendwie verstrickt, womöglich ein gläubiger Anhänger des NS-Systems, bestenfalls ein unpolitischer Mitläufer. Typisch für diese Empfindung ist eine Stelle aus dem ersten Kapitel von Christian Krachts Roman Faserland (der Titel ist u. a. eine Verballhornung von „Fatherland“), wobei der ganze Roman auch eine Auseinandersetzung mit Deutschland als einem von dieser Großväter- und Großmüttergeneration gezeichneten Land ist: Kurz hinter dem Kampener Ortsschild überfährt sie um ein Haar einen Rentner, der dort über die Straße läuft und das Auto nicht kommen sieht. Der Rentner trägt ein Cordhütchen und ein auberginfarbenes Blouson, und er schimpft wie

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ein Berserker hinter uns her, und ich sage zu Karin, daß das sicher ein Nazi ist, und Karin lacht.2

Tanja Dückers erzählt in dem symptomatischen Roman Himmelskörper3 aus der Sicht ihrer Protagonistin Freia, wie die schuldhafte Verstrickung der Großeltern in Nationalsozialismus und Krieg erst jahrzehntelang verschwiegen und dann nach ihrem Tod in vollem, quälenden Umfang deutlich wird. In Romanen von Ilija Trojanow oder Dimitré Dinev dagegen sind umgekehrt die Großeltern bzw. der greisenhafte Patenonkel geradezu wegweisende Figuren der Rettung. Das orale Erzählen in diesen beiden Romanen hängt, wie bei den anderen Autoren, die wir in den Blick nehmen, ganz unmittelbar mit der Herkunft aus dem osteuropäischen Raum oder aus der arabischen bzw. kleinasiatischen Einflusssphäre zusammen, Oralität ist schlicht eine Realität ihrer Erfahrungswelt. In dem exemplarischen Roman Engelszungen4 von Dimitré Dinevs wird sie, ähnlich wie in dem Debütroman des ebenfalls aus Bulgarien stammenden Ilija Trojanow Die Welt ist groß und Rettung lauert überall,5 auch inszeniert als lebensrettendes und Identität stiftendes Verbindungselement zwischen der Großväter- und der Enkelgeneration. Dabei wird auch die Verbindung zu den Toten nicht gekappt, wenn z. B. in Dinevs Roman die Großmutter des einen Protagonisten sich regelmäßig am Grab ihres verstorbenen Mannes Rat von ihm holt. Dimitré Dinev erzählt die Geschichte von Iskren Mladenov und Svetljo Apostolov, die sich zufällig am Ende des Jahres 2001, beide sind in Schwierigkeiten, auf dem Wiener Zentralfriedhof vor dem Grab des Serben Miro begegnen. Sie wissen nicht, wie sehr ihre Lebensläufe – beide stammen aus Plovdiv – von jeher aufeinander bezogen waren. Dinev erzählt in Engelszungen einen zeitgenössischen Schelmenroman und lässt dabei die Familiengeschichte der Apostolev wie die Geschichte des bulgarischen Sozialismus Revue passieren; es gelingt ihm, die Realität des bulgarischen Systems mit all den Begleiterscheinungen dieser Art realsozialistischer Regimes aus der Lebens- und Familiengeschichte seiner Figuren heraus so in den Roman einfließen zu lassen, dass diese Stränge der Genealogie und der Macht weder deckungsgleich aufeinander abbildbar sind, noch zusammenhanglos nebeneinander herlaufen. Eindrucksvoll zeigt der Roman, wie in den sozialistischen Staaten mit dem Zerfall der traditionellen Gesellschaft auch die Familien zerfielen, wie aber durch das Bündnis der Generation vorm Sozialismus mit der danach eine Gegenmacht entsteht. Ihre Kräfte sind in der Realität äußerst schwach, und doch werden so die Mittel zur Verfügung gestellt, mit deren Hilfe jener Welt der Widrigkeiten begegnet werden kann.

2 3 4 5

Kracht, Christian, Faserland, Köln, 1995, S. 22, siehe auch S. 99 f. Dückers, Tanja, Himmelskörper, Berlin, 2003. Dinev, Dimitré, Engelszungen, Wien/Frankfurt am Main, 2003. Trojanow, Ilija, Die Welt ist groß und Rettung lauert überall, München, 1996.

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Die Väter von Iskren und Svetljo sind Vertreter des Systems, die Mütter mehr oder weniger schwache Opfer, und so sind es die Großeltern, die, gerade weil sie marginalisiert und machtlos sind, Werte und Perspektiven jenseits des sozialistischen Machtapparats vermitteln können. Der Romantitel Engelszungen meint sowohl die Macht der Sprache, die beides, Poesie und Propaganda, sein kann, verweist darüber hinaus aber auch auf eine erotische und eine religiöse Dimension. Der christliche, jüdische oder okkulte Glaube steht im Roman für ein kollektives, tradiertes Wertesystem, ein System von Ritualen, Regeln und Geschichten, aber auch für den Trost, dass man behütet wird, dass jemand über einen wacht. Eben das repräsentiert auch der tote Miro, der Engel der Wiener Migranten, zu Lebzeiten ein Mafioso und Zuhälter, der am Ende von einer späten Erleuchtung ergriffen und moralisch geläutert wird. Der Roman lässt aber keineswegs das alte religiöse Bewusstsein über das wieder aus der Geschichte vertriebene kommunistische System triumphieren. Die Engelszungen sind selbst die Sprachen der Überlieferung, der bildhaftarchaische und schlitzohrig-überlebenspraktisch angereicherte Strom des Erzählens, der den Hauptfiguren durch die Gefährdungen ihres Lebens hilft und dem Roman seinen Humor verleiht, wobei die Zumutungen, Gefahren und Ungerechtigkeiten, denen sein Personal ausgesetzt ist, nicht verschwiegen werden. Engelszungen nimmt seine Helligkeit, seine beglückende Zuversicht, die erzählerische Kraft vom Überleben her, es ist eine Geschichte des SichRettens und Gerettet-Werdens. Dazu gehört wohl, dass die historische Schuld, die hier im familiären Zusammenhang verhandelt und weitergereicht wird, bei weitem nicht so schwer wiegt, wie die in der deutschen Geschichte. Ilija Trojanows Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall macht sich die Perspektive der Figur des greisenhaften Bai Dan zu eigen, eines wagemutigen Spielers, Lesers und Erzählers, der wie ein afrikanischer Griot Magier und Erzähler, Lehrer und Familiengedächtnis zugleich ist. Dieses Erzählen ist bilderreich und anekdotisch, dialogisch und teppichhaft-ornamental. Die Haltung des Romans ist anti-melancholisch: Das ganze Bemühen des alten Bai Dan, seinen an einer seltsamen Krankheit dahinsiechenden Neffen zu heilen, ist nichts anderes als die Metapher für das Verhältnis, das dieser Roman zur melancholiegesättigten deutschsprachigen Literatur einnimmt. Wie Dinevs Engelszungen erzählt das Buch eine Geschichte der Flucht, der Rettung und des Lebens im Exil, und auch hier wird dieses Exil als krisenhaft und gefährlich beschrieben, aber stärker noch als bei Dinev wird die Erfahrung Alexandar Luxows, des Neffen Bai Dans, der an der „Oblomowitis“ leidet, als Verlust dargestellt. Die ungenannte Stadt in einem maroden Balkanstaat, in dem der Roman beginnt und endet, bleibt immer auch ein Sehnsuchtsort. Erst durch des neunundneunzigjährigen Bai Dans beherztes Einschreiten und die gemeinsame Reise von Onkel und Neffe nach Monte Carlo, Paris, London und rund um die Welt wird Alexandar von seiner Krankheit geheilt und kann wieder weiterleben und ‚erzählen‘.

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KONTINUITÄT UND BRUCH DER GENEALOGIE

Sind hier die Eltern selbst Opfer des oppressiven Systems, aus dem sie mit dem kleinen Sohn fliehen konnten, so können sie ihm anschließend im ‚gelobten Land‘, dem Westen, offenbar irgendwann nicht mehr helfen. Ihr Widerstand hat sie womöglich zugleich auch verbraucht. Der Neffe bedarf des greisen Bai Dans, um über die Generationen hinweg eine ‚ältere‘ Perspektive zu gewinnen. Was bei Dinev die Bedeutungsvielfalt der „Engelszungen“ war, ist in Trojanows Roman das Würfelspiel, das Erzählen und Reisen. Wenn Bai Dan Tag für Tag an jenem Ort in den Bergen stundenlang in einer längst geschlossenen Bank sitzt und einer geheimnisvollen Tätigkeit nachgeht, von der man erst am Ende Genaueres erfährt – er hat alle die Jahre, Tage und Stunden gelesen –, dann erscheint als Gegenmodell zum ‚Gelobten Land‘, in dem Alexandar trotz des Gewinns der Freiheit am Ende krank wird, ein Ensemble von Tätigkeiten, die den kapitalistischen Lebensmodellen und der protestantischen Ethik, den Konzepten der Bereicherung, des Fleißes, einer beflissenen Tüchtigkeit und von den Fesseln der Tradition befreiten Umtriebigkeit, also einem beschwingten Utilitarismus, allesamt widersprechen. Die Entzauberung, Entwertung, Ent-Traditionalisierung der Welt gilt sowohl für den Sozialismus als auch für den Kapitalismus, nur dass das westliche System aus vielen bekannten Gründen effektiver und erfolgreicher darin war und ist. Anscheinend bedarf es älterer Künste, um dieser Entzauberung trotzen und weiter ‚erzählen‘ zu können, was Alexandar durch die Reise mit Bai Dan wieder erlernen soll und wofür der farbige und anekdotische Reichtum von Trojanows Roman selbst einsteht. Eine zentrale Rolle kommt im Roman dem Würfeln zu, der Würfelwurf konstituiert die Form des Romans und ist zugleich Thema, es stellt eine der Hauptbeschäftigungen des Spielers Bai Dan und seiner Freunde im Caféhaus dar und wird auch ein Teil der Beziehung zwischen Bai Dan und Alexandar. An einer entscheidenden Stelle kommt das Gespräch zwischen den beiden aufs Würfeln, und Bai Dan widerspricht Alexandars Meinung, Würfeln sei „reinster Zufall“: Dann erkläre mir doch bitte, wo beim Würfeln der Zufall liegt. Hast du nicht alles in der eigenen Hand. Hängt es nicht von dir ab, mit welcher Kraft du wirfst, in welchem Winkel zum Brett du losläßt, welche Zahlen am Anfang oben stehen. Das hat mit Zufall wenig gemein, stimmst du mir zu? Und wenn du die Oberfläche, auf der die Würfel rollen, und die Beschaffenheit der Würfel kennen würdest, dann könntest du den Wurf berechnen. Du könntest dich mit allen Voraussetzungen seiner Entscheidung vertraut machen. Eine gewisse Geschicklichkeit und Erfahrung natürlich vorausgesetzt. Verstehst du, was ich dir sage? Anstatt herumzujammern, solltest du dich etwas mehr mit diesem Spiel beschäftigen.6

Man denkt an Mallarmés Gedicht Un coup de dés (Ein Würfelwurf) und an die philosophische Maxime, nach der Gott nicht würfle – wobei Bai Dans Gott 6

Ebd., S. 226.

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wohl eher ein Würfelspieler wäre, nur eben der geschickteste und erfahrenste von allen. Was Bai Dan seinem Neffen und Patenkind hier erläutert, ist eine Mischung aus Ästhetik und Lebenskunst, eine Art Zen des Würfelspiels, die ernsthafte Beschäftigung mit etwas, das man als reinen Zeitvertreib abtun könnte und das doch ins Wesen der Dinge führt, zur Einsicht, dass es Regeln und Gesetze gibt, nach denen die Dinge selbst funktionieren und die man, wenn man sich ihnen hingibt, erlernen kann, wobei man wahrscheinlich so alt wie Bai Dan werden muss, um all das zu beherrschen, was man wissen muss, um einen perfekten Würfelwurf ausführen zu können – auch eine Empfehlung an den deprimierten und paralysierten Alexandar, den Weg zurück ins Leben zu finden. Zugleich ist das Würfeln ein ebenso archaisches wie technisch simples Spiel und eine Weltmetapher obendrein. Dass Bai Dan eine abgewickelte Bank quasi zur Bibliothek umfunktioniert hat, dass sein perfektioniertes Würfelspiel zu einem Mittel der Sinnsuche wird – ähnlich wie das Reisen –, widerspricht den Gesetzen der Produktion und Akkumulation, einer Vernunft, die im Spiel, im scheinbar müßigen Tun, nur ihr sinnloses Gegenbild sieht. Aber Bai Dan tut alles Menschenmögliche, um Alexandar zurück ins Leben zu holen, um ihm seine Lehre zu übermitteln, ihm eine Zukunft zu verschaffen, und somit ist auch Trojanows Roman keine rückwärtsgewandte Verklärung, sondern ein utopisches, zukunftsorientiertes Märchen. Feridun Zaimoglus Roman Leyla7 weicht in signifikanter Weise von den beiden vorher genannten Büchern ab und bestätigt zugleich das auf Kontinuität angelegte Familienmodell der hier angesprochenen Romane nicht zuletzt in seiner Sprache. Das Archaisierende dieser Texte liegt, auch wenn sie sich verschiedener Sprachebenen bedienen, in einer parataktischen Ästhetik des Nebeneinanders unterschiedlicher Sprachwelten, der Technik des ‚Übersetzens‘ – der wörtlichen Übersetzung etwa bulgarischer, türkischer oder rumänischer Redewendungen und Metaphern ins Deutsche –, einer märchenhaft-szenischen Inszenierung des Erzählten, einer sinnlichen und religiösen Aufladung, dem Gestus des teppichhaft Ornamentalen, der Mündlichkeit, der Fülle, auch des Additiven, mit dem diese Bücher arbeiten. Selbst da, wo wie bei Zaimoglu in Leyla anhand der Hauptfigur die Geschichte wiederum einer Emigration erzählt wird, aber dabei – anders als bei Dinev und Trojanow – kein Rückgriff auf die vorherige Generation den Abschied von den Eltern abfedert und aufhebt, wird nicht mit der Familie und ihrer Geschichte gebrochen. Es ist eher so, dass das in der Familiengeschichte aufgehobene Versprechen eines sinnlichen Glücks gegen seine von der Tradition und der Religionsmoral erzwungene Unterdrückung nun in der Fremde gesucht wird. Leyla erzählt die Geschichte einer Emanzipation. Der Roman erzählt gleichzeitig von der Unterdrückung und der Verletzung der weiblichen Sexualität. Es ist das Versprechen ihrer Restitution, dem der Text seine sinnliche Schönheit, seine erotische Aufgeladenheit verdankt. Man 7

Zaimoglu, Feridun, Leyla, Köln, 2003.

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könnte sagen, dass das Motiv sexueller Sehnsucht durch die Generationen der Frauen weitergereicht wird und immer stärker nach Erfüllung drängt, bis es endgültig eine Lösung einfordert, für Leyla durch die Emigration, für ihre Freundin Manolya durch einen äußerst gefährlichen Bruch mit der Konvention. Das sexuelle Begehren durchzieht als Thema den Roman von Anfang bis Ende und verbindet die Figuren untereinander, erscheint als eigentliches Motiv ihres Handelns, wobei die Frauen in Wirklichkeit ohnehin schon eine sehr viel stärkere Rolle spielen als die ihnen offiziell gesellschaftlich zugedachte. Am Ursprung der in der Familie herrschenden Gewalt – ausgeübt vor allem durch Leylas Vater Halid Bey – liegt das sexuelle Verhängnis der Vergewaltigung von Leylas Mutter Emine in einem tschetschenisch-russischen Scharmützel, bei der Halid zusehen musste. Scham, Schuld und Schande werden durch einen Kreislauf der Gewalt, des Betrugs und Stillhaltens weniger bewältigt als traumatisch wiederholt, es gibt weniger eine Lösung, als vielmehr Fluchten. Aber was der Roman in seiner Sprache wie in der Bewusstseinsstruktur seiner Figuren vermittelt, ist eine ungebrochene Sinnlichkeit und „Intensitäten“8, bei denen aus dem Fundus der Tradition, auch der religiösen, vitale und schöpferische Kräfte freigesetzt werden und erhalten bleiben, auch in der Konfrontation mit der als nüchtern erlebten Fremde in München etwa: Mir fallen die Frauen auf, die ohne männliche Begleitung in der großen Bahnhofshalle unterwegs sind, sie schreiten auf hohen Absätzen voran, als kennten sie ihr Ziel genau. Ich bewundere ihren blassen Teint, ihre zu Turmfrisuren hochgesteckten Haare, ihre Halstücher in schreiend bunten Farben. Sie gehen an den Männern achtlos vorbei, die Männer schauen ihnen nicht nach... ich will dieses Land lieben, weil es vermißt werden will. Ich werde den Wolf streicheln, und er wird vielleicht die Hand nicht beißen, die ihm über das Rückenfell fährt.9

Das familiäre Projekt, das hier aus der Vergangenheit, auch vermittelt durch die den Rahmen des Romans bildende Wolfsmetapher, in die Zukunft weitergereicht wird, ist der prekäre Versuch, eine animalische Sinnlichkeit, die gefeiert wird, zugleich von der immer darin schwelenden Gewalt und der Unzähmbarkeit zu befreien, ein Projekt, das offenbar in den Händen der Frauen besser aufgehoben ist als in denen der Männer und in der Fremde einstweilen eher als in der alten Heimat. Ganz ähnlich wie Zaimoglus Roman Leyla stellt Catalin Dorian Florescu in seinem Roman Zaira10 die Lebensgeschichte einer Frau in den Mittelpunkt, hier von der Geburt bis ins hohe Alter, in beiden Fällen liegen reale Lebensgeschichten zugrunde, bei Zaimoglu die seiner Mutter, bei Florescu die einer rumänischen Puppenspielerin, die tatsächlich Zaira heißt. Zairas im Roman 8

9 10

Vgl. Littler, Margaret, „Profane und religiöse Intensitäten: Die islamische Kultur im Werk von Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu“, in: Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, hg. v. Helmut Schmitz, Amsterdam/New York, 2009, S. 143-154. Zaimoglu, Feridun, Leyla, a.a.O., S. 524 f. Florescu, Catalin Dorian, Zaira. Roman, München, 2008.

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erzähltes Leben umfasst von ihrem Geburtsjahr 1928 bis in die Gegenwart das dramatische zwanzigste Jahrhundert mit seinen Kriegen und Systemwechseln, Unterdrückungen, Fluchten und Befreiungen. Zaira wächst auf dem Gut einer rumänischen Großgrundbesitzerfamilie auf, aber da sich ihre Eltern nicht um sie kümmern, weil sie zu sehr mit ihrem eigenen Leben und ihren Interessen beschäftigt sind, wird sie von ihrer Großmutter und ihrem Cousin erzogen. Und wieder ist es so, dass der Charakter und die Werte der ursprünglich katalanischen Großmutter in Zusammenhang mit der Theaterfreude des Cousins eine alles überdauernde und in die Zukunft weisende Gegenwelt zur Generation der Eltern bilden, die letztlich mit dem Systemwechsel vom Feudalismus über den Faschismus zum Kommunismus irgendwie gemeinsam fertig werden, aber der Tochter nicht die wirklich entscheidende Prägung geben können. Der Stolz der Großmutter lebt in der Unbeugsamkeit und Unangepasstheit der Enkeltochter weiter, die in ihrem Leben einige Katastrophen zu überstehen hat – die schlimmste ist wohl der Betrug ihrer Tochter mit Zairas eigenem Mann. Wie in Zaimoglus Roman sind die beherrschenden, sie das Leben lehrenden Figuren in Zairas Dasein die Frauen, die Großmutter, die Tante, der Cousin, den sie wie eine Frau erlebt, und erst an vierter Stelle die eigene Mutter. Zentrales Motiv ist hier das Theaterspiel – das Zauberische, Märchenhafte, Kulissenhafte und auch Typisierende der Commedia dell’Arte und des Marionettentheaters – das zugleich zur Weltmetapher wird, so wie bei Ilija Trojanow das Würfelspiel. Die Rettung in diesem Roman, der vor allem auch ein großer Liebesroman ist – denn die alte Zaira kehrt nach Jahrzehnten des Exils in den USA als alte Frau wegen ihrer großen Liebe, dem noch älteren Säufer und Puppenspieler Traian, ihrem ehemaligen Lehrmeister, in das inzwischen postsozialistische Rumänien zurück – liegt im Alter selbst, der Fähigkeit auszuharren und, wie auch immer ramponiert, zu überdauern. So wie das Land Rumänien selbst, heruntergekommen, abgewirtschaftet und tief beschädigt, sich an eine archaische Vitalität klammert, für die im Roman das Fluchen steht, so bleibt Zaira in der Spur ihrer großen Liebe, die sie zum alten Traian zurückführt, als sei sie nur eben mal Zigaretten holen gegangen. Zairas eigene Familien, die Herkunftsfamilie und die, die sie selbst gegründet hat, sind zerfallen und gescheitert, aber sie selbst ist das geworden, was ihr in der Person der Großmutter Kraft gegeben hat, eine alte, unbeugsame und doch liebesfähige Frau: „Du? Wo warst du so lange?“.11 Alina Bronskys Roman Scherbenpark12 ist insofern eine neue Variante des Themas der Inszenierung archaischer Familienstrukturen im Migrationsroman, als die Gewalt, die bei der Zerstörung traditioneller Formen der Familie freigesetzt wird, hier mit brutaler Direktheit ausagiert und beantwortet wird, bis in die Sprache und den Plot des Romans hinein, der mit der Ankündigung: „Ich will Vadim töten.“ beginnt und mit einem Steinhagel endet, den die Protago11 12

Ebd., S. 478. Bronsky, Alina, Scherbenpark, Köln, 2008.

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nistin Alexandra („Sascha“) Naimann heraufbeschwört und bei dem sie schwer am Kopf verletzt wird. Die Gewalt ist omnipräsent und wird sowohl innerhalb der deutsch-russischen Aussiedlergemeinschaft virulent – das Hochhausgetto, in dem die Naimanns wohnen, der „Solitär“, ebenso wie der titelgebende Jugendtreff „Scherbenpark“ sind Kristallisationspunkte der Gewalt –, als auch zwischen Aussiedlern und immer schon ansässigen Deutschen, und die Erzählerin setzt selbst Gewalt ein und erleidet sie. Die Eltern sind keine zuverlässigen Vor- und Leitbilder mehr, die vom Stiefvater aus Eifersucht ermordete Mutter wird aus Verzweiflung und Trauer zugleich ob ihrer unbelehrbaren, emotionalen „Dummheit“ gescholten, der Stiefvater soll bloß noch beseitigt werden, die als Mutterersatz aus dem fernen Sibirien herbei geeilte Cousine des Stiefvaters Maria wirkt der 17-jährigen, hochbegabten Erzählerin Sascha hoffnungslos unterlegen, und wenn Sascha sich dann Hilfe in der Person des väterlichen Journalisten Volker sucht, verliebt sie sich in ihn gleichzeitig wie in seinen 16-jährigen Sohn Felix, der an einer Lungenkrankheit leidet. Eine prekäre Balance der Fürsorge, Liebe, Verantwortung und Nähe entsteht jenseits der üblichen familiären Ordnungen und Verantwortungssysteme, Grenzen werden überschritten und Tabus verletzt, Hierarchien und Erfahrungsschwellen gleichzeitig bestätigt und verletzt. Aber wieder ist es der zwar wie ein Vaterersatz wirkende, gleichzeitig aber auf Augenhöhe nahe, dann wieder fast entrückte Journalist Volker, der letztlich als Verbündeter, als Rettungsinstanz auftritt, ein wesentlich älterer Mann, der die zerstörte Familie nicht nur ersetzt, sondern die gesamte Ordnung verschiebt. Was Sascha, Felix und Volker haben und haben werden, ist eine andere Art der Beziehung, etwas qualitativ Neues. Eine Patchwork-Familie, die Saschas Halbgeschwister mit einschließt, aber keine konventionelle Familienstruktur mehr erreichen wird. Die Nicht-Integration, der Alexandra Naimanns zerstörte Aussiedlerfamilie und sie selbst ausgesetzt sind, macht sie zugleich ansprechbar und hellsichtig für neue Möglichkeiten der pseudo- oder transfamiliären Assoziation, der wir möglicherweise, in dem Maße, in dem in der westlichen Welt die überkommenen Lebensformen und damit korrespondierenden Ordnungen und Werte zerfallen, alle entgegen sehen. Alina Bronskys Heldin nimmt den Zerfall und die Orientierungslosigkeit an und sucht sich eher Nahziele, vorsichtige Bündnisse, hier wird keine grundlegende Lösung gesucht, keine neue Wertordnung angestrebt. Der Weg aus dem Trauma geschieht vorsichtig, tastend, bleibt auf die Erzählerin und ihre nächste Umgebung beschränkt. Das Gegenmodell und seine fatale Konsequenz erzählt Sherko Fatah in seinem Roman Das dunkle Schiff.13 Der Autor ist kein typischer Vertreter der sogenannten Migrationsliteratur, sondern in der DDR geboren und aufgewachsen und sieht sich, wie übrigens die meisten dieser Autoren, wenn sie Deutsch schreiben, als ‚deutscher Schriftsteller‘. Fatahs Vater ist Iraker, und der Autor hält sich oft im Norden Iraks auf, wo der Vater herkommt und heute 13

Fatah, Sherko, Das dunkle Schiff, Salzburg/Wien, 2008.

