Drastik. Ästhetik – Genealogien – Gegenwartskultur
 9783770561223

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Giuriato, Schumacher (Hg.) DRASTIK

Davide Giuriato, Eckhard Schumacher (Hg.)

DRASTIK STHETIK

GENEALOGIEN

GEGENWARTSKULTUR

Wilhelm Fink

Gedruckt mit freundlicher Unterst tzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs

Bibliogra sche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra e; detaillierte bibliogra sche Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der bersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielf ltigung und bertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und bertragung auf Papier, Transparente, Filme, B nder, Platten und andere Medien, soweit es nicht 53 und 54 UrhG ausdr cklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, J henplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www. nk.de Einbandgestaltung: Katja Kottwitz, Greifswald Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Sch ningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-6122-3

INHALT

DAVIDE GIURIATO Aktualit t des Drastischen. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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STHETIK HELMUT LETHEN Ekel. Groteske K rper unterwandern das Ballett klassizistischer K rperbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DIRCK LINCK Aufdringliche Singularit ten: Drastik und die Ordnung des Werkes . . . . . .

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ELIAS KREUZMAIR Inverse Drastiker . Poststrukturalisten und poststrukturalistische Theorie in Dietmar Daths Die salzwei en Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ESTEBAN SANCHINO MARTINEZ Zwischen Evidenz, Ereignis und Ethik. Konturen einer sthetik und Poetik des Drastischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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GENEALOGIEN MICHAEL EGGERS Herzblut. Zu H. H. Jahnns Pastor Ephraim Magnus, zu Sarah Kane und zur Geschichte szenischer Gewaltdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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J RG TREMPLER Drastisch wird s, wenn man dabei ist. ber Teilhabe an der Wirklichkeit durch Bilder um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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MARTINA S ESS Drastische Nebenwirkungen. C. F. Meyers J rg Jenatsch als charismatische Gr nder gur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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THOMAS WEITIN Drastisches Experiment. C. F. Meyers letzte Novelle Angela Borgia . . . . . . .

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INHALT

DANIELA SCH NLE ber das Vergn gen an drastischen Gegenst nden Von der Wiener Moderne zum Wiener Aktionismus . . . . . . . . . . . . . . .

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GEGENWARTSKULTUR HEINZ DR GH Drastik und Warenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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OLIVER M LLER Untotes. Ein Essay ber ontologische Beunruhigungen . . . . . . . . . . . . . . .

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EKKEHARD KN RER Schlecht verdaut. Harmony Korines Drastik der Form . . . . . . . . . . . . . . . .

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ALEXANDRA P LZLBAUER Charlotte Roches Feuchtgebiete. Ekelhafte N he und humorvolle Drastik . .

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ECKHARD SCHUMACHER blutig bluten Drastik in Rainald Goetz Subito . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ber die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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AKTUALIT T DES DRASTISCHEN Zur Einleitung

Schluss mit lustig , so schreibt Hanno Rauterberg in einem 2012 in der Zeit erschienenen Artikel mit dem Anspruch, eine Gegenwartsdiagnose zu stellen.1 Folgt man den Ausf hrungen, so geh rt die Epoche der Postmoderne seit dem 11. September 2001 endg ltig der Vergangenheit an. Auf mehreren Gebieten der kulturellen Produktion sei eine Formensprache zur ckgekehrt, die sich jeden Schn rkel verbietet und eine ungewohnte Strenge der Sachlichkeit, Klarheit und Einfachheit an den Tag legt. Keine Ornamente mehr , so bringt das der Zeit-Artikel auf den Punkt, von nun an sollten die Formen und damit das gesamte Dasein ehrlich und wahrhaftig sein .2 Dieses Buch widmet sich einem Ph nomen, das Rauterbergs Zeitdiagnose auf dem Feld der sthetik zu best tigen scheint. In den vergangenen zehn Jahren ist zu beobachten, dass der Begri der Drastik sowohl im Bereich der Literatur wie auch der Kunsttheorie eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt hat. Vor dem Hintergrund einer Tendenz, mit der die Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts von der Postmoderne Abschied zu nehmen und die Last der entsprechenden Theorien abzusch tteln w nscht, um zu ehrlichen und wahrhaftigen Darstellungsformen zur ckzu nden, folgt das Interesse an einer sthetik des Drastischen den aktuell dominierenden Leitkategorien wie Leben , Gegenwart oder Intensit t .3 Auf das freie Spiel mit Form und Zitat, auf den ironischen Hintersinn des Uneigentlichen und Sekund ren f llt der Verdacht der modischen Weltangst und der ungeb hrlichen Realit ts ucht. Im Zeichen des Drastischen berwiegt dagegen die Aufmerksamkeit f r das Krasse und Furchtbare , f r die Strategien der Steigerung, der Zuspitzung , f r bertreibung und Provokation in Kunst und Litera-

1 Hanno Rauterberg, Die Diktatur der Einfachheit. Wie das Apple-Design unser Dasein ver ndert eine Ideologiekritik , in: Die Zeit 33 (9. 8. 2012), unter: http://www.zeit. de/2012/33/Apple-Design-Ideologiekritik (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016). 2 Rauterberg, Diktatur der Einfachheit (Anm. 1), S. 2. 3 Mit Blick auf die deutsche Gegenwartsliteratur vgl. Eckhard Schumacher, Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003; Martin J rg Sch fer und Niels Werber (Hrsg.), Inszenierungen von Intensit t und Lebendigkeit in der Gegenwartsliteratur , in: Zeitschrift f r Literaturwissenschaft und Linguistik 170 (2013), S. 5-80.

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tur ebenso wie in Medien und Massenkultur der Gegenwart.4 Wie es scheint, stehen die Vorzeichen durchweg wieder emphatisch auf Ernst.5 Freilich sind die aktuellen Diskussionen bei einer genaueren Bestimmung des Drastischen noch nicht ber tentative Ans tze hinausgekommen. Im Wesentlichen k nnen drei Positionen hervorgehoben werden, die zudem unterschiedliche Auffassungen ber Mittel und Zweck drastischer Darstellungen vertreten. Die erste Wortmeldung stammt von Dietmar Dath, der mit seinem 2005 erschienenen Essay Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Deutlichkeit und Drastik die bislang umf nglichste und einschl gigste Theorie des Drastischen entworfen hat.6 Im ktionalen Gewand eines Briefromans unternimmt ein junger Journalist den skurrilen Versuch, einer angebeteten Geliebten sein Interesse f r Erzeugnisse aus dem Bereich von Horror-, Splatter- und Porno lmen, Serienm rderromanen, Black-Metal-Musik und hnlichen Feldern der Kulturindustrie n herzubringen. Nach eigenen Aussagen handelt es sich um den Bereich des letzten Drecks 7 und damit um all das, was der klassische Kunstkanon aus der sthetik der sch nen K rper ausgeschieden hat. Im Vordergrund steht das Obsz ne und Ekelerregende, das mit schockierenden sowie physisch absto enden Gegenst nden konfrontiert. Ohne die lange Tradition solcher Darstellungen auch nur zu erw hnen, wird die These in den Mittelpunkt ger ckt, dass Drastik als spezi sches Erzeugnis der Kulturindustrie zu betrachten und an die massenmedialen Standards des 20. Jahrhunderts gekoppelt sei.8 Im markanten Unterschied zu den Positionen der Kritischen Theorie unterstellt Dath der Kulturindustrie partout nicht antiaufkl rerische Absichten, sondern versteht drastische Produktionen ganz im Gegenteil als Zeugen einer bestimmten historischen Form von Rationalit t. In solchen Werken zeige sich das monstr se Antlitz einer genuin modernen Vernunft, die aus allen metaphysischen Angeln gehoben sei. Diese Ansicht verdichtet sich schlie lich in folgendem De nitionsversuch: Drastik ist [ ] formalisierte Vernunft als sthetik innerhalb einer inhaltlich unvern nftigen Gesellschaft, ist der Positivismus von Schrecken, Geilheit, Macht und Ohnmacht. Ratio setzt auf Kausalit t und Determinismus, statt auf Wunder und Mysterium, also zeigt Drastik, da die Dinge Folgen haben (die Glasscheibe im Auge, der Samenergu ). Ratio ist materialistisch, also be4 Peter Siller und Bertram Lomfeld (Hrsg.), Kunst der Drastik , in: polar. Zeitschrift f r politische Philosophie und Kultur 16 (2014). 5 Vgl. dagegen zu einer Problematisierung des Gegensatzes Ernst Ironie : Karl Heinz Bohrer (Hrsg.), Sprachen der Ironie Sprachen des Ernstes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. 6 Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Deutlichkeit und Drastik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. 7 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 6), S. 15. 8 Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 6), S. 14. Die kulturellen Erscheinungen, um die es gehen soll, sind typisch nicht f r die drei armen Kontinente, sondern f r den Westen, und w ren undenkbar ohne Kulturindustrie. Sie geh ren in eine Zeit, die ohne Aufkl rung, industrielle Revolution, b rgerliche ra nicht m glich gewesen w ren .

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fa t sich Drastik mit der Materie selbst: Blut, Pisse, Sperma. Ratio setzt Zweck-Mittel-Relationen selbst im sogenannten zwischenmenschlichen Bereich , also verdinglicht Drastik Frauen zu Huren, K rper zu lebenden Leichen.9 Mit diesen Ausf hrungen nennt Dath nicht nur den bevorzugten Gegenstand drastischer Kunstwerke, n mlich den menschlichen K rper und seine Sekrete in ihrer schieren physischen Dinghaftigkeit, als rohes Material jenseits jeder psychologischen oder ethischen Perspektive. Es lassen sich in formaler Hinsicht auch die Mittel erahnen, die zur Erzeugung von Authentizit ts- und Unmittelbarkeitse ekten Einsatz nden: Nach Dath gilt nur diejenige Aussage als drastisch, die sich in der Art einer vivisektionistischen Explizitheit 10 auf die n chterne, unverbl mte und klinisch pr zise Wiedergabe von gewaltsam ge neten K rpern verpflichtet. Die drastische Darstellung ist k hl im Ton, n chtern im Vorgehen, transparent im Stil und geht demnach restlos in dem auf, was sie explizit sagt. Gegen diese Betrachtungsweise ist in der Folge ein zweiter Standpunkt laut geworden, den die Ingeborg-Bachmann-Preistr gerin Ter zia Mora 2006 unter dem Titel ber die Drastik publiziert hat.11 Mora geht davon aus, dass sich das Unertr gliche nicht im Bereich des Sichtbaren ersch pft. In Abgrenzung zu Dath orientiert sie sich weniger an den gezeigten Gegenst nden, sondern versucht, ein formales Moment hervorzuheben. Am Ende ihres Essays kommt sie zu folgendem Schluss: Womit wir beim n chsten, wom glich dem interessantesten Bereich der Drastik-Praxis angekommen w ren: der Sprache. [ ] Wonach ein drastischer Satz nicht der ist, in dem Blut und Eiter spritzen oder einer, in dem es von Schei e und Fotze wimmelt. [ ] Wie zu vermuten ist, halte ich [ ] in diesem Sinne auch Splatter, Horror, Hardrock und Porno nicht zwingend f r drastisch. Explizite Methoden f hren nicht zwingend zu expliziten Ergebnissen. Ich kann in Ekel, Schrecken, Furcht und sexueller Erregung baden und dennoch unber hrt bleiben. [ ] Ein wahrhaft drastischer Satz ist einer, der mir keine Chance l sst, die in ihm enthaltene Wahrheit zu leugnen. Du wei t genau, wovon ich (nicht) rede [ ]. Das ist drastisch.12 Mora adressiert einen unbehaglichen E ekt, der weniger mit dem manifesten, als vielmehr mit dem impliziten Gehalt des (literarischen) Kunstwerks zusammenh ngt. Zwar kommt diese Wirkung auch f r sie dadurch zustande, dass man unmissverst ndlich mit einer gewaltsam traktierten Leiblichkeit konfrontiert wird, und zwar auf eine Art und Weise, die f r den Rezipienten unabweisbar ist. Doch 9 10 11 12

Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 6), S. 167 f. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 6), S. 21. Ter zia Mora, ber die Drastik , in: BELLA triste 16 (2006), S. 68-74. Mora, ber die Drastik (Anm. 11), S. 74.

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m ssen die de gurierten K rper nicht notwendig sichtbar sein es kann die Intensit t der Aussage sogar steigern, wenn sie nur angedeutet werden. F r Mora verdichtet sich Drastik in einem sthetischen Ereignis, das dem Leser oder Zuschauer bis zur Unertr glichkeit auf den Leib r ckt. Ohne freilich um das apodiktische Urteil verlegen zu sein, geht Mora dann aber dazu ber, das Drastische zum konstitutiven Bestandteil einer jeden Kunst zu deklarieren: eine Kunst, die nicht drastisch ist, ist also schlichtweg berhaupt keine .13 So kehren Moras berlegungen einen normativen Anspruch hervor, der von der Kunst die Wirkung verlangt, emotional zu ber hren und betro en zu machen. Im Kern des sthetischen Geschehens markiert das Drastische wiederum einen Bereich, der frei von Humor und Ironie ist. In hnlicher Art und Weise, das hei t ohne jeden Ansatz eines historischen Blickpunkts, verf hrt eine dritte Position, die hier noch zu erw hnen ist. Die Rede von einer drastischen Dimension der Kunst ist auch in einem ganz anderen Kontext aktuell geworden, n mlich im musikphilosophischen Zusammenhang. Mit ihrem einflussreichen Aufsatz Music drastic or gnostic? von 2004 hat Carolyn Abbate einen begri ichen Gegensatz pro liert, der auf Vladimir Jank l vitch zur ckgeht.14 Ausgehend von einem Essay Jank l vitchs aus dem Jahr 1961 unterscheidet Abbate zwischen einer drastischen und einer gnostischen Rezeption des musikalischen Kunstwerks: Jank l vitchs distinction between drastic and gnostic involves more than a conventional opposition between music in practice and music in theory because drastic connotes physicality, but also desperation and peril, involving a category of knowledge that flows from drastic actions or experiences and not from verbally mediated reasoning. Gnostic as its antithesis implies not just knowledge per se but making the opaque transparent, knowledge based on semiosis and disclosed secrets, reserved for the elite and hidden from others. Jank l vitch explored that distinction decades before it became a commonplace in writings that describe performance as a site of resistance to text or as something so contingent upon present human bodies that it remains opaque.15 Die drastische Aufnahme meint das Moment der direkten Erfahrung, zum Beispiel die Wirkung einer Au hrung und des t nenden Materials auf den Zuh rer. Die gnostische Haltung hingegen wird mit einer hermeneutischen Herangehensweise gleichgesetzt, die rein kognitiver Natur sei und der vorgeworfen wird, die physische Teilnahme des Rezipienten am sthetischen Geschehen zu vernachl ssigen. Wie Abbate argumentiert, stellt die musikalische Performanz jedoch ein Ereignis dar, das von traditionellen Interpretationsmethoden nicht eingefangen werden kann. Statt 13 Mora, ber die Drastik (Anm. 11), S. 70. 14 Vgl. Vladimir Jank l vitch, La Musique et l Ineffable, Paris: Armand Colin 1961. 15 Carolyn Abbate, Music Drastic or Gnostic? , in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 505-536, hier S. 509 f.

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sich um rein abstrakte Bedeutungen des Kunstwerks zu bem hen, schl gt Abbate eine Musikwissenschaft vor, die radikal und in diesem Sinn drastisch vom hic et nunc performativer Akte ausgeht. So kommt ein Pathos der Unmittelbarkeit und der Pr senz zum Zug, das sich etwa in einer Abwertung von Tontr gern gegen ber der live performance niederschl gt. Emphatisiert wird eine Kunsterfahrung, die umso drastischer ist, je besser es gelingt, die am sthetischen Ereignis teilhabenden Vermittlungsinstanzen auszuschalten und den direkten sowie sinnlich realen Zugang freizulegen. Demgem verwundert es nicht, dass Abbates Forderung im Rahmen dessen, was die Kulturwissenschaften des vergangenen Jahrzehnts als postsemiotische Wende verhandeln, vermehrt Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.16 berblickt man die aktuellen Beitr ge, so erscheint Drastik als ein Schl sselbegri f r die Verabschiedung von der Postmoderne im Allgemeinen und f r die berwindung semiotischer sowie rhetorisch-dekonstruktiver Ans tze der sthetik im Besonderen. Obwohl die Debatten voneinander entkoppelt statt nden, l sst sich doch ein gemeinsamer Nenner ausmachen. Mit der Aufmerksamkeit f r das Drastische verbindet sich das Interesse an der R ckgewinnung eines k rperlichen In-der-Welt-Seins des sthetischen Subjekts einer unmittelbaren Gegenwart, die in Zeiten medialer Durchdringung der Wirklichkeit o enbar alles andere als selbstverst ndlich geworden ist. Es scheint um einen neuen Ernst zu gehen, der gegen die von Helmut Lethen sogenannte Ironisierungsmaschine der 1990-er Jahre antritt und mit einer verst rkten Hinwendung zu Fragen der sinnlichen Wahrnehmung und zum Realen einhergeht.17 Ter zia Mora bringt das folgenderma en auf den Punkt: Kunst mu weit genug gehen. Ob weit genug gegangen worden ist, merken wir daran, ob wir es als zu nah emp nden, als innerhalb unserer Sicherheitszone. Weit genug gehen hei t, jemanden zu ber hren. Jemanden zu ber hren hei t, eine berschreitung zu begehen. Diese berschreitung k nnen wir auch Drastik nennen.18 Drastik soll also das generelle Ph nomen einer verst renden Minimierung von Distanz bei der Begegnung mit Kunst fassen; einer aggressiven Wirkung, die nach dem Modell der Taktilit t, also nach Ma gabe der unmittelbarsten Sinneswahrnehmung konzipiert wird.19 Als drastisch gilt dasjenige Kunstwerk, das die ver16 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Erst kommt die Geste des Zeigens , in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 124 (30. Mai 2012), S. N3. 17 Vgl. Helmut Lethen, Geht die Zeit der Entzauberung der Evidenz zu Ende? Oder beginnt sie erst? Ein Interview mit Ludwig J ger , in: Zeitschrift f r Kulturwissenschaften 1 (2009), S. 89-94; zuletzt: Helmut Lethen, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin: Rowohlt 2014, S. 39 f. 18 Mora, ber die Drastik (Anm. 11), S. 68. 19 Vgl. zur Aktualit t einer Philosophie der Ber hrung die Beitr ge in: Stefan Neuner (Hrsg.), Taktilit t Sinneserfahrung als Grenzerfahrung, Z rich: ith 2008 (= Das Magazin des Instituts f r Theorie 12/13).

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trauten Abst nde zum Rezipienten berwindet, sich nachgerade physisch sp rbar macht und eine erh hte sinnliche Pr senz herstellt. Es geht um eine N he, von der die sthetische Tradition seit dem 18. Jahrhundert wei , dass ein nicht mehr angenehmes Grauen die Folge ist. So klingt durch Moras S tze eine Bestimmung nach, die sich etwa in Edmund Burkes 1757 erschienener Schrift Vom Erhabenen und Sch nen ndet im Kontext der ber hmten Ausf hrungen zum delightful horror wird der Schrecken als eine Leidenschaft de niert, which always produces delight when it does not press to closely ( die stets Vergn gen hervorbringt, wenn er uns nicht zu nahe kommt ).20 Demgem ist dasjenige Kunstwerk als drastisch einzustufen, das ein sthetisch nicht mehr genie bares Grauen produziert, indem es jede Art von Distanz abbaut und schlechterdings bedrohlich wird. * Versucht man einen Abstand zu den aktuellen Debatten einzunehmen, so f llt auf, dass eine historische Perspektive auf das Ph nomen und die theoretische Auseinandersetzung mit ihm allenthalben fehlt. Zur weiteren Kl rung kann ein Blick auf die bislang kaum beachtete Geschichte des sthetischen Konzepts aber nicht ausbleiben.21 Dies steht umso mehr an, als man dabei in Kontexte ger t, die von heute aus betrachtet eher nicht zu erwarten w ren. H lt man sich vor Augen, dass Drastik bei Dath ber den blanken Gegensatz zu Romantik, Idealismus, Metaphorik de niert wird,22 kann es jedenfalls berraschen, dass der Begri just durch die fr hromantische Poetik gepr gt und in Umlauf gebracht worden ist. Fast m chte man von einer Ironie der Begri sgeschichte sprechen. In der Zeit um 1800 erlebt ein Terminus Konjunktur, der auf den ersten Blick wenig mit dem heutigen Sprachgebrauch gemein zu haben scheint, der sich jedoch bei genauerer Analyse als aufschlussreich erweist. Zu diesem Zweck sei zun chst ein literarhistorischer Befund dargelegt. 1799 erscheint August von Kotzebues Gelehrtenst ck Der hyperboreeische Esel oder Die heutige Bildung in Leipzig, wo es vor den Augen der Gebr der Schlegel im Oktober desselben Jahres uraufgef hrt wird. Der Untertitel lautet: Ein drastisches Drama, und philosophisches Lustspiel f r J nglinge.23 Der Einakter kann als das erste und bislang einzige Werk gelten, das sich selbst als drastisch deklariert. Dieser Sachverhalt ist aus heutiger Sicht sicherlich erstaunlich. Denn dem Zuschauer werden nicht etwa Mord und Totschlag, spritzende Gehirne oder sonstwie deformierte K r20 Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1756), herausgegeben von Adam Philipps, Oxford-New York: Oxford University Press 1990, S. 42. 21 F r eine ausf hrliche Rekonstruktion vgl. Davide Giuriato, klar und deutlich . sthetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert, Freiburg i. Br.: Rombach 2015, S. 178-207. 22 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 6), S. 35. 23 August von Kotzebue, Der hyperboreeische Esel oder Die heutige Bildung. Ein drastisches Drama, und philosophisches Lustspiel f r J nglinge, in einem Akt, Leipzig: Kummer 1799.

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per pr sentiert. Ganz im Gegenteil handelt Kotzebues Lustspiel von einem J ngling, der nachweislich immer wieder zu Gel chter Anlass gegeben hat.24 Protagonist ist ein Student namens Karl, der bei der R ckkehr von der Universit t gerade noch in der Lage ist, mit seinen Angeh rigen durch Zitate aus den Athen ums-Fragmenten zu kommunizieren. Das Studium ist dem jungen Mann o enbar nicht gut bekommen; alle Versuche, ihn durch Beruf und Heirat auf den Boden der Realit t zur ckzuholen, scheitern daran, dass aus Karl w rtlich nichts anderes als die Schriften der Fr hromantiker widerhallen. So stellt die Figur des lebensuntauglichen Studenten ohne Zweifel das billige Mittel dar, durch das Kotzebue die Schriften der Gebr der Schlegel der L cherlichkeit preisgibt und als ebenso verwirrt wie unverst ndlich abtut. Interessanter ist hier aber die Frage, was das alles mit Drastik zu tun haben soll und was es mit dem Untertitel von Kotzebues St ck auf sich hat. Einen Hinweis bietet die Zueignungsschrift, die Kotzebue der Kom die voranstellt und die sich an die Herausgeber des Athen ums richtet. Im Eingang hei t es: Ihnen, meine g nstigen Herren, widme ich diesen Versuch, Ihre Lehren auch in das gro e Publicum zu verbreiten, und sie folglich gemeinn tziger zu machen. [ ] Ich bilde mir ein, ein gutes Drama gemacht zu haben, denn es ist drastisch , und Sie selbst sagen: Gute Dramen m ssen drastisch seyn .25 Bei allem Hohn, den diese Er nung zum Ausdruck bringt, kann festgehalten werden, dass drastisch hier nichts weiter meint, als dass die dramatische Au hrung dazu geeignet sei, den Schriften der Fr hromantiker durch die Form der szenischen Darstellung zu allgemeinverst ndlicher Anschaulichkeit zu verhelfen. Damit wird an ein Problem ger hrt, das Kotzebue auszuschalten meint, indem er die Athen ums-Fragmente als blanken Unsinn verspottet wie der Studiosus Karl seien sie ho nungslos abgehoben, konfus und von der Realit t abgeschnitten.26 Eher ungewollt r umt Kotzebue jedoch ein, dass die Texte der SchlegelBr der nicht einfach zu verstehen sind, und so darf man davon ausgehen, dass ihm der tiefere Sinn des zitierten Fragments verschlossen bleibt. Doch lohnt es, genauer auf das 42. Athen ums-Fragment aus dem Jahr 1798 einzugehen, das Kotzebue aufgreift und das kurz und b ndig festh lt: Gute Dramen m ssen drastisch sein .27 Das Fragment von der Hand Friedrich Schlegels ist f r die Geschichte der Drastik von gro er Bedeutung, weil es den allerersten Beleg f r die sthetische Verwendung des Begri s liefert. Es ist zudem daf r verantwortlich, dass sich die Rede von drastischen Kunstwerken erst mit den Lexika des 19. Jahrhunderts zu etablieren beginnt.28 Die Zeit davor kennt das Adjektiv drastisch nur aus dem Fachvokabular der Medizin. Von gr. dran abgeleitet, was soviel bedeutet 24 Vgl. zur Rezeption von Kotzebues St ck: Rainer Schmitz, Die sthetische Pr geley. Streitschriften der antiromantischen Bewegung, G ttingen: Wallstein 1992, S. 317-328. 25 Kotzebue, Der hyperboreeische Esel (Anm. 23), S. 5. 26 Vgl. zur Ironie der Unverst ndlichkeit bei Schlegel dagegen: Eckhard Schumacher, Die Ironie der Unverst ndlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 159-255. 27 August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel (Hrsg.), Athenaeum. Eine Zeitschrift, Berlin: Vieweg 1798, Band 1/2, S. 189. 28 Vgl. Ignaz Jeitteles, sthetisches Lexikon: ein alphabetisches Handbuch zur Theorie der Philosophie des Sch nen und der sch nen K nste, Wien: Carl Gerold 1835, Band 1, S. 216.

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wie handeln, tun, bewirken , verwendet die Heilkunde des 18. Jahrhunderts die substantivierte Form als Bezeichnung f r besonders starke Abf hrmittel: Drastica werden die allerst rksten Purgantia genennet , steht etwa im Zedlerschen Lexikon.29 Drastische Pr parate sind also heftige Reinigungsmittel, die den Organismus heilen sollen, wenn der Metabolismus erkrankt oder ins Stocken geraten ist. In dieser Bedeutung wird der Fachterminus in der Medizin heute noch verwendet, und Schlegel kann an gar nichts anderes gedacht haben, als er ihn ins Feld der Poetik bertragen hat. Da im Speziellen die Gattung des Dramas adressiert wird, spricht vor dem Hintergrund dieser begri sgeschichtlichen Eckdaten alles daf r, dass das Athen umsFragment eine moderne Interpretation der antiken Katharsis-Lehre anregt. Seit der Poetik des Aristoteles fasst der Begri der katharsis bekanntlich eine dramatische Wirkung, die f r die Reinigung der Gef hle beim Zuschauer verantwortlich ist.30 Im 18. Jahrhundert ist es dann vor allem Lessing gewesen, der daraus die Lehre abgeleitet hat, dass dieser E ekt durch Mitleid und R hrung zustande kommt und zu einer Veredelung der A ekte f hren soll. W hrend die aufkl rerische Dramentheorie ein rein psychologisches Wirkungsmodell entwirft, das eine moralische Besserung des Menschen bezweckt, scheint Schlegel mit der Rede vom Drastischen jedoch zudem ein physiologisches Element zu ber cksichtigen. Wie man mit Blick auf Jacob Bernays vermuten muss, der wenige Jahrzehnte sp ter in polemischer Abgrenzung zu Lessing den medizinischen Hintergrund des Katharsis-Begri s in der aristotelischen Poetik reklamiert hat, sollen die Gef hle durch das Drama nicht gereinigt und veredelt, sondern in Gestalt physischer Reaktionen entladen und abgef hrt werden.31 Man tut daher gut daran, das Athen ums-Fragment im Kontext einer umfassenden Pathographie der Moderne wahrzunehmen, die sich bei Schlegel mit einer gewichtigen historischen Diagnose verbindet. Wie der fr he Aufsatz ber das Studium der griechischen Poesie von 1795 ausf hrt, zeichnet sich moderne Kunst zunehmend durch die Lizenz aus, H ssliches zur Darstellung zu bringen Schlegel entwirft in diesem Rahmen auch den ber hmt-ber chtigten sthetischen Criminalcodex .32 In der Tendenz zum H sslichen sieht Schlegel eine als heillos empfundene Innovations- und berbietungsdynamik am Werk. Moderne Kunst kranke an einer auf immer st rkere Reize zielenden sthetik des Piquanten, Frappanten und

29 Grosses vollst ndiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und K nste, Halle-Leipzig: Johann Heinrich Zedler 1734, Band 7, S. 729. 30 Vgl. Werner Mittenzwei, Katharsis , in: sthetische Grundbegriffe, Band 3, herausgegeben von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart-Weimar: Metzler 2001/2010, S. 245-272. 31 Vgl. Jacob Bernays, Grundz ge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles ber die Wirkung der Trag die (1857), eingeleitet von Karlfried Gr nder, Hildesheim-New York: Olms 1970. 32 Vgl. dazu Carsten Zelle, sthetik des H lichen: Friedrich Schlegels Theorie und die Schock- und Ekelstrategien der sthetischen Moderne , in: Silvio Vietta und Dirk Kemper (Hrsg.), sthetische Moderne in Europa. Grundz ge und Problemzusammenh nge seit der Romantik, M nchen: Fink 1997, S. 197-233.

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Choquanten .33 Vor diesem Hintergrund kann man die Forderung, das Drama habe wie ein Drasticum zu wirken, nicht ohne Einschr nkungen beim Wort nehmen. Im Rahmen der fr hromantischen Poetik spricht vielmehr einiges daf r, dass Schlegels Fragment von einer geh rigen Portion Ironie getragen ist. Mit Blick auf die aktuellen Debatten zum Drastischen kann man sich merken, dass man es mit dem Ernst unter Umst nden auch weniger ernst nehmen kann. Unabh ngig davon, wie es sich damit verhalten mag, zeigt der R ckgri auf die Zeit um 1800, dass die Konzeptualisierung einer sthetik des Drastischen eine bedeutsame Vorgeschichte besitzt, die bislang noch nicht ber cksichtigt worden ist. Doch ist es aufschlussreich, die Eins tze aus dem Umfeld der fr hromantischen Poetik pr sent zu halten, r ckt doch die dramentheoretische Herkunft ein Moment ins Licht, das von fundamentaler Bedeutung ist: Drastik ist nicht in erster Linie als darstellungs- (wie Kotzebue missverstanden hat), sondern als wirkungs sthetischer Begri zu verstehen, der im Speziellen einen kathartischen E ekt umrei t. Konsequenterweise ereignet sie sich erst dort, wo sie eine psycho-physiologische Reaktion beim Rezipienten tats chlich hervorruft. Wenn es darum geht, dem Adressaten bis zur Unertr glichkeit buchst blich auf den Leib zu r cken, dann kommt eine mutwillige Schockstrategie zum Zug, die freilich keine moralische Besserung verfolgt. Die A ekte sollen nicht veredelt, sondern durch heftige Mittel abgef hrt werden so will es die Abstammung des Begri s aus dem Kontext der Heilkunde. In diesem Sinn ist das Drastische nicht als Kunst des Tats chlichen, sondern als eine Kunst der T tlichkeit zu verstehen. Seine Heftigkeit realisiert sich ber einen nachdr cklichen Angri auf das sthetische Subjekt, der das Ziel verfolgt, physisch sp rbar zu werden und nach M glichkeit weh zu tun. Es geht um eine Aggression, die mit einem tre enden Ausdruck Friedrich Schlegels gesagt einen Stachel in der Seele hinterl sst.34 Damit werden nicht nur die konventionellen Parameter des Sch nen, sondern auch, noch verst render, die sthetischen Lizenzen des H sslichen berschritten. Ob das Grauen noch Vergn gen bereiten kann,35 ist dabei ebenso fraglich, wie o en bleiben muss, ob drastische Kunst nicht einen bleibenden Schaden beim Rezipienten nach sich zieht. * Die bisherigen Ausf hrungen haben klar gemacht, dass dem Drastischen eine aggressive Energie eignet, deren provokatives Potential erheblich ist. Nicht nur im 33 Friedrich Schlegel, ber das Studium der griechischen Poesie , in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Band 1, herausgegeben von Ernst Behler u. a., Paderborn u. a.: Sch ningh 1958 ff., S. 254. 34 Schlegel, ber das Studium der griechischen Poesie (Anm. 33), S. 223. 35 Vgl. Dirck Linck, ber die M glichkeiten des popkulturellen Vergn gens an drastischen Gegenst nden , in: Martin V hler und Dirck Linck (Hrsg.), Grenzen der Katharsis in den modernen K nsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin-New York: De Gruyter 2009, S. 293-322.

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Bereich des entlichen Lebens, das den Ausdruck zumeist im Zusammenhang von politisch besonders wirksamen und extremen sowie schmerzhaften Interventionen kennt (Strafen, Sparma nahmen u. .), auch in kunsttheoretischer Hinsicht konstituiert sich Drastik dadurch, dass sie bestehende Normen, Erwartungen und Traditionen radikal in Frage stellt und verletzt. Die nachfolgenden Aufs tze, die sich hinsichtlich einer allgemeinen sthetik des Drastischen mehreren Bereichen der Kunstproduktion (Literatur, Malerei, Film, Theater) und der gegenw rtigen Alltagskultur zuwenden, kreisen gleicherma en um diesen Willen zum Bruch, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive. Vor dem Hintergrund der in dieser Einleitung skizzierten Positionen vertieft eine erste Reihe von Beitr gen einen systematischen Zugang zum Drastischen. Helmut Lethen widmet sich der Frage nach der subversiven Kraft drastischer Kunst. Fallweise fokussiert er mit Bachtins Thesen zum grotesken K rper verschiedenartige Kontexte, in denen antiklassizistische K rperinszenierungen zum Zug kommen das reicht von sowjetischer Unterw sche aus der Stalinzeit ber die Theorie des Ekels des ungarischen Ph nomenologen Aurel Kolnai bis zu einer Erinnerung aus der Zeit der maoistischen Jugendbewegung an einen vor dem Richter zu Moabit schei enden Genossen namens Pawla, der f r seine Aktion Abf hrtabletten eingenommen hatte mit dem Ziel, die Schei e konkret zu machen. Angesichts solcher Beispiele muss nach Lethen freilich die Frage, ob das Drastische das Normsystem erodiert oder umgekehrt nicht vielmehr stabilisiert, grunds tzlich o en bleiben. Demgegenber hebt Dirck Linck den revoltierenden Charakter des Drastischen st rker hervor. Ausgehend von der Theorie der starken Emp ndungen (wie Schmerz, Ekel, Geilheit etc.), legt er die These dar, dass Drastik ber das Moment a rmierter Distanzreduktion die diskursive Herrschaft von Einheit, Zusammenhang und Totalit t aufs Spiel setzt und mit ihr ein ganzes Geschmacksdispositiv voller politischer, sozialer, kultureller und konomischer Implikationen . In Anlehnung an Dath und dessen Analyse der desintegrativen Tendenz kulturindustrieller Produkte r ckt Linck die spektakul re Einzelheit ins Zentrum und damit ein Moment, das den Sinn f r den Zusammenhang und das Ganze ebenso aufl st wie es das Singul re vor Semantisierung sch tzt. Das Vergn gen an drastischen Gegenst nden besteht demnach darin, sich versuchsweise einer extremen Situation auszusetzen, in der man sich leiblichen Reaktionen und Vitalemp ndungen berl sst, die man nicht selbstverst ndlich kontrollieren kann. Ebenso widmet sich Elias Kreuzmair Daths Theorie des Drastischen, doch ber cksichtigt er dabei auch die komplexe formale Struktur des Briefessays. So kommt Kreuzmair zu dem Schluss, dass Daths Kritik an der Postmoderne nicht nur mit Blick auf die eigene Schreibweise, sondern auch systematisch durch und durch von postmodernen Figuren gepr gt sei. Der sthetische Genuss an drastischen Werken resultiere aus einer supplement ren Struktur, die mit Derrida als Aufschub des Sinns beschrieben wird. Dagegen streicht Esteban Sanchino Martinez das Moment der physischen Reaktion wieder st rker hervor, um dann die wirkungs sthetische um eine darstellungstechnische Perspektive zu erg nzen. Im R ckgri auf die rhetorische Tradition der evidentia und der hypotyposis realisiere das Drastische einen Transformationsprozess symbolischer Strukturen in physische

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Pr senzerfahrungen . Hier steht mit anderen Worten eine Rhetorik des Transgressiven im Vordergrund, die Martinez dann mit Bezug auf die Gegenwart des 20. und 21. Jahrhunderts als kulturelles Paradigma zur Debatte stellt, ist doch Drastik heute angesichts massenwirksamer Bildmedien so pr sent wie nie zuvor. Diese Diagnose wird plausibel, wenn man die Beitr ge im zweiten Block dieses Bandes heranzieht, die aus historischer Sicht verschiedene Genealogien des Drastischen pro lieren. Daraus geht zwar hervor, dass die Geschichte der K nste seit der Antike auch eine Geschichte der extremen, k rperlichen Gewalt ist. Aber erst in der Moderne ist zu beobachten, dass die Grausamkeiten und Entsetzlichkeiten aus dem Zusammenhang einer Handlungslogik herausgel st sowie als solche um ihrer selbst Willen pr sentiert werden und demgem in einem pr zisen terminologischen Sinn als drastisch einzustufen sind. Michael Eggers kann mit seinem berblick ber die Geschichte des abendl ndischen Dramas, insbesondere aber der Trag die von der Antike ber die Fr he Neuzeit, die Zeit um 1800 bis ins 20. Jahrhundert zeigen, dass schockierende Gewalt im Dienst einer berbietungs- und Steigerungslogik seit alters ein genrepr gendes Antriebsmoment darstellt, das jedoch nicht eher aus dem Schatten der rein verbalen Darbietung tritt und zu szenischer Pr senz gelangt als im Theater der Gegenwart (Edward Bond, Heiner M ller, Werner Schwab und vor allem Sarah Kane). Mit Blick auf die Tradition der abendl ndischen Kunstgeschichte h lt auch J rg Trempler fest, dass Blut, Ged rme, Schwei , Tr nen, Verbrechen und Strafe, Rache und Folter keine Randszenen darstellen, aber noch bis in die sthetik des Erhabenen um 1800 vornehmlich Sache einer rahmenden Vorstellungskraft sind, auch wenn in diesem Kontext, in Gem lden von G ricault oder dem Vernet-Sch ler Volaire, schon Vorboten von splatter zu erahnen sind. Die Beitr ge von Martina S ess und Thomas Weitin widmen sich Gewaltszenen aus dem Werk Conrad Ferdinand Meyers, die in der literarischen ffentlichkeit des 19. Jahrhunderts scharfe Kritik auf sich gezogen und keine sthetische Akzeptanz gefunden haben. W hrend S ess die Wirkung der brutalen Fleischhauertat am Ende von J rg Jenatsch mit den A ektstr men in Verbindung bringt, die nach Max Weber den charismatischen Herrschaftstypus auszeichnen, erkl rt Weitin das nicht weniger blutr nstige Motiv des Augenraubs in Angela Borgia aus den genretypischen Anforderungen an die Novelle, die angesichts der massenliterarischen Produktion im 19. Jahrhundert zusehends mit Extremwerten der Rezeption zu experimentieren beginnt. Mit Blick auf die Aktionskunst des 20. Jahrhunderts, namentlich auf das Orgien Mysterien Theater Hermann Nitschs, rekonstruiert Daniela Sch nle ausgehend vom modernen Katharsis-Diskurs nach Jacob Bernays, Friedrich Nietzsche und Hermann Bahr die Genealogie einer Kunstform, deren Drastik allen Protestst rmen zum Trotz nicht verhindert hat, dass Nitsch zum Staatsk nstler ausgezeichnet worden und mittlerweile l ngst im kulturellen Establishment angekommen ist. Wie man angesichts solcher Dynamiken vermuten kann, muss das subversive Potential einer sthetik des Drastischen keineswegs mit deren Institutionalisierung und Normalisierung kollidieren. Die Beitr ge aus der dritten und letzten Sektion machen jedenfalls anschaulich, dass das Drastische f r die Alltagskultur der Gegenwart von derart eminenter Be-

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deutung geworden ist, dass man ein durch und durch zeitgen ssisches Ph nomen vor Augen hat. Im weiteren Kontext der modernen, kapitalistisch gepr gten Aufmerksamkeits konomie sp rt Heinz Dr gh einer Ambivalenz des Drastischen in der aktuellen Konsumkultur und den damit zusammenh ngenden Werbestrategien nach, ist doch f r die massenmedial vermittelte Gesellschaft die zugespitzte Attacke auf die Aufmerksamkeit der Konsumenten ebenso pr gend wie der Sachverhalt, dass die st ndige Grenz berschreitung mittlerweile zum Normalbetriebsmodus geworden ist.36 Oliver M ller fragt nach der Konjunktur der popkulturellen Figur des Zombies seit dem Ende der 1960-er Jahre und kann plausibel darlegen, dass sich dieses Schreckbild der Moderne auf der Kehrseite biomedizinischer Entwicklungen bildet, die parallel mit der Einf hrung des Hirntodkriteriums und den ersten Erfolgen der Transplantationsmedizin einen Bereich des Untoten demarkiert und zu massiven ontologischen Verunsicherungen gef hrt haben. Ekkehard Kn rer widmet sich dem drastischen Medium der Kulturindustrie (Adorno) schlechthin, n mlich dem Kino. Auch hier changiert das Ph nomen zwischen Tradition und Provokation, und so verfolgt Kn rer konsequenterweise nicht die konventionelle Geschichte des drastischen Films (Slasher- und Splatter lm, Gore und Snu ), sondern geht davon aus, dass die Grenzen des Drastischen einer st ndigen Verschiebung unterliegen. Mit Bezug auf die Filme Harmony Korines konkretisiert Kn rer das Drastische weniger auf der Ebene der deutlich dargestellten Gewaltt tigkeiten als vielmehr auf derjenigen der Darstellung selbst, indem er Korines Strategie hervorhebt, auf sinnstabilisierende Rahmungen zu verzichten, und zwar derart, dass es dem Rezipienten gerade angesichts dieses Unbestimmtheitsmoments die Sprache (des sthetischen Urteils) verschl gt. Mit Blick auf den 2008 erschienenen Skandalroman Feuchtgebiete von Charlotte Roche geht Alexandra P lzbauer der di erenzierten Analyse einer literarischen Ekel sthetik nach, die das Spiel des Tabubruchs mit der Kritik an der Hygienegesellschaft ebenso wie am herk mmlich m nnlich gepr gten Frauenbild verbindet. Freilich wird diese Geste im Roman derart hyperbolisch inszeniert, dass die Frage legitim erscheint, ob sich Drastik und Humor wirklich ausschlie en m ssen. Diese Frage wirft auch Rainald Goetz Prosatext Subito aus dem Jahr 1983 auf, dem sich Eckhard Schumacher abschlie end widmet. Hier werden drastische Bilder und bedeutungsschwere Zeichen durch Verfahren der Vervielf ltigung und Steigerung so berh ht, dass sie zugleich ausgeh hlt werden, ins Komische umschlagen, in der bertreibung leer laufen. Durch die Konfrontation heterogener Kontexte und Sprechweisen, die Gegens tze aufeinander bezieht, ohne sie aufzuheben, wird dabei gleichwohl an einer sthetik des Drastischen festgehalten nicht zuletzt, indem zugleich deren M glichkeiten und Grenzen austariert werden. *

36 Martin Saar, Zu viel. Drastik und Affekt , in: polar (Anm. 4), S. 19-22, hier S. 20.

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Dieser Band geht zur ck auf die Tagung sthetik des Drastischen , die im September 2013 im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald stattgefunden hat. Der Dank der Herausgeber gilt der nanziellen wie organisatorischen Unterst tzung der Tagung durch die Universit t Greifswald und das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg, zu danken ist hier insbesondere Dr. Christian Suhm, Siri Hummel und Katja Kottwitz, die das Plakat der Tagung und auf dieser Grundlage auch das Cover des vorliegenden Bandes entworfen und gestaltet hat. F r die Unterst tzung bei der Finanzierung der Druckkosten danken die Herausgeber der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. F r die redaktionelle Mitarbeit bei der Einrichtung der Texte gilt der Dank Philipp Hubmann und Sandra Markiewicz.

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EKEL Groteske K rper unterwandern das Ballett klassizistischer K rperbilder

Das Reich des Drastischen haftet an klassizistischen Gegenbildern, von deren Dominanz es sich ern hrt. Es muss sie nicht erodieren lassen, es kann sie stabilisieren. Subversiv ist es nicht per se. Im Exzess kann es verdammte hnlichkeit mit der Herrschaftsform haben, auf die es reagiert. I. 2003 kann man dem Katalog einer denkw rdigen Ausstellung im Volkskundemuseum Wien, die den Titel K rperged chtnis. Unterw sche einer sowjetischen Epoche hatte, entnehmen, welche Phantombilder von den K rpern des fernen Westens aus der Sicht einer nicht mehr existierenden Sowjet-Zivilisation durch die russischen Kuratorinnen gemalt werden.1 Es ist interessant zu beobachten, welch geisterhaftgl cklichen, hedonistisch entfremdeten, sich mechanisch im Industriekomplex weltweiter Sch nheitsfarmen vergessenden Westler man sich in der SU vorgestellt hatte und nach deren Verfall sich immer noch vorstellt. In keinem der Artikel des Katalogs wird diese Sichtweise so radikal formuliert wie in dem Gespr ch ber Scham und Nacktheit in der Sowjetunion, das Pawel Pepperstein im Jahr 2000 mit einer der Kuratorinnen der Ausstellung, Ekaterina Degot, f hrte.2 Pawel Pepperstein, 1966 in Moskau geboren, Essayist, Schriftsteller und K nstler, dessen Werke 2009 im russischen Pavillon der Biennale in Venedig gezeigt wurden, war nach Ausstellungen zusammen mit Ilja Kabakov und Boris Groys zuvor schon einem kleinen Kreis von Insidern bekannt. Die nationalsozialistischen und sowjetischen Gestaltungen des K rpers seien, so Pepperstein, einheitlich skulptural gewesen. Der postmoderne Kapitalismus habe verstanden, dass man den K rper trotz der Zerst rung seiner Ganzheit in gep egtem Zustand halten k n1 K rperged chtnis. Unterw sche einer sowjetischen Epoche (2000), Band 82, herausgegeben von Margot Schindler, aus dem Russischen bersetzt von Swetlana und Fabian Steinhauer, Wien: sterreichisches Museum f r Volkskunde 2003. Den Katalog habe ich ausf hrlicher kommentiert in: Helmut Lethen, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin: Rowohlt 2014, S. 199-223. 2 Vgl. das Interview aus dem Jahr 2000 in Moskau: Dialog ber die Scham , in: Schindler, K rperged chtnis (Anm. 1), S. 58-66.

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ne. Er werde komplett auseinandergenommen, der Focus der Pharmaindustrie liege mal auf den Z hnen, dann wieder auf den Haaren oder der Brust. Der K rper gerate so in eine endlose Schleife des Recyclings; eben diese Au assung habe sich historisch durchgesetzt. Pawelstein f rchtet, dass die postsowjetische, die schamlose Generation sich in diese Recycling-Kultur des Westens eingliedern werde.3 In der alten Sowjetunion habe sich das Paradigma der Gesellschaft als Gesellschaft der totalen Intimit t durchgesetzt; ein riesiges Massenlager, an das die Toilette und andere Intimzonen angebaut waren. Pepperstein berichtet von seiner Gro mutter und seinem Gro vater, die in einer Kommunalka h tten leben m ssen, in der v llige Schamlosigkeit geherrscht habe, niemand habe sich geniert. Alles sei in der Sowjetunion so eingerichtet gewesen, dass der Mensch sich unter seiner Kleidung habe verstecken wollen, dass er sie m glichst selten ausgezogen habe, und wenn er es schon tat, dann in dem Zustand der Leck-mich-am-Arsch-Stimmung , die er in den Erz hlungen seiner Gro eltern aus der Kommunalka erfahren habe. Aufgezwungene Scham im u eren und Schamlosigkeit im innersowjetischen Leben.4 Die Schamkultur dieser Zeit, so Pepperstein, sei nach dem Ende der Sowjetunion nicht spurlos verschwunden. Sie sei vielmehr in die Form des Gewaltkults, der Brutalit t und des vollen Tabubruchs umgeschlagen: Betrachten wir zum Beispiel die Grausamkeit im modernen russischen Kino. Die mittlere Generation der ungef hr 40j hrigen ist im Prinzip auf die Wahrheit xiert, und die Wahrheit wird von ihr als Aufdeckung des B sen wahrgenommen. Die Wahrheit ist die Entbl ung von irgendetwas, ein Ausschnitt in der Form der Wahrheit, aber a priori ist bekannt, dass es das B se ist. Eigentlich gibt es doch keine andere Idee der Wahrheit. Deshalb sind alle Enth llungen und Entmysti zierungen, in denen im brigen ein Hauptsinn der Kultur liegt, ein Durchbruch zum bel. Dabei wird dieses bel nicht abgescha t.5 O enbar f hre die Scham in ihrer u ersten Form zu dem Wunsch, das B se selbst zu werden, weil das einzige, was f hig ist, diese Scham in einem inneren Ofen zu verbrennen, das reine B se ist .6 Man m sse, bemerkt Pepperstein, zwei Vektoren der K rperbilder unterscheiden. Der sowjetische sei ein Makrovektor gewesen, die K rper seien aus der Totalit t eines Gesamtzusammenhangs betrachtet worden. In ihrer Unbescholtenheit als physikalische Gr en h tten sie gro en Abstand voneinander gewonnen, und es sei erw nscht gewesen, da sie ein Ensemble mit anderen K rpern bildeten, funktionale K rper, sozusagen Teile eines vom Staat gelenkten mechanischen Balletts. Der westliche Vektor dagegen sei ein Mikrovektor gewesen, weil sich dort der Mensch vor allem auf seinen eigenen K rper oder 3 4 5 6

Vgl. Schindler, K rperged chtnis (Anm. 1), S. 66. Vgl. Schindler, K rperged chtnis (Anm. 1), S. 66. Schindler, K rperged chtnis (Anm. 1), S. 66. Schindler, K rperged chtnis (Anm. 1), S. 63.

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auf den des n chsten Sexualpartners konzentriert und es vermieden habe, sich als Teil eines K rperensembles zu beobachten. Wenn er dennoch einem Ensemble angeh rt habe, dann h chstens einem, das von au en nicht beobachtet werden konnte, zum Beispiel in der Dunkelheit einer Disko. Ganz anders war es auf dem sowjetischen Tanzplatz, wo nur ein P rchen tanzte, und die Menschenmasse hinter einem Gitter die beiden beobachtete .7 In der DDR sei im brigen alles ganz anders gewesen. Als Alleinerbin der nazistischen Kulturbotschaft im seltsamen Mix mit dem Sowjetischen habe sie in einem hohen Grad den Sex-Appeal nazistischer Art aufrechterhalten. Da der aggressive und milit rische Teil dieses Appeals dadurch begrenzt gewesen sei, dass die DDR von einem anderen Staat besetzt war, sei haupts chlich der sexuelle Teil geblieben.8 So entstanden im Lager der Sowjetunion Phantasmen des Westens, zu dem man in bestimmter Hinsicht o enbar auch die DDR z hlte. II. Im Hintergrund von Peppersteins Blick auf K rperkonzeptionen in der SU und der DDR steht der Streit um Michail Bachtins Einsch tzung des o ziellen K rperkanons in der Stalin ra der drei iger Jahre. In den Jahren der S uberung schrieb Michail Bachtin sein gro es Werk Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur.9 Es erscheint uns heute wie ein Angri auf den o ziellen K rperkanon der Stalinzeit, der als nstere Hintergrundfolie f r das Bild des grotesken K rpers im Herzen der Volkskultur der Renaissance dient. Der o zielle in Literatur, Skulptur und Malerei pr sentierte K rperkanon verdeckt alle in das K rperinnere f hrenden nungen, stellt glatte Grenzen der Haut und geschlossene Konturen der Person dar. Der K rper erscheint im Funktionssystem der Gesellschaft der Normerf llung und der Sto arbeit, funktionsgerecht mit einer Uniform bekleidet. So kann er sich in ein mechanisches Ballett, das starren choreographischen Regeln gehorcht, integrieren. Dagegen hat die karnevaleske Volkskultur der Zeit Rabelais Michail Bachtin zufolge einen K rpertypus entworfen, der dem Klassizismus des o ziellen K rperbilds Hohn spricht: Er betont die K rperteile, die entweder f r die u ere Welt ge net sind, d.h. durch die sie in den K rper eindringen oder aus ihm heraustreten kann, oder mit denen er selbst in die Welt vordringt, also die nungen, W lbungen, die Verzweigungen und Ausw chse, der aufgesperrte Mund, die Scheide, die Br ste, der Phallus, der dicke Bauch, die Nase etc.10 Daher das unm ige Interesse der Volkskultur an F kalien, Entleerung und deren Begleitumst nden .