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wieder lebt. Fatah hat aber zweifellos Erfahrungen gemacht, wie sie die anderen Autoren, die erst in den deutschsprachigen Raum eingewandert sind oder in nicht-deutsch geprägten Familien aufgewachsen sind, ohnehin gemacht haben, und er thematisiert vor allem die kulturellen Brüche, die unterschiedlichen Lebensformen und Werte, die Probleme und Wünsche der Integration, die Angst der Fliehenden und Verfolgten, die politische Gewalt und auch hier die Zerstörung der Familien. Sie geschieht aber zunächst einmal als Folge der Unterdrückung und Verfolgung im Irak bzw. im Kurdengebiet. Kerim, der Protagonist, erlebt, wie sein Vater, der im Nordirak ein kleines Restaurant betreibt, eines Tages, als zwei Geheimdienstleute sein Lokal betreten und beim Warten auf das Essen mit ihren Folterkünsten prahlen, derart wütend reagiert, dass er anschließend getötet wird. Kerim übernimmt die Rolle des Versorgers und Ernährers der Familie, bis er – Saddams Regime ist längst gestürzt – eines Tages von „Gotteskriegern“ verschleppt und geschult wird, die zunächst nur sein Auto beschlagnahmen wollten. Als Kerim schließlich einen Selbstmordanschlag verüben soll, gelingt ihm die Flucht, und er setzt sich als blinder Passagier auf einem Frachtschiff Richtung Europa ab, eine abenteuerliche, voll Angst durchlebte und beinahe scheiternde Überfahrt. Schließlich schafft es Kerim bis nach Berlin, wo sein Onkel lebt. Hier geht mit dunkler Ironie die Saat der fundamentalistischen Lehren erst auf, die der eher friedliche im Alltag verwurzelte Kerim sich zunächst gar nicht zu eigen gemacht hat, da sie viel zu brutal und martialisch für ihn waren. Aber die Problematik der Parallelgesellschaften wird nun deutlich, dass das durch die fortgesetzte Gewalt in der Heimat schon verletzte Empfinden der Zugehörigkeit in der westlichen Metropole, die sich mal durchlässig, mal kühl abweisend und bürokratisch erweist, weiter Schaden leidet und bei Menschen, die sich nach einem festen gesellschaftlich-ideologischen Rahmen sehnen, nach einem höheren Sinn, nach einer greifbaren Gruppenidentität und einer Aufgabe, zu einer tiefen Verstörung und Leere führt. Obwohl Kerim, der auf dem winterlichen Eis eines Berliner Sees einbricht und von einer jungen Studentin gerettet wird, von ihr eine zärtliche und fürsorgliche Liebe erfährt, obwohl der Onkel sich um ihn kümmert und Verantwortung übernimmt, können die Gewalt, die brutalen Erfahrungen und die Lehren der Vergangenheit in der prekären, flottierenden Lebenssituation, in der Kerim jetzt steckt, ihre tödliche Macht entfalten. Der individualistische Rettungsweg einer Sascha Naimann wie in Bronskys Roman steht Fatahs Hauptfigur nicht offen, wenn man einmal in die Mühlen der fundamentalistischen Regeln und Gesetze geraten ist, entkommt man ihnen so schnell nicht mehr. Kerim hat nicht nur teil genommen an fundamentalistischen Aktionen der Gotteskrieger im Irak, er hat sie dabei auch gefilmt und dieses Material ins Internet gestellt. Als er sich dem Selbstmordattentat entzieht und flieht, macht er sich zum Verräter und wird am Ende im vermeintlich sicheren Exil von der Vergeltung eingeholt.

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Der Roman zeigt nicht nur die Gründe für die Attraktivität fundamentalistischer Lehren bei den im Westen lebenden, vordergründig in der Gesellschaft angekommenen Einwanderern und ihren Kindern und Kindeskindern auf, er verweist auf die Gefahr, die entsteht, wenn überkommene Ordnungsvorstellungen – Wertesysteme – und Lebenszusammenhänge – Gemeinschaften, Familien, ethnische und religiöse Gruppierungen – zerfallen und an ihre Stelle nichts Verbindliches rückt. Wenn die konsumistisch-hedonistische Ideologie oder Lebenspraxis des Westens nicht greift und wenn die einzelnen nicht stark genug für einen individualistischen Ausweg sind, suchen sie sich einen neuen Halt – nicht selten ein prekär-rigides Regelwerk, das damit eben gerade dem Alltag eine strenge und damit Sinn und überindividuelle Ordnung vermittelnde Struktur verleihen kann. Für Menschen, die aus dem Krieg und aus von Gewalt und Unterdrückung gezeichneten gesellschaftlichen Verhältnissen kommen, eine verständlich verlockende Option. In Saša Stanišić‘ Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert14 findet sich noch einmal vor dem Hintergrund des Jugoslawienkrieges, d. h. des Bürgerkriegs in Bosnien-Herzegowina zwischen 1992 und 1995, vor dem der Autor wie sein Protagonist und Erzähler Aleksandar fliehen musste, das so häufig zu beobachtende Bündnis zwischen der Großeltern- und Enkelgeneration, ein Bündnis, das hier – bestehend vor allem zwischen dem Großvater Slavko und dem Enkel Aleksandar – ähnlich wie bei Ilija Trojanow eine das Erzählen selbst konstituierende Bedeutung hat, ein poetologisches, Welt konstituierendes Bündnis darstellt. Der Titel des Parts in dem Geschichten, Formen und Orte durchmischenden Roman, der wie ein Buch im Buch fungiert – „Als alles gut war“ –, verweist zugleich auf die alles in Gang setzende Verlusterfahrung, die beides, den gestorbenen Großvater Slavko und das frühere Jugoslawien mit seiner prekären Balance, meint. Was Stanišić mit seinem Roman erfindet, ist eine Art ‚magischer Realismus‘ der Balkanliteratur, im Auftrag des Großvaters, der selbst ein fantasievoller Erzähler ist: Am Morgen des Tages, an dessen Abend er starb, schnitzte mir Opa Slavko aus einem Ast den Zauberstab und sagte: im Hut und im Stab steckt eine Zauberkraft. Trägst du den Hut und schwingst du den Stab, wirst du der mächtigste Fähigkeitenzauberer der blockfreien Staaten sein... Die wertvollste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die Fantasie. Merk dir das, Aleksandar, sagte Opa ernst, als er mir den Hut aufsetzte, merk dir das und denk dir die Welt schöner aus.15

Der kindlich-märchenhafte Ton des Romans ist nicht zuletzt die Umsetzung dieser Anweisung, sich die von Zerstörung und Grausamkeiten, Tod und Vertreibung gezeichnete Welt der Kindheit, aus der Aleksandar mit seiner Familie flieht, „schöner auszudenken“ bzw. ihren Zauber zu bewahren, es ist zugleich auch eine Möglichkeit, über den Schrecken überhaupt zu sprechen, der sich 14 15

Stanišić, Saša, Wie der Soldat das Grammofon repariert, München, 2006. Ebd., S. 11.

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der direkten Darstellung womöglich entzieht oder den Erzähler in eine Art medusenhafte Schockstarre versetzen würde. Dennoch kommen die Schrecknisse des Bürgerkriegs, die Tode und Qualen durchaus zur Sprache und wirken mitunter, durch den naiven Märchenton gebrochen, umso unheimlicher und unheilvoller. Das Zerstückelte, Additive, Gemischte des Romans mit seinen barocken Kapitelüberschriften, seinem spielerisch-anekdotischen Zauber, der jäh von Reminiszenzen des Todes durchbrochen wird, ist lesbar als Reflex der Zerstörung selbst und eines prekären Heilungsversuchs: Eine geschlossene, in sich aufgehende, durchkomponierte Form wäre ideologisch, angesichts der Vernichtungsorgie, von der der Roman berichtet und der er sich verdankt. Der Heilungsakt liegt im Erzählen selbst und im „schöner Denken“, in der Weigerung, sich auf die ‚erwachsene‘ Ebene einer politischen Haltung zu dieser vom Bürgerkrieg zerrütteten Welt zu begeben, eine Haltung, die Hass und Verzweiflung kaum vermeiden könnte und damit den Zauberstab und Zauberhut zwangsläufig wieder abgeben müsste. Stattdessen wird auf einer sinnlich-metaphorischen Ebene die Welt vor und nach dem Bürgerkrieg, vor und nach dem Ende des Ostblocks in Gesten und Geschichten aufgelöst, in Listen und Anekdoten, in Rituale und ihre Interpretationen. An die Stelle einer verlorenen Ordnung rückt die Sehnsucht und die Suche nach den verlorenen Menschen, nach dem Großvater, der immerhin ein Grab hat, und nach der Gefährtin der Bombennächte in Višegrad, dem schönen Flüchtlingsmädchen Asija mit den ungewöhnlich hellen Haaren, das Aleksandar unermüdlich und erfindungsreich sucht und das bis zum Schluss unauffindbar bleibt und sich vielleicht in der Schlussszene des Romans doch endlich meldet, endlich Kontakt aufnimmt und dem Erzähler damit einen Ort, eine Ruhepunkt verleiht: Wo bist du?, heult es zweimillionenfach, mir ist übel, ich kann nicht mehr, über mir, einen, vielleicht zwei Meter über mir – die Wolken. Der Regen füllt mir den Mund, Stimmen wie Fliegen im Ohr. Ja, sage ich, ich bin jetzt hier. Aleksandar?, sagt die Frauenstimme, und es ist ein Fluss, in dem ich liege, meine eigene Regen-Drina habe ich bekommen, und ich sage: ich bin ja hier.16

16

Ebd., S. 313.

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JÖRG THOMAS RICHTER

Sippenhaft: Amerikanische Familienromane der Gegenwart zwischen Gattungsdiskurs und Sozialreferenz I 1956 will Arthur Miller in dem Essay The Family in Modern Drama die gesellschaftliche Funktion des zeitgenössischen Dramas in der Kernfrage bündeln: „How may a man make a home in the outside world?“ Die enge Geschlechterperspektive einmal ausgeblendet: Familie, so Miller, sei „home“, sei die „apotheosis of the real“. Noch bevor wir uns unserer sozialen Rollen, ja unserer selbst bewusst würden, wüssten wir schon, was Familienbeziehungen, was Vater, Mutter und Geschwister sind. Dies ist real, alles andere angelernt. Spielt nun das Drama auf solcherart primordiale Wirklichkeit an, entsteht ‚Pathos‘, nämlich die sentimentgeladene Erinnerung an eine im Sozialisationsprozess verlorene, ‚heile‘ Identität innerhalb des Familiären. Nur sind in der Moderne, glaubt man Miller, Familie und Gesellschaft zumeist durch wechselseitige Entfremdung gebunden; von der ästhetischen Ausbeutung dieser Kluft lebt das Drama. Im Appell an Emotionen bleibt realistischer Darstellungsstil ans Familiäre gekoppelt, während die sozialen Rollen – im Appell an Sozialisationswissen – einen poetischen oder symbolischen Zugang bedingen. Entsprechend sei realistisches Drama unzeitgemäß geworden, weil private und öffentliche Sphäre unwiederbringlich auseinander gedriftet seien und man einsehen müsse, dass das Schicksal des Einzelnen jetzt endgültig im Gesellschaftlichen, im Familienfremden liege. Denn, in der dem Realismus eigenen, exklusiven Konzentration auf sentimentale Verdichtung, wird der dramatische Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz aufgegeben.1 Das von Miller ins Rührselige gebannte Pathos des Realen ist nicht erst seit dem 11. September 2001 in die amerikanische Literatur zurückgekehrt. Im Folgenden werde ich diese Rückkehr nur anhand grober Stichproben diskutieren, ohne der – kontra Miller – ungebrochenen Vitalität des Genres auch nur annähernd Genüge zu tun. Denn definiert man das Genre landläufig über das zentrale Familiensujet im Nexus mit einer wenigstens zweigenerationellen Handlungs- und Konfliktstruktur, so ist von einer erstarkten Popularität des Familienromans in den USA nur sehr eingeschränkt zu sprechen. Zum einen wurden innerhalb vor allem der Migranten- und Minoritätenliteraturen stets Familienromane geschrieben, die neben Generationskonflikten immer auch 1

Miller, Arthur, „The Family in Modern Drama“, in: The Atlantic Monthly, 197 (April 1956), S. 35-41.

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den Konflikt zwischen Minoritätenfamilie und Gesellschaft in den Handlungsmittelpunkt stellten.2 Zum anderen hatte das Genre auch im konservativen Mainstream der 1970er und 1980er Konjunktur. Die feministischen Romane Anne Tylers, die Ehebruchromane John Updikes und andere Familienromane dieser Zeit beschworen zwar weitestgehend die Dysfunktionalität des bürgerlichen Familienheims herauf. Doch verdichtet ein paradigmatischer Familienfilm der Epoche, in dem ein aschgraues Männchen mit übergroßem Kopf als Vatersurrogat innerhalb einer solchen dysfunktionalen Familie herhalten muss, Steven Spielbergs Streifen ET (1982) also, den von Miller abgewiesenen Pathos des Realen zur Kurzformel: „ET nach Haus telefonieren.“3 Sozialwissenschaftliche Diagnosen in den Neunzigern rechnen so bereits erheblich verspätet mit der postmodernen Vergesellschaftung des Privaten, mit der ‚Voluntarisierung‘ und ‚Liberalisierung‘ der bürgerlichen Kernfamilie ab. Das beschworene Kernfamilienidyll hatte schon in der Ära Reagan zu neuer Maßgeblichkeit gefunden. Wie etwa Gertrude Himmelfarb schreibt, wurden der Familie, dem ‚System des Sozialen in Miniatur‘, im Zuge der sexuellen Revolution, der Ausweitung staatlicher Wohlfahrtspolitik, der Lockerung von Scheidungsgesetzen sowie der fortschreitenden Akzeptanz ‚alternativer‘ Lebensformen ihre wesentlichen Funktionen, und damit auch Verbindlichkeiten geraubt. Der lockere Sozialverband, der übrig blieb, sei nun nicht mehr in der Lage, jene Wertekontinuitäten zu stiften, die für das Funktionieren eines demokratischen Gesellschaftssystems notwendig sind. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels verlange dies nach staatlicher Intervention. Family Values bilden ein republikanisches und demokratisches Lager überschreitendes, politisches Motiv.4 Will ET also heutigentags nach Haus telefonieren, geht dieses Verlangen auf solche seit den 1980er Jahren virulente Familienrhetorik zurück. Der Wunsch ETs, mit einem fernen Heim zu kommunizieren, entspringt heute kaum der binnenamerikanischen Sozialdynamik allein. Er ist angereichert um die beunruhigende Wahrnehmung, dass solche Binnenwelten zudem durch Globalisierung entgrenzt sind. Die Sehnsucht richtet sich auf die Möglichkeiten, das „Reale“ unter den Bedingungen globalökonomischen Diktats wahrzunehmen. Schon die pure Geografie der heute oft neorealistischen Prinzipien verpflichteten Familienromane zeigt ungefähr das Ausmaß an Instabili2

3 4

Dazu u.a. Rushdy, Ashraf H. A., Remembering Generations: Race and Family in Contemporary African-American Fiction, Chapel Hill/London, 2001; Family Fictions: The Family in Contemporary Postcolonial Literatures in English, hg. v. Irene Visser und Heidi van den Heuvel-Disler, Groningen, 2005. Insbesondere zum ethno-feministischen Kontext siehe Heller, Dana, The De-Oedipalization of Popular Culture, Philadelphia, 2002 und Wright, Mary Elizabeth, Reconfiguring the American Family: Alternative Paradigms in African-American and Latina Familial Configurations, Diss., Florida State University, 2002. Vgl. Harwood, Sarah, Family Fictions: Representations of the Family in 1980s Hollywood Cinema, New York, 1997, S. 149-173. Himmelfarb, Gertrude, One Nation, Two Cultures, New York, 1999, S. 45-58.

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tät, aus dem die heutige Sehnsucht nach Familie hervorgeht.5 Dies ist wohl selten besser zu sehen als in der Memoire Barack Obamas, eine autobiografische Saga zwar, kein Roman, aber vielsagend betitelt: Dreams from My Father: A Story of Race and Inheritance (1995/2004). Darin baut der damals noch künftige Präsident die Verwerfungen eines latent interkontinental integrativen Familiengeflechtes – situiert in den USA, Indonesien, Kenia – nicht zum Stör-, vielmehr zum identitätsprägenden Motivationsgefüge um. Auch Jonathan Franzens Weltbestseller The Corrections (2001) wurde nicht zu Unrecht der Titel „novel of globalization“ verpasst, denn, so Susanne Rohr, Franzen beschreibt darin die Desorientierung, welche entsteht, wenn Familienwirklichkeit vom Wirken globaler ökonomischer Lebens- und Wirtschaftspraxen durchkreuzt wird.6 Diesen fallen selbst die traditionellen Heimstätten des Familiären wie, maßgeblich, das Weihnachtsfest im Familienkreis zum Opfer. Folgt man Franzen, ist der amerikanische Schriftsteller heute nämlich konfrontiert mit einem globalen ‚kulturellen Totalitarismus‘, den zu ignorieren schlicht nostalgisch sei. Wer sich darauf einlasse, der riskiere, immer dasselbe zu schreiben: „technological consumerism is an infernal machine, technological consumerism is an infernal machine [...]“.7 So mag die Beobachtung trivial sein, dass viele der jüngst erschienenen, amerikanischen Familienromane Familie in der Tat als global vernetztes Gebilde zeigen: z. B. führt Jeffrey Eugenides’ Middlesex (2002) von Kleinasien über Detroit nach Berlin, Franzens Corrections sucht seine Schauplätze in den USA und in Litauen, Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated (2002) avisiert durch amerikanischukrainische Geografie die Schoah, sein späterer Roman Extremely Loud and Incredibly Close (2005) führt vom New York des Herbstes 2001 ins Dresden des Februars 1945 und Hiroshima nach dem Atombombenabwurf; der Roman Fault Lines (2006/2007) der Franko-Kanadierin Nancy Huston vom amerikanischen Westen nach Israel nach Bayern. Dies sind nur wenige Beispiele, aber tendenziell festzuhalten ist, dass viele der genannten Familienromane nicht nur die Globalisierung, sondern diese auch als Heimsuchung darstellen: als Suche nach Heim im Jenseits oder Diesseits der globalisierten Welt. Der Suche nach Heimat entspricht auch im Familienroman neorealistischer Prägung eine aufgeklärte, neue Gefühligkeit im Gewand eines „Neuen Kon5

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Zur Diskussion des amerikanischen Neorealismus siehe das von Thomas Claviez und Maria Moss edierte Sonderheft „Neorealism – Between Innovation and Continuation“, Amerikastudien/American Studies 49.1 (2004). Rohr, Susanne, „,The Tyranny of the Probable‘: Crackpot Realism and Jonathan Franzen’s ,The Corrections‘“, in: American Studies/Amerikastudien 49.1 (2004), S. 91-105. Franzen, Jonathan, „Why Bother“, in: Franzen, Jonathan, How to Be Alone, New York, 2002, S. 69. Wie James Annesley zeigt, ist Franzens Roman eben auch selbst Teil jener globalen Marktstruktur, und sei es nur in seiner Vernetzung mit der Holtzbrinck-Gruppe. Zu Franzen und literarischem Markt siehe Annesley, James, „Market Corrections: Jonathan Franzen and the Novel of Globalization“, in: Journal of Modern Literature 29.2 (2006), S. 111-128; Metz, Petra, „Houellebecq, Franzen & Co., Die Suche nach dem Bestseller oder Nischenprogramm? Tendenzen des Literaturimports in deutschen Verlagen“, in: IASL 29.2 (2004), S. 26-40.

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ventionalismus“.8 Mit gesellschaftsbeschreibendem Anspruch sucht man, so erneut Franzen in einem programmatischen Essay, private Erfahrung und öffentlichen Kontext als „distinct but interpenetrating“ darzustellen.9 Dies zeigen einige der Familienromane im Kontext von 9/11, nennenswert Jay McInerneys The Good Life (2006) oder Foers Extremely Loud and Incredibly Close (2005). In Foers Roman etwa sucht der neunjährige Oscar das Schloss zu einem Schlüssel, den ihn sein beim Terroranschlag umgekommener Vater hinterlassen hat, und der ihn nun sowohl amerikanische Medienlandschaft, New Yorker Gesellschaft, als auch die Abgründe der eigenen Familie erforschen lässt. Franzens Metapher einer wechselseitigen Penetration sollte solchen Familienentwürfen gegenüber hellhörig machen, gerade wenn es um die Ästhetik des Familienromans geht. „Think of the novel as a lover“, schreibt Franzen, „Let’s stay home tonight and have a great time; just because you’re touched where you want to be touched, it doesn’t mean you’re cheap; before a book can change you, you have to love it.“10 Mit anderen Worten, unter dem Zeichen des Neorealismus wird erneut um jenen selig machenden Moment der Anrührung gerungen, um den Appell an primordiale familiale Emotion im Kontext politischer Verwerfung, und letztlich bestätigt die Popularität des Genres den Erfolg des Rezepts.11 Freilich: die Befriedigung von Stabilitätssehnsüchten anhand Einfühlung ins komplexe Leben von Romanfamilien darf nicht billig sein: Familie im Stil der Neuen Gefühligkeit ist teuer erkauft. Der Roman, um meine Titelmetapher aufzunehmen, steht in der Sippenhaftung seines Genres: Sobald er Familie thematisiert, setzt er sich unwillkürlich einem Wirkungsrahmen aus, der unter Sentimentalismus-, ja: unter Kitschverdacht steht. Dies soll keine Abwertung des Familienromans sein: Die neo-sentimentale Familienliteratur führt nur zusammen, was zusammen gehört. Insbesondere der mehrgenerationellen Familie wird man ja im Wesentlichen über die Erzählung habhaft, bzw. narrative Sinnbildung wird erst durch den, so Patricia Tobin, „genealogischen Imperativ“ überhaupt möglich. Die Rezeption von Erzähltexten verfährt zwingend genealogisch, als sie, um erzählerisch Sinn zu stiften, jederzeit der kontinuierlichen Rückbindung des Gelesenen an bereits zuvor ‚erfahrene‘ Ereignisfolgen bedarf.12 Wenn, so wäre zu folgern, narrative 8 9 10 11

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Vgl. Rohr, Susanne, „,The Tyranny of the Probable‘: Crackpot Realism and Jonathan Franzen’s ,The Corrections‘“, a.a.O., S. 91. Franzen, Jonathan, „Why Bother“, a.a.O., S. 55-97 (hier S. 90). Franzen, Jonathan, „Mr. Difficult“, in: Franzen, Jonathan, How to Be Alone, a.a.O., S. 238269 (hier S. 261). Zur Wende zum New Sentimentalism in kanadischer Literatur siehe Zimmermann, Jutta, „The ‚New Sentimentalism‘ in Recent Canadian Fiction: The Example of Ann-Marie MacDonald’s ‚The Way the Crow Flies‘“, in: Reading(s) from a Distance: European Perspectives on Women’s Writings, hg. v. Charlotte Sturgis und Martin Kuester, Augsburg, 2008, S. 112-122. Siehe Drechsler Tobin, Patricia, Time and the Novel: The Genealogical Imperative, Princeton, 1978; Jonnes, Denis, The Matrix of Narrative: Family Systems and the Semiotics of Story, Berlin/New York, 1990; Ru, Yi-Ling, The Family Novel: Toward a Generic Defini-

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Logik tatsächlich mit dem Familialen interrelationiert ist, dann ändert sich auch das Erzählen in dem Maße, in dem die soziale Konzeption von Familie sich ändert. Gemäß dieser nicht unbedingt trivialen These wäre zu behaupten, dass sich der nun allenthalben verzeichnete demografische Wandel – fallende Fertilitäts- und Mortalitätsraten und mithin auch veränderte Verwandtschaftsstrukturen – auch in erzählerischer Sinnbildung niederschlägt. Dennoch wäre es naiv, die jüngste Welle von Generationenromanen nur als anders gelagerte, passiv mimetische Repräsentationsform des demografischen Wandels zu verstehen. Vielmehr indiziert das allenthalben hörbare Ticken der sozialdemografischen Uhr eine kulturell vorgelagerte Motorik, die sich beobachten lässt auch und gerade im Familienroman. Glaubt man der empirischen Leserforschung und -psychologie, so erzeugt literarisches Erzählen Simulationsräume, die von sozialen Interaktionsprozessen zwar abstrahiert sind, deren Rezeption aber die „Erfahrung sozialer Situationen in stellvertretender Weise erlaubt“.13

II Tatsächlich scheint sich in der jüngsten amerikanischen Literaturproduktion der Fokus des Romans von den Konflikten innerhalb von Kernfamilie und Peer Group verschoben zu haben zu erweiterten, mehrgenerationellen Handlungsmustern und Gruppenstrukturen. Laut Francis Fukuyama standen bis in die 1980er Jahre kollaterale Beziehungsgefüge im Zentrum des Interesses. In Folge des demografischen Wandels würden Verwandtschaftsbeziehungen verstärkt vertikalisiert. Weniger Kinder bedeuten: weniger Geschwister. Der Konflikt zwischen Kain und Abel macht dem Konflikt zwischen Großeltern, Eltern, Kindern und Kindeskindern Platz.14 Die Proliferation mehrgenerationellen Erzählens in den letzten Jahren ist in dieser Hinsicht ein weiterer Sinn des Sippenhaften: Wer erzählen will, begibt sich in einen Kommunikationsraum, der unvermeidlich von Sippenrelationen bestimmt ist. Der Familienroman kippelt zwischen sozialem Referenzdruck und Gattungsreflexion. Ein herkömmlicher Topos der Familienerzählung war das Aufbrechen der bürgerlichen, funktionsdifferenzierten und hierarchisch durchorganisierten Familienstruktur. Der Topos ist geblieben. In Alice McDermotts Roman After This (2006), der nach diesem Muster das Auseinanderfallen einer irisch-

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tion, New York, 1992. Yi-Ling Ru geht gar soweit, die Wechselwirkung zwischen Familie und Erzählung als literarisches Universal zu deklarieren. Schon Robert Hodge und Gunter Kress argumentieren in Social Semiotics, Oxford, 1988, S. 204: „patterns of family organization are inevitably sustained and negotiated by means of a myriad set of narratives [...].“ Vgl. Mar, Raymond A., Oatley, Keith, „The Function of Fiction is the Abstraction and Simulation of Social Experience“, in: Perspectives on Psychological Science 3.3 (2008), S. 173192, Zitat im Original S. 183: „Literary fiction allows us to experience social situations vicariously […].“ Fukuyama, Francis, Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution, New York, 2002, S. 63.

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katholischen Familie im Zeitalter des Vietnamkrieges und der sexuellen Revolution zeigt, nennt eine Figur dies: „the wisdom of scattering, each to a different corner of whatever shelter they had found, so that should the worst happen, happen again, it would not take them all“.15 Solcher Aufsplitterung des Familiären, dem diffizilen Übergang von „home“ zu „shelter“, von Heim zu Zuflucht, trägt der neorealistische Familienroman Rechnung vor allem in der Aufsplitterung seiner Erzählperspektive. William Faulkner hatte schon 1930 in dem Roman As I Lay Dying vorgeführt, wie sich die moderne Entfremdungsoptik in die Familienerzählung übersetzt: durch das dramatisierte Arrangement variabler Perspektiven. Je individuelle Bewusstseine filtern eine eben nur scheinbar kollektiv geteilte Wirklichkeit. Die unbequeme Last, aus dem vom Roman gebotenen Perspektivenkonglomerat eine kohärente Familie zu erfinden, fällt, wenn man so will, den Lesenden zu. Noch heute sind die multiperspektivischen Erzählkonstruktionen nützlich, um den neuen vom alten Realismus zu scheiden. Der Witz des realistischen Romans hatte ja immer auch darin bestanden, die Erzähloptik zurücktreten zu lassen, anders als die in Faulkners As I Lay Dying forcierten, gegeneinander gestellten Ich-Perspektiven. In neorealistischer Manier wird erneut moderiert, wenn auch weniger im Modus des allwissenden Erzählers, sondern in freier indirekter Rede die unterschiedlichen Perspektiven aufeinander treffen. So zeigt z. B. Maile Meloy in Liars and Saints (2003), wie sich das autoritäre System einer katholischen, kalifornischen Familie aus den 50ern im Ablauf der Generationen, im Verlauf von Scheidungen, außerehelichen Geburten in ein solch plurales Perspektivengemenge auflöst, aus dem heraus dann selbst ein Inzestskandal irgendwie rechtfertigbar ist. Ja gerade das inzestgeborene Kind gibt ironischerweise die Grenzen und Hoffnungen der Familienerzählung wieder. „[P]eople wanted their families to be carried on, but Margot wasn’t sure they should be quite so distilled, in one child.“16 Meloys indirektes Arrangement von Perspektiven stellt die Familienoptik auf einen erzählerisch hochvermittelten, aber leserlich bequemen Standpunktrelativismus ein, dessen schillernde Vielfalt indirekt das thematisiert, was amerikanische Soziologen eben „Voluntarismus“ getauft haben. Gegenüber Familienromanen älterer Prägung wird nur bedingt ein Idealbild von Familie aufgespalten: mehr noch wird das bereits zerfallene in seiner Fragilität rekonstruiert. Doch die politisch und soziologisch angemahnte Rückführung von Familie auf sich selbst zeigt dann dennoch Meloy als inzestuöses Spiel im Roman, als Simulation statt Repräsentation von Familie. Es wäre eine Engführung des Genres, den boomenden Familienroman nur als Antwort des gesellschaftlichen Imaginären auf die vielfältigen Umbauten des Familiensystems zu verstehen, als eine in fiktionaler Form geführte Registratur sozialer Prozesse. Denn gerade um Registratur allein geht es dem wie15 16

McDermott, Alice, After This, New York, 2006, S. 251. Meloy, Maile, Liars and Saints, 2003, London, 2004, S. 260.

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der erwachten realistischen Roman nicht. Meloy beispielsweise arrangiert schon im folgenden Roman die Stimmen der katholischen Musterfamilie so um, dass der vermeintliche Voluntarismus als Trug entlarvt wird. In A Family’s Daughter, erschienen drei Jahre später, treten erneut dieselben Akteure auf, mit dem Zusatz, dass jetzt der vorhergehende Roman als fiktives Machwerk einer Enkelin in den Text eingespiegelt wird. Diese hatte mit dem Katholizismus der Eltern abrechnen wollen und bittet im Lauf der Erzählung reuig um Wiederaufnahme in die Familie. Geblieben ist in dieser Dekonstruktion des ersten Textes (und der Rekonstruktion der Familienbande) die beide Texte einende Perspektivenvielfalt, allerdings, und dies wäre der Punkt, wird sie als ebenso arbiträres Modell unterlaufen, sobald man beide Romane als einen Text über die selbe Familie liest. Dass die Funktion des Familienromans nicht in der poetischen Registratur sozialer Prozesse erschöpft ist, verrät im Übrigen schon der Titel von Franzens Roman The Corrections. Thematisch geht es darin, wie MaryAnn SnyderKörber jüngst in einem luziden Essay hervorhob, um „die Fortsetzung der Familie im Modus der korrigierenden Rückkehr“.17 In Franzens Roman werden etwa Enid und Alfred Lambert korrigiert hinsichtlich ihrer Erwartungen gegenüber Familienkohärenz: Wenn Familie Kohärenz stiftet, dann ex negativo, ansonsten scheitert sie am Individualismus der Kinder. Oder aber die Kinder werden korrigiert in ebenjenem Individualismus, weil sie sich immer erneut in familiärer Verantwortlichkeit sehen, die sie längst als hinfällig deklariert haben. Korrigiert wird außerdem das ökonomische Gefüge um die Familie herum, wenn die Börsenblasen platzen. Korrigiert wird auch das Selbstbewusstsein der Darsteller, die ihre Bewusstseinszustände als krankheits- oder drogeninduziert erfahren. All das wird detailreich und, trotz eines postmodern geschärften Sinnes für die Irrealität der Fakten in der Fiktion, dennoch leserfreundlich entwickelt, eine Strategie, die für den Erfolg der neorealistischen Familienromane zeichnet. Und man kann, wie Snyder-Körber dies in gelungener Weise tut, in diesen neorealistisch von Detailreichtum, Lokalkolorit und ausgeklügelten Erzählperspektiven geprägten Texten beobachten, wie sich Familie und Realismus in durchaus sentimentaler Wirkungsabsicht miteinander verquicken. Mit dem großen Inventar der Familienerzählung loten sie einen durch Technologie, Ökonomie und auch Wissenschaft verstellten Sehnsuchtsraum aus, der in den USA seit dem Ende der Neunziger unter dem Begriff des Homeland firmiert. Snyder-Körber führt als Zeugin Amy Kaplan an, die beschrieben hat, was unter der Chiffre „Heim“ firmiert: „common blood lines, ancient ancestry, and notions of racial homogeneity [...] a reliance on a shared mythic past engrained in the land itself“.18 Der neorealistische Famili17

18

Snyder-Körber, MaryAnn, „‚Ground Zero/s‘ des amerikanischen Erzählens: Vom neuen zum hysterischen Familienroman“, in: Amerikanisches Erzählen nach 2000: Eine Bestandsaufnahme, hg. v. Sebastian Domsch, München, 2008, S. 39-55 (hier S. 49). Amy Kaplan zit. in Snyder-Körber, MaryAnn, „‚Ground Zero/s‘ des amerikanischen Erzählens: Vom neuen zum hysterischen Familienroman“, a.a.O., S. 41.

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enroman beschreibt vor diesem Hintergrund das Schwinden, ja die Unmöglichkeit eines solchen Raumes. Was aber gleichzeitig durch das Erzählen davon bewerkstelligt wird, ist die scheinbar rührselige Einsicht in dessen Unverzichtbarkeit. Christine van Boheemen konstatiert schon in den 1980er Jahren, Familienromane generell seien „fictions that project the relationship to origin as the journey of a return home“.19 Neuere Studien zum Genre meinen gar, dass, „[i]n   post-­‐postmodern   novels,   poststructuralist   sophistries   are   as   irrelevant   as   the   conjuring   up   of   an   all-­‐levelling   relativism.   Rather,   they   probe  the  possible  conflicts  within  the  family  and  argue  for  a  more  com-­‐ passionate   and   responsible   coexistence“.20   Wenn   dies   wirklich   so   sein   sollte,   dann   jedoch   nicht   in   einem   einfachen,   die   Sozialwirklichkeit   von   Familie  bejahendem  Sinn.   Nur ein Beispiel: Marilynne Robinson, hat jüngst zwei Familienromane unter den symptomatischen Titeln Gilead (2004) und Home (2008) vorgelegt, in denen sie, entlang eines genealogisch gegliederten Zeitraums von den 1860ern bis in die 1950er Jahre hinein, die Geschichte zweier befreundeter Priesterclans, der Ames’ und der Boughtons wiedergibt. Beide Romane erzählen Familiengeschichte in Rückblenden aus Sicht der 1950er Jahre, allerdings jedes Mal aus der Optik einer je anderen Generation der je anderen Familie. Entscheidend ist in beiden Romanen, wie trotz geteilter Beschwörungsformeln von Familie die je unterschiedlich gewichteten Interessen der Erzähler bzw. Erzählinstanz, die ‚realen‘ Ereignisse und Ereignisgeografien als illusionistische/desillusionistische Konstruktionen darstellen. Home nimmt sich schon im ersten Satz der perspektivischen Verwerfungen des ‚Realen‘ an. Wenn darin Vater Jack Boughton seine Tochter Glory, die zu seiner Alterspflege heimgekehrte Erzählerin, auf der Schwelle des Familiensitzes begrüßt: „‚Home to stay, Glory! Yes!‘ her father said, and her heart sank“21, dann treffen generationell geschiedene Realitätserwartungen aufeinander, die auszusöhnen das Beschwören einer geteilten Familienerinnerung und -kultur nur bedingt helfen wird. Home wird erzählt aus der restaurativen Perspektive einer Tochter, die versucht, aus geteilten Vergangenheiten Sinn für die Gegenwart zu entwickeln. Demgegenüber ist der vorhergehende Roman gänzlich anders gelagert: Gilead entwirft Vergangenheit in ihrer Konsequenz für mögliche Zukunft. Anders als in Home ist diese Erzählung inszeniert als Legat, geschrieben von dem herzkranken, gealterten Priester Ames für seinen siebenjährigen Sohn Robert. Dieser Ich-Erzähler ediert Familiengeschichte und ‚Heim‘ für einen posthumen Leser: „Sometimes I almost forget my purpose in writing this, which is to tell you things I would have told you if you had grown up with me, 19 20 21

van Boheemen, Christine, The Novel as Family Romance: Language, Gender, and Authority from Fielding to Joyce, Ithaca/London, 1987, S. 5. Dell, Kerstin, The Family Novel in North-America from Post-War to Post-Millenium: A Study in Genre, Diss., Trier, 2005, S. 209. Robinson, Marilynne, Home, New York, 2008, S. 3.

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things I believe it becomes me as a father to teach you.“22 Entsprechend imaginiert der Todgeweihte Wirklichkeit jenseits von Lebensspannen: als Parabel. Daraus folgt auch, dass die zu diesem Ende entwickelten, familiengeschichtlichen Kolportagen zwar chronotopisch ausbuchstabiert sind, deren Referenzen jedoch auf irreale, nicht raumzeitlich gebundene Ebene verlagert werden. Real im Sinne des Priesters ist nicht nur, was nach Art unverlässlichen Erzählens die Vergesslichkeit des Erzählers übrig lässt, sondern zudem nur, was in der solcherart exponierten, zeitverschobenen Kommunikation überhaupt kommunikabel ist. Der erhobene Anspruch auf realistische Darstellung hat damit eher pragmatischen denn essentiellen Charakter, z. B. erklärt der Priester: Every single one of us is a little civilisation built on the ruins of any number of preceding civilisations, but with our own variant notions of what is beautiful and what is acceptable – which, I hasten to add, we generally do not satisfy and by which we struggle to live. We take fortuitous resemblances among us to be actual likenesses, because those around us have also fallen heir to the same customs, trade in the same coin, acknowledge, more or less, the same notions of decency and sanity. But all that really just allows us to coexist with the inviolable, untraversable, and utterly vast spaces between us.23

Die Zivilisationsbegrifflichkeit, die der Priester herausstellt, jene Vorstellungen von „decency and sanity“, von geteilter Ökonomie und sozialer Koexistenz spiegeln Ähnlichkeiten vor, die tatsächlich zufällig sind. Statt realistischer Mimesis werden zufällige Ebenbildlichkeiten – „fortuitous resemblances“ – betont. Aber sind diese ‚schwachen‘ Wirklichkeiten einmal als zufällig anerkannt, wird es schwer, neue Ebenen gesellschaftlicher Konvergenz zu finden. Wie in vielen Familienromanen dient hier die imaginierte Generationenfolge als mentale Prothese, die notwendig ist, um die Kluft zwischen zeitund realitätsverschobenen Individuen zu überwinden. Dabei ist klar, dass auch die Genealogie nur das sein kann: „a seeming continuity which is important because it deceives us“.24 Allein das Pathos der Heimstatt, wie Miller es zu sehen meinte, ist keineswegs in einer wie immer als geteilt imaginierten Familiengenealogie und -geografie erschöpft. Eher noch als eine „Realität“ teilen Robinsons Charaktere einen intergenerationell vermittelten Deutungshabitus – im Fall der Erzählerin von Home „the habits of her pious youth“.25 Diese überlieferten Deutungspraxen tragen, wie Robinsons Oeuvre generell, neocalvinistische Züge, was zusätzlich heutige Weltbilderwartungen verstellt. Verbunden werden die unterschiedlichen, nicht mehr einer homogenen Wirklichkeitssicht verschriebenen Erfahrungsebenen bei Robinson über die mittransportierte Familiengefühligkeit, die den neorealistischen Minimalkonsens zwischen Buch und Rezeption herstellt. Die emotional verbindliche Form des 22 23 24 25

Robinson, Marilynne, Gilead, New York, 2004, S. 118. Ebd., S. 225. Ebd., S. 225. Robinson, Marilynne, Home, a.a.O., S. 101.

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Legats unterstreicht, darin vergleichbar mit der trügerischen Restaurationsperspektive von Home, die ohnehin ausgestellte Dezeptivität des Realen nur einmal mehr.

III Wird Familie im Modus der Simulation, nicht: Mimesis, beschrieben, bedeutet dies auch, dass der Familienroman neorealistischer Prägung nur mittelbar als Reaktion auf den demografischen Wandel aufzufassen ist. Um einen Satz von Dana Heller aufzunehmen: Nicht weil Familie zum gesellschaftlichen Problem wurde, sondern weil sie als einheitliches, verallgemeinerbares Modell nirgendwo existiert, taugt sie zur Reflexion alternativer sozialer Wirklichkeiten.26 Ob diese Form der Unterhaltungsliteratur damit zum Gradmesser für das gegenwärtige kulturelle Imaginäre dienen kann, sei hier dahingestellt. Doch insbesondere dann, wenn solche Unterhaltung mit intergenerationellen Erwartungen aus Kinderperspektiven, und folglich mit Zukunftserwartungen spielt, liegt solch ein Schluss nahe. Wer in dieser Hinsicht jedoch vom amerikanischen Familienroman die Buddenbrooksche Logik erwartet, dass Kinder in der Schuld ihrer Eltern stehen, bzw. in einer Art parasitischer Lebensführung die Errungenschaften der Altvorderen verspielen, den werden die neueren Romane enttäuschen. Oft genug scheint es umgekehrt. Romane wie Nancy Hustons Fault Lines, Myla Goldbergs Bee Season (2000), oder Foers Extremely Loud and Incredibly Close zeigen vielmehr, wie vor zeithistorischem Horizont die unbewältigten Konflikte der Eltern in die Schicksale der überlebenden Nachfahren hineingreifen. Erneut bleibt Raum für nur ein kurzes Beispiel: Im Gegensatz zur historischen Verflechtung von Kindheit und Geschichte konzentriert sich Michael Kimballs The Way the Family Got Away (2000) auf das Entsetzen der Kindheit im ausschließlichen und geschichtsbereinigten Bezugssystem von Familie. Die deutsche Übersetzung des Romans hat im Gegensatz zur amerikanischen Kritik einige Verrisse herausgefordert, weil Kimball das Thema der Familientragödie aufwändig in der Sprachlogik von Kleinkindern verarbeitet und somit nur eine reduzierte und unterkomplexe Sichtweise ermöglicht. Genau das aber wäre der neosentimentale Punkt. Tochter und Sohn erzählen hier von der Reise ihrer Familie von Texas nach Michigan, im Kofferraum des Autos liegt die einbalsamierte Leiche ihres als Säugling gestorbenen Bruders. Stück für Stück veräußern die durch den Kindstod aus der Familienidylle her26

Heller, Dana, The De-Oedipalization of Popular Culture, a.a.O., S. 3-4: „The logic behind the ubiquitous and pervasive presence of what some many consider a minor subgenre is not, as it might seem, that the family is in trouble and culture has organized to save it. On the contrary, the family romance is everywhere because the family itself is nowhere, meaning that the family exists for us no longer as a symbol of cultural unity, but as an embodied expression of cultural redescription.“

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ausgeschockten Eltern sämtliche Habseligkeiten des Familienhaushalts: Puppenhaus, Hochzeitskleider, Kindersachen, Familienfotos werden verscherbelt, um die Reisekosten für die Fahrt zum Großvater zu tragen, wo, gewissermaßen am Ursprung der Genealogie, sie sich Erlösung vom Leid versprechen. Unterwegs werden die Kinder zu Zeugen der emotionalen Zusammenbrüche ihrer Eltern, einer weiteren Fehlgeburt der Mutter nebst anschließender Ausschabung. Schon am Anfang hatten sie der Einbalsamierung des Bruders beigewohnt und angesehen, wie dessen Körper von Organen befreit wurde und das Blut durch Einbalsamierungsflüssigkeit ersetzt wurde, am Ende sehen sie dessen Verbrennung zu, jedes Mal erzählt durch die naiven Perspektiven von Bruder oder Schwester. Der Kontrast zwischen den schockierenden Erfahrungen und der Kindersprache, die sie schildern, verstärken gerade das von Miller abgewiesene Pathos. Dies rührt gewiss an – auf erschreckende Weise. Doch noch in der amplifizierten Pathetik werden elementare Topoi amerikanischen Erzählens angerissen und auf ihre impliziten Zukunftsoptionen befragt: Dies ist eine road novel, die schon in der eigentümlichen Reiserichtung von Westen nach Osten die Fortschrittsgeografie der USA revidiert: man bricht nicht auf in neues Terrain, man kehrt heim zu Ursprungsorten. Zudem wird die in den USA oft beschworene Mobilität nicht als Erwerbs-, sondern Verlusterfahrung dargestellt. Erneut, wie in Faulkners As I Lay Dying bildet hier die Leiche des Familienmitgliedes das, was die Familie noch zusammenhält: aber es ist nicht die Leiche der Matriarchin, sondern pikanterweise die eines Säuglings, des Letztgeborenen, die das Zentrum bildet. Ungebrochen ist dennoch die den Kindern von den Eltern vorgespielte fortschrittsoptimistische Pose, die Zuversicht auf Erneuerung durch Mobilität, wie die Tochter verzeichnet: „Poppa told me we were going to get new lives when we got up to Bompa’s house and Heaven“.27 Glaubwürdig ist diese Zuversicht den Kindern nicht, der Bruder weiß: Your mother and father are going to make another baby and your family is going to have another brother in it. You are going to play with your brother again but he is going to burn up again too. Your mother and father are going to go away without you with them anymore. Bompa isn’t going to be there when you get there. Your sister is going to die and you are going to die too.28

Kimballs Kindererzähler antworten so mit radikalem Weltentzug auf den Vergangenheitsdruck ihrer Eltern. Zum Thema des Romans wird das Scheitern der Kinder im Unterfangen, sich von den Obsessionen und dem Leiden der Eltern zu befreien. Die von den Eltern vermittelte Sicht auf Realität schränkt die Zukunftsoptionen der zwei kindlichen Beobachter drastisch ein. Ja, angesichts des Grauens dringt die familienoptimistische Vision, die den Roman beschließt, wie eine Drohung: 27 28

Kimball, Michael, The Way the Family Got Away, New York/London, 2000, S. 50. Ebd., S. 56.

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We are going to go after my mother and father and everything else that made our house and our family up. We are going to keep going away for our whole lives and miles until we get our house and our lives and our family and our everything else that was ours back.29

Die Kinderoptik schützt vor Grauen nicht, als ästhetisches Instrument arbeitet sie dem Familienpathos zu. Zu erwähnen ist, dass Kimballs nächster Roman, unter dem bezeichnenden Titel How Much of Us There Was (2005), erneut familiäres Urgrauen schildert, diesmal aus der Perspektive des Großvaters selbst, dem die Gemahlin stirbt, ein Roman, der die entsetzliche Abfolge von Siechtum und Krankenhäusern und schlussendlicher Vereinsamung aufzeigt, vereindringlicht noch dadurch, dass sich ein Erzähler einblendet, der Michael Kimball heißt, wodurch, im Spiel mit Pseudoautobiografie, der Effekt von Wirklichkeitssimulation zusätzlich verstärkt wird.30 Was aber – aller Familienund Zukunftszerstörung zum Trotz – präsent bleibt, ist die ungebrochene, ästhetische Wucht von Familie als Figur gesellschaftlicher Reflexion.

29 30

Ebd., S. 141. Kimball, Michael, How Much of Us There Was, London/New York, 2005.

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MORITZ BASSLER

Der Familienroman im Nicht-Familienroman. Beobachtungen an Jonathan Littells Die Wohlgesinnten und Dietmar Daths Waffenwetter I Wie Liebesbeziehungen, Krebskrankheiten und Revolver sind Familien im Roman etwas anderes als in der Wirklichkeit. Es sind künstliche, konstruierte, mitunter auch topische Mittel, die dazu dienen, die fiktionale Welt und mit ihr letztlich den fiktionalen Text mit Struktur und Bedeutung aufzuladen. Von der Ilias bis zu den Buddenbrooks hatte die Familie dabei die Funktion des Fluchs. Der Protagonist wird durch ein Erb- und Überlieferungsgeschehen determiniert, das sich über Generationen hinweg fortsetzt. Dieses Muster hat am Übergang zur literarischen Moderne mit Zolas Naturalismus und der Décadenceliteratur einen letzten großen Auftritt. Freud aktualisiert es noch einmal für die ödipale Kleinfamilie, die sich im Bürgertum des 19. Jahrhunderts durchsetzt. Noch in den frühen Folgen der Serie Der Kommissar sind deren Muster immer wieder strukturbildend. Zwischenzeitlich scheinen sie dagegen etwas an Prägekraft verloren zu haben. Wenn etwa eine Tatort-Folge ihr Tatmotiv noch einmal aus einer echten, generationenübergreifenden Familienstruktur schöpfen will, dann greift sie in der Regel auf Adels- oder wenigstens Geldadelskreise zurück, in deren Familien – zumindest in der Fiktion – Belastungen und Codes herrschen, die ansonsten längst etwas exotisch wirken. Hier kommt dann gern das beinahe schon archaisch anmutenden Wort ‚Dynastie‘ zum Einsatz, das ja auch am Anfang jener TV-Serien steht, die vielleicht heute das wichtigste Medium sind, in dem Familiengeschichten erzählt werden. Wie aber bereits der artist damals noch und heute wieder known as Prince gültig formulierte: „You don’t have to watch Dynasty to have an attitude“. Nahverhältnisse, die jeweils eine Generation oberhalb und unterhalb des Protagonisten einbeziehen, werden naturgemäß sehr häufig gestaltet, doch gibt es heute vielfach, und nicht nur in der Popliteratur, Romane, gelegentlich sogar stark autobiografisch geprägte Romane, in denen Familienbande kaum Thema sind und jedenfalls keine tragende Rolle für Struktur und Bedeutung mehr zugewiesen bekommen. Und das ist auch nur folgerichtig: Die genealogische Folge ist eine Figuration jener lebensweltlichen und literarisch-epischen Schließung (clôture), die Hegel zufolge in der modernen Epopöe des Romans nicht mehr funktioniert. Die Familiensaga hat dementsprechend ihre Nische in den geschlossenen archaischen Welten von Tolkien und Star Wars sowie in der eher trivialen Erzählliteratur gefunden. Wenn sie in der E-Literatur gele219

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gentlich wieder hervorgeholt wird, wie im Umfeld von Jonathan Franzens The Corrections oder in der deutschen Aufarbeitungsliteratur der sogenannten dritten Generation, dann wird das als besonderes Ereignis wahrgenommen und führt zu Titelstorys im Feuilleton und schließlich sogar zu Tagungen. Familienromane tendieren zu jener selbstverständlich-realistischen Erzählweise, die zumindest in der deutschen Literatur lange Zeit als tendenziell trivial galt, seit einigen Jahren aber wieder voll salonfähig ist. Man kann das mit Interesse, aber auch einer gewissen Skepsis verfolgen. Meine These, die ich bislang in Arbeiten zu Bernhard Schlink und Helmut Krausser zu erhärten versucht habe, lautet, dass solche realistisch daherkommenden Texte ihren literarischen Sinn qua Verfahren nur als Funktion ihrer Diegese herstellen können. Anders gesagt: Wo das Erzählen selbst metonymisch unauffällig über weitgehend automatisierte Muster erfolgt – und eben das ist ja realistisches Erzählen –, da muss die literarische Bedeutung in den Inhalt verlegt werden, sprich: es müssen vorzugsweise krasse Dinge erzählt werden, die von sich aus bedeutungstragend sind. Im Zuge dieser Überlegungen wäre auch einmal dem Verdacht nachzugehen, dass die jahrzehntelange und weiter anhaltende Konjunktur der deutschen Bewältigungsliteratur nicht allein aus der persistenten Notwendigkeit zu erklären ist, die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und zu erinnern, sondern auch umgekehrt dadurch befördert wird, dass dessen Greuel, die Opposition von Täter und Opfer, gut und böse, Geheimnis und Aufdeckung etc. sich so wunderbar dazu eignen, realistische Literatur mit jenen Bedeutungsstrukturen auszustatten, die sie für ihren literarischen Haushalt so dringend nötig hat.