7 Schindler, K rperged chtnis (Anm. 1), S. 60. 8 Vgl. Schindler, K rperged chtnis (Anm. 1), S. 61. 9 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1965), herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. 10 Bachtin, Rabelais und seine Welt (Anm. 9), S. 76.

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Kot und Urin verwandeln kosmisches Entsetzen in Karnevalsheiterkeit .11 Die Tauschgesch fte des K rpers mit der Welt 12 nden in der somatischen Gegenkultur des Karnevals statt. Mit dieser Lesart der Volkskultur als anarchisches Subsystem trat Bachtins Buch seinen Siegeszug durch den Westen an, so dass es berraschte, ja Emp rung ausl ste, als der russische Kulturphilosoph Boris Groys (ein Freund Peppersteins) in einer Entgegnung auf Lachmanns Edition von Bachtins Werk am 10. April 1989 in der Frankfurter Rundschau in Bachtins Karnevalsutopie eine kulturelle Legitimation der Stalinschen Gewaltherrschaft , ein kulturphilosophisches Pendant seiner Vernichtungsideologie erkennen wollte. W hrend die Herausgeberin Renate Lachmann 1987 Bachtins Utopie von einem Volk, das in einem angstfreien Raum agiert betont, hei t es bei Boris Groys: Ohne Einschr nkung besteht Bachtin jedoch auf der Totalit t des Karnevals, seinem Pathos der Zerst rung der Autonomie des menschlichen K rpers und der menschlichen Individualit t. Im Tonfall des Entz ckens gibt Bachtin Rabelais Schilderungen der gr sslichen karnevalistischen Schlachten wieder. [...] Dieser Albtraum verwandelt sich Bachtin zufolge in einen lustigen Karneval durch das begleitende Gel chter. Das Karnevalsgel chter ist aber nicht etwa die Ironie des Denkers ber die Trag die des Lebens, es ist das frohe Lachen des Volkes ber die Qualen des hilflosen Individuums. Dieses Lachen ist das Lachen des Totalitarismus.13 W hrend Bachtin in der Gleichzeitigkeit des klassischen K rperkanons mit dem Kult des grotesken K rpers zwei feindliche Sph ren erkennt, glaubt Boris Groys, in der Nachbarschaft von Karneval und Herrschaftsform zwei sich wechselseitig n hrende Sph ren desselben Systems zu erkennen. Auch Pepperstein entdeckt in der Sowjetunion vergleichbare Sph ren der o ziellen Scham und ino ziellen Schamlosigkeit. Als mechanisches Ballett seien die K rper im Panzer ihrer Scham in Erscheinung getreten, wenn man sie aus der ideellen Totalit t eines Gesamtzusammenhangs betrachtet habe. Die sowjetische Gestaltung der K rper sei darum auf den ersten Blick als einheitlich skulptural erschienen, w hrend man den K rper der v lligen Schamlosigkeit der Feuchtgebiete im Zustand der Leck-mich-am Arsch -Stimmung in der Kommunalka habe antre en k nnen. Im modernen russischen Kino br che sich das unversch mt Karnevaleske im Kult der Grausamkeit wieder eine entliche Bahn. Das Reich des Drastischen haftet an klassizistischen Gegenbildern, von deren Dominanz es zehrt.

11 Bachtin, Rabelais und seine Welt (Anm. 9), S. 377. 12 Bachtin, Rabelais und seine Welt (Anm. 9), S. 36. 13 Boris Groys, Grausamer Karneval. Michail Bachtins sthetische Rechtfertigung des Stalinismus , in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 140 (21. 06. 1989).

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III. Es ist denkw rdig, dass Michail Bachtin Erscheinungsformen des Lebens sthetisch aufwertet, die in der sthetik des H lichen, die Karl Rosenkranz vom Gesichtspunkt der klassischen sthetik 1853 herausgab, als Indizien des H sslichen brandmarkte. Das H ssliche gipfelt in allen Arten der Formlosigkeit, die nach Rosenkranz bei jedem Liebhaber klassischer Formen Ekel ausl sen muss. Eins seiner Beispiele f r das typische Milieu des H sslichen ist die Gro stadt im 19. Jahrhundert: So ist auch das S mpfwasser in Stadtgr ben, worin sich die Immunditien aus den Rinnsteinen sammeln, worin Pflanzen und Tierreste aller Art mit Lumpen und sonstigen Kulturverwesungsabschnitzeln zu einem scheu lichen Amalgam sich zusammen nden, h chst ekelhaft. K nnte man eine gro e Stadt, wie Paris, einmal umkehren, so dass das Unterste zuoberst k me und nun nicht blo die Jauche der Kloaken, sondern auch die lichtscheuen Tiere zum Vorschein gebracht w rden, die M use, Ratten, Kr ten, W rmer, die von der Verwesung leben, so w rde dies ein entsetzlich ekelhaftes Bild sein.14 F r Liebhaber der Klassik ist Formlosigkeit ein Angstfaktor ersten Ranges. In einer Zeit, in der Bilder geschlossener K rper Konjunktur haben, herrscht die Angst vor dem Fall in Formlosigkeit. Vielleicht ist es auch umgekehrt: Wenn Angst vor Formlosigkeit herrscht, idealisiert man K rperbilder mit geschlossenen Konturen, in Uniformen oder andere Arbeitskleider gepresst oder durch die glatt und metallisch gl nzend ge lte Haut des Athleten abgeschirmt. Zumindest l sst sich das in den 20er und 30er Jahren beobachten. 1929, zu einer Zeit, da die Parole SICH IN FORM BRINGEN! viele Bereiche des Lebens und die zeitgen ssische Philosophische Anthropologie durchdringt,15 ver entlicht der ungarische Ph nomenologe Aurel Kolnai Studien ber den Ekel im Jahrbuch f r Philosophie und ph nomenologische Forschung.16 In sozialen Systemen mit geschw chten Autorit ten und umk mpften Hierarchien spielt, wie Mary Douglas beschrieben hat, die Unterscheidung von rein/unrein mitsamt den dazugeh rigen Abgrenzungspraktiken eine elementare Rolle. Kolnai reiht sich mit seiner Schrift in die Gruppe der Philosophen, Sozialwissenschaftler und Schriftsteller, die das nach der Novemberrevolution von 1918 ge14 Karl Rosenkranz, sthetik des H lichen (1853), Stuttgart: Reclam 2007, S. 295. 15 Vgl. Helmut Lethen, Anleitung zur Schlaflosigkeit. ber den Formzwang in der Politischen Anthropologie bei Helmuth Plessner und Arnold Gehlen , in: Thomas Keller und Wolfgang E bach (Hrsg.), Leben und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit, M nchen: Wilhelm Fink 2006 (= Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt 53), S. 113-128. 16 Aurel Kolnai, Der Ekel (1929), in: ders., Ekel Hochmut Ha . Zur Ph nomenologie feindlicher Gef hle, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007.

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st rte Gleichgewicht von sozialer N he und Distanz wieder herstellen wollen. Die Schriften von Norbert Elias, Helmut Plessner, Arnold Gehlen, Carl Schmitt, Elias Canetti, Bertolt Brecht als Liebhaber der Distanz und Gegner der Tyrannei der N he, lassen sich auch als Beitr ge zu einer Proxemik der Moderne lesen. Aurel Kolnai kann man dazuz hlen. Er begreift den Ekel als Einbruch in die Routinen der distanzierten Geselligkeit, der H flichkeit und Wahrung des Rechts jeder Person auf ein physisches Raumvolumen, das vor Penetration durch Andere sch tzt. F r die Distanz-Denker ist Ekel eine Abwehrreaktion, die zur Zivilisation, die den Menschen zum Abstandhalten verpflichtet, geh rt. Ekel mit seinen Symptomen des W rgereflexes, Speichelflusses und Brechreizes ist f r Kolnai ein Zeichen f r den Kollaps der Distanz. Es ist ein Ph nomen anspringender N he . Darum regiert der Tast- und Temperatursinn, der sich Klebrigem, Feuchtem und Lauwarmem ausgesetzt emp ndet. Ekel tritt ein, wo der Leib sich pl tzlich ohne die R stung der sozialen Rolle als Leib sp ren l sst . Der Mensch wird aus dem Ger st seiner Rituale der Distanz herausgesto en und be ndet sich unvermittelt in einem Raum, der von keiner sozialen Choreographie gesteuert wird, sondern nur noch aus einem unfunktionellen Aneinander von Leibern besteht.17 Tritt der Mensch aus der gesellschaftlichen Fassung seines personsm igen Lebens hinaus, wird er in einen danse macabre wuchernden Lebens geworfen.18 Der Schutzraum des Einzelnen mag in der H flichkeit noch so sehr vom K rperdunst des Mitmenschen abgeschirmt werden; durch den Geruch werden Partikelchen des Gegenstands in das Subjekt hineingetragen . Aurel Kolnai gewinnt dem Eindringen von Fremdk rperteilchen auch Erkenntnischancen ab. Im Ekel n mlich kann die intime Erfahrung des fremden Soseins erfahren werden.19 Er ist aber in erster Linie Abwehr einer fremden Substanz, die, wenn auch nicht vernichtet, so doch zumindest hinwegger umt werden kann. Was m glich ist; denn der Ekel bleibt am verursachenden Gegenstand haften. Ist er entfernt, schwindet der Brechreiz. Der Ekel will mich ja nur dazu bringen, meinen N hekreis zu s ubern .20 Den gemeinsamen Nenner aller Ekel ausl senden Ph nomene entdeckt Kolnai in der Formlosigkeit . Freilich nicht in den zersprengten Formen von Schutt, Asche, Splitter, Ger ll oder hnlich unordentlich anmutenden Anh ufungen anorganischer Materie. Als ekelerregend wird nur in Aufl sung be ndliches organisches Zeug empfunden. Nach seiner Emigration aus Ungarn hatte Kolnai bei Husserl und Heidegger gelernt, 1929 lebt er in Wien, wo er seine Schriften zur Ph nomenologie feindlicher Gef hle, zum Ekel, Hass und Hochmut verfasst. Er malt das Bild einer Masse, die entsteht, wenn sie nicht mehr von der Disziplin der Fabrik, des Heeres, der Kirche oder der Parteiapparate geformt wird und uns nur noch in regellos erscheinenden Verkehrs- und Konsumstr men von Passanten begegnet: 17 18 19 20

Kolnai, Ekel Hochmut Ha Kolnai, Ekel Hochmut Ha Kolnai, Ekel Hochmut Ha Kolnai, Ekel Hochmut Ha

(Anm. 16), S. 37. (Anm. 16), S. 48. (Anm. 16), S. 26. (Anm. 16), S. 18.

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Wie viel Menschen erfasst nicht ein gewisser Ekel, wenn sie in der Stra enbahn mit anderen zusammengepfercht werden, oder wenn sie sich auf einen vorgew rmten Stuhl setzen m ssen? 21 Wohlgemerkt, es ekelt ihn nicht vor den N hemilieus einer Bergarbeitersauna, eines Sch tzengrabens, einer Marschformation, einer Fabrikskantine, eines politischen Aufmarsches oder einer kirchlichen Prozession. Nein, sein Schreckbild ist die Masse von Passagieren, die die Stra enbahn transportiert, wie in seiner Zeit berhaupt die Masse von Konsumenten in den Gro st dten als formlos beschrieben wird. Diese neue Masse scheint amorph zu sein. In ihr vermutet er einen wuchernden , einen rauchenden Lebensdrang . Ihm setzt Kolnai die Form entgegen: Norm, Plan und Ma . H rte, Festigkeit, Formwillen kurz, ein Ger st . Der Mensch sollte sich in einem trockenen Entwurf seiner Person realisieren, um sich dem Massenmilieu des rauchenden Lebensdranges zu entwinden.22 Hier tauchen Motive der S uberung auf, die wenig sp ter zu Parteiausschluss und rassistisch begr ndetem Mord bis zur Kindert tung aufgrund von Argumenten der Eugenik f hren. Allerdings kann sich der Mensch auch im Ger st seiner anorganischen Formenwelt nicht sicher f hlen, weil er dem physischen R cksto beim Anblick verwesender organischer Substanzen nicht entkommen kann. Zwar tr stet sich der Mensch gern im Anblick des anorganischen Knochenger sts des Todes; aber selbst das Skelett kann ihn nicht g nzlich von den Bildern der Verwesung seiner organischen Teile ablenken. Im Ekel arbeitet also eine Erkenntnis, die die Hybris des H flichen, der glaubt, sein Leben selbstbestimmt f hren zu k nnen, relativiert. Im Einbruch des Ekels werden wir uns pl tzlich der Verweslichkeit unserer Existenz auf Erden gewahr.23 Vielleicht wird vor dem Hintergrund von Kolnais Ph nomenologie feindlicher Gef hle klar, warum in der radikalen Intelligenz der Weimarer Republik das Phantom des Staatskristalls so gro e Faszination aus ben konnte eine von allen Resten des Organischen ges uberte Konstruktion der Gesellschaft. Liest man von Kolnais Gesichtspunkt aus Ernst J ngers Traktat ber den Arbeiter , so erscheint es nur als konsequent, dass der Autor auf ber 200 Seiten alles regellos wuchernd Organische, jedes Gestr uch, alles Sump ge aus dem Text entfernt hat. Sogar Getr nkartiges fehlt. Der trockenste aller Avantgardetexte! Wie eine eugenische Walze hat die Schrift des Arbeiters die Erscheinungsformen des rauchenden Lebensdranges weg planiert. Umso bemerkenswerter, dass Gottfried Benn in seiner Lyrik die Elemente des grotesken K rpers inszeniert, w hrend in J ngers Buch Der Arbeiter alle Reize des Drastischen getilgt sind.

21 Kolnai, Ekel Hochmut Ha (Anm. 16), S. 37. 22 Kolnai, Ekel Hochmut Ha (Anm. 16), S. 47. 23 Kolnai, Ekel Hochmut Ha (Anm. 16), S. 168.

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IV. War es nur eine Farce, in der sich Konstellationen der 20er Jahre in den 70er Jahren wiederholten? In den 70er Jahren entstanden in Westdeutschland ML-Parteien; die Zahl ihrer Anh ngerschaften sch tzt man auf 60 000 Menschen. In diesen Parteien wurden Formen des Apparats und Inszenierungsformen ihres entlichen Auftritts, wie man sie von der KPD Th lmanns gegen Ende der Weimarer Republik zu kennen glaubte, im Zeichen des Maoismus wiederholt.24 Da ich selbst f nf Jahre lang Mitglied oder im damaligen Sprachgebrauch Kader einer solchen Partei war, kann ich von einem Ereignis berichten, das mir zwei Jahre bevor ich 1970 Kader wurde, einen gewissen Ekel einfl te. Bei Michail Bachtin konnte man lesen: Vergessen wir nicht, dass [ ] der Kot die heitere Materie ist, die Angst in Lachen verwandelt .25 Nicht unbedingt, wie mein Fall beweist: Es ging um den Auftritt eines grotesken K rpers in Bachtins Sinn. Genosse Pawla schei t im Gerichtssaal, und ich fand das (zusammen mit dem Chor der konservativen Presse, vielen Genossen und meiner Mutter) sehr unmanierlich, wenn nicht ekelhaft. Wirklich drastisch, dieses Tauschgesch ft des K rpers mit der Welt, das man bei Bachtin theoretisch gut gefunden hatte! Im SPIEGEL vom 16. 9. 1968 liest man folgende Notiz: Karl-Heinz Pawla, 24, Westberliner Kommunarde, muss wegen eigenwilliger Demonstration in einem Moabiter Gerichtsaal zehn Monte einsitzen. 26 Am 21. Oktober liest man Genaueres, wirklich Drastisches, zu Tathergang und Urteilsbegr ndung: Am 4. September 1968 fand gegen den Angeklagten ... eine Hauptverhandlung vor dem Sch engericht Tiergarten unter dem Vorsitz des Amtsgerichtsrats Loch im Kriminalgericht Moabit in Berlin statt. Nach der Vernehmung der in dieser Sache geladenen Zeugen etwa um 10.25 Uhr sagte der Angeklagte, er m chte eine Erkl rung abgeben. Er begab sich daraufhin zu dem vor dem Richtertisch stehenden Zeugentisch, drehte sich mit dem R cken zum Gericht, zog seine Hose herunter und kotete vor den Zeugentisch in den Gerichtssaal. Sodann drehte sich der Angeklagte um, ging zum Richtertisch, gri zu den auf diesem liegenden Gerichtsakten 272-103/68, ri aus diesen acht Seiten heraus und wischte sich damit das Ges ab, wodurch diese Aktenbl tter mit Kot beschmutzt wurden. Er wollte dadurch dem Gericht, insbesondere dem Vorsitzenden Amtsgerichtsrat Loch, seine Mi achtung kundgeben. [...] Der Angeklagte gibt die Tat zu und l t sich wie folgt ein: Er habe die Scheie konkret machen wollen. Deshalb habe er Abf hrtabletten eingenommen,

24 Vgl. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-77, K ln: Kiepenheuer und Witsch 2001. 25 Bachtin, Rabelais und seine Welt (Anm. 9), S. 377. 26 o.V., Personalien , in: Der Spiegel 38/1968, S. 198.

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deren Wirkung er vorher ausprobiert habe. Er rgere sich nur, da er das komische Barett auf dem Richtertisch nicht erwischt habe.27 In der Begr ndung des Urteils, mit dem Pawla zu einer 10monatigen Haftstrafe ohne Bew hrung verurteilt wurde, hei t es: Strafsch rfend el ins Gewicht, da der Angeklagte durch die Tat eine Mi achtung gegen ber den Grundregeln jeglichen menschlichen Zusammenlebens und eine derart niedere Gesinnung gezeigt hat, die einem Menschen an sich nicht zuzutrauen ist.28 Nicht ohne Gef hl der berlegenheit weisen Wiener Kollegen darauf hin, dass das nichts Besonderes gewesen sei. hnliches und viel Drastischeres h tten die Wiener Aktionsk nstler 1968 in einem H rsaal der Universit t aufgef hrt. Sie schissen, urinierten und sangen zwischendurch die sterreichische Nationalhymne. Das sei ein in der Geschichte der Kunstavantgarde ganz unverzichtbarer Akt gewesen, und sie wunderten sich, dass die Art der Performances mir berhaupt noch nachtr glich Kopfzerbrechen mache. Provokante Avantgardeaktionen, die sich auf den Freiheitsraum der k nstlerischen Ausdruckwelt berufen, um sich dann auf die juristisch verb rgte Folgelosigkeit ihres Tuns zu berufen, habe ich nie gesch tzt. Pawlas Aktion hingegen nachtr glich wohl. Sie dokumentiert Mut, Wahnsinn und Hellsicht nachtr glich emp nde ich das so. Sie war nicht nur ein Zeichen h chster K rperdisziplin (was im Gerichtsurteil als besonders strafversch rfend geahndet wurde), sie entbehrte angesichts der weitgehend unges hnten Nazi-Verstrickungen der westdeutschen Justiz ja auch nicht der farbsymbolischen Evidenz. Und dass der Richter in Moabit den Tathergang als einen Akt niederer Gesinnung klassi zierte, die, wie es hei t, einem Menschen an sich nicht zuzutrauen ist , kann einen nach der ra der Verbrechen in Deutschland schon aus der Haut fahren lassen. Pawla, der in Berlin zu den umherschweifenden Haschrebellen geh rte, trat am 25. August seine 10monatige Haftstrafe wegen Beleidigung an. Zur S hne und Abschreckung (konnte) nur eine emp ndlichere Freiheitstrafe den Strafzweck erreichen ,29 hei t es in der Urteilsbegr ndung. Eine drastische Strafe. Warum wollte die Klarheit dieses politischen Aktes damals nicht in meinen MLKopf hinein? Ich sehnte mich nach mechanischen Balletten. Die sthetischen Normen eines Liebhabers der Proletarischen Literatur, die ich bald beim Oberbaumverlag herausgab, waren klassizistisch.

27 o.V., Die Tat zielstrebig vorbereitet , in: Der Spiegel 43/1968, S. 24. 28 o.V., Die Tat zielstrebig vorbereitet (Anm. 27), S. 24. 29 o.V., Die Tat zielstrebig vorbereitet (Anm. 27), S. 24.

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V. Sowjetische Unterw sche im Wiener Volkskundemuseum, Schamlosigkeit in der Kommunalka, groteske K rper in der Volkskultur der Renaissance und im postsowjetischen Film, ein anarchistischer Akt im Gerichtsaal zu Moabit. Die Revue der Beispiele zeigt eine Gleichzeitigkeit von Sph ren, in denen klassizistische Normen der Distanz auf N hesph ren von K rpern tre en. Die N hesph re speichert das, was vom mechanischen Ballett ausgeschlossen wurde. Ob die sthetische Drastik der Ausstellung des Ausgeschlossenen subversiv ist, muss man von Fall zu Fall untersuchen. Vielleicht erodiert ein Normsystem aufgrund von Drastischem, vielleicht stabilisiert es sich; vielleicht geh rt es zum eater der Grausamkeit. Man kann sich t uschen.

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AUFDRINGLICHE SINGULARIT TEN Drastik und die Ordnung des Werkes

f r Lorenz Dexler 1. Tolle Bilder A ektionen, die uns bersteigen, nennt Kant starke Vitalemp ndungen .1 Bei diesen handelt es sich nicht um Gef hle, die wir haben, sondern um A ekte, die uns haben. Kant unterscheidet nicht systematisch zwischen Ph nomenen der Kunst und solchen der Nicht-Kunst als sehr verschiedenen Reizquellen von Vitalemp ndungen. Die starke A ektion scheint das Urteilssystem, das zwischen Schein und Sein sicher zu unterscheiden wei , ohnehin zu st rzen oder doch wenigstens zu destabilisieren. Wo ein A ekt uns sch ttelt, kollabiert die Unterscheidungskunst, die Grenzen auszumachen und Bestimmungen vorzunehmen vermag. In der Leib und Seele ergreifenden Emp ndung erfahren wir, was wir laut den Prolegomena in allen Emp ndungen erfahren: das Reale der Anschauung .2 Wir erfahren also das, was von der Anschauung sich als wirkend und also wirklich bemerkbar macht. In der starken Vitalemp ndung erfahren wir es nur drastischer als blich. sthetik w rde diese Erfahrung allerdings nicht als eine sthetische begreifen wollen. Deshalb m chte ich mich der sthetik des Drastischen ann hern, indem ich das Thema unter dem Aspekt des konstitutiven Nicht sthetischseins der Erfahrung von Drastik in den Blick nehme. Ich frage dazu nach dem Problem, das Drastik als ein leibliche Reaktionen, Vitalemp ndungen, ausl sendes Ph nomen f r die Normvorstellungen darstellt, die zum Feld der sthetik geh ren, seit diese sich im Anschluss an Baumgarten als Disziplin etabliert hat. Genauer gesagt: Ich frage nach der Spannung, in die Drastik sich zu allen werk sthetischen Konzeptualisierungen von sthetischer Objektivit t und sthetischer Subjektivit t setzt. Meine Frage wird angeleitet von der Intuition, dass Drastik ber das Moment a rmierter Distanzreduktion die diskursive Herrschaft von Einheit, Zusammenhang und Totalit t aufs Spiel setzt und mit ihr ein ganzes Geschmacksdispositiv voller politischer, so1 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Kants Gesammelte Schriften (=KGS), herausgegeben von der K niglich Preu ischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: Georg Reimer, 1907 ff., Band 7, S. 154. 2 Immanuel Kant, Prolegomena, in: ders., KGS 4 (Anm. 1), S. 306.

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zialer, kultureller und konomischer Implikationen. Als ein Zusammenhang, den es im kontemplativen Nachvollzug zu vollenden galt, war das Kunstwerk n mlich f r alle idealistisch inspirierten sthetiken eine strukturell-utopische wichtige Sache, die der Realit t an sich selbst eben jene Ordnung vorf hrte, die diese erst noch hervorzubringen hatte. Ihren Ausgang nehmen meine berlegungen bei einer Beobachtung, die Dietmar Dath im Roman Die salzwei en Augen seinen literarischen Agenten an nicht sonderlich drastischem Material machen l sst. In Spielbergs Jurassic Park (USA 1993) zeigten die Bilder alles zertrampelnder Saurier die ganze Zeit ber, wie toll es aussieht, wenn die Viecher alles verschlingen und kaputttrampeln. Das Urteil toll steht hier f r eine an einzelne Bildsequenzen gekn pfte positive Meta-Emotion, die das positive Urteil ber den Film insgesamt zu begr nden vermag, der dem Betrachter eigentlich aber ganz andere Sachverhalte zur Beurteilung vorlegt. Und dementsprechend hei t es bei Dath weiter, dass diese Bildfolgen sich gerade dadurch, dass sie zeigten, wie toll es aussehe, wenn Saurier Amok laufen, von der deontischen Ebene des Werkes abl sten, auf der wir in fast didaktischer Weise dar ber informiert w rden, wie sch dlich und gef hrlich und ungut es sei, wenn Wissenschaftler Gott spielen.3 Drei Aspekte interessieren mich an dieser Reflexion. Erstens die entschiedene Einnahme einer Erfahrungsperspektive, zweitens der flagrante und f r den Drastikkomplex signi kante Akt der Wahl eines Beispiels aus der Kulturindustrie, drittens die Aufmerksamkeit f r eine spezi sche Gabelung der Wahrnehmung: Die kulturkritische ,Botschaft von Jurassic Park wird vernommen, zugleich aber werden ohne schlechtes Gewissen ein Bild oder eine Sequenz von Bildern als von der Botschaft des Filmes abgel st erfahren und zur Quelle des Genusses. Mit dem Urteilsakt toll eignet der Betrachter sich diese Sequenz an, die o ensichtlich st rker ist als die Ideologie des Filmes. Wenn wir den Begri der Deontologie ins Register des sthetischen verschieben und das ,Werk als eine sich selbst bersteigende Totalit t der Komposition verstehen, dann l sst Daths Beobachtung sich so erl utern, dass der Betrachter in der Reflexion seiner Wahrnehmung eine Abl sung der Teile vom ,Werk bemerkt. Er hat in der A ektion die Bewegung dieser Teile aus dem Strukturzusammenhang hinaus mitvollzogen. Seine Aufmerksamkeit wurde gefesselt von einem Spiel der Erscheinungen, das die Singularit t, der er erliegt, erst produziert hat; einem Spiel, das die tolle Sequenz mit ihren nun nur noch auf sich selbst verweisenden Bildern aus dem Zusammenhang des Filmes schlie lich heraussprengt. Dieser Zusammenhang wird hier nicht etwa verfehlt (es ist ja verstanden worden, welche Funktion das Teil im Ganzen bernehmen soll und dass es eine Funktion bernehmen soll), sondern er wird verworfen. Der Rezipient macht eigensinnigen Gebrauch von einer Di erenz. Seine Aufmerksamkeit bleibt, provozierend gleichg ltig gegen den Funktionszusammenhang, ganz bei den Erschei-

3 Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 50 f.

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nungen, bei der Ereignishaftigkeit einer Singularit t, die pl tzlich f r sich selbst steht und produktiv wird als Sch nheitsmaschine. F r eine mit dem Werkbegri verkn pfte sthetik stellt die Gleichg ltigkeit des Rezipienten gegen den Zusammenhang ein erhebliches Problem dar, egal ob diese sthetik eher hermeneutischen oder formalistischen Traditionen verpflichtet ist. Das sthetische Ideal des Zusammenhangs ist ein ethisiertes Ideal. In einem Verriss von Corbuccis Il grande silenzio (I, F 1968) emp rt der Kritiker Franz Rauhut sich 1970 dar ber, dass die Zuschauer beim Screening des Filmes die Einheit der erz hlten Geschichte, die Einheit der Struktur v llig aus dem Blick verloren und statt dessen einzelne a ekterregende Sequenzen wie z. B. die Bilder einer Vergewaltigung oder der Ermordung eines Sheri s laut beklatschten.4 Will man den Genuss von Drastik nicht um seine Spitze bringen, dann muss man ihn tats chlich auch ber diese f r jede Geschmackspolizei verd chtige Gleichg ltigkeit gegen den Zusammenhang (des ,Werkes oder einer ktionalen Welt) erl utern. Sie l sst Werke in Tatsachen zerfallen und Welten grundlos werden. Mindestens tritt durch die starke A ektion w hrend der Begegnung mit einem Werk eine Unterbrechung oder Pause im Geschehen des Nachvollzugs ein. Ohne den Zusammenhang verwandeln die Dinge sich in einen Haufen reizvoller Singularit ten zur ck, die etwas mit uns anfangen. Roland Barthes de niert seinen Begri des Wirklichkeitse ekts objektivistisch. Er bezeichnet mit diesem Begri den E ekt einer neuen Wahrscheinlichkeit, die durch ein berz hliges entsteht, das beim Lesen im Text au llig wird. Da ist eine Sache, die , brig bleibt, weil ihre Funktion f r den Text sich einfach nicht erschlie t. Der E ekt entsteht also durch ein als funktionslos integriertes Ding, das im Zusammenhang der Struktur eben deshalb ohne Funktion bleibt, weil es ihm kritisch eingef gt wurde als Verweis auf oder Erinnerung an eine wirkliche Welt jenseits des Zusammenhangs.5 Der Drastike ekt w re wohl weniger objektivistisch zu erl utern, als das Ereignis einer Dekomposition vielleicht, oder als Ereignis eines funktionslosen Augenblicks st rkster Erregung, als ein Herausfallen oder Heraus4 Vgl. Franz Rauhut, Italowestern und aristotelische Katharsis , in: Neue Z rcher Zeitung (16. 5. 1970), S. 49. Die Tatsache, dass Rauhut in seiner Filmkritik die Reaktionen anderer Zuschauer thematisiert, zeigt an, dass Kunsterfahrung hier, wo Drastik ins Spiel kommt, nicht mehr nur zwischen dem einzelnen Betrachter und einem sthetischen Objekt stattfindet, sondern sich in einer Situation ereignet, zu der auch das Verhalten der anderen geh rt, zu denen wir uns verhalten, w hrend wir uns zum Film verhalten. Hediger spricht im Zusammenhang von Thriller- oder Horrorfilmen von einer Testsituation , zu der die Leute sich zusammenfinden, um gemeinsam und aufeinander bezogen auszutesten, wo das Sichtbare die Grenze zum Sehbaren berschreitet . Zum rger von Rauhut bezieht das Klatschen sich auf diese Testsituation und nicht auf den Zusammenhang der Plotstruktur. Deshalb wird es moniert. Vgl. Vinzenz Hediger, Das Sichtbare und das Sehbare. Kino als Kunst des abgewandten Blicks , in: Montage/av 21/2 (2012), S. 119-143, hier S. 130. 5 Vgl. Roland Barthes, Der Wirklichkeitseffekt (1968), in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays, Bd. 4 (1984), aus dem Franz sischen bersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 164-172, hier S. 172.

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nehmen von Teilen einer Arbeit. Diese Teile werden nicht mehr auf ihre Funktionalit t hin befragt, sondern in einer Situation, zu der meist noch andere Teilnehmer geh ren, in ihrer Wirksamkeit als Sachverhalte erlebt und reflektiert. Der Zusammenhang steht hier unter dem Generalverdacht, einen blo en Vorwand abzugeben f r die Produktion toller Sachverhalte. Der Drastike ekt ist eher einer erfahrungs sthetischen als einer werk sthetischen Perspektive zug nglich. Die Teile gen gen sich selbst, und in der Aktualit t der Wahrnehmung gen gen sie auch uns. Der traditionellen sthetik erscheinen sie wahlweise als Rampens ue der Form, die sich in den Vordergrund spielen, oder als arme Opfer der Willk r eines Beobachters. Die Wirksamkeit der Teile kann n mlich von einer Autorfunktion f r das Werk in Szene gesetzt worden sein, aber auch vom Rezipienten gegen das Werk hergestellt werden, etwa durch einen Wechsel der Einstellung auf das Werk oder durch medienmanipulative Ma nahmen. Ich kann bei jedem St ck Musik den Lautst rkeregler hochziehen, bis es wehtut. Und die intimistische Mediennutzung daheim gestattet es mir, bei jedem Film die in der Bewegungsillusion des Filmbildes zu rasch vergehende Anschauung der starken Szene am Standbild zu intensivieren. Ich kann ,Stellen lesen. Ich kann au erdem das w rde innerhalb der Klassenverh ltnisse des Geschmacks als besonders es gelten nach dem Durchgang durch die Drastikerfahrung die sch nsten Folterszenen oder Analpenetrationen aus dem Material herausschneiden und durch Montage in Serie ordnen. Die Kulturindustrie ist in Sachen Drastik auch deshalb unser Verb ndeter, weil sie permanent Produkte auf den Markt wirft, deren Nummern sthetik von Anfang an o en zu erkennen gibt, dass die Produzenten selbst nicht mehr an das Pathos des Zusammenhangs glauben, wenn sie ohne R cksicht auf das funktionale Netzwerk einer Struktur geile Einzelheit an geile Einzelheit reihen. Diese Produkte sind, ob nun Porno, Splatter oder Best-of-Album, Interventionen gegen die sthetische Norm.6 2. N he und Distanz Mit den Vitalemp ndungen (Schmerz, Ekel, Geilheit etc.), die alles an uns zum Sprechen zwingen, was lebendig ist, steht immer die sthetische Distanz auf dem Spiel. Auf der Grundlage einer Idee von Distanz aber hat das Fach sthetik sich berhaupt erst errichten k nnen, als nach dem Ende des Zeitalters der Regelpoetiken die Aufgabe zu bew ltigen war, den guten Geschmack durch eine Bestimmung 6 Bohrer hat darauf hingewiesen, dass hierzulande die idealistische R ckbindung der sthetik beispielsweise daf r sorgte, dass die deutsche Tradition keine offene Darstellung des Sexuellen kennt . Die Affektionen der Pornografie lassen das Interesse des Rezipienten an der geduldigen Freilegung von Sinn n mlich als einigerma en deplatziert erscheinen und wurden deshalb aus den legitimen Rezeptionspraktiken ausgeschlossen, die allesamt auf eine hermeneutische Beziehung zum Objekt abzielen. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die permanente Theodizee , in: ders.: Nach der Natur. ber Politik und sthetik, M nchen-Wien: Carl Hanser Verlag 1988, S. 133-161, hier S. 142.

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dessen zu de nieren, was zu nah am oder zu weit weg vom Realen war. Distanz wurde dabei in zweifacher Weise zur Voraussetzung einer die Kunst- und die Naturerfahrung kennzeichnenden spezi schen Erfahrungsform der sthetischen Erfahrung. Zum einen bezeichnet der Begri der Distanz die objektive Lage, dass wir uns nicht in der wirklichen sozialen Welt bewegen, wenn wir in die Welt der Kunst eintauchen oder die Erhabenheit der Alpen bewundern. In der Welt der Kunst ist alles nur Schein, weshalb wir in der Begegnung mit ihr von realen Handlungszw ngen entlastet sind. Nur aus diesem Grund k nnen wir zweitens ein Gef hl der Distanz zu den Objekten unserer Wahrnehmung aufbauen, das uns zum interesselosen Nachvollzug der Werke bef higt. Wir k nnen uns auf sie einlassen, weil wir uns in der sthetischen Begegnung mit ihnen au erhalb der Zw nge des Realen bewegen. So lange das Bewusstsein der objektiven Lage erhalten bleibt, lassen wir uns risikolos in die Werke verwickeln. Die moderne Kunst hat diese Verwicklungen gerade deshalb sehr weit treiben k nnen, weil sie in ihren sthetischen berlegungen konsequent auf die objektive Lage abstellte: Was immer sie dem Rezipienten zumute, ihm bleibe allzeit bewusst, in einer Welt des Scheines zu agieren.7 Es ist nur ein Film, es ist alles nur Kunst. Mit den Kicks der Drastik kommen nun aber Vitalemp ndungen ins Spiel, die derart stark sind, dass sie das Bewusstsein f r die objektive Lage (zeitweise) auszuschalten verm gen und die F higkeit zur Unterscheidung kollabieren lassen. Sp testens unter dem Einfluss der Psychologie des 19. Jahrhunderts wird die sthetische Distanz zum Modell f r ein gro es kulturtheoretisches Raumdispositiv , das von Jutta M ller-Tamm als N he-Distanz-Schema charakterisiert wird, in dem die Dinge der Welt f r die Zwecke des Urteilssystems am Leitfaden r umlicher Metaphern geordnet sind und zwar zur Bestimmung des Grades ihrer Wirklichkeit. Je n her die Dinge uns sind, desto wirklicher erscheinen sie uns. Und je wirklicher die Dinge uns erscheinen, desto dringlicher, bedeutender sind sie f r uns. Leitoppositionen dieses Dispositivs sind laut M ller-Tamm: Abstraktion/Konkretheit, Kunst/Wirklichkeit, Fiktum/Faktum, Teilnahmslosigkeit/A ektion, Mittel-

7 Gerade weil wir uns willentlich bestimmen lassen, weil wir die Illusion durchschauen und weil wir keinem Handlungsimperativ unterliegen, sind wir umso eher bereit, uns real affizieren zu lassen. Chris Tedjasukmana, Wie schlecht sind die schlechten Gef hle im Kino? Politische Emotionen, negative Affekte und sthetische Erfahrung , in: Montage/av 21/2 (2012), S. 11-27, hier S. 19. Da Tedjasukmana vor allem an der Produktivit t der negativen Gef hle interessiert ist, muss er am Illusionsbewusstsein festhalten, dass es uns erlaube, uns diesen Gef hlen hinzugeben, ohne uns ganz zu verlieren (S. 20 f.). Es gehe vielmehr darum, die negativen Affekte auszuhalten, ohne dass wir Gefahr laufen, dar ber blind zu werden (S. 26). Damit w re Drastikerfahrung als sthetische Erfahrung gerettet. Was aber ist, wenn Drastik ihre Besonderheit gerade darin f nde, dass sie das Illusionsbewusstsein aufzuheben, die Beziehung zum Werk abzubrechen vermag und den Rezipienten gelegentlich eben doch mit salzwei en Augen zur ckl sst? Wie w re eine Kunsterfahrung zu erl utern, die keine sthetische Erfahrung mehr ist?

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barkeit/Unmittelbarkeit.8 Winfried Menninghaus erg nzt diese Liste in seiner Studie ber den N hea ekt Ekel um die ebenfalls zum Schema geh renden Oppositionen Geschmack/Geschmacklosigkeit, Undeutlichkeit/Deutlichkeit, unendliche Analysierbarkeit/Analyseresistenz.9 Nach Ma gabe des N he-Distanz-Schemas organisieren sich auch die Hierarchien unserer Sinne und Verm gen. Nahsinne gelten als eher problematisch, da sie au er unserem Verm gen zur Distanznahme auch unser Unterscheidungsverm gen irritieren k nnen.10 Fernsinne hingegen haben einen guten Ruf, bef rdern sie doch berblick, Zusammenschau, unsere F higkeiten zum Ordnen un bersichtlicher Lagen. Das sind die Eins tze, wenn Distanz verhandelt wird. Und tats chlich l sst die seit der antiken Katharsis-Debatte in der Kunstdiskussion anhaltende Auseinandersetzung mit dem Problem starker Emp ndungen sich als eine Auseinandersetzung mit Aspekten dieses N he-Distanz-Schemas rekonstruieren, die desto polemischer gef hrt wurde, desto erkennbarer hier nicht nur die Sachen der Kunst verhandelt wurden. Das kulturtheoretische Schema, die Dinge nach dem Grad ihrer Entfernung als mehr oder weniger wirklich zu bestimmen, ndet laut M ller-Tamm seine Spezi k darin, dass es N he oder Distanz sowohl als E ekt wie als Ursache von Wahrnehmungsurteilen begreifbar werden l sst. Die paratextuelle Auszeichnung eines Textes als Roman etwa distanziert unsere Einstellung auf ihn, da sie ihn als Darstellung einer m glichen Welt von der wirklichen Welt scheidet; umgekehrt aber produzieren r umliche oder psychische Distanz zu einem Ding oder Ph nomen einen Fiktionse ekt, d. h. sie lassen die Sache als in einem geringeren Grade wirklich (und bedeutend) erscheinen.11 Die rechte Balance zwischen N he und Distanz zu nden, ist deshalb nicht nur ein sthetisches Ideal, sondern wurde als Ausweis von Urbanit t und civilit auch zum Ideal b rgerlicher Lebenskunst schlechthin. Die richtige Distanz zu den Dingen ist zum einen die Voraussetzung f r Praktiken der angemessenen Welt- und Werkerschlie ung, zum anderen die Voraussetzung f r Geschmack und f r Handlungsf higkeit im entlichen Raum, dessen Marktform 8 Jutta M ller-Tamm, N he und Distanz. ber den Raum und die R umlichkeit der sthetischen Erfahrung um 1900 , in: Anke Hennig, Brigitte Obermayr, Antje Wessels und MarieChristin Wilm (Hrsg.), Bewegte Erfahrungen. Zwischen Emotionalit t und sthetik, BerlinZ rich: Diaphanes 2008, S. 97-110, hier S. 98. 9 Vgl. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 60 f. 10 W rden wir einen Horrorfilm wie Dawn of the Dead (George Romero, USA 1978) berstehen, wenn wir die faulenden Zombies riechen, ber hren oder gar schmecken m ssten? [ ] Das ohnehin sehr nahe, auf dem Sehen und H ren basierende Ekel-Objekt w rde sich berm ig aufdr ngen, w rden auch die brigen Sinne adressiert. Julian Hanich, (Miss ) Vergn gen am Ekel. Zur Ph nomenologie, Form und Funktion des Abscheulichen im Kino , in: Montage/av 21/2 (2012), S. 77-98, hier S. 86. 11 Vgl. M ller-Tamm, N he und Distanz (Anm. 8), S. 104. In LAb c daire de Gilles Deleuze (F 1988 89) zeigt sich Deleuze fasziniert vom japanischen Raumdispositiv, das dem Fernsten, dem Erdkreis, die gr te Bedeutung, dem N chsten, der eigenen Stra e, die geringste Bedeutung zuweise.

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es vorgibt, dass st ndig Leute miteinander handeln m ssen, die einander nicht kennen. Als Bedingung des Geschmacks ist die Distanz zugleich sein Index.12 Das Verm gen zur Distanzierung wird im Prozess der Bildung erworben und durch bung geschult. Der Geschmack beweist sich dann im Komplexit tsgenuss, dem Lohn f r die M hen der Bildung. Er markiert als M glichkeitsbedingung eines aktiven Nachvollzugs von Sinn- und Formzusammenh ngen die Di erenz zum blo passiv-voyeuristischen Zu- oder Anschauen und ist zugleich der Nachweis, dass durch Bildung hindurch gegangen wurde und man sich die Distanz, die Handlungsabstinenz und den feineren Genuss auch wirklich in jeder Hinsicht leisten kann. Derb und deutlich hingegen sind die Geschmacks u erungen des P bels, dem die Verh ltnisse immer nah auf den Leib r cken und den man im sthetischen Diskurs ber cksichtigen m sste, wenn man endlich zugestehen w rde, dass auch dort Reflexion und reicher Genuss sich ereignen, wo die Enge der Verh ltnisse Distanznahme unm glich macht. Die als ,bildungsfern verp nten Drastikliebhaber sind nicht der N he verfallen. Als Erfahrung der Negation oder Reduktion von Distanz ist die Erfahrung von Drastik vielmehr zugleich die Bedingung einer Reflexion von Distanz, und dies auch mit Hinsicht auf alle mit dem Distanzbegri verschlungenen kulturellen Leitdi erenzen und Wertgef hle. Man muss mit dem Begri des Proletarischen nicht gl cklich sein, den Anna Echterh lter f r Daths Drastikapologie vorschl gt,13 um ihre Intuition zu teilen, dass es bei der Konzentration auf drastische kulturindustrielle Produkte, die nicht bereits als Kunst festgelegt sind, um etwas geht, um ,Werke und Erfahrungsformen n mlich, deren Einsatzbereich noch unbestimmt ist; dass mit der Drastikrezeption tats chlich das ganze b rgerliche Geschmacksparadigma aufgerufen und in die Lage versetzt wird, sich befragen lassen zu m ssen, etwa zu den Normierungen des Zugangs zur Kultur und zu den Regeln, nach denen wie Ranci re sagt auf dem Feld des Sinnlichen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden. 14 Will man Antworten auf diese Fragen, dann ist es schon aus heuristischen Gr nden sinnvoll, den Drastikkonsumenten nicht l nger als mangels Bildung kenntnislosen und irgendwie de zit ren N heFreak zu denunzieren, sondern ihn anzuerkennen als einen, der aktiv eine politische Geste der R ckbildung ausf hrt und dessen Suchl ufe eine Distanzierung von der Distanz erproben, die Diederichsen als verzweifelt schief dialektisches ZurKunst-Kommen charakterisiert.15 12 Noch dort, wo die Unverf gbarkeit des distanzierten Werkes politisiert wird, wie bei Adorno, artikuliert sich in dieser Denkfigur ein Argwohn gegen die Option, ein reflexives Verh ltnis von starker Reaktion und Reflexion zu denken. 13 Anna Echterh lter, Drastik bei B. Traven , in: Mathias Brandst dter und Matthias Sch nberg (Hrsg.), Neue BT-Mitteilungen . Studien zu B. Traven, Berlin: Karin Kramer Verlag 2009, S. 128-143, hier S. 133. 14 Jacques Ranci re, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien (2000), aus dem Franz sischen bersetzt von Maria Muhle sowie Susanne Leeb und J rgen Link, Berlin: b-books 22008, S. 25. 15 Diedrich Diederichsen, Freiheit macht arm. Das Leben nach Rockn Roll. 1990-93, K ln: Kiepenheuer & Witsch 1993, S. 279.

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3. Metapher vs. Buchst blichkeit Jeder als drastisch erfahrene Gegenstand steht insofern in den Traditionen des Ekelhaften oder des B sen, als sich mit ihm eine leiblich-seelische Emp ndung des Distanzverlusts verbindet, die als potenziell krisenhaft erfahren wird. Die u erste N he des drastischen Objekts produziert einen E ekt u erster Wirklichkeit. Der Name Drastik bestimmt dabei keine Eigenschaft von Dingen, sondern die zu denken gebende und konstitutiv individuelle Reaktion auf eine sich aufdr ngende Wirklichkeit mit bestimmten Eigenschaften. F r Karl Rosenkranz etwa war der homosexuelle Akt das denkbar drastischste Motiv, da er das Scheu liche, das B se, das Abgeschmackte und das Ekelhafte in sich versammle und den Betrachter zu einer drastischen leiblichen Reaktion auf die Wirklichkeit des wesenlos Negativen n tige.16 Rosenkranz wird schlecht. Solche abjekten Objekte der Wahrnehmung stehen dem beunruhigten Rezipienten nicht mehr als Objekte gegen ber, sondern bekommen Subjektqualit ten. Sie ber hren oder berschreiten die Grenze der Integrit t des Leibes, der sie dann eilig wieder loszuwerden versucht.17 Hierin sind Dath und Ter zia Mora sich mit der sthetik einig: Drastik unterl uft die ideale Distanz. Sie gibt uns etwas auf die Ohren oder die Augen oder die Nase, dringt dabei so Mora in unsere Sicherheitszone 18 ein und stellt durch ihre unabweisbare N he unser Verh ltnis zur Welt auf die Probe. Damit aber endet die Einigkeit auch schon. Die berschreitung kann n mlich um ihrer selbst willen geschehen oder funktionalistisch legitimiert sein, was f r die sthetik in unterschiedlichem Ma e problematisch ist. Eine berschreitung, die um ihrer selbst willen geschieht, ist vollst ndig wider den guten Geschmack. berschreitungen m ssen sich auf ihre Funktionen hin durchsichtig machen. Komplement r kann der Rezipient die starken singul ren Emp ndungen selbst in den Mittelpunkt seines Interesses und Mediengebrauchs r cken oder aber der Funktionalit t dessen nachsp ren, was ihn da ber hrt hat. Auch in diesem Falle kann nur eine am Objekt selbst darstellbare M glichkeit, die Vitalemp ndungen und drastischen Motive in den (formalen und moralischen) Zusammenhang eines verantwortbaren Werkes zu reintegrieren, dieses Werk sthetisch vor dem Urteil der Abgeschmacktheit retten. Jeder unmittelbare Genuss der starken Emp ndungen w rde den Rezipienten aus dem Feld der sthetik hinaus in den Bereich des An sthetischen oder Un sthetischen katapultieren. F r eine ethisierte sthetik h ngt an der Frage, ob jemand die tolle Singularit t selbst oder die Einsicht in ihre Funktion genie t, die Unterscheidung von Krankheit und Gesund16 Vgl. Karl Rosenkranz, sthetik des H lichen (1853), Leipzig: Reclam 1990, S. 241-262. 17 Kant spricht vom Instinct der Natur , einen Geistesgenu , der uns aufgedrungen wird und doch als Geistes-Nahrung f r uns nicht gedeihlich ist , rasch wieder los zu werden . Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Anm. 1), S. 157. Hanich sieht den Ekel bestimmt durch das Merkmal einer als aufdringlich empfundenen N he, und zwar einer ph nomenologischen N he . Hanich, (Miss )Vergn gen am Ekel (Anm. 10), S. 79. 18 Ter zia Mora, ber die Drastik , in: BELLA triste 16 (2006), S. 68-74, hier S. 71. Moras Text war eine der Referenzen im Konzeptpapier, mit dem zur Tagung sthetik des Drastischen eingeladen wurde.

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heit. Gesund, so Rosenkranz in seiner sthetik des H lichen, ist der Genuss des H sslichen, wenn das H liche in der Totalit t eines Kunstwerks sich als eine relative Notwendigkeit rechtfertigt und durch die Gegenwirkung des Sch nen aufgehoben wird. 19 Mit nur ein bisschen andern Worten lie e eine solche Vers hnungssthetik, die das Singul re auszul schen versucht, sich auch formalistisch formulieren. Genossen wird hier nicht das H ssliche, sondern das Ereignis seines Verschwindens im Zusammenhang. Genossen wird nicht Drastik, sondern der Nachvollzug ihres referenziellen Bedeutens oder ihres Bedeutens in den Verflechtungen der Struktur. Krank hingegen, f hrt Rosenkranz an dieser Stelle weiter aus, ist jeder, der sich am H sslichen selbst weidet , um die abgestumpften Nerven aufzukitzeln . Winfried Menninghaus erfasst die Konsequenz der hier zum Einsatz kommenden Logik sehr genau, wenn er diese Art von sthetik als sthetische Theodizee des H lichen kritisiert und ihr bescheinigt, sie verlange vom Ekel seine reflektierte Selbstaufhebung in Satire und Karikatur , eine Selbstannihilierung durch Funktionalisierung . Nur als semantisierter Ekel sei der A ekt noch zugelassen, in der Groteske, der Dystopie oder als Element des Komischen.20 Das ,gute Werk wird als Totalit t vor seinen ,b sen Motiven gerettet. So aber erfahren und genie en wir tats chlich nur die Lesbarkeit des drastischen Bildes und unser Verm gen, es zu lesen. Der Ekel verliert auf diese Weise laut Menninghaus die Qualit ten des realen, nicht-semantisierten ,blo en Ekels 21 und tauge nicht mehr zur Erkl rung, warum wir das Ekelgef hl selbst genie en k nnen. Menninghaus Kritik an einer sthetik, die als Theodizee betrieben wird, um der Intensit t und Selbstbez glichkeit der A ekte von vornherein aus dem Wege zu gehen, nimmt eine ltere Kritik Karl Heinz Bohrers wieder auf, die sich gegen jede moralische Einf rbung sthetischer Erl uterungen richtete. Auch Menninghaus Unterscheidung zwischen semantisierten und nicht-semantisierten literarischen Ekel-Motiven ist strukturanalog zu Bohrers Unterscheidung zwischen einer b sen Literatur, die ihre schwarzen Bilder gegen alle Versuche der dialektischen Aneignung oder moralischen Auslegung abschirmt, und einer moralistischen Literatur, die das B se semantisch so organisiert, dass es nur noch als allegorischer Verweis auf ein gegebenes politisch-moralisch B ses zur Geltung kommt und eben dadurch seine Brisanz verliert. sthetisch relevant bleibt das b se Bild f r Bohrer aber ausschlie lich dort, wo man es in seinem pl tzlichen Erscheinen, in seiner nicht-semantisierten Anschaulichkeit als schweigendes Bild ohne verweisenden Symbolwert pr sentiert, wo sein B ses also nicht kassiert wird, sein R tselcharakter sich erh lt.22 Moras Konzeptualisierung von drastischer Literatur als Genre der bertragung von Emp rung auf den Leser scheint mir in der Traditionslinie der 19 20 21 22

Rosenkranz, sthetik des H lichen (Anm. 16), S. 48. Menninghaus, Ekel (Anm. 9), S. 72, 216. Menninghaus, Ekel (Anm. 9), S. 72. Bohrer, Die permanente Theodizee (Anm. 6), S. 123, 144. Daths Erz hler f hrt den Genuss von Drastik ebenfalls auf die seltsam isolierten R tselbilder zur ck, die Drastik uns gibt. Den R tselcharakter verdanken die Bilder, die Bedeutung haben, ohne Sinn transpor-

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von Menninghaus und Bohrer kritisierten Funktionalisierungen zu stehen, die f r die polizeiliche sthetik eben deshalb nie wirklich ein Problem darstellen, weil zusammen mit der Drastik stets auch die abgel sten Teile wieder in die Ordnung des Erz hlens eingehegt werden. Wer aber Drastik ernsthaft mag, so lautet die Gegenthese, die ich lancieren m chte, der mag auch Singularit t. Oder mit den Worten des Kritikers Dath: Vergessen Sie s es geht hier nicht ums Erz hlen, sondern um die Einzelheiten. 23 Der ein wenig fetischistische Witz der Drastikliebe besteht in der Bereitschaft, jeden Zusammenhang jederzeit f r eine spektakul re Einzelheit aufzugeben und diese dann vor der Semantisierung zu besch tzen. Die Unterscheidungen, die Menninghaus und Bohrer tre en, kehren zusammen mit dem Streit um diese Unterscheidungen auf dem Feld der Kulturindustrie wieder, z.B. in der Diskussion ber die Binnendi erenzierung zwischen metaphorischem (= semantisierbarem) Horror lm und nicht-metaphorischem (= nicht-semantisierbarem) Torture Porn. Er verstehe Torture Porn nicht, gab der Horror-Regisseur George A. Romero zu wissen. Den Filmen fehle die Metapher .24 Romero will Filme nicht verstehen, die zun chst einmal nichts zu verstehen, aber Unfassbares zu sehen geben. Wie bei Bohrer ist bei Romero die Di erenz, die das Urteil begr ndet, objektivistisch gedacht, als ein in den Werken bzw. den Genres selbst angelegter Unterschied. Man kann am Werk auf ihn zeigen. Auf diese Weise bekommen wir ein Kriterium an die Hand, um gute von schlechten Arbeiten, gute von schlechten Genres zu unterscheiden, egal auf welcher Seite der Barrikade wir uns be nden. Der verwerfende bergri des Rezipienten aber, seine demonstrative Gleichg ltigkeit gegen jede vermeintlich vom Werk oder vom Genre verlangte bzw. tats chlich von ihm angeregte Rezeptionsweise (gegen die Metapher also), ist hier nicht ber cksichtigt. Das ist kein Zufall. Die Werk sthetik kann diesen bergri , den nichts an der Werkgestalt selbst legitimiert, nur als eine ignorante und den Werken gegen ber unangemessene Praxis denken, die sthetische Erfahrung berdies unzul ssig verendlicht und deshalb der Aufmerksamkeit nicht wert ist. Hier nun scheint mir die in Daths Die salzwei en Augen formulierte These bedeutsam zu werden, gute Drastik m sse buchst blich sein.25 Wie bereits bei Menninghaus26 manifestiert der Terminus Buchst blichkeit sich bei Dath als Aviso gegen die Annihilierung von Drastik durch Funktionalisierung. Er richtet sich zu-

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tieren zu m ssen, ihrer sich dem Verstehen widersetzenden Buchst blichkeit. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 3), S. 163. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 3), S. 154. Zit. nach Katrina Onstad, Horror Auteur is unfinished with the undead , in: New York Times (10. 2. 2008), unter: http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=9C00E2D812 31F933A25751C0A96E9C8B63 (zuletzt aufgerufen: 3.7. 2016). Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 3), S. 17. Menninghaus unterscheidet lizensierten Zeichen-Ekel von crudem (Lessing) Ekel, der nicht von der Bedeutungsintention eingeklammert ist, sondern durch eine Ausstellung blo er Faktizit t bewirkt wird, die die Grenzen unserer Belastbarkeit austestet. Menninghaus, Ekel (Anm. 9), S. 72.

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gleich gegen K nstler, die ihren Arbeiten zwar das Label des Drastischen aufkleben ohne dann aber zu liefern. Drastik bedeutet in dieser Traditionslinie, dass der verf gende Blick des Betrachters wirklich dem Risiko ausgesetzt wird, seiner Verm gen beraubt und aus dem Bild verbannt zu werden. In Daths Emphatik der Buchst blichkeit kehrt an unerwarteter Stelle (und nun ins Positive gewendet) der Vorwurf des Literalismus wieder, den Michael Fried, einer der wichtigsten formalistischen Kritiker, gegen die Kunstwerke des Minimalismus erhoben hat. Diese Werke entwickelten eine ganz und gar problematische Form exaltierter B hnenpr senz , weil ihre Materialien nur sich selbst repr sentierten und bezeichneten, weil sie auf nichts verwiesen als auf sich selbst: Sie sind, was sie sind, mehr nicht. 27 Dies aber macht f r Fried die schlechte Theatralit t dieser Arbeiten aus. Sie scheinen ihm ebenso hohl wie anma end zu sein. Tony Smiths minimalistischer W rfel etwa ist f r Fried wegen seiner Buchst blichkeit ein schlechtes Kunstwerk, eine schlechte Skulptur: Wie Judds spezi sche Formen und Morris ,Gestalten und einheitliche Formen ist auch Smiths W rfel immer noch interessant, man hat bei ihm nie das Gef hl, zum Ende gekommen zu sein, er ist unersch pflich. Er ist jedoch nicht durch eine F lle unersch pflich das w re die Unersch pflichkeit der Kunst , sondern weil nichts da ist, was ersch pft werden k nnte.28 Der W rfel werde vorgezeigt und zeige sich in seiner Buchst blichkeit als W rfel. Mehr nicht. F r Fried ist er eine als Totalit t verkleidete Singularit t, die immer nur sage: Ich bin ein W rfel.29 Der Rezipient, der in seiner literalistischen Sensibilit t von ihm angesprochen werde, k nne nun zwar unendlich auf diese Singularit t projizieren, aber nichts am Werk selbst verm ge seine Projektionen zu st tzen, weil es hier gar keine Teile mehr gebe, die man zueinander in ein Verh ltnis des Zusammenhangs setzen k nnte.30 An die Stelle des alle Bedeutungen in sich ver27 Vgl. Michael Fried, Kunst und Objekthaftigkeit (1967), aus dem Englischen bersetzt von Christoph Hollender, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Perspektive, Dresden: Philo Verlagsgesellschaft 21998, S. 334-374, hier S. 345, 362. 28 Fried, Kunst und Objekthaftigkeit (Anm. 27), S. 363. Anders als Fried begr te Barthes den Versuch von Minimalismus und Pop-Art, das Objekt zu entsymbolisieren, ihm die Mattheit und stumpfe Hartn ckigkeit einer Tatsache zu verleihen. Diese Objekte verk rperten den Begriff des Faktischen : Sie bedeuten, da sie nichts bedeuten. Roland Barthes, Die Kunst, diese alte Sache , in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays, Bd. 3 (1982), aus dem Franz sischen bersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 207-215, hier S. 210 f. 29 Auch f r Daths Erz hler ist der drastische Moment dadurch charakterisiert, dass er sich selbst gen gt . Die Beschr nkung der Drastik auf eine Buchst blichkeit kruder Faktizit t, die nur auf sich selbst verweist, verbindet sich f r ihn mit dem Ehrgeiz, einen reinen Akt in die Welt hineinzutragen, den so schnell niemand nach[macht] . Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 3), S. 19, S. 25. 30 Vgl. Fried, Kunst und Objekthaftigkeit (Anm. 27), S. 364.

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sammelnden und f r einen kontemplativen Betrachter gegenw rtig haltenden Werkzusammenhangs, wie er aus Frieds Sicht exemplarisch von der Kunst des Modernismus hervorgebracht worden war, tritt im Pop-Zeitalter ein blo interessantes Objekt, das von einem bergri gen Rezipienten in Gebrauch genommen werde, der beim Projizieren nichts ber das theatralische Objekt erfahre, sondern es zum blo en Anlass f r Assoziationsr usche und Selbstbespiegelungen mache. Ich halte Frieds Beschreibung der Begegnung mit einem minimalistischen Objekt schon deshalb f r falsch, weil ich seine Annahmen nicht teile, das Objekt des W rfels sei unabh ngig von den Bez gen zum Raum, in dem es sich be ndet, bereits das minimalistische ,Werk und die Bedeutungen k nstlerischer Arbeiten seien in der Werkgestalt aufbewahrt, wo sie gegenw rtig blieben. Fried rei t hier mit dem W rfel selbst ein Teil aus seinem ortsspezi schen Zusammenhang. Die irgendwie gespenstische Wiederkehr seines Literalismuseinwands in der Drastikreflexion Daths aber interessiert mich, weil in beiden F llen der Begri der Buchst blichkeit einerseits einen Kontext allegorischer bzw. formalistischer Lekt ren herbeiruft und andererseits die Idee von einem ,Werk problematisiert, das erst als komponiertes Ganzes Bedeutsamkeit reklamieren kann. Gegen den Bedeutsamkeits berschuss des ,Werkes bringt Daths Roman einen Begri von Drastik in Stellung, der ganz auf den Minimalismus der Buchst blichkeit setzt: Kauen, Schlucken, Ekel, Genauigkeit, Lust. 31 Es ist, was es ist. Mehr nicht. Endlich mal nicht mehr. Dem Misstrauen Daths gegen Arbeiten, die nicht aus der Kulturindustrie hervorgegangen sind, ist nicht durch einen Hinweis auf auch in der Kunstgeschichte aufzu ndende rhetorische Verfahren abzuhelfen, denen die Funktion zukommt, Buchst blichkeit in Szene zu setzen. Frieds u erungen geben in ihrer Steilheit vielmehr zu erkennen, dass es das schwere Zeichen ,Kunst selbst ist, was die begehrte Buchst blichkeit unterl uft und eine Arbeit fast unvermeidbar mit dem Index des Metaphorischen, Sichbersteigenden und Auszulegenden versieht. Ein Programm der Buchst blichkeit geht aber ber Kunstreflexion hinaus, veranlasst zu anderen Reflexionen, die beispielsweise den unterschiedlichen Erfahrungsformen gelten k nnen, die von einem ,Werk oder Artefakt (Kunst oder nicht) erm glicht werden. Oder sie gelten der Ursache von Vitalemp ndungen. Es ist n mlich gar nicht ausgemacht, was mich erregt, wenn etwas Drastisches mich erregt, das ohne allegorisches Surplus auskommt. Buchst blichkeit ist ja ebenfalls der E ekt einer syntaktischen Organisation, E ekt einer Darstellungsweise. Buchst blichkeit ist ein Genauigkeitse ekt, das Resultat der Inszenierung einer unwahrscheinlichen und unwahrscheinlich expliziten Selbstdarstellung der Welttatsachen. Der Genuss des Drastikfans scheint mir an diesen E ekt gebunden zu sein. Drastik konfrontiert mit neuen Welttatsachen, die nur sie zu sehen geben kann. Das Wirkungspotenzial einer ereignishaften Lage wird im drastischen ,Werk durch detailreiche Darstellung gesteigert und auf diese Weise berhaupt erst realisiert. Menninghaus zitiert eine pr zise Bemerkung von Johann Elias Schlegel, der den Grad des bewirkten Ekels von der Genauigkeit der Zergliederung ekelhafter Objekte in der Darstellung abh ngig 31 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 3), S. 19.

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macht, was an Daths Hinweis auf die hohe Reizpackungsdichte des drastischen Augenblicks denken l sst, der uns durch unrealistischen Datenreichtum berw ltige.32 Explizitheit wird von Schlegel als Aufmerksamkeits-Catcher verstanden, da sie real m gliche Wahrnehmung suggestiv berbietet. In seiner Abhandlung von der Nachahmung schreibt er ber den Ekel: Er wird lange nicht so sehr durch den Anblick einer ekelhaften Sache, als durch eine vollst ndige Erz hlung erwecket. Und ich bekenne, da ich viel lieber ein recht h liches altes Weib sehen, als eine recht ausf hrliche Schilderey davon lesen will. 33 Nicht das Dargestellte an sich, sondern das Dargestellte im Modus eines spezi schen, sich n mlich deutlich, extensiv und detailreich entfaltenden Dargestelltseins, im Modus der vollst ndigen Erz hlung, wird hier als das wirkende Moment erl utert. Die Schilderey ist die in die Zeitlichkeit der Narration versetzte Zusammenschau eines Bildes, das die Natur nicht malen k nnte. Die Deutlichkeit, die auch Dath f r das drastische Werk einfordert, meint o enbar nicht Verst ndlichkeit oder Klarheit oder Realismus, sondern einen die Vorstellungskraft agitierenden rhetorischen E ekt berrealer Visualisierung, den etwa der Film durch die Produktion spezi sch lmischer R ume und seltsam kompletter Bilder bewirkt. ,Graphic ist das englische Wort f r drastische Formen des Expliziten. Das drastische Objekt ist ein im Dienste der A ekterregung stehendes und deshalb mit den Mitteln des jeweiligen Mediums f r die Anschauung perspektiviertes Objekt, das dank seiner Neuheit den Formverbund sprengt. Uns wird etwas vor Augen gestellt, was wir real so gar nicht sehen k nnten, was aber durch die uns involvierende Evidenz seines So ist es! die leiblichen Emotionen nur noch verst rkt. Gegeben wird uns das ,Reale einer unm glichen Anschauung. Der Eindruck, den es macht, kann so stark sein, das der Zusammenhang, aus dem es hervorgeht, in den Hintergrund unseres Bewusstseins tritt und nur noch dieses ,Reale die Wahrnehmung besetzt. Alexander Garc a D ttmann spricht im Zusammenhang mit dem Horror lm davon, dass gerade die unwahrscheinliche bertreibung des Expliziten den Betrachter nicht etwa distanziere, sondern an jene Grenze zwischen Schein und Scheinlosigkeit treibe, an der er dem Schein erliegt. 34 Das Bewusstsein des Scheins erlischt, die Distanz geht verloren, die hermeneutische Beziehung wird abgebrochen, das Werk zerbricht, der Magen revoltiert, der Blick wendet sich ab.35 Im emphatischen Sinne l sst sich so etwas nur einmal an demselben Objekt erleben. 32 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 3), S. 72. 33 Zit. nach Menninghaus, Ekel (Anm. 9), S. 69. 34 Alexander Garc a D ttmann, Teilnahme. Bewusstsein des Scheins, Konstanz-Paderborn: Konstanz University Press 2011, S. 21. 35 Als Hediger ber die Abwendung des Blicks im Kino nachdachte, hat er sein Thema sehr gl cklich gew hlt. Die Austreibung des Blicks aus dem Bild als spezifisches Verm gen des Films zu beschreiben, bricht auf berraschende Weise mit den hermeneutischen Traditionen, die s mtlich eine Kontinuit t der Hinwendung zum sthetischen Objekt voraussetzen. Den Ausstieg aus der Begegnung mit dem ,Werk als eine Form des Gelingens von Begegnung zu erl utern, er ffnet ein posthermeneutisches Verst ndnis von Kunsterfahrung und konturiert zugleich den durchhaltenden Blick und das problematische Verm gen zum kon-

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Wenn wir bei einer weiteren Begegnung mit diesem Objekt erneut den Blick von ihm abwenden, reagieren wir bereits mit einer Wiederholung, die nicht allein dem Objekt gilt, sondern auch der ersten Begegnung mit ihm, die in der Wiederholung aufgehoben bleibt. Etwas genauer noch als D ttmann charakterisiert Menninghaus das Erliegen an der Grenze als Kollaps der Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit . Die medial bewirkte Indi erenz lasse die Unterscheidung von ,Wirklichkeit und ,Nachahmung implodieren. 36 Mit dem Ausfall des Scheinbewusstseins wird dem Verm gen zur Distanzierung und damit der sthetischen Erfahrung der Boden entzogen. In diesem Augenblick muss der Rezipient glauben, was er erf hrt. Er kann nicht anders. Die Sensibilit t des Drastikliebhabers identi ziert den Moment des Wegbrechens der Kategorien als den Moment des Genusses. Genossen wird diese Situation jetzt (zu der die Desorientierung, die eigenen Vitalemp ndungen, das Aushalten und das Nichtmehrertragenk nnen ebenso geh ren wie die Wahrnehmung des Verhaltens der in den Kollaps gest rzten anderen Leute). Der sich in der drastischen Erfahrung ereignende Sturz des Urteilssystems setzt einen alles vorg ngige Wissen abschattenden starken Glauben an das frei, was sich gerade der Anschauung darbietet. Es handelt sich dabei nicht um Badious Passion des Realen , die eine des wirklichsten Wirklichen w re, sondern um eine Passion des Glaubens als eines Glauben-M ssens mitten im Ereignis des Kollapses.37 F r eine sthetik in der Traditionslinie Kants ist ein Genuss im Kollaps oder ein Genie en des Kollapses nicht vorstellbar. Freiheit macht auch hier arm: wer auf das sthetische Subjekt besteht, verpasst den Kick der Desorientierung. Im Kollaps des Urteilssystems wird nach Kants Verst ndnis die k nstliche Vorstellung des Gegenstandes von der Natur dieses Gegenstandes selbst in unserer Emp ndung nicht mehr unterschieden, und jene kann alsdann unm glich f r sch n gehalten werden. 38 tinuierlichen Nachvollzug als Themen, die von zeitgen ssischer Kunst verhandelt werden. Vgl. Hediger, Das Sichtbare und das Sehbare (Anm. 4), S. 139. 36 Menninghaus, Ekel (Anm. 9), S. 63, 66. 37 Gertrud Koch erl utert den Kollaps der Unterscheidungskunst in der Konfrontation mit filmischen Illusionen (einschlie lich der Illusion von Bewegung) als eine Chance, das Alsob der Fiktion mit jener Ernsthaftigkeit zu versehen, die dem Rezipienten eine Erfahrung mit Erscheinungen berhaupt erst erm glicht. Die drastische Erfahrung erinnert uns an das Potenzial jeder illusionistischen oder fiktionalen Kunst: In ihrem Banne m ssen wir etwas glauben oder auf die Erfahrung verzichten. Die filmische Illusion zwingt mir im Glauben an das in ihr Erscheinende kein (Fehl )Urteil ber die empirische Welt auf, sondern setzt ein Verh ltnis, in dem ich mich zum Gegenstand, wie er erscheint, also zur Weise seines Erscheinens verhalten muss. Die Illusion ist in ihrer Gesamtheit weder pr reflexiv, noch setzt sie ein Nicht-Wissen voraus, um t uschen zu k nnen. Die sthetische Illusion will nur in ihrem Erscheinen geglaubt werden. Gertrud Koch, M ssen wir glauben, was wir sehen? Zur filmischen Illusions sthetik , in: dies. und Christiane Voss (Hrsg.): kraft der Illusion, M nchen: Fink 2006, S. 53-69, hier S. 53. 38 Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: ders., KGS 5 (Anm. 1), S. 312. Erst die Romantik gewann aus dem ereignishaften Verlust der Unterscheidungsf higkeit so etwas wie eine sthetik des Grauens und mit ihr einen Zugang zur Lust am Kollaps. Vgl. Manfred Schnei-

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Dieses f r die sthetik repr sentative Urteil hat normativen Charakter. Man kann dies auch daran erkennen, dass sthetik anders als die Hermeneutik meist mit der impliziten Annahme eines sich nur einmalig ereignenden Rezeptionsvorgangs arbeitet und dabei unterschl gt, dass nach Verpu en des drastischen E ekts dasselbe Werk sich in einem zweiten oder dritten Durchgang jeweils anders darstellt und anders befragen l sst. (Tats chlich sind Drastikfans in der Regel zugleich Genie er des Kollapses und kenntnisreiche Meister im Darlegen feiner und feinster Werkbez ge.) Diese Option wiederholter, unterschiedlicher und einander beeinflussender Rezeptionsg nge bleibt unerw hnt, weil der Distanzverlust grunds tzlich nie sein soll. Er hat den Status eines privaten Lasters. Zwischen der Lust des Drastikers, die sich gerade dort einstellt, wo Leib und Seele panisch auf die Empndung reagieren, dass jetzt nichts mehr ,klar ist, und der Unlust des Philosophen, der die Lust an das Erleben der eigenen unbedr ngten Verstandeskr fte koppelt (dies ist ja Kants Vorstellung von sthetischer Erfahrung), stehen einerseits o enbar sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dem Kontrollverlust. Zum anderen und durchaus damit zusammenh ngend kommen hier unterschiedliche Vorstellungen davon zur Geltung, wie sich auf eine drastische Erfahrung berhaupt reagieren l sst. Kant argumentiert wie die meisten Repr sentanten der Werk sthetik universalistisch, Drastikapologeten wie Dath hingegen reflektieren und adressieren eine spezi sche Erfahrung von Leuten aus jugend- und gegenkulturellen Teil entlichkeiten. Diese Leute k nnen sich o enbar selbst nicht so recht auf einen Nenner bringen und greifen auch deshalb auf die Instruktionen des Drastischen zur ck. In der universalistischen und in der subkulturalistischen Argumentation kommt der Distanz ein jeweils anderer Status zu, was zum einen Folgen hat f r die jeweilige Konzeptualisierung von Werk und Betrachter, zum anderen die Frage betri t, wie die Temporalit t von leiblichem A ziertsein und Reflexion zu denken ist. Ich komme deshalb noch einmal auf den Begri der Distanz zur ck, um den wohl jede Drastikdiskussion sich in der einen oder anderen Weise lagert. Wenn D ttmann sagt, der Rezipient erliege an der Grenze , dann weist er damit auf die basalen Funktionen von Distanzierung hin: Grenzsicherung und Grenzetablierung. Grenzen de nieren Einheiten. Die Haut als Grenze de niert die Einheit meines Leibes und zugleich andere Leiber als die Einheiten anderer Leiber. In der sthetik de niert und trennt Distanz die Einheit des Werkes und die Einheit des Subjekts, das dem Werk gegen bertritt. Das Objekt wird betrachtet, das Subjekt ist Instanz der Betrachtung. Sein pleasure ist von einem Blick abh ngig, der das Feld des Sehens beherrscht. Es kennt nicht die Faszination, die von Dingen ausgeht, die sich nicht anschauen lassen. Und lernt es sie kennen, so will es ihr auf keinen Fall nachgeben. Es mag nicht einmal beim Betrachten betrachtet und damit selbst zum Objekt von Blicken werden. In der Begegnung mit Objekten der Kunst gilt f r dieses Subjekt eine Logik der Ann herung durch Distanz: Die ideale Disder, Das Grauen der Beobachter. Schriften und Bilder des Wahnsinns , in: Gerhard Neumann und G nter Oesterle (Hrsg.): Bild und Schrift in der Romantik, W rzburg: K nigshausen & Neumann 1999, S. 237-253, hier S. 248.

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tanz (gewonnen etwa durch Freiheit von den Zw ngen des Pragmas) r ckt dem Betrachter das Objekt als sthetisches nahe, als Spiel von Erscheinungen, in die er sich, selbst unbeobachtet vom Beobachteten, versenken kann, um dabei das Spiel seiner Verstandeskr fte zu genie en. Nicht nur im Idealismus, sondern auch in allen formalistischen und modernistischen sthetiken ist Distanz die M glichkeitsbedingung von Kontemplation und Formerfahrung. In welchem Ausma e sie es ist, l sst Michael Frieds Kategorie der Absorption erahnen, die es zum Qualit tsmerkmal von Kunst erkl rt, wenn diese so organisiert ist, dass sie dem Betrachter keinerlei Schwierigkeiten bereitet, in einem ideal ausbalancierten Wahrnehmungszustand zu verbleiben, den Fried als perfect trance of involvement charakterisiert.39 Die Bilder, die Fried privilegiert, vermeiden ein Zusammentre en der Blicke von Figur und Betrachter, weil bei ihrer Gestaltung darauf geachtet wurde, dass die versunkenen Blicke der Figuren nie den Bildraum verlassen. Die Figur im Bild und der Betrachter vor dem Bild existieren in keiner gemeinsamen Welt. Der Betrachter wird, w hrend er blickt, nie von einem Blick ergri en, der ihn in die andere Welt hineinziehen k nnte (eine Regel brigens, an die auch das HollywoodKino des Ton lms sich h lt, w hrend der Stumm lm nach den Ma st ben Frieds eben deshalb schlecht und theatralisch ist, weil die Figuren dort eine unangemessene Pr senz und Subjekthaftigkeit bekommen, wenn sie uns direkt anschauen, um uns all das zu vermitteln, was sie halt nicht sagen k nnen). Fried hat diese Linie sp ter noch weiter ausgezogen, als er bei Gelegenheit des uvres von Je Wall zur Beurteilung von Fotogra en das Kriterium einer to-be-seenness heranzog, die den Betrachter nicht konfrontiere, sondern sich vielmehr diskret seinem souver nen Betrachten anbiete.40 Die von Adorno politisierte Autonomie des Kunstwerks h ngt hier, wo der Modernismus in der Feier des m nnlichen Blicks ganz bei sich selbst ist, v llig am Grenzrespekt. Das sthetische Objekt hat durch Selbstbegrenzung zu gew hrleisten, dass der Rezipient sich ihm ungest rt als sthetisches Subjekt n hern kann. Die Grenze de niert Werk und Betrachter nicht nur quantitativ als Einheiten (die Gestalt dieses Tafelbildes, dieses Romans, dieser Skulptur, dieses Kunstwerks, dieses Betrachters), sondern auch qualitativ: das eine als Tafelbild, Roman, Skulptur, als Kunstwerk (und nicht als etwas anderes, was es au erdem noch sein mag, Ware zum Beispiel), und den anderen als sthetischen Betrachter (und nicht als H ndler, Auktionator, zerstreuten Passanten oder beobachteten Teilnehmer). Und wie sehr die Avantgarden sich an diesem Modell auch abgearbeitet haben, Schocks propagierten und vierte W nde noch und noch einrissen: Wo die Distanz auf der Ebene der Darstellung eingezogen wurde, kehrte sie sp testens ber die Ebene der Kommentarbed rftigkeit des avantgardistischen Werkes wieder in die Kunst zu-

39 Michael Fried, Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago: Chicago University Press 1980, S. 103. 40 Vgl. Michael Fried, Why Photography Matters as Art as Never Before, London-New Haven: Yale University Press 2008, S. 35, 50, 59, 91.

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r ck.41 Wo das Gef hl, in Distanz rezipieren zu k nnen, vom Kunstwerk gezielt angegri en wurde, da geschah dies stets unter Berufung auf die objektive Distanz, die Kunsthandeln von Welthandeln unterscheidbar macht. Der Distanz-Diskurs ist in den westlichen sthetiken von erstaunlicher Persistenz und modelliert nach wie vor den hegemonialen Geschmack, gegen den das Drastische interveniert, das deshalb nicht nur Blicke, sondern Aug pfel aus dem Bildraum schleudert, die auf nichts verweisen als auf sich selbst. Drastik wird dort zur Praxis gegen das Kunstparadigma, wo sie den Betrachter in den Sturz des Urteilssystems hineinrei t und zu erkennen gibt, dass sie selbst nicht mehr genau wei , was ein Kunstwerk ist oder wo die Grenzen zur Nicht-Kunst verlaufen. Mit der Attacke gegen die quantitative Begrenzung des Werkes zielt sie auch auf die qualitativen Bestimmungen. Kunstwerke, die sich nicht zu einem Zusammenhang schlie en, der die vollst ndig aus dem Medium hervorgegangene ,Welt gegen die Welt des Betrachters abgrenzt, werden von Fried als theatralisch kritisiert. Wie im Theater, das Fried nicht mag, verwandele sich die sthetische Distanz vor ihnen in ein Verh ltnis voyeuristischen Konsumierens, das Bedeutungshafte verkomme zum Interessanten. Und so wie im Theater deshalb mag Fried es nicht die theatralischen Zeichen auf uneindeutige Weise mit dem Realen verklebt sind, mit den K rpern der Darsteller und den Requisiten (man hat es nie nur mit Lear zu tun, sondern leider immer auch mit dem Menschen, der ihn spielt), steht der ber hrende, theatralische Blick aus dem Bild heraus f r den unzul ssigen Versuch, das Reale in die syntaktische Einheit des Werkes hineinzutragen. Den Blick des Kunstwerks als einen theatralischen zu erfahren, bedeutet f r Fried: die Zumutung zu erleiden, mit dem Realen der Anschauung auf ihn reagieren zu m ssen, ihn wie einen wirklichen Blick zu erleben, dessen Ber hrung eine Antwort verlangt und eben deshalb das Bild als Bild, als einen zweidimensionalen Integrationszusammenhang, aus dem Blick geraten l sst. Die Kr nkung besteht darin, dass im Banne des Erblicktseins der vormals souver ne Rezipient aller Medienspezi k zum Trotz glauben muss, obwohl er es besser wei . Drastik ist immer theatralisch. Sie ist dank ihrer Wirksamkeit unaufl slich verbunden mit einer vor aller Semantisierung existierenden Welt des Fleisches.

41 Selbst dort, wo die sthetische Distanz als eine voyeuristische kritisiert wird, wie etwa bei Cavell, wird sie mit melancholischer Geste neu etabliert. So fordert Cavell unter dem Eindruck der Umbr che am Ende der 60er Jahre vom Theaterzuschauer zwar eine maximale Identifikation mit dem Dargestellten (und eine diesem Zweck dienende Ausblendung der Darstellungsebene), aber nur deshalb, um ihm die M glichkeit zu er ffnen, in der anerkennenden leiblichen Verwicklung in das Leid der anderen zugleich die existentielle Distanz zu erfahren, die ihn von diesen anderen trennt und die es f r Cavell zu politisieren gilt. Vgl. Stanley Cavell, The Avoidance of Love: A Reading of King Lear , in: ders.: Must we mean what we say? A Book of Essays, Cambridge: Cambridge University Press 1969, S. 267-353, hier S. 334. Vgl. dazu Juliane Rebentisch, sthetik der Installation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 30.

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4. Rezipienten, die nicht mehr k nnen Werk sthetischen Konzepten ist gemeinsam, dass sie mehr oder weniger stark davon ausgehen, die Bedeutungen seien einem Werk immanent und blieben ewig in ihm gegenw rtig. Gegenw rtigkeit ist Gnade. 42 Vom Betrachter jeder Epoche kann die Gnade im geduldigen Nachvollzug der Totalit t des Werkes erfahren werden. Er muss nur gelernt haben, warten zu k nnen. Die Bedeutungen sind immer schon da, im Formzusammenhang, auch ohne ihn. Bildung gleich warten k nnen , lautet eine ber hmte Formel Adornos.43 Und in der sthetischen Theorie erl utert Adorno seine Vorstellung vom gebildeten Rezipienten noch instruktiver: Das sthetisch distanzierte Verh ltnis setze den Betrachter als empirisch-psychologische Person zugunsten seines Verh ltnisses zur Sache au er Aktion. 44 Indem der Betrachter sich als in die Empirie verwickelte Person selbst ausschaltet, verwandelt er sich f r Adorno in einen irgendwie fleischlosen Repr sentanten des Allgemeinen. Das ist nun ein Pathos der Hingabe an die Kunst, das sich schlecht vers hnen l sst mit Drastik, die mit dem K rper immer auch die empirisch-psychologische Person tri t und tre en will. Im Vertrauen auf seine Verm gen kann der ideale Rezipient Kants und Adornos es sich leisten zu warten. Auf dem Feld des Streits um den Status der Distanz entwirft die Drastik ihren idealen Rezipienten gegen die Figur des sthetischen Subjekts als eine Figuration des Unverm gens und spricht von der Lust am Unterliegen in der Begegnung mit Kunst. Sie soll mein letzter Punkt sein. Mit den Motiven des Unterliegens, des Kollapses von Schein und Wirklichkeit, des Erliegens an der Grenze und des Distanzverlusts wird eine zum Hauptstrang der sthetik parallel verlaufende Nebenlinie des Nachdenkens ber Kunsterfahrung aufgerufen, deren Positionen vor allem Christoph Menke in den vergangenen Jahren aktualisiert hat. Sie reicht von Platon ber Herder, Kleist und Nietzsche bis in die Moderne und bringt bei der Erkl rung sthetischen Vergn gens gegen den Diskurs der lichten Verm gen des Verstandes dunkle Kr fte in Stellung.45 Als Quellen des Genusses erl utert die Kraft sthetik die in der Kunst zu gewinnenden Erfahrungen, nicht mehr zu verm gen, nicht mehr zu k nnen, t tig zu sein jenseits von Wissen und bung. Sie spricht von der verst renden M glichkeit, die Kunst aufzusuchen, um sich in ihrer Erfahrung zu desorientieren und die Dinge wieder von den Gr nden abgetrennt zu erleben. Demokratischer als die Verm gens sthetik, koppelt die Kraft sthetik Kunsterfahrung von Bildungsvoraussetzungen weitgehend ab, indem sie gerade das Jenseits der Subjektivierung adressiert. ,K nnen kann ja irgendwann jeder und wird dann Abonnent, in der sthetik der Kraft aber

42 43 44 45

Fried, Kunst und Objekthaftigkeit (Anm. 27), S. 366. Theodor W. Adorno Archiv, Notizheft 1943, Ts 51905. Theodor W. Adorno, sthetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 287. Vgl. Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff sthetischer Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.

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ist das Nichtk nnen k nnen 46 die Kunst. Hier bt Erfahrung ins Nichtverm gen ein. Seit Platons Bestimmung des Enthusiasmos als eines Selbstverlusts in der Bewusstlosigkeit variiert die Kraft sthetik den Gedanken, dass mit der Kunst ein Kontrollverlust auf dem Spiel steht. Die Kunsterfahrung wird als Begegnung mit etwas Numinosem erl utert, das sich als bergri g, bewegend und entm chtigend erweist, als physische Kraft. Enthusiasmos sei die auf den Rezipienten bertragene Begeisterung, hei t es bei Platon, die wirke, bis die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt .47 In der Erfahrung von Kunst als Kraft k nnen wir, so Menke im Anschluss an die platonische Tradition, unsere Kr fte erfahren, also die Erfahrung machen, kein Subjekt zu sein, sondern vor- und bersubjektiv zu agieren, mithin menschlich: W hrend Verm gen durch soziale bung erworben werden, haben Menschen bereits Kr fte, bevor sie zu Subjekten abgerichtet werden. 48 Der Satz Ich kann nicht mehr! erscheint vor diesem Hintergrund als keine schlechte Formel, um den Durchgang durch eine drastische (oder auch komische) Erfahrung zu beschreiben und den Zustand darzulegen, der genossen wird. Zugleich gibt er einen Hinweis auf die Quelle des Genusses: In der Begegnung mit Drastik berlassen wir uns einem Tanz von Kraft, in dem wir weder f hren k nnen noch wollen. Wenn wir aus der Begegnung aussteigen, weil wir nicht mehr k nnen, dann ist auch dies noch Teil der Erfahrung und nicht etwa ihre Unterbrechung. Das Nicht-mehr-Hinsehen im Kino geh rt zum Prozess der Filmerfahrung dazu; wir h ren in diesem Augenblick nicht auf, uns zur Kinosituation zu verhalten. Weil aber die Distanz jene Eigenschaft hat, die Barthes dem schelmischen Sinn attestiert er steige zum Fenster wieder ein, wenn man ihn aus dem Haus gejagt habe49 , h ngt dieser Genuss des Drastischen vollst ndig davon ab, in eine Experimentalsituation integriert zu sein. Er ist also von einer Distanzierung abh ngig. Der Kollaps l sst sich nur an einem gesch tzten Ort genie en. Drastische Erfahrungen sind provozierte Erfahrungen, und zwar einerseits mit Drastik, andererseits mit illegitimem Kunstgebrauch. Der Kollaps ist wirklich, die Drastiksituation aber ist als Experiment eingeklammert. Deshalb weist Dath explizit auf die Medienpraktiken des Vor- und Zur ckspulens hin, die anzeigen, dass jemand seine Reizobjekte aktiv aufsucht.50 Dieses Aufsuchen oder auch Produzieren der Objekte begr ndet einen Kontrakt, der das Unterliegen rahmt und ein integraler Bestandteil der Prozessualit t des Genusses ist. Laut Menninghaus resultiert Ekel lebensweltlich aus der Erfahrung einer N he, die nicht gewollt ist. 51 Drastikkonsum bedeutet als Kontrakt mit der Kunst das Wollen einer a ekterre46 Menke, Kraft (Anm. 45), S. 110 ff. 47 Platon, Ion, 534b, bersetzt von Friedrich Schleiermacher, in: ders., S mtliche Werke, herausgegeben von Karlheinz H lser, Frankfurt a. M.-Leipzig: Insel 1991, Band 1. 48 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, S. 13. 49 Vgl. Barthes, Die Kunst, diese alte Sache (Anm. 28), S. 211. 50 Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 3), S. 168. 51 Menninghaus, Ekel (Anm. 9), S. 7.

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genden N he, die au erhalb des Experimentes meist nicht gewollt ist, das Wollen des Nichtmehrk nnens, das Wollen des Unterliegens im Kollaps von Schein und Wirklichkeit, das Wollen der Geschmacklosigkeit. Mal geht es dabei um Abh rtung, mal um den Fall ins Bodenlose der Bewusstlosigkeit, mal um Testl ufe f r Erfahrungen mit dem Kontrollversagen, mit Ekellust, Schmerzlust, Ersch pfungslust. Und stets ist die Gefahr des Eskalierens im A ektkrampf, die Gefahr des Vertragsbruchs Teil der Versuchsanordnung und des Genusses.52 In deleuzianischer Terminologie k nnte man den Drastikgenuss ein Experiment mit dem Menschwerden nennen. Eine sthetik kantischer Pr gung kann diesem Genuss nicht die W rde einer Erfahrung zubilligen, weil sie Reizreaktion und Reflexion als zeitlich streng getrennt konzeptualisiert; der zu starke Reiz setzt f r sie die Reflexion notwendig au er Gefecht. Die Reflexion kann hier erst einsetzen, nachdem die Reizreaktion beendet ist, die immer ein Nicht-Verm gen bedeutet. (Unter den Drastikkonsumenten gibt es Fans einer R ckkehr ins archaische Reaktionsgewitter, die das hnlich sehen, nur anders bewerten.) Angeleitet auch von eigener Erfahrung l sst die Temporalit t von Vitalemp ndung und Reflexion sich jedoch anders denken, als rascher und dynamischer Wechsel zwischen beiden Polen n mlich, ein best ndiges Oszillieren zwischen dem Erleben der Emp ndung und ihrer Reflexion, zwischen Nichtk nnen und K nnen, Spiel der Kr fte und Spiel der Verm gen. Samuel Weber hat das Lachen als eine solche Simultaneit t von Vitalemp ndung und Reflexion dargestellt: W hrend wir nachzudenken beginnen, [ ] lachen wir bereits. 53 Wir verm gen zwar nichts gegen das Lachen, h ren aber deshalb nicht mit dem Nachdenken auf. Gerade deshalb nicht. Das Lachen darf sehr wohl als eine Erfahrung gelten. Und es gilt auch, dass wir, w hrend wir w rgen, bereits beim Nachdenken sind. Unwiderstehlichkeit ist keine Reflexionsblockade. Sie l sst nur unseren K rper die Fassung verlieren, was unter gebildeten Leuten vielleicht das eigentliche Geschmacksproblem darstellt. Wenn aber Reaktion und Reflexion einander nicht ausschlie en, wenn die Zeit des A ekts auch eine Zeit der Reflexion ist, dann verlieren alle alarmistischen Wortmeldungen ihre Plausibilit t, die den Drastikkonsumenten als blo es A ektb ndel und wahrscheinlichen Amokl ufer pr sentieren. Die von Drastik veranlassten Reflexionen sind freilich von einer besonderen Art, die sthetik dann doch wieder vor ein Problem stellt: Sie manifestieren sich nicht als immer neu auslegendes Zur ckkommen auf das Werk, sondern als eine vom drastischen Objekt zwar veranlasste, aber nicht notwendig zu ihm zur ckf hrende 52 Vgl. Dirck Linck, ber die M glichkeiten des popkulturellen Vergn gens an drastischen Gegenst nden , in: ders. und Martin V hler (Hrsg.): Grenzen der Katharsis in den modernen K nsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin-New York: De Gruyter 2009, S. 293-322. 53 Samuel Weber, Die Zeit des Lachens , in: Heilloses Lachen. Fragmente zum Witz, herausgegeben vom Wissenschaftlichen Zentrum II f r Psychoanalyse, Psychotherapie und psychosoziale Forschung der Gesamthochschule Kassel, Kassel: Jenior & Pre ler 1994, S. 77-90, hier S. 81.

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Selbstreflexion. Was sagt mir dieser Genuss jetzt ber mich? Was sagen Dir mein Genuss und meine Reflexion des Genusses ber mich? Was will ich Dir sagen? Wie wirst Du mich sehen? Was sagt mein Hingucken, was sagt mein Weggucken, ber mich, ber die anderen, die Situation und ber das Objekt, auf das ich reagiere? Der diskursive Status von Daths Briefroman Die salzwei en Augen ergibt sich aus einer Anlage, die es als formale Realisierung genau dieser auf soziale Kommunikation ausgerichteten Reflexionsform erscheinen l sst, die Werkauslegung st ndig in Selbstauslegung umschlagen l sst und von der provozierten Erfahrung zwar ausgeht, sie dann aber neuen gesellschaftlichen Zusammenh ngen integriert. Drastikfans agieren als empirisch-psychologische Individuen, weshalb die berf hrung von Erfahrung in Selbstreflexion f r sie kein gr eres Problem darstellt, zumal sie ja im Anschluss an die drastische Erfahrung immer auch noch etwas ber Geschichte, Kontexte und viele zauberhafte formale Eigenschaften der Objekte zu sagen wissen, von denen sie sich austesten lie en. Die berf hrung von Erfahrung in Selbstreflexion w re auch f r die sthetik kein gro es Problem mehr, wenn sie sich nur endlich erfahrungs sthetisch informieren lie e. Die Philosophin Juliane Rebentisch hat darauf hingewiesen, dass die Kunst der letzten Jahrzehnte ihre Kontur gerade dadurch gewann, dass sie den Betrachter st ndig explizit als empirischpsychologisches Individuum ansprach. Indem Kunst gesellschaftlich situierte Individuen in ihren unterschiedlichen Subjektpositionen adressiere und mit der gesellschaftlichen Schicht an sich selbst konfrontiere, veranlasse sie die Reflexion der eigenen sozialen und kulturellen Hintergrundannahmen. 54 Diese Reflexion aber ist keine mehr, die das sthetische Objekt nachvollzieht, sondern gilt wesentlich der eigenen Bedeutungsproduktion und der eigenen Position im gro en Geschmacksdispositiv. In ihren Zust ndigkeitsbereich geh rt auch ein neuer Typus von Rezipient, der sich in der Drastik als Mensch zu erfahren lernt und lieber einer tollen Einzelheit unterliegen als ber das Ganze siegen mag.

54 Rebentisch, sthetik der Installation (Anm. 41), S. 284 ff.

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INVERSE DRASTIKER Poststrukturalisten und poststrukturalistische Theorie in Dietmar Daths Die salzwei en Augen

Die Poststrukturalisten sind der nat rliche Feind des Drastikers. So zumindest scheint es in Dietmar Daths Romanessay Die salzwei en Augen mit dem Untertitel Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit. Um nur einige Schm hungen zu zitieren: Michel Foucault und Gilles Deleuze verbreiteten obskurantistische AntiTheorien ,1 Jacques Derrida inspiriere zu dekonstruktivistischem Buddhismus ,2 Jean Baudrillard f hre zu Fundamentalopposition mit St psel im Sch del ,3 so verbreitet es der Verfasser der Briefe, der Kulturjournalist David. Aus diesen ablehnenden Zuschreibungen l sst sich herauslesen, was David, Propagandist des Drastischen, fordert: Anstelle von Anti-Theorie Theorie, und das hei t Vernunft. Statt Buddhisten, die die Welt nur erleiden, w nscht er sich Menschen der Tat, die die Welt aktiv ver ndern. Diese Ver nderung solle nicht durch weltabgewandte Verweigerung entstehen, sondern durch die aktive Mitgestaltung der Erfahrungswirklichkeit. Mit David und seiner Nobilitierung des Drastischen hat der Schriftsteller und Kulturjournalist Dietmar Dath sein Deb t im Suhrkamp Verlag gegeben. Es bildet nicht nur deswegen einen Schl sseltext in Daths Werk.4 Dass er sich in diesem ausgerechnet dem im Untertitel benannten Themenkomplex der Drastik und Deutlichkeit zuwendet, ist kein Zufall, sondern Strategie. Zum einen erschien fast zeitgleich Daths Roman F r immer in Honig 5, der mit drastischen Elementen spielt, sodass die beiden Texte oft gemeinsam rezipiert und rezensiert wurden. Zum anderen ist die Konfrontation von Hoch- und Popul rkultur, die Thema des Romanessays Die salzwei en Augen ist, im Verh ltnis von Verlag und Gegenstand besonders zugespitzt, worauf Uta Degner hingewiesen hat. Suhrkamp sei der Verlag mit dem

1 Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 126. 2 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 49. 3 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 53. 4 Darauf weist Bj rn Vedder hin, f r den Die salzwei en Augen eine esoterische Wende innerhalb von Daths Werk markieren: Vgl. Bj rn Vedder, Eintrag Dath, Dietmar , in: Munzinger Online/KLG Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, unter: http://www.munzinger.de/document/16000000753 (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016). 5 Dietmar Dath, F r immer in Honig, Berlin: Verbrecher Verlag 2005.

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wohl h chsten kulturellen Kapital Deutschlands ,6 was Degner als strukturelles Problem f r Dath ansieht, denn deswegen sei er gezwungen, in seinen Re exionen zur Drastik, also zu niederen Gegenst nden, die Bewertungskriterien hoher Kunst zumindest bis zu einem gewissen Grad anzuerkennen, auch wenn er ihnen in seiner Rehabilitierung der Drastik stellenweise die Legitimit t abspricht. Die Produktivit t dieses Widerspruchs ist eine der St rken des Buches, wie Degner zeigt. Ein weiterer Kontext, in den sich Dath mit der Ver entlichung im Suhrkamp Verlag begibt, ist der der poststrukturalistischen Theorie, die David in den Briefen so vehement verspottet. Zum Programm des Suhrkamp Verlags geh ren poststrukturalistische Referenzwerke wie Derridas Grammatologie, Foucaults Ordnung der Dinge oder der Anti- dipus von Gilles Deleuze und F lix Guattari.7 Das ist nicht nur in Hinsicht auf Davids Schm hungen au llig es gibt weitere Indizien in Hinblick auf Form und Inhalt, die f r ein bewusstes Spiel mit diesem Kontext sprechen. Als LeserIn des Romanessays steht, wie die Rezensionen zeigen, erst einmal weniger die Epoche der Postmoderne, die in Die salzwei en Augen mit der Philosophie der Poststrukturalisten synonym ist, sondern vielmehr die Epoche der Aufkl rung im Vordergrund, aus der David die Drastik ableitet: Aufkl rung in Zeiten des Pop betitelte die Neue Z richer Zeitung ihre Rezension des Buchs,8 die tageszeitung schreibt: Splatter, Porno, Metal und Liebe [ ]: alles im Dienst der Aufkl rung ,9 wobei es durchaus auch kritische Stimmen bez glich des Zusammenhangs von Drastik und Aufkl rung gibt, beispielsweise im Berliner Tagesspiegel: Es h tte mehr Material gebraucht, diese These zu beweisen ,10 kommentiert Daniel V lzke. Wie zu zeigen sein wird, ist diese Bewegung zwischen Postmoderne und Postmoderne-Kritik Teil einer komplexen argumentativen Konstruktion, wobei der Aufkl rung in Die salzwei en Augen eine zentrale Position in diesem Wechselspiel zukommt.

6 Uta Degner, Virtuose des Trash. Dietmar Daths Entwurf einer sthetik der Drastik in kultursoziologischer Perspektive , in: Thomas Wegmann und Norbert Christian Wolf (Hrsg.), High und low . Zur Interferenz von Hoch- und Popul rkultur in der Gegenwartsliteratur, Berlin: De Gruyter 2012, S. 171-182, hier S. 171. Vgl. dazu zur Frage der Suhrkamp-Leserschaft S. 174. 7 Jacques Derrida, Grammatologie (1967), aus dem Franz sischen bersetzt von Hans J rg Rheinberg und Hanns Zischler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983; Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Arch ologie der Humanwissenschaften (1966), aus dem Franz sischen bersetzt von Ulrich K ppen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974; Gilles Deleuze und F lix Guattari, Anti- dipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (1972), aus dem Franz sischen bersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977. 8 Wolfgang Lange, Aufkl rung in Zeiten des Pop , in: Neue Z rcher Zeitung (25. 4. 2006). 9 Andreas Merkel, Manischer Denkzwang , in: die tageszeitung (19. 10. 2005). 10 Daniel V lzke, Zombie Schlingensief , in: Der Tagesspiegel (23. 1. 2006). Kritisch in Bezug auf die Aufkl rungsthese auch: Raul Zelik, Lieber Dietmar Dath , in: Der Freitag (23. 12. 2005).

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Das von David postulierte Konzept der Drastik ist Teil der dezidiert politischen Poetik, die Dietmar Dath verfolgt.11 Drastik passt auch deshalb in diese Poetik, weil Theoretiker der Drastik sthetische und geschichtsphilosophische Argumente gern unaufl slich miteinander verschlingen ,12 wie Dirck Linck bemerkt hat. Insofern bietet die Drastik f r den Marxisten Dath eine M glichkeit, seine teleologische Geschichtskonzeption mit einem sthetischen Konzept zu verbinden. Dabei begn gt er sich nicht damit, ein Programm so ist das Inhaltsverzeichnis von Die salzwei en Augen berschrieben aufzustellen, das dann politisch verwirklicht werden soll. Die salzwei en Augen er nen auch keinen Gegenentwurf oder -ort zu den gegenw rtigen politischen Gegebenheiten, wie Dath dies in anderen Texten vorgef hrt hat, sondern versuchen im Konzept der Drastik den Einsatzpunkt der sthetik in einem politischen Schreiben unter den Bedingungen der Postmoderne zu kl ren. In diesem Versuch kritisiert Dath die Poststrukturalisten, die bei ihm als Stellvertreter f r die gesamte Debatte um die Postmoderne stehen, mit der sich diese nicht unbedingt identi zierten. Davids Postmoderne-Kritik in Die salzwei en Augen, die in einem Lob der Aufkl rung m ndet, schlie t jedoch einen Punkt aus: In formaler Hinsicht bedient sich Dath postmoderner Schreibweisen von der Frage der Gattung zwischen Philosophie und Literatur bis zur komplexen Vermittlungs ktion, mit der die Erz hlung von David und Sonja pr sentiert wird. In seiner Stellung in den Grenzbereichen zwischen Literatur und Philosophie und Fakt und Fiktion und seiner gezielten Inszenierung von Vermittlungsinstanzen sind Die salzwei en Augen ein postmoderner Text im besten Sinne ,13 wie Ralf Schneider schon in seiner Rezension anmerkte. Dath betreibt Postmoderne-Kritik mit den Mitteln der Postmoderne. Das ist nichts Ungew hnliches innerhalb seines Werkes. So hat Gunther Nickel ein hnliches Verh ltnis f r den Roman F r immer in Honig (2005) aufgezeigt,14 der wie bereits erw hnt in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft von Die salzwei en Augen erschien und diesem auch in seiner Verbindung von Literatur und politischphilosophischer Reflexion hnelt. Die etwas pauschale Postmoderne-Kritik in Die salzwei en Augen wird durch die postmoderne Form des Romanessays konterkariert. Dieser Widerspruch ist jedoch ein strategischer, handelt es sich bei der Dras11 Wie Dath in Interviews wie diesem immer wieder betont. Insofern ist die berschrift sehr passend gew hlt: Philipp Oehmke, Schreiben, wie die Welt sein sollte [Interview mit Dietmar Dath]. In: Der Spiegel 5 (2009), S. 132-134. 12 Dirck Linck, Die Wiederkehr der Katharsis. ber ein paar M glichkeiten, das popkulturelle Vergn gen an drastischen Gegenst nden zu erkl ren , in: Kultur & Gespenster 7 (2008), S. 43-71, hier S. 48. 13 Ralf Schneider, Von Schlitzern und Spritzern. Der seltsame Kosmos des Dietmar Dath , in: literaturkritik.de 12 (2005). 14 Vgl. Gunther Nickel, Die Kritik der Postmoderne im postmodernen Roman. Robert Menasses Trilogie der Entgeisterung und Dietmar Daths F r immer in Honig , in: Johann Bohley und Julia Sch ll (Hrsg.), Das erste Jahrzehnt. Narrativen und Poetiken des 21. Jahrhunderts, W rzburg: K nigshausen & Neumann 2011, S. 57-66.