II Der im Folgenden besprochene Fall liegt etwas komplizierter, ist aber Teil desselben Feldes. Der Clou von Jonathan Littells Les Bienveillantes (2006, 2008 deutsch als Die Wohlgesinnten erschienen) ist nämlich, dass er die nationalsozialistischen Verbrechen gerade andersherum als ganz alltägliche Erfahrung metonymisiert und nicht als das Inkommensurable. Zunächst einmal ist das ein Tabubruch: „Für mich ist klar: mit der Gaskammer kann man keine Fiktion machen“, erklärt Claude Lanzmann in einem Interview. Bei Jonathan Littell aber, so beruhigt sich der Regisseur von Shoah gleich wieder, gehe es ja gar nicht um das Problem der Fiktion, denn: „Es ist ein historischer Roman. Haben Sie ihn gelesen?“1 Bis Anfang 2008 hatten vor allem die Franzosen Gelegenheit, den Erstling Littells zu lesen; und sie haben es, 900 absatzarmen Seiten zum Trotz (die deutsche Übersetzung bringt es sogar auf 1360), offenkundig zu Zigtausenden getan und ihm gleich noch ihre höchsten Literatur1

Littell hat die Sprache der Henker gefunden. Gespräch mit Claude Lanzmann über den gewandelten Umgang mit dem Holocaust, in: FAZ, 28. 11. 2007, S. 35.

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preise verliehen. Unter diesen Wohlgesinnten ist auch der bekannte Historiker Pierre Nora, der in einem Gespräch mit Littell beklagt, das Buch werde, seiner dokumentarischen Genauigkeit wegen, wohl „letztlich [bloß] als historischer Roman aufgefasst, was es selbstverständlich nicht ist.“2 Aha! Oder vielmehr: Wie denn nun? Der historische Roman ist bekanntlich eine seit Walter Scott und dem Historismus des 19. Jahrhunderts beliebte Gattung, deren Handlung in einer möglichst wahrhaftig rekonstruierten Vergangenheit spielt. Dabei wird ein fiktiver mittlerer Held durch verschiedene historisch beglaubigte Stationen geführt, wobei er zuverlässig auch auf reale historische Persönlichkeiten trifft. Dieser Definition gemäß ist Die Wohlgesinnten zunächst und vor allem in der Tat ein historischer Roman. Der fiktive Held und Ich-Erzähler Maximilian Aue, Franzose mit deutschem Vater, schließt sich als junger Mann den deutschen Nazis an und macht Karriere im Sicherheitsdienst. Er ist hinter der Front an der Organisation der Vernichtung der ukrainischen Juden beteiligt, nimmt aktiv an Babi Jar teil und ist im Kaukasus dabei, er wird in Stalingrad verwundet, inspiziert Vernichtungslager wie Auschwitz, überwacht die Todesmärsche, flieht vor der russischen Front, erlebt das Kriegsende in Berlin und kann anschließend in Frankreich unerkannt eine neue Existenz als Spitzenfabrikant aufbauen. Dass er bei diesem Lebenslauf bekannten NaziPersönlichkeiten wie Eichmann, Heydrich, Himmler und Speer begegnet, ist kaum verwunderlich, doch die dokumentarische Akribie Littells geht sehr viel weiter: Offenbar sind beinahe alle genannten Offiziere, Lagerleiter und Bürokraten – und das sind hunderte – ebenso bis ins Detail genau recherchiert wie die historischen Vorkommnisse, die militärischen und bürokratischen Institutionen, die lokalen Gegebenheiten und sogar die Flugzeugtypen. „Alles stimmt“, staunt Lanzmann. „Die Namen der Leute, der Orte. Ich habe mir gesagt, die beiden einzigen Menschen, die dieses Buch von A bis Z verstehen können, sind Raul Hilberg und ich“.3 Und in der Tat: es ist das Begehren dieses Romans, das, was man in Hilbergs kanonischer Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden in nüchternen Worten lesen kann, möglichst vollständig noch einmal zu erzählen. „Ein bisschen lang“ sei sie dabei wohl geraten, die Geschichte, gibt der Erzähler denn auch gleich zu Beginn unumwunden zu, „schließlich ist viel geschehen“ (9).4 Wo viel geschehen ist, muss viel erzählt werden – das deutet auf ein realistisches Abbildungsverhältnis hin: die bekannte Welt noch einmal als Literatur. Und als bekannt dürfen, spätestens nach den Debatten um die Wehrmachts-Ausstellung, die wesentlichen Inhalte des hier Erzählten wohl gelten. Ja, man ist als Leser manchmal geradezu erschrocken, wie unheimlich vertraut 2 3 4

Jonathan Littell und Pierre Nora, „Gespräch über die Geschichte und den Roman“, in: Littell, Jonathan, Die Wohlgesinnten. Marginalien, Berlin, 2008, S. 13-56, S. 27. FAZ-Interview, 28. 11. 2007, S. 35. Littell, Jonathan, Die Wohlgesinnten. Roman, aus dem Französischen von Hainer Kober, Berlin, 2008 (Seitenzahlen aus dieser Ausgabe in runden Klammern im Fließtext).

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einem all diese Vorgänge sind: die Verwaltung, die Erschießungen, die Massengräber, die Selektion, die Vergasung, der Kessel, die Bombennächte, die Verwundung, die Flucht, die Russen – da hat sich in den letzten Jahrzehnten offenkundig ein umfassendes kollektives Archiv von stereotypen Erzähl- und Vorstellungsrahmen gebildet, über das wir beinahe schon automatisch verfügen.5 Ob „alles stimmt“ oder nicht – jedenfalls haben wir alles schon mal gesehen, schon mal gelesen,6 und Littells Schilderungen fügen diesem Bekannten weder inhaltlich noch sprachlich etwas Neues hinzu. Alles wird aus der mittleren Distanz eines teilnehmenden Beobachters geschildert, wodurch die Beschreibungen eher stereotyp als intensivierend wirken. Und wenn einmal ein individuelles Moment herausgehoben wird (z. B. das kleine Mädchen, das sich vor der Erschießung an den Täter klammert), dann meint man auch und gerade das schon geradezu klischeehaft bereits zu kennen. Deshalb lässt sich der Roman auch schnell lesen7 – das hier ist keine Ästhetik des Widerstands. Littell sagt selbst, er habe „nicht versucht, die französische Sprache neu zu erfinden, Experimente zu machen oder auf dieser Ebene Neuerungen einzuführen.“8 Im französischen Original mag die hohe Dichte deutscher Vokabeln im Text noch eine gewisse Sperrigkeit bewirken, die freilich in der Übersetzung verschwindet. Erzählen des Bekannten und historisch Beglaubigten, keine Experimente – anders, als Lanzmann es meint, stellt sich bei einem programmatisch realistischen Projekt wie diesem die Frage der Fiktionalität sehr wohl, ja geradezu verschärft. Sie plagt denn auch den Autor als „die einzig interessante Frage“: „ob dieses Buch funktioniert, als … – Pierre Nora: Als Mittel zur Wahrheitsfindung? – Littell: Nein, als ein Mittel, Literatur hervorzubringen.“9 Tja. Littells literarischer Einfall besteht darin, einen Täter erzählen zu lassen, dazu einen Täter, der sich den französischen Lesern mit einiger Überzeugungskraft eben nicht als böser deutscher Nazi vorstellt, sondern als einer von ihnen: elegant, belesen, philosophisch gebildet – „je suis comme vous!“10 Funktioniert das? Und wenn, dann als Literatur oder doch eher als Mittel der Wahrheitsfindung? Der eigentlichen Erzählung ist mit der Toccata (alle Kapitel heißen nach Tanzsätzen) eine Reflexion des alten Aue rahmend vorangestellt, durchsetzt von poetologischen und metahistorischen Überlegungen, von denen man sich fragen kann, welche Geltung sie für den Roman tatsächlich haben. Einerseits 5 6 7 8

9 10

Vgl. aktuell Renée Zucker über die „Anonyma“-Verfilmung von Max Färberböck. In: Zucker, Renée, „Schweigen und gucken. „Anonyma“ im Kino“, in: taz, 22. 10. 2008. Das sind nach Roland Barthes Merkmale des ‚lesbaren‘ realistischen Textes des 19. Jahrhunderts. Vgl. Barthes, Roland, S/Z, Frankfurt am Main, 1976, S. 25 et passim. Auch dies ist nach Roland Barthes ein Zeichen des realistischen Erzählens des 19. Jahrhunderts. Vgl. Barthes, Roland, Die Lust am Text, Frankfurt am Main, 1974, S. 19 f. Jonathan Littell und Pierre Nora, „Gespräch über die Geschichte und den Roman“, a.a.O., S. 46. Ebd., S. 23. Littell, Jonathan, Les Bienveillantes. Roman, Paris, 2006, S. 30.

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ermöglicht der fiktive Ich-Erzähler hier vermutlich Provokationen und Vergleiche, die der Autor selbst (bzw. ein autornaher Erzähler) sich so nicht hätte erlauben können – das reicht vom Vergleich der Tötungsquote an der Ostfront mit der im Algerienkrieg bis hin zum Vergleich Hitlers mit einem Rabbi. Andererseits aber scheinen die Kernaussagen sich durchaus mit Auffassungen zu treffen, die Littell auch außerhalb der Fiktion vertritt, zentral darunter die von der Normalität der Täter, die ausdrücklich gegen Goldhagen gerichtete These, „dass jeder Mensch“, nicht nur der Deutsche, „unter gewissen Voraussetzungen das tut, was man ihm sagt“ (33). Zu diesen Voraussetzungen gehört für Littell der Kontext des Kriegsalltags, „dass der Genozid jenseits des Krieges nicht existiert, und dass es sich bei ihm, wie beim Krieg, um ein kollektives Phänomen handelt“ (31). Hinzu tritt als historische These, dass die Niederlage im Ersten Weltkrieg in den betroffenen Ländern zu einer anderen Auffassung staatlichen Tötens geführt habe als in den Siegerstaaten. Wozu braucht ein solches Thema überhaupt Literatur? Als spezifisch literarische Aufgabe wird bei alledem eine Poetik des Vorstellens angedeutet – man soll sich Bilder aufrufen können zu den unglaublichen Zahlen, die hier alle Opfer umfassen, nicht nur die der Judenvernichtung. Man soll aber eben auch die „imaginative Sympathie“ aufbringen, die „das Unmenschliche auf das Menschliche zurückführt“11 und das Handeln der Täter erklärt. Realistisches Erzählen geht, wie gesagt, prinzipiell metonymisch zu Werke, das heißt, es ordnet die erzählten Ereignisse in vertraute Rahmen und motivierte Zusammenhänge ein und produziert so leichte Verständlichkeit. Auf dieser Ebene setzt der Roman sein Programm durchaus erfolgreich um; mit anderen Worten – es funktioniert: Ohne als Leser vollständig zum Komplizen zu werden, nimmt man Max Aue seine Zwänge, Nöte und Motive als Mitglied der nationalsozialistischen Vernichtungsapparatur doch weitgehend ab, es bleibt kaum eine Kluft zwischen seinem nachvollziehbaren Erleben und seinen Taten, denen auf diese Weise alles Inkommensurable genommen wird. Die Schuld wird dabei nicht geleugnet, selbst von Aue nicht, sie wird aber doch anthropologisch und historisch relativiert: „Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch“ (33). Die Opfer seien nicht irgendwie ‚besser‘ gewesen als die Täter, und deren Taten – von wenigen Kriminellen abgesehen – kaum freiwilliger zustande gekommen als jener Leiden. Sinnbild dieses Täterverhaltens ist der Ingenieur Osnabrugge, der Brücken liebt und nichts lieber täte, als Brücken zu bauen, im ganzen Krieg aber immer nur dazu eingesetzt wird, Brücken zu sprengen. Es braucht, wie gesagt, erschreckend wenig an literarischem Aufwand, um die historischen Bilder im Leser wachzurufen. Littells Verzicht auf ambitionierte Kunstsprache führt ja eher dazu, dass auch seine Beschreibungen konkreter Szenen zumeist im Allgemeinen bleiben: 11

Vgl. Littell, Jonathan und Nora, Pierre, „Gespräch über die Geschichte und den Roman“, a.a.O., S. 36 und 50.

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Die Hitze war fürchterlich, der Schweiß floss in Strömen, der Staub klebte wie eine graue Maske am Gesicht; doch im Morgengrauen, kurz nach dem Aufbruch, hatte sich ein zartes wunderbares Farbspiel lange Zeit am nur langsam erblauenden Himmel gehalten und meine Trübsal vertrieben (323).

Keine Prosa für Ästheten, obwohl Aue Tschechow, Flaubert und Jünger liest, geboten wird eher Lakonisches auf mittlerem Sprachniveau: „Frau Eichmann reichte Kuchen und Tee“ (789). Noch die lange und wirre Todesphantasie am Ende der Courante, das Kühnste, was Littell sich in dieser Hinsicht leistet, bleibt dem realistischen Duktus treu, und während der Genesende in der Sarabande ausdrücklich nach einer neuen Sprache sucht, hat der Roman, der dies erzählt, die alte immer noch und schon wieder parat. Gerade dieser Verzicht auf Sprachartistik erscheint im historischen Teil des Textes aber als durchaus funktional: im zweiten Kapitel gibt es endlose Passagen, die der Frage gewidmet sind, ob eine bestimmte kaukasische Bevölkerungsgruppe nun semitisch ist oder nicht. Experten werden eingeflogen, linguistische, theologische und historische Fachdiskussionen geführt, Feldforschung betrieben, die unterschiedlichen Interessen zwischen Wehrmacht und SD werden ausgetragen. Man vergisst über der Eigenlogik, die sich hier entwickelt, völlig, dass es letztlich um die Frage geht, ob einige Tausend Menschen vergast werden oder nicht. Gleiches gilt im Menuett für die wenig erfolgreichen Bemühungen Aues, arbeitsfähige Juden für Speers Kriegsindustrie zu requirieren – zig Seiten gefüllt mit der detaillierten Wiedergabe zähen bürokratischen Taktierens und Verhandelns, die den Leser einlullen in ihre verwaltungsmäßige Gewöhnlichkeit, bis sich der Erzähler selbst unterbricht: „Am 9. April … ach, wozu Tag für Tag auf diesen Einzelheiten herumreiten? Es ermüdet mich, außerdem langweilt es mich – und euch vermutlich auch“ (1087 f.) – nur um anschließend, sprachlich wie inhaltlich, im gleichen Duktus genau damit fortzufahren. Und dennoch sind es diese vermeintlich langweiligen Passagen, in denen der Text am stärksten ist. Hier verbindet sich Littells historische Akribie mit der imaginativen Sympathie seines Erzählverfahrens zu einem gnadenlosen Ausbuchstabieren der Judenvernichtung als Organisationsvorgang, dessen interne Problemchen vermutlich jeder, der jemals mit Verwaltungen zu tun hatte, bestens nachvollziehen kann. Darin ist eine Konsequenz des alten realistischen Erzählens erkennbar, die der Roman durchaus innovativ für seine Zwecke nutzt: In der radikalen Metonymisierung tendiert noch die schrecklichste Bedeutung zum Verschwinden in den Rahmen des Gewohnten. Offenkundig sieht Littell seine historischen Thesen in dem Maße bestätigt, in dem ihm dies erzählerisch gelingt.

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III Aber ich werde literarisch; einer meiner Fehler. (Max Aue) Die eigentlichen literarischen Schwierigkeiten von Littells Projekt beginnen dort, wo der Text kein historischer Roman mehr sein will. Max Aue ist, als mittlerer Held und Verkörperung der zentralen Erzählidee, ein eher passiver Charakter mit leicht autistischen Zügen. „Ich beobachte und tue nichts, das ist meine Lieblingsrolle“ (358). Immer wieder muss er von seinem smarten Freund Thomas aus irgendwelchen Situationen gerettet werden; als Führer anderer, der er als Obersturmbannführer ja durchaus gelegentlich ist, wird er dem Leser nie recht plastisch. Das wäre nicht weiter schlimm, schließlich agiert er ja, wie gesagt, als Dauerzeuge und Kommentator durchaus erfolgreich („Ich bin geradezu eine Erinnerungsfabrik“, 10). Doch lässt der Roman es damit nicht bewenden und bürdet seinem Erzähl-Ich auch noch einen, wie es im Text selbst heißt, „Familienroman“ („roman familial“, 19) auf – womit wir endlich beim Thema wären. Die Familiengeschichte setzt nun – in denkbar größtem Gegensatz zum historischen Narrativ – mit voller mythischer Wucht ein. Aufgefahren werden unter anderem Inzest, Elternmord mit Hackebeil, Homosexualität und Autoerotik, alles sehr blutig. Es reicht also offenbar nicht, dass Max den Generalzeugen der schwärzesten Epoche jüngerer Geschichte gibt, nein, er muss auch noch den Orest stemmen, denn unter Atridenfluch-Niveau gibt man sich hier, vom Titel angefangen12, nicht zufrieden. Schon rein erzählerisch ist der realistische Roman mit dieser Aufgabe nun allerdings überfordert. Die mittlere, unauffällige Sprache, die Littell für seinen Roman gefunden hat, erfüllt ihren Zweck im Historischen, für die tragische Familiengeschichte aber taugt sie nicht, weil sie auch hier – wo das Exorbitante gefragt wäre – nur Stereotypen anbieten kann: Una, die begehrte Schwester hat immer „schwere Brüste“, die Träume sind alle „seltsam“ usw. Die immer wieder beschworene Belesenheit des Edelnazis Aue schlägt sich, wie gesagt, in seiner Erzählsprache nicht nieder. Nehmen wir folgende Szene: Max Aue betrachtet sich während des Analverkehrs mit einem Burschen im Spiegel und imaginiert das Gesicht seiner Schwester zu seinem eigenen hinzu: Doch da geschah etwas Erstaunliches: Zwischen diese beiden Gesichter […] schob sich ein anderes Gesicht, das abweisende ruhige Gesicht unserer Mutter, unendlich fein, aber doch undurchsichtig, dichter als die dickste Mauer. Von rasender Wut gepackt, brüllte ich auf und zertrümmerte den Spiegel mit einem Faustschlag; erschrocken sprang der Junge zurück und fiel aufs Bett, wo er in langen Schüben kam (719). 12

Die „Wohlgesinnten“ sind die Eumeniden.

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Hier ist die literarische Ambition entschieden geweckt, entsprechend wird kräftig und einigermaßen wahllos Symbolik aufgetragen: Homosexualität, Inzest, Mutter, Spiegel, Mauer, Scherben, Selbstverletzung – alles in einer kleinen Szene. An solchen Stellen droht der Roman ins Prätentiöse zu kippen; denn für die sprachliche Umsetzung stehen weiterhin nur sehr schlichte Mittel zu Gebote, die bisweilen das Klischee streifen („Erstaunliches“, „unendlich fein“, „rasende Wut“ etc.). Weil dieses Missverhältnis den „Familienroman“ durchzieht, bleibt die Liebe zu Una narrativ so wenig beglaubigt wie der Hass auf die Mutter oder die Sehnsucht nach dem früh in einem Freikorps verschollenen Vater. Keine Experimente! Im Ergebnis bedeutet das: viel Blut und ein paar perverse Phantasien, deren Radikalität aber auch eher behauptet als gestaltet wird. Ratlos macht einen dabei weniger die Tatsache, dass offenbar bewusst mit dubiosen Klischees operiert wird („die schwulen Nazis“), als vielmehr die Frage, warum um alles in der Welt man sich überhaupt für die sexuellen Nöte des Max Aue interessieren sollte und wozu deren antikisierende Überhöhung im Romanganzen dient. Schließlich ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass diese mythisch-psychoanalytische Aufladung der Gesamtthese des Textes vom ‚normalen‘ Nazi heftigst zuwiderläuft. Die gesamte historische Erzählung ist doch darauf angelegt, den Täter als Menschen wie du und ich vorzuführen. Genau dafür war der kultivierte mittlere Held Aue ins Leben gerufen worden – und jetzt ist er plötzlich doch der perverse schwule Maniac? Wie soll das zusammengehen? Man muss also feststellen: Mit der Gaskammer lässt sich sehr wohl eine realistische Fiktion machen, Die Wohlgesinnten gibt in seinen historischen Teilen die Probe aufs Exempel. Doch die Kosten sind hoch: Mit der narrativen Metonymisierung von Auschwitz löst sich das schwerste Zeichen deutscher (und jüdischer) Kultur in banalen, nachvollziehbaren Erklärbarkeiten auf: der Holocaust als Institutionenroman. Das ethische Skandalpotential, das darin steckt, hat seine öffentliche Debattenwirkung in Frankreich nicht verfehlt, die deutsche Rezeption war dagegen eher verhalten. Uns interessieren an dieser Stelle aber vor allem die genuin literarischen Konsequenzen eines solchen Projektes in historischem Realismus, und die sind nicht weniger gravierend. Denn literarisch entsteht durch das realistische Ins-Gewohnte-Überführen stets eine Art Mangelgefühl. Wo die Institutionen des Alltäglichen greifen, vermisst man auf die Dauer etwas von jener Bedeutungsschwere, die wir – und insbesondere unsere Literaturpreisrichter – immer noch selbstverständlich erwarten, wo es darum geht, ‚Literatur hervorzubringen‘. Genau in diese Bresche springt nun die frei erfundene Familientragödie. Anders als Theweleit13 überzeugt mich deren Aufladung mit schweren Kulturzeichen von der griechi13

Vgl. Theweleit, Klaus, „Die jüdischen Zwillinge“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. 02. 2008; ders., „Wem gehört der SS-Mann? Die Frankophobie der Literaturkritik“, in: taz, 28. 02. 2008.

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schen Mythologie bis zur Archetypik C. G. Jungs nicht. Poetologisch gesehen dient sie, so scheint mir, vor allem dazu, die realistische Leere mit einer literarischen Ersatz-Bedeutsamkeit zu füllen. Es handelt sich schlicht um eine Verschiebung: Die an der einen Stelle (Auschwitz) getilgte Bedeutungsschwere wird durch eine rein fiktive ersetzt. Um das zu erreichen, wird die absolute historische Zuverlässigkeit des Erzählers Max Aue im „Familienroman“ ergänzt durch das beliebte Spiel des unzuverlässigen Erzählers, in den sich derselbe Max Aue verwandelt, sobald es um den Mord an seiner Mutter geht. Mysteriös: War er’s, oder war er’s nicht? Ist die tote Frau im Park die Leiche der Schwester? Und wessen Kinder sind die geheimnisumwitterten Zwillinge? Schwere Zeichen: mit der dicken Symbolik der Familientragödie versucht der Roman, die Waagschale literarischer Bedeutung nach unten zu drücken, die durch die sympathetische Imagination des historischen Romans für zu leicht befunden zu werden drohte. So können sich Aues profane Verdauungsstörungen, die sich bei der Erinnerung an Leichenberge und Gaskammern einstellen, mit Hilfe der ahistorisch blutigen Familienschuld am Ende doch noch in die prix-goncourt-tauglichen Eumeniden bzw. Erinnyen verwandeln. Auch auf der Handlungsebene haben die einzigen echten Verfolger, von denen der Held bedroht wird, nur seine individuell-fiktiven Mordtaten auf dem Kieker und nicht die historisch-kollektiven.14 Im Laurel-und-Hardyartigen Polizistenpaar Clemens und Weser hält dabei noch ein dritter Texttyp in den Roman Einzug, ein absurd-trashiges Element, das sich auch in dem Industriellenduo Mandelbrod und Leland verkörpert, dessen Aufzug mit Rollstuhl, Sonderzug und geklontem Sekretärinnenstab eher einem Fu-ManchuFilm als den Schriften Dimitroffs zu entstammen scheint. Dieses im Gesamttext eher homöopathisch dosierte Element wird erst ganz am Ende dominant, wenn Aue persönlich Hitler bei einer letzten Ordensverleihung im Führerbunker herzhaft in die Nase beißt, bevor es im zerstörten Berliner Zoo zum absurd-exotischen Showdown kommt. Das ist nun wirklich albern und Stoff wie Anliegen des Romans nicht mehr angemessen – Aue ist alles, aber kein Picaro. Man ist versucht, in diesem Trash-Ende eine Übersprungshandlung zu sehen, auf die der Roman ausweicht, nachdem er an der Synthese von historischer und familienmythischer Großerzählung scheitern musste.

IV Bei Littell liegt eine paradoxe Konstellation vor: das Kriegs- und Vernichtungsgeschehen ist das Normale, die Familie der Ort des Grauenvollen. Auf den ersten Blick scheinen Familienstrukturen in Romanen wie Arno Geigers 14

Anders als in Robert Harris’ parahistorischem Kriminalroman Fatherland (1992), wo der Detektiv, ausgehend vom individuellen Mordfall, das Verbrechen der ‚Endlösung‘ aufklärt.

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Es geht uns gut (2005) oder Tanja Dückers’ Himmelskörper (2003) genau umgekehrt zu funktionieren. Vergleichbar bleibt aber die Kopplung von Grauen und Familie zum Zwecke literarischer Hebung: Opa war ein Nazi, und das belastet jetzt die Familien bis ins soundsovielte Glied. Literarisch ist damit erstens ein Erzählanlass gegeben, zweitens wird mit dem aufzudeckenden Geheimnis zugleich eine hermeneutische Spannung aufgebaut, drittens ermöglicht die Familienstruktur, wie gesagt, eine befriedigende clôture – mit dem Nebeneffekt, dass alles, was thematisiert wird, gegen das Außen, gegen Probleme der Gegenwart, abgeschottet bleibt – und viertens kann das Buch die Bedeutungsschwere des historischen Geschehens ummünzen in eigene literarische Bedeutung. Abschließend sei in aller gebotenen Kürze ein Roman vorgestellt, der ebenfalls die deutsche Drei-Generationen-Nachkriegsfamilie aufruft, aber ohne in die erwähnte Realismus-Falle zu tappen. Dietmar Daths Waffenwetter (2007) ist der dritte Teil einer Trilogie, deren erste zwei Bände vollständig ohne Familienstrukturen auskommen. Reflexionsraum für Theorie, Geschichte und Medienanalyse ist hier vielmehr, nicht untypisch für die bessere Gegenwartsliteratur, der Freundeskreis. Die salzweißen Augen (2005) beginnt wie ein Brief-Essay über Drastik in Literatur, Film und Musik, dessen Gedanken auf Diskussionen einer ehemaligen Schulhof-Clique des autornahen Protagonisten Daniel Dalec zurückgehen. Wider Erwarten nehmen im Verlaufe des Buches die Erinnerungs-Passagen zur Jugend im ‚Kaff‘ noch zu, der Essay weitert sich zum Briefroman, und der Drastikdiskurs wird in der Tat und ganz ernsthaft in die ‚Drastiksozialisation‘ Daniels, des Besserwissers, eingelassen. Die Fiktion wirkt schließlich bis in die Endnoten hinein. Kulturreflexion im Kaff – in seinem Ernstnehmen und Fortsetzen pubertären Theoretisierens bei vollem „Peinlichkeitsrisiko“15 gemahnt das Unternehmen passagenweise an den grandiosen Roman Morbus Fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien von Frank Schulz (2001). In Dirac (2006) setzt Dath sein Projekt mit demselben Personal fort und verstärkt die Fiktionalität der Handlung bis ins Science-Fictionhafte. Waffenwetter setzt demgegenüber personell noch einmal neu an: Die Protagonistin Claudia ist eine dauergenervte deutsche Abiturientin, Motto: „jeder mensch hat probleme, aber meine mag ich am allerwenigsten“ (13).16 Diese Probleme sind realistische Probleme: die beste Freundin, Jungs, ein flüchtiges Verhältnis mit einem Lehrer, und realistischerweise ist ihr Ort nicht die Familie. Diese ist vielmehr der selbstverständliche und eher unverbindliche Rückzugsraum – „wieso sollt ich ausziehen wollen, wenn ich mich, angegriffen und verschnupft wie heute, doch auf mein riesenbett legen kann, zwischen kissen, 15

16

Ein Ausdruck von Diedrich Diederichsen (Musikzimmer. Avantgarde und Alltag, Köln, 2005, S. 14). Dath, Dietmar, Waffenwetter. Roman, Frankfurt am Main, 2007 (Seitenzahlen aus dieser Ausgabe in runden Klammern im Fließtext).