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tik doch bei genauerem Hinsehen um kein aufkl rerisches Konzept im klassischen Sinn, sondern es wird von David als eine Schwundstufe aufkl rerischen Denkens inszeniert. Eine Kernfrage f r eine Lekt re von Die salzwei en Augen ist, inwiefern sich die Postmoderne-Kritik mit den Mitteln der Postmoderne und die postmodernen Textstrategien ber hren: Gibt es eine Dimension des Drastik-Begri s von Dath, die mit der Frage der Erz hlebenen und der Frage nach dem Verh ltnis von Fakt und Fiktion korrespondiert? Oder anders gefragt: Gibt es am Konzept der Drastik selbst, die David als Rest der Aufkl rung bezeichnet, 15 ein postmodernes oder poststrukturalistisches Moment? Denn, so die These dieses Aufsatzes, wir haben es hier nicht, wie Nickel in einem anderen Aufsatz f r den Fall von F r immer in Honig konstatiert, mit einem klassische[n] Fall von litterature engag e zu tun,16 sondern vielmehr mit einem Text, f r den Diedrich Diederichsens Schlachtruf Es lebe das sekund re Leben. Es gibt auch kein anderes 17 gelten kann. Diesen zitiert Moritz Ba ler in seiner Rezension von Die salzwei en Augen, und die Komplexit t des Textes entsteht genau aus dem Spannungsverh ltnis, das zwischen A rmation des sekund ren Lebens und seiner Kritik in den Briefen des Erz hlers Davids besteht. Die salzwei en Augen als postmoderner Romanessay Die salzwei en Augen werden paratextuell im Klappentext als Romanessay bezeichnet. Spezi zierend k nnte man hinzuf gen, dass es sich um einen Briefromanessay handelt, schlie lich werden Davids Gedanken zur Drastik in Form von Briefen pr sentiert. Diese Gedanken zur Drastik sind durch die Erz hlung von Sonja, an die die Briefe gerichtet sind, gerahmt. Das bedeutet, dass sich die Form des Romanessays in einer Vermischung aus theoretischer und literarischer Reflexion ergibt. In der Sekund rliteratur wurde zudem der Hybridcharakter zwischen literarischer Fiktion, journalistischem Essay und biogra scher Sozioanalyse betont, der sich in den Briefen nde.18 Man k nnte das zum einen als selbstreflexives Element lesen: David de niert drastische Kunstwerke auch dadurch, dass die drastischen Szenen f r ihr Genre innovativ sind.19 Drastik ist mit einer Dynamik der berbietung und des Neuen verbunden. Da Die salzwei en Augen weit davon entfernt sind, inhaltlich oder formal 15 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 162. 16 Gunther Nickel, Die Funktionen des Unwirklichen in der Prosa von Dietmar Dath, Elfriede Jelinek und Georg Klein , in: Christoph J rgensen und Tom Kindt (Hrsg.), Wie in luzidem Schlaf . Zum Werk Georg Kleins, Erich Schmidt: Berlin 2013, S. 109-117, hier S. 113. 17 Zitiert nach Moritz Ba ler, Dietmar Dath, Die salzwei en Augen [Rezension]. In: Arbitrium 24 (2006), S. 418-422, hier S. 422. Das Zitat findet sich in Diedrich Diederichsen, Musikzimmer. Avantgarde und Alltag, K ln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 15. 18 Degner: Virtuose des Trash (Anm. 6), S. 172. 19 Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 15-26.

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Genregrenzen zu berschreiten und in dieser Hinsicht streng genommen kein Beispiel f r einen drastischen Text sind, k nnte die Genremischung als Versuch einer drastischen Grenz berschreitung gelesen werden, die sich beispielsweise in einer Verschiebung der Grenze zwischen Fakt und Fiktion u ert. Im Folgenden soll allerdings gezeigt werden, dass die Gattungsmischung kein Kennzeichen der Innovation ist, sondern der Einschreibung in bestimmte Traditionen dient, die Davids Argumente zu einer sthetik der Drastik kontextualisieren. Diese spezi sche Art der Vermischung von Genres speist sich damit aus zwei Traditionen, die f r Daths Text relevant sind. Aus literarischer Sicht der des Briefromans, dessen prominentester Vertreter in der deutschsprachigen Literatur Die Leiden des jungen Werther20 sind, mit denen Die salzwei en Augen die Geschichte einer unerf llten Liebe teilen. Doch auch in philosophischen Texten hat der Brief als Form Tradition. Nicht nur in der Antike, man denke an die Briefe Epikurs, sondern auch in der Zeit der Aufkl rung, die auch in Davids Argumentation zur Drastik eine Rolle spielt. Ein bekannter Text von Denis Diderot ist beispielsweise der Lettre sur les aveugles l usage de ceux qui voyent21, der unter anderem im ersten Abschnitt von Johann Gottfried von Herders Schrift Plastik22 zitiert wird und in seinem Aufruf der Dichotomie sehend/blind zumindest in einem assoziativen Verh ltnis zu Die salzwei en Augen steht. Die Wahl der Form des Romanessays positioniert Daths Text also erst einmal in der philosophischen wie literarischen Tradition. Die Verbindung dieser beiden Traditionen ndet sich in der Literaturgeschichte in Gro texten wie in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre23 und in der Philosophiegeschichte 200 Jahre sp ter bei genau den Autoren, die David in den Briefen kritisiert. Es ist ein genuin postmoderner beziehungsweise poststrukturalistischer Gestus, Literatur und Philosophie zu Einem zu erkl ren und philosophische Texte mit Merkmalen des Literarischen auszustatten, wie das beispielsweise Derrida in Glas oder im ersten Teil von La carte postale getan hat, der gewisserma en ein Postkartenromanessay ist.24 Hierbei dient die Literarisierung des Philosophischen als Gegenbewegung zur Behauptung, dass die Schrift als transparentes Medium funktioniere und dazu, auf die Paradoxe zu 20 Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther (1774), in: ders., S mtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. M nchner Ausgabe, herausgegeben von Karl Richter, M nchen-Wien: Carl Hanser 1987, Band 1.2, herausgegeben von Gerhard Sauder, S. 196-299. 21 Denis Diderot, Lettre sur les aveugles l usage de ceux qui voyent (1749), in: ders., uvres compl tes, herausgegeben von Herbert Dieckmann, Jacques Proust und Jean Vallot, Paris: Hermann 1978, Band 4, S. 1-107. 22 Johann Gottfried Herder, Plastik. Einige Wahrnehmungen ber Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume. Riga: Hartknoch 1778, S. 5. Digitales Faksimile unter: http://digi. ub.uni-heidelberg.de/diglit/herder1778/ (zuletzt aufgerufen: 26. 7. 2016). 23 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman (1795 f.), in: ders., S mtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. M nchner Ausgabe, herausgegeben von Karl Richter, M nchen-Wien: Carl Hanser 1987, Band 5, herausgegeben von Hans-J rgen Schings. 24 Jacques Derrida, Glas, Paris: Galil e 1974; Ders., La carte postale de Socrate Freud et audel , Paris: Flammarion 1980.

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reagieren, die aus dem In-Eins-Fallen von Objekt- und Metasprache entstehen. Diese Gegenbewegungen f hren dazu, dass die sprachlichen R ckkopplungse ekte philosophischer und auch literaturwissenschaftlicher Texte bewusst in Kauf genommen werden. Auch zur zeitgen ssischen literarischen Produktion lassen sich Bez ge ausmachen. So wurde beispielsweise Thomas Meineckes Hellblau25, das in seiner Zusammenf hrung von theoretischen Reflexionen und literarischer Handlung durchaus eine hnliche thematische Struktur aufweist, als Briefroman bezeichnet.26 Entsprechend wurde Meinecke in Rezensionen auch h u g als Autor vergleichbarer Texte genannt.27 Anders als Dath a rmiert Meinecke jedoch postmoderne Str mungen und l st auch die strenge Form des Briefromans in seinem Text auf. Es ist also ein literaturhistorischer Kontext auszumachen, der nicht die Form des Briefromans an sich als spezi sches Merkmal markiert, sondern die Einhaltung seiner strengen Form, die auch nicht zugunsten technischer Weiterentwicklungen des Briefes, wie E-Mail oder Kurznachrichten, aufgel st wird. Die Form des Briefromans ist daher vor allem als Beleg daf r zu lesen, dass Dath sich mit Die salzwei en Augen in eine bestimmte Tradition einschreiben will. Bei Meinecke entstehen die postmoderne Texte kennzeichnenden autoreflexiven Schleifen die ProtagonistInnen von Hellblau schreiben an einem Buch, dem sie ebendiesen Titel geben wollen , die auch Dath in Die salzwei en Augen erzeugt. Schlie lich dient der Romanessay als theoretischer Text, der sein Beispiel gleich mitliefern soll. Die Erz hlung von Sonja und David auf metadiegetischer Ebene soll das exempli zieren, was in den Briefen auf meta-metadiegetischer Ebene zur Drastik ausgef hrt wird. Der E ekt der Autoreflexivit t wird ber ein komplexes Ineinander von Erz hlebenen erzeugt. Nimmt man die Ebene, auf der der Herausgeber der Briefe agiert, als intradiegetische Ebene, ergibt sich als metadiegetische Ebene die Erz hlung von David und Sonja und als meta-metadiegetische Ebene die Reflexionen ber die Drastik, die in die Erz hlung der Liebesgeschichte eingeflochten sind.28 David agiert auf meta- und meta-metadiegetischer Ebene als Erz hler und kommt auf intradiegetischer Ebene als Figur vor. Sein Freund Paul, eine Art Komplement r gur zu David auf metadiegetischer Ebene, ist vermutlich der Herausgeber und damit Erz hler und Kommentator auf intradiegetischer Ebene, womit sich diese Komple25 Thomas Meinecke, Hellblau, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. 26 Vgl. Andrea Geier, Poetiken der Alterit t und Identit t. Zur Prosa von Ter zia Mora und Thomas Meinecke , in: Evi Zemanek und Susanne Kornes (Hrsg.), Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld: Transcript 2008, S. 123-137, hier S. 131. 27 Vgl. beispielsweise die entsprechenden Hinweise bei Lange, Aufkl rung in Zeiten des Pop (Anm. 8) oder bei Zelik, Lieber Dietmar Dath (Anm. 10). 28 Man k nnte auch die Reflexionen ber die Drastik als Rahmung f r die Liebesgeschichte lesen, wie Alexandra Hagen (Dietmar Dath. Die salzwei en Augen [Rezension]. In: Focus on German Studies 13 (2006), S. 142-144, hier S. 143) das tut. Allerdings widerspricht die Ordnung der Erz hlung dieser Einsch tzung. Diese setzt mit der Anrede Sonjas am Beginn des ersten Briefes ein.

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mentari t auf metadiegetischer Ebene auf intradiegetischer Ebene wiederholt: In analoger Weise wie Paul David als Gespr chspartner auf metadiegetischer Ebene zur Verf gung steht, ist er, obwohl nicht Adressat der Briefe, insofern Gespr chspartner auf intradiegetischer Ebene, dass er die Briefe herausgibt und kommentiert. Die Annahme, dass Paul der Herausgeber sei, ergibt sich aus mehreren Anhaltspunkten: Er ist die einzige Person, die das Wissen, das der Herausgeber in den Endnoten ber David, aber auch ber Paul pr sentiert, haben kann.29 Zudem spricht David im letzten Brief davon, die Briefe nun an Paul zu schicken, sodass man innerhalb der Fiktion davon ausgehen muss, dass sich die Briefe in seinem Besitz benden.30 Von der intradiegetischen Ebene ergeben sich nun Verweise auf die Ebene der Paratexte, sodass die Ordnung der Erz hlebenen mehrfach berschritten wird. David Dalek ist ein Pseudonym von Dietmar Dath, dessen dieser sich auch au erhalb von Die salzwei en Augen bedient.31 Gleichzeitig erschienen Teile der Texte aus dem Romanessay bereits unter Daths Namen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Popkulturzeitschrift Spex, wobei an gleicher Stelle pflichtschuldig auf die Nicht-Identit t von Autor und Erz hler hingewiesen wird.32 Sonja ist auf allen Ebenen nur Adressatin und Figur, doch auch dieses Verh ltnis erstreckt sich bis auf die Paratexte, wo eine Widmung an S. W. zu nden ist, die man mit dieser Figur in Verbindung bringen k nnte. In Die salzwei en Augen wird also einerseits ein hoher Aufwand betrieben, um verschiedene Ebenen der Erz hlung zu gestalten, andererseits werden diese Ebenen strategisch durchbrochen. Die Metalepsen Dalek und Dath, S. W. und Sonja dienen dazu, die Erz hlung mit Authentizit tse ekten auszustatten, sodass sich der Romanessay in einer weiteren Hinsicht in Grenzbereichen bewegt. Es soll der Eindruck erweckt werden, der Text stehe zwischen Fakt und Fiktion, so wie er zwischen literarischer und sthetischer Schrift steht. Die salzwei en Augen tragen also deutliche Merkmale eines postmodernen Textes. Drastik und Postmoderne-Kritik Wie gestaltet sich nun jenseits der Schm hungen die Kritik an den Theorien der Autoren, die David als die Protagonisten der Postmoderne identi ziert? Seine Kritik setzt an drei Punkten an: Die Theorie der Postmoderne propagiere erstens ein Verh ltnis zur Welt, das von Sekundarit t gepr gt sei, was zweitens zu Lasten der Anschaulichkeit und Konkretion gehe. Vor allem aber wirft er dem Poststruk29 Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 211-216. 30 Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 209. Im brigen besteht zumindest auf die Namen bezogen ein interfigurales Verh ltnis dieser Figuren mit den Protagonisten in Daths Roman Dirac, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. 31 Vgl. David Dalek, Das versteckte Sternbild, herausgegeben von Dietmar Dath, Berlin: Shayol 2008. 32 Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 4.

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turalismus, diese Bezeichnung steht in Davids Argumentation synonym zu dem der Postmoderne, vor, drittens keine Taten aus den von ihnen postulierten Thesen gefolgt haben zu lassen. Gegen diese drei Punkte macht er das Primat der Erfahrungswirklichkeit stark, dem er die Poststrukturalisten mehr als Derrida, Foucault und Baudrillard sind hier ihre Epigonen gemeint als BewohnerInnen eines Elfenbeinturms gegen berstellt, deren Taten sich auf Texte beschr nken.33 Der Vorwurf der Folgenlosigkeit an die Adresse der Poststrukturalisten geht mit dem Postulat einher, dass Drastik eben das sei, was Folgen habe. Was genau versteht David nun unter Drastik? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es, die Drastik-Reflexionen der verschiedenen Erz hlebenen zu di erenzieren. Innerhalb der metadiegetischen Erz hlung von David und Sonja gibt es in Die salzwei en Augen zwei Stellen, die als drastisch gelten k nnen. Einerseits der Autounfall von Sonja, der veranschaulichen soll, inwiefern ein Augenblick gleichzeitig schlimm und sch n sein kann. Andererseits der Moment, in dem Sonja Davids Plan, sie zu misshandeln, dadurch unterbricht, dass sie ihre H nde auf seine legt. Die beiden Stellen sind jeweils durch asyndetische Reihungen gekennzeichnet: Kindergarten Rehkitz Schwester Ostern Mutter Kleeblatt Brille Geburtstag Vater Rauch Wald Schule Fahrrad Z pfe Freundin Kino K rnerbrot Schi Eis Schuhe Klavier K tzchen 34 im ersten Fall und Sonnenaufgang, Sonnenuntergang. Fingerabdr cke auf Tablettenr hrchen. Erleuchtung 35 im zweiten. Diese Reihungen sollen den E ekt der unmittelbaren Evidenz vermitteln, den ein drastischer Moment durch seine Konkretheit erlangt. Die Erz hlung wie die Abwesenheit von Verben verdeutlicht setzt aus und es entsteht ein berschuss an Eindr cken, die sich in assoziativen Verkettungen aneinanderreihen. Was haben diese drastischen Momente f r Folgen? Im ersten Fall f hrt der Unfall zu Verletzungen von Sonjas K rper, sodass dieser neben der Blinden auf der Autobahnbr cke, die das Cover von Die salzwei en Augen ziert,36 zur Allegorie des schlimmen Sch nen wird, das David wiederholt als drastisch bestimmt.37 Im zweiten Fall hat die Reformulierung des Erlebten zur Folge, dass David nach Wilmington, North Carolina, abreist und aus der Distanz in einem letzten Brief noch einmal seine Erz hlung von Sonja und der Drastik reflektiert. In einer letzten autoreflexiven Volte, die Die salzwei en Augen einmal mehr als postmodernen Text kennzeichnet, wendet sich David an die Leser und erkl rt in rhetorischen Fragen Sonja zum blo en Exempel seiner Theorien zur Drastik: Habe ich mir den Bet ubungsmix im Fl schchen vielleicht nur ausgedacht? Hatte ich am Abend des Klassentre ens wirklich so etwas dabei? Andererseits: Wenn ich es mir ausgedacht h tte, um es Dir aufzuschreiben, was w re 33 34 35 36 37

Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 51 f. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 39 f. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 202. Vgl. den Hinweis von Hagen, Dietmar Dath (Anm. 28), S. 144. Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 6, 53 f., 203.

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dann die Absicht dabei? Wenn ich Dir einen neuen Kontext f r die Szene zwischen uns er nde, die Du kennst, an die Du Dich erinnern kannst das Zusammensitzen, die Hand auf den F usten, den Kuss auf die Wange , einen Zusammenhang, der das alles in etwas Unheimliches und Gef hrliches verwandelt, was k nnte dann damit gemeint sein? Sp rst du [sic] die unruhigen Blicke anderer Augen, die mitlesen; sind die Briefe berhaupt an Dich gerichtet nur an Dich, zuerst an Dich, zuletzt?38 Diese Fragen sind vor allem eine gezielte Lenkung der Rezeption. Die LeserInnen werden damit dazu aufgefordert, ihr Erleben des drastischen Moments innerhalb der Narration zu reflektieren. Gleichzeitig wird damit eine Machtbeziehung transparent gemacht: Die salzweien Augen sind ein monologischer Briefroman, die Adressatin kommt nicht zu Wort. Es liegt also allein in den H nden des Erz hlers David, was mit den Figuren passiert. Das Bedrohungsszenario, das David gegen ber Sonja imaginiert, reflektiert er jetzt vor allem daraufhin, dass es eben nicht in ihrer Macht steht, ber ihre Existenz zu entscheiden. Das ist wiederum eine Parallele zum anderen drastischen Moment, in der ebenfalls ein Mann, dieses Mal ihr Vater, die Macht ber das hat, was geschieht und durch seine Fahrl ssigkeit den Unfall verursacht. Diese Lesart der drastischen Stellen korrespondiert mit einem Satz, den David kurz vor der Leseransprache zitiert: The fantastic , schreibt Linda Badley, is based in somatic consciousness in sensational existence that is tragically conscious of its material nitude and the presence of Otherness, in the torture, challenge, and horror-comedy of incessant change. 39 Die Inszenierung der drastischen Stellen deutet genau darauf hin: In drastischen Momenten solle man sich erstens seiner Endlichkeit, und zwar in einem materiellen Sinn, bewusst werden und zweitens der Pr senz des Anderen der anderen Augen . Genau solche existenziellen Situationen erleben die Protagonisten von Folter- oder Horror lmen; in der e ektvollen Inszenierung des Anderen sollen Reaktionen, auch k rperliche wie das Ph nomen der Piloerektion, belkeit oder Schwei ausbr che, auf Seiten der BetrachterInnen provoziert werden. W rde man dieses Verst ndnis von Drastik nun in die Begri e der politischen Poetik Daths bersetzen, die sich klassisch aufkl rerisch gibt, erg be sich folgendes Bild: Durch die Demonstration von politischen Machtbeziehungen sollen bei den LeserInnen Reaktionen, das hei t eine politische Tat ausgel st werden, im Falle einer m glichst gro en Leserschaft die sozialistische Weltrevolution, wenn man den Einlassungen Daths folgen darf.40 Das Bewusstsein dessen, dass man selbst Objekt 38 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 208 (Hervorhebung EK). 39 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 208. Das Zitat findet sich wie von Paul nachgewiesen (vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 216) in Linda Badleys Studie Film, horror and the body fantastic, Westport: Greenwood Press 1995, S. 35. 40 Vgl. beispielsweise Dietmar Dath: Klassenkampf im Dunkeln. Zehn zeitgem e sozialistische bungen, Hamburg: KVV 2014.

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einer Macht ist, w rde einen zum Subjekt werden lassen, das sich ebendieser Macht entgegenstellt. Das aufkl rerische Element an der Drastik w re also ein sthetisch provozierter Ausgang aus einer Unm ndigkeit. Drastik entsteht als Ausdruck der Vernunft und ist nicht Folge eines Anderen der Vernunft, das, wie David poststrukturalistische Thesen paraphrasierend schreibt, alles Irrationale, Brutale, Perverse und Beknackte verwaltet, das vom vern nftigen B rgertum diszipliniert, ausgegrenzt, unterworfen und ausgerottet wurde und weiter wird .41 Davids Drastik-Begri ist jedoch noch weiter gefasst und auch er selbst, und genauso Paul, schreitet nicht zur politischen Tat, sondern schreibt weiter. Der Grund daf r ist, dass die Erz hlung nicht im Zeitalter der Aufkl rung spielt, sondern vielmehr nach ihrem Ende. So kann David Drastik mit diesem Satz de nieren: Drastik sei [d]er sthetische Rest der Aufkl rung nach ihrer politischen Niederlage 42 und dem Menschen st nden von den metaphysischen Tr stungen nur noch Verwesungsprodukte, die sich mit den Fragmenten der zergehenden neuen Ho nungen im Moment des Scheiterns einer gro en emanzipatorischen Umw lzung zu R tselbildern vermischen ,43 zur Verf gung. Hier verschiebt sich der Ort der Drastik und es entsteht eine M glichkeit des Genie ens drastischer Dinge jenseits politischer Implikationen und Machtbeziehungen. Diesem Genie en sind David und Paul anheimgefallen. Das hei t, sie vollf hren ein supplement res Genie en dessen, was ausgel st werden k nnte, aber nicht wird. Ihr Vergn gen am Drastischen ist so gesprochen das Genie en der Revolution als postmetaphysisches R tselbild bevor sie stattgefunden hat. L st man sich aus diesem politischen Verh ltnis und fragt danach, was die Revolution im politischen Denken noch bedeutet, kommt man auf die Elemente, die in drastischen Kunstwerken dargestellt werden: Revolution ist die Konfrontation der K rper, die M glichkeit der Verletzung, der Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen, der sich in der Tat konkretisiert. So muss auch Davids Betonung des Buchst blichen verstanden werden: Alles opfern f r die Konkretion .44 Der Unterschied zwischen drastischen Verh ltnissen in der Wirklichkeit und in Kunstwerken ist, wie David schreibt, dass sich Drastik in der Realit t immer in einen Begr ndungszusammenhang einordnen l sst, w hrend in drastischen Momenten in der Kunst genau solche Begr ndungszusammenh nge nicht rekonstruierbar sind und so die Konkretion in ihrer Isolation noch mehr hervortreten lassen.45 Eine De nition von Drastik k nnte also auch lauten: Aufeinandertre en der K rper der auf dem Bildschirm und der der RezipientInnen ohne Sinn. Warum sollte man sich diesen Erg ssen der berkonkretion aussetzen? Dirck Link f hrt in seinem Aufsatz Die Wiederkehr der Katharsis vier Begr ndungen an, denen er jeweils unterschiedliche Argumente zuordnet: das Abh rtungsargument, 41 42 43 44 45

Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 78. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 162. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1). Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 206. Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 33 f.

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das Sollizitationsargument, das Vitalit tsargument und das Rationalit tsargument .46 F r Dath beziehungsweise David Linck unterscheidet beide f r die L nge seines Aufsatzes bewusst nicht ist mit Einschr nkungen das erste und vor allem das letzte, also das Rationalit tsargument relevant. Das Abh rtungsargument erkl rt das Vergn gen am Drastischen, mit der befreienden Lust [ ] ausgehalten oder durchgehalten zu haben .47 Sich drastischen Inszenierungen auszusetzen wird dann zu einer Art Mutprobe, der man sich stellt, um seine Leidensf higkeit zu steigern. Das Rationalit tsargument schlie t an das Abh rtungsargument an: Wer es lernt, das einschlagende Bild zu distanzieren, kann beginnen, dieses Bild zu betrachten. 48 Wer f hig ist, drastischen Texten, Bildern oder anderen Kunstwerken zu begegnen, gewinnt die Distanz, diesen Gegenstand und die Erfahrung der Rezeption zu reflektieren. An diesem Punkt also wird Drastik zur sthetischen Erfahrung, die au erhalb des politischen Kontexts steht. Die Reflexion der Machtbeziehung zwischen Objekt und Rezipient dient nur noch zur Einsicht in seine eigene Position in Bezug auf das Dargestellte. Drastik und Poststrukturalismus Dabei ist es David wichtig zu betonen, dass [d]ieser Drastikbegri [ ] nicht einfach auf Kunstlosigkeit , Authentizit t , Unmittelbarkeit hinaus[will] .49 David und Dath propagieren mit der sthetik der Drastik keine Wiederkehr des Unmittelbaren oder der Pr senz. Die Kritik am Sekund ren entspringt nicht dem Wunsch nach Pr senz, sondern der Abwehr der These von der sprachlichen Verfasstheit der Welt. W rden David und Dath diese These in der zugespitzten Form, wie sie David reformuliert,50 akzeptieren, lie e sich gar keine Poetik mit einem politischen Anspruch der beschriebenen Art formulieren. Wenn die Ordnung der Dinge von der Ordnung der Diskurse hervorgebracht werde, seien die Erfolgsaussichten revolution rer Projekte relativ gering, so die Schlussfolgerung Davids. Trotz aller Abwehr dessen, was als poststrukturalistisch oder postmodern identi ziert wird, ergeben sich f r die sthetik der Drastik erstaunliche Analogien zu poststrukturalistischen Konzepten wie dem des Supplements. Es sei noch einmal die ber hmte De nition Derridas aus dem Supplement-Kapitel der Grammatologie zitiert: [D]as Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; wenn es au llt, dann so, wie wenn man eine Leere f llt. Wenn es repr sentiert und Bild wird, 46 47 48 49 50

Linck, Wiederkehr der Katharsis (Anm. 12), S. 57. Linck, Wiederkehr der Katharsis (Anm. 12), S. 58. Linck, Wiederkehr der Katharsis (Anm. 12), S. 67. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 19. Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 51 f.

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dann wird es Bild durch das vorangegangene Fehlen einer Pr senz. Hinzuf gend und stellvertretend ist das Supplement ein Adjunkt, eine untergeordnete, stellvertretende Instanz. [ ] Irgendwo kann etwas nicht von selbst voll werden, sondern kann sich nur vervollst ndigen, wenn es durch Zeichen und Vollmacht erf llt wird. Das Zeichen ist immer das Supplement der Sache selbst.51 Die Dynamik des Supplements zwischen F lle und Aufschub wird in der sthetik des Drastischen auf eine ganz andere Weise reformuliert: W hrend bei Derrida immer eine Anklage der Pr senzmetaphysik mitschwingt und der Entzug der Pr senz durchaus als verlusthaft erscheint, zielen David und Dath genau auf eine solche Struktur ab. In der berf lle der Konkretion und Buchst blichkeit, die David als drastisch beschreibt, wird der Sinn f r einen Moment suspendiert, um dann in einem zweiten Schritt als Nachhall des drastischen Moments auf einer Metaebene wieder eingeholt zu werden. Der Genuss der F lle und der Aufschub des Sinns werden als sthetisches Erlebnis und Reflexionsanlass eingef hrt. Diese strukturelle Analogie der Drastik zum Supplement spiegelt sich nun wieder auf inhaltlicher Ebene: Briefe sind eine Form der deutlich aufgeschobenen Kommunikation. Sie erreichen ihren Adressaten oder ihre Adressatin immer wesentlich nach dem Zeitpunkt, an dem sie geschrieben wurden. In Davids Fall ist unklar, ob sie ihre Adressatin berhaupt erreichen. Schlie lich l sst er sie im Paket Paul zukommen,52 der sie dann, wie oben erl utert, eventuell gar nicht Sonja zuschickt, sondern als Buch herausgibt. Gleichzeitig ist Davids Projekt, Sonja die sthetik der Drastik zu erl utern, als ein lange aufgeschobenes entstanden. Es entspringt einer Frage von Sonja auf dem Schulhof: Und einmal hast Du mich schlie lich gefragt, warum ich mir dauernd diese ganzen abscheulichen Sachen ansehe und -h re. 53 David reicht die Antwort Jahre beziehungsweise Jahrzehnte sp ter nach und auch dann ist nicht abzusehen, ob diese Antwort Sonja jemals erreichen wird. Bezieht man diese Geschichte des Aufschubs auf die drastische Dynamik von Aufschub und Reflexion, lie e sie sich im Sinne der angesprochenen Wendung an die LeserInnen im letzten Brief, als eine weitere autoreflexive Bewegung lesen. Nimmt man die ktionale Erz hlung einmal als drastisch, auch wenn sie den Anspr chen Davids nicht immer entspricht, w ren Die salzwei en Augen als Gesamtes ein drastischer Moment, auf den ein Moment der rekapitulativen Reflexion folgen muss. Ob es Dath gelingt, diese drastische Dynamik in Die salzwei en Augen ins Laufen zu bringen, ist eine andere Frage. Drastik ist formalisierte Vernunft als sthetik ,54 so fasst Linck zusammen. Man k nnte aber auch folgern: Drastik ist die Dynamik des Supplements als sthetik. Der Bezug zur Aufkl rung ergibt sich weniger aus dem aufkl rerischen Cha51 52 53 54

Derrida, Grammatologie (Anm. 7), S. 250, Hervorhebungen im Original. Vgl. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 209. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 11. Linck, Wiederkehr der Katharsis (Anm. 12), S. 70.

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rakter der Drastik, der ihren Kern nicht tri t, eher l sst sich das Anf hren der Aufkl rung als Argument verstehen. Einerseits zieht dieses Argument in seiner Absetzung vom Mainstream der postmodernen und -strukturalistischen Theorie Aufmerksamkeit auf sich. Diese Absetzung ist jedoch, wie oben beschrieben, nur eine scheinbare Absetzung. Eine Beschreibung der Drastik mit den Mitteln des Poststrukturalismus scheint zumindest genauso zutre end wie eine, die sich aus dem Bezug zur Aufkl rung speist. Die Bewegung, sich auf die Aufkl rung zu beziehen, ergibt sich zudem aus Davids Bed rfnis, die drastischen Gegenst nde sthetisch zu rehabilitieren.55 Der R ckbezug auf diese Tradition und David ist bewusst, dass gerade in diesem Zeitalter ein Kanon seinen Ursprung hat, der das Gegenteil von Drastik zum Ziel hat ist ein starker argumentativer Strang im Versuch der Rehabilitation. Er verkehrt gleichzeitig die Argumentation der poststrukturalistischen Linie und ordnet die Drastik in eine unerwartete, aber sehr anerkannte Tradition ein. Insofern nimmt die Wahl einer literarischen Gattung zur Erl uterung der sthetik der Drastik auch eine Art Schutzfunktion ein. Nur hier ist ein solches Argument als Setzung m glich, das Teil einer analytischen wie narrativen Versuchsanordnung ist. So funktionieren Die salzwei en Augen als eine Variante dessen, was Franziska Bomski in Bezug auf das Verh ltnis von Daths digitalen Aktivit ten als eine Poetologie des Abbilds beschrieben hat: Letztlich erscheint jede Art von Kunst [ ] als ein vom K nstler gescha enes Abbild einer sthetischen Idee und zwar als Abbild, das, so sehr die mediale Verfasstheit virtualisiert erscheint, sich doch durch die hnlichkeitsbeziehung zu ihr konstituiert. 56 Die salzwei en Augen lassen sich somit als einen Text lesen, der auf vielfache Weise hnlichkeitsbeziehungen zu drastischen Momenten herstellt, indem er sich dem Ph nomen ann hert. Das geschieht durch Zitate aus drastischen Texten, der Beschreibung drastischer Filme und der Erz hlung von David und Sonja. Wenn David sich und Paul also als inverse Drastiker bezeichnet und damit eigentlich eine bestimmte Rezeptionshaltung meint,57 die denen eigen ist, die eine Vorliebe f r drastische Gegenst nde haben, l sst sich aus dieser Bezeichnung eine ganze Verkettung von Inversionen ableiten. David versucht als inverser Drastiker auch die Stellung der Drastik innerhalb der Dichotomie von hohen und niederen Kulturprodukten umzukehren. Dazu bedient er sich einer Verkehrung poststrukturalistischer Thesen, um die Drastik aus der Aufkl rung abzuleiten, die wiederum in postmoderne Erz hlstrukturen eingebettet ist. Diese Inversions- und Vermittlungsstrukturen, die zu einem immer h heren Grad der Abstraktion f hren, funktionieren als Grundlage, auf der die Wirkungen der Drastik demonstriert werden k nnen. Je h her der Grad der Abstraktion, desto

55 Vgl. Degner, Virtuose des Trash (Anm. 6), S. 176. 56 Franziska Bomski, Dietmar Dath , in: Fernand H rner, Harald Neumeier und Bernd Stiegler (Hrsg.), Praktizierte Intermedialit t. Deutsch-franz sische Portr ts von Schiller bis Goscinny/Uderzo, Bielefeld: Transcript 2010, S. 319-340, hier S. 340. 57 Dath: Die salzwei en Augen (Anm. 1), S. 37.

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gr er die Wirkung der Konkretion, die als ihr Gegensatz inszeniert wird. Ob diese Abstraktionsschleifen postmodern, poststrukturalistisch oder gar aufkl rerisch sind, ist f r die Eindr cklichkeit der Szenen nebens chlich.

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ZWISCHEN EVIDENZ, EREIGNIS UND ETHIK Konturen einer sthetik und Poetik des Drastischen

Im Verlaufe dieser Wege werden die in Frage stehenden Begri e mit Eigenschaften angereichert, die die Enzyklop die ihnen bis dato noch nicht zugestanden hatte. (Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache) Das Adjektiv drastisch geh rt im 21. Jahrhundert zum Inventar der deutschen Alltagssprache. Vor allem im Grundwortschatz des konomisch-politischen Diskurses ist diese Vokabel durchaus pr sent. Wenn etwa Ma nahmen entschieden werden, die einen sp rbaren E ekt auf die haushaltspolitische Situation eines Staates haben, so spricht man nicht selten von einer drastischen K rzung (der Subventionen, der Steuern, der Einnahmen etc.) oder vom drastischen Einbruch der Aktien am B rsenmarkt. Abgesehen vom konomischen Idiom ist es der sthetisch-kunsttheoretische Diskurs, der auf den Begri des Drastischen mitsamt seinen grammatikalischen Abwandlungen rekurriert. Eine ausf hrliche Begri sgeschichte, die auf die unterschiedlichen Entwicklungslinien und diskursiven Akzentuierungen in der Semantisierung dieses Begri es einginge, ist bis heute f r den deutschsprachigen Raum allerdings nicht geschrieben worden. Dies muss insofern verwundern, als dass der Begri gerade in der modernen sthetischen eoriebildung seit der deutschen Fr hromantik und Friedrich Schlegels Athen um-Fragment 42 ( Gute Dramen m ssen drastisch sein )1 als mitunter selbstverst ndliches Pr dikat immer wieder anzutre en ist. Zu einem eigenst ndigen, nachschlagbaren Lemma der sthetik hat dieser Umstand bislang jedoch nicht gef hrt.2 Nun kann auf die einfach gestellte, aber delikate Frage, was das sthetisch Drastische sei, mit Blick auf das heutige Wissenschaftsverst ndnis keine einfache Ant1 Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I. 1796 1801, in: ders., Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe (KFSA), herausgegeben von Ernst Behler, Paderborn u. a.: Sch ningh 1959 ff., Band 2, S. 171. 2 So verzeichnet keines der aktuellen fachspezifischen Lexika, wie etwa die im Metzler-Verlag erschienen Nachschlagewerke W rterbuch sthetischer Grundbegriffe, das Lexikon sthetik oder das der Literatur- und Kulturtheorie, einen Eintrag zum Drastischen . Die bislang umfangreichste wortgeschichtliche Darstellung der Entwicklung und Verwendung der Lemmata drastisch und Drastik verzeichnet das Deutsche Fremdw rterbuch. Vgl. Hans Schulz und Otto Basler (Hrsg.), Deutsches Fremdw rterbuch, Berlin-New York: De Gruyter 1999, Band 4, S. 902 ff.

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wort gegeben werden, da sie nach einer essentialistischen Wesensbestimmung verlangt. Das Faktum, dass der Begri aus historischer und systematischer Perspektive Br che und Inkonsistenzen aufweist, und berhaupt nur stellenweise als ein Begri im blichen Sinne verwendet wurde, ist Grund genug, eine essentialistische De nition des sthetisch Drastischen als einen harten Anachronismus aussehen zu lassen. In dem hier gegebenen Rahmen kann es nun nicht um eine l ckenlose Nachzeichnung der Genealogie und Karriere der Ausdr cke drastisch und Drastik in kunsttheoretischen Kontexten gehen. Stattdessen sind die nachfolgenden Einlassungen zun chst als Resultat einer Analyse unterschiedlicher theoretischer Positionen zu sehen, wie sie von Friedrich Schlegel, Dietmar Dath, Ter zia Mora und Carolyn Abbate formuliert wurden, mit dem Ziel, das bislang weitgehend im Fragmentarischen und Impliziten Gebliebene auf analytische Weise zu sch rfen und einen operablen Rahmen sichtbar werden zu lassen, mit dem sich k nstlerische Fallbeispiele deuten lassen. Die nachfolgenden wirkungs sthetischen, semiotischen, medien- und kulturtheoretischen Aspekte werden als eng miteinander verzahnt und konstitutiv f r einen produktiven Begri der sthetischen Drastik angesehen; sie bilden strukturalistisch gesprochen gewisserma en die Folie f r die syntagmatische Aktualisierung eines Paradigmas, das sich als Drastik beziehungsweise als das Drastische bezeichnen l sst.3 Distanzminimierung und Pr senzeffekt Was allen theoretischen berlegungen von Friedrich Schlegel an ber Dietmar Dath, Ter zia Mora und Carolyn Abbate gemeinsam ist, l sst sich am pr gnantesten durch den Begri der umfassenden wirkungs sthetischen Distanzminimierung beschreiben. Bereits in Schlegels dramentheoretischen berlegungen basiert das drastische Erfahrungsmoment auf dem produktions sthetischen Prinzip der lebendigen Nachahmung und der sthetischen Energie , die von der physischen Pr senz der Schauspieler auf der Theaterb hne ausgeht, und damit in Opposition zur poetischen Reflexion steht, die sich w hrend der Lekt re eines Textes einstellt.4 The Drastic markiert f r Carolyn Abbate hnlich zu Schlegel einen Erfahrungsbereich innerhalb performativer Kunst, der im Gegensatz zum verbally mediated reasoning und der damit einhergehenden metaphysical distance materi-

3 Im Folgenden werden beide Ausdr cke nicht synonym verwendet. Das substantivierte Adjektiv das Drastische wird von meiner Seite aus immer dann verwendet, wenn es um eine Wahrnehmungskategorie geht. Drastik dagegen meint eine Kategorie der Darstellung. 4 In einer Notiz Schlegels von 1812 hei t es: Das Drama und der Roman sind sich entgegengesetzt; Sex & Crime< bezeichnet den moralischen Grenzfall in der Massenproduktion der Traumund Bilderfabriken, eine Sph re des Noch-nicht-ganz-verbotenen und Nicht-mehr-ganzerlaubten. Es scheint, da in bestimmten Phasen der Kulturgeschichte, die offenkundig an politische und konomische Parameter gekn pft sind, wie zum Beispiel an die Krisenzyklen der freien Marktwirtschaft oder an die Instabilit t gesellschaftlicher Herrschaft, die Grenzen in Bewegung geraten. Georg See len, Sex , in: Hans-Otto H gel (Hrsg.), Handbuch Popul re Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart: Metzler 2003, S. 403-408, hier S. 404. 85 Roland Barthes, Das Rauschen der Sprache (Anm. 49), S. 377. 86 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Reflexionen aus dem besch digten Leben (1951), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 231. 87 Theodor W. Adorno, Die Kunst und die K nste , in: Petra Kiedaisch (Hrsg.), Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart: Reclam 2006, S. 63-68, hier S. 66.

ZWISCHEN EVIDENZ, EREIGNIS UND ETHIK

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dem heraus sich die ersten signi kanten Theoreme zum Drastischen bei Friedrich Schlegel gebildet haben, verbindet der Film produktions sthetisch Sprache und Bild (und h u g genug noch Musik) auf eine so performative, anschaulich-direkte Weise miteinander, die rein sprachliche Texte nur selten erreichen. In seinem wegweisenden Kunstwerk-Aufsatz unterstreicht Benjamin genau diesen Aspekt, wenn er die physische Chockwirkung des Films in seiner technischen Struktur begr ndet sieht.88 Einige Jahre sp ter wird Susan Sontag diese Gedanken aufgreifen, sie paraphrasieren und in bereinstimmung mit vielen der hier herausgel sten Momente des sthetisch Drastischen emphatisieren. Als Paradigma des Anti-Hermeneutischen und Deutlichen (Denotativen, Direkten, Physischen etc.) sieht auch sie gerade den Film und arbeitet so implizit an einer sthetik des Drastischen, die uns eine Alternative zum Abstrakten und Symbolischen anderer Kunstformen anbietet: Ideally, it is possible to elude the interpreters in another way, by making works of art whose surface is so uni ed and clean, whose momentum is so rapid, whose adress is so direct that the work can be ... just what it is. Is this possible now? It does happen in lms, I believe. This is why cinema is the most alive, the most exciting, the most important of all art forms right now. [...] In good lms, there is always a directness that entirely frees us from the itch to interpret.89 Es zeigt sich: Dem Film ist die r umliche, emotionale, intellektuelle etc. Distanzminimierung, von der Linck spricht, systemisch eingeschrieben. Er ist die Kunstform der Visualisierung schlechthin und erf llt wie keine andere den Transformationsprozess von Zeichen in Pr senz, den die f r die Drastik so zentrale Evidenz bzw. die Figur der Hypotypose ausmacht. Lincks Beobachtung, dass die analogen lmischen Medien eine besondere A nit t zur Drastik aufweisen, kann dementsprechend nur best tigt werden. Bei ihm wird dies mit dem erh hten immersiven Potenzial dieser Medien erkl rt, denn: Das Bild ist unabweisbar , d. h. es besitzt einen erh hten und unhintergehbaren Pr senze ekt.90 Nun l sst sich in umgekehrter Richtung argumentieren (ohne die Richtigkeit der Beobachtung infrage zu stellen): Der Film besitzt diese A nit t, weil Drastik seit Schlegel visuelle Evidenz bedeutet. Forciert durch die Logik des Films, die auf andere Kunstformen Ein uss ausgebt hat,91 ist Drastik in der modernen Popul rkultur zu einem kulturellen Paradig88 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie (1963), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 39. 89 Susan Sontag, Against interpretation , in: dies., Against Interpretation and Other Essays (1961), London: Penguin Classics 2009, S. 3-15, hier S. 11. 90 Linck, Die Wiederkehr der Katharsis (Anm. 8), S. 44. 91 So bekennt der Autor von American Psycho: I ve always said I totally think movies have influenced me completely and I think it s hard to not be influenced by movies if you re our age

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ESTEBAN SANCHINO MARTINEZ

ma, d. h. zu einer sthetischen Darstellungs- und Wahrnehmungsform avanciert, die eine hohe Verbreitung innerhalb der westlichen Kulturproduktion besitzt. Freilich ist genau diese Tatsache bisher nur selten ad quat (d. h. in ihrer gattungs bergreifenden Reichweite) ber cksichtigt und untersucht worden. Drastik, zumal in ihren emphatischeren Ausformungen, o enbart dabei ein partikulares, geradezu paradoxes Verh ltnis zum Verstehen. Ich denke dabei nicht nur an Bret Easton Ellis American Psycho, sondern auch an Romane wie Rolf Dieter Brinkmanns Keiner wei mehr, Filme wie Conan LeCilaires FACES OF DEATH (USA 1978), Srdjan Spasojevi s SRPSKI FILM (engl. A SERBIA FILM, SRB 2010) oder an Songs wie SLA ERS Angel of Death (1986) die Liste lie e sich weiterf hren. Bei allen o enkundigen Unterschieden zwischen diesen Werken, eint sie eine gewichtige Sache: Einerseits von der Maxime nach Deutlichkeit und Transparenz geleitet, andererseits durch die exzessive Zurschaustellung evidenzieller und a ektiver Verfahren gewohnte Kommunikationsstrukturen untergrabend, oszilliert Drastik hier zwischen visueller Evidenz und der Produktion opaker Zeichen, die nichts erkl ren, denn [s]ie zielen gar nicht auf Verst ndigung ab. 92 Was rhetorisch als beispielhafte Evidenz inszeniert ist, schl gt pl tzlich um in Obskurit t, die dazu f hrt, dass die Urteile ber diese Werke in ganz besonderem Ma e zwischen Begeisterung, Ratlosigkeit und totaler Verurteilung schwanken.

or even a writer in your 40 s. Movies have really altered the way novels are written. Jaime Clarke, Interview with Bret Easton Ellis , in: Mississippi Review 27 (1999), S. 61-102, hier S. 71. Man erinnere sich auch an Rolf Dieter Brinkmanns poetologisches Diktum, ein Film, also Bilder also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster ... Bilder, flickernd und voller Spr nge, Aufnahmen auf hochempfindlichen Filmstreifen Oberfl chen verhafteter Sensibilit t . Rolf D. Brinkmann, Der Film in Worten , in: ders. und R.R. Rygulla (Hrsg.), Acid. Neue amerikanische Szene (1969), Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 1981, S. 381-400, hier S. 381. 92 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 6), S. 33.

GENEALOGIEN

MICHAEL EGGERS

HERZBLUT Zu H. H. Jahnns Pastor Ephraim Magnus, zu Sarah Kane und zur Geschichte szenischer Gewaltdarstellung

Seit der Antike ist die Geschichte des Theaters auch eine Geschichte der extremen, k rperlichen Gewalt. Die antike Trag die bringt die mythologischen Sagensto e, die von Mord, Inzest, Sch ndung und Kannibalismus handeln, zur szenischen Darstellung und scha t damit die Grundlage f r eine Tradition physischer Grausamkeit auf der B hne. Sie wird in der Fr hen Neuzeit und mit dem Anbruch der Moderne aktualisiert und reicht seitdem ungebrochen bis in die Gegenwart. Wenn diese Tradition im vorliegenden Kontext mit Bezug auf den Begri der Drastik neu adressiert werden soll, dann stehen solche St cke im Fokus, in denen nicht nur Gewalt, sondern au erordentliche, extreme Gewalt ausge bt wird. Mit dieser Eingrenzung stellt sich freilich die Frage, wie die Grenze zwischen einem blichen , angesichts der in den jeweiligen St cken vorgef hrten Geschehnisse vielleicht erwartbaren, und einem dar ber hinaus gehenden Ma an Gewalt gezogen werden kann zumal die eine solche Grenze bedingenden Ma st be seit der Antike o ensichtlich erheblichen historischen Schwankungen unterworfen sind. Als eine plausible und am jeweiligen historischen Sto sich eng orientierende M glichkeit, besagte Grenze abzustecken, erscheint es immerhin, nicht nach Quantit t (besonders viele Tote oder lang anhaltende Grausamkeiten) zu unterscheiden, sondern nach der Motivation der Gewalttaten und damit auch nach der Qualit t (welches Ma des Grauenhaften ist, in der Erwartungshaltung der jeweiligen Zeit, welchem Motiv noch angemessen?). Als genrespezi sch und damit im Rahmen literarischer Konventionen tats chlich blich k nnen f r die antike Trag die etwa sowohl Rache- und Bestrafungsakte, als auch intrigante Handlungen gelten, die ausge bt werden, um legitime oder illegitime Machtpositionen zu halten oder zu gewinnen. Der Zweck solcher Handlungen verschiebt sich aber auf signi kante Weise dann, wenn die Grausamkeit selbst zum Ziel wird, wenn sie also nicht mehr nur politisches oder vergeltendes Mittel ist, sondern die Art und Weise ihrer Ausf hrung in den Vordergrund r ckt. Gewaltsame Handlungen sind dann drastisch, wenn sie sich selbst gen gen oder exzeptionell sind wenn also ihr Provokationspotenzial in keine rationale oder auch a ektive Handlungslogik mehr recht eingebunden werden kann, sondern eher einer sthetischen bzw. dramaturgischen Absicht entspricht. Den folgenden Ausf hrungen liegt die These zu Grunde, dass in dieser Selbstbez glichkeit der gewaltsamen Drastik eine A nit t zum dramatischen Genre begr ndet liegt. Was schockieren und verst ren soll, was darauf angelegt ist, die Er-

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wartungen zu irritieren, das will pr sentiert werden. Die literarische Drastik soll unmittelbar wirken, sie ndet die ihr entsprechende sthetische Form in der sinnlich wahrnehmbaren, auf die K rper der Darsteller angewiesenen, dramatischen Au hrung, die eine direkte, emotionale Reaktion des anwesenden Publikums provoziert: Ziel wie Medium des Drastischen ist [ ] a ektive Intensit t und nichts anderes. 1 Die szenische, physische Performanz auf der B hne bietet der Drastik eine geeignete, weil pr sentische, gestisch und rhetorisch kommunikative Form. Angesichts der medialen Vielfalt des Theaters ist aber auch zu fragen, mit welchen dramaturgischen Mitteln die beabsichtigte Wirkung hergestellt wird, ob drastische Szenen also tats chlich ausagiert und vorgef hrt werden oder ob sie nur Gegenstand der dramatischen Rede bleiben, w hrend das potentiell schockierende Geschehen dem Blick des Publikums entzogen bleibt. Eine das folgende Argument leitende Unterscheidung ist daher die zwischen dem Gezeigten und dem Beschriebenen, zwischen on stage und o stage. Schlie lich f hrt diese formale, de nitorische Analyse der drastischen Dramen zu der Frage, ob ihnen ein ber das Schockmoment hinausgehender, poetologischer Zweck eingeschrieben ist. Die antike Trag die ist Vorreiter einer Entwicklung, in der sich die Vorzugsrolle des Dramas f r die literarische Drastik best tigt. Die historischen Eckpfeiler des Genres sollen hier nur am Rande einbezogen werden, um eine Orientierung in der Gattungsgeschichte zu erm glichen, w hrend zwei eigenwillige Beispiele aus dem 20. Jahrhundert Gegenstand ausf hrlicherer Betrachtungen sind: Provokant extreme Gewalt wird hier, in einer gezielt hergestellten Paradoxie, zur szenischen bersetzung von Liebe. Ungeachtet dessen, dass die Gewalt eine physische ist, wird zu fragen sein, ob es sich dabei um eine k rperliche oder doch eine vorrangig geistige Liebe handelt m. a. W., ob es nicht vielmehr darum geht, auf dem Weg zu einem h heren, geistigen Liebesideal den K rper durch seine Vernichtung zu transzendieren. Hans Henny Jahnns Pastor Ephraim Magnus (1919) und das dramatische Werk von Sarah Kane (1995-2000) stehen f r eine Version des drastischen Theaters, das diese Fragen provoziert. Auf der Grundlage von historischen R ckverweisen auf die Literaturgeschichte der Drastik ist in vergleichender Lekt re dieser St cke zu pr fen, ob die extremste Form der physischen Grausamkeit hier dazu dient, durch k rperliche Gewalt den K rper hinter sich zu lassen. I. Die L sung der Gewalt von ihrer Zweckbindung, ihre Befreiung von Zielen, die noch einer gegebenen sozialen Dynamik verpflichtet sind, beginnt fr h: Senecas Trag die yestes (1. Jh.) setzt sie bereits um. Die Dramatisierung einer Episode aus der 1 Martin Saar, Zu viel. Drastik und Affekt , in: polar 16 (2014), S. 19-22, hier S. 20. Auch die heutigen, popul rkulturellen Erscheinungsformen des Drastischen lie en sich genealogisch zur ckdeuten auf die Geschichte des Dramas und seiner Wirkungs sthetik, die Menschen vor den Augen und Ohren anderer Menschen in Szene setzen.

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Geschichte der Atriden, des Konflikts der Br der Atreus und Thyestes, ist, ihrer Ausgangssituation zufolge, noch verstrickt in den generationellen Zusammenhang der mit dem g ttlichen Fluch belasteten Familie des Tantalos. Die sich in mehreren Generationen wiederholende, m rderische und verbrecherische Aggression gegen die eigenen Familienmitglieder ist im Mythos zun chst nichts als die Konsequenz aus der Urschuld des Sippenvaters Tantalos, aus dessen berheblichkeit den G ttern gegen ber.2 Der Streit zwischen den Br dern Atreus und Thyestes ist zudem motiviert durch Ehebruch und durch den von beiden erhobenen Anspruch auf die mykenische Herrschaft. Wenn sich in Senecas Trag die nun Atreus als K nig von Argos entschlie t, Rache an seinem Bruder zu ben, so konzipiert er diese Handlung bereits als eine, die weit ber eine blo e, an der vorangegangenen Tat gemessene Vergeltung oder Bestrafung hinausgeht. Das Problem der mit der dialogischen Dramatisierung einhergehenden Individualisierung der mythischen Figuren des Sto s l st Seneca, indem er Atreus einen besonderen Ehrgeiz zuweist: Der vom Hass auf seinen Bruder Getriebene zielt auf den Superlativ und damit auf einen Akt, der sich aus der in der Vorgeschichte angelegten, wechselseitigen Rachedynamik herauskatapultiert. Ausbr ten will ich Verbrechen, so blutig und scheu lich,/ Da mein Bruder w nschte, er h tte sie selber geplant./ Verbrechen, niemals s hnbar, berboten von keinem. 3 Ausdr cklich beabsichtigt Senecas Atreus, mit seiner Tat einen neuen Ma stab zu setzen, ein noch nie Dagewesenes zu ver ben: Gefolgsmann: Was heckst du aus, Verr ckter du, vor Tollwut wild?/ Atreus: Nichts, was ihr Sterblichen schon kennt als Schmerz./ Nicht eine Greueltat bleibe unversucht. Genug ist keine. 4 Der Wille zur berbietung ist nicht nur der pers nliche Ehrgeiz des Atreus, sondern zugleich poetologisches Programm des St cks, er ist als senecanische[r] Komparativ sein dramatische[s] und thematische[s] Zentralmotiv .5 Das Streben nach einem Gewaltrekord resultiert bekanntlich im als Opferritual vollzogenen Dreifachmord an den S hnen des Thyestes, der die zerst ckelten und gekochten K rper unwissend verzehrt und die Mahlzeit mit einem Bluttrank ab2 Zur Vorgeschichte des Thyestes und dem Atridenstoff vgl. die Erl uterungen von Bernd Seidensticker in Seneca, Thyestes, aus dem Lateinischen bersetzt von Durs Gr nbein, mit Materialien zur bersetzung und zu Leben und Werk Senecas herausgegeben von Bernd Seidensticker, Frankfurt a. M.-Leipzig: Insel 2002, S. 91-94. 3 Seneca, Thyestes (Anm. 2), S. 23, Z. 194-196. 4 Seneca, Thyestes (Anm. 2), S. 27, Z. 254-256. Noch deutlicher formuliert es eine ltere bersetzung: Nichts, was einer gewohnten Erbitterung Ma haben k nnte. Keinen Frevel werde ich bergehen, und keiner ist mir genug. Seneca, Thyestes, in: ders, S mtliche Trag dien, lateinisch und deutsch, bersetzt und erl utert von Theodor Thomann, Z rich-Stuttgart: Artemis 1969, S. 105-181, hier S. 123. 5 Seidensticker in Seneca, Thyestes (Anm. 2), S. 117 und 127. Seidensticker f hrt eine Reihe von Erkl rungen f r dieses poetologische Steigerungsprogramm an, darunter die auf stilistische Effekte der berbietung angelegte Rhetorik und Poetik der fr hen Kaiserzeit , die stoische Affektenlehre, die in der ihrem Zorn verfallenden Figur des Atreus ein Gegenst ck erh lt, sowie die ihre Grausamkeiten in der Arena zur Schau stellende historische Gewaltherrschaft von Kaisern wie Nero oder Caligula.

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schlie t. In seiner berbietung politischer oder sozialer Motive durch die Exzeptionalit t solcher Gewalt kann der Thyestes als erstes drastisches Drama der Geschichte gelten, folgt man der Pr gung des Begri s durch Dietmar Dath: Der gr liche Moment [ ] stellt sich ohne relativierende Hintergedanken aus, gen gt sich selbst [ ] ,6 so Dath, der im komparativen Steigerungsprinzip der Gewalttaten zugleich ein Spezi kum der Moderne erkennen will: Ihr Ma und Ziel ist, typisch f r moderne Taten, da sie historisch neu sind und da man sie nicht ungeschehen machen k nnen soll [ ]. Denn sie dienen der Behauptung, Best tigung, Erlangung und Festigung der Gewalt, die manche Menschen ber andere aus ben k nnen oder wollen. 7 Die Absicht, zu berbieten, zu steigern und formal zu erneuern, kann mit Plausibilit t als Antriebsmoment der sthetischen Moderne gelten, ist indes, der Thyestes zeigt es eindrucksvoll, keineswegs deren Alleinstellungsmerkmal. H chst modern wirkt das St ck gerade darin, dass der Ehrgeiz seines abgr ndig b sen Protagonisten auch als der Ehrgeiz des Dramatikers Seneca deutbar ist, ein dramaturgisches Exempel zu statuieren. Seine sich selbst bezweckende, ausnehmende Gewalt macht das Drama zu einem fr hen Beispiel autonomer sthetik: Es z hlt hier in erster Linie die dramaturgische Neuerung als solche. Diese wird tats chlich erreicht durch die theatrale Pr sentation des avant la lettre sadistischen, dreifachen Kindsmordes und das angeschlossene, kannibalistische Mahl des Vaters. Allerdings zeigt sich das Drama Senecas als beherrscht vom Primat der Rhetorik, wenn die Taten nicht auf der B hne ausagiert, sondern mit den Mitteln der Sprache, im Botenbericht, der Vorstellungskraft anheim gegeben werden.8 Die gesuchte berbietung l sst sich deshalb verstehen als eine, die der stilistischen Steigerungsabsicht der zeitgen ssischen Rhetorik genauso geschuldet ist wie einem dramatischen Illustrations- und Innovationsprinzip.9 Die A ekte werden erreicht durch die e ektvolle, sich selbst in ihrer Wirkung sthetisch legitimierende Rede,10 in einem Drama, das sich der Sprache mehr als dem sichtbar in Szene Gesetzten anvertraut und so als Kunstzeugnis der rednerischen evidentia und Emphase gelten kann. Diese sthetische Regel, die physischen Gr uel eben doch nicht zu zeigen, sondern nur verbal zu entfalten, erweist sich als eine lange, in der Dramengeschichte bis ins 20. Jahrhundert vorherrschende.

6 Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 19. 7 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 6), S. 25. 8 Vgl. Seneca, Thyestes (Anm. 2), S. 55-65, Z. 623-788. 9 Vgl. Seidensticker in Seneca, Thyestes (Anm. 2), S. 127 f. 10 Nicht auf einen nach kausalen Gesetzen des bergangs in sich geschlossenen psychologischen Ablauf kommt es dem Dichter an, sondern Affektentladungen in Krisenmomenten mit allen Mitteln einer differenzierten und bis ins letzte Kolon durchgeformten Sprache durch gl nzende Bilder anschaulich zu machen. Otto Regenbogen, Schmerz und Tod in den Trag dien Senecas , in: ders., Kleine Schriften, herausgegeben von Franz Dirlmeier, M nchen: C.H. Beck 1961, S. 409-462, hier 435.

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In der Nachwirkung solcher Dramatik bringt zuerst die Fr he Neuzeit St cke hervor, die in ihrer Inszenierung des Schreckens motivisch und formal noch dem antiken Vorbild verpflichtet sind, denen aber doch eine Neuerung gelingt.11 Diese liegt in der Relativierung der sprachlichen Vorherrschaft durch die auf der B hne ausgestellten, drastischen Bilder, die eine explizite Rede begleiten. So ist etwa exemplarisch in Shakespeares Titus Andronicus (ca. 1593) die Vergewaltigung Lavinias zwar noch ins off verlegt, die folgende Szene aber geht nicht nur den Schritt zur szenischen Konkretisierung, sondern folgt zugleich der bei Seneca schon g ltigen berbietungslogik. Nachdem die verst mmelte und blutende Lavinia, deren Peiniger ihr nicht nur, wie ihrem mythologischen Vorbild Philomela,12 die Zunge, sondern auch die H nde abgeschnitten haben, auf die B hne gef hrt worden ist, verleiht ihr Onkel Marcus seinem Entsetzen und seinem Mitleid Ausdruck in einem langen Monolog, dessen rhetorische Kunstfertigkeit f r ein modernes Empnden den schrecklichen Anblick auf groteske Weise konterkariert. Die Parallelsetzung elaborierter, poetischer Rede mit dem konkreten, k rperlichen Schockmoment, the juxtaposition of physical atrocity and arti cial language ,13 mag heute dramaturgisch ungelenk und deplatziert wirken, markiert aber pr gnant den historischen Prozess,14 in dessen Verlauf das Grauen nicht mehr nur verbalisiert, sondern auch demonstriert wird. Auch die folgenden Szenen des St cks, in denen sich das Geschehen gewaltsam zuspitzt, greifen auf etablierte, situative Topoi des Philomelaoder des Thyestes-Sto s zur ck, um sie entweder verbal oder darstellerisch besonders e ektvoll umzusetzen (III, 1 und V, 2). Die Verlagerung der Handlung in die reale Geschichte, die sich mit diesen St cken vollzieht, ndert wenig an deren Wirkungs sthetik. Nicht nur, weil die Mythen der Antike als deren eigene Vorgeschichte verstanden worden sind, sondern auch, weil der Wille zur Wirkung der gleiche bleibt. Die Gr uel sind das zentrale Moment, ob sie nun von den Figuren der Mythologie oder von dramatis personae begangen werden, die reale, historische Vorbilder haben. Die elisabethanische Rachetrag die, die Aus bung der Macht in titanischem Ausma in Marlowes Tamburlaine demonstrieren die berbietungsmechanismen nicht nur st ckimmanent, sondern eben auch gattungsimmanent. Dennoch ersch pfen sich die St cke wohl nicht in dieser poetologischen Selbstzweckhaftigkeit des E ekts, steht mit ihnen als Bei11 Ausf hrlicher zur Nachwirkung der Trag dien Senecas: Regenbogen, Schmerz und Tod (Anm. 10), S. 409-430. 12 Vgl. Ovid, Metamorphosen, 6.412-674. 13 Alan Hughes in William Shakespeare, Titus Andronicus, herausgegeben von Alan Hughes, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 34. Zur Rhetorik der Beschreibung des Grausamen in Senecas Thyestes und Shakespeares Titus Andronicus vgl. auch Martin Brunkhorst, Die Grausamkeit des Atreus. Senecas Botenbericht bei Shakespeare, Cr billon und Goethe , in: R diger Zymner (Hrsg.), Erz hlte Welt Welt des Erz hlens. Festschrift f r Dietrich Weber, K ln: edition chora 2000, S. 47-66, besonders S. 55. 14 Dieser historische Prozess beginnt schon mit Shakespeares unmittelbaren Vorg ngern, z. B. Christopher Marlowe (z. B. Tamburlaine the Great, 1587/88) oder Thomas Kyd (The Spanish Tragedy, ca. 1592).

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spielen des tragischen Genres doch auch die Kategorie der Katharsis zur Diskussion. Die Poetik der drastischen Dramatik w re dann, im Anschluss an Dirk Linck, als eine Version der Katharsis zu lesen, die sich in deren aristotelisch begr ndeten Bahnen bewegt, aber doch ihre Spezi ka hat. Verfolgt man die in der Diskussion ber das Vergn gen an Drastik hin- und hergehenden Argumente, so zeigt sich, dass es sich dabei ausnahmslos um Reformulierungen genau jener Argumente handelt, die bereits in der Diskussion ber das Vergn gen an tragischen Gegenst nden ausgetauscht wurden. 15 Die Vehemenz, mit der sich die entsprechenden Szenen in den Vordergrund spielen, sorgt dann allerdings daf r, dass sich das drastische Drama sowohl von etwaigen historischen Kontexten als auch von den Formvorgaben der Trag die, die sie auf dem Papier noch erf llen mag, weitgehend l st und zu etwas Eigenem wird. Drastik beginnt dort, wo das Explizite in einem Ausma in Szene gesetzt wird, das mit berkommenen Genrekonventionen nicht mehr in Einklang zu bringen ist und deshalb zum Anfang eines neuen drastischen Genres werden kann. 16 Lincks dankenswert klare Auflistung von rezeptions sthetischen Linien, die mit der popkulturellen Debatte um den Drastikbegri ins Spiel gekommen sind, pr zisiert das Konzept zu vier Varianten. Demnach geht es bei der drastischen Kunst a) um eine Abh rtung f r diejenigen, die sich der Herausforderung der Rezeption entsprechender Werke stellen, b) um in einer aktualisierten Fassung des klassischen Katharsisarguments eine Reinigung und Abfuhr der A ekte, c) um eine Steigerung des eigenen Emp ndens von Lebendigkeit oder d) um einen rationalen, apollinischen Genuss, der in der Zurkenntnisnahme des Menschenm glichen im Bereich des Abscheulichen besteht und schlie lich (e) um den Genuss der eigenen F higkeit, dieses im Kunstwerk auszuhalten. Die weitere Geschichte der einschl gigen Dramen, die an der Eigenst ndigkeit des Genres gegen ber der klassischen Trag die festhalten Dramen des Barock, wie Gryphius Catharina von Georgien (1657), sp ter Gerstenbergs Ugolino (1768) oder Grabbes Herzog Theodor von Gothland (1822) lie e sich, jeweils di erenziert nach Form und Wirkung, auf diese Argumente beziehen. Es best tigt sich in dieser Reihe aber zweifellos, dass es eine Tradition szenischer Gewalt gibt, in der sich das drastische Drama schon im Anfang der Literaturgeschichte als Subgenre der Trag die etabliert. Renaissance und Barock erproben die Zurschaustellung des Entsetzlichen, setzen aber zugleich die Traditionslinie fort, der zufolge das Anst ige prim r verbal entfaltet wird. Von der Folterung und Hinrichtung der Catharina von Georgien erf hrt das Publikum grausame Details, aber eben nur im Botenbericht.17 Das 17. Jahrhundert befestigt die klassische Regel, die Boileau, Aristoteles und Horaz erneuernd, 15 Dirk Linck, Die Wiederkehr der Katharsis. ber ein paar M glichkeiten, das popkulturelle Vergn gen an drastischen Gegenst nden zu erkl ren , in: Kultur & Gespenster 7 (2008), S. 43-70, hier S. 46. 16 Linck, Die Wiederkehr der Katharsis (Anm. 16), S. 54. 17 Vgl. ausf hrlich dazu Melanie Hong, Gewalt und Theatralit t in Dramen des 17. und des sp ten 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Bidermann, Gryphius, Weise, Lohenstein, Fichte, Dorst, M ller und Tabori, W rzburg: Ergon 2008, S. 168-182.

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noch einmal ausformuliert: Ce qu on ne doit point voir, qu un r cit nous l expose:/ Les yeux en le voyant saisiroient mieux la chose./ Mais il est des objets, que l Art judicieux/ Doit o rir l oreille, et reculer des yeux. 18 Was der biens ance durch seinen Anblick auf der B hne widerspricht, sei in die Erz hlung verlagert, so das Stilgebot, das auch dann noch nachwirkt, wenn die bermacht des klassizistischen Regelwerks l ngst gebrochen ist. Beispiele wie Daniel Casper von Lohensteins Trauerspiel Epicharis (1665), das die Folterung der Titel gur auf der B hne zeigt, stehen auf deutscher Seite f r den Regelbruch, der seinerseits zur Regel wird.19 Die klassizistische Forderung sorgt aber daf r, dass etwa die im Shakespeareschen Drama ausagierte Gewalt vermieden wird, indem man entsch rfte Versionen der St cke er ndet oder diese gar nicht erst spielt.20 Selbst das bis heute wohl transgressivste Ereignis drastischer Literatur, das sich mit den Schriften des Marquis de Sades am Ende des 18. Jahrhunderts einstellt, erweist sich noch als ein Spiel mit dem Zeigen und Verbergen, dann n mlich, wenn man nicht nur einzelne Texte, sondern die Wahl der Gattungen ber cksichtigt: Was de Sade in seinen bis heute kaum zur Kenntnis genommenen, ber zwanzig Theaterst cken entlich auf die B hne bringen will (fast ausnahmslos vergeblich), entspricht durchweg den Konventionen der Zeit und ist, noch im Auftritt der Figur des Libertins (im bekanntesten der St cke, Le Comte Oxtierne ou Les malheurs du libertinage, 1791), v llig unverf nglich.21 Die sthetische Revolution vollzieht sich dagegen in der Prosa, in seinen in mehrfacher Hinsicht ausufernden Romanen. Die in den Romanen versteckte, zum u ersten getriebene Provokation, deren Autorschaft er in den meisten F llen verleugnet, h lt der Marquis de Sade von der entlichkeit des Theaters fern. II. Das Prosawerk de Sades f hrt eine nicht pathologisierte, sondern rational theoretisierte und argumentativ legitimierte Kombination von Sexualit t und extremer Gewalt in die Literaturgeschichte ein. Gewalt wird hier nicht nur ausge bt, sondern von den T tern zugleich immer aufs Neue vor den Opfern handlungslogisch begr ndet und erl utert. Mit Hans Henny Jahnns Pastor Ephraim Magnus erf hrt 18 Nicolas Boileau-Despr aux, Art po tique, hg. von Rita Schaber, Halle (Saale): Niemeyer 1968, S. 44 (III, 51-54). 19 Zur bersicht, auch zur Forschung vgl. Hong, Gewalt und Theatralit t (Anm. 18). 20 Vgl. Simon Goldhill, Der Ort der Gewalt. Was sehen wir auf der B hne? , in: Bernd Seidensticker und Martin V hler (Hrsg.), Gewalt und sthetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, Berlin-New York: De Gruyter 2006, S. 149-168, hier S. 149 f. Zur Rezeptionsgeschichte des Titus Andronicus vgl. etwa Alan Hughes, Introduction , in: Shakespeare, Titus Andronicus (Anm. 14), S. 12-57. Hughes zufolge verschwand das St ck nach 1724 zun chst ganz von der B hne, bevor es in entsch rften Versionen wieder aufgef hrt wurde. Erst Peter Brook wagte sich 1955 wieder an eine vollst ndigere Spielfassung. 21 Zum dramatischen Werk de Sades vgl. Cerstin Bauer, Triumph der Tugend. Das dramatische Werk des Marquis de Sade, Bonn: Romanistischer Verlag 1994.

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die Diskursivierung der Gewalt als zentrales Antriebsmoment der Handlung dann auch eine dramatische Bearbeitung. Sie interessiert hier, weil mit ihr zugleich eine eigenwillige Ausrichtung drastischer Dramatik konzipiert ist, die bereits rund hundert Jahre zuvor bei Heinrich von Kleist im Ansatz gestaltet ist und eine sp tere Fortsetzung bei Sarah Kane ndet. Es geht um die dramatische Verk rperung von Liebe in drastischen Bildern der Gewalt, also um eine in der Anlage zun chst paradox erscheinende Figuration. Und auch in dieser Version des Genres spielt die szenographische Entscheidung, Drastik zu zeigen oder nur von ihr zu erz hlen, eine tragende Rolle. In der Penthesilea ist diese Frage der poetologische Dreh- und Angelpunkt, die Narrativierung des Geschehens im Bericht hat System. Schon wenn der Akt der T tung des Achilles durch Penthesileas Hundemeute und sie selbst sowie ihr anschlie ender, kannibalischer bergri auf den toten K rper zuerst in Teichoskopie (V. 2591-2600), dann im Botenbericht Meroes (V. 2601-2703) vermittelt wird, f llt die Ausf hrlichkeit der Schilderung auf. Anschlie end wird der berichtete Vorgang im Dialog erneut rekapituliert, wenn die sinnesabwesende Penthesilea St ck f r St ck begreifen muss, was sie getan hat. Der das St ck beendende Selbstmord treibt die sprachliche Absorption der Gewalt schlie lich auf die Spitze, indem die Rede selbst zur t dlichen Wa e wird: Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz, Mir ein vernichtendes Gef hl hervor. Dies Erz, dies l utr ich in der Glut des Jammers Hart mir zu Stahl; tr nk es mit Gift sodann, Hei tzendem, der Reue, durch und durch; Trag es der Ho nung ewgem Ambo zu, Und sch rf und spitz es mir zu einem Dolch; Und diesem Dolch jetzt reich ich meine Brust: So! So! So! So! Und wieder! Nun ists gut. Sie f llt und stirbt.22 Die ber hmten Verse sind Sprechakt und T tungsakt in einem, sie heben die poetologische Forderung nach einer Verlagerung des anst igen Geschehens in die Erz hlung auf, indem sie das daf r bereit stehende Mittel, die Sprache, selbst zur t dlichen Wa e machen. Die letzten Worte der Penthesilea sind keine indirekte, die Vorstellungskraft bem hende, sondern direkt ausgef hrte, rein verbale Drastik, ohne Blutvergie en. Schon der Bericht Meroes setzt sich ber die Konventionen des Stilmittels hinweg, indem er sein Potential konsequent ausreizt und die mit ihm m gliche Wirkung der Veranschaulichung, der rhetorischen Hypotypose, bersteigert. So entfaltet die Szene einen Proze der berschreitung der Rhetorik in der Rhetorik. Das Dra22 Heinrich von Kleist, Penthesilea, in: ders., Dramen 1808-1811. S mtliche Werke und Briefe, Bd. 2, herausgegeben von Ilse-Marie Barth und Hinrich C. Seeba, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, S. 256 (V. 3025-3034).

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ma erh lt hier eine Ebene der Darstellung, die nicht aus der theatralen Performativit t begr ndet ist, sondern zuallererst aus der Performanz des Sprechakts: in den narrativen Implementen der Hypotypose, die das Strukturmuster der Gattung Drama berschreitet. 23 Brandstetters genaue Lekt re zeigt, dass die im Dialog wiederholt ansetzende Ann herung an das schreckliche Geschehen dessen rhetorische Pr sentation e ektvoll steigert, so aber zum Agens der berbietung und Aufl sung des traditionellen Trag dienmodells wird.24 Am Ende des St cks verdichtet sich diese Arch ologie des extremen A ekts dann in dessen Vergegenw rtigung, wenn Penthesilea den A ekt zur Wa e umfunktioniert und gegen sich selbst richtet. Penthesileas Handlungen sind, und das ist in diesem Kontext entscheidend, getrieben von einer Form der passionierten Liebe, die, um ihr Ziel zu erreichen, vor nichts Halt macht und so in ihr tragisches Gegenteil kippt. Nicht nur die Mechanismen der Trag die werden berboten, auch das romantische Liebesideal wird in seinen Widerspr chen zum Kollaps gebracht.25 Dass dieser Prozess sich in einer Dramensprache verdichtet, die im Zuge des Scheiterns der Liebe die zum Einsatz kommende Gewalt nicht nur schildert, sondern zuletzt auch ausf hrt, ist die moderne Steigerung dessen, was bereits in der griechischen Trag die angelegt ist:26 Gewalt als zentrales Handlungsmoment ist den St cken von Beginn an eingeschrieben, aber der Sicht des Publikums i. d. R. entzogen: Doch von der Tat das Schmerzlichste bleibt fern: der Anblick fehlt! , so im K nig dipus der Diener, der vom Selbstmord Iokastes und der Blendung des dipus durch sich selbst berichtet.27 Der Klassizismus schreibt deshalb nur fest, was die Antike exemplarisch bereits vorgef hrt hat: Es ist in der griechischen Trag die nicht blich, Gewalt auf der B hne zu zeigen. Morde, Selbstmorde, Blendungen, Verst mmelungen alles das, obwohl es einen erheblichen und nicht selten zentralen Teil der Handlungen 23 Gabriele Brandstetter, Das Wort des Greuelr tsels . Die berschreitung der Trag die , in: Walter Hinderer (Hrsg.), Kleists Dramen, Stuttgart: Reclam 1997, S. 75-113, hier S. 93 f. 24 Brandstetter, Das Wort des Greuelr tsels (Anm. 24), S. 106. 25 Vgl. dazu die Ausf hrungen von Anthony Stephens, Das nenn ich menschlich nicht verfahren. Skizze zu einer Theorie der Grausamkeit im Hinblick auf Kleist , in: Dirk Grathoff und Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1988, S. 10-39, der Kleist mit de Sade vergleicht und in Bezug setzt zu Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimit t, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982. 26 Dass die sthetische Entscheidung der Antike, Gewalt zu dramatisieren, ohne sie zu zeigen, dazu f hrt, dass sie in die Sprechakte eingeht, kommentiert Karl Heinz Bohrer, Zur sthetischen Funktion von Gewalt-Darstellung in der Griechischen Trag die , in: Seidensticker und V hler (Hrsg.), Gewalt und sthetik (Anm. 21), S. 169-184. 27 Sophokles, K nig dipus, bersetzung und Nachwort von Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam 1989, S. 55 (Z. 1237 f.). Auch die die Trag die ausmachenden Mordakte werden nicht gezeigt. Die wenigen Ausnahmen, die f r die erhaltenen Trag dien konstatiert worden sind (wie der Selbstmord des Aias und Euadnes Sprung in den Tod), best tigen eher die Regel, als da sie sie in Frage stellten. Bernd Seidensticker, Distanz und N he: Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Trag die , in: Seidensticker und V hler (Hrsg.), Gewalt und sthetik (Anm. 21), S. 91-122, hier S. 103.

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ausmacht, ndet im griechischen Theater verborgen vor den Augen der Zuschauer statt. 28 Gleichwohl kennt die antike Trag die einen ganzen Katalog von Formen, mit denen entsprechende Szenen ins Geschehen integriert und indirekt, also verbal, gestisch oder akustisch pr sentiert werden,29 wobei argumentiert worden ist, dass diese vermittelte Vorf hrung eine heftigere Wirkung hervorrufen kann, als es die eigentliche Aktion auf der B hne je k nnte.30 Anders als Penthesilea, die in ihrem letzten Kampf reine A ekthandlungen vollzieht und der die Intensit t ihrer Gef hle zeitweise die Sprach- und Bewusstseinsf higkeit raubt, bleiben die zentralen Protagonisten in Jahnns kontrovers aufgenommenem Erstlingswerk Pastor Ephraim Magnus jederzeit eloquent und entschlossen. Zugleich ist die in der sexuellen Gewalt der antiken Trag dien, in den weiblichen M rtyrer guren des Barock deutlich sichtbare Tendenz der drastischen Dramatik zur Misogynie hier in besonderem Ma ausgepr gt. Schmerz und Qual erleiden beide Geschlechter programmatisch, Wortf hrer, Entscheidungstr ger und Ausf hrende aber sind bei Jahnn die M nner. Die Handlung ist patriarchal strukturiert: Der zu Beginn sterbende Pastor Magnus vererbt seinen Nachkommen den Auftrag, den Weg zu Gott zu suchen und das hei t: die reine, einfache, k rperliche Liebe, an der der Mensch gewordene Gott unter den Menschen gescheitert ist doch wollte keiner seine Liebe tragen und sich aufmachen, mit ihm die einfachen Dinge zu leben, die die Erl sung in sich haben zu verwirklichen;31 die S hne Jakob und Ephraim machen sich diesen Auftrag zu Eigen und setzen bis zum Ende des St cks alles daran, ihn auszuf hren. Die Tragik des St ckes ist in diesem Lebensplan angelegt, dem eine paradoxe Vorstellung zu Grunde liegt: g ttliche Liebe in k rperlicher, animalischer Direktheit und Intensit t zu verwirklichen, im selben Zug aber als zeitloses Ideal zu vergeistigen und so vor der Verg nglichkeit zu bewahren. Nachdem der erste der beiden vom Vater aufgezeigten Wege, der auf eine die Unversehrtheit und Integrit t der K rper missachtende, sexuelle Verschmelzung der Seelen miteinander zielt, f hrt der zweite Weg zu drastischer K rperfeindschaft und zu dem Schluss, nur im Unma an Schmerzen k nne man Gott und damit dem Ideal der Liebe f r einen Moment nahekommen.32 Die von ihm selbst geforderte Kreuzigung Jakobs durch Johanna ist nur einer von vielen Gipfeln der Gewalttaten, die im Zuge der Verwirklichung dieser 28 Dorothea Zeppezauer, B hnenmord und Botenbericht. Zur Darstellung des Schrecklichen in der griechischen Trag die, Berlin-New York: De Gruyter 2011, S. 6. 29 Vgl. Zeppezauer, B hnenmord und Botenbericht (Anm. 29), S. 49-57, listet f r die griechische Trag die folgende f nf g ngige Formen: 1.) der Botenbericht, 2.) die optische Pr sentation in Form einer sogenannten ecce-Szene, 3.) das gleichzeitig stattfindende und meist aus dem R ckraum der B hne h rbare Geschehen, 4.) die Androhung von Gewalt, 5.) die prophetische Vorwegnahme der Szenen. 30 Vgl. Seidensticker, Distanz und N he (Anm. 28). 31 Hans Henny Jahnn, Pastor Ephraim Magnus, in: ders., Werke in Einzelb nden (Hamburger Ausgabe), herausgegeben von Uwe Schweikert und Ulrich Bitz, Bd. 6: Dramen I, 19171929, herausgegeben von Ulrich Bitz, Hamburg: Hoffmann & Campe 1988, S. 5-182, hier S. 15. 32 Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 120.

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christliche Motive eigenwillig umdeutenden Liebesideologie begangen werden: Die in Christus exemplarisch verk rperte Rolle des Opfers f r die Wahrheit wird nicht nur von den sich selbst verst mmelnden Protagonisten wiederholt, sondern auch denen aufgezwungen, die sich an der b rgerlichen Ehe orientieren und deren Liebe als eine unreine gilt. Fordere nach dem Ma Deiner Liebe, nicht nach dem Ruf von Ehre und Sitte. [ ] Wenn du nicht sein willst wie ein Opfertier, das man abschlachtet, kann dir und mir kein Gl ck werden. 33 So wie die eigene Qual und die Nahestehender verkl rt wird, so auch die Gewalt gegen andere: Es gibt den Unterschied zwischen Gottes Gerechtsein und der Gewaltt tigkeit der Menschen nicht. Es mu die Geilheit der Knechte ber cksichtigt werden und die Lust der Richter. 34 Die Sprache des St cks adaptiert die apodiktische Diktion der Bibel, konterkariert aber deren Inhalt. Dabei wird der Unterschied zwischen dem Selbst und den anderen ebenso radikal nivelliert, wie der zwischen Lust und Schmerz. Die Protagonisten sind als Individuen kaum voneinander unterscheidbar, abgesehen von der famili ren Bande und religi sen berzeugung, die Magnus und seine Nachkommen von den anderen Figuren trennt. Fragt man, wer denn eigentlich bei Jahnn spricht, so st t man darauf, da hier berhaupt nicht Personen zu Personen sprechen , so Hans-Thies Lehmann mit Bezug auf Jahnns St cke. Die S tze entstammen einem Irgend-Raum, es k nnte sich um eine Mehrzahl von Stimmen handeln, um einen Chor. 35 Wie ein mehrere Beteiligte erfassendes Begehren wird die Suche nach dem im Handlungsverlauf zur leitmotivischen Allegorie gewordenen Weg zun chst von Jakob, dann abwechselnd von Ephraim und Johanna in Wort und Tat vorangetrieben. Ausagiert wird dabei zugleich die Aneignung und Umst lpung der christlichen Passion: Pastor Ephraim Magnus, der sich kreuzigen lie , der Geblendete und Entmannte, der Prediger, den man als Heiligen verehrt, ist nicht blasphemisch im Versuch einer Nachfolge der Passion, sondern in der Verweigerung dieser Nachfolge. 36 Das Ziel ist die gr tm gliche Intensit t der Erfahrung von K rperlichkeit, wie die Szene der Ermordung Johannas durch Ephraim zeigt, in der die physischen Extreme von Schwangerschaft, T tungs und inzestu sem Geschlechtsakt motivisch verschmelzen: Ephraim: [eilt zu ihr, rei t die Decke fort, schl gt mit seinen F usten auf sie ein.] Du sollst durch mich sterben; ich dulde niemand anders! Mein Scho , mein Leib, kein Gift Blut! [Er bei t sich in die Hand, da Blut hervorspritzt, w hlt die Hand zu ihr, bestreicht ihren Leib damit.] Da, mein Blut, mein Blut, nicht fremdes Gift! 33 Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 68. 34 Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 130. 35 Hans-Thies Lehmann, Jahnns Texte Welches Theater? , in: Hartmut B hme und Uwe Schweikert (Hrsg.), Archaische Moderne. Der Dichter, Architekt und Orgelbauer Hans Henny Jahnn, Stuttgart: M & P Verlag f r Wissenschaft und Forschung 1996, S. 127-143, hier S. 134. 36 Hans Mayer, Versuch ber Hans Henny Jahnn, Aachen: Rimbaud Presse 1984, S. 23.

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Johanna: Ephraim, Ephraim, ich f hle meine Eingeweide, als tr test Du auf mich wie man ein Kind f hlt. Ephraim [w lzt sich ber sie, erdr ckt sie.]37 In der Aufl sung der Personengrenzen, im Zusammenfallen der Gegens tze von Lust und Schmerz, von passiv und aktiv, von fremder und eigener Sinnlichkeit wird das Ideal der Liebe als K rpererfahrung aber zu einer Abstraktion, die unerreichbar bleibt. Der Wunsch, die Verwesung der Gestorbenen nicht zuzulassen und die Verg nglichkeit des K rpers zu berwinden, der gegen Ende des St cks in das der Jahnnschen Konzeption der Glaubensgemeinschaft Ugrino38 entsprechende Phantasma der Errichtung eines Sakralbaus mit darin ausgestellten und anzubetenden, bronzenen J nglingsstatuen m ndet, ist Ausdruck einer paradoxen, aus bersteigerter K rperlichkeit entwickelten Negation des K rpers.39 Der letzte Satz des St cks lautet folgerichtig: [ ] wer nur Fleisch hat, irgendwie, hei t verdammt. 40 Das Jahnnsche St ck geht in seinem Ausma exzessiver Gewalt ber die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden dramatischen Beispiele hinaus und ist auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts solit r. Was das Verh ltnis von Zeigen und Verbergen angeht, so f gt es sich aber in die Theatergeschichte nahtlos ein. Es handelt sich um ein Drama der Sprache, das seine Gewalt fast ausschlie lich in diesem Medium entwickelt. Gezeigt wird dagegen wenig die oben zitierte Mordszene ist eine Ausnahme und das expliziteste Textbeispiel. Andere, sehr viel aggressivere Handlungen, mit denen etwa die Integrit t lebender und toter K rper massiv verletzt oder Sto wechselvorg nge gewaltsam r ckg ngig gemacht werden, k nnen auf der B hne ausgesprochen, berichtet oder angek ndigt, dort aber nicht ausgef hrt werden. Dies gilt f r Jakobs Mord an der Prostituierten genauso wie f r seine eigene Enthauptung41 oder f r zahlreiche weitere drastische Handlungen, mit denen das St ck durchsetzt ist. Versteht man diese Formgebung als Fortsetzung der klassischen Regel, so wirkt sie wie Hohn: Eine jedes konventionelle Ma sprengende B hnenhandlung unterwirft sich doch der Norm; Exzesse in bis dahin nicht gekanntem Ausma werden, in psychisch wie physisch belastender Ausf hrlichkeit, verbal entfaltet, immer aber mit R cksicht auf die dramaturgisch-poetologische Regel ihrer Verbannung von der B hne. Dennoch liegt darin eine Logik: Soll in der physischen Grenzerfahrung die Begrenztheit des K rpers berschritten, soll er in seiner u ers37 Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 159. 38 Die transgressiv sakrale Handlung des Pastor Ephraim Magnus kann mit dem Ugrino-Konzept plausibel abgeglichen werden und l sst sich, wenn man will, als in der Anlage streng und symmetrisch strukturiert interpretieren. Vgl. Reiner Niehoff, Hans Henny Jahnn. Die Kunst der berschreitung, M nchen: Matthes & Seitz 2001, S. 179-190. 39 Zum das St ck von Beginn an pr genden Motiv der Verwesung vgl. Jan Christian Metzler, De/Formationen. Autorschaft, K rper und Materialit t im expressionistischen Jahrzehnt, Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 301-311. 40 Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 182. 41 Vgl. Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 98-100.

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ten Sp rbarkeit transzendiert werden, so verlangt das eine Abstraktion, die das Medium Sprache als die eigentliche Szene der Gewalt dieses St ckes leistet. Die Sprache, so wie sie im Gebrauch ist, erweist sich f r eine solche Konzeption freilich als ungeeignet. Der Text belegt das wiederholt, beginnend mit der Gleichung von Tod, gewaltsam zerst rten K rpern und Worten, die der ltere Magnus zu Beginn seiner Predigt aufmacht: Und jeder Satz ist na von Schwei und schwer von Angst vor Bein und Knochen und jeder Sinn in dickes rotes Blut getr nkt und tief verhangen mit der Stille schwarzer, unbeweglich grausam schwarzer N chte, die wie Grabgew lbe waren, lichtlos, moderriechend, Stein und zu. [ ] Ich brauche Worte, ich habe Worte Not. Ich will sie gegen Leben wechseln und mit Blut einl sen und mit Seelenbrocken. Meine Schmerzen verdienen andre Laute als die aus einem Sprachregister. Wenn ich sie sagen k nnte! Sie sind wie das Gurgeln, das Ged rme geben, wenn sie aus einem aufgeschlitzten Bauch hervorkollern und wie gr ne und graue Masse sind mit abscheulich verdauenden Windungen. 42 Auch die weiteren Versuche der Protagonisten, die schon gemachten und noch zu suchenden Erfahrungen auszusprechen, scheitern an der Unzul nglichkeit der zur Verf gung stehenden Sprache: Es gibt die Worte nicht, die ich gebrauche. Ich mu es mit den Worten anderer sagen, die schon in den Zeitungen standen und so abgegri en sind, da die Hausm tter an der Vorstellung vor bergleiten und die M nner mannhaft bleiben vor dem Greuel. Die Worte sind eine Wand geworden und die andern nackten, t tenden oder irrsinnig machenden Worte gibt es nicht.43 Die Unm glichkeit, beide anfangs von Magnus aufgezeigten Wege, den der bedingungslosen Liebe und den des schmerzvollen Opfers,44 verbal ad quat zu begleiten, verhindert den Versuch nicht. Es z hlt in dieser Rechnung das u ern mehr als die u erung, die Performanz mehr als die Semantik. Ach, seitdem das Entlegenste wahr sein soll, sind alle Entgegnungen wie Schall. [ ] Und das Gesagte beh lt recht ber die Worte hinaus. 45 Das Ergebnis dieses szenischen und sprachlichen Angri s auf die Theaterkonventionen ist eine sakralisierte dramatische Kunstsprache, ein radikales Worttheater ,46 das K rperliches konsequent in sich aufnimmt und in diesem Zug zugleich von der B hne fernh lt. 42 43 44 45 46

Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 12 f., 18. Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 121 f. Vgl. Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 15. Jahnn, Pastor Ephraim Magnus (Anm. 32), S. 132. Lehmann, Jahnns Texte Welches Theater? (Anm. 36), S. 133. Zur Sprache des Pastor Ephraim Magnus vgl. ausf hrlicher auch Niehoff, Hans Henny Jahnn (Anm. 39), S. 196-205.

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III. Die St cke Sarah Kanes stehen in der hier er neten Reihe f r ein postdramatisches Theater der Gewalt, das gegen ber den bisherigen Beispielen vor allem mit seiner Form Neuland betritt. Ihre f nf St cke, die innerhalb der letzten f nf Jahre des vergangenen Jahrhunderts ihre Urau hrungen erlebten, bringen, anders als etwa das Drama Jahnns, Gewalthandlungen auf der B hne o en zur Anschauung. Sind ihr andere, wie Edward Bond, Heiner M ller oder Werner Schwab, darin auch vorausgegangen, so hat ihr Werk doch ein eigenes Pro l durch die zentrale dramaturgische Funktion, die der Gewalt darin zukommt, durch ihre Unvermitteltheit im Verlauf der St cke und durch die Schwierigkeit, sie auf eine Motivation zu beziehen. Die seit der Jahrtausendwende schon immens angewachsene Forschung zeugt von dem enormen Interesse, das die St cke auf sich gezogen haben und von dem literaturgeschichtlichen Rang, der ihnen zugestanden wird.47 Ruft man sich die zitierte tragische Tradition in Erinnerung, die Gewalt von der B hne fernh lt, um sie sprachlich wieder einzuholen, so erkennt man bereits in Kanes erstem St ck Blasted (1995) ein provokantes Gegenmodell das aber zun chst den genau gegenteiligen Eindruck vermittelt. Denn der erste Gewaltakt des St cks und damit des gesamten dramatischen Werks der Autorin , die Vergewaltigung der psychisch labilen Cate durch Ian, wird ausgespart. Er ndet statt in der Nacht, die zwischen der ersten und zweiten der f nf Szenen liegt, wird also im Szenenverlauf bersprungen und erst in Szene Zwei nach und nach aufgedeckt.48 Scheint die dramatische Konvention hier noch zu greifen, so wird sie durch die folgenden, schockartigen Szenen umso heftiger konterkariert. Dabei l sst sich das Geschehen als eine Kontrafaktur der motivischen Tradition lesen, die der Frau immer wieder die Rolle des Opfers zukommen l sst: Die Vergewaltigung Ians durch den fremden Soldaten in Szene Drei ist lesbar als eine den vorherigen bergri ausgleichende, dramatische Vergeltung, die noch gesteigert wird durch die anschlie ende Blendung. Diese kann ebenso als Anspielung auf ltere tragische Sto e (K nig dipus, King Lear) gelten, wie das Motiv des Kannibalismus (Thyestes, Titus Andronicus), wenn Ian ein totes Baby verspeist. Die formalen und motivischen AnW hrend sich die Forschung grunds tzlich einig ist, dass Jahnns Dramatik mit Antonin Artauds Theater der Grausamkeit in Verbindung zu bringen sei, wird diese M glichkeit wegen der gro en Bedeutung der Sprache bei Jahnn doch auch deutlich relativiert. Niehoff parallelisiert Jahnn mit Artaud, w hrend Lehmann und Robertson Zweifel anmelden: Ritchie Robertson, Polymorphous Eroticism in the Early Plays of Hans Henny Jahnn , in: Anna Katharina Schaffner und Shane Weller (Hrsg.), Modernist eroticisms. European literature after sexology, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, S. 105-122. 47 Vgl. einf hrend Graham Saunders, Love me or kill me . Sarah Kane and the theatre of extremes, Manchester: Manchester University Press 2002. 48 Vgl. Kim Solga, Blasted s Hysteria: Rape, Realism, and the Thresholds of the Visible , in: Modern Drama 50 (2007), S. 346-374. Solga argumentiert in ihrer ausf hrlichen Untersuchung dieser szenischen Leerstelle, diese mache die gesellschaftlich eingespielten Mechanismen, Gewalt (speziell gegen Frauen) zu verbergen, gerade sichtbar.

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spielungen auf die Tradition der Gattung machen den Bruch, der in der ausgestellten, handlungsimmanent allenfalls durch Triebhaftigkeit und Sadismus motivierten Brutalit t liegt, nur eklatanter. Die intertextuellen Anspielungen rufen die Gattungsgeschichte auf, die Form des St ckes weist sie zugleich zur ck. Die darin liegende Provokation ist aber, das zeigten die bisherigen Ausf hrungen, eine historisch programmierte, sucht doch das drastische Drama schon seit der Antike nach immer neuen M glichkeiten der berbietung. Und Kane ndet sie, indem sie die genannten Motive nicht nur physisch ausstellt, sondern in der Art und Weise ihrer Ausf hrung zuspitzt: Die zweite Vergewaltigung ist eine zwischen M nnern, die anschlie ende Blendung erfolgt, indem der Soldat Ian die Augen aussaugt. Als zentrales Thema der St cke Sarah Kanes l sst sich die Liebe ausmachen. Beginnend mit dem aggressiven Verh ltnis zwischen Cate und Ian in Blasted sind alle ihre St cke von einer meist verzweifelten, obsessiven Suche nach diesem alles andere dominierenden Gef hl gepr gt. Die im Verlauf der St cke, aber auch in der formalen Entwicklung von St ck zu St ck zunehmende Surrealit t spricht daf r, dass die gesellschaftlichen Rahmungen der pers nlichen Beziehungen zwischen den Protagonisten als Verl ngerung und Projektion von deren Konflikten aufzufassen sind. Der nicht n her de nierte Krieg in Blasted, der Aufstand der Bev lkerung in Phaedras Love w ren dann ein Ausdruck der in den gescheiterten Liebesbeziehungen eingesetzten, seelischen und k rperlichen Gewalt, diese zugleich die soziale Keimzelle jener Ereignisse. Die splatterartigen Szenen, die in den St cken zur Sprache kommen, sind kaum auf der B hne umsetzbar, aber gerade in dieser Eigenschaft aufschlussreich: Was sich weder psychologisch motivieren noch physisch darstellen l sst, widerspricht jeder realistischen Deutung. Die Gewalt l sst sich demnach in zwei Richtungen interpretieren: negativ, als berdeutlicher Hinweis auf das Leid, das im Scheitern der Liebe liegt, mehr noch: auf deren grunds tzliche Unm glichkeit; positiv, als Bildarsenal eines sich in Erfahrung und Ausdruck des Schmerzes doch zu seinem Recht verhelfenden Begehrens: Expressing my pain without easing it. 49 Den zahlreichen, exzessiven bergri en stehen nur wenige, kurz angedeutete Momente von Einsicht oder Zuwendung gegen ber, die von der Forschung immer wieder dankbar aufgegri en werden Cate, die den hilflosen Ian am Ende des St ckes f ttert,50 Theseus Bedauern, dass er unwissentlich seine Stieftochter gesch ndet hat (Phaedra s Love). Eine Folge der Dominanz der Motive des Scheiterns ist, dass deren szenische Umsetzung selbst zum Ventil der verausgabten seelischen und k rperlichen Energien wird. Der Ruin, auf den die Lebenslage der Protagonisten zusteuert, wird nicht einfach konstatiert, sondern in ausdauernder Wiederholung variiert, so dass diese expressive Modulation als eigentliches, poetologisches Ziel bezeichnet werden muss, dem dann aber eine positive Qualit t im Sinne der Katharsis zuzuerkennen ist. Der wiederum surreale Masochismus des 49 Sarah Kane, Crave, in: dies., Complete Plays, London: Methuen 2001, S. 153-201, hier S. 184. 50 Vgl. Sarah Kane, Blasted, in: dies., Complete Plays (Anm. 50), S. 1-61, hier S. 61; Kane, Phaedra's Love, in: dies., Complete Plays (Anm. 50), S. 63-103, S. 102.

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Schlussbilds von Phaedra s Love auch dieses h u g zitiert illustriert es: Der bereits ermordete und ausgeweidete Hippolytus genie t den Anblick der Geier, die im Begri sind, sich ber seinen K rper herzumachen: Hippolytus: Vultures (He manages a smile.) If there could have been more moments like this. 51 Darin liegt aber die Verwandtschaft der Dramen Kanes mit dem Theater Hans Henny Jahnns. Wenn Franziska Sch ler in Kanes St cken vergessene radikale Emotionen wie die Liebe, die zerst rt , oder das Konzept einer Trag die als Wiedergewinn der Poesie (in der Sprache) und als radikalen Umschlag von Destruktion in (Wieder-)Geburt erkennt, dann lie e sich das ohne Abstriche auch auf den Pastor Ephraim Magnus beziehen: Kane gibt in ihren Trag dien sehr genau Aufschluss ber die Motivation (der Moderne) f r die Multiplikation des Pathos, f r das Interesse am (antiken) Leiden. Es geht, so verdeutlicht Kanes modernisierende Umschrift von Senecas Ph dra, um ein Sich-F hlen, um den intensiven Augenblick als Antidepressivum. 52 An zwei der oben erw hnten, von Linck angef hrten Versionen der Katharsis ist in diesem Zusammenhang zu erinnern: an die Sollizitation, bei der traumatische, obsessiv wiederkehrende Fantasien durch ihre Verwandlung in Kunst heraufbeschw rt, abgef hrt und ausgetrieben werden; und an das Vitalit tsmoment, das die a ektive Leere des eigenen Lebens unterbrechen soll und durch gelungene drastische Kunst erm glicht werde.53 Sie sind die begri iche bersetzung der oben benannten positiven oder negativen poetischen Funktionalisierung der Gewalt. W hrend die Sollizitation die emotionale Pein im poetischen Bild in physische berf hrt und im Zuge dieser Konkretisierung zu bannen sucht (negativ), richtet sich die Vitalisierung, paradox etwa in den zahl- und einfallsreich vollbrachten T tungen der St cke, aber auch in der Zitation berm chtiger Gef hle, gegen das drohende, zugleich aber ersehnte Ende von allem. C: I hate these words that keep me alive. I hate these words that wont let me die. 54 Beautiful pain that says I exist .55 Wenn die Gef hle nicht den eigenen W nschen entsprechen, dann kann zuletzt nur ihre gelebte Intensit t noch eine Rettung bedeuten. Die in der chronologischen Abfolge der St cke fortschreitende Aufl sung der Personen und Geschlechtergrenzen, die ihre Positionen und Identit ten vertauschen, bis hin zu dem ganz ohne Personen auskommenden 4.48 Psychosis, bef rdert die Mehrdimensionalit t dieser sthetik: Ob die skizzierten Wirkmechanismen f r die Autorin, die Re-

51 Kane, Phaedra's Love (Anm. 50), S. 102 f. 52 Franziska Sch ler, Wiederholung, Kollektivierung und Epik. Die Trag die bei Sarah Kane, Anja Hilling und Dea Loher , in: Daniel Fulda und Thorsten Valk (Hrsg.), Die Trag die der Moderne: Gattungsgeschichte Kulturtheorie Epochendiagnose, Berlin: De Gruyter 2010, S. 319-339, hier S. 326. Sch ler bezieht sich in ihren Ausf hrungen auch auf Howard Barkers Trag dientheorie. Vgl. dazu und zu weiteren dramentheoretischen Bez gen zu Kane auch Graham Saunders, The Apocalyptic Theatre of Sarah Kane , in: Anglistik & Englischunterricht 64 (2002), S. 123-135. 53 Vgl. Linck, Die Wiederkehr der Katharsis (Anm. 16), S. 58-65, 66-68. 54 Kane, Crave (Anm. 50), S. 184. 55 Sarah Kane, 4.48 Psychosis, in: dies., Complete Plays (Anm. 50), S. 203-245, hier S. 232.

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zipienten oder mitunter sogar f r die Figuren vorrangig gelten m gen, kann so genau gar nicht gesagt werden. Alle drei M glichkeiten kommen in Betracht. In Kanes Dramen berlagert sich, darin der Poetik Jahnns vergleichbar, K rperliches und Seelisches. Kane thematisiert das Seelische aber direkter als Jahnn, der es metaphorisiert und kaum einmal ohne die Sinnlichkeit des K rpers benennt. ber beiden poetologischen Ans tzen steht allerdings ein Transzendentes: Ist die Liebe, die von den Protagonisten in Jahnns St ck gesucht wird, eine von Beginn an religi s de nierte, so verwendet Kane das etablierte Vokabular einer Sprache der romantischen Liebe. dont say no to me you cant say no to me because it s such a relief to have love again and to lie in bed and be held and touched and kissed and adored and your heart will leap when you hear my voice and see my smile and feel my breath on your neck and your heart will race when I want to see you and I will lie to you from day one and use you and screw you and break your heart because you broke mine rst and you will love me more each day until the weight is unbearable and your life is mine and you ll die alone because I will take what I want then walk away and owe you nothing it s always there it s always been there and you cannot deny the life you feel fuck that life fuck that life fuck that life I have lost you now56 Die romantische Liebe kann aber durchaus als eine Form der s kularisierten und subjektivierten Religion gelten, der Text etwa von Crave bezeugt das in aller Deutlichkeit.57 Anders als bei Jahnns o enem Gemeinschaftsmodell, ist die idealisierte Zweierbeziehung bei Kane der a ektive Dreh- und Angelpunkt, der einen berh hten, transzendenten Wert erh lt.58 Die St cke bersteigen damit aber schlie lich auch die physische Drastik ihrer Szenen und scha en, analog zur dramatischen Sprache Jahnns, eine abstrakte Ebene, die sich nicht zuletzt in der Surrealit t vieler Szenen u ert. Es ist deren Unspielbarkeit und die an Beckett erinnernde, klanglich und rhythmisch choreographierte, im Fall von 4.48 Psychosis auch nicht mehr dialogische Sprache der letzten beiden St cke Kanes, die statt einer deutlichen, szenischen Konkretisierung nur noch einen a ektiv strukturierten, poetischen Vorstellungsraum suggeriert. Zuletzt verzichtet Kane damit auf die physische Provokation der fr heren St cke und verlegt sie ganz in eine Sprache, die ein psychisches Leid artikuliert. Damit geht ihre Postdramatik aber ber die theatrale Dialektik des Zeigens und Verbergens hinaus.59 56 Kane, Crave (Anm. 50), S. 178. 57 Vgl. etwa den stichomythischen Dialog Kane, Crave (Anm. 50), S. 196 ff. 58 Vgl. Paula Deubner, Into the Light. Selbst und Transzendenz in den Dramen Sarah Kanes, Trier: WVT 2012. 59 Vgl. Laurens de Vos, Cruelty and Desire in the Modern Theater. Antonin Artaud, Sarah Kane and Samuel Beckett, Madison, NJ: Fairleigh University Press 2011, S. 140-160. De Vos deutet 4.48 Psychosis als Verabschiedung der Trag die und Verwirklichung des Artaudschen Projekts.