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die ich kenn“ (54). Die aufgeklärten Eltern – Vater ist Musikkritiker, Mutter geht gern in Ausstellungen – stören sich allenfalls an den üblichen Patzigkeiten, an lauter Musik, Rauchen und Handyrechnung; als Tragödienursache kommen sie so wenig in Frage wie als strafende Instanzen. Dann ist da allerdings noch Konstantin, der Großvater, Rentner, ehemals wirtschaftlich erfolgreich und immer noch überzeugter Kommunist, der sein vermeintlich obsoletes politisches Wissen hartnäckig an die Enkelin weitergeben will. diese sozialistischen filme und ihr zusatzmaterial […] -, jessas, eine einzige folter. drei stunden defakarlliebknechtdoublefeature, anschließend noch die biographien sämtlicher mitwirkender als textfiles zum scrollen; andächtig muss man dabeisitzen, sonst ist man nazi (15).

Das Verhältnis der ersten zur dritten Generation wird hier einmal anders dargestellt als in der Dritte-Generation-Erinnerungsliteratur. Clautschi freut sich, beim Großvater einen Rückzugsraum zu haben (sie darf da rauchen), sie freut sich über seine Zuwendungen (z. B. ein Auto), aber seine politische Vergangenheit ist ihr eigentlich denkbar egal. Wenn überhaupt irgendwo politische Vorwürfe drohen, dann umgekehrt: der Enkelin vom engagierten Großvater. Sein Programm zu ihrer politischen Bildung wird von ihr nur knurrend akzeptiert, es beruht auf scheinbar generationstypischen Tiraden vom allgemeinen Niedergang der Bildung: die rodomontade, die sie heutzutage gymnasium nennen. die heruntergekommenheit ist unbeschreiblich. […] wer an die universität kommt, hat nicht euklid noch petrarca gelesen, nicht descartes noch shakespeare, weder milton noch goethe. ihr könnt keine saubere gemüsehändlerbilanz mehr ziehen, geschweige die tierkreisabweichung der venus in hexadezimalzahlen ausrechnen. ein trübes und träges geschlecht wächst heran (18 f.).

Konrad fährt gegen diese Missstände aber nicht nur DKP-Lektüre auf. Sein Abigeschenk für Claudia, eine gemeinsame Reise nach Alaska, entpuppt sich als politischer Auftrag. Ausspioniert und womöglich sabotiert werden soll eine real existierende forschungs-militärische Hochfrequenzantennenanlage namens HAARP. Und genau an dieser Stelle endet nach etwa zwei Dritteln des Buches der realistische Familienroman, und zwar nicht mit einer Schließung, sondern zunächst mit einem abrupten Abbruch – der Großvater wird erschossen – und dann mit einer doppelten Öffnung, auf die der Leser durch nichts vorbereitet ist: Claudia entpuppt sich als Ergebnis eines sowjetischen Clon-Experimentes, trifft einige ihrer Clon-Schwestern und durchlebt mit ihnen eine wilde Science-Fiction-Handlung im Kampf um HAARP. Das ist die erste Öffnung: Sehr explizit wird die natürliche Familienstruktur ersetzt durch eine radikal künstliche Genealogie, der vermeintliche Realismus wird zur Fantastik.17 Die zweite Öffnung führt dann ganz aus dem Roman hinaus. Es werden Zeitungsartikel und Homepages angegeben, auf denen der Leser sich wei17

In Die Abschaffung der Arten (2008) setzt Dath diese Tendenz radikal fort.

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ter über HAARP informieren kann. In Netz-Communities hatte diese Anlage immer schon Anlass zu Protesten, Mystifikation, Verschleierung und Verschwörungstheorien gegeben; Protagonistin, Autor und schließlich auch Leser werden an diesem Diskurs beteiligt. Die Fiktion setzt sich ins Netz hinein fort und verzweigt sich dort, vermischt sich mit Dokumentarischem und wird, in der Aufklärung über dubiose Militärprojekte der Amerikaner, womöglich auch praktisch. Daths Roman praktiziert aber auch formal von Beginn an kein selbstverständlich-realistisches Erzählen. Zwar wirken die Äußerungen der postpubertären Ich-Erzählerin Claudia – auch auf gleichaltrige Studentinnen – um ein Vielfaches realitätsnäher als das Erzählen bei, sagen wir, Schlink, Littell oder Grass, doch werden sie uns als rätselhaft numerierte Textschnipsel präsentiert, in konsequenter Kleinschreibung, die mitten im Satz abbrechen. Aufzeichnungen eines globalen Überwachungsapparates, der Noosphäre, womöglich von HAARP selbst? Und wer sind die mysteriösen „Sie“, die gelegentlich auftreten und denen sich Claudia am Ende anschließt – Geheimdienstler oder doch so etwas wie Elohim? Das Fantastische schlägt durch bis auf die Texturebene. Dennoch lässt sich, mit etwas Mut zur Vereinfachung, festhalten: Daths Waffenwetter nutzt den Familienroman nicht, um zu fragen, wie die Großelterngeneration an den Taten der Nazis beteiligt war, sondern umgekehrt, um zu fragen, was wir, die Enkel, gegen die Bedrohungen unserer Zeit zu tun gedenken. Indem er erkennt, dass diese Frage keine des Familienzusammenhanges mehr ist, kippt der Roman die Familienhandlung über Bord, verzichtet dadurch auf Schließung und steuert ins Fantastische einerseits, in den außerliterarischen Diskursraum des World Wide Web andererseits. Das, will mir scheinen, ist ein vorwärtsgewandter Umgang mit Familie im Roman.

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AUF DER SUCHE NACH EINEM FAMILIENROMAN

THOMAS ELSAESSER

Berlin Isle de Memoire: Mediale Spuren einer Geschichte auf der Suche nach ihrem Familienroman Was geschieht, wenn man den deutschen Familienroman des 20. Jahrhunderts, anstatt den symptomatischen Charakter der Gattung auf dem Hintergrund der Zeitgeschichte und des Generationskonflikts zu beleuchten, als solchen nicht voraussetzt, sondern umgekehrt fragt, welche materiellen, medialen, memoriellen und menschlichen Möglichkeiten und Bedingungen vorhanden sein müssen, um in einem Flecken Erde, einem Koffer Briefen, einem Ordner Gedichten und einer Blechdose voller Negative eine Familiengeschichte zu sehen, die einen Familienroman hergeben, der gleichzeitig einige der Konventionen des Genres in Frage stellen könnte? Es hieße, nicht das Endprodukt eines kreativen Umsetzungsprozesses ins Auge zu fassen, sondern den Rohstoff, die Elemente und Zutaten, die Materialien, Medien, Reste, Quellen, Spuren und Dokumente zu inventarisieren, die einem Familienroman zugrunde liegen, die ihm vorausgehen, ihn ermöglichen oder genauso gut den Grad und die Gründe seiner Unmöglichkeit verdeutlichen helfen. Eine ‚Familie‘ also, betrachtet als virtueller oder hypothetischer Ausgangspunkt, im Aggregatszustand der Hinterlassenschaft mehr als der Nachkommenschaft, festgehalten ehe sich Erinnerung und Chronologie, der Spannungsbogen von Höhepunkten und Katastrophen, die Geschichte im Singular und Geschichten im Plural ihrer bemächtigt haben; ehe die Fakten von den Anekdoten überwältigt werden (oder umgekehrt), und ehe die nachträgliche Revision oder das nachtragende Ressentiment, die Trauer oder das Sentiment zu den formgebenden Elementen und zum Treibstoff der erzählerischen Energie geworden sind. Wenn sich keine bestimmte narrative Perspektive, kein Anfangspunkt und kein besonderes Ereignis, das den Schluss markieren kann, ausmachen lässt, ist der Roman dann überhaupt die sinnvolle, d.h. den Sinn in sich tragende Form? Wäre es da nicht ebenso sinnstiftend, es bei einer Sammlung, einem Archiv, einem récit imaginaire, oder einer anderen, vielschichtigen, gegenläufigen und auf jeden Fall eher offenen Anordnung zu belassen? Was gibt es heute für Formen, dank derer die Spuren und Folgen einer vernetzten Lebensgemeinschaft, wie es Familien nun einmal sind, zu Darstellung, Form und Ausdruck kommen können? Dies sind natürlich Fragen, die Biographen, Schriftsteller, Filmemacher und Journalisten sich nicht nur oft gefragt, sondern noch öfter in der Praxis beantwortet haben. Dass ich sie mir noch einmal stelle, und warum, ist das Thema meines Beitrags. Vor etwa drei Jahren stellte sich mir unerwartet die Herausforderung, meinen Großvater Martin Elsaesser (1884-1957), Architekt, Hochschullehrer und Stadtbaudirektor in Stuttgart, Köln, Frankfurt, Hamburg, Ankara und Mün233

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chen in Form einer biographischen Skizze zu würdigen.1 Ich begann, Materialien zu sammeln, die sich im Familienbesitz befanden und unternahm hier und da erste Forschungen. Ohne nun im Einzelnen zu schildern, warum sich dieser Vorsatz einer Biographie als schwieriger, wenn nicht als undurchführbarer erwies, als ich es mir vorgestellt hatte, musste ich bald feststellen, dass dieser Großvater – den ich zu seinen Lebzeiten nur als mürrische Erscheinung tief in seinem holzvertäfelten Arbeitszimmer zurückgezogen wahrgenommen hatte – als Privatperson in den diversen Hinterlassenschaften immer weniger Gestalt annahm, andere Figuren sich dagegen in den Vordergrund drängten. Allen voran meine Großmutter, die in Briefen und Anekdoten auf der Bühne der Familiengeschichte wesentlich lebendigere Auftritte hatte – neben ihren Töchtern, Schwiegertöchtern- und söhnen, Freunden, Verehrern und Besuchern. Umgekehrt formuliert: ein Großvater, dessen Biographie ich schreiben sollte, weil sein Lebenswerk zu seiner Zeit als bedeutend erkannt, als Vorbild gerühmt, dann vergessen und missverstanden, aber nun – in den verschiedenen Debatten über die Alternativen zur klassischen Moderne – wieder aktuell wurde, bekam immer weniger Kontur je mehr ich mich mit ‚Familiengeschichte‘ befasste. Substanz bekam er nur insofern, als er, in dieser auf seine Ehefrau und Familie zentrierten Konstellation, sich neu definierte und zwar als fast zufällige Randfigur in einer Umgebung, die nicht die seine war: einer SchilfInsel mitten im Müggelsee bei Berlin, zwischen Köpenick und Erkner, halb Groß-Berlin, halb Mark Brandenburg. Nicht als Architekt erschien er, sondern als produktiver Gelegenheitsdichter, passionierter aber nicht über den Amateur hinaus talentierter Klavierspieler, glühender Verehrer von Anton Bruckner, und insbesondere als großer Melancholiker, der wenig Zeit für, und wie es schien, noch weniger Interesse an seinen vier Kindern hatte, und der – schenkt man gewissen Zeichen Glauben – zu eigenbrötlerischer Exzentrik neigte. Diese Exzentrik kann man ihm nicht verübeln, wenn man bedenkt, wie hart, nach einer solch frühgenialisch-steilen Karriere, die lange Wartezeit in der Untätigkeit und des Alterns – 25 Jahre – auf ihm gelastet haben muss. Dass diese 25 Jahre von 1932 bis 1957 wiederum ziemlich genau mit den so genannten Schicksalsjahren Deutschlands im 20. Jahrhundert zusammenfallen, d.h. er den Sieg des Nationalsozialismus, den Krieg, die Zerstörung der Städte, den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder am eigenen Leib erlebt hat, macht die Tragödie eines zweimal im Abseits – während der Nazi-Zeit und 1

Martin Elsaesser baute in den 10er Jahren im süddeutschen Raum hauptsächlich evangelische Kirchen, neben Brücken, Markthallen, Wohnhäusern und Schulen. Mit 19 gewann er seinen ersten Wettbewerb, mit 21 seinen ersten großen Bau-Auftrag, und mit 28 wurde er zum Professor an der TH Stuttgart benannt. Ab 1920 war er Leitender Direktor der Kunstgewerbeschule Köln und 1925 wurde er als oberster Stadtbaurat und Direktor des Hochbauamts nach Frankfurt berufen. Diese Tätigkeit gab er 1932 unter politischem Druck von rechts auf, und damit endete – mit einer Ausnahme, dem Bau der Sümer-Bank in Ankara 1938 – seine aktive berufliche Laufbahn [14]. Er starb 1957, im Alter von 72 Jahren.

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während der Zeit ihrer Bewältigung im Wiederaufbau – verbrachten Lebens einerseits nur noch größer, andererseits presst es dieses Leben in eine Schablone – die der inneren Emigration, der Verweigerung, der bildungsbürgerlichen Verbitterung – die seine individuellen Erfahrungen zu wenig mehr als zu einer weiteren Illustration eines bekannten Typus macht. Schlimmer noch, da dieses einst noch ehrenhafte, nun aber eher umstrittene Klischee der inneren Emigration, welches gerade in der Literaturwissenschaft zum festen Topos geworden ist, auf meinen Großvater, wenn man genauer hinsieht, gar nicht recht zutreffen will, verliert seine Geschichte ihre narrative Prägnanz und gleichzeitig auch ihre zeitgeschichtliche Relevanz. Sie wird sowohl zur NichtGeschichte der deutschen Architekten, die im Exil – sei es in den USA, in der Türkei, in Russland oder Japan – die Geschichte der modernen Architektur überhaupt erst geprägt, bestimmt und geschrieben haben. Mies van der Rohe, Walter Gropius, Bruno Taut, Ernst May, Martin Wagner: mein Großvater kannte sie alle (er gewann z. B. den 3. Preis im Büro-Hochhaus Bahnhof Friedrichstrasse Wettbewerb von 1922, den Mies van der Rohes von der Jury ignorierten Entwurf einer Glassfassade weltberühmt gemacht hat), aber da er kein Architekt des weißen Kubus war, sondern dem Backstein, der artikulierten Fläche und dem subtilen Ornament – kurz: seinem Lehrmeister Theodor Fischer und der Reform-Architektur – treu blieb, bot sich wenig Gelegenheit des Anschlusses an dies Exil-Elite, ganz abgesehen davon, dass die Freunde, die er noch hatte, eher Musiker und Schriftsteller als Architekten waren. Nicht-Geschichte anstatt Gegengeschichte auch im Vergleich zu der jener Architekten, die im Nationalsozialismus Karriere machten, wie sein ehemaliger Stuttgarter Kollege Paul Bonatz, oder die vielen, um Albert Speer versammelten Bau-Fachleute, die in jedem Stil bauen konnten und es auch taten, und von denen nicht wenige zu den ehemaligen Modernen zählten.2 Was nun, genau, waren die familiären – im Gegensatz zu den politischen und weltanschaulichen – Umstände, die diese Geschichte meines Großvaters so marginalisiert hat, und die dazu geführt haben, dass ich mich immer mehr mit der Problematik der Familiengeschichte und des Familienromans auseinandersetzen musste, und weniger mit den Problemen einer Biographie oder Werkmonographie? Da ist zunächst die große Lücke im aktiven Berufsleben, die besten Jahre war er Nicht-Architekt, weder Dissident noch im Ruhestand, seine Bauten verstreut, oft Nutz- und Zweckbauten, und in ihrem Stil sich meist ihrer Umgebung anpassend. Es wäre die Chronik einer misslungenen Karriere geworden, die sich – wie angedeutet meist nur als Negativ-Folie gegen die anderen, besser bekannten oder notorischeren Architekten hätte darstellen lassen. Dazu kam, dass nach seinem Tod alle relevanten Papiere – Pläne, Fotos, Skizzen, Korrespondenz – im Architekturmuseum an der Technischen Hochschule München gelandet waren, dessen Direktor bis vor kurzen 2

Dazu Durth, Werner, Deutsche Architekten: biographische Verflechtungen 1900-1970, Braunschweig, 1986.

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sich standhaft geweigert hat, Einblick in das Archiv zu geben, mit der Begründung, es sei zu ungeordnet, um es dem Laien zugänglich zu machen und mit dem Zusatz, er selber arbeite an einer Martin Elsaesser WerkMonographie. Ich glaube aber, dass der Hauptgrund meinerseits ein anderer war, der vielleicht etwas mehr mit dem Thema ‚Familienroman‘ zu tun hat, und der nicht nur praktische Konsequenzen zu haben, sondern auch von einem gewissen theoretischem Interesse zu sein scheint. Der Grund nämlich, warum mein Großvater und sein Werk so schemenhaft blieb, und meine Großmutter so sehr bestimmend wurde, hatte einerseits mit dem Stand der Quellen und der Art der Dokumentation zu tun, stärker noch, mit einem Medienwechsel: Fotos und Filme statt Schriftmaterial, Gelegenheitsgedichte und Geburtstagsbriefe statt Tagebuch und Korrespondenz. Zweitens hatte meine Großmutter eine Liebesbeziehung, leidenschaftlich genug um zu einer Trennung der Eheleute zu führen, und von so tragischem Ausgang, dass sie das weitere Leben zwar bestimmte, der erneuten Partnerschaft mit dem Ehemann aber nicht im Weg stand. Das dritte – entscheidende – Moment der Konstellation, die den Großvater zum Statisten in der Nebenrolle machte, war die Existenz und Präsenz des schon benannten Ortes, der Seddinsee Insel, die im Verlauf meiner Arbeit und Recherchen immer mehr zu einer dramatis personae, einem eigenständigen und eigenmächtigen Handlungsträger, wenn nicht sogar zur Hauptfigur wurde, und weshalb ich, im direkten Anklang an Pierre Noras berühmten lieux de memoire, von einer ile de memoire sprechen will. Noras lieux de mémoire, „an denen sich Erinnerung kristallisiert und absondert,“3 beinhalten nicht nur das, was man bei einem solchen Begriff erwarten würde, etwa die gebauten Räume gesammelter und geteilter Erfahrungen wie Archive, Museen, Kathedralen, Friedhöfe oder Gedenkstätten. Lieux de mémoire umfassen auch Rituale und Praktiken wie Feiertage, Festivals, öffentliche Ereignisse und private Feierlichkeiten sowie das Zusammentreffen verschiedener Generationen, sie schließen auch Sinnsprüche und Redewendungen ein, die überliefert, neu erfunden oder immer wieder neu mit Bedeutung gefüllt werden. Nicht zuletzt schließt Nora in seine lieux de mémoire auch geerbten Besitz, Handbücher, Wörterbücher wie den Petit Larousse, Sinnbilder und Wahrzeichen wie die ‚Marianne‘, Grundtexte wie Schulfibeln und andere Arten von geläufigen Gegenständen ein, die durch ihre Langlebigkeit oder die affektive Zuwendung, die sie erhalten haben, zu Symbolen geworden sind, durch die Menschen einander mitteilen, welcher Gemeinschaft sie sich zugehörig fühlen – oder schlicht ihre Sehnsucht ausdrücken, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehören. Andere Autoren sind von Noras Gebrauch abgewichen oder haben ihn sogar ins Gegenteil verkehrt, indem sie dem Begriff eine durchgehend positive Konnotation gaben, um diese Orte der 3

Nora, Pierre‚ „Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire“, in: Representations, 26 (Spring, 1989), 7–24 (S. 7).

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Erinnerung zu feiern. Nora selbst dürfte die Rede von lieux de mémoire aber als Warnung verstanden haben, denn er ging in der Anwendung eher vorsichtig und kritisch vor und sah in ihnen – und dem darauf folgenden Erinnerungsdiskurs – eine potenzielle Bedrohung für das Handwerk und die Objektivität des praktizierenden Historikers. So wurde der Begriff z. B. auch von denen übernommen, die vor allem an der Gedächtnisfunktion moderner Gebrauchsgegenstände und Kommunikationstechnologien interessiert waren, die dem Tourismus oder dem Kommerz dienten. Wer von der affektiven Anziehungskraft der gängigen Symbole der Konsumgesellschaft fasziniert ist, ob dies nun alte Coca-Cola-Flaschen, 50er-Jahre-Schlager oder Zitate aus Kultfilmen wie Casablanca oder Taxi Driver sind, hat in lieux de mémoire ein respektables Schlagwort und nützliches Gegengift gefunden, mit dem man die abwertende Assoziationen von ‚Nostalgie‘ oder ‚Retro-Mode‘ kontern kann. Da ein lieu de mémoire sowohl ‚in‘ der Zeit ist als auch das Vergehen von Zeit markiert, verwandelt er sich insofern in die Verkörperung eines andersartigen Streites gegen das Vergessen. Dieser Kampf spielt sich aber gerade in Medien des Vergessens wie Film, Zeitungsbild, Poster und Fotographie ab, die sich durch Stichworte wie Flüchtigkeit und Mode, Populärkultur, Massenproduktion, Akkumulation und Abfall auszeichnen. Auch ich mache mich im Folgenden eines Akts der Aneignung schuldig, indem ich über Wiederverwendung, Recycling, Abfall und Vergänglichkeit rede. Anstelle von lieu, Raum oder Ort, verwende ich das Wort île, Insel, nicht nur weil sich diese Bausteine oder Bruchstücke einer Familiengeschichte in der Tat auf einer Insel abspielen, sondern auch um die gewisse Exterritorialität zu betonen, die auf Elemente des Privaten und Persönlichen anstelle des Gemeinsamen oder Gemeinschaftlichen hindeutet, und die im Falle meines Großvaters auf seine eigene Exzentrik und Marginalisierung verweist. Nichtsdestotrotz betrifft die Rede von einer île de mémoire in einem eher symbolischen Sinn ebenfalls ‚Räume‘, nämlich die diskursiven Räume von Politik, Ethik und Philosophie, wie in dem Sinne, dass sich auf dieser Insel Lebenswege kreuzen und ganz verschiedene Kraftlinien parallel zueinander verlaufen. In einem fundamentaleren Sinn kann man hier auch von den Begegnungen zwischen Natur und Kultur reden, etwa von dem Aufeinandertreffen von körperlicher Arbeit und materieller Mühsal auf der einen Seite und einer im Vergleich spirituelleren, künstlerischeren und sogar erotischeren Kultur auf der anderen Seite, wobei letztere sich in Briefen, Gedichten, Geschenken sowie anderen Zeichen und Merkmalen manifestiert. Besonders wichtig ist, dass meine île de mémoire nicht nur die Beziehungen zwischen Kultur und Natur umfasst, sondern die aus ihrem Wechselspiel resultierende Dynamik erweitert und dabei auch die visuellen Medien des Films und der Fotografie einschließt, die beide die Funktion widersprüchlicher und miteinander wetteifernder ‚Zeitmaschinen‘ und Zeitregister einnehmen. Für das kulturelle Gedächtnis – oder besser: für ein zur kulturellen Topographie geronnenes kulturelles Gedächtnis, in der die ursprünglich linearen, zielgerichteten und dem Hand237

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lungswillen Einzelner geschuldeten Energien, die aus persönlicher Erinnerung und öffentlicher Geschichte resultieren, zerstreut und neu verteilt werden –, ist die Präsenz visueller Medien etwas Gegebenes. Aber dieses Gegebene verändert auf subtile Weise den Begegnungsraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Geschichten und Geschichtsschreibung, wie auch Hal Foster bemerkt: Es fällt uns immer noch schwer, Geschichte als eine Geschichte des Überlebens und der Wiederholungen aufzufassen, und doch müssen wir zunehmend mit einem ‚kontinuierlichen Prozess von Entladungen und Stauungen zurecht kommen, einem komplexen Relais vorweggenommener zukünftiger Entwicklungen und rekonstruierter Vergangenheiten‘.4

Foster erwähnt weder Film noch Fotografie noch beider Zeitschleifen-Effekt auf unseren Eindruck des Raums, aber die durch die Allgegenwart der Fotografie erzeugten Relais von auseinanderstrebenden Zeitebenen formen notwendigerweise das, was ich hier unter kulturellen Topographien verstehen. Kulturelle Topographien erinnern an die Dauerhaftigkeit geographischer Formationen, zumal sie sowohl die longue durée der Geschichte als auch die kurze Erinnerungsspanne von Menschengenerationen absorbieren sowie die in gebauten Räumen vorhandene Energie und Entropie bündeln, sogar wenn diese Räume zu Ruinen zerfallen sind oder offensichtlich wieder neu aufgebaut sind. Das Adjektiv ‚kulturell’ erhält in diesem Zusammenhang neues Gewicht, insofern es die gleichermaßen verstetigten Transformationen dieser Räume markieren kann, mit ihren bisweilen gewalttätigen und somit nicht ephemeren, sondern traumatischen Einschreibungen von Schmerz, Leiden und extremer Betroffenheit. Christian Boltanskis Arbeit The Missing House von 1990 kommt einem hier in den Sinn, eine exemplarische Topographie einer solchen negativen Präsenz, die das Zusammenziehen von mehrere Generationen umfassenden Zeiträumen zu einem einzigen Moment herauf beschwört, der gleichsam an einem bestimmten Ort als Einschreibung in einer Leere gefangen ist.5 Zwischen materiellen Hinterlassenschaften, symbolischen Leerstellen, performativen Akten, sichtbarer Evidenz und nicht-sichtbarer In-Evidenz6 erscheint Boltanskis Werk fast wie eine Allegorie der photographischen Abbildung. Mit ihren erweiterten Resonanzen wird es mir an dieser Stelle jedoch 4

5

6

Foster, Hal, „What’s Neo About the Neo-Avant-Garde?“, in: October, 74 (Fall, 1994), 5–32 (S. 30). Christian Boltanskis „The Missing House“ ist eine ortsspezifische Arbeit, die 1990 beauftragt wurde und sich in der Großen Hamburger Straße im Osten Berlins befindet. Sie inventarisiert die Namen und Daten ehemaliger Bewohner eines Wohngebäudes, das 1945 während der alliierten Bombardierungen Berlins zerstört wurde. Die Namen befinden sich an einer Mauer des fehlenden zentralen Teils des Gebäudes. Eine ausführliche Analyse bietet SolomonGodeau, Abigail, „Mourning or Melancholia: Christian Boltanski's Missing House“, in: Oxford Art Journal, 21.2 (1998), 1-20. Vgl. hierzu Barthes, Roland, „Le troisième sens“, in; ders.; L’Obvie et l’Obtus, Paris, 1982, 43–58.