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RG TREMPLER

DRASTISCH WIRD S, WENN MAN DABEI IST ber Teilhabe an der Wirklichkeit durch Bilder um 1800

I. Blutr nstig, aber distanziert: Gewaltexzesse in der Kunst vor 1800 Aus dem reichen Fundus der alten Geschichten griechischer Heldensagen und den christlichen Heiligenlegenden sind es die besonders heftigen, die sich ber Jahrhunderte hinweg einer immerw hrenden Beliebtheit erfreuten. Auf Gem lden der abendl ndischen Museen und Kirchen ist nicht nur Blut zu sehen, es flie t in Str men. Aus dem enthaupteten Rumpf Johannes des T ufers, gemalt von Rogier van der Weyden, spritzt dem Betrachter das Blut, das sein Herz in dem noch warmen, aber schon toten K rper in den letzten Schl gen m chtig pumpt, entgegen.1 Caravaggio w hlte genau den Augenblick der Bluttat der alttestamentarischen Judith aus, in der sie die scharfe Klinge ihres Schwertes zur H lfte durch die Kehle des Holofernes schnitt.2 Auch hier sprudelt Blut, dass Quentin Tarantino seine Freude h tte. Doch nicht nur Blut zeugt von extremer Gewalt, sondern es werden zum Teil auch Extremit ten pr sentiert, die auf barbarische Folter verweisen: Stolz pr sentiert beispielsweise der Heilige Erasmus auf einer Tafel von Matthias Gr newald von 1520 eine Spindel, auf die wir mit unserem s kularisierten Blick des beginnenden 21. Jahrhunderts tats chlich etwas ungl ubig schauen, wenn wir uns dar ber klar werden, dass es sein eigener Darm ist, den uns der Heilige pr sentiert.3 Nach der Legende wurde er unter Kaiser Diokletian als Bischof von Antiochien in Syrien gefoltert, indem ihm sein Ged rm bei lebendigem Leibe mittels einer Spindel aus dem K rper gezogen wurde. Das Folterinstrument ist in der christlichen Ikonographie zu seinem Attribut geworden.4

1 Vgl. Rogier van der Weyden, Johannes-Altar, rechter Fl gel, um 1455-1460, l auf Eichenholz, Berlin: Staatliche Museen, Gem ldegalerie, in: Stephan Kemperdick, Rogier van der Weyden, K ln: Konemann 1999, S. 48, Abb. 115. 2 Michelangelo Merisi da Caravaggio, Judith und Holofernes, um 1598, l auf Leinwand, Rom: Galleria nazionale d arte antica, Palazzo Corsini. 3 Vgl. Matthias Gr newald, Der Heilige Erasmus empf ngt den Heiligen Mauritius, 1517-23, l auf Holz, 226 x 176 cm, M nchen: Bayerische Staatsgem ldesammlungen, Alte Pinakothek, in: Horst Ziermann, Matthias Gr newald, M nchen u. a.: Prestel 2001, S. 171, Abb. 101. 4 Vgl. Wolfgang Braunfels (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ikonografie (LCI), Rom-Freiburg: Herder 1974, Band 6: Ikonographie der Heiligen. Crescentianus von Tunis bis Innocentia, Sp. 156-158.

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Splatter haucht uns ebenfalls beim Anblick des heiligen Bischof Dionysius an, der in vielen Darstellungen buchst blich kopflos ist und sein Haupt in den H nden h lt.5 Aber es sind nicht nur die christlichen Heiligenlegenden, sondern ebenfalls die Antike, die den abendl ndischen Malern Vorlagen f r heftige Motive geliefert hat. In Tizians H utung des Marsyas wird der Gewaltexzess zelebriert.6 Gut, der Satyr hatte den Gott der K nste selbst zu einem Wettstreit im Musizieren aufgefordert. Das war sicher ein t richter Fehler. Doch kostet Apoll diese Dummheit brutal aus: Er h utet den unterlegenen Gegner bei lebendigem Leib. Eine blutige Arbeit, die der mythologische Gott der K nste in dieser Szene verrichtet. Der sthetische Sch ngeist mag sich abwenden; das kleine H ndchen auf Tizians Gem lde, das im Bildvordergrund das zu Boden geflossene Blut aufschleckt, scheint sich jedenfalls zu freuen. Man k nnte noch weitere Szenen und Geschichten anf gen, doch reichen diese Beispiele aus, um zu zeigen, dass Blut, Ged rme, Schwei , Tr nen, Verbrechen und Strafe, Rache und Folter keine Randszenen in der abendl ndischen Kunstgeschichte darstellen. Doch bleibt in unserem thematischen Zusammenhang die wichtige Frage: Sind diese Szenen drastisch? Ganz entschieden und ohne Zweifel k nnen wir diese Frage verneinen. Drastik entsteht nur in einer wie auch immer gearteten Identi zierung. Drastische Metaphern, die uns nicht ber hren, lassen uns ber ferne und fremde Kulturen nachdenken. Wir k nnen Drastik nicht wirklich denken. Drastik ist etwas, das empfunden werden muss. Zu Kunst domestizierte Drastik erscheint wie das Raubtier im K g. II. Dabeisein ist alles: Bildstrategien des Authentischen um 1800 In der gro en Umw lzung der Kunstgeschichte um 1800 wurde genau dieses Dilemma aus reflektiertem Betrachten und ungesteuerter Emotion anhand der sthetischen Kategorie des Erhabenen diskutiert. Die Menschen suchten den Kick, die berw ltigende Natur: Die Alpen wurden mit ihren hohen, schro en Gipfeln und den tiefen, dunklen Abgr nden als Erlebnis ebenso entdeckt, wie der feurige Schlund des Vulkans an Attraktivit t gewann. In Gegensatz zu den blutr nstigen Geschichten der Vergangenheit, geht es nun um den direkten nervlichen Kitzel, es geht um direkte Teilhabe und nicht nur um Gedankenspiele. Mauern sollten fallen und Grenzen berwunden werden. Die distanzierte Haltung der Kunstbetrachtung war f r diese Erfahrung nicht sehr geeignet.

5 So findet sich zum Beispiel von Johann Michael Feichtmayr eine Figur des Heiligen Dionysius mit seinem Kopf in den H nden, beispielsweise auf dem stlichen Sockel ber der Kommunionbank des Gnadenaltars in der Wallfahrtkirche Maria Himmelfahrt in Vierzehnheiligen, datiert um 1767/68. Vgl. Braunfels, LCI (Anm. 4), Sp. 61-67. 6 Tizian, Die H utung des Marsyas, ca. 1570-76, l auf Leinwand, Kromeriz (Tschechien): Erzbisch fliche Gem ldegalerie, in: Peter Humfrey (Hrsg.), Titian. The Complete Paintings, New York: Harry N. Abrams 2007.

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Doch was ist mit denjenigen, die nicht jeden Tag vor den Abgrund treten konnten? Sie wollten diesen E ekt wenigstens bildlich simulieren, und somit war ein neuer Bereich f r die bildende Kunst gescha en. Es stand nicht mehr die gemalte Historie aus biblischer oder mythologischer Vergangenheit im Mittelpunkt, sondern Bilder, die starke Emotionen ausl sen sollten. Da das Theater seit jeher ein Ort der A zierung war, mussten diese neuen Bilder in direkter Konkurrenz zur Trag die auftreten. Aber die letzte und wichtigste Frage blieb, ob k nstlich geschaffene Umgebungen tats chlich einen Realit tse ekt erzielen konnten, der damit dann berhaupt als Voraussetzung f r Drastik verstanden wurde. Um 1800 durchkreuzen sich also zwei Diskussionen. Erstens die Debatte um die Realit tsn he der Bilder und zweitens um die angemessenen Bildgegenst nde. Diese Auseinandersetzung wurde europaweit gef hrt und soll im Folgenden anhand von Beispielen vom britischen Empiriker Edmund Burke, dem deutschen Philosophen Immanuel Kant und dem franz sischen Kunstkritiker Denis Diderot vorgestellt und mit Bildbeispielen diskutiert werden. Kann Kunst drastisch sein? Diese Frage weist zur ck auf eine Debatte, die im 18. Jahrhundert gef hrt wurde und im Kern um die Parallele zwischen dem Schauspiel der Trag die und der Trag die der Hinrichtung handelt.7 Diese Gegen berstellung von Theater und Realit t beschreibt Edmund Burke in seiner Abhandlung ber das Erhabene sehr anschaulich und gibt damit den Ansto f r die besagte Diskussion: Man lasse an irgendeinem Tage die erhabenste und eindrucksvollste unserer Trag dien au hren; man w hle dazu die beliebtesten Schauspieler; man spare keine Kosten an Ausstattung und Dekoration; man vereinige die h chsten Anstrengungen von Dichtkunst, Malerei und Musik; und dann, wenn alle Zuschauer versammelt sind, gerade in dem Augenblick, in dem die Gem ter vor Erwartung aufs h chste gespannt sind, lasse man bekannt werden, da auf dem benachbarten Platz ein Staatsverbrecher von hohem Stande sogleich enthauptet werde: augenblicklich wird die Leere des Theaters die relative Schw che der nachahmenden K nste beweisen und den Sieg der wirklichen Sympathie verk nden.8 Und schon vorher stellt Burke fest: Je n her sie [die Trag die] der Wirklichkeit kommt und je mehr sie uns von jeder Idee des Fiktiven fernh lt, desto vollkomme7 Carsten Zelle, Strafen und Schrecken. Einf hrende Bemerkungen zur Parallele zwischen dem Schauspiel der Trag die und der Trag die der Hinrichtung , in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 76-103. 8 Edmund Burke, Philosophische Untersuchung ber den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Sch nen (1757), aus dem Englischen bersetzt von Friedrich Bassenge, herausgegeben von Werner Strube, Hamburg: Meiner 1989, S. 81-82.

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ner ist ihre Wirkung. Aber mag ihre Wirkung sein, welche sie will, so erreicht sie doch niemals die Sache, die sie darstellt. 9 Diese Aussage k nnte darstellende wie bildende K nstler in die Verzweiflung treiben, behauptet Burke doch nicht weniger, als dass sie tun und scha en k nnen, was sie wollen, die Natur aber in keinem Fall einholen werden. K nnen Menschen also drastische Dinge tun, dann k nnten sie zwar auch abgebildet werden, sie h tten dann aber eine andere Wirkung, da der immersive E ekt nicht vollst ndig eintreten kann. Der Betrachter kann damit nur reale Drastik erleben, k nstliche Drastik kann nur f r ihre K nstlichkeit bewundert werden, aber nicht wirklich schockieren. Die Reaktion auf Burkes Provokation lie in der Malerei nicht lange auf sich warten. Als wollte er Burke zitieren, malte Th odore G ricault zwar keine Hinrichtung, doch portr tierte er guillotinierte H upter.10 In diesen Bildern erreicht der K nstler eine fast unertr gliche Realit tsn he.11 Zwar stehen die Gem lde heute ganz selbstverst ndlich im Kontext der Kunstgeschichte, doch muss man betonten, dass die zeitgen ssische Intention genau entgegengesetzt war.12 G ricault wollte kein kulturelles, sondern ein authentisches Bild scha en, das sich nicht in eine lange Kunsttradition einordnet, sondern unmittelbar das Gesehene zeigt. Dies ist nat rlich ein unm glicher Plan, der scheitern musste, da das authentische Bild sich selbst als Gegenstand gewisserma en verneint. Hier liegt auch der Unterschied zu einem Realismus oder Illusionismus fr herer Epochen: Abgeschlagene K pfe gab es in der Kunstgeschichte seit jeher, nur waren diese H upter kanonisch. Von Medusa ber Goliath und Holofernes bis hin zu Dionysius waren die Beispiele bekannt und sollten auch erkannt werden. Die Drastik bei G ricault liegt darin, dass seine Toten weder mythologische noch biblische Helden oder M rtyrer sind, sondern Zeitgenossen, die zwar auf G ricaults Gem lden namenlos sind, jedoch einen historischen Namen hatten, einen Wohnsitz und einen Beruf. Es d rfte f r den zeitgen ssischen Betrachter theoretisch denkbar gewesen sein, dass er den Menschen, dessen Kopf G ricault portr tierte, pers nlich kannte. Das ist ein Extremfall, der den Bildgegenstand betri t. Durchkreuzt werden die drastischen Bildgegenst nde mit der Bildwirkung. Konnte ein Wirklichkeitse ekt bei der Betrachtung eintreten, war die Wirkung der Bilder im Moment der Betrachtung ebenso wirkm chtig wie die Sache selbst. Sah man dagegen vor allem die Art und Weise der Ausf hrung, die Auswahl der Farben oder die Pinself hrung, schob sich gewisserma en das ,Gemachte vor den Bildgegenstand und der Realit tse ekt war zerst rt. 9 Burke, Ideen vom Erhabenen und Sch nen (Anm. 8), S. 81-82. 10 Vgl. Inken D. Knoch, Une peinture sans sujet? tude sur les Fragments anatomique , in: Michel R gis, Th odore G ricault, Paris: Documentation Fran aise 1996, S. 143-160. 11 Vgl. Lorenz Eitner, G ricault. His Life and Work, London: Orbis Publishing 1983, S. 184. 12 Vgl. J rg Trempler, Vom Terror zum Bild, von der Authentizit t zum Stil. Zur historischen Begr ndung authentischer Bilder , in: Wilhelm Hofmann (Hrsg.), Bildpolitik Sprachpolitik. Untersuchungen zur politischen Kommunikation in der entwickelten Demokratie, M nster: LIT Verlag 2006 (= Studien zur visuellen Politik 3), S. 117-135.

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Wie diese Frage letztendlich entschieden wird, kann an dieser Stelle mit einem Verweis auf eine aktuelle Debatte o en bleiben. Der Leser des 21. Jahrhunderts f hlt sich anhand solcher Thesen an die Theorie der Spiegelneuronen erinnert. In einem ber hmtgewordenen Aufsatz konnten der Neurologe Vittorio Gallese und der Kunsthistoriker David Freedberg zeigen, dass die Perzeption einer einfachen Handlung in der Umwelt dieselben neuronalen Aktivit ten hervorruft, wie das Sehen dieser Handlung in einer Darstellung. Sehen wir etwa eine Person nach einem Glas Wasser greifen, feuern dieselben Neuronen, als wenn wir ein Foto oder Gem lde sehen, auf dem eine Person nach einem Glas Wasser greift.13 Dieses w rde dann genauso als Zeugenschaft einer Hinrichtung gelten. Lange vor Freedberg und Gallese, die sich im brigen auf einfache Handlungen wie das zitierte Greifen eines Glases beschr nken, wurde in ganz hnlicher Art der reale Tod mit einer gelmten Hinrichtung verglichen. Michelangelo Antonioni zeigt in seinem Film Beruf Reporter von 1975, wie ein Journalist seinen eigenen Tod inszeniert. Er steckt einer Leiche seine Dokumente zu, so dass er f r tot gehalten wird. Die letzten Filmaufnahmen, die er gemacht hat, sind Szenen einer entlichen Hinrichtung. Was in Antonionis Film noch eher assoziativ suggeriert wird, bekommt in der Performance Pixelated Revolution des Libanesischen K nstlers Rabih Mrou einen buchst blich ber hrenden Aspekt. Mrou beschreibt und zeigt Youtube-Videos aus dem B rgerkrieg in Syrien. Ein Clou seiner Installation ist allerdings, dass er nicht nur Videos pr sentiert, sondern sie auch als Daumenkinos anbietet. Nimmt ein Besucher eines dieser kleinen analogen Kinos und setzt es in Gang, wird klar, dass der Betrachter auch immer aktiv ist. Unbeteiligtes, distanziertes Betrachten erscheint unm glich. Die R ckseite dieser Daumenkinos ist zudem mit Druckerschw rze pr pariert. Damit liegt auch unser Fingerabdruck auf dem Papier des Bilderblocks.14 Rabih Mrou gestaltet hier eine Teilhabe: Dem Ertappten und durch seinen Fingerabdruck identi zierten und dar ber hinaus durch die Druckerschw rze beschmutzten Betrachter ist die Distanz zu den syrischen Bildern entwischt. Gespielter Ernstfall oder: Je schrecklicher, je besser, vorausgesetzt man be ndet sich in Sicherheit Dieses Abtauchen in Extremsituationen auf dem sicheren Parkett einer Gem ldegalerie erscheint paradox, hat aber auch im philosophischen Sinne einige Vorteile: In seiner Kritik der Urteilskraft greift Immanuel Kant diesen Gedanken wieder auf,

13 David Freedberg und Vittorio Gallese, Motion, emotion and empathy in esthetic experience , in: Trends in Cognitive Sciences 11 (2007). Zitiert nach http://academiccommons.columbia.edu/item/ac:125567 (zuletzt aufgerufen: 12. 7. 2016). 14 Vgl. J rg Trempler, Je suis m dus ! Tod und Versteinerung in der zeitgen ssischen Mediengesellschaft , in: Philipp Stoellger und Jens Wolff (Hrsg.), Bild und Tod. Grundfragen der Bildanthropologie, Band 1, T bingen: Mohr Siebeck 2015 (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 68), S. 153-163.

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billigt der Natur aber keine Erhabenheit zu, sondern nur dem Menschen. Denn in der sthetischen Beurteilung , schreibt Kant, kann die berlegenheit ber Hindernisse nur nach der Gr ße des Widerstandes beurteilt werden. Nun ist aber das, welchem wir zu widerstehen bestrebt sind, ein bel, und, wenn wir unser Verm gen demselben nicht gewachsen nden, ein Gegenstand der Furcht. Also kann f r die sthetische Urteilskraft die Natur nur sofern als Macht, mithin dynamisch erhaben, gelten, sofern sie als Gegenstand der Furcht betrachtet wird.15 Das Dilemma ist aber, dass Furcht und Urteil nicht recht zusammen nden wollen: Der sich f rchtet, kann ber das Erhabene der Natur gar nicht urteilen, so wenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen ist, ber das Sch ne. Er fliehet den Anblick eines Gegenstandes, der ihm diesen Scheu einjagt; und es ist unm glich, an einem Schrecken, der ernstlich gemeint w re, Wohlgefallen zu nden. 16 (KdU 28) Daher spricht sich Kant sp ter f r Bilder und Darstellungen von schrecklichen Ereignissen in Form von Bildern und Gem lden aus und meint sogar: [J]e schrecklicher je besser, vorausgesetzt man be ndet sich in Sicherheit. 17 Drastische Bilder k nnen in diesem Sinne zum Pr fstein unserer Handlungsf higkeit in Extremsituationen werden. Im Pariser Salon von 1806 stellte Anne-Louis Girodet ein Gem lde aus, das er mit Une sc ne de d luge, Szene einer Sintflut, betitelte. Doch ist der christliche Titel hier nur noch der Vorwand f r eine Szene, die die Potenz von Drastik in sich birgt und die jeder Betrachter emotional und in Sicherheit berpr fen kann. Das Hochformat zeigt eine Rettungsaktion. Die handelnde Person ist ein Mann mittleren Alters, der mit einer Hand an einem d rren Ast h ngt. Die andere Hand h lt das Handgelenk seiner Frau, die fast senkrecht ber dem Abgrund schwebt und kaum Halt an dem steilen Abhang ndet. In ihrem Arm ein Kind, an ihrem Hals ein zweites. Zus tzlich h ngt an der Schulter des Mannes noch sein Vater. Dramatisch wird die Szene dadurch, dass der Betrachter unten im Abgrund schon eine Wasserleiche sieht. Nur noch der Ast h lt diese Menschenkette vor dem Absturz. Doch der Ast ist schon angeknackst. Er wird brechen, jeden Moment. Drastisch w rde diese Szene, wenn sich der Betrachter moralisch verbotenen Gedanken hing be: W rde der Ast halten, ließe der Mann Frau und Kinder los? Dieser Mann k nnte m glicherweise sich selbst retten, aber er w re nicht mehr schuldlos. Wie w rden wir handeln in dieser Situation? Das Gem lde h ngt im Louvre, jeder Besucher kann noch heute vor dem Gem lde seine moralische St rke in dieser Extremsituation auf dem festen Boden des Galerieparketts berpr fen. Besteht zumindest die M glichkeit, aus dieser Situation noch unschul15 Immanuel Kant, Vom Dynamisch-Erhabenen der Natur, 28 , in: ders., Kritik der Urteilskraft (1790), unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kritik-der-urteilskraft-3507/37 (zuletzt aufgerufen: 12. 7. 2016). 16 Kant, Kritik der Urteilskraft (Anm. 15). 17 Kant, Kritik der Urteilskraft (Anm. 15).

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dig herauszukommen, erscheint die Drastik der Folgezeit darin, dass Girodet auch ein Vorbild f r ein weiteres Meisterwerk der Kunstgeschichte war, das niemanden mehr in die Unschuld entlassen konnte und wollte. Wir Schiffbr chige Am 2. Juli 1816 l uft die franz sische Fregatte Medusa aufgrund ihres unf higen, unerfahrenen Kommandanten Hugues Duroy Vicomte de Chaumareys auf die als gef hrlich bekannte Arguin-Sandbank vor der westafrikanischen K ste auf und zerbricht kurze Zeit sp ter. F r die 400 Personen an Bord gibt es nicht ausreichend Rettungsboote, weshalb die Schi br chigen ein Flo aus Planken und Mastteilen zimmern, allerdings ohne weitere Auftriebsk rper. Eigentlich f r 200 Personen bestimmt, sinkt es schon mit 150 Personen so tief unter Wasser, dass die Wellen ber die H ften der Schi br chigen reichen. Ihr Ungl ck wendet sich ins T dliche, als die Rettungsboote mit dem Rest der Besatzung auf die gar nicht so ferne K ste zuhalten und das Tau kappen, mit dem das Flo an Land geschleppt werden sollte. Sie lassen es zur ck ohne Anker, ohne Segel, ohne Ruder, ohne ausreichende Vorr te. In den folgenden vier Tagen regiert der Wahnsinn: Parteien bilden sich und k mpfen in ebenso sinnlosen wie brutalen Schlachten. Manche wollen das Flo zerst ren, um m glichst schnell zu sterben. Wellen fegen die Schw chsten ins Meer, andere werden ins Meer gesto en, erdr ckt oder exekutiert, wenn sie Vorr te stehlen. Je mehr Menschen sterben, umso mehr hebt sich das Flo aus dem Wasser. Nach drei f rchterlichen Tagen beginnen die berlebenden Exkremente zu essen, wenig sp ter die Toten. Und das T ten h rt nicht auf. Als nur noch 27 Mann brig sind, entscheiden die St rkeren, dass zw lf der M nner keine berlebenschance h tten, woraufhin sie von Bord gestoen werden. Jetzt schwimmt das Flo wirklich frei. Nach insgesamt zw lf Tagen werden f nfzehn Elende gerettet, von denen f nf wenig sp ter an Land sterben. Im Jahr nach der Katastrophe ver entlichten Jean-Baptiste Savigny und Alexandre Corr ard ihre Aufzeichnungen als Buch.18 Der Bericht vom Flo der Medusa lieferte den Impuls f r eines der imposantesten Bilder der Moderne. Die gro e Leinwand (491 x 716 cm) zeigt das Flo am Tag der Rettung. Wiedergegeben ist der erste Sichtkontakt der Schi br chigen mit der Brigg Argus, die im Bild nur als winziger Punkt am Horizont dargestellt ist. In diesem Augenblick schl gt die tr be Dumpfheit nach zw lf Tagen Kampf, Not und Ungewissheit um in eine letzte, verzweifelte Ho nung auf Rettung. Die Bewegung der Schi br chigen auf dem Flo flie t gleich einer Welle in einem Bogen von der Mitte nach rechts oben und kulminiert im ausgestreckten Arm eines Mannes, der ein Fass bestiegen hat. Er wird von links her gest tzt und von 18 Vgl. Jean-Baptiste Savigny und Alexandre Corr ard, Der Schiffbruch der Fregatte Medusa (1818), Berlin: Matthes und Seitz 2005. In dieser Edition ist auch ein Essay zu Th odore G ricaults Flo der Medusa erschienen. Vgl. J rg Trempler, Der Stil des Augenblicks. Das Bild zum Bericht , in: dass., S. 191-240.

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rechts durch einen zweiten Winkenden vor ihm unterst tzt. Diese Dreiergruppe wird kompositorisch eingefasst von drei ausgestreckten Armen, die weniger direkt in Richtung der Argus zielen, als vielmehr parallel nach rechts oben, nach vorne, in die Zukunft weisen. Der Ausdruck der letzten Ho nung in h chster Not wird noch verst rkt durch die Darstellung des Gegenteils: der tiefsten Verzweiflung. Abgewandt von der Brigg am fernen Horizont, kauert ein Mann mit Kopftuch, die rechte Hand ins Gesicht gest tzt, die linke um einen Leichnam gelegt. F r ihn scheint wie f r die Toten, die ihn umgeben, jede Hilfe zu sp t. Allein diese Figur blickt mit leeren Augen aus dem Bild heraus. Der Blick des Betrachters geht mit den Blicken der berlebenden auf die Suche nach dem Rettung verhei enden Schi in die Ferne. Die Geschichte des Flo es ist ein moderner Mythos. Diese Formulierung w re abgegri en, wenn sie nicht w rtlich zu verstehen w re. Wie der antike Mythos als Ursto der Trag die immer wieder und neu erz hlt wird, so zieht sich die Rezeption des tragischen Ungl cks seit seiner ersten Ver entlichung 1818 durch die europ ische Kultur. Die beiden Autoren des Berichts, Henri Savigny und Alexandre Corr ard, hatten sicher keinen literarischen Anspruch, sie wollten keine Trag die, sie wollten einen Tatsachenbericht schreiben. Beides ist ihnen gelungen. Die N chternheit der Sprache, die sich wunderbar in der zeitgen ssischen bersetzung von 1818 niederschl gt, deutet schon auf Allgemeines. Das ist nicht die Sprache eines Pamphlets, die von Hass, Gier und Neid durchdrungen ist, das ist eine Sprache, die ersch tternd klar von Hass, Gier und Neid berichtet. Die literarische Qualit t offenbart sich jedoch vollkommen durch die verh ngnisvolle Identi kation mit den tragischen Helden und den berlebenden, die unschuldig in die Situation geraten sind, jedoch schuldig aus ihr hervorgehen. Die berlebenden dieser Irrfahrt sind auf dem Flo der Medusa zu M rdern und Kannibalen geworden: Hier liegt die unweigerliche Drastik der Szene. In diesem Sinne ist der Schi bruch der Medusa nur oberfl chlich eine Metapher f r das in Untiefen geratene und schlie lich zerborstene franz sische Staatsschi unter Ludwig XVIII. Im tiefsten Innern zerschellen auf diesem Flo die Ideale der Zivilisation. Hier liegt der Kern des Mythos, die ambivalente Wahrheit, die sich immer neu ausgestaltet. Aus der vereinzelten Katastrophe , so formuliert beispielsweise Peter Weiss im ersten Band seiner sthetik des Widerstands, war das Sinnbild eines Lebenszustandes geworden .19 Diese Aussage ist fundamental. Ein einzelnes Ereignis als Sinnbild eines Lebenszustandes zu bezeichnen, kehrt das alte Verh ltnis von Mythos und Leben um. Die Sintflut konnte als generelles Sinnbild gelten, eine historische Flut als ein konkretes Beispiel. Jetzt wird das Tagesereignis zum Sinnbild. Das konkrete Ereignis verweist nicht auf ein H heres, es verweist auf sich selbst als ein Sinnbild. Auf der gestalterischen Ebene sind die Gem lde von Girodet und G ricault gut miteinander zu vergleichen. Dies gilt auch f r den Titel. Girodet legte gr ten Wert darauf, dass sein Gem lde mit Szene einer Sint ut betitelt wurde. Es sollte 19 Peter Weiss, sthetik des Widerstandes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, Band 1, S. 282.

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nicht mehr das bestimmte alttestamentarische Ereignis sein, sondern exemplarischen Charakter f r hnliche aktuelle Situationen gewinnen. Genau den umgekehrten Weg vollzieht G ricault. Er nannte sein Gem lde von 1819 Szene eines Schiffbruchs. Dies kann der Betrachter einerseits als Hommage an Girodet verstehen, auf der anderen Seite verbirgt sich hinter dieser Verallgemeinerung eine Strategie, die aktuellen Ereignisse des zeitgen ssischen Schi bruchs berhaupt als Historienbild zu lancieren. Der Titel Das Flo der Medusa am Vormittag des 17. Juli 1816 w re f r ein Historienbild der alten Pr gung nicht m glich gewesen. Drastik vollzieht sich in der Kunstgeschichte nicht in einem einzelnen Motiv. Weder bei Girodet noch bei G ricault flie t Blut. Die Drastik vollzieht sich um 1800 in der Ausweglosigkeit der Situation. Indem uns das Gem lde von G ricault gedanklich auf das Flo zieht, wird aus der Kontemplation die Erkenntnis: Wir sind Schi br chige. In diesem Sinne haben schon viele Betrachter auch auf dem trockenen Parkettboden des Louvre nasse F e bekommen. Drastik im Kopf oder Loslassen ist um 1800 noch eine Sache der Vorstellungskraft In der eingangs referierten Kontroverse zwischen Burke und Kant ging es darum, ob die Natur selbst oder die menschliche Vorstellungskraft das Erhabene hervorbringt. Burke vertrat bekanntlich die erste Au assung und lie Darstellungen dementsprechend nicht gelten, f r Kant dagegen konnten auch Bilder diese Emotion ausl sen. Die A zierung der Vorstellungskraft brachte den Gegenstand hervor. Diese M glichkeit des o enen Ausgangs markiert dann auch eine deutliche Trennungslinie zur Kunst vor 1800. In der lteren Kunst sind die Personen auf gro formatigen Darstellungen einem gebildeten Publikum in der Regel bekannt. Wenn Aeneas seinen Vater Anchises aus dem brennenden Troja tr gt, ist bekannt, dass der Alte diese Rettungsaktion berlebt.20 Dies ist ein beraus wichtiger Unterschied: Der Betrachter von Historienbildern von vor 1800 war in aller Regel sowohl ber die Identit t der Personen als auch ber Vorgeschichte und Ausgang der Erz hlung informiert. Stellt man sich also einen zeitgen ssischen Betrachter um 1750 vor dem 1729 vollendeten Gem lde von Charles-Andr van Loo (17051765) vor, wird der gebildete Rezipient problemlos die Hauptperson des Aeneas erkennen.21 Spekulationen dar ber, ob die abgebildete Person sich m glicherweise seiner menschlichen Last entledigen k nnte, um schneller fliehen zu k nnen, d rften f r sich als schlicht dumm empfunden worden sein. Wer so einen Umgang mit Bildinhalten gew hnt war, hatte es dann demensprechend schwer, wenn er etwas sah, dass er weder kannte, noch in seiner weiteren Entwicklung einsch tzen konn

20 Vgl. Otto Rossbach, Anchises , in: Georg Wissowa (Hrsg.), Paulys Realencyclop die der classischen Altertumswissenschaft (RE), Stuttgart: Metzler 1894, Band I/2, Sp. 2106-2109. 21 Vgl. Charles-Andr van Loo, Aenaeas tr gt Anchises, 1729, l auf Leinwand, 110 x 105 cm, Paris: Louvre, Inv. 6278.

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te. Die Hauptperson auf Girodets Gem lde hat keinen Namen. Es ist eine Person, in einer Sintflut! Und doch muss man an dieser Stelle deutlich herausstellen, dass diese Gem lde Drastik im strengen Sinne nur vorbereiten.22 Drastisch w re es, wenn der Protagonist auf Girodets Gem lde seinen Vater loslassen w rde. Er wird sich im n chsten Moment entscheiden m ssen. Somit ndet in diesen Beispielen die Drastik noch in der Vorstellung der Betrachter statt. III. berspannt, bertrieben und berdreht Die neue Anonymit t der Protagonisten in Gem lden um 1800 steigert wie ausgef hrt die M glichkeit zur Identi kation mit den Dargestellten, sie l sst die Figuren aber auch freier handeln, und diese Handlungen fallen zum Teil wild bis grotesk aus. Dieses Prinzip hat Karl M seneder in einem ber hmt gewordenen Aufsatz beschrieben.23 Er konnte zeigen, wie die K nstler in der Generation nach Michelangelo die Innovationen des Meisters antizipieren wollten. Schwierigkeiten auf ikonographischer Ebene bereiteten die sogenannten Ignudi, da sie sich au erordentlich kunstvoll in ihren Bewegungen gaben. Es w re jetzt schlicht unm glich gewesen f r einen griechischen Helden oder eine Figur aus dem Fundus der mythologischen G tterwelt, sich derartig zu verbiegen, daher suchten die K nstler in der Nachfolge Michelangelos nach Themen, die es erlaubten, derartige Bewegungen abzubilden. Dies ist eine sehr plausible Erkl rung f r das Aufkommen von Bildthemen aus dem niederen Bereich der mythologischen G tterwelt, da dessen Figuren in ihrem Handlungsapparat weniger eingeschr nkt sind. Eine Figur wie Aeneas sollte also nicht stolpern, schwitzen oder kotzen, um es hier an dieser Stelle drastisch auszudr cken. Werden die Figuren um 1800 von diesem kanonischen Handlungszwang entkoppelt, net sich die T r zu menschlichen Handlungen, die wir heute nur noch als Splatter bezeichnen w rden. Wann kippt die Drastik zum Splatter? Der Franz sische Maler Pierre-Jacques Volaire (1729-1799) ist vor allem f r seine Ansichten von Vesuvausbr chen bekannt, die er ab 1770 dem Jahr, in dem er nach Neapel umsiedelte anfertigte. Als der 1729 geborene Volaire nach S ditalien kommt und sein erstes Vulkanbild malt, ist er mit ungef hr 50 Jahren ein reifer 22 An dieser Stelle danke ich Dirck Linck f r diesen Hinweis in der Diskussion meines Beitrags. 23 Vgl. Karl M seneder, Werke Michelangelos als Movens ikonographischer Erfindung , in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 29 (1985), S. 347-384. Um einen theoretischen Nachspann erg nzt auch abgedruckt in Clemens Fruh, Raphael Rosenberg und Hans-Peter Rosinski (Hrsg.), Kunstgeschichte aber wie? Zehn Themen und Beispiele, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1989, S. 141-187.

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Maler. Einen guten Teil seiner Reife hat er in der Ausf hrung von Brandbildern erworben. Mit diesen Gem lden hat er sich von den Vorgaben des Vernet-Ateliers emanzipiert. An Volaires Werken ist der bergang von unvermeidlichen Ungl cksf llen und notwendigen Epochenschritten, die wir heute Katastrophen nennen, deutlich zu erkennen. Volaires Gem lde aus dieser Zeit markieren einen gro en Unterschied zu herk mmlichen Darstellungen dieser Art von Vernet. Alles ist gesteigert, dramatisiert und emotionalisiert. Dies betri t sowohl die Landschaft, den K stenstreifen sowie das Schi , aber auch Komposition und Farbpalette sind intensiver geworden. Das au lligste Bildelement dieser Gem lde ist nun nicht mehr das Schi , sondern die Rettungsaktion.24 Der Rettungsversuch einer jungen Frau ist nun fast in die zentrale Bildmitte ger ckt. Zus tzlich klammert sich eine weitere Figur an einen im Vordergrund liegenden Helfer. Die Nacktheit dieser Figur wirkt antikisierend. Eingefasst sind diese Szenen durch ein gestrandetes Schi auf der linken und klagende Figuren auf der rechten Uferseite. Verbunden sind diese beiden Gruppen durch ein Seil, das quer vom Schi zum Ufer gespannt ist und als labile Br cke dient. Akrobatisch hangeln sich die Matrosen so in Sicherheit. Ihre dunklen K rper setzen sich vor der hellen Gischt der aufgew hlten See kontrastreich ab. An der rechten oberen Seite sind Frauen in h chster Aufregung dargestellt, die das Geschehen betrachten und wild gestikulieren.25 Diese rechte Szene erinnert an die Loge eines Theaters. Die gesamte Komposition mutet aber sehr unplausibel an. Wo kommt die Frau her, die in der Bildmitte so prominent gerettet wird? Es ist kein Rettungsboot zu sehen, und von dem gestrandeten Schi retten sich die Matrosen ber das k hn gespannte Seil. Warum ist der Matrose im Vordergrund nackt? Dieses Bild ist damit ein nahezu klassisches Beispiel daf r, wie es aussieht, wenn ein Landschaftsmaler sich auf die Figuren konzentriert. Denis Diderot liest Edmund Burke und dreht durch Die Salons sind die wichtigsten Kunstausstellungen der Zeit, und Diderot ist ihr wichtigster Kritiker. Dabei ist die Form seiner Besprechungen durchaus eigenwillig. Im Salon von 1765 verpackt er zum Beispiel die Besprechung von Fragonads Gem lde Der Hohepriester Koreus opfert sich f r Kallirho in die Nacherz hlung des H hlengleichnisses von Platon.26 Noch ber hmter ist die sogenannte Vernet-Pro24 Vgl. Pierre-Jacques Volaire, Schiffbruch, undatiert, l auf Leinwand, 66 x 96 cm, Stockholm: Nationalmuseum, NM 893. 25 Vgl. Nationalmuseum Stockholm, Illustrerad katalog ver ldre utl ndskt maleri, V stervik: Ekblads & Co. 1990, S. 381, NM 893; Sabine Mertens, Seesturm und Schiffbruch, Rostock 1987, S. 69: Bei dem Schiffbruch in Stockholm sind die Menschen allerdings so gro ins Bild gesetzt, da das schiffbr chige Schiff im Verh ltnis zu den Figuren verk rzt erscheint. 26 Denis Diderot, sthetische Schriften, herausgegeben von Friedrich Bassenge, Frankfurt a. M.: Europ ische Verlagsanstalt 1968, Band 1, S. 599-608.

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menade von 1767. Diderot schildert, wie er zun chst die Werke Venets besprechen und beschreiben will, dann aber aufs Land fahren muss. Dort ist er so wenig angetan von der dekadenten Gesellschaft, dass er es vorzieht, mit dem Erzieher der Kinder des Hauses, einem Abb , einen Spaziergang zu machen. Sie unterhalten sich zun chst ber Kunst. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, sei hier eine Passage wiedergegeben: Welcher Ihrer K nstler , fragte mich mein Cicerone, w re wohl auf den Gedanken gekommen, den Verlauf dieser Stra e durch eine Baumgruppe zu unterbrechen. Vielleicht Vernet. Allen Respekt! Aber h tte Ihr Vernet auch soviel Anmut und Reiz hineingelegt? H tte er den warmen, reizvollen E ekt des Lichtes, das dort zwischen den Baumst mmen und den Zweigen spielt, wiedergeben k nnen? Warum nicht? H tte er den unendlichen Raum wiedergeben k nnen, den Ihr Auge dahinter erblickt? Gerade das hat er schon manchmal vollbracht. Sie kennen diesen Mann eben nicht; Sie wissen nicht, in welchem Grade ihm die Erscheinungen der Natur vertraut sind. Ich antwortete zerstreut; denn meine Aufmerksamkeit wurde von einer Felsmasse mit wildwachsenden Gestr uch gefesselt, die die Natur an das andere Ende der felsigen Anh he gesetzt hatte. Diese Felsmasse wurde ebenfalls von einem vorgeschobenen Felsen verdeckt, der mit ihr eine Schlucht bildete. Die Schlucht hinab st rzte ein Wasserfall, dessen sch umende Fluten sich weiter unten an verstreuten Felsen brachen... Wohlan! sagte ich zu meinem Cicerone. Besuchen Sie doch einmal den Salon, dann werden Sie feststellen, dass eine fruchtbare Einbildungskraft, unterst tzt durch ein gr ndliches Studium der Natur, einem unserer K nstler genau diese Felsen, diesen Wasserfall und diesen ganzen Landschaftswinkel eingegeben hat! Und vielleicht auch noch den m chtigen kahlen Felsen dort, auf dem jener Fischer sitzt, der gerade sein Netz einzieht, dazu die um ihn herum auf den Boden verstreuten Fischerger te, die neben ihm stehende Ehefrau und endlich jene von hinten gesehene Frau? Sie wissen nicht, Abb , was f r ein Sp tter Sie sind! 27 Als Sp tter stellt sich Diderot zum Schluss seiner Beschreibung selbst heraus, wenn er ganz l ssig o enbart, dass seine Landschaftsbeschreibungen in Wirklichkeit Beschreibungen von Vernetgem lden waren. Damit l st Diderot nicht allein die Grenzen zwischen Bild und Betrachter auf, er taucht in die Gem lde ein, er begeht die Landschaften gewisserma en. Dieser E ekt ist die h chste Immersion, die sich 27 Diderot, sthetische Schriften (Anm. 26), Band 2, S. 74.

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denken l sst. Diderot ist ber dieses intellektuelle Kunstst ck hinaus noch sehr geschickt und geistvoll witzig. Dies vermag schon die kurze hier zitierte Passage in Ans tzen zu vermitteln, wenn er zum Beispiel durch die Natur, die sich sp ter als Gem lde herausstellt, zerstreut und abgelenkt ist, also von eben der Natur gehindert wird, das zu beschreiben, was sich sp ter als ein und dasselbe herausstellt. Das Gem lde von Vernet, als Natur gesehen, hindert Diderot daran, die Qualit t des Malers Vernet zu loben. Bei der ersten Lekt re denkt der Leser, dass hier der Beweis f r die Schw che des Malers gef hrt wird, da der Kritiker von der Natur selbst st rker gefesselt ist. Sp ter stellt sich allerdings heraus, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Die Malerei kann ber der Natur stehen, wenn sie als Natur betrachtet wird. Es entstehen also zwei Zust nde: Einmal das Landschaftsbild als Werk der Kunst und zum Zweiten das Landschaftsbild als Natur selbst. In dem zweiten Zustand ist eine vollst ndige Substitution von Bild und Bildgegenstand, in diesem Falle von Vernets Gem lde und der Landschaft, vollzogen. Dies ist allerdings im wahrsten Sinne des Wortes Ansichtssache. F r die Argumentation dieser Untersuchung ist interessant, dass Diderot sich so in ein Bild versenken, sich so in ein Bild einsehen kann, dass er es als Bild nicht mehr wahrnimmt, sondern als nat rliche Umgebung. Im Zustand dieser Substitution f llt aber auch die Bewunderung ber die Nachahmung weg, da jeder das, was einem vor Augen steht, ja nicht mehr als Artefakt begreift, sondern als Natur. Dies w re der ideale Zustand f r Bilder, die im Abschnitt zu Burke ,Marktplatzbilder genannt wurden. Burke behauptete, dass das Publikum im eater oder im Beispiel von Diderot im Salon nur die Nachahmung erhaben nden kann, nicht aber das Dargestellte selbst. Wird aber nicht mehr zwischen diesen Sph ren getrennt, f llt auch die Unterscheidung weg. Im Salon von 1767 rezipiert Diderot das erste Mal die Schrift von Burke ber das Erhabene. Darauf wurde schon h u g hingewiesen, wobei aber immer der Begri des Erhabenen im Vordergrund stand. Weniger thematisiert wurde,28 dass Diderot auch darauf Bezug nimmt, was zuvor bei Burke das eater-Marktplatzverh ltnis genannt wurde. Wenn der Betrachter sich also in Bilder auch so einsehen kann, dass er sie nicht mehr als Bilder wahrnimmt, zielt Burkes Kritik ins Leere. Das schlagende Argument bei Burke war die ,unmittelbare Leere des eaters nach der Bekanntgabe einer Hinrichtung. Ein sicheres Zeichen daf r, dass Diderot genau dieses Verh ltnis interessierte, ist nun, dass auch er in seiner Vernet-Promenade von Hinrichtungen spricht, ohne freilich Burke zu erw hnen. Zun chst bringt er die Rede auf die Nachahmung, vollzieht die Argumentation aber anhand von Gem lden und nicht wie Burke am Beispiel des eaters:

28 Vgl. besonders Michael Fried, Absorption and Theatrality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago: University Press 1988. Vgl. dazu auch die Rezension von Werner Busch in: Kunstchronik 35 (1982), S. 363-372. Vgl. auch Oskar B tschmann, Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750-1920, K ln: DuMont 1989, der mit der Beschreibung von Diderot seine beeindruckende Studie beginnen l sst.

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Das Schauspiel der brennenden Stadt Paris w rde Sie in Schrecken versetzen, aber nach einiger Zeit w rden Sie ganz gern auf der Asche spazierengehen. Sie emp nden eine heftige Qual, wenn Sie Ihre Freundin sterben sehen; aber nach einiger Zeit wird Sie Ihre Trauer an das Grab f hren, und Sie werden sich dort niedersetzen. Es gibt zusammengesetzte Emp ndungen, und dies ist der Grund, weshalb es nichts Sch nes gibt, das nicht Gegenstand des Gesichtsoder des Geh rsinnes w re. Verzichten Sie beim Klang auf jede moralische Begleitidee (id e accessoire et morale), so nehmen Sie ihm die Sch nheit. Halten Sie ein Bild auf der Oberfl che Ihres Auges fest, so da der Eindruck weder den Geist noch das Herz erreicht, dann hat das Bild nichts Sch nes mehr. Es gibt noch eine andere Unterscheidung: n mlich zwischen einem Gegenstand in der Natur und demselben Gegenstand in der Kunst, das hei t: der Nachahmung. Die furchtbare Feuersbrunst, in der alles untergeht M nner, Frauen, Kinder, V ter, M tter, Br der, Schwestern, Freunde, Fremde, Mitb rger , st rzt Sie in Ratlosigkeit; Sie fliehen, Sie wenden Ihre Blicke ab und verschlie en den Schreckensrufen Ihre Ohren. Vielleicht setzen Sie auch als verzweifelter Zuschauer eines Ungl cks, das so viele geliebte Wesen gemeinsam betri t Ihr Leben ein und versuchen, sie zu retten oder in den Flammen dasselbe Los zu nden wie sie. Wenn man Ihnen dann aber auf der Leinwand die Geschehnisse dieser Katastrophe (calamit ) zeigt, so werden Ihre Augen darauf mit Freude ruhen: En Priamus. Sunt hic etiam sua praemia laudi.29 Ging Burke noch von der Nachahmung aus, bringt Diderot das Einf hlen des Betrachters mit ins Spiel. Es bleibt daran zu erinnern, dass dieser Text eingebettet ist in einen Landschaftsspaziergang, der sich erst sp ter als Gem ldebeschreibung zu erkennen gibt. Nun spricht Diderot eine Theaterenthauptung aus der Trag die Le Comte d Essex (1665) von Thomas Corneille an: Hier im Theater sind wir sofort bereit, die bedrohte Tugend zu umarmen und an unser Herz zu dr cken; hier sind wir fest davon berzeugt, da wir mit ihr triumphieren werden oder sie aufgeben werden, wenn es an der Zeit ist; wir folgen ihr bis zum Fu des Schafotts, aber keinen Schritt weiter; und noch niemand hat neben dem Grafen von Essex den Kopf auf den Block gelegt, obgleich das Parkett berf llt ist, der Schauplatz des wirklichen Ungl cks aber leer. Wenn man im Ernst das auf sich nehmen m te, so w ren die Logen verwaist.30 29 Diderot, sthetische Schriften (Anm. 26), Band 2, S. 90. Das letzte Zitat hei t: Priamus hier! Auch hier ist der Ruhm nicht ohne Belohnung , Vergil, Aeneis, 1. Buch, Vers 461. Aeneas sieht im Junotempel zu Karthago, wo er als Schiffbr chiger weilt, bildnerische Darstellungen aus dem Trojanischen Krieg darunter den Priamus vor Achilles , aus denen Mitgef hl f r die Besiegten spricht, sodass er auf freundlichen Empfang z hlen kann. Vgl. den Kommentar in: Diderot, sthetische Schriften (Anm. 26), Band 2, S. 782, Anmerkung 90. 30 Diderot, sthetische Schriften (Anm. 26), Band 2, S. 92.

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Diderot zieht nun gewisserma en noch eine Ebene mehr ein: Er sagt nicht, dass die Nachahmung im Theater oder auf Bildern so stark sein kann, dass die Einf hlung der Betrachter eine v llige Substitution erreicht. Sondern es ist eine reflektierte Substitution, so dass Leiden gesehen, aber Vergn gen empfunden werden kann. Dies macht der Kritiker wiederum in einem Dialog mit dem Abb deutlich: Je geringer die Distanz zwischen der dargestellten Pers nlichkeit und mir ist, desto eher werde ich von ihr angezogen und desto st rker von ihr gefesselt. Man hat gesagt: ... Si vi me flere, dolendum est Primum ipsi tibi. Du wirst aber ganz allein weinen, ohne da ich geneigt w re, eine Tr ne in die deinigen zu mischen, wenn ich mich nicht an deine Stelle versetzen k nnte. Ich mu ein Ende des Seiles anfassen k nnen, an dem du in den L ften schwebst; sonst zittere ich nicht. Ah, jetzt verstehe ich! Was denn, Abb ? Ich spiele zwei Rollen, ich bin doppelt: ich bin die Lecouvreur [eine bekannte Schauspielerin, J. T.] und bin ich selbst. Das Ich Lecouvreur zittert und leidet; das Ich schlechthin emp ndet Vergn gen. Ausgezeichnet, Abb ! Und hier liegt auch die Grenze f r den Nachahmer der Natur. Wenn ich mich als Zuschauer zu sehr und zu lange vergesse, so ist der Schrecken zu stark; wenn ich mich berhaupt nicht vergesse, wenn ich immer der eine bleibe, dann ist der Schrecken zu schwach. Die k stlichen Tr nen flie en nur, wenn genau das richtige Temperament auf mich wirkt. 31 Und an dieser Stelle f hrt Diderot nochmals als Beispiel die Hinrichtung an: Man behauptet [und damit ist jetzt Burke gemeint, J.T.], die Gegenwart der Sache selbst gehe uns n her als ihre Nachahmung; demnach verl t man den auf der B hne sterbenden Cato, um zur Hinrichtung von Lally32 zu laufen. Sache der Neugier! Wenn Lally alle Tage enthauptet w rde, so w rde man bei Cato bleiben. 33 Und damit kommt er abschlie end zu genau dem entgegengesetzten Schluss wie Burke: Wenn der Gegenstand in der Natur unser Interesse weckt, so vereinigt die Kunst den Reiz der Sache mit dem Reiz der Nachahmung. 34 Wenn der Gegenstand des Interesses aber das Drastische ist, dann vereinigt das Drastische den Reiz der Drastik mit dem Reiz der Nachahmung. Dieser Dialog um es nochmals zu wiederholen ist eingebettet in genau diesen beschriebenen Akt. Diderot beschreibt die Gem lde Vernets als Landschaften, und die Gem lde im Salon werden zum Spaziergang in der Natur. 31 Diderot, sthetische Schriften (Anm. 26), Band 2, S. 93. 32 Der Comte de Lally-Tolendal, Oberbefehlshaber der franz sischen Streitkr fte in Ostindien, wurde wegen Verrats hingerichtet. 33 Diderot, sthetische Schriften (Anm. 26), Band 2, S. 94. 34 Diderot, sthetische Schriften (Anm. 26), Band 2, S. 94.

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Genauso k nnten Betrachter nun Katastrophenbilder als wirkliche Katastrophen sehen. Dies ist die g ngige Praxis zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem wir Gewaltdarstellungen in Nachrichtenbildern nicht als Kunst, sondern als Zeugen sehen. Diderots verspieltes Gedankenexperiment ist in seiner doppelten Metaebene extrem verdreht. Damit net es die T r f r drastische Darstellungen, wie sie der Vernet-Sch ler Volaire ausgef hrt hat. Waren Girodet und G ricault noch an der hohen Kunst der Historienmalerei orientiert, begibt sich Volaire mit seinen an Slapstick erinnernden Figuren fast buchst blich taumelnd in Richtung splatter. Wie ernst oder ironisch dies am Ende gemeint war, vermag m glicherweise selbst die doppelb dig gewordene Kunstkritik im Umfeld Diderots nicht mehr eindeutig zu sagen.

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DRASTISCHE NEBENWIRKUNGEN C. F. Meyers J rg Jenatsch als charismatische Gr nder gur1

I. Mit einer grausam blutigen und symbolisch berdeterminierten Szene endet Conrad Ferdinand Meyers historischer Roman J rg Jenatsch.2 Auf dem H hepunkt seiner Karriere wird der Titelheld mit einer Axt regelrecht geschlachtet, und die Inszenierung dieser Hinrichtung l sst keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Schlusssequenz des Romans um einen zwiesp ltigen Gr ndungsakt handelt. Das Opfer, auf dessen Grab die neue politische Ordnung des befreiten R tien des heutigen Schweizer Kantons Graub ndens errichtet wird, ist der Befreier selbst: ein Partisanenk mpfer, der einst als gl hender Demokrat gegen die Besatzungsm chte ins Feld zog, um schlie lich als tyrannischer und korrupter Nero zur gr ten Gefahr f r das durch ihn befreite Vaterland zu werden.3 Zahlreiche Anspielungen machen deutlich, dass der Mord am Despoten im Zeichen der Republik geschieht, und erst mit Jentaschs Tod ist der Umbruch zur neuen Ordnung vollbracht. Das grausame Ende des Helden wurde von den Zeitgenossen scharf kritisiert. Neben der expliziten Gewaltdarstellung miss elen auch die ausgestellte K nstlichkeit und das pl tzliche Umschlagen in die Fiktion. Tats chlich weicht Meyer in dieser Schlussszene von der historischen berlieferung ab, was insofern erstaunt, als er sich f r die brige Romanhandlung sehr genau an der zeitgen ssischen Geschichtsschreibung orientiert. Die folgenden Ausf hrungen werden zeigen, dass die Drastik der Darstellung die Brutalit t des Sujets, die theatralische Inszenierung und die konkrete sprachliche Umsetzung kein reiner Selbstzweck ist, sondern dass ein wirkungs sthetisches Kalk l dahinter steht. Mit dem furiosen Ende wird zwar an eine erz hlerische Tradition angekn pft, die den Umbruch von einer despotischen Herrschaft zur Republik nicht ohne rituelles Gr ndungsopfer denken kann. Doch w hrend die klassische Opfertheorie von einer kathartischen 1 Die hier ausgef hrten berlegungen stehen im Kontext meiner Forschung zur modernen F hrerfigur und finden sich hnlich (mit etwas anderer Gewichtung und st rkerem Bezug zu Max Weber) auch in meiner Dissertation F hrernatur und Fiktion. Charismatische Herrschaft als Phantasie einer Epoche, Universit t Wien 2015. 2 Vgl. Conrad Ferdinand Meyer, J rg Jenatsch. Eine B ndnergeschichte (1874/1876/1882), Frankfurt a. M.: Insel 2004, S. 251. 3 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 41, 252.