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auch als Brücke zu der Erinnerungsfunktion und raumzeitlichen Verschränktheit des filmischen Gedächtnis dienen. In anderen Worten, mir geht es um die Erinnerungsträchtigkeit einer gewissen Topographie unterschiedlicher Materialitäten und Zeitlichkeiten, und um deren Erinnerungsfunktionen als Medien des inter-persönlichen und transgenerationellen Gedächtnisses, wobei ich glaube, eine gewisse Verschiebung und Umbewertung feststellen zu können, deren Folgen sich auch in die Debatte zwischen Historikern und Literatur- oder Kulturwissenschaftlern zum historischen Stellenwert des öffentlichen Gedächtnis und der Gedenk-Kultur bemerkbar machen könnten. Um meine Arbeitshypothese vorwegzunehmen: der Kompromiss auf den ich zustrebte, ist die Biographie eines Ortes und nicht einer Person zu konzipieren, und diesen Ort zum Zentrum eines Familienromans zu machen, der allerdings einer anderen Logik als der des Generationskonflikts oder der Zeit-Chronik folgt, aber auch eine andere Art des Gedächtnisses zum Vorschein bringt, bei dem sich Natur, Kultur, Technik und Medien gleichzeitig mit- und gegeneinander affinieren, definieren und differenzieren. Was nun die Frage der Medialität und des Medienwechsels betrifft, ergab sich – wie schon angedeutet – die Notwendigkeit eines Familienromans (statt einer Biographie) aus den sehr unterschiedlichen Quellen – Foto- und Filmmaterial, Gelegenheitsgedichte und Familienbriefe, die jede auf ihre Weise, sich für zwar eine Familiengeschichte über zwei Generationen hinweg, der meiner Grosseltern und der meiner Eltern, eigneten, die sich aber auch einer geschichtstauglichen Chronik des Zeitraums von den 20er bis in die späten 50er/frühen 60er Jahre quer stellten, und die dennoch nicht per se zum Primärmaterial für einen Familienroman prädestiniert schienen. Hinzu kommt, dass mir eines der zentralen Motive des nachkriegsdeutschen Familienromans abgeht, nämlich der Wunsch oder Zwang nach einer Auseinandersetzung mit den Eltern, die innere Dringlichkeit einer Abrechnung mit dem Vater oder mit dem Schweigen am Familientisch, der Heuchelei oder Schönrednerei. Noch schien es geboten, an die manchmal tragischen, oft aber moralisch verwerflichen Familiengeheimnisse zu rühren, die ein solcher Roman zu enthüllen sich vornimmt.7 Dazu gab die scheinbar unpolitische Abgeschiedenheit auf der 7

In diesem Sinne soll eine Fragenkonstellation vorgestellt werden, die noch einmal medial das reflektiert, was als Motiv-Konstellation für den Nachkriegsroman typisch geworden ist: „Die Befragung der Vergangenheit [in der deutschen Gegenwartsliteratur] nimmt vielfältige Formen an. Sie kann direkt erfolgen, indem die Handlung in die Vergangenheit verlegt wird; sie ist integriert in Generationskonflikte, die ihren Ursprung in der Sensibilisierung für die politische Vergangenheit haben; sie kann im Mittelpunkt von Identitätskrisen stehen oder den Rahmen für autobiographische Darstellungen bilden, die das Verhältnis einzelner zum historischen Geschehen thematisieren; sie ist oft verknüpft mit primären Themen und Motiven (Aggression, Anpassung, Entwicklungsthematik, Generationskonflikte, Holocaust, Reifung, Selbst- und Welterkenntnis).“ (Daemmrich, Horst S., „Die Vergangenheit bewahren oder kritisch reflektieren. Gegensätzliche Positionen in der Auseinandersetzung mit dem Krieg“, in: Schuld und Sühne?, hg. v. Heukenkamp, Ursula, Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 50.2 (2001), S. 569.

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Insel, und die Tatsache, dass meine Familie eher zu den Opfern als den Tätern des Regimes gehörten, wenig konkreten Anlass. Bleibt also das Problem der Erzählperspektive, die man in diesem Fall als Autor einnehmen kann. Es wäre uneinsichtig und künstlich, die Position des unbeteiligten Kommentators, der nur am Rande beteiligten Nebenfigur oder die des Unbeteiligten, dem dieses Material zufällig in die Hände fällt, einzunehmen. Aber welches ‚ich‘ könnte hier sprechen? Den Nachgeborenen spielen, der auf Spurensuche nach den hier nicht nur sprichwörtlichen sondern buchstäblichen roots geht, wäre eine Möglichkeit. Aber auch sie scheint der Situation nicht gerecht zu werden. Obwohl mein Interesse gewiss nicht uneigennützig oder objektiv zu nennen ist, bleibt es eines, das bis zu einem gewissen Grad von außen kommt – und dies nicht nur, weil die Beschäftigung mit dem künstlerischen Erbe des Großvaters durch externe Umstände an mich herangetragen wurde. In den 50er Jahren als Teenager in der amerikanischen Zone groß geworden, war ich schon halb in den USA, was Kultur und Lebensstil anging, und hatte im Sommer 1963 Deutschland, ein Jahr nach meinem Abitur, so gut wie ganz für ein Leben in England und Amerika eingetauscht: kein Exil, keine Emigration, und doch ein für meine Generation wiederum typisches sich-von-Deutschland Absetzen und Abgrenzen (ehe man von Sprache und Geschichte, Kindheit und Heimat wieder eingeholt wird). Ich gehöre also mehr in die Kategorie der nicht-deutschen Deutschen, die sich vor allem in den USA mit der Weimarer Exil-Intelligenz identifizierten, zeitversetzt und in manchen Fällen den ideologischen Spieß sogar umdrehend, indem sie in den USA den alltäglichen Faschismus dokumentierten, wie z. B. Reinhard Lettau es in den 70er Jahren in San Diego tat. In meinem Fall kam ich durch meine langjährige Beschäftigung mit dem Neuen Deutschen Film, mit Fassbinder, Kluge, Reitz, Syberberg, Wenders, Achternbusch, Herzog, von Trotta, Sanders-Brahms, Helke Sander und Harun Farocki notwendigerweise in Kontakt mit der Problematik der Vergangenheitsbewältigung, und musste mich auf diese Weise den Generationskonflikten und dem Aufarbeiten des Faschismus in der Bundesrepublik stellen.8 Wie dem auch sei, mir fiel und fällt noch immer die besondere Medialität und Materialität der Ausgangspositionen auf, die eben nicht – wie im Familienroman üblich – eine plötzliche Entdeckung, eine Spurensuche oder eine wie auch immer geartete ‚Reise in die Verlorengegangenheit‘ voraussetzen. Mein prinzipieller und primärer Zugang zur Familiengeschichte ist visueller Art. Er besteht vor allem aus einer Reihe von Schmalfilmen (ca. 65 Minuten Material) aus den Jahren 1938-44 und einer bislang noch nicht voll ausgeschöpften Hinterlassenschaft an Fotos. Ich schätze es handelt sich dabei um ca. 1000 schwarz-weiß Fotos der Jahre 1927 bis 1947, die – wie auch die Schmalfilme 8

Ich habe inzwischen vier Bücher und ungezählte Essays zu diesen Themen geschrieben, was vielleicht auf eine Art stellvertretende oder Ersatz-Bewältigung diese den Familienroman so beherrschenden Themen-Komplexe hinausläuft.

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– von meinem Vater stammen. Von Beruf Elektro-Ingenieur bei Siemens, war er ein von Jugend an leidenschaftlicher und technisch versierter AmateurPhotograph, der allerdings die Familie mindestens ebenso sehr als ÜbungsObjekt für das Praktizieren des Metiers vors Objektiv brachte als zum Zwecke ihrer Dokumentation. Irgendwann Anfang der 50er Jahren verlor er das Interesse an der Fotographie, sodass der spätere Teil der Familiengeschichte in dieser Form nicht überliefert ist. Die Fülle des filmischen und photographischen Materials ist dennoch ausschlaggebend für die Art und Weise, wie diese Familiengeschichte sich darstellen lässt und narrative Form annehmen könnte. Die Entdeckung der Negative vor ungefähr einem Jahr, hat die dokumentarische Nützlichkeit der Fotos beträchtlich gesteigert. Die Filmstreifen, jeweils 5-6 Einzelbilder in einer Reihe, in einem Faltbogen zu 6-8 Reihen, geben durch die Kontiguität und das Nebeneinander der Bilder Aufschluss darüber, was sich vor der Kamera abgespielt hat, welche Fotos von ihrem Drehort her zusammengehören und welche zeitlich dicht aufeinander folgen. Die Negative tragen, rein durch ihre Art der Aufbewahrung, einen Zeit-Index, der sich als unabdingbar erweiset, wenn es gilt, deren Inhalt und genaue Provenienz mit Hilfe der vorhandenen Abzüge definitiv zu identifizieren und auch von den nicht abgezogenen Bildern digitale Positive zu machen. Eine über Jahre hinweg sorgfältig geführte und den Negativen beigelegte Kartei gibt, neben technischen Daten – Information über das Jahr, den Ort und die dargestellten Personen. Nun könnten, wenn man die Fotos als reines Rohmaterial betrachtet, diese so gewonnenen Daten und Dateien einfach in ein chronologischtopographisches Gefüge gebracht werden, um eine Erzählung zu grundieren, für die Fotos dann wiederum die Illustration abgäben. So geht das Fernsehen vor, und gar mancher Dokumentarfilm. Aber ist das Verhältnis nicht gerade umgekehrt? Nicht nur dass das Ordnungssystem – oder die Spannung zwischen den Bildern und ihrer ästhetisch- atmosphärischen Aussage einerseits, und dem Kartei-Archiv und seinen Fakten zum anderen – gerade das Faszinierende ausmachen, und das historisch interessante, über das Persönliche hinausgehende an der Sache ist (denn kaum eine der gezeigten Personen hat irgend einen Anspruch auf Ewigkeit im herkömmlichen Sinne, aufgrund ihrer Leistungen, Schicksale oder Errungenschaften). Von den Bildern geht außerdem etwas aus, das beweist, wie sehr die Fotographie im 20. Jahrhundert den anonymen Menschen zum Helden gemacht hat, zum Sinnbild seiner oder ihrer Zeit, zum Anstoß des Nachdenkens, des ins Assoziieren Versinken, und sich in die Vergangenheit versetzen können, wie auch im Gegenzug, der anonyme Wehrmachtssoldat, der neben einer SS-Geisel-Erschießung im Bild steht, uns Deutschen zum unweigerlichen Spiegelbild wird. Im Gegensatz zu den Kriegsfotos, die ja eine auch in anderen Dokumenten und über andere Quellen verifizierbare Welt der Ereignisse darstellen, sind Familienbilder eher wie Träume: bedeutsam für den Träumer, belanglos und banal für alle anderen. Und dennoch beginnt sich in unserer Kultur ein Wandel abzuzeichnen, der darauf hin tendiert, den Fotos einen anderen Realitäts241

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status zuzuerkennen, als den der Abbildung. Besonders vielleicht in Deutschland im 20. Jahrhundert, wo soviel der physischen Vernichtung anheim gefallen ist, haben Fotographien so etwas wie ein materielles Primat: sie sind die Realität, für das die abgebildete Welt so etwas wie die Requisiten und die Statisten geworden sind. Jedenfalls ging es mir so, als ich mich – nach intensiverer Beschäftigung mit den Fotos – wieder einmal in der Wohnung meiner Mutter befand, und plötzlich mehrere Objekte entdeckte, die mir vorher nie aufgefallen, die aber auf den Fotos abgebildet waren und nun – geadelt durch ihre Anwesenheit auf den Bildern – einen ganz anderen Wert und eine ganz andere Aura besaßen. In anderen Worten, es scheint mir immer unverkennbarer: diese Fotos sind die wahre Geschichte, der eigentliche Familienroman, den es zu schreiben oder festzuhalten gilt, in einer Familie, die zwar sehr wohl ihre Geschichten hat, die ebenso in die Geschichte passen, wie sie einmalig sind (obwohl, wenn wir Tolstoi glauben, eher zu denen gehört hat, die alle gleich sind, als zu denen, die jeweils auf ihre Weise unglücklich sind), die aber erst dadurch, dass ihre Mitglieder, ihre Besitztümer und Gegenstände, ihre Bücher und Gebrauchsobjekte auf Fotos festgehalten worden sind, zu geschichtsträchtigen Akteuren werden und damit vielleicht auch ins Reich der Fiktion einen Platz finden können. Ich habe begonnen, mich als Hermeneut dieser Fotos zu betätigen, und versuche, eine quasi-forensische Intelligenz zu trainieren. Eine zweite mediale Quelle stützt die erste, steht aber ihrerseits in einem ganz anderen Spannungsfeld zwischen Spur, Bild und Symbol als die Fotographie. Es handelt sich um die Erinnerungen meiner Mutter, die sich trotz ihres hohen Alters von über 100 einen klaren Verstand und voll abrufbares Gedächtnis erhalten hat. Als Angeheiratete kennt sie die Familie meines Vaters seit 1936, und hat also einen Grossteil der in den Fotos aufbewahrten Zeit leiblich miterlebt. Sie war es auch, die viele der abgebildeten Personen identifizieren konnte, noch ehe die Negative zu Hilfe kamen. Man sagt zwar Menschen mit gutem Gedächtnis hätten ein photographisches Gedächtnis, jedoch musste ich feststellen, dass das Gedächtnis meiner Mutter anders funktioniert als die Fotographien. Obwohl visuell geprägt, läuft die Erinnerung über die Assoziation und diese wiederum über Worte und Namen, d.h. verbal. Sobald der Name einer Person fällt, kommt ihr dazu ein Satz in den Sinn, oder der Namen einer anderen Person, und daran knüpft sich meist eine Anekdote, die mit dem Foto nichts zu tun hat, aber auf einmal Netzwerke und Anknüpfungspunkte in ganz andere Richtungen hin öffnet. Erst dann stellt sich das Raumdenken wieder ein, mit genauen Ortsangaben und visuellen Details. Damit werden die Fotos nicht zu Illustrationen, denn die Bilder die dabei produziert werden, beruhen, so weit ich es beurteilen kann, nicht auf Fotographien, was ja bei einer späteren Generation meist der Fall ist, wo die Rückschau einfach das zuletzt gesehene Foto als genuine Erinnerung ausgibt. Im Gedächtnis meiner Mutter verweisen die Fotos auch nicht auf eine Materialität deren Hüter und Zeuge sie einst waren, und die sie jetzt für sich in Anspruch nehmen, wie 242

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ich dies bei mir konstatierte, sondern sie werden zu Auslösern oder zu Relais in einem Schaltkreis, in dem die Dichte der im Foto gespeicherten Information, den Gedanken erlaubt, ihre eigenen Wege zu gehen. In anderen Worten, die Fotos sind wie Zünder oder Zeichen, sie stehen in einem indirekten oder über-Eck Verhältnis zur Sprache. Andererseits ist dieses Gedächtnis nicht das eines Chronisten oder Geschichten-Erzählers. Sobald man nachhakt oder fragt, sobald man Fakten, Kontexte und Verweise vorgibt, oder sie auf Daten festlegen will und sich auf die Logik der Zusammenhänge beruft, bekommt die für eine chronologische Erzählung notwendige Stringenz Lücken und Löcher. Der Brunnen der Erinnerung sprudelt nur, wenn eine Quer-Verbindung sich aus irgend einem zufälligen inneren Assoziations-Kontext ergibt, der Bezugsrahmen von außen kann diese Kette nicht herstellen. Selbst wenn sie funktioniert, ist die assoziative Erinnerung also für die Chronologie nicht verlässlich, wie sie auch für eine Entwicklung psychologischer Beweggründe wenig hergibt, obwohl die Anekdoten natürlich gerade deshalb im Gedächtnis bleiben, weil sie für den Sprecher traumatische Ereignisse festhalten oder wichtige Lebensweisheiten destillieren. Die dritte Quelle aus der sich mein nicht zu schreibender Familienroman speist sind Briefe, von denen ich inzwischen mehr als tausend habe sicherstellen können, die in staubigen Pappkartons und alten Koffern auf dem Speicher des elterlichen Hauses aufbewahrt liegen. Abgesehen von Tagebüchern sind natürlich Briefe das konventionellste Material eines Biographen. Was die Generation meiner Grosseltern betrifft ist allerdings das Ordnungssystem rudimentär, zumal die Briefe meist beim Tod eines der Adressaten wieder in Familienbesitz kamen und für den Empfänger eine andere Logik besaßen, als für den Schreiber. Die Quantität ist so groß, dass ich mich bisher nur stichprobenweise in sie vertieft habe. Die Sütterlin-Schrift macht das Lesen schwierig und das Entziffern mühsam, oft fehlt das Datum, manchmal ist die Blattfolge durcheinander geraten und man muss per Anschlusswort die nächste Seite finden. Das weitaus umfangreichste Konvolut dieser Briefe besteht aus einer Korrespondenz, die nie dafür bestimmt war, dass ein Dritter sie zu Augen bekam, geschweige denn, dass sie der Nachwelt überliefert werden sollte. Es geht um die Liebeskorrespondenz meiner Großmutter mit einem damals sehr bekannten Gartenarchitekten Leberecht Migge. Das Verhältnis begann 1929, und da es sich um einen Arbeitskollegen handelte, sollte mein Großvater anfänglich davon nichts wissen, lernte es aber zu dulden, während es auf der Seite des Gartenarchitekten, der ebenfalls verheiratet war, noch mehr Kinder hatte und sich nie von seine Frau getrennt hat, völlig geheim gehalten wurde. Selbst von seinen Nachfahren wurde die Beziehung verschwiegen und von Biographen bisher getilgt oder nicht zur Kenntnis genommen. Die beiden wechselten zuerst fast täglich lange Briefe, oft in der Eile und zwischen anderen Tätigkeiten hingeschrieben, oft aber auch nachts konzipiert um wenigstens während des Schreibens den Geliebten sich nahe zu wissen.

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Die Insel Dommelwall Dennoch, der Protagonist eines aus diesen verschlungenen Motiven und gekreuzten Schicksalen sich speisenden Familienromans wäre weder mein Großvater, noch die Liebesbeziehung seiner Frau, sondern die Insel, damals Sonnen-Insel genannt, beim Kataster-Amt aber als Insel Dommelwall bekannt. Kondensat der Liebesgeschichte, diskursiver Ort der Zeitgeschichte, Symbol der professionellen Marginalisierung meines Großvaters während der Kriegsjahre und mythisch-topographische Heimat der nächsten Generation, ist sie Nährboden und Grund zugleich, warum dieser Familienroman zwangsläufig ein lieu de mémoire sein muss und es dennoch nicht sein kann. Obwohl sie sich in ‚Privatbesit‘ befindet, ist die Insel Dommelwall Teil eines größeren Gebiets von schilfbedecktem Marschland, das als Naturreservat erhalten wird, hauptsächlich für seltene Vogelarten. Das, was nun auf dieser Insel im Namen der gefährdeten Natur bewahrt wird, ist jedoch de facto das Resultat kultureller Handlungen, einer Kultur, die im Laufe der Jahre, und insbesondere seit dem Fall der Mauer, vollständig von der Natur zurückerobert worden ist. Für sich genommen wäre dies nicht allzu ungewöhnlich, wenn nicht diese bestimmte ‚Kultur‘, oder ‚Kultivation‘, die hier zwischen Juni 1933 und Februar 1946 existierte, mit dem expliziten Ziel entworfen worden wäre, eine neue Symbiose von Natur und Kultur zu initiieren, eine Naturform, die in einem Streifen windumwehten Marschlands, das bis dahin eine eher einsame und fruchtlose Wildnis gewesen war, aus dem Ausschuss und Abfall der urbanen Kultur geboren wurde. Eine erste Begegnung mit der Insel in ihrer heutigen Gestalt lässt an Piraten und einsame Inseln denken, an verlassene Feuerstätten und die kaum erkennbaren Spuren menschlicher Wohnstätten, an die Mysterien und Abenteuer kleiner Jungs, an vergrabene Schätze und bärtige Desperados, die ihr Versteck verlassen haben. Es ist noch nicht einmal falsch, hier einen vergrabenen Schatz zu vermuten, aber es handelt sich offensichtlich nicht um Goldbarren, Münzen oder vergrabene menschliche Hinterlassenschaften. Vielmehr liegt auf dieser Insel ein Überfluss an Historien, Geschichtsentwürfen und Erzählungen verborgen, die einen führen, verblüffen und sogar irreleiten können bei der Begegnung mit dieser üppigen, überwachsenen Insel und der eingesunkenen Ruine, die auf ihr steht und kaum noch auf menschliche Einflüsse hinweist. Einige dieser Geschichten seien an dieser Stelle kurz genannt: – Da ist die Geschichte eines urbanen Land-Rückgewinnungsexperiments, das teils fehl schlug, teils jedoch alle Erwartungen übertraf. Es wurde durch einen bemerkenswerten Visionär und Reformer der 20er Jahre eingeleitet, den

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Gartenarchitekten Leberecht Migge.9 Man könnte es Das Folgenlose Meisterwerk nennen. – Da ist die nicht weniger bemerkenswerte Geschichte der Arbeit und Hingabe einer Frau zu dem Mann, den sie liebte, und für den sie Mann und Kinder verließ. Ihr Geliebter starb kaum zwei Jahre nach Beginn des Experiments und hinterließ die Insel ihrem Besitz und ihrer Zuwendung. Sie betrauerte seinen Verlust durch ein aktives, zugleich autarkes und weltoffenes Arbeitsleben und gedachte seines Lebens, indem sie seine Vision nach ihrer eigenen Vorstellung umsetzte. Dies ist Die Insel-Utopie als Trauerarbeit und grüne Gedenkstätte. – Die Sonnen-Insel als Ort eines ‚alternativen‘ Lebensentwurfs, die während der Verfolgungswellen der späten 1930er Jahre einen Strom von Besuchern anzog, der trotz – oder gerade wegen – des Krieges bis in die 1940er Jahre anhielt. Sie behauptete sich als Enklave bürgerlich-unkonventioneller Werte inmitten von Bauern, Förstern und Fischern. In dem auf der Insel vorherrschenden intellektuellen Geschmack und ihren künstlerischen Präferenzen (die von der Theosophie und Körperkultur bis zu modernistischer Architektur sowie der Musik Anton Bruckners und Paul Hindemiths reichten) spiegelte sich auch die Topographie der Insel: Sie war ein Teil des kulturellen Lebens der Metropole Berlin, spielte jedoch für deren Politik des Nationalismus und Rassenhasses keine Rolle, außer dass sie sowohl einer ‚nicht-arischen‘ Frau als auch einem niederländischen Mädchen aus mit den Deutschen sympathisierenden Familie Unterschlupf und Obdach gewährte.10 – Der auf Dommelwall präsente ökumenische Spiritualismus humanistischer Prägung, der zwar universelle Ansprüche erhob, aber zugleich erdverbunden und praktisch bis zur Autarkie blieb, steht in einer langen Tradition deutscher Künstlerkolonien des frühen 20. Jahrhunderts. Vergleichbar mit Worpswede bei Bremen, Murnau in den Alpen, dem Dessauer Bauhaus oder Monte Verità in der Nähe von Ascona auf der Schweizer Seite des Lago Maggiore11, hätte das Sonneninselexperiment sich zu einem Worpswede an der Spree entwickeln können. – Die bisher kaum erforschte Geschichte der Insel zwischen 1946 und 1961, als die sowjetische Besatzung und fast tägliche Schikanen ihre Evakuierung forcierten. Schwanengesang auf Dommelwall oder Die Seddinsee Elegie, ein 98-seitiges Gedicht in gereimten Couplets, gibt einen erschütternden Ein9

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Das Insel-Projekt ist – mit Hilfe dem Material aus meinem Familien-Archiv – nun ausführlich dargestellt in Haney, David Henderson: Leberecht Migge (1881-1935) and the Modern Garden in Germany, Univ. of Pennsylvania, 2005. Der intellektuelle Horizont der Inselgemeinde wurde von Autoren wie Romain Rolland, Paul Brunton und den Eranos-Zirkel um C. G.Jung geschildert. Am Monte Verità waren z. B. die ersten Pioniere um 1900 Reformer und Freigeister, die eine Vegetarier-Kolonie gründeten und über einen Zeitraum von ungefähr zwanzig Jahren einige der führenden kulturellen Persönlichkeiten ihrer Zeit für ihre Utopie einer Reform des Lebens begeistern konnten.

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blick in die letzten Tage des ‚Dritten Reichs‘ zwischen April und Juni 1945, wie sie von vier der verbliebenen Inselbewohnern erlebt wurden; es beschreibt Plünderungen, Vergewaltigungen und das administrative Chaos, das auf den Fall Berlins folgte. Dennoch ist wenig bekannt über das Schicksal der Insel vor und nach dem Bau der Berliner Mauer in 1961 (zu diesem Zeitpunkt wurde Seddinsee sogar für Besucher unzugänglich, denen die Einreise nach Ostberlin erlaubt worden war). Es gibt Anzeichen dafür, dass das Bootshaus von einer der DDR-Gewerkschaften unterhalten wurde und ihren privilegierten Kadern als Sommerhaus, Ferienort und Wochenend-Datsche diente. Diese Erzählung könnte Urlaub vom Staat genannt werden (im doppelten Sinne als Urlaub fernab des Staates und als Urlaub von Staates Gnaden), nach dem Titel einer Studie über staatseigene oder staatsfinanzierte DDR-Ferienressorts.12 – Nicht zuletzt ist die Insel, angesichts der unterschiedlichen Besitzverhältnisse zu verschiedenen Zeiten, auch die Geschichte der Familie Schulze, deren Name im Köpenicker Landregister auftaucht, demzufolge sie die Rechte an der Insel in den 1810er Jahren erhalten hat, und der somit wahrscheinlich die Insel für Generationen gehörte, zumal ein Dr. Werner Schulze heute immer noch (oder besser: wieder) der registrierte Besitzer ist. Zwischen 1933 und 1946 an Leberecht Migge und seine hingebungsvolle Schülerin vermietet und während der DDR-Jahre ‚verloren‘, weil von den kommunistischen Autoritäten enteignet, wurde die Insel letztendlich nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 in privaten Besitz zurück gegeben. Angesichts des Verfalls und der Verwitterung des Bootshauses und der einst kultivierten Teile der Insel scheint Dr. Schulze, von Beruf Förster, wenig Verwendung für die Insel zu haben. Während eines Telefoninterviews zeigte er keinerlei Interesse an ihrer vielschichtigen Vergangenheit und ihrer bisweilen turbulenten Geschichte. Die fast 200 Jahre des kontinuierlichen Einzelbesitzes stehen in einem solch deutlichen Kontrast zu den 13 Jahren intensiver kultureller und ökologischer Kultivierung, dass sich diese Erzählung unvermeidlich um das Geheimnis der Familie Schulze dreht. Zusammen genommen machen diese sich überlagernden und verdichtenden Erzählungen die Insel zu einer Stätte der Reflexion über die Möglichkeit eines Familienromans als ‚kulturellem Biotop‘ zugleich einer Großfamilie, einer Kommune und einer Patchwork-Familie. Dazu tragen auch die divergenten und doch ineinander verflochtenen Abläufe dieser Erzählungen bei, ihre unterschiedlichen Tempi und Zeitrahmen, die zumeist von den Zyklen der Jahreszeiten bestimmt sind, sich jedoch auch beunruhigend schnell zu sich rasch entfaltenden Tragödien entwickelt haben. Die langen, von nicht-menschlichen Agenten geprägten Abschnitte, unterbrochen von kurzen Ausbrüchen intensiver periodischer menschlicher Aktivität, und die ‚Natur‘ des ‚Nachlebens‘ dieser Aktivitäten sprengen den Rahmen üblicher Chronologien, so dass die 12

Vgl. Görlich, Christopher, „Urlaub vom Staat: zur Geschichte des Tourismus in der DDR“, in: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien (2007), 64–68.

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einfache Geschichte der Dommelwall-Insel nicht der Summe ihrer Teile entspricht. Da der Verfall der erbauten Umgebung mit einer dem kräftigen Wachstum von Büschen, Unkraut und Birkenbäumen inversen Geschwindigkeit voranschreitet, lässt sich das Nachleben der Ideen und Ideale, der Hoffnungen und Lebensverläufe derjenigen, die sie beherbergten, weder ausschließlich im Bereich der Kultur noch der Natur finden: sowohl die Idee aus der Insel ein Kulturdenkmal oder touristisches Ziel zu machen, wie auch der Versuch, das Gebiet nur als Vogelschutzgebiet zu erhalten, gingen an der Tatsache vorbei, dass es sich hier um die verschwindenden Spuren dieses Splitters des Berliner Modernismus als Vorläufer der „Grünen“ handelt. Das materielle Nachleben der Sonneninsel besteht stattdessen aus den Medien-Artefakten und Materialien, den Schriftspuren und Lichtspuren der Briefe und Fotographien, die das Leben auf der Insel in den Jahren zwischen 1932 und 1946 hervorgebracht hat. Diese Texte und Medien sind im Gegenzug – so mein Argument – die einzige Art von Wirklichkeit, Referenzialität und Materialität geworden, die diesem Orte der Erinnerung oder dieser memory map zugeordnet werden können. Die so im Entstehen begriffene île de mémoire steht unter dem Zeichen einer andauernden mnemotischen Metamorphose. Man könnte sagen, dass es ein Möbiusband aus Natur, Kultur und Bild(lichkeit) formt, bei dem das eine in das andere gedreht ist. Gegen die langsame Zerstörung und zyklische Erneuerung von Kultur und Natur setzt die île de mémoire die symbolische Kraft und ikonische Evidenz von Wort und Bild, in einem Prozess der Entzifferung, Dokumentierung, Bewahrung und Rekombinierung.

Mnemotische Metamorphosen: Das Möbiusband von Natur und Kultur Während Leberecht Migges Leben und Werk insgesamt gut dokumentiert und erforscht sind, insbesondere seitdem er so etwas wie der Großvater der deutschen ‚grünen Bewegung‘ geworden ist, war bislang seine berufliche und persönliche Verbindung mit der Dommelwall-Insel ein unbekanntes Gebiet, ein Nicht-Ort oder sogar unterdrückter Teil seiner Lebensgeschichte. Von meiner Seite aus ist diese ‚Geschichte‘ mitsamt ihrer Nachwirkungen, wie bereits angedeutet, in erster Linie Familiengeschichte: Wieder aufbereitet in immer neu erzählten Geschichten, in privaten Briefwechseln dokumentiert, und über Jahrzehnte hinweg durch die untote Evidenz von Privatvideos und Photographien am Leben erhalten. Erst kürzlich kam ein Stapel Gedichte ans Tageslicht; eine Folge der jüngsten Bemühungen, die Insel in eine île de mémoire anstatt in ein natürliches Vehikel oder Gefäß für Erinnerungen zu verwandeln, wie es noch der Fall gewesen wäre, als die epische Form dazu diente, von Heldentaten zu berichten und die Zerstörungskraft des Krieges zu dokumentieren. Die Insel steuert heute auf turbulente Zeiten zu, die sich sehr von denen in den 1930ern und 1940ern unterscheiden werden, da sie seit dem Fall der Mauer zugänglicher denn je ist, aber zugleich auch durch das wachsende und 247

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somit zunehmend aggressiv-invasive Verlangen des neuen Berlins nach Erholungsgebieten, Stränden und Wassersportanlagen gefährdet ist. Wenn man die alten Bilder betrachtet, ist der natürliche Impuls, zu fragen: Sollten wir das nicht retten? Sollten wir nicht das Gebäude, die Zeltlaube, den kleinen inneren See sowie die Obstbäume und Beeren tragende Büsche wieder rekonstruieren? Wir haben immer noch die Pläne und den Grundriss. Alle materielle Evidenz, die nötig ist, um die Insel wieder in so herzurichten, wie sie ‚wirklich‘ war, ist in den Fotografien verfügbar. Vielleicht können wir so die Auswirkungen der Zeit, des Vandalismus und der Vernachlässigung umkehren und – wie schon bei dem Berliner Hohenzollernschloss und vielen anderen Orten im Berlin nach dem Fall der Mauer – das Äußere, die Fassade wiederherstellen? Warum sollte man nicht zumindest versuchen, dem Auge zu schmeicheln und es glauben zu machen, dass sich nichts verändert hat und die Zeit wieder zurück gewonnen werden kann? An dieser Stelle will ich jedoch für dieses Dilemma den fast umgekehrten Weg vorschlagen: Lasst der Natur erst einmal ihren Lauf, lasst sie ihr Zerstörungswerk bis zum Ende vollbringen. Vielleicht sollte man die letzten Phasen dieses Wiederaneignungsprozesses sogar dokumentieren. Zweitens, selbst wenn die derzeitigen Eigentumsverhältnisse und die durch das Naturschutzgebiet gegebenen Einschränkungen es ermöglichen würden, wäre der Versuch, das Haus wieder aufzubauen und das Land zu rekultivieren, in einem gewissen Sinne sogar gegen den Geist dieses Ortes, gegen seinen genius loci, der auf das Recycling gerichtet ist und nicht auf die Wiedererschaffung der Vergangenheit. Drittens, die Tatsache, dass ich zufälligerweise eine große Menge an mehr oder weniger immateriellen Medien ebenso besitze wie materielle Hinterlassenschaften und Erinnerungssedimente, die als dokumentarische Evidenz dienen können, konstituiert in sich selbst noch keine Forderung nach einem besonderen Status, zumindest jetzt noch nicht. Wie ich versucht habe anzudeuten, schreibt sich diese Evidenz momentan mittels einer Anzahl von Geschichten und Diskursen ein, von denen keiner bisher entscheidend oder für die Öffentlichkeit interessant genug war, um das notwendige Momentum zu generieren. Das gilt auch hinsichtlich einiger sehr spezifisch Berliner Probleme, die aus ihrem lang anhaltenden Status als geteilter Stadt und ihrer divergenten und immer noch umkämpften Geschichte resultieren.13 Als Teil dieser umkämpften Geschichte ließe sich das Schicksal der Sonneninsel bestenfalls als Fußnote der Glanztage des internationalen Modernismus, der Stadtplanung und des utopischen Denkens über neue Lebensentwürfe auffassen, die alle mit Berlin und der Weimarer Republik assoziiert werden. Diese Geschichte wird im Schatten der großen Denker, Reformer und architektonischen Pionieren wie Bruno Taut, Hans Scharoun, Hans Poelzig oder 13

Das Berliner Gartenbau-Denkmalamt, das ich vor einigen Jahren kontaktierte, argumentiert, dass angesichts der vielen Projekte, denen man finanziell verpflichtet sei, die Seddinsee-Insel keinerlei Priorität habe.

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Martin Wagner bleiben. Aus weniger wohlwollender Sicht war das Projekt nicht nur im praktischen Sinne ein Fehlschlag (wie auch Migges viel ambitionierteres Parallelprojekt, die Stahnsdorfer Autark- Siedlung), sondern ist selbst als Fußnote bevölkert von einigen eher zweifelhaften, wenn auch schillernden Charakteren, Fantasten und Visionären, die so wenig in der politischen Wirklichkeit ihrer Zeit verankert waren, dass sie von links nach rechts schwankten und kreisten und sich letztendlich, wie auch Migge selbst, mit der Blut und Boden-Ideologie gemein machten. Für Migges posthume Reputation war es dabei von Vorteil, dass er früh genug verstarb, um nicht allzu eindeutig mit expliziter Nazi-Ideologie belastet zu werden. Seine zwei Söhne Gerd und Claus jedoch, die eine wichtige Rolle bei der Erschaffung der Insel spielten, wurden Mitglieder der Waffen-SS und starben später an der Ostfront. Auch im Rahmen der Familiengeschichte spielt Migges Sonneninsel eine zwiespältige Rolle: Schließlich beginnt diese Geschichte mit dem Auseinanderbrechen einer Familie, mit einem (tolerierten) Ehebruch und einer Mutter, die ihre noch nicht erwachsenen Kinder für einen Mann, den sie liebte, verließ, während ihr Geliebter seine eigene Familie jedoch nie offiziell verlassen oder sich von seiner Frau getrennt hat. Für Migge war Elisabeth eine ideale Gehilfin, jemand, der sein Experiment unterstützte und an seine Vision glaubte. Elisabeth warf sich mit Herz und Seele in dieses Abenteuer, und doch war es vor allem der vorzeitige Tod ihrer großen Liebe, der diesen höchst bemerkenswerten Akt von Loyalität und Vertrauen vorantrieb, eine lebensbejahende Hingabe an ein Ideal, die ebenso spirituell war wie sie auf harter Arbeit und täglicher Plackerei beruhte. Es war eine einsame und fast mönchische Hingabe, die aus Gram und Trauer erwuchs und auf so viele andere Menschen ausstrahlte. Im Verlauf der folgenden zehn Jahre, die sich als die dunkelsten der deutschen Geschichte herausstellen sollten, wurde die Insel zu einem seltsamen Leuchtfeuer – in einem solchen Maße, dass die durch die Affäre verstreute Familie wieder zueinander fand und noch stärker als zuvor zusammenhielt, nun vergrößert durch die Gastlichkeit und Zufluchtsmöglichkeit, die die Insel bot. Mit anderen Worten: Diese besondere ‚Familiengeschichte als kultureller Biotop‘ hat letztendlich sowohl als Geschichte eines Experiments in Ökologie oder ‚grünen Denkens‘ als auch als Familiengeschichte einen abwärts gerichteten, gleichsam elegischen Tonfall: Nur selten wurden die dunklen Tage von 1946 erwähnt, als die Russen die Insel plünderten und die Tochter, die mit der Mutter geblieben war, vergewaltigten und beinahe töteten. Auch der diesen Ereignissen folgende, traurige Exodus, der Elisabeths Geist und Körper brach, wurde selten erwähnt: erst vor kurzem kam das lange Gedicht, Schwanengesang für Dommelwall, das über die Ereignisse sinniert, zum Vorschein – unter Umständen, die darauf schließen lassen, dass es seit seinem Entstehen nie mehr gelesen wurde. Lieber erinnerte man sich glücklicherer Tage, so wie sie in den Familienfilmen evoziert wurden, quasi als wiederholte FetischHandlung und Selbstschutz vor dem Wissen um das Ende der Idylle.

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Ebenso entmutigend und fast ebenso seltsam anti-zyklisch wie das Seddinsee-Idyll, das sich inmitten von Verfolgung und Krieg behauptet hatte, sind die Ereignisse nach 1989. Während Berlin sich wiederbelebte, sich selbst wieder aufbaute und die Nation zusammenfand, regierte der Vandalismus ungehindert auf der Insel, der zu einer zuerst graduellen Vernachlässigung und nun totalen Zerstörung des Ortes führte: Eine Mischung aus menschlicher Indifferenz und Schwäche sowie der Indifferenz und Stärke der Natur. Die bisher letzte Reise zu der Insel, die ich im Juni 2007 unternahm, war insofern weniger eine Schatz – oder Spurensuche. Sie beschrieb eher eine Art Schleife, eine Variante des bereits genannten Möbiusbandes, in dem es kein dem Innen entsprechendes Außen gibt. Auf ähnliche Weise drang die Wirklichkeit der Insel, die bereits lebhaft existierte, bevor ich selbst überhaupt existierte, und mich doch dadurch, dass sie zu einem Bild geronnen war, mein ganzes Leben hindurch begleitet hat, nach und nach in mich ein. Schließlich durchdrang sie mich in solch einem Maße, dass es mich an diesen Ort trieb: nicht, um okulare Evidenz in irgendeinem repräsentationalen Sinne zu finden, sondern wegen seiner In-Evidenz, die zugleich unzureichend und exzessiv im herkömmlichen Sinn der Vergegenwärtigung ist. In ihrer Verkörperung durch meinen Besuch gewannen die alten Bilder eine neue Art von Indexikalität zurück, die weniger der fotographischen Emulsion geschuldet war als einer unterschiedlich indexierten Zeit, meiner Lebenszeit, die zufälligerweise parallel zu dem ‚natürlichen‘ Verwitterungs- und Verfallsprozess verläuft, und die, begleitet von üppiger Vegetation und unzerstörbarem Lebenswillen, mich mit eigenartiger Zuversicht füllte. Man könnte sagen, dass es zuletzt doch eine glückliche Rückkehr war: Eine, die dank der Filme und seiner Realität der Präsenz auf eine unbegrenzte Anzahl möglicher zukünftiger Wiederbelebungen verweist. Anstatt die Vergangenheit wiederherstellen zu wollen, oder ihre Zerstörung zu wiederholen, widersteht diese île de mémoire der Zeit gerade, weil sie diese für immer bewahrt. Sie kann so für die Familiengeschichte stehen, deren ‚Roman‘ sie so emphatisch ist und zugleich nicht ist.

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Personenregister Achternbusch, Herbert, 240 Adelung, Johann Christoph, 35 Adorno, Theodor W., 107 Agazzi, Elena, 14, 103, 105 Améry, Jean, 187 Anderson, Mark M., 18 Andreotti, Giulio, 112 Annesley, James, 209 Anz, Thomas, 163 Arend, Stefanie, 60 Arp, Agnès, 129 Aspetsberger, Friedbert, 166 Assmann, Aleida, 12, 14, 15, 148, 149, 157, 167, 191 Assmann, Jan, 12, 147, 148 Auerbach, Berthold, 82 Auerbach, Erich, 24, 32 August, Bille, 109 Austen, Jane, 26, 28 Bachmaier, Helmut, 184, 194 Bachmann, Ingeborg, 34 Bachtin, Michail, 16, 17, 18, 101, 106 Bahr, Hermann, 85 Balzac, Honoré de, 17, 26, 32 Balzer, Bernd, 98 Barthes, Roland, 53, 222, 238 Baßler, Moritz, 53 Baus, Kirsten, 122, 128 Beauvoir, Simone de, 184 Beethoven, Ludwig van, 118 Benrath, Martin, 91 Benveniste, Émile, 101, 102, 105 Berben, Iris, 96 Bergman, Ingmar, 109 Bertolucci, Bernardo, 109 Berri, Claude, 183 Beyer, Marcel, 145-155, 195 Birtsch, Nicole, 149 Blaschke, Friedrich, 49 Bleibtreu, Monika, 91 Blödorn, Andreas, 101 Böckmann, Gerd, 91 Bodei, Remo, 45 Boelhover, William, 119, 120 Bogdal, Klaus-Michael, 79 Boheemen, Christine van, 214 Bohleber, Werner, 179 Bohn, Volker, 63 Bohrer, Karl-Heinz, 29 Böll, Heinrich, 98, 100

Boltanski, Christian, 238 Bonatz, Paul, 235 Borsò, Vittoria, 12 Bourdieu, Pierre, 47, 49, 133 Bourget, Paul, 85 Brando, Marlon, 114 Bredel, Willy, 23 Breitscheidel, Markus, 183 Breloer, Heinrich, 19, 88, 91-96 Brod, Max, 31 Broer, Eva, 122 Bronsky, Alina, 196, 202-204 Brooke, Rupert, 164 Browne, Nick, 112, 118, 119 Browning, Christopher R., 176 Bruckner, Anton, 234, 245 Bruhns, Wibke, 13 Brunton, Paul, 245 Brussig, Thomas, 112, 118 Bude, Heinz, 13, 162 Caemmerer, Christiane, 65 Calvi, Roberto, 112 Calzoni, Raul, 99, 103, 108 Cambi, Fabrizio, 12, 14, 164 Camon, Alessandro, 118 Casetti, Francesco, 114 Cassavetes, Nick, 183 Catani, Stephanie, 136 Cervantes, Miguel de, 24 Chilese, Viviana, 19 Claudel, Philippe, 184 Claviez, Thomas, 209 Colli, Giorgio, 36 Comte, Auguste, 49 Coontz, Stephanie, 57 Coppola, Francis Ford, 109-114, 116, 118120 Coppola, Giancarlo, 116 Coppola, Sofia, 116 Costagli, Simone, 15, 118, 164, 168 Courths-Mahler, Hedwig, 23 Crescenzi, Luca, 125 Crisolli, Annemarie, 162 Crisolli, Wilhelm, 163, 164, 166 Daemmrich, Horst S., 239 Damiano, Carla Ann, 100 Dath, Dietman, 219, 228, 230 de Stäel (Madame) [eigl. Anne-Louise Germaine Necker], 25 De Niro, Robert, 114

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PERSONENREGISTER

de Winke, Arne, 157 Decartes, Renée, 229 Defoe, Daniel, 25, 26 Deines, Stefan, 149 Delabar, Walter, 65 Dell, Kerstin, 214 Derleth, August, 119 Derrida, Jacques, 101 Detering, Heinrich, 27, 52, 85, 124 di Donato, Pietro, 119 Dickens, Charles, 17, 26 Didi-Huberman, Georges, 152, 153 Diederichsen, Diedrich, 228 Diehl, August, 88, 96 Dietrich, Marlene, 95 Dierks, Manfred, 99, 107 Dika, Vera, 112 Dimitroff, Georgi, 227 Dinev, Dimitré, 196-200 Döblin, Alfred, 26, 34 Doctorow, Edgar Lawrence, 168 Doderer, Heimito von, 18, 59, 60, 62-66, 68, 69 Dostoevskij, Fjodor Michailowitsch, 106 Domsch, Sebastian, 213 Drach, Albert, 106 Drechsler Tobin, Patricia, 16, 210 Drews, Jörg, 99, 100 Dückers, Tanja, 10, 12, 13, 147, 197, 228 Düffel, John von, 17, 131-137, 139, 140 Durrani, Osman, 82 Dürrenmatt, Friedrich, 163 Durth, Werner, 235 Eco, Umberto, 110, 117, 163, 165, 166 Eichmann, Adolf, 221 Eigler, Friederike, 11, 12, 99, 131, 139, 145, 147, 158 Elias, Norbert, 90 Elsaesser, Martin, 19, 233, 234, 236 Elsaesser, Thomas, 19 Engels, Friedrich, 67 Enzensberger, Hans Magnus, 168 Erhart, Walter, 38 Eroms, Hans-Werner, 106 Esterházy, Péter, 10, 109, 131 Eugenides, Jeffrey, 209 Euklid, 229 Fagetti, Karin, 194 Falke, Stefan, 88 Fangerau, Heiner, 183 Färberböck, Max, 222 Farocki, Harun, 240 Fassbinder, Rainer Werner, 240 Fatah, Sherko, 196, 203, 204 Faulkner, William, 212, 217

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Felmy, Hansjörg, 90, 91 Ferraro, Thomas J., 120 Ferres, Veronica, 91, 93 Fiedler, Matthias, 11, 12, 131 Fielding, Henry, 17, 25, 26, 214 Figal, Günter, 107 Finlay, Frank, 146 Finck, Hans, 38 Fischer, André, 106 Fischer, Theodor, 235 Flaubert, Gustave, 7, 17, 224 Florescu, Catalin Dorian, 196, 201 Fludernik, Monika, 140 Flusser, Vilém, 46 Fontane, Theodor, 7, 8, 26, 28, 58 Foster, Hal, 112, 238 Foucault, Michel, 48 Franzen, Jonathan, 10, 18, 133, 134, 140, 195, 209, 210, 213, 220 Freud, Anna, 48 Freud, Ernst L., 48 Freud, Sigmund, 9, 10, 15, 27, 47, 48, 50, 157, 158, 219 Frevert, Ute, 148 Freytag, Gustav, 8, 17, 72 Fricke, Hannes, 179 Friedrich, Gerhard, 12, 15 Friedländer, Saul, 106 Fröhlingsdorf, Michael, 183 Fuchs, Anne, 12, 168 Fukuyama, Francis, 211 Fulda, Daniel, 56, 159 Gagnebin, Bernard, 42 Galli, Matteo, 118, 165, 168 Galsworthy, John, 8, 17, 109 Ganeva, Mila, 147, 149 Gansel, Carsten, 146, 149 Garbe, Joachim, 100 Garcia, Andy, 114 García Márquez, Gabriel, 109, 162 Geiger, Arno, 123, 131, 227 Geisler, Eberhard, 38 Genazino, Wilhelm, 193 Genette, Gérard, 101, 102 Geppert, Hans Wilmar, 159, 160, 168 Gide, André, 107 Gilleir, Anke, 157 Giordana, Marco Tullio, 109 Göckenjan, Gerd, 193 Goebel, Eckart, 107 Goethe, Johann Wolfgang von, 17, 39, 229 Goldhagen, Daniel, 11, 176, 223 Görlich, Christopher, 246 Gotthelf, Jeremias, 56

PERSONENREGISTER

Grass, Günter, 12, 100, 106, 163, 170, 177-180, 230 Greber, Erika, 140 Gropius, Walter, 235 Gröschner, Annett, 129, 130 Gross, Peter, 194 Gross, Otto, 27 Groth, Torsten, 122 Grözinger, Karl Erich, 73 Gruber, Bettina, 53 Gutjahr, Ortrud, 135 Hage, Volker, 9, 10, 12, 98, 99, 157 Hagestedt, Lutz, 53 Hahn, Ulla, 10, 11, 170, 174-177, 180, 185, 186, 189-192 Haney, David Henderson, 245 Hanns, Lothar, 90 Hardtwig, Wolfgang, 99 Hardy, Oliver, 227 Harris, Robert, 227 Harris, Stefanie, 155 Harth, Dietrich, 148 Härtling, Peter, 147 Hartung, Heike, 193 Harwood, Sarah, 208 Hauptmann, Gerhard, 132 Haverkamp, Anselm, 148 Hebel, Johann Peter, 167 Heftrich, Eckhard, 27, 85, 87, 124, 132 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 26, 38, 219 Heller, Dana, 208, 216 Helmstetter, Rudolf, 58 Hempel, Dirk, 103 Henisch, Peter, 147 Henschel, Gerhard, 108 Hentsch, Jürgen, 91, 95 Herd, Erich William, 106 Herholz, Gerd, 195 Herkommer, Hubert, 72 Herrmann, Britta, 18, 52 Hermann, Judith, 185 Hermes, Stefan, 190, 191 Hertwig, Harald, 188, 191 Herzog, Werner, 240 Hesse, Hermann, 97 Heukenkamp, Ursula, 239 Heuser, Christian, 92 Heydrich, Reinhard, 221 Hilberg, Raul, 221 Hillebrand, Bruno, 100 Himmelfarb, Gertrude, 208 Himmler, Heinrich, 221 Hindemith, Paul, 245 Hirsch, Marianne, 149