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L uterung ausgeht, f hrt der Roman ein entfesseltes Schlachtfest mit Nebenwirkungen vor. Die darauf folgende Ruhe ist gek nstelt, die Rachegeister sind nur scheinbar berwunden und die drastischen Bilder wirken nach. Faszination und Schrecken so meine These dienen hier nicht der Erl sung und Befreiung aus der Gewaltspirale, sondern bertragen das Charisma des Protagonisten auf eine nachgeborene Leserschaft. Eine sthetik der Drastik dient somit der historischen berlieferung wenn nicht der posthumen Herstellung des charismatischen Gr ndungshelden, und wird zum Programm einer wirkm chtigen und lebendigen Historiographie erhoben. II. Mit J rg Jenatsch hat Meyer nicht nur die Geschichte des B ndnerlandes literarisch aufgearbeitet. Wie die meisten historischen Romane und die Historiographie des 19. Jahrhunderts, so steht auch dieser Text im Zusammenhang mit der modernen Nationalstaatenbildung. Das B ndnerland im Drei igj hrigen Krieg eignet sich als pars pro toto und ferner Spiegel f r eine konfessionell und sprachlich gespaltene Schweiz, die sich im 19. Jahrhundert als Alpenland zu identi zieren beginnt und sich neben gro en Nationen wie Deutschland und Frankreich zu behaupten versucht. Der Roman war ein Erfolg und avancierte schnell zur Pflichtlekt re in Schweizer Schulen, J rg Jenatsch wurde zum Nationalhelden und zur charismatischen Erg nzung des familienfreundlichen Wilhelm Tell. Mit der Kanonisierung verblassten auch die Bedenken, und da Meyers Version bald die historischen Quellen verdr ngte und Lucretias Beilhieb zum Kernbestand des Mythos erhob, schwand auch das Bewusstsein f r den forcierten Umschlag in die Fiktion. Die wissenschaftliche Forschung hat allerdings immer wieder auf die innere Zwiesp ltigkeit 4 dieses Gr ndungsaktes hingewiesen, der sich bei genauer Lekt re nicht nur als u erst drastisch erweist, sondern auch eine gewisse Ratlosigkeit und Unruhe hinterl sst. Tatort ist das Rathaus in Chur im Februar 1639. Zu Ehren des gr ten Mannes, den das Land je besessen , soll hier ein Fest statt nden.5 Denn J rg Jenatsch, so hei t es, hat das Unm gliche erreicht 6: Mit ra nierter Intrige, Scheinb ndnissen und schn dem Verrat hat er die zwei Besatzungsm chte Habsburg-Spanien und Frankreich gegeneinander ausgespielt und so das B ndnerland, das auf Grund seiner strategisch wichtigen Pass berg nge von beiden Gro m chten begehrt wird, befreit. Mit seinen politischen R nkespielen hat er sich aber nicht nur im Ausland, sondern auch in den eigenen Reihen viele Feinde gemacht. So verkommt sein Fest zum d steren Totentanz, auf dem sich die konkurrierenden 4 Hans Mayer, Conrad Ferdinand Meyer, J rg Jenatsch und Bismarck (1959), in: ders., Ansichten von Deutschland. B rgerliches Heldenleben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 2042, hier S. 25. 5 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 240. 6 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 255.

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Feinde ber der Frage, wer den verhassten Helden t ten darf, buchst blich die K pfe einschlagen. Es wird schlie lich seine Jugendliebe Lucretia sein, die Jenatsch mit eben jener Axt erschl gt, mit der er zu Beginn seiner Partisanen-Karriere seinen politischen Gegner und Lucretias Vater Pompejus Planta ermordet hatte. Bevor es allerdings zu diesem beinahe grotesken Liebes- und Racheakt kommt, versucht Lucretia noch, ihren geliebten J rg vor der mordl sternen Meute zu sch tzen, die sich immer enger um Jenatsch zusammenzieht. Insbesondere sein Intimfeind und Konkurrent Rudolf Planta will sich die ruhmreiche Rolle des Tyrannenm rders nicht entgehen lassen. Seine feine spanische Klinge sucht bereits vorsichtig eine gef hrliche Stelle zwischen den Schulterbl ttern Georgs (der sich mit einem schweren Leuchter gegen seine Angreifer wehrt), als er selbst von einem Dritten Lucretias Diener Lucas erschlagen wird.7 Das chaotische Get mmel dieser aus den Fugen geratenen Gr ndungsfeier muss hier in einiger L nge zitiert werden, geht es doch nicht nur um den narrativen Ablauf des Geschehens, sondern auch um die konkrete sprachliche Gestaltung, mit der die Gewaltt tigkeit der Szene nachdr cklich geschildert wird: Da schmetterte ein Axtschlag neben ihr [i.e. Lucretia] nieder. Sie erblickte ihren treuen Lucas, ohne Maske, barhaupt, der von hinten vordringend, ein altes Beil zum zweiten Male auf Rudolfs bleiches Haupt fallen lie und ihn anschrie: Weg, Schurke! Das ist nicht deines Amtes. Dann warf er den Sterbenden auf die Seite, dr ckte Lucretia weg und stand mit erhobener Axt vor Jenatsch. Der Starke, der schon aus vielen Wunden blutete, schlug mit wuchtiger Faust seinen Leuchter blindlings auf das graue Haupt. Lautlos sank der alte Knecht auf Lucretias F e. Sie neigte sich zu ihm nieder und er gab ihr mit brechendem Blicke das blutige Beil in die Hand. Es war die Axt, die einst den Herrn Pompejus erschlagen hatte. In Verzweiflung richtete sie sich auf, sah J rg schwanken, von gedungenen M rdern umstellt, von meuchlerischen Wa en umzuckt und verwundet, rings und rettungslos umstellt. Jetzt, in traumhaftem Entschlusse, hob sie mit beiden H nden die ihr vererbte Wa e und traf mit ganzer Kraft das teure Haupt. J rgs Arme sanken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller Liebe an, ein d sterer Triumph flog ber seine Z ge, dann st rzte er schwer zusammen.8 Eindeutig wird hier das Bild eines verletzten, mit u erster Anstrengung sich wehrenden Tiers evoziert, das im kollektiven Blut- und Racherausch geopfert wird. Die Benennung einzelner K rperteile die gef hrliche Stelle zwischen den Schulterbl ttern , die sinkenden Arme sowie die blutenden Wunden und die Betonung des k rperlichen Gewichts bei Jenatschs schwer[em] Zusammensturz lassen an einen waidwunden, gehetzten Eber in Agonie denken. Aber auch an Jesus in der Stunde seines Todes: Un bersehbar wird hier auf das Haupt voll Blut und Wun7 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 267. 8 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 267 f.

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den des Erl sers angespielt.9 Und Meyer l sst es nicht damit bewenden, sondern berbietet die Opferszene noch mit einer Piet , die allerdings nicht unter dem Kreuz oder in der Grabesh hle, sondern mit einem berdeutlichen Zeige nger im Rathaus unter dem Bildnis der Justitia statt ndet: Als Lucretia ihrer Sinne wieder m chtig wurde, kniete sie neben der Leiche, das Haupt des Erschlagenen lag in ihrem Scho e. Das Gemach war leer. Um die ber ihr schwebende Gestalt der Justitia waren die Lichter heruntergebrannt und das Wachs el ihr in gl henden Tropfen auf Hals und Stirn.10 Auf den ersten Blick erf llt die Gr ndungsfeier im Churer Rathaus genau die Funktion eines Opferfestes, wie es von Ren Girard um nur einen der prominentesten Vertreter dieses Theorems zu nennen als konstitutiv f r jede Gemeinschaft beschreibt.11 Folgt man Girard, so zeichnet sich der Opferritus durch seine Katharsisfunktion aus. Durch die institutionalisierte Vernichtung des S ndenbocks wird das B se als kollektive Tat aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Die immanente Gewalt wird durch den rituell ver bten Mord kanalisiert, die Kette der Blutrache unterbrochen, die Gewaltspirale beendet. Das Opferritual ist somit auch die L sung jenes Paradoxons, das am Grunde jeder politischen Ordnung lauert: Dass die Begr ndung des (neuen) Gesetzes selbst auf einem Akt der Gewalt und der Transgression beruht. Mit dem Ritual wird dieses Paradoxon in einer klar de nierten Form aufgehoben, das Ausgeschlossene wird nicht verworfen, sondern durch die wiederholte Inszenierung in die Gemeinschaft selbst integriert und kontrolliert. Meyer scheint dieses Prozedere in der Schlussszene musterg ltig vorzuf hren: Der S ndenbock wird in gemeinsamem Einverst ndnis geschlachtet. Recht und heilige Ordnung scheinen wiederhergestellt, wenn Lucretia mit dem toten Jenatsch unter dem Bildnis der Justitia als Piet arrangiert wird. Es hat, so k nnte man meinen, jene Katharsis stattgefunden, die zur Vertreibung oder Kanalisierung der Rachegeister f hrt. Wenige Zeilen sp ter endet der Roman mit folgenden Worten: Sie verzichteten darauf, die Urheber seines Todes, die ihnen als Werkzeuge eines notwendigen Schicksals erschienen, vor Gericht zu ziehen. Keine neue 9 Ber hmt ist diese bersetzung des lateinischen Hymnus Salve caput cruentatum vor allem durch das gleichnamige Kirchenlied von Paul Gerhard und Johann Kr ger (ca. 1656), sowie durch dessen Zitat in Johann Sebastian Bachs Matth uspassion (1727). 10 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 268. 11 Vgl. Ren Girard, Das Heilige und die Gewalt (1972), Z rich: Benziger 1987. Girard ist allerdings nur einer der prominentesten Vertreter dieses Theorems, das von der kathartischen, kulturstiftenden Funktion des Opfers ausgeht. Einflussreich f r eine gewisse Dominanz dieses Deutungsansatzes im 20. Jahrhundert waren auch die ethnologischen Forschungen des Religionswissenschaftlers Victor Turner sowie Studien des Altphilologen Walter Burkert. Vgl. nur: Victor Turner, Sacrifice as Quintessential Process. Prophylaxis or Abandonment? , in: History of Religions 16 (1976), S. 189-215. Sowie Walter Burkert, Anthropologie des religi sen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt, M nchen: Siemens-Stiftung 1987.

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Parteiung und Rache sollte aus seinem Blute entstehen er h tte es selbst nicht gewollt. Aber sie beschlossen, ihn mit ungew hnlichen, seinen Verdiensten um das Land angemessenen Ehren zu bestatten.12 Ende gut, alles gut? Der Partisanenk mpfer, F hrer und Gr nder hat seine Schuldigkeit getan, wurde im kollektiven Einverst ndnis geopfert und die T terin gl ckliche F gung! verschwindet nach der Tat ins Kloster. Damit w re die Gewaltspirale beendet, der Gr ndungsakt vollzogen und die Errichtung einer neuen Ordnung in Zeichen der Justitia gelungen. III. Doch ist es gerade dieser Schluss, der von den Zeitgenossen nicht gut aufgenommen wurde. Die erste Buchfassung des Romans erschien Ende September 1876 unter dem Titel Georg Jenatsch. Eine alte B ndnergeschichte (von Conrad Ferdinand Meyer). Es handelte sich um eine stark berarbeitete Version der ersten Fassung Georg Jenatsch. Eine Geschichte aus der Zeit des drei igj hrigen Krieges, die ab Juli 1874 in Folge in der Leipziger Wochenzeitschrift Die Literatur erschienen war. 13 In einem Brief vom 3. Oktober 1876 kommentiert Gottfried Keller das Werk sehr lobend, meint jedoch abschlie end: ber den Beilschlag am Schlusse muss ich mir freilich das Protokoll noch o en behalten. 14 Meyer hat zwar in den folgenden Jahren weitere nderungen am Text vorgenommen, erst 1882 erschien der Roman in der heutigen Version unter dem bekannten Titel J rg Jenatsch. Eine B ndnergeschichte. Doch an seinem drastischen Schluss hat er trotz der Kritik festgehalten. Ein Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Theodor Storm dokumentiert sowohl die Wertsch tzung f r den Roman als Ganzes als auch die Ablehnung des brutalen Endes. Im Januar 1883 schreibt Keller an Storm: Der Jenatsch wird ihnen gewi gefallen. Dem famosen Sujet ist alle Ehre angetan, [...] bis auf den unweiblichen Beilhieb des Frauenzimmers am Schlusse.15 Storm antwortet zwei Monate sp ter mit einer Kritik, die in dieselbe Richtung zielt:

12 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 268. 13 Hans Wysling und Elisabeth Lutt-B ttiker (Hrsg.), Conrad Ferdinand Meyer, 1825 1898. Bildband zur Ausstellung, Z rich: Verlag Neue Z rcher Zeitung 1998, S. 252. 14 Brief vom 3. Oktober 1876, in: Gottfried Kellers Briefe und Tageb cher, 1861-1890, herausgegeben von Emil Ermatinger, Stuttgart-Berlin: Cotta 1916, S. 180. 15 Brief vom 5. Januar 1883, in: Der Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Gottfried Keller, herausgegeben von Peter Goldammer, Berlin-Weimar: Aufbau-Verlag 1967, S. 114 f.

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Nun habe auch ich das Buch in der Familie gelesen und sage auch: eine grandiose Leistung, vorbeh ltlich wie ja jeder f hlen mu , des Schlusses. Der ganze u erliche Apparat mit dem Karnevalsb ren ist mir schon zu gek nstelt f r eine Schlu szene, die zu dieser Geschichte notwendig gro und einfach verlaufen mu . Dann, abgesehen von der Roheit dieser richtigen Fleischhauertat gegen den blutend zu Boden liegenden, mutet uns der Verfasser, nachdem er die R cherpflicht mehrmals etwas k hl in der Heldin hat auftauchen lassen, auch noch zu, ein anderes Motiv damit zu kombinieren: das der Liebe, welche den Geliebten, da es nun einmal zu Ende mu , wenigstens von eigener Hand und nicht von M rderfaust will sterben lassen. Der Verfasser hat sich hier o enbar zwischen dem (nach Ihrer Mitteilung) Gegebnen und seiner eigenen Umbildung desselben in der Klemme befunden. Trotzdem ist es f r mich weitaus sein Bestes; aber es kommt dem Dichter auch nicht immer, vielmehr recht selten, ein ihm so mundgerechter Sto . Man m te ihm sagen, er m sse einen besseren Schlu scha en; es ist zu schade um das sch ne Werk.16 Storms Brief ist aufschlussreich, weil er sehr pr zise die wesentlichen Aspekte dieser Schlussszene herausstreicht: Sie ist roh und sie ist gek nstelt . Die drastische Gewalttat wird o ensichtlich in Szene gesetzt und als Er ndung, als eigentliches Gr ndungstheater ausgestellt. Die Figur der Lucretia spielt dabei eine wesentliche Rolle: Als weibliche Schl chterin ist sie nicht nur eine bertretung des guten Geschmacks, sondern auch ein berdeutlicher Hinweis auf die kompliziert konstruierte Fiktionalit t der vorgef hrten L sung. W hrend sich Meyer f r die Romanhandlung und die Darstellung s mtlicher Figuren an die historische berlieferung h lt, ist Lucretia von Planta reine Er ndung. Zwar schleicht sich diese Figur bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Jenatsch-Legende ein und steht von da an mit Jenatschs Tod in Verbindung. Doch zu dessen M rderin und Geliebten wird sie erst bei Meyer.17 Dass der Name dieser ktionalen Rache- und Befreiungsallegorie kein Zufall ist, betont der Roman an mehreren Stellen. Eine zum Pathos neigende Herzogin bezeichnet Lucretias Zerrissenheit (zwischen der Loyalit t zum ermordeten Vater und der Liebe zu Jenatsch) als Trag die eines mit dem ehernen Schicksale k mpfenden, antiken Charakters und meint zu Recht: Dieses edle Wesen tr gt nicht ohne Bedeutung den Namen Lucretia .18 Es ist Livius vergewaltigte Lukretia, die hier 16 Brief vom 13. M rz 1883, in: Briefwechsel (Anm. 15), S. 118 f. 17 Zur komplizierten Geschichte, wie aus Pompejus Plantas Tocher Katharina von Planta Lucretia werden konnte vgl. Randolph C. Head, Jenatschs Axt. Soziale Grenzen, Identit t und Mythos in der Epoche des Drei igj hrigen Kriegs (2008), Chur: Desertina 2012, S. 169, S. 177, S. 196-225. Auch Head betont, dass weder der Name noch der historische Zeitpunkt seines Erscheinens zuf llig sind, denn die r mische Namensgeberin galt als Heldin der republikanischen Tradition. Ebd. S. 224. 18 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 114.

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durch den Roman geistert. Durch dieses Zitat wird die Funktion der Erz hlung als Gr ndungsnarrativ einer demokratischen Ordnung noch einmal betont. Denn auch bei Livius markiert das Opfer der Lukretia das Ende der Tyrannenherrschaft: Es steht als letzte Begebenheit im ersten Buch seines r mischen Geschichtswerks Ab urbe condita, und die Vergewaltigung durch einen Angeh rigen des K nigshauses und der anschlie ende Selbstmord werden zum Anlass und zur symbolischen Rechtfertigung f r den Sturz des herrschenden K nigs und somit zum Auftakt des zweiten Buches, das von der r mischen Republik berichtet. Mit dieser Referenz reiht sich der Roman J rg Jenatsch in die Tradition republikanischer Gr ndungsnarrative ein. Das Gek nstelte ist also durchaus gewollt, der Einsatz der Kunst gur Lucretia ein Wink mit dem Zaunpfahl: Nur mit Hilfe einer literarischen Fiktion von historischem Gewicht kann die Gewaltspirale stillgestellt, k nnen der Mord am Despoten und die neue politische Ordnung legitimiert werden. IV. Es ist allerdings nicht so sehr die antike Tradition, die f r den Roman ausschlaggebend ist. Den eigentlichen Bezugspunkt bilden vielmehr die im Umfeld der franz sischen Revolution entstandenen Neuauflagen, Palimpseste und Umdeutungen der r mischen Historie. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem zwei u erst wirkm chtige und symboltr chtige Gem lde von Jacques Louis David, die gleichsam die Folie f r Meyers Rathaus-Opfer bilden: Zum einen Der Schwur im Ballhaus (1791), bei dem jener Stiftungsakt zur Darstellung kommt, der im Churer Rathaus h tte gefeiert werden sollen, zum anderen Der Schwur der Horatier (1784), wo die gelungene Eidszene als Kontrast zu Meyers wilder Lustbarkeit erst sichtbar macht, wie weit die Opferfeier im Rathaus ihr eigentliches Ziel verfehlt. Diese zwei Gem lde geh ren zu den bedeutendsten Ikonen der b rgerlichen Revolution und zeigen sehr exemplarisch, mit welchen Bildbest nden nun versucht wird, das Herrscherportr t zu ersetzen, um den politischen K rper durch neue Formen und Formeln symbolisch zu repr sentieren.19 Es sind vor allem an der Historienmalerei orientierte Gruppenarrangements, die dabei eine zentrale Rolle spielen. Ihre normative und ordnungsstiftende Kraft gewinnen sie jedoch nicht nur durch die erz hlerische Darstellung bestimmter Ereignisse und Legenden, sondern mehr noch durch ihre emblematische Anordnung insbesondere die klare Gegen berstellung von A ekt und Ordnung. Oder anders 19 Der Schwur der Horatier wurde zwar f nf Jahre vor der Revolution und interessanterweise im Auftrag eines Ministers von K nig Louis XVI. produziert, es stellt aber, so Vogel, in Sujet, Komposition und Bilddramaturgie die Weichen sowohl f r die Selbstinszenierungen der Revolution als auch f r die gesamte Dramaturgie der Gr ndungsszenen, die in der Folge in die Versdramen des 19. Jahrhunderts aufgenommen werden. Juliane Vogel, Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der gro en Szene in der Trag die des 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br.: Rombach 2002, S. 70.

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Abb. 1: Jacques-Louis David: Der Schwur im Ballhaus (Le Serment du Jeu de Paume), 1791. Feder, Tinte, Tusche und wei e H hung ber Spuren von Graphit, 1791. Paris, Mus e du Louvre.

gesagt: von Furor und Gesetz. In ihrer umfassenden Studie Die Furie und das Gesetz hat Juliane Vogel gezeigt, wie diese Doppeldramaturgie der Revolution 20 die gesamte b rgerliche Repr sentationslogik des 19. Jahrhunderts bestimmt und in der sogenannten gro en Szene eben jener dramatischen Gegen berstellung von exaltierten A ekten und ordnendem Gesetz ihren darstellerischen H hepunkt ndet. Zwar hat dieser Antagonismus als Gegenstand k nstlerischer Auseinandersetzungen insbesondere im Drama eine lange Tradition, die bis in die Antike zur ckreicht, doch Vogel zeigt, wie er sich um 1800 zuspitzt. Erstens wird die Trennung zwischen Gesetz und A ekt sch rfer und undurchl ssiger dargestellt, zweitens ndet eine klare Gewichtung zu Gunsten des Gesetzes statt. Die revolution ren, a ektiven Kr fte beanspruchen zwar einen gewissen Raum, werden aber von der ordnungsstiftenden, souver nen Macht bezwungen und an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedr ngt. Der historische Hintergrund dieser Gewichtung ist unschwer zu erkennen: Der Geist der Revolution sollte im Sinne einer b rgerlichen Ordnung gez hmt und diese Z hmung durch eine intensiv betriebene Bildund Symbolpolitik legitimiert werden. Vogel konstatiert aber noch einen dritten Aspekt, der die gro e Szene um 1800 auszeichnet: die geschlechterspezi sche Zuordnung. Auch in dieser Hinsicht gibt es zwar eine lange Tradition, die das Gesetz als Gesetz des Vaters vorstellt, die A ekte hingegen eher weiblich konnotiert. Doch 20 Vogel, Die Furie und das Gesetz (Anm. 19), S. 58.

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Abb. 2: Jacques-Louis David: Der Schwur der Horatier (Le Serment des Horaces), 1784. l auf Leinwand, 330x425cm. Paris, Mus e du Louvre.

erst im Zuge einer neuen, immer mehr biologisch argumentierenden b rgerlichen Geschlechterpolitik werden auch diese Positionen zunehmend als undurchl ssige, dichotome Gegens tze imaginiert und in eine klare hierarchisch organisierte Beziehung gesetzt. Wie sich diese Doppeldramaturgie der Revolution und das damit einhergehende Legitimationsnarrativ einer b rgerlichen (Geschlechter-)Ordnung ins Bild setzten l sst, wird am Schwur der Horatier sichtbar. David scheint sich mit dem Titel auf eine Episode aus Livius r mischer Historie zu beziehen, die allerdings schon um 672-640 v. Chr. und somit lange vor dem Umbruch zur Republik angesiedelt ist. (Die Vergewaltigung der Lukretia wird bei Livius im Jahr 509 v. Chr. verortet.) Auch ndet sich in der zitierten Geschichte des Horatius keine Schwurszene, weder bei Livius noch in sp teren literarischen Versionen.21 Mit dieser freien Adaption schlie t David die Geschichte des Horatius mit der Geschichte der Lukretia kurz, wo der Schwur der M nner am Totenbett der gesch ndeten Lukretia zum Kernbestand der Legende geh rt, und verleibt sie so einer republikanischen Revolutions21 Vgl. Thomas E. Crow, Painters and public life in eighteenth-century Paris, New Haven u. a.: Yale University Press 1995, S. 235.

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Abb. 3: Der Untergang von J rg Jenatsch nach dem Gem lde von E. Sturtevant . Xylographischer Druck nach einem Originalgem lde von Erich Sturtevant. Autor: R. Bonn. R tisches Museum Chur (H 1971, 1748).

ikonographie 22 ein. Die eigentliche Pointe entsteht aber gerade aus dieser berschneidung von der im Titel angedeuteten Erz hlung und der ikonographischen Anordnung. Die berlieferte Geschichte des Horatius erz hlt vom Streit der zwei St dte Alba Longa und Rom, der nach langen, vergeblichen und verlustreichen K mpfen schlie lich durch einen Stellvertreterkampf entschieden werden soll. Drei Br der aus der Familie der Horatier werden f r Rom, drei Br der aus der Familie der Curatier f r Alba Longa in den Kampf geschickt. Allerdings sind die zwei Familien gleich durch zwei Ehen miteinander verbunden: Die Horatierin Camilla ist mit einem Curatier, die Curatierin Sabina mit einem Horatier verheiratet. Beide Ehem nner sterben, zur ck kehrt als einziger berlebender nur Horatius. Als seine Schwester Camilla bei seiner R ckkehr, statt sich ber den Sieg der Familie zu freuen, den Tod des Gatten beklagt, erschl gt er sie mit den Worten: Weg mit dir zu deinem Verlobten mitsamt deiner unangebrachten Liebe! Vergessen hast du deine toten Br der und den Lebenden, vergessen deine Vaterstadt. So soll jede R merin dahingehen, die um den Feind trauert! 23 Unverzeihlich ist ihr Verrat an der politischen Sache aufgrund pers nlicher Emotionen. Was der Text somit anbietet, ist eine geschlechterspezi sche Unterscheidung von politikf higen und politikunf hi22 Vogel, Die Furie und das Gesetz (Anm. 19), S. 73. 23 Titus Livius, Die Anf nge Roms. R mische Geschichte I V, M nchen: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, S. 65-68 (I, 24-25).

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gen Geschwistern: W hrend die Br der gemeinsam in den Kampf um ihre Stadt ziehen, und als Stellvertreter f r eine politische Gemeinschaft auch den eigenen Tod in Kauf nehmen, kann die Schwester nur ihr pers nliches Leid wahrnehmen. Davids Gem lde greift diese Zuordnung auf und macht sie zum Programm. Dargestellt wird eine Situation kurz vor dem Kampf, als die Br der, zur Gemeinschaft gruppiert, vor dem Vater den Eid ablegen. Die vom Vater zum B ndel arrangierten Schwerter versprechen einen Kampf, der schon deshalb gerecht ist, weil er mit vereinten Kr ften und somit im Dienste der Allgemeinheit gef hrt wird. Au allend ist vor allem die klare Aufteilung des Bildes in eine m nnliche und eine weibliche Seite. In der linken Bildh lfte wird die patriotische Verschw rung durch muskul se m nnliche K rper dargestellt, die sich unter dem Gesetz des Vaters zum kampfbereiten Corps organisieren. Die Frauengestalten hingegen kauern kraftlos und in sich gekehrt in der rechten unteren Bildh lfte. Sie repr sentieren Trauer und Leid, aber auch Ohnmacht und melancholische Resignation kurz: eine individuelle, dem Politischen enthobene, a ektive Gem tsverfassung: Mag die weibliche Gruppe die sch nere, beweglichere, r hrendere sein, die ohnm chtige ist sie schon deswegen, weil sie, statt den h heren republikanischen bzw. patriotischen Zielen sich unterzuordnen, privaten Zwecken und mehr noch: den A ekten verhaftet bleibt. Nicht von ungef hr erstreckt sich ihr zerflie endes und in seinen Grenzen unbestimmtes Terrain allein ber die untere Bildh lfte, in der nach der traditionellen Topographie der psychischen Verm gen die A ekte angesiedelt werden. Denn w hrend die hochaufgerichteten soldatischen Horatier keine Gef hlsregungen zeigen und in stoischer Entschlossenheit ihre famili ren Bindungen missachten, geben sich die Frauen den Leidenschaften hin, welche die patriotische Sache der R mer bedrohen und die gro e weibliche Szene auf eine eigene dramaturgische Grundlage stellen: auf die der Ohnmacht und der Exaltation zugleich.24 Mit dieser klaren Zuweisung der Sph ren, die sich gleichzeitig mit der aufkl rerischen Forderung nach Gleichheit um 1800 etabliert und die Frauen explizit aus der Politik ausschlie t, bekommt der Furor ein eindeutiges Geschlecht: Er wird zur Furie, und die Furie, als Frau, aus der Gesellschaftsordnung verdr ngt oder genauer: ins Private eingeschlossen. Die Biologisierung des Geschlechtsunterschieds legte es nahe, so Vogel, die anachronistische Position des Furors weiblich zu besetzen und an ein Geschlecht zu delegieren, dessen Ohnmacht neuerdings durch die unhintergehbare Instanz der Natur begr ndet schien. 25 Einerseits f hrt Meyer genau diesen Akt des Delegierens vor, den Vogel als historisch bedingtes Spezi kum diagnostiziert: Lucretia Planta, die im Roman als integre, vern nftige und politisch tatkr ftige Pers nlichkeit dargestellt wird (sie befreit sich selbst mit Wa engewalt aus einer Entf hrung und macht als geheime 24 Vogel, Die Furie und das Gesetz (Anm. 19), S. 80. 25 Vogel, Die Furie und das Gesetz (Anm. 19), S. 11.

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Botschafterin gef hrliche Reisen nach Venedig), verwandelt sich pl tzlich in eine exaltierte Furie und erl st das neue R tien von den Rachegeistern, wenn sie nach getaner Arbeit ins Kloster verschwindet. Andererseits wird gerade im Vergleich mit dem Schwur der Horatier das Problem dieser Konstruktion sichtbar. Denn im Unterschied zu Davids Gem lde, wo jeder Verdacht, der feierliche Vorgang der Einschw rung k nnte au er Kontrolle geraten durch eine klare Bildsprache die eisige Atmosph re einer auf dem Gipfelpunkt eingefrorene[n] Geste der Beglaubigung sowie die Verdr ngung der weiblichen A ekte an die untere Peripherie und in den Hintergrund abgewiesen wird,26 fehlt in Meyers Rathausszene diese klare berlegenheit einer auf Vernunft und Gesetz begr ndeten Ordnung. Eine feierlich in Szene gesetzte republikanische Einschw rung bleibt berhaupt aus, stattdessen wird die gesamte Festgemeinschaft vom Furor berw ltigt. So werden der Triumph des Rechts , die berwindung der Rache und die Errichtung einer rationalen Ordnung als k nstlich erzwungene Fiktionen denunziert.27 V. Doch wichtiger als diese selbstreflexive Dekonstruktion des Gr ndungsnarrativs die ja keine Ausnahme, sondern vielleicht Genretypisch ist28 ist das wirkungs sthetische Kalk l, welches die drastische Darstellung motiviert. Nicht die Erl sung, nicht Stille, Ruhe, Ordnung werden im Ged chtnis haften bleiben, sondern die Fleischhauertat, der Furor, das Gewitter, das Blut: Ihre Beschreibung hat die Kraft, ber das Papier hinaus eine Wirkung zu entfalten, sich auf die Rezipienten zu bertragen. Dabei ist es nicht nur eine Frage des Sujets, sondern insbesondere auch eine Frage der konkreten sprachlichen Gestaltung, die dazu f hrt, dass der Text jene gew nschte Wirkung erzielt, die im Laufe des 19. Jahrhunderts und dann vor allem im 20. als drastisch bezeichnet wird: eine schonungslose Attacke der Kunst auf den Betrachter, die den K rper angreift, und die wirkt, indem sie Schmerz zuf gt. Wurde der Begri lange nur im medizinischen Kontext f r abf hrende Pharmazeutika mit starker Wirkung verwendet, so taucht er in Friedrich Schlegels 42. Athen umsFragment zum ersten Mal in Bezug auf die Kunst auf: Gute Dramen m ssen drastisch sein. 29 Eine Erl uterung bleibt bei Schlegel zwar aus, doch die bis um 1800

26 Vogel, Die Furie und das Gesetz (Anm. 19), S. 76. 27 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 10. 28 Vgl. Albrecht Koschorke, Zur Logik kultureller Gr ndungserz hlungen , in: Zeitschrift f r Ideengeschichte I/2 (2007), S. 5-12. 29 Friedrich Schlegel, Athen umsfragmente , in: ders., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, herausgegeben von Hans Eichner, M nchen u. a.: Thomas-Verlag 1967, Band II/1: Kritiken I (1796-1801), herausgegeben von Ernst Behler, S. 165-255, hier S. 171. Einen Versuch, Schlegels programmatische Formel anhand seines einzigen Dramas Alarcos genauer zu bestimmen, unternimmt Albert Meier, Gute Dramen m ssen drastisch sein: Zur sthetischen Rettung von Friedrich Schlegels Alcaros , in: Goethe Yearbook 8 (1996), S. 192-209.

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bliche De nition Drastica, werden die allerst rcksten Purgantia genennet 30 l sst im Zusammenhang mit einer dramentheoretischen Programmatik eine Reformulierung des Katharsis-Konzepts vermuten. Interessanterweise erinnert Schlegels Forderung nach drastischen Dramen an einen Aspekt der aristothelischen Katharsis, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts (wieder) diskutiert wird: Ihre Herleitung aus dem medizinischen Bereich. Wie Schlegel, so gri schon Aristoteles f r seine folgenreichen wirkungs sthetischen berlegungen zu einer Metapher aus der rztlichen Heilkunde. Darauf verwies der Philologe Jacob Bernays 1857 in seiner Schrift Grundz ge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles ber die Wirkung der Trag die, und l ste damit einen Schwall der Emp rung, aber auch eine Wende in der Rezeptionsgeschichte aus.31 Sein Hauptargument wendet sich vor allem gegen die moralisch-ethische Interpretation Lessings, die sich laut Bernays nur deshalb habe durchsetzen k nnen, weil durch die falsche bersetzung vergessen ging, dass es sich beim Katharsis-Begri um eine Metapher aus der Medizin handle, und dass diese Entlehnung keinesfalls zuf llig geschehen sei: Sohn eines k niglichen Leibarztes und selbst die rztliche Kunst in seiner Jugend zeitweilig aus bend, hat Aristoteles die ererbten medicinischen Neigungen nicht blos (sic!) f r den streng naturwissenschaftlichen Theil seiner philosophischen Th tigkeit nutzbar gemacht; auch seine psychologischen und ethischen Lehren zeigen, trotz aller F den, die sie mit der Metaphysik verkn pfen, doch eine stets wache R cksicht und Achtung f r das K rperliche. [...] Ja selbst in rein logischen und speculativen Fragen w hlte er die erl uternden Beispiele mit sichtlicher Vorliebe aus dem Bereich rztlicher Erfahrungen.32 Bernays Argument, dass das Katharsis-Konzept nicht vom moralischen oder hedonistischen, sondern vom pathologischen Gesichtspunkt 33 aus betrachtet und in direkten Bezug mit der rztlich herbeigef hrten Erleichterung 34 sprich mit durch Drastika eingeleiteter Abf hrung gebracht werden soll, hatte f r seine Interpretation der antiken Dramen sthetik weitreichende Konsequenzen. Lessings aufkl rerische Idee einer nachhaltigen Austreibung exaltierter und irrationaler Affekte durch die Kunst, sowie die Forderung nach einem Theater, das als sittliche Besserungsanstalt zum Produktionsort des vern nftigen b rgerlichen Subjekt be30 Johann Heinrich Zedler, Gro es vollst ndiges Universallexikon aller Wissenschaften und K nste, Halle-Leipzig: Zedler 1732-1754, Band 7, S. 729. 31 Vgl. Werner Mittenzwei, Katharsis , in: Karlheinz Barck (Hrsg.), sthetische Grundbegriffe: historisches W rterbuch in sieben B nden, Stuttgart-Weimar: Metzler 2001, Band 3: Harmonie Material, S. 245-272. 32 Jacob Bernays, Grundz ge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles ber Wirkung der Trag die , in: Abhandlungen der Historisch-Philosophischen Gesellschaft in Breslau, Band 1, Breslau: Trewendt 1857, S. 132-202, hier S. 144. 33 Bernays, Grundz ge der verlorenen Abhandlung (Anm. 32), S. 141. 34 Bernays, Grundz ge der verlorenen Abhandlung (Anm. 32), S. 144.

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stimmt wird, habe mit dem Aristotelischen Programm nichts zu tun. Vielmehr zeige sich bei einer genaueren Betrachtung all jener Textstellen, in denen von einer kathartischen Wirkung der Kunst die Rede sei, dass Aristoteles keine Beruhigung der Leidenschaften verlangt habe.35 Er habe im Gegenteil ein Drama gefordert, das die Zuschauer zu Orgien des Mitleids und der Furcht hinreissen sollte, indem es die A ecte so m chtig hervorlockt, ihrer Fluth ein so tiefes und breites Bette gr bt, in das sie sich ergie en kann. 36 Bernays Neuinterpretation des Katharsis-Konzepts zeugt davon, dass die Idee einer infekti sen, physisch und emotional aggressiven Kunst im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt. Allerdings blieb seine bersetzung heftig umstritten, traf doch die Kritik an Lessings Dramentheorie die Philologie an einem neuralgischen Punkt.37 Das historische Gep ck des Katharsisbegri s erwies sich als zu gewichtig, als dass er im Dienste einer neuen Wirkungs sthetik einfach umgedeutet werden konnte. Gleichsam im Windschatten dieser philologischen K mpfe etablierte sich als Alternative der Drastik-Begri als sthetische Kategorie. Bereits 1924 hatte das Brockhaus-Conversationslexikon neben der medizinischen auch die sthetische Bedeutung erw hnt, blieb dabei aber u erst vage: Neuere Schriftsteller haben diesen Ausdruck auch in der sthetik gebraucht. 38 Zwanzig Jahre sp ter ist diese Nebenbedeutung schon konkreter geworden. Im selben Lexikon hei t es nun: In der sthetik hei en diejenigen Schilderungen oder Darstellungen der redenden oder bildenden Kunst drastisch, welche von unmittelbar treffender, schlagender Wirkung sind, oft mit dem Nebenbegri der bertreibung. 39 Aber erst in der zweiten H lfte des 19. Jahrhunderts wandert der Begri schlie lich ganz in den Bereich der sthetik und pro liert sich zunehmend als h chst ambivalente wirkungs sthetische Kategorie: Steht er auf der einen Seite f r durchaus erw nschte E ekte wie Unmittelbarkeit, Anschaulichkeit, Kraft und Lebendigkeit, so haftet ihm zugleich etwas Anr chiges an. Drastisch meint immer auch gewaltsame, schmerzhafte berschreitung des guten Geschmacks, schockierende Regelverletzung, grauenerregende Brutalit t oder schonungslose Deutlichkeit.40 Damit 35 Bernays, Grundz ge der verlorenen Abhandlung (Anm. 32), S. 173. Bernays beschr nkt sich im Unterschied zu Lessing nicht auf die wenigen Fragmente der Poetik, sondern unterst tzt sein Argument auch im R ckgriff auf Textstellen aus der Politik, wo Aristoteles den Katharsisbegriff ebenfalls auf den sthetischen Bereich anwendet. Vgl. Aristoteles, Politik, VIII, 1341b32. 36 Bernays, Grundz ge der verlorenen Abhandlung (Anm. 32), S. 173. 37 Zur Kontroverse um Bernays Umdeutung vgl. Karlfried Gr nder, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis , in: Hans Barion (Hrsg.), Epirrhosis. Festgabe f r Carl Schmitt, Bd. 2, Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 495-528. 38 Brockhaus Conversations-Lexikon, Leipzig 61824, Band 3, S. 254. 39 Brockhaus Conversations-Lexikon, Leipzig 91844, Band 4, S. 233. 40 Vgl. dazu nur: Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Sowie Dirck Linck, ber die M glichkeit des popkulturellen Vergn gens an drastischen Gegenst nden , in: Martin V hler und Dirck Linck (Hrsg.), Grenzen der Katharsis in den modernen K nsten. Transformationen des aristote-

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steht eine sthetik der Drastik aber in einem engen Verwandtschaftsverh ltnis zur modernen F hrer gur, wie sie in Meyers Darstellung des J rg Jenatsch prototypisch zum Einsatz kommt. Jener F hrer gur n mlich, die Max Weber einige Jahre sp ter im Rahmen seiner Herrschaftstypologie unter der Kategorie charismatische Herrschaft theoretisch zu fassen versucht. Dieser moderne, charismatische F hrer wird als Erg nzung zu einem sozialen Kollektiv konzipiert, das sich durch Affektstr me erst zum Gesellschaftsk rper verbindet. Seine Regierungskunst besteht vor allem darin, diese Str me so zu leiten, dass es nicht zum Aufstand oder zum sozialen Zerfall, sondern zur emotionalen Vergemeinschaftung , wie Weber die charismatische Gemeinschaft nennt, kommt.41 Nicht die Neutralisierung, sondern die st ndige Anreizung ist f r diese Art der politischen Steuerung gefragt: Der moderne F hrer am deutlichsten in seiner Funktion als Massenverf hrer aktiviert die exaltierten A ekte, um sie in seinem Sinne zu dirigieren. Dabei changiert er selbst zwischen souver nem Taktiker und irrationalem Instinktmensch. Gerade durch seine eigene Exaltiertheit, durch seine Emotionalit t gelingt es ihm, sich in die a ektiv bestimmte Dynamik der modernen Massengesellschaft einzuschalten. VI. Meyers Jenatsch praktiziert genau diese Art der emotionalen Lenkung: Er fasziniert durch eine unergr ndliche Mischung aus Furor und Berechnung. Er versteht es, sein feuriges Temperament eiskalt zu instrumentalisieren. Um die n tige Wirkung zu erzielen, gibt er sich derb und unverbl mt, gelegentlich auch grausam. Regelversto , Transgression und Ma losigkeit charakterisieren diesen Typus des Volks(ver) f hrers, dessen elektrisierende Wirkung nicht zuletzt durch sein schockierendes Verhalten zustande kommt. Mit dem drastischen Schluss provoziert der Roman genau jene Schockwirkung, auf die Jenatschs Charisma gr ndet. Wenn Meyer poetische Mittel einsetzt, die mit den vorherrschenden Normen der sch nen Literatur nicht zu vereinbaren sind gerade das H ssliche, Derbe, wird vom poetischen Realismus strikt abgelehnt und verurteilt so erreicht er damit auch auf der stilistischen Ebene ein Unbehagen, das dem Nachruhm seines zwiesp ltigen Helden dient. Die drastische Schlussszene ist somit auch die konsequente Umsetzung einer Poetik der Geschichtsschreibung, die sich durch den ganzen Roman zieht, und die mit einer aggressiven Kritik an der zeitgen ssischen Geschichtswissenschaft einhergeht.42 Wie wird heute Historia geschrieben? l sst Meyer eine seiner Figuren fralischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin-New York: De Gruyter 2009, S. 293322. 41 Max Weber, Die Typen der Herrschaft , in: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, T bingen: Mohr 1980, S. 122-148, hier S. 142. 42 Vgl. dazu die ausgezeichnete Studie von Jan-Arne Sohns, An der Kette der Ahnen. Geschichtsreflexion im deutschsprachigen historischen Roman 1870-1880, Berlin u. a.: De Gruyter 2004, insbes. S. 149-156.

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gen. Die Antwort folgt sogleich: Saftlos und ohne Gewissenhaftigkeit! Die Tradition jedoch der volkst mlich gro en Taten erlischt nicht, auch wenn ein pedantischer Geschichtsschreiber sie heimt ckisch unter seinen Sche el stellen sollte. Sie geht ber Berg und Tal von Mund zu Munde. 43 Repr sentiert wird diese saftlose, pedantische Historia durch den wenig sympathischen Chronisten Ritter Fortunatus Sprecher, der sich r hmt, alle Taten des Jenatsch gewissenhaft und unparteiisch zu verzeichnen, um seine Aufzeichnungen im Laufe der Jahre gem chlich zu einer ausf hrlichen und, wie er sich schmeichelte, v llig vorurteilslosen Geschichte seines Vaterlandes zu verarbeiten. 44 Im Gegensatz zu seinem Selbstbild wird Sprecher im Roman jedoch als cholerischer Schreiberling mit galligem Temperament vorgef hrt, in dessen Berichten sich die zornige Erregung des Berichterstatters verr t.45 Als Gegensatz zu dieser schriftlichen Tradition pseudoobjektiver Aufzeichnungen f hrt Meyer eine lebendige oral history Sagen, Legenden, B nkels nge ins Feld. Diese zeichnet sich aber nicht nur dadurch aus, dass sie von Mund zu Munde geht , sondern insbesondere auch durch eine Vorliebe f r Gewalt und Blut. So bezieht sich der Roman f r die Rekonstruktion von Jenatschs Werdegang ganz explizit auf Sagen und Legenden, in denen nicht amtliche Dokumente, Jahreszahlen und andere sogenannte harte Fakten im Mittelpunkt stehen, sondern drastische Gewalttaten: Georg Jenatsch war der Vork mpfer des Aufstandes. Er tro von Blut, und seine bermenschliche Tapferkeit wurde zur Legende. So erschlug er Hunderte von sterreichern, meldet die Sage, bei Klosters auf o ener Feldschlacht, er allein mit drei Genossen.46 Die drastische Darstellung ist also der Versuch, Geschichte nach dem Vorbild einer m ndlichen Tradition zu schreiben, und den historischen Roman gegen ber der saftlosen Geschichtswissenschaft zu pro lieren: Weil die literarische Form Mittel einsetzen darf, die a ektiv wirken, kann sie Faszination und Schrecken lebendig halten und dem Erl schen des charismatischen Helden entgegenwirken. Der Roman f hrt vor, wie Drastik als Mnemotechnik f r das kulturelle Ged chtnis eingesetzt werden kann. Der Schluss ist nur der fulminante H hepunkt dieser immanenten Poetik, die sich an verschiedenen Stellen der Erz hlung manifestiert. Besonders anschaulich in einer Episode, an die sich der junge Lokotennent Wertm ller eine interessante Figur, die sich vom kindlichen Verehrer zum sp ttischen Kritiker Jenatschs entwickelt erinnert: Als Kind stand er w hrend eines Ausflugs zum st dtischen Jahrmarkte mitten in der gespannt lauschenden Volksmenge

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Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 84. Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 72 f. Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 249 bzw. 73. Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 74.

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vor dem Schauergem lde eines B nkels ngers und lauschte den endlosen Versen einer tragischen Mordgeschichte : Die ruckweis wandernde Gerte des Leiermanns wies auf die Szenen einer mit den grellsten Farben bemalten Tafel. Auf dem Mittelst ck umstanden die sogenannten drei b ndnerischen Telle ihr nur mit dem Hemde bekleidetes, aus einem Schlot heruntergerissenes Opfer, den ungl cklichen Herrn Pompejus. Einer von ihnen schwang ein langgestieltes Fleischerbeil das war der ber hmte Pfarrer Jenatsch!47 Im Gegensatz zu einer saftlosen Historia entfaltet dieser B nkelsang eine solche Wirkung, dass sich Wertm ller noch Jahre sp ter sehr genau daran erinnern wird mehr noch: Der ruchlose Held wird von da an seine Phantasie besch ftigen. Genau das will Meyer o enbar mit seinem drastischen Gr ndungs nale erreichen: Auch Jenatschs Tod wird in den grellsten Farben dargestellt, und die hnlichkeit dieser Darstellung mit der Moritat auf dem Jahrmarkt ist unverkennbar. Wenn Meyer seinem charismatischen Helden ein drastisches Ende beschert, so dient das o enbar dazu, ihn zu einem unvergesslichen Helden zu stilisieren, und sein Charisma zu berliefern nicht in Form eines Berichtes, sondern durch einen direkten Angri auf den Leser. O enbar soll dieser durch die Lekt re von Jenatschs Charisma a ziert und somit Teil jener zwiesp ltigen Gesellschaft werden, die sich durch das Opferfest im Rathaus formiert. Tats chlich ist es Meyer mit seiner B ndnergeschichte gelungen, Jenatsch als Gr ndungs gur ins nationale Bewusstsein der Schweiz einzupr gen und sein Charisma ins 19. und 20. Jahrhundert zu bertragen. Und zwar durch ein Gr ndungstheater, das gerade nicht jenen abt tenden Radicalkuren der A ekte 48 entspricht, wie Bernays die klassisch-aufkl rerische Umsetzung der Katharsis beschimpft, sondern das ziemlich genau den von ihm geforderten Orgien des Mitleids und der Furcht entspricht. Die Poetik der A ekte, die dabei zum Tragen kommt, orientiert sich zwar an der klassischen Idee der Katharsis, konterkariert diese aber in einer Weise, die Bernays Neu bersetzung sehr nahe kommt: Das Kunstwerk dient hier nicht der geistigen Veredelung oder Erziehung, sondern einer grenzpathologischen Ansteckung.

47 Meyer, Jenatsch (Anm. 2), S. 100 f. 48 Bernays, Grundz ge der verlorenen Abhandlung (Anm. 32), S. 177.

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DRASTISCHES EXPERIMENT C. F. Meyers letzte Novelle Angela Borgia

1. Gattungspoetik der realistischen Novelle: Anleitung zum drastischen Schreiben In der zweiten H lfte des 19. Jahrhunderts wird die Novelle unter den Vorzeichen des Realismus zum Inbegri von Massenliteratur. In einem Brief an Paul Heyse spricht Gottfried Keller die Sorge aus, die Novellerierei sei zu einer allgemeinen Nivelliererei geworden , sie bringe kein Vergn gen und bald auch keine Ehre mehr .1 Heyse, zu dieser Zeit einer der popul rsten deutschsprachigen Schriftsteller berhaupt, war f r diese Klage kein schlechter Adressat. Der sp t mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Vielschreiber brachte es auf insgesamt 177 Novellen und war gleichzeitig als Herausgeber des Deutschen Novellenschatzes (1871-1876) darauf bedacht, gegen die wachsende Menge der Tages- und Wochenbl tter dasjenige aufzubewahren, was unter der Masse des Eintagslebendigen Dauer verspricht und des Aufhebens werth ist.2 Im Vorwort zu der gemeinsam mit dem schw bischen Dorfgeschichtendichter Hermann Kurz herausgegebenen Novellensammlung entwickelt Heyse eine genuin realistische Gattungspoetik, der unter dem Namen Falkentheorie ein sehr ungl ckliches Schicksal beschieden sein sollte. Bis heute lernen Studierende, diesen Begri auf Boccaccios Falkennovelle zur ckzuf hren und mit der Idee zu verbinden, jede Novelle m sse ein Dingsymbol aufweisen, das ihren Gehalt verdichtet und auf den Punkt bringt. In der Tat verlangt Heyse das so, doch wird der literaturgeschichtliche Kontext seiner Novellentheorie dabei meist vergessen. Dass die Novelle den Inbegri von Massenliteratur darstellt, hei t f r die auf diesem Feld t tigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass von dem, was sie produzieren, immer schon sehr viel sehr hnliches da ist. Wie aber schreibt man im Bewusstsein massenhafter hnlichkeit? Wie kann man sich dann berhaupt noch unterscheiden? Heyses Vorschlag lautet: indem man m glichst drastisch zu Werke geht. Heyse formuliert den Einsatz seiner Novellentheorie epochenkonform im Anschluss an die methodischen Entwicklungen in den Naturwissenschaften. Erst die Wendung zum Realismus habe dieser Gattung im deutschsprachigen Bereich 1 Gottfried Keller an Paul Heyse am 7. September 1884, in: Fridolin St hli (Hrsg.), Du hast alles, was mir fehlt . Gottfried Keller im Briefwechsel mit Paul Heyse, Z rich: Th. Gut & Co. Verlag 1990, S. 250. 2 Paul Heyse und Hermann Kurz, Einleitung , in: dies. (Hrsg.), Deutscher Novellenschatz, M nchen: Rudolph Oldenbourg 1871, S. 5-24, hier S. 10, 22.