Hitler, Adolf, 78, 97, 176, 223, 227 Hodge, Robert, 211 Hofmannsthal, Hugo von, 27-29, 32, 52 Homer, 10, 24, 194 Honecker, Erich, 129, 130 Hoppe, Karl, 38, 51 Horstkotte, Silke, 149, 152, 155, 157, 167, 168 Houellebecq, Michel, 162, 209 Huston, Nancy, 209, 216 Illies, Florian, 13 Jaeger, Stephan, 149 Jäger, Hans-Wolf, 60 Jahn, Bernhard, 15, 131 Jahnn, Hans Henny, 192 Jameson, Fredric, 112 Jarausch, Konrad H., 145 Jirgl, Reinhard, 10, 13 Johannes Paul II., Papst [vorher Karol Wojtyla] 112 Johnson, Uwe, 34, 109, 123, 146 Jonnes, Denis, 16, 210 Joyce, James, 27, 97, 107, 214 Jückstock-Kießling, Nathali, 55 Jung, Carl Gustav, 227, 245 Jungbluth, Rüdiger, 123 Jünger, Ernst, 27, 224 Jurgensen, Manfred, 98 Kafka, Franz, 18, 26, 27, 29-32, 34, 73, 74, 99, 107, 165 Kaiser, Gerhard, 68 Kämmerlings, Richard, 99 Kant, Immanuel, 26, 79 Kaplan, Amy, 213 Karpeles, Gustav, 72 Kawin, Bruce, 114, 119 Kehlmann, Daniel, 194 Kellner, Beate, 59 Kempowski, Anna, 102 Kempowski, Walter, 97-108, 168 Key, Ellen, 34 Kimball, Michael, 216-218 Kimmig, Stephan, 135 Kinder, Hermann, 185 Kleist, Heinrich von, 79 Klingenberg, Anneliese, 8 Klotz, Volker, 60 Kluckhohn, Paul, 53 Kluge, Alexander, 113, 168, 240 Klüger, Ruth, 184 Kober, Hainer, 221 Koch, Hans-Gerd, 27, 31 Koch, Sebastian, 91, 93 Kocziszky, Eva, 103 Köhler, August, 85

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PERSONENREGISTER

Köhler, Harriett, 133, 137, 139-141 Kohout, Pavel, 100 Königsdorf, Helga, 185, 192 Königstein, Horst, 88, 91, 92, 96 Koopmann, Helmut, 87 Köpf, Peter, 122 Korte, Barbara, 140 Kosch, Wilhelm, 72 Kost, Rudi, 96 Kracht, Christian, 196, 197 Kraeft, Volker, 91 Kraft, Andreas, 14, 168 Krausser, Helmut, 220 Kress, Gunter, 211 Krobb, Florian, 82 Kuester, Martin, 210 Küpper, Thomas, 187 Kurzke, Hermann, 85 La Roche, Sophie, 23 Lachmann, Renate, 148 Ladenthin, Volker 100 Lämmert, Eberhard, 107 Landes, David, 122, 123 Lang, Carl Ludwig, 72 Lang, Fritz, 109 Lang, Thomas, 185, 192 Langer, Daniela, 101 Lanzmann, Claude, 220-222 Larsen, Karl, 33 Laurel, Stan, 227 Lensing, Leo A., 38 Lenz, Daniel, 150 Lenz, Siegfried, 100 Lessing, Gotthold Ephraim, 42, 79 Leupold, Dagmar, 11, 14, 19, 131, 166, 167, 184 Leuwerik, Ruth, 91 Lévi-Strauss, Claude, 105 Limlei, Michael, 38 Lindner, Erik, 123 Littell, Jonathan, 219-225, 228, 230 Littler, Margaret, 201 Löhneysen, Wolfgang Frhr. von, 86 Löffler, Sigrid, 18, 47, 131 Lukács, György, 159 Luehrs, Kai, 65, 66 Luhmann, Niklas, 133 Lustiger, Arno, 71 Lustiger, Gila, 131 Lutosch, Heide, 162 Lützeler, Paul Michael, 155, 164 Luukkainen, Matti, 106 Lyotard, Jean-François, 174 MacDonald, Ann-Marie, 210 Macho, Thomas, 123, 124

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Mahal, Gunther, 106 Man, Glenn, 119 Mann, Carla, 94 Mann, Elisabeth, 91 Mann, Erika, 90, 92, 93 Mann, Frido, 94 Mann, Friedrich, 91 Mann, Golo, 88, 95 Mann, Heinrich, 35, 93, 95 Mann, Julia, 91 Mann, Klaus, 92, 94, 90, 91 Mann, Monika, 95 Mann, Thomas, 7, 10, 17, 19, 26, 27, 33, 34, 85-99, 108, 109, 124, 125, 132, 134-136, 139, 162, 184 Mann Borgese, Elisabeth, 94, 95 Mannheim, Karl, 13, 61 Manzoni, Alessandro, 166 Mar, Raymond, 211 Marcinkus, Paul Casimir, 112 Maron, Monika, 12, 131 Marx, Friedhelm, 18, 136, 165 Marx, Karl, 66, 67 März, Ursula, 9, 10, 157 Max, Katrin, 88-90 Mayer, Franziska, 60 McCord, Phyllis, 102 McDermott, Alice, 211, 212 McInerney, Jay, 210 Meckel, Christoph, 147 Mecklenburg, Norbert, 101 Medicus, Thomas, 160, 162-164, 168 Meinerts, Hans Jürgen, 38 Meloy, Maile, 212, 213 Metz, Petra, 209 Meyer, Matthias, 60, 66 Meyer, Stephenie, 110 Migge, Leberecht, 243, 245-247, 249 Miller, Arthur, 207, 208, 215, 215 Milton, John, 229 Mitscherlich, Alexander, 176 Mitscherlich, Margarethe, 176 Moller, Sabine, 11, 148, 177, 191 Montinari, Mazzino, 36 Moss, Maria, 209 Mueller-Stahl, Armin, 91, 96 Muhic, Amir, 190, 191 Müller, Heiner, 153 Müller, Lothar, 131 Müller, Michael, 31 Mulot, Sibylle, 126 Musil, Robert, 26, 27, 34, 107 Napoleon [eigtl. Napoleone Bonaparte], 40 Neumann, Michael, 85 Nieberle, Sigrid, 140

PERSONENREGISTER

Nietzsche, Friedrich, 35-37, 39, 44, 45, 8587, 93, 125 Nipperdey, Thomas, 48, 49 Noll, Ingrid, 194 Nora, Pierre, 12, 221-223, 236, 237 Novalis, [eigtl. Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg], 52, 53 Nünning, Ansgar, 12, 136, 149 Nünning, Vera, 136 Oatley, Keith, 211 Obermayer, August, 106 Oels, David, 158 Ohly, Friedrich, 63 Ortheil, Hanns-Josef, 127 Ott, Karl-Heinz, 184, 185 Ovid, 166 Owen, Ruth J., 146 Oz, Amos, 109 Özdamar, Sevgi, 201 Pape, Walter, 56 Parnes, Ohad, 59, 68, 121 Paucker, Arnold, 71, 82 Pehnt, Annette, 124, 185, 186, 189, 192, 193 Petrarca, Francesco, 229 Pleschinski, Hans, 123 Pierer, Eugen, 35 Pinder, Wilhelm, 61, 63 Piwitt, Hermann Peter, 147 Plessen, Elisabeth, 147, 158 Plöschberger, Doris, 100 Plutarch, 46, 159 Poelzig, Hans, 248 Pongs, Hermann, 7, 8, 23 Porombka, Stefan, 158 Portales, Marco, 185 Pott, Hans-Georg, 194 Preece, Julian, 82, 146 Preisendanz, Wolfgang, 106 Prel, Carl du, 52 Preußer, Heinz-Peter, 19, 118 Prince [eigtl. Prince Rogers Nelson], 219 Proust, Marcel, 27, 107 Pulver, Liselotte, 90, 91 Pütz, Eric, 150 Pytlik, Priska, 52 Pyykkö, Riitta, 106 Raabe, Wilhelm, 18, 35, 37, 38, 42-44, 47, 50, 51, 53-57 Radspieler, Hans, 41 Ramge, Thomas, 123 Ransmayr, Christoph, 163, 166, 168 Raymond, Marcel, 42 Reagan, Ronald, 208 Reck, Hans Ulrich, 148

Reed, Terence, 87 Reents, Edo, 87, 90, 91 Reich-Ranicki, Marcel, 92, 97, 98, 1108 Reitz, Edgar, 91, 109-113, 117-120, 240 Renner, Rolf Günter, 92 Reulecke, Jürgen, 162 Rhotert, Bernt, 91 Richardson, Samuel, 7, 17, 18, 23, 25, 26, 28, 30 Richter, Jörg Thomas, 19 Ricoeur, Paul, 193 Rieger-Ladich, Markus, 133 Riehl, Wilhelm Heinrich, 56, 57 Riley, Christopher, 106 Rilke, Rainer Maria, 18, 26, 27, 32-34, 52, 99, 184 Ritter, Ellen, 27 Robbe-Grillet, Alain, 146 Robinson, Marylinne, 214, 215 Rode, Marc-Boris, 147 Rohr, Susanne, 209, 210 Rois, Sophie, 91 Roll, Gernot, 91, 96 Rolland, Romain, 245 Rølvaag, Ole, 119 Rossbacher, Brigitta, 12 Roth, Philip, 185 Rousseau, Jean-Jacques, 41-44 Rushdy, Ashraf H. A., 208 Ru, Yi-ling, 9, 16, 32, 210, 211 Sabrow, Martin, 145 Safran Foer, Jonathan, 209 Safranski, Rüdiger, 86 Sander, Helke, 240 Sanders-Brahms, Helke, 240 Sammons, Jeffrey L., 56 Sareika, Rüdiger, 132 Schaffner, Franklin J., 113 Scharoun, Hans, 248 Schaumann, Ruth, 97 Scheffel, Michael, 101, 136 Schelsky, Helmut, 161 Schillemeit, Jost, 29, 31 Schindler, Stephan K., 155 Schlechta, Karl, 85 Schlink, Bernhard, 11, 220, 230 Schmidlin, Yvonne, 85, 92 Schmidt-Dengler, Wendelin, 60 Schmitz, Helmut, 173, 175, 201 Schmitz-Emans, Monika, 53 Schoeller, Bernd, 52 Schöll, Sandra, 146 Schopenhauer, Arthur, 86, 87, 90, 93 Schopenhauer, Johanna, 22 Schreiner, Margit, 185, 189

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PERSONENREGISTER

Schröter, Klaus, 92 Schücking, Lothar Engelbert von, 35 Schulz, Frank, 228 Schulze, Werner, 246 Schumann, Caroline, 12 Schütz, Erhard, 99, 158 Schwarz, Jessica, 96 Scola, Ettore, 109 Scott, Walter, 160, 221 Sebald, Winfried G., 34, 108, 168 Sedlaczek, Markus, 153 Seghers, Anna, 23 Seidler, Miriam, 183, 193 Seiz, Carola, 71 Senger, Valentin, 71-82 Seuren, Günter, 147 Shakespeare, William, 229 Shaftesbury [eigtl. Antony Ashley Cooper], 42 Shire, Talia, 116 Sievers, Olga, 91 Simmel, Georg, 54 Simon, Fritz B., 122 Simon, Ulrich, 149 Snyder-Körber, MaryAnn, 213 Solf, Reinhild, 91 Sollors, Werner, 119, 120 Solomon-Godeau, Abigail, 238 Sommer, Gerald, 65 Speckmann, Guido, 71 Speer, Albert, 221, 224, 235 Sprengel, Peter, 38 Stachorski, Stephan, 85, 132 Stanišić, Saša, 205 Steinbach, Peter, 91, 112 Stendhal [eigtl. Henri-Marie Beyle] 26, 32 Stifter, Adalbert, 8, 166 Straub, Jürgen, 179 Strowick, Elisabeth, 140 Sturgis, Charlotte, 210 Subini, Tomaso, 118 Suter, Martin, 185 Süskind, Patrick, 163 Syberberg, Hans-Jürgen, 240 Taeger, Angela, 193 Thalbach, Katharina, 91 Tanner, Tony, 8 Taut, Bruno, 235, 248 Tautou, Audrey, 183 Thackeray, William Makepeace, 17 Theweleit, Klaus, 153, 176, 177, 226 Thomke, Hellmut, 56 Tiller, Nadja, 90 Timm, Uwe, 10-12, 19, 131, 160, 161, 164, 165, 168, 170-173, 180, 185

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Titzmann, Michael, 53, 55 Tolkien, John Ronald Reuel, 219 Tolstoi, Lew, 7, 10, 17, 26, 242 Tönnies, Ferdinand, 49, 56, 57 Tornatore, Giuseppe, 109 Träger, Claus, 8, 23 Treichel, Hans-Ulrich, 163 Trojanow, Ilija, 196-200, 202, 205 Tschechow, Anton Pawlowitsch, 224 Tschopp, Silvia Serena, 56, 159 Tschuggnall, Karoline, 11, 148, 177, 191 Van den Heuvel-Disler, Heidi, 42, 208 Vedder, Ulrike, 59, 68, 121 Vintenberg, Thomas, 133, 135, 138, 139 Vischer, Friedrich Theodor, 49, 53 Visser, Irene, 208 Vogt, Jochen, 87, 88 Voltaire [eigtl. François-Marie Arouet], 42, 79 Von Trotta, Margarethe, 240 Vorauer, Markus, 118 Vulpius, Christiane, 39 Wackwitz, Stephan, 9-11, 13, 15, 19, 131, 157-162, 164-168 Wagener, Hans, 101 Wagner-Egelhaaf, Martina, 53 Wagner, Martin, 235, 249 Walser, Martin, 163 Warning, Rainer, 106 Wasmeier, Marie Louise, 146 Wassmann, Elena, 163 Watt, Ian, 24, 25 Weber, Max, 67, 68 Weidenmann, Alfred, 90, 91, 96 Weigel, Sigrid, 12, 13, 15, 35, 37, 147 Weiss, Peter, 168 Weißhaupt, Mark, 14, 168 Weinrich, Harald, 102 Welzer, Harald, 10-12, 148, 149, 169, 177, 191 Wenders, Wim, 240 Werle, Simon, 10 Werle, Dirk, 158 White, Hayden, 101, 106, 158 Wiechert, Ernst, 97 Wieland, Christoph Martin, 41-44 Willer, Stefan, 18, 68, 121 Williams, Carlo William, 119 Wilpert, Gero von, 7, 16, 17, 23 Wimmer, Rudolf, 122 Wimmer, Ruprecht, 97 Wirth, Franz Peter, 91, 96 Wirtz, Thomas, 166 Wißkirchen, Hans, 91, 92, 94 Wittgenstein, Ludwig, 174

PERSONENREGISTER

Wittstock, Uwe, 163 Wolf, Yvonne, 60 Wolff, Claudia, 185 Wolff, Kurt H., 62 Wolff, Rudolf, 87, 89, 96

Woolf, Virgina, 27 Wortmann, Marc, 185 Wright, Mary, 208 Wünsch, Marianne, 38

Wysling, Hans, 85, 87, 92

Young, James Edward, 148 Zaimoglu, Feridun, 196, 200-202 Zedler, Johann Heinrich, 35 Zeller, Michael, 89 Zimmermann, Jutta, 210 Zimmermann, Silke Cathrin, 140 Zimniak, Paweł, 149 Zola, Émile, 7, 8, 26, 219 Zucker, Renée, 222 Zweig, Arnold, 48

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Bio-Bibliographische Notiz Elena Agazzi ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Bergamo. Schwerpunkte: Deutsche Literatur der Nachkriegszeit und nach der Wende, Gedächtnisforschung, deutsche Aufklärung und Goethe-Zeit. Aufsätze zu Familienromanen und zur Generationenfrage in Deutschland und Italien. Neuere Publikationen: Erinnerte und rekonstruierte Geschichte (Göttingen, 2005); La grammatica del silenzio di W.G. Sebald (Rom, 2007); Graecomania. Der europäische Philhellenismus (Berlin-New York, 2009, zusammen mit Gilbert Hess und Elisabeth Décultot). Mark M. Anderson, Professor für Germanistik und Komparatistik, Columbia University, New York. Zahlreiche Publikationen zu deutschsprachigen Autoren der Moderne und der Gegenwartsliteratur, insbesondere Kafka, Hofmannsthal, Thomas Mann, Celan, Bachmann, Bernhard, W. G. Sebald. Kafka's Clothes: Ornament and Aestheticism in the Hapsburg Fin de Siècle (Oxford, 1992); Hitler's Exiles (New York, 1996). Er arbeitet zur Zeit an einer Biografie von W. G. Sebald. Moritz Baßler, Studium der Germanistik und Philosophie in Kiel, Tübingen und Berkeley. Promotion in Tübingen 1993, Assistent am Lehrstuhl für Neueste deutsche Literatur in Rostock bis zur Habilitation 2003, Professor of Literature an der International University Bremen bis 2005. Seither Professor für Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Literatur, insbesondere zur Literatur der Klassischen Moderne (u.a.: Die Entdeckung der Textur. Zur Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen, 1994), zur Literaturtheorie (zuletzt: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen, 2005) und zur Gegenwartsliteratur (Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München, 2002). Petra Brunnhuber, Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Heidelberg, Aix-en-Provence und Bologna. Seit 2001 Lektorin an der Universität Florenz. Redaktionsmitglied der Germanistik-Zeitschrift daf-werkstatt der Universität Siena. Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Komparatistik, Interkulturalität, Übersetzungswissenschaft und der deutschen Gegenwartsliteratur (Uwe Timm, John von Düffel). Raul Calzoni ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Bergamo (Italien). Er hat Beiträge zur deutschen Klassik und Romantik und deutschen und österreichischen Gegenwartsliteratur veröf259

BIOBIBLIOGRAPHISCHE NOTIZ

fentlicht. Zuletzt erschienen: Walter Kempowski, W.G. Sebald e i tabù della memoria collettiva tedesca (Udine, 2005) und “Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment”: Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert (Hg. zus. mit M. Salgaro, Göttingen, 2010). Viviana Chilese, Studium der Germanistik und Anglistik in Venedig, Promotion über Uwe Johnson in Ferrara. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, das Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung, ökonomische Diskurse in Literatur, das utopische und dystopische Denken in Literatur, Film und Medien. Simone Costagli arbeitet als Lehrbeauftragter an der Universität Ferrara. Promotion 2006 mit einer Dissertation über die Darstellung von Osteuropa in der deutschen Gegenwartsliteratur (Spazio presente, Florenz, 2008). Weitere Publikationen zu Franz Kafka, Alexander Kluge, zur Gegewartsliteratur und zum Film. Norbert Otto Eke, Prof. Dr. phil, Studium der Germanistik und Theologie u.a. an der FU Berlin; Promotion 1988 mit einer Arbeit über Heiner Müller (Paderborn, 1989), Habilitation 1995 mit einer Untersuchung über das deutsche Drama zur Französischen Revolution um 1800 (München, 1997); seit 2006 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn; davor Ordinarius für deutsche Literatur in Amsterdam. Zahlreiche Arbeiten zum Drama und Theater, zur Literatur zwischen Spätaufklärung und Vormärz, zur Gegenwartsliteratur und zur deutsch-jüdischen Literatur. Neuere Buchveröffentlichungen: New Readings – Neulektüren (Amsterdam/Atlanta, 2009) (hg. zus. mit Gerhard P. Knapp); Wort/Spiele. Drama – Film – Literatur (Berlin, 2007); Shoah in der deutschsprachigen Literatur (Berlin, 2006) (hg. zus. mit Hartmut Steinecke); Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Berlin, 2006) (hg. zus. mit Alo Allkemper); Einführung in die Literatur des Vormärz (Darmstadt, 2005). Thomas Elsaesser war von 1991 bis 2008 Professor für Filmwissenschaft an der Universität Amsterdam. Seit 2005 unterrichtet er außerdem jährlich ein Semester an der Yale University als Gastprofessor. Zusammen mit seiner Schwester Regina Elsaesser gründete er im März 2009 die „Martin-ElsaesserGesellschaft“. Zahlreiche Monographien über den europäischen und den amerikanischen Film. Zuletzt in deutscher Sprache: Filmtheorie. Zur Einführung, Hamburg, 2007 (zusammen mit Malte Halgener); Terror und Trauma. Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD, Berlin, 2007; Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, Berlin 2009.

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BIOBIBLIOGRAPHISCHE NOTIZ

Gerhard Friedrich unterrichtet Neuere Deutsche Literatur an der Universität Turin. Forschungsschwerpunkte waren die Arbeiterliteratur am Ende der Weimarer Republik und die literaturtheoretischen Auseinandersetzungen um sie (Proletarische Literatur und politische Organisation, Frankfurt M./Bern1981); Georg Büchner („…soffrire sia mia ogni ricompensa“, Quattro saggi su Georg Büchner, Alessandria, 2002); J. M. R. Lenz („Der kastrierte Vater“, in Cultura Tedesca, 2004). In den letzten Jahren befasste er sich eingehend mit der deutschen Gegenwartsliteratur, hier vor allem mit Uwe Timm und dem Themenkomplex „neuer deutscher Familienroman“, zu dem er mehrere Aufsätze veröffentlicht hat. Matteo Galli ist Ordentlicher Professor für Deutsche Literatur an der Universität Ferrara. Neuere Publikationen: Edgar Reitz (Mailand, 2006); Cronache di Atlantide 1989-2009, in L’invenzione del futuro. Breve storia letteraria della DDR, hg. v. Michele Sisto (Mailand, 2009). Als Herausgeber: Mythos Terrorismus. Vom deutschen Herbst zum 11. September (2006, Heidelberg zusammen mit Heinz-Peter Preußer); Deutsche Gründungsmythen (2008, Heidelberg, zusammen mit Heinz-Peter Preußer). Britta Herrmann, akadem. Oberrätin a.Z. am Institut für Deutsche Philologie der LMU München. 2008 Habilitation in Bayreuth: Über den Menschen als Kunstwerk (1750-1820). Zu einer Archäologie des (Post-)Humanen im Diskurs der Moderne. Veröffentlichungen zur Wechselbeziehung von Wissenschaften und Literatur um 1800, zum Zusammenhang von Poetik, Rezeptionssteuerung und Bildungsdenken, zur Literatur des 18.-21. Jhs., zur ästhetischen Moderne, zur Geschichte der Germanistik, zu Gender Studies/Masculinities, Kulturwissenschaft(en), Konzepten der Autorschaft, Literatur als Medium. Martin Hielscher, Studium der Germanistik und Philosophie in Hamburg, Dr. phil., Autor, Übersetzer, Kritiker und Universitätslehrer, ist nach Stationen als Lektor beim Luchterhand Literaturverlag und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch seit 2001 Programmleiter für Literatur im Verlag C.H. Beck in München. Honorarprofessor an der Universität Bamberg, Dozent und derzeit auch Dekan an der European Graduate School in Saas Fee. Veröffentlichte u. a. Monographien über Wolfgang Koeppen (München 1988) und Uwe Timm (München, 2005) sowie zahlreiche Aufsätze zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Friedhelm Marx ist seit 2004 Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Promotion mit einer Arbeit über Goethe und Wieland, Habilitation mit einer Arbeit über Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Zahlreiche Publikationen zur Literatur des 18. Jahrhunderts, zur Klassischen Moderne und zur Gegenwartsliteratur. Her261

BIOBIBLIOGRAPHISCHE NOTIZ

ausgeber der Reihe „Poiesis. Standpunkte zur Gegenwartsliteratur.“ Dort gerade erschienen: Familien Erzählen. Das literarische Werk John von Düffels. Hg. v. Stephanie Catani und Friedhelm Marx (Göttingen, 2010). Heinz-Peter Preusser, Prof. Dr., Germanist und Medienwissenschaftler an der Universität Bremen. Neuere Publikationen: Als Hg. Krieg in den Medien. Amsterdam, New York, 2005. Kulturphilosophen als Leser. Porträts literarischer Lektüren. Hg. mit Matthias Wilde. Göttingen, 2006. Mythen der sexuellen Differenz. Mythes de la différence sexuelle. Übersetzungen – Überschreibungen – Übermalungen. Hg. mit Ortrun Niethammer und Françoise Rétif. Heidelberg, 2007. Ebd. das „Jahrbuch Literatur und Politik“, 2006 – 2009, Bde. 1 – 4, Hg. mit Matteo Galli, Alexandra Pontzen und Anthonya Visser. Jörg Thomas Richter hat Amerikanistik, Anglistik und Philosophie in Dresden und Columbus studiert. Er ist derzeit Mitarbeiter im von der Volkswagenstiftung geförderten Projekt „Generationen in der Erbengesellschaft“ am ZfL Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben Diskursen kultureller Reproduktion, dem amerikanischen Gegenwartsroman vor allem die amerikanische Literatur und Kultur der frühen Republik. Veröffentlicht hat er u.a. Nationalität als literarisches Verfahren: Der amerikanische Roman 1790-1830 (Paderborn 2004); „Plotting Inheritance: Literary Configurations of Cultural Succession“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 49 (2008): 219-236. Stefania Sbarra ist Wissenschatliche Assistentin an der Universität Ca' Foscari Venedig und war früher an der Universität Ferrara tätig. Sie hat ein Buch zur Rezeption Rousseaus in der Goethezeit (Rom, 2006) und verschiedene Aufsätze zu J.W. Goethe, H. Mann, F. Nietzsche, C. Edvardson, G. Grass und U. Kolbe geschrieben. Stefan Willer, Leiter der Abteilung „Wissensordnungen“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Studium der Germanistik, Romanistik und Musikwissenschaft an den Universitäten Göttingen und Münster, Promotion an der Universität Münster 2001, Habilitation an der TU Berlin 2010, Gastprofessuren für Komparatistik und Germanistik an der LMU München und der HU Berlin. Buchveröffentlichungen in Auswahl: Botho Strauß zur Einführung (Hamburg, 2000); Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik (Berlin, 2003), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen (Mithg., Berlin, 2007); Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte (Mitvf., Frankfurt am Main, 2008).

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