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zum Durchbruch verholfen in einer Zeit, die in Politik und Philosophie sich zun chst wieder auf den Boden des Tats chlichen stellte, in der Geschichtsschreibung die Quellenforschung, in Physik und Chemie das Experiment ihrer Methode zugrunde legte .3 Der Novelle sei traditionell ein gewisses Schutzrecht f r das blo Tats chliche eigen, dem folgend man nunmehr alles Einzige und Eigenartige, selbst Grillige und bis an die Grenzen des H lichen sich Verirrende [ ] dichterisch zu verwerten wisse.4 Der Theorie kommt es indes nicht so sehr auf die sto liche oder sthetische Seite der Gattung an es interessiert vor allem die Verfahrensweise, durch welche auch die kleinste Form gro er Wirkungen f hig ist. Im Gegensatz zum Roman liegt die Leistung der Novelle f r Heyse darin, dass sie den Eindruck [ ] verdichtet, auf einen Punkt sammelt und dadurch zur h chsten Gewalt zu steigern vermag .5 Die Geschichte, nicht die Zust nde, das Ereignis, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit der Isolirung [sic] des Experiments, wie die Naturforscher sagen nur einen relativen Wert behalten, w hrend es in der Breite des Romans m glich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit ersch pfend von allen Seiten zu beleuchten.6 Die Poetik der Verdichtung entwickelt konkrete Vorstellungen zur Operationalisierung dessen, was als Eigenart der Novelle und als Schreibstrategie unter den Bedingungen von Massenliteratur postuliert wird. Die n heren Bestimmungen zum Falken bezeichnen eine Bandbreite von Operationen auf verschiedenen Ebenen. Zum einen besteht die Probe auf die Tre ichkeit eines novellistischen Motivs darin zu testen, ob sich die Inhaltsangabe als Handlungssequenz formulieren l sst, wie sie Boccaccio seinen Novellen voranstellt.7 Zum anderen ist vom Grundmotiv in der Malersprache die Rede, durch die eine starke Silhouette als mentale Repr sentation beim Leser entsteht.8 Schlie lich soll die einfache Form auf das Spezi sche getestet werden, das diese Geschichte von tausend anderen unterscheidet .9 Dabei entwickelt sich im Bewusstsein der notwendigen Distinktion auf dem litera3 4 5 6 7

Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 9 f. Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 15. Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 17. Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 18. Die Sequenzfolge zur Falkennovelle lautet: Federigo degli Alberighi liebt ohne Gegenliebe zu finden; in ritterlicher Werbung verschwendet er all seine Habe und beh lt nur noch einen einzigen Falken; diesen, da die von ihm geliebte Dame zuf llig sein Haus besucht und er sonst nichts hat, ihr ein Mahl zu bereiten, setzt er ihr bei Tische vor. Sie erf hrt, was er getan, ndert pl tzlich ihren Sinn und belohnt seine Liebe, indem sie ihn zum Herrn ihrer Hand und ihres Verm gens macht , Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 19. 8 Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 19. 9 Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 20.

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rischen Massenmarkt eine zeitgem e Vorstellung von Originalit t, die sich di erentiell als Distanzma des einzelnen Textes zum Gesamtkorpus der Gattung bestimmt. Das Zentrum der Novellentheorie Heyses stellt ohne Zweifel das Verfahrensmodell der experimentellen Isolierung dar, das den auf Leserkognition hin orientierten Vorstellungen einen Rahmen gibt. W hrend der Roman als wissensges ttigte Reflexionsgattung die Lebens- oder Gewissensfrage[n] der Menschheit umfassend und detailliert behandelt, ist die Novelle prim r eine Form f r das Herstellen einer k nstlerischen Beobachtungssituation. Daher r hrt der Gedanke an das Experiment, das sich auf Beobachtung zur ckzieht. Seine Einseitigkeit und Abgetrenntheit wird vom Gehalt des einzelnen Falles ausdr cklich unterschieden, f r die Heuristik des isolierten Experiments sind beobachtete Ereignisse keine F lle , sondern die Sache selbst.10 Fallgeschichten funktionieren anders. F r die Novelle hat die Isolierung des Experiments einen doppelten Richtungssinn, sie beschreibt einerseits die Art und Weise der Darstellung und andererseits deren Wirkungen auf den Leser, der mit zur Versuchsanordnung geh rt. Die Poetik der Verdichtung steuert die Produktion mit den Extremwerten der Rezeption und stellt dabei auf Drastik ab. Heyse schreibt, die Novelle konzentriere den Eindruck auf einen Punkt, um ihn zur h chsten Gewalt zu steigern , sie ziele darauf, mit einem raschen Schlage uns das innerste Herz zu tre en .11 Das emotionsverst rkte kognitive Programm verlangt im epischen Modus eine dramatische Unmittelbarkeit es manipuliert das Experiment durch eine gesteigerte Sch rfe der Naturlaute , wof r ein gewisser nerv ser, herzklopfender Stil das geeignete Mittel darstellt.12 2. Beobachtungsserien und Wahrscheinlichkeitsperspektiven Angela Borgia ist Ende 1891 in der Deutschen Rundschau und fast gleichzeitig in einer Buchausgabe erschienen, von der sich Meyers Verleger Hermann Haessel reienden Absatz versprach. Nachdem die Buchh ndlerbestellungen diese Erwartung zu n hren schienen, entt uschten die tats chlichen Absatzzahlen. [B]is jetzt kommen die meisten ber das Entsetzen nicht hinaus, das Erkennen der gro en Dichtung wird ihnen schwer ,13 versuchte der Verleger eine Erkl rung. Entsetzt waren die Leser vor allem einer Szene wegen, die in Anlehnung an Heyses Novellentheo-

10 Vgl. Moritz Ba ler, Zeichen auf der Kippe. Aporien des Sp trealismus und die Routines der Moderne , in: ders. (Hrsg.), Entsagung und Routines. Aporien des Sp trealismus und Verfahren der fr hen Moderne, Berlin-Boston: De Gruyter 2013, S. 3-21, hier S. 20. 11 Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 17. 12 Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 16. 13 Brief an Elisabeth Meyer vom 9. M rz 1892, in: Conrad Ferdinand Meyer, S mtliche Werke, Band 14: Angela Borgia. Novelle, herausgegeben von Alfred Z ch, Bern: Benteli Verlag 1966, S. 157.

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rie als Falkenkatastrophe 14 verstanden wurde: eine grausame Blendung durch das Herausrei en der Augen. In diesem Gewaltakt verdichten sich Handlung und Verfahren der Novelle auf doppelte Weise. Er markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung zentraler Figuren und treibt zugleich die Perspektive der Erz hlung dort auf die Spitze, wo sich diese als Versuchsanordnung mit entsprechendem Beobachtungsdispositiv gestaltet. Auf beiden Ebenen ist das Augenmotiv ausschlaggebend. Die Forschung spricht in diesem Zusammenhang von einem experimentellen Sonderstatus des Textes innerhalb des Meyer schen Werkes.15 Alles beginnt mit dem Einzug der Papsttochter Lucrezia Borgia in die Residenz ihres dritten Ehemannes Alfonso von Este in Ferrara. In ihrem Gefolge be ndet sich die Verwandte Angela, die anders als Lucrezia nicht in den schamlosen S len des Vaticans wie in einem Treibhause der S nde , sondern mit anderm weiblichem Edelblut in einem Kloster aufgewachsen ist.16 Lucrezia hat, getrieben von ihrem ber hmten Bruder Cesare, bereits zwei Ehem nner auf dem Gewissen, will aber in Ferrara die famili ren, von ihrem unglaublichen Vater ererbten Anlagen berwinden und die Chance nutzen, eine kluge Regentin zu werden. Angela dagegen, mit bertriebene[m] Gewissen ausgestattet, muss gro e Schwierigkeiten in der h schen Welt haben.17 Der Konstellation der ungleichen Verwandten entsprechen auf der Seite der von Este vier Br der mit gleichfalls unterschiedlicher Pr gung und heftig widerstreitenden Interessen. Lucrezias Ehemann Don Alfonso bernimmt alsbald die Macht in dem winzigen F rstenstaat, doch Ippolito, der Kardinal, berwacht und lenkt die politischen Gesch fte. Die beiden anderen Br der haben keinen Zugang zur Macht, weshalb Don Ferrante sich in Verschw rungsprojekten, Don Giulio in gewaltsam ausgetragenen Liebesh ndeln ergeht. Von seinen wunderbaren Augen wird die fromme Angela bereits in der Eingangsszene aufs tiefste ersch ttert , als sie ihm wegen seines Lebenswandels Vorhaltungen macht. 18 Zu der hochumstrittenen Gewaltszene kommt es dann, weil Ippolito nicht ertr gt, dass die von ihm leidenschaftlich begehrte Lucrezia Don Giulio lobt als Folge davon l sst er diesem die Augen herausrei en, woraufhin der blutig Geblendete vor Schmerz schreiend zur versammelten Hofgesellschaft st rzt. Dieser von den Zeitgenossen als pl tzlich kritisierte Gewaltexzess f hrt schlie lich nach verschiedenen Wendungen zur L uterung Don Giulios, den Angela am Ende ehelicht. Der drastisch dramatisierte Augenraub ist als H hepunkt zugleich Teil einer Reihe von Beobachtungssituationen, die f r die Konstellation der Figuren in der jeweiligen Szene und innerhalb der Novelle entscheidend sind. 14 Brief von Louise von Fran ois an Meyer vom 19. November 1891, zitiert nach Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 162. 15 Wolfgang Lukas, Conrad Ferdinand Meyers historische Novellen , in: Christian Begemann (Hrsg.), Realismus. Epoche Autoren Werke, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 150. 16 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 6, 10. 17 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 122. 18 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 15.

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Ausgangspunkt ist der Einzug der beiden Borgias in den Hofstaat von Ferrara, die der Erz hler als Kinder ihrer Zeit einf hrt. Es bestand damals eine seltsame, von den grellsten Widerspr chen gepeitschte Welt .19 ber der neuen Regentin Lucrezia halten vier Professoren den Thronhimmel: ein Naturhistoriker, der die seltene Farbe ihrer hellen Augen erforschte und bedachte ; ein Professor f r Moralwissenschaften, der dem Anblick misstraut und sich fragt, ob auf dem unheimlichen, mit Schlangen gef llten Hintergrunde einer solchen Vergangenheit ein so frohes und sorgenloses Gesch pf eine menschliche M glichkeit w re oder ob Donna Lucrezia nicht eher ein unbekannten Gesetzen gehorchendes d monisches Zwitterding sei ; der oberste Richter namens Herkules Strozzi, von dem es hei t, er w rde sie als florentinischer Republikaner vor sein Tribunal schleppen, risse ihn nicht gerade dieser strahlende Triumph ber Gesetz und Sitte nach so schm hlichen Taten und Leiden zu bewunderndem Erstaunen hin; schlie lich ein Mathematiker und Astrologe, der die F rstin f r ein nat rliches Weib [h lt], das nur, durch ma lose Verh ltnisse und den Einfluss seltsamer Konstellationen aus der Bahn getrieben, unter ver nderten Sternen und in neuer Umgebung den Lauf gew hnlicher Weiblichkeit einhalten werde .20 So versammelt die Exposition im Rahmen eines gemeinsam getragenen Ganzen je eigenst ndige wissenschaftliche Perspektiven auf die Protagonistin. Aus der Bewunderung des Juristen f r die Frau, die trotz ihrer rechtlosen Vergangenheit nun das Gesetz verk rpern soll, spricht der begehrende Liebhaber. Die Frage, wie sich dieser ,Fall zum allgemeinen ,Gesetz verh lt, treibt aber auch die anderen um. Sie bestimmt den empirischen Blick des Naturwissenschaftlers, der ,forscht und ,bedenkt , was er sieht, so dass die Augenfarbe Lucrezias im Spektrum der bekannten Farben als selten quali ziert werden kann. Die Geisteswissenschaft ihrerseits besch ftigt sich mit der Frage nach der menschliche[n] M glichkeit einer so frohen Gegenwart angesichts der d steren Vergangenheit, also mit der Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen. Experte f r dieses Kalk l ist zuletzt der Mathematiker. Er f hrt den Fall Lucrezias einerseits auf die Verh ltnisse zur ck, die wie die taineschen Kategorien von race ( ererbte Anlagen), sozialem milieu ( Treibhaus der S nde ) und temps ( Kinder ihrer Zeit ) bestimmend wirken,21 w hrend Normabweichung und Normkonformit t andererseits mit einem allgemeinen Wert verrechnet werden, in dessen Semantik sich normative und statistische Erwartungshaltungen berlagern ( Lauf gew hnlicher Weiblichkeit ). Die Frage, die auf diese Weise eingef hrt wird, lautet: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich ein Einzelner im Rahmen einer Gesamtheit von seinen Herkunftsverh ltnissen l sen kann? Um den Hintergrund dieser Frage zu verstehen, bietet sich ein kurzer Blick auf den wissenschaftshistorischen Kontext an. F r die Statistiker des 19. Jahrhunderts ist das die Grundfrage schlechthin, weil alle Einsch tzungen in dieser Richtung unweigerlich das Selbstverst ndnis der neuen Fachrichtung und 19 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 10. 20 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 5. 21 Vgl. Lukas, Conrad Ferdinand Meyers historische Novellen (Anm. 15), S. 143.

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deren Zielsetzungen ber hren. Sind Wahrscheinlichkeitsaussagen tats chlich nur Vorhersagen von H u gkeiten oder k nnen sie als Quanti zierungen von Sicherheit und Unsicherheit im Einzelfall aufgefasst werden?22 Unterst tzt das statistische Denken mithin deterministische Modelle, die der individuellen Willensfreiheit systematisch jeden Platz bestreiten, oder kann die statistische Regelm igkeit gar nicht anders, als die Einsicht in die gleichfalls systematische Bedeutung von Abweichungen mitzuproduzieren, so dass das Wahrscheinlichkeitskalk l insgesamt immer mit der menschlichen Freiheit rechnet? Der Statistiker Adolphe Quetelet, der sich selbst, einen Begri von Auguste Comte gebrauchend, als Sozialphysiker verstand (weshalb Comte auf den Neologismus Soziologie auswich), formulierte die im Hinblick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der im Entstehen begri enen Massengesellschaften faszinierende Erkenntnis, dass sich in der Perspektive der groen Zahl aus der Unordnung und Irrationalit t der Masse Regelm igkeiten entwickeln. Er fand daf r den ber hmten Schl sselbegri vom homme moyen, dem Durchschnittsmenschen, der die Gesamtheit der Gesellschaft repr sentiert. Dabei handelt es sich um eine abstrakte Gr e, die den in statistischen Analysen beobachteten Regelm igkeiten Ausdruck verleiht. Solche Regelm igkeiten wurden bei Geburts- und Sterbezahlen, im Verh ltnis der Geschlechter, aber auch anhand der erstaunlich konstanten Menge nicht zustellbarer Briefe beobachtet. Den Justizstatistiken zu Verbrechen und Selbstmorden nach (letztere blieben bis zu Durkheim ein zentrales Thema f r die fr he Soziologie) schienen in den ausgez hlten Gemeinwesen selbst die Verst e gegen Gesetz und Moral einer eigenen Ordnung zu gehorchen, die der homme moyen als ihr Repr sentant verk rperte. Eine bestimmte Zahl von Straftaten, Suiziden, unehelichen Kindern usw. schien wie mit Notwendigkeit einzutreten und konnte als Charakteristikum der Gesamtheit verstanden werden. Quetelet jedenfalls zog daraus den Schluss, dass St rungsakte wie Verbrechen nicht dem Willen des Einzelnen zuzurechnen waren, sondern in der Verantwortung der Gesellschaft lagen. Politisch folgten daraus liberale Positionen zum Strafvollzug, heuristisch ein harter Determinismus, den der englische Historiker Henry Thomas Buckle f r eine radikale Revision der geschichtswissenschaftlichen Methodik nutzte. Gest tzt auf eine sozialstatistische Mechanik , wie Quetelet sie vorexerziert hatte, hielt Buckles History of Civilization die Idee der Willensfreiheit f r widerlegt und propagierte die Ausrichtung der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung an statistischen Regelm igkeiten, die er als deterministische Kausalit ten verstand. Die Ablehnung und H me selbst aufgeschlossener Kollegen war ihm nachher gewiss. Buckle wurde ber hmt als Inbegri eines Historikers, welcher, wie der Kulturhistoriker Heymann Steinthal formulierte, vor der Statistik die Besin-

22 Vgl. Gerd Gigerenzer, Zeno Swijtink, Theodore Porter, Lorraine Daston, John Beatty und Lorenz Kr ger, Das Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, H ufigkeiten und Unsch rfen, Heidelberg-Berlin: Spektrum Akademischer Verlag 1999, S. 70. Ich beziehe mich bis zum Abschnittsende auf das zweite Kapitel: Statistische Wahrscheinlichkeiten: 1820-1900 .

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nung verloren hat .23 Francis Galton f hrte die Ausrichtung an Mittelwerten und Durchschnittsmenschen auf Forscherpers nlichkeiten zur ck, die f r die Reize der Vielfalt ebenso unempf nglich blieben wie die Seele jenes Touristen aus dem englischen Flachland, der nach einer Reise in die Schweiz urteilte, wenn man die Berge in die Seen kippen k nnte, h tte man zwei bel auf einen Schlag beseitigt .24 Galton selbst, ein Cousin Charles Darwins, interessierte sich f r die erblichen Grundlagen au erordentlicher Leistungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Seine Begeisterung f r gro e Genies lie ihn vor allem nach Abweichungen suchen, was er dabei entdeckte war das statistische Gesetz der Regression zum Mittelwert. Diese letzte Pointe passt zur Novelle, in der, wie der Jacob Burckhardt-Verehrer Meyer so gern schreibt, die Jahrhundert -Figur Lucrezia Borgia bereits als [e]in ganz gew hnliches Weib verspottet und deren Entwicklungschance von den anwesenden Wissenschaftlern dem Lauf gew hnlicher Weiblichkeit nach prognostiziert wird.25 Die M glichkeiten abzusch tzen hei t immer, sie aus der Masse heraus zu verstehen ein Zusammenhang, den Meyer einer seiner wichtigsten narrativen Quellen entnehmen konnte. Ferdinand Gregorovius schreibt in seiner Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter ber Lucrezia Borgia: Wenn sie nicht die Tochter Alexanders VI. und die Schwester Cesars gewesen w re, so w rde sie kaum in der Geschichte ihrer Zeit bemerkt worden sein, oder nur als ein reizendes vielumworbenes Weib in der Masse der Gesellschaft sich verloren haben. 26 Meyers Novelle wendet diesen f r eine geschichtswissenschaftliche Retrospektive des 19. Jahrhunderts typischen Gedanken auf eigene Art, indem sie den Einfluss der Familie und die M glichkeit der L sung von der Herkunft in den Mittelpunkt ihrer eigenen Beobachtung stellt. Das betri t nicht nur Lucrezia, die in der Exposition zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen wird, sondern auch die mit ihr in Ferrara eintre ende nahe Verwandte Angela.27 Aufgewachsen im Frauenkloster und mit einem skrupul sen Gewissen ausgestattet, ist fraglich, ob diese in der h schen Welt berhaupt bestehen kann.28 Von ihrer Herkunft her betrachtet werden auch die vier S hne des Geschlechts der von Este, mit dem die 23 Heymann Steinthal, Philologie, Geschichte und Psychologie in ihren gegenseitigen Beziehungen , in: ders. (Hrsg.), Kleine sprachtheoretische Schriften. Neu zusammengestellt und mit einer Einleitung versehen von Waltraud Bumann, Hildesheim-New York: Georg Olms Verlag 1970, S. 436-511, hier S. 492. 24 Francis Galton, Natural Inheritance, London: Macmillan Publishers 1889, S. 62; hier zitiert nach: Gigerenzer u. a., Das Reich des Zufalls (Anm. 22), S. 77. 25 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 29. 26 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 180. 27 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 6. 28 Im Brief an Friedrich Wy vom 22. August 1891 beschreibt Meyer die Konstellation so: 2 gro e Frauen, die eine mit zu viel[,] die zweite mit zu wenig Gewissen . Der urspr ngliche Titel der Novelle lautete Die beiden Borgia, die Konstellation zu viel/zu wenig Gewissen verwendet Meyer auch als Kurzformel in einer Verlagsanzeige. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 158.

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Borgias eine Eheallianz eingehen. An der Spitze steht Herzog Alfonso, der gleich zu Beginn testet, wie seine Gattin auf die Nennung des Namens ihres ,furchtbaren Bruders reagiert: Ihr bliebet ruhig, nur Eure Hand zitterte, die den Becher hielt, daraus Ihr schl rftet. Er betrachtete Euch lange, doch wohlwollend und wie mit der gerechten Erw gung, was Eurer Natur gem und welcher Widerstand Euch m glich sei. 29 Diese Beobachtungsszene beobachtet wiederum Bembo, der kurz darauf selbst vom Herzog in Augenschein genommen wird, als dieser ihn gemeinsam mit Strozzi zu sich ruft. Als weiser Erforscher der Menschennatur berl sst es Alfonso den beiden in Liebe zu Lucrezia krank Gewordenen, sich selbst ber ihren Fall klar zu werden. Bembo verl sst den Hof, nicht ohne den Gro richter zu warnen: Dein Leiden ist ein wundersamer Fall. 30 Im Anschluss prophezeit der Herzog den weiteren Verlauf der Fallgeschichte:31 Cesare Borgia werde wieder in Italien auftauchen, seine Schwester erneut unter seinen Bann geraten, ihn, Strozzi, werde sie als Werkzeug gebrauchen, und er werde daf r gerichtet werden. In aller K rze ist damit der gesamte Lucrezia-Plot der Handlung vorweggenommen. Denn genau so geschieht es tats chlich. Als Erz hlspiegel zu Lucrezia fungiert das Schicksal von Alfonsos Bruder Don Ferrante von Este, der Angela in der Exposition mit einsch chternden Kommentaren zur h schen Welt von Ferrara verst rt. Er wird, wie Lucrezia von den Professoren, als wunderlicher Zwitter eingef hrt, von dem es hei t: Seine Jugend war unter dem Drucke best ndiger Furcht verkr ppelt. 32 Als Kind schon Zeuge unz hliger Intrigen und Komplotte , wird er ein Opfer dieser Pr gung, nachdem er sich mit Don Giulio gegen Alfonso verschworen hat. Lucrezia bleibt das erspart, einerseits weil Strozzi an ihrer statt geopfert wird, andererseits aus der Kontingenz der Ereignisse heraus, weil ihr Bruder ,rechtzeitig zu Tode kommt. Erst und nur durch diese Umst nde wird sie vom Einfluss ihrer Herkunft befreit.33 Meyer hat die Macht Cesare Borgias ber seine Schwester im Vergleich mit den historischen Darstellungen stark berzeichnet, kam es ihm doch auf die Beobachtung von Herkunft und emotionaler Abh ngigkeit an. Die Aufteilung in Lucreziaund Angela-Plot hat die zeitgen ssische Kritik als Mangel eingestuft, der die Plau29 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 20. 30 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 40. 31 Als Gattungsname ist der Begriff der Fallgeschichte eine Pr gung der zweiten H lfte des 20. Jahrhunderts. Vgl. Susanne D well und Nicolas Pethes, Fall, Wissen, Repr sentation Epistemologie und Darstellungs sthetik von Fallnarrativen in den Wissenschaften vom Menschen , in: dies. (Hrsg.), Fall Fallgeschichte Fallstudie: Theorie und Geschichte einer Wissensform, Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2014, S. 11. Ein poetologisches und heuristisches Bewusstsein f r die Beobachtung von F llen ist un bersehbar bereits fester Bestandteil der Gattungspoetik der realistischen Novelle. 32 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 60. 33 Alfonso kommt zu dem Schluss: Das Blut der Borgia begehrte t glich in dir aufzuleben und dich zur ckzufordern. Doch, siehe, nun bist du frei geworden. Die Deinigen alle sind verstummt und bewohnen die Unterwelt, woher keine Stimme mehr verwirrend zu den Lebenden dringt. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 99.

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sibilit t der Figurenentwicklung beeintr chtige.34 Die Titelheldin werde von anderen Personen an den Rand gedr ngt nur ein Roman h tte ihre seelische Entwicklung angemessen nachvollziehen k nnen.35 Die K rze der Novellengattung bildet umso mehr den Brennpunkt der Diskussion, als die Erz hlung nicht nur zwei Fallgeschichten kombiniert, sondern auch eine kombinierte Studie zu den Borgia- und den Este-Geschwistern darstellt. Bis in die historisch-kritische Ausgabe hinein ist die damit verbundene Komplexit t im Sinne der Unf higkeit, sich auf einen Fall zu konzentrieren, als Symptom nachlassender Sch pferkraft verstanden worden.36 Einhellig abgelehnt wurde die als zu drastisch empfundene Gewaltdarstellung bei der Blendung Don Giulios durch den vierten Este-Bruder Ippolito eine Szene, die als Falkenkatastrophe f r die Gattungsidentit t der Novelle und deren charakteristische Verdichtungsleistung ausschlaggebend ist. Im Verh ltnis der beiden Br der sind wiederum die Positionen der Beobachtung entscheidend, die insgesamt die Versuchsanordnung der Novelle strukturieren. Als beide vor Alfonso der Ursache ihrer Zwietracht auf den Grund gehen, erkl rt Ippolito, wie er Giulio, den um zehn Jahre J ngeren, als Kind neben [sich] sah : Herzgewinnend, sch n, aufmerksam und begabt, schienest du mir ein unter g nstigen Sternen geborener Este, uns geschenkt zum Gedeihen unseres Hauses und Staates, ein Labsal, eine St tze f r Tausende, und es war mein stolzes Bem hen in einer Zeit des Zerfalls, wo die Pers nlichkeit alles ist, die deinige zu entwickeln.37 Ippolito sieht in Giulio einen Widersacher, von dessen Augen Angela bereits in der Exposition auf bedrohliche Weise angezogen wird. Das Augenmotiv ist der ,Falke der Novelle, den Meyer geradezu vorschriftsm ig vom ersten bis zum letzten Kapitel wiederkehren l sst; das Lemma ,Auge steht im Text mit 90 Belegstellen nach ,Bruder (120) im Rang des zweith u gsten Inhaltsworts.38 Die famili re Herkunftsbindung und der Akt der Wahrnehmung im Zusammenhang betrachtet: die kognitive, a ektiv gesteigerte Ebene von Bindungskraft39 liegen im Fokus der Versuchsanordnung, die von der Falkenkatastrophe im sechsten Kapitel wiederum verdichtet wird.

34 So die Rezension von Rudolph Lothar in der Wiener Neuen Freien Presse vom 11. Mai 1892. Vgl. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 167. 35 Brief Anton Reitlers an den Verleger Haessel vom 17. Dezember 1891. Vgl. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 163. 36 Vgl. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 162. 37 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 44. 38 Zum Vergleich: Das n chsth ufigste Inhaltswort ist ,Hand mit 67 Belegen (erhoben mit AntConc 3.4.3). Unter allen Novellen weist Angela Borgia die h chste Frequenz von Auge auf. 39 Den h chsten Kollokationswert mit ,Auge weist ,Angela auf mit sieben gemeinsamen Vorkommen, gefolgt von ,Bruder mit sechs.

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3. Selbstre exion der novellistischen Studie in einem Akt drastischer Gewalt Dieses Kapitel besitzt, was die Gattung betri t, au llig selbstreflexive Z ge, ist sein Rahmen doch die klassische Novellensituation. Im Garten hat sich mit Lucrezia und Angela eine Gesellschaft um den Hofdichter Ariost und seinen Sch tzling Ben Emin versammelt, einen persischen Teppichh ndler, der den Kreis unterh lt. Der hinzutretende Herzog glaubt, dass orientalische M rchen erz hlt w rden, und fragt, wovon die Rede gewesen sei. Lucrezia gibt an, es sei um die M glichkeit gegangen, da gewisse Lichtgestalten, die in ihrer Glorie sch tzend ber uns stehen, auch in fremde L nder und auf andersgl ubige V lker ihre Strahlen werfen .40 Der Herzog tippt zun chst auf Karl den Gro en, dann auf die gro en Stau en , doch wird er von seiner Gattin mit dem Hinweis korrigiert, dass der Perser von Christus selbst gesprochen habe.41 Die Herzogin entschuldigt ihre Unvorsicht , sie habe die Kirche, in deren Kreis sie durch Geburt und Schicksal gebannt sei, nicht entweihen wollen, die Barmherzigkeit des Himmels sei gerade der Inhalt der persischen Erz hlung gewesen. Doch ich werde unklar. H ret und urteilet selbst. Daraufhin wiederholt Lucrezia Ben Emins Version eines Gleichnisses, in dem Jesus vor den Stadttoren einem toten Hund begegnet, dem die J nger angeekelt ausweichen. Jesus hingegen fordert sie auf: O sehet, wie blendend wei seine Z hne sind! Diese Erz hlung, die Goethe im West- stlichen Divan als Beispiel daf r berliefert, wie es den persischen Dichtern gelingt, realistisches Detail und allgemeines Gleichnis zu harmonisieren,42 f hrt bei Meyer zu sehr unterschiedlichen, dissonanten Reaktionen. Die Hofleute, die eine Erz hlung im Geschmacke des Boccaccio vorgezogen h tten , sind befremdet. Peinliches Schweigen greift um sich, in der Schw le eines aufziehenden Gewitters senkt sich bleierne M digkeit ber die Versammlung; alle Geister der Unterhaltung lagen in Banden .43 Es scheint, als inszeniere die Novelle in der Novelle das Scheitern der ureigenen Funktion, die sich dann umso drastischer und auf unerh rt dichte Weise Bahn bricht. Dies deutet sich im Kontrollverlust Lucrezias an, die ihre Erz hlerrolle so a ziert, dass sie in bewegter Stimmung immer weiter spricht, einen dramatischen Tr nensturz erleidet und schlie lich unter der Gewalt des pl tzlich un berwindlichen Wahrheitsbed rfnisses die Bl sse von Marmor annimmt, so dass sich, wie es hei t, ihre entsetzliche r mische S nde zeigte .44 Damit geschieht noch etwas anderes als das, was der Erz hlerin, den anwesenden Zuh rern und den Lesern der Novelle o enbar ist, dass n mlich die Botschaft der Parabel [s]elbst an dem ekelsten 40 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 49 41 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 50. 42 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, West- stlicher Divan, herausgegeben von Karl Richter, Katharina Mommsen und Peter Ludwig, M nchen: Carl Hanser 1998, S. 167-170. Vgl. dazu Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 423. 43 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 53. 44 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 50-51. Hervorhebung T.W.

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Gegenstande ndet die G te noch eine Sch nheit f r Lucrezia selbst gelten muss. Indem Meyer die eigentliche Binnenerz hlung Ben Emins nur durch Lucrezia wiedergeben l sst, die zun chst dem Herzog die Quintessenz vermittelt und dann nochmals in direkter Rede spricht,45 r ckt er sie in die Position der erz hlenden H rerin, deren Kognition zugleich produktiv und rezeptiv beobachtet wird und die in dieser Verdichtung Novelle und Novellenwirkung nicht nur im bertragenen Sinn verk rpert. Bl sse (pallor) geh rt zu den K rperzeichen, die neben Err ten (rubor) und Stammeln (titubatio) in der antiken Gerichtsrhetorik als entscheidende Verdachtszeichen galten.46 Dass Meyer mit Ciceros Topik vertraut war, darf angenommen werden, entscheidend ist aber, was er daraus macht. Lucrezia, von deren Bl sse gesagt wird, dass sie wie Marmor schimmerte , zeigt ihre Schuld auf eine Weise, in der Sch nes und Obsz nes nicht zu trennen sind. Sie wird den blendend wei en Hundez hnen hnlich, und diese Eigenregie der Zeichen ist erst der Anfang der Eskalation, die im Folgenden in die w rtliche Blendung bergeht. Ippolito nimmt die Erz hlung auf und provoziert Angela mit ihren unbewussten Gef hlen zu Giulio zu einer Fortsetzung. Am eklen Aase habe der Heiland Sch nes nden k nnen, bei Don Giulio w rde ihm das nicht gelingen, es sei denn, sie wisse ein Lob auf ihn. Da sprach die Trotzige mit erhobener Stimme: Don Giulio hat wundervolle Augen! Die muss ihm der Neid, die m sst Ihr, Kardinal, ihm lassen! Mu ich? Mu ich wirklich? , rief Ippolito bebend und trat in die Nacht der B ume zur ck. Er verlie das Boskett und erschien wieder nach wenigen Minuten und einer entsetzlichen Tat. Was war geschehen?47 So wie Lucrezia mit Gewalt von der Binnenerz hlung Ben Emins erfasst wird, tri t Ippolito der Falke der Novelle selbst. Vor Augenneid bebend , negiert er die rhetorische Floskel, indem er das polemische Wort w rtlich nimmt und Don Giulio die Augen nicht l sst. Die Szene ist so extrem verk rzt, dass vom psychologischen Thema der Eifersucht gar nicht mehr die Rede sein kann. Was Heyse als 45 Mit der Konstruktion muss Meyer sehr gerungen haben. In der ersten Niederschrift von eigener Hand (M) wird die ablehnende Reaktion des Publikums auf Lucrezias Erz hlung noch mit dem Hinweis verbunden, die Gesellschaft habe das nun schon zum zweiten Mal geh rt, Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 228. Auch unterbricht hier Lucrezia die Zusammenfassung der Erz hlung Ben Emins, indem sie diesem selbst die nochmalige w rtliche Wiedergabe berlassen will, und erst als dieser sie autorisiert, tritt sie direkt als Erz hlerin auf. In der publizierten Fassung l sst Meyer Lucrezia durchgehend das Wort f hren, wodurch der Einschub Ben Emin berichtet den irritierenden Eindruck auktorialer Rede erweckt. Diese Irritation setzt sich fort, weil die Ausf hrungsstriche dieser direkten Rede Lucrezias (zumindest in der Historisch-Kritischen Ausgabe) fehlen. 46 Ich erlaube mir, dazu in diesem Kontext auf meine eigene Untersuchung zu verweisen: Thomas Weitin, Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, M nchen: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 104. 47 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 52.

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Isolierung des Experiments in der Novelle bezeichnet, dass sie n mlich den Eindruck verdichtet, auf einen Punkt sammelt und dadurch zur h chsten Gewalt zu steigern vermag ,48 ist hier in Reinform zu beobachten. Augenraub ist ein drastisches und zugleich klassisches Gewaltmotiv, die L uterung des geblendeten Giulio im weiteren Handlungsverlauf ruft eine lange Motivgeschichte auf ( dipus auf Kolonos). Der drastische Eindruck der Szene aber kommt nicht durch die Gewalt selbst, sondern durch die K rze zustande, in welcher das Wort zur Tat wird. Unverkennbar weist die Stelle Strukturelemente eines analytischen Dramas auf, das Meyer, nach einigen Fragmenten zu urteilen, in Angri genommen hatte:49 dramatischer Dialog Angela/Ippolito, Abgang Ippolito ( trat zur ck ), Gewalttat hinter der B hne , Wiederauftritt ( erschien wieder ), retrospektive Ermittlung des Geschehens ( Was war geschehen? ). Ebenso unverkennbar ist die genuin novellistische Verdichtung von dramatischer Rede und vollendeter Tatsache innerhalb von nur zwei S tzen. Zwar muss zum Verst ndnis der Handlung danach noch ausgef hrt werden, wie Ippolito die Banditen dingt, die den Anschlag auf Giulio verben. Doch ist insgesamt die Verdichtung der Falkenkatastrophe f r die analytische Struktur dieses Kapitels und der Novelle viel entscheidender,50 markiert sie doch den Extrempunkt im Wirkungsexperiment der Novelle, das Lucrezia, Ippolito, Angela und Giulio in einer Versuchsreihe verbindet. Die drastische Wirkung der Erz hlung von den blendend wei en Hundez hnen ruft bei Lucrezia unwillk rlich das Schuldzeichen der Bl sse hervor. Ippolito stimuliert Angela mit der gleichen Erz hlung, die Reaktion der Provozierten fordert ihn selbst auf das uerste heraus, was im Handumdrehen zum Gewaltakt gegen Giulio f hrt. Genau diesen Zusammenhang stellt sp ter die Gerichtsszene des neunten Kapitels her, in der die Todesurteile gegen Ferrante und Giulio wegen versuchten F rstenmords gemildert werden. Angela bittet um Gnade f r Giulio, weil erst ihr Augenlob seinen Bruder, den Teufel, reizte , Lucrezia verfolgt die Reiz-Reaktionskette weiter zur ck und erg nzt: Hat diese nicht recht, wenn sie behauptet, da die Fabel Ben Emins etwas an alledem verschuldet hat? 51 Unerw hnt bleibt jedoch ihre eigene Rolle als Erz hlerin, deren Vortrag f r die fatale Wirkungsmacht verantwortlich gewesen ist. Erst ihre Aneignung der Erz hlung hat den Kurzschluss vom blendenden Wei zu Bl sse und Blendung in Gang gesetzt. 48 Heyse und Kurz, Einleitung (Anm. 2), S. 18 (erstes Zitat), S. 17 (zweites Zitat). 49 Vgl. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 188-206. 50 Dazu passt die Beobachtung, dass das Zeitregime in der retrospektiven Schilderung des Tathergangs im Verh ltnis von Erz hlzeit und erz hlter Zeit Unstimmigkeiten aufweist. Nach dem dichten Schl sselsatz mit dem Hinweis, Ippolito sei nach wenigen Minuten und der vollendeten Tat zur ckgekehrt, steht ein l ngerer Dialog zwischen dem Kardinal und den Banditen, gegen dessen Ende Ippolito nochmals diese Zeitangabe in den Mund gelegt wird, wobei die Zeitspanne mit dem dann pl tzlich beginnenden Geschehen nicht wirklich harmoniert: ,In wenigen Minuten geht er hier vorbei. Horcht! Ich vernehme schon seine Schritte! In der Tat wurde ein fernes Schreiten auf dem knirschenden Kiese der Allee h rbar. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 53. 51 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 81 f.

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Die Kette der unwillk rlichen Reaktionen, ausgel st durch ein zuf lliges Wort , gibt der Versuchsanordnung den Charakter eines Experiments zur Willensfreiheit, dessen Ergebnis die Novelle nicht festlegt, sondern allenfalls relativ bestimmt.52 Alles entscheidet sich an der Frage, ob der Zufall einfach das Gegenteil von Freiheit verk rpert oder auch deren M glichkeitsbedingung darstellen kann. Die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts pro tieren mehr von der zweiten Option. Vor allem durch die Verbreitung von Sozialstatistiken weit ber die Welt der Wissenschaften hinaus vollzieht sich im 19. Jahrhundert ein dramatischer Wandel dessen, was traditionell mit dem Zufall assoziiert wird sei es die Verbindung zum Schicksalhaften, aus welcher sich die doppelte Bedeutung des Wortes Los speist, sei es die Erkl rung der Kontingenz aus der Abwesenheit Gottes.53 Je mehr sich die quantitative Erforschung der Gesellschaft den nicht konstanten, unregelm igen Ph nomenen, den Abweichungen und Fehlern zuwendet, desto interessanter werden die Ergebnisse f r die Naturwissenschaften, vor allem f r die Physik. Angesichts der Grenzen statistischer Erkenntnis, die Einzelereignisse ja vernachl ssigen muss, haben gerade die Physiker dem Zufall im Theorem der unvollst ndigen Erkl rung eine neue Heimstatt gescha en und den M glichkeitsaspekt der Kontingenz in den Vordergrund ger ckt.54 4. Drastik setzt den Zufall frei und erm glicht narrativkritisches Erz hlen In einem M glichkeitsraum operiert auch Meyers Novellenexperiment. Mit der Frage nach der Herkunftspr gung stellt Angela Borgia eine ganze Reihe von Figuren in Situationen dar, in denen diese durch zuf llige Stimulation die Fassung verlieren. In der a ektiven Reaktion auf Giulios Augen scheinen Angela und Ippolito ebenso unfrei wie die von der Erz hlwirkung einer Fabel unwillk rlich bewegte Lucrezia. Die Wirkung des Zufalls ist in der Isolierung des Experiments auf reine Reiz-Reaktion drastisch, was vor allem Giulio als das Opfer der Attacke gewaltsam zu sp ren bekommt. Gleichsam entscheidet sich das Los der Figuren unwillk rlich, doch geschieht das nicht schicksalhaft wie in einer Trag die, sondern folgt aus dem zentralen Gewalt-Kapitel, das die Zeitgenossen wie nicht wenige andere Einf lle Meyers als k nstlich monierten. Auch ein heutiger Leser wird dem Eindruck der Kritiker nicht widersprechen, dass die Blendung zu wenig begr ndet ist.55 Ak52 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 129. 53 Vgl. Gigerenzer u.a., Das Reich des Zufalls (Anm. 22), S. 82. 54 Die meisten Denker hielten objektiven Zufall weiterhin f r so gut wie undenkbar, und nur wenige waren bereit, den rationalen Willen mit ihm gleichzusetzen. Aber die Bedeutung des Zufalls hatte sich jedenfalls gewandelt. Vorher schien es gottlos, dem Zufall einen Platz in der Welt zu geben, so als ob sich Gott nicht auch um jeden Spatzen k mmerte. Jetzt stand der Zufall f r die Unvollst ndigkeit der physikalischen Gesetze, f r die M glichkeit nichtmaterieller Verursachung. Gigerenzer u.a., Das Reich des Zufalls (Anm. 22), S. 84 f. 55 Anton Reitler monierte das in seinem Brief an den Verleger Haessel vom 17. Dezember 1891, vgl. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 162.

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zeptiert man indes die Isolierung des Experiments als Herzst ck der Novellenpoetik, kommt es auf eine Begr ndung auch gar nicht an. Deren Handlungslogik zeichnet sich n mlich dadurch aus, dass in der verdichteten Kernsituation der Novelle die Dinge aufs Spiel gesetzt und j he Entscheidungen provoziert sowie unerh rte Entwicklungen erm glicht werden, durch welche die Erz hlung ihre Figuren ganz grunds tzlich von Bestimmungen l sen kann, die sie selbst in Form von Charakter- oder Herkunftsnarrativen etabliert hat. Zur Qualit t der unerh rten Wendung im Novellenereignis geh rt deren Unwahrscheinlichkeit, die im Kontrast zur Wahrscheinlichkeit des linearen Geschehens den Eindruck vermittelt, dass alles auch anders h tte kommen k nnen. Im Fall Don Giulios folgt die L sung von der Charaktermaske 56 einem klassischen L uterungsplot, der sich freilich aus der zuf lligen Verkettung von Ereignissen im drastischen Blendungskapitel motiviert ebenso wie das unvermittelte Bekenntnis Angelas zu seinen sch nen Augen. Die Ehe der beiden l st am Ende den schwelenden Erbstreit der von Estes und des Grafen Contrario, mit dem Angela nun nicht das von Lucrezia arrangierte B ndnis eingehen muss. Mit Bezug auf die beiden Borgias so wollte Meyer die Novelle urspr nglich betiteln57 tritt der narrative Charakter der Herkunftsverh ltnisse am deutlichsten hervor: die schematische Generalisierung der ungeheuren Familie , die unterschiedlichen Lebensumst nde, einmal im Treibhaus der S nde des Vatikans, einmal im Frauenkloster, und vor allem das Bild der beiden im Diskurs der Zeit.58 Lucrezias ins D monische verzerrte Bild ist bereits Gegenstand von kritischen Debatten zwischen den Figuren,59 doch die auktoriale Rede der Exposition hat ebenso Teil an der Narrativbildung, wenn es hei t, Angela sei zu einem selbstbewussten M dchen herangewachsen, zu dem, was das Jahrhundert in lobendem Sinne eine Virago nannte .60 Ob es Lucrezia angesichts ihrer Herkunft gelingen kann, sich von der gr lichen Vergangenheit frei zu machen, war die Frage der Gelehrten beim Einzug in Ferrara gewesen.61 Die Antwort f llt n chterner, aber auch di erenzierter aus, als es die d steren Herkunftsnarrative erwarten lassen. Letztlich bleibt sich Lucrezia einfach gleich. Sie wei schon w hrend des Einzugs in Ferrara, dass ihre Regentenkunst dem Ehemann unverzichtbar werden wird, und diese Prognose erf llt 56 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 9. 57 Vgl. Lukas, Conrad Ferdinand Meyers historische Novellen (Anm. 15), S. 143. 58 Ich beziehe mich auf Albrecht Koschorke, der Narrative im Sinne der Kognitionspsychologie als komplexit tsreduzierende Schemata definiert, die durch erz hlerische Generalisierungen erzeugt werden. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 20122, S. 29-30. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 6. 59 Wenn du die einfache Anmut dieser Erscheinung betrachtest, beschleicht dich nicht der Zweifel, ob die Verleumdung, das Laster unserer Zeit denn wir alle verleumden und werden verleumdet sich nicht an diesem erlauchten Weibe mehr als an anderen vergangen und das menschlich nat rliche Bild einer Dulderin ins D monische verzerrt habe? Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 41. 60 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 41, 11. 61 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 6.

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sich am Ende, wenn sie das Staatsruder nicht nur mit weisester Umsicht, sondern im entscheidenden Augenblick auch mit m nnlicher Entschlossenheit lenkt.62 Dass ihre wunderbare Klugheit , die der Ehemann [f ]ast so sehr liebt wie die gemeinsamen Kinder, eine Schlangenklugheit ist, erfahren die Leser durch den Beichtvater, dem nach den Gesetzen der g ttlichen Mathematik klar sein muss, dass Lucrezia schwerlich ins Himmelreich kommen wird. Als Staatsb rger aber ist er dankbar f r ihre geschmeidige Lebensweisheit und Regierungskunst und tr stet sich mit dem Gedanken, da bei Gott kein Ding unm glich sei .63 Bis zum Schluss scha t das Kalk l der Wahrscheinlichkeit Optionen, die die einen handeln und die anderen immerhin ho en lassen. Der Sachverhalt, dass Lucrezia erneut mit ihrem Bruder konspiriert, als dieser wieder auftaucht, muss in dieser Perspektive nicht ihren moralischen Fall und Untergang bedeuten. Da alle konspirieren, die dazu die Macht haben, verh lt sich Lucrezia nicht anders als ein gew hnliches Weib , wie der Herzog einberechnet, als er durch ihr Gest ndnis nichts Neues erfahren will.64 Ungew hnlich ist vielmehr ihr drastischer Auftritt im Blendungskapitel, bei dem die Zeichen ihrer Schuld unwillk rlich sichtbar werden, wenn sie sich die Fabel des Ariost-Sch tzlings Ben Emin aneignet und dadurch die alles entscheidende Rolle der Binnenerz hlerin bernimmt. Die heimliche Haupt gur der Novelle erweist sich damit auch als Reflektor gur der Meyer schen Novellenkunst berhaupt, sieht diese doch in der Renaissance ihre bevorzugte Epoche und in der Gestaltung von schon Gestaltetem ihr Grundprinzip.65 So betrachtet scheint die zeitgen ssische Kritik berechtigt, wonach der ViragoCharakter und die seelische Entwicklung der Titelheldin Angela Borgia angesichts ihrer Randst ndigkeit in der Erz hlung nicht nachzuvollziehen seien.66 Nach den bei dieser Einsch tzung zugrunde gelegten psychologischen Kategorien der narrativen Konsistenz ist das vollkommen nachvollziehbar. Ber cksichtigt man indes das f r die Verdichtungspoetik der Novelle charakteristische Timing, also K rze, Pl tzlichkeit und die damit verbundene Drastik, kann anderes in Erw gung gezogen werden. Angelas Rolle als Beobachterin von Lucrezias gewissenlosem Verhalten scheint zwar unver nderlich.67 Mit dieser Rolle verbunden sind aber eigene Auf62 63 64 65

Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 7, 120. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 121. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 29, 99. Gerhard Neumann, Eine Maske, ... eine durchdachte Maske . Ekphrasis als Medium realistischer Schreibart in Conrad Ferdinand Meyers Novelle Die Versuchung des Pescara , in: Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hrsg.), Beschreibungskunst Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, M nchen: Wilhelm Fink Verlag 1995, S. 450. 66 So lauteten die Einw nde von Lothar und Reitler, vgl. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 29, 44. 67 So beobachtet Angela, wie Lucrezia Alfonso ihre Konspiration mit Cesare Borgia gesteht: Don Alfonso erfuhr nichts Neues. Aber Angela, deren Gegenwart Lucrezia unter der bermacht ihres Gef hles verga oder f r nichts erachtete, wechselte die Farbe und erduldete f r

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tritte, die durch das Falkensymbol der Augen von der Exposition ber das Blendungskapitel bis zur Schlussszene eine Serie bilden. Die Wirkung ist jeweils unerh rt, was am Ende f r die Gattungsidentit t der Novelle wichtig ist. Wiederum ist eine Stimulation der Ausgangspunkt: Nachdem sich die Konflikte durch die Ehe Angelas und Giulios bereits beruhigt haben, sp rt Graf Contrario nur den dunklen Trieb, dem leidensvollen Paare etwas Unangenehmes zu sagen .68 Contrario fragt, ob es schicklich sei, wenn ein Blinder eine Sehende an sich binde, woraufhin Angela erwidert, im Angesicht der gemeinsamen Kinder w rden die verlorenen Augen j nger leuchten als zuvor. Sie erschrak ber ihre K hnheit und wurde Glut. Darauf warf der Graf den zweiten Stein. 69 Eine gebildete Dame solle so etwas nicht einmal denken. Angela antwortete mit festlichen Augen schade, da der Blinde nicht hinein blicken konnte! Was wollet Ihr, Graf? Ich bin eine Borgia und bleibe eine Borgia, da m sset Ihr mir schon etwas zugute halten. Mit dem Err ten Angelas setzt die Schlussszene auch ber die unwillk rlichen K rperzeichen den Blendungsexzess fort, der Lucrezia hat erblassen lassen. Und der Erz hler legt schade! den Finger mitten in die Wunde.70 Anstatt dass Lucrezia sich von ihrer Herkunft als Borgia lossagt, ist es nun Angela, die sich mit pl tzlicher Ironie zur Familie bekennt : da m sset Ihr mir schon etwas zugute halten . Angesichts der blinden Leere wirkt die Inbrunst der festlichen Augen drastisch. Das Narrativ von der furchtbaren Familie Borgia ist disponibel geworden, selbst die verbindliche Gewissensinstanz Angela treibt damit ihr Spiel. Wenn das Herkunftsnarrativ so aufgerufen, wenn so spielerisch dar ber verf gt werden kann, hat es von seiner zu Beginn der Erz hlung selbst in Kraft gesetzten Bindungskraft offensichtlich viel verloren. Auch das ist ein Ergebnis dieses drastischen Experiments.

die anderen alles Entsetzen des Frevels und alle Qualen der Schande. Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 99 f. 68 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 133. 69 Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 134. 70 Die Stelle war ein zentraler Kritikpunkt, wobei die obsz n-ironische Einschaltung des Erz hlers nicht als sthetisches Mittel, sondern lediglich als subjektive Schw che, als Abkehr des Autors von seinem einschl gigen objektiven Stil in Betracht gezogen wurde. Anton Reitler monierte eine gewisse Einbeziehung des Erz hlers in die Erz hlung, eine subjektive F rbung durch Einstreuung von Interjektionen und Zwischenrufen: Wie schade, da usw. Vgl. Brief an Haessel vom 17. Dezember 1891, in: Meyer, Angela Borgia (Anm. 13), S. 44.

DANIELA SCH

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BER DAS VERGN GEN AN DRASTISCHEN GEGENST NDEN VON DER WIENER MODERNE ZUM WIENER AKTIONISMUS

In seinem luziden Beitrag zu dem von ihm mitherausgegebenen Sammelband ber die Grenzen der Katharsis1 erkennt Dirck Linck im Vergn gen an drastischen Gegenst nden ein fortentwickeltes Vergn gen an tragischen Gegenst nden .2 Linck stellt fest, dass durch die der paradoxen Lust zugrunde liegenden cartesianischen Erregungslogik im Proze der Moderne die Grenzen der Kunst in Frage gestellt wurden.3 Dabei sind neue Genres entstanden und die Distanz zwischen Rezipient und dem Gegenstand seiner Betrachtung wurde minimiert.4 Der vorliegende Aufsatz unternimmt den Versuch, Lincks Thesen in Auseinandersetzung mit Arbeiten von Hermann Bahr und Hermann Nitsch zu best tigen und dabei die Spezi ka einer Wiener Tradition des Vergn gens an drastischen Gegenst nden zu beschreiben. Katharsis in Wien um 1900 Auf Aristoteles ist die wohl bekannteste Erkl rung f r das Vergn gen an tragischen Gegenst nden zur ckzuf hren.5 In der Poetik stellt er die Behauptung auf, dass die Trag die im Durchgang durch Furcht und Mitleid eine lustvoll erlebte Reinigung von derartigen Emotionen bewirke.6 Im berlieferten Text wird der 1 Martin V hler und Dirck Linck (Hrsg.), Grenzen der Katharsis in den modernen K nsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin-New York: De Gruyter 2009. 2 Dirck Linck, ber die M glichkeiten des popkulturellen Vergn gens an drastischen Gegenst nden , in: Linck und V hler, Grenzen der Katharsis (Anm. 1), S. 293-322. 3 Linck, M glichkeiten des popkulturellen Vergn gens (Anm, 2), S. 293. 4 Linck, M glichkeiten des popkulturellen Vergn gens (Anm, 2), S. 293. 5 Einen hervorragenden berblick ber die Erkl rungen bietet: Bernd Seidensticker, ber das Vergn gen an tragischen Gegenst nden , in: Heinz Hofmann (Hrsg.), Fragmenta Dramatica, G ttingen: Vanderhoeck & Ruprecht 1991, S. 219-241. 6 Vgl. hierzu: Aristoteles, Poetik, 1449b27-28: Die Trag die ist Nachahmung (m mesis) einer bedeutenden und in sich geschlossenen Handlung (pr xis) von bestimmter Gr e, formuliert in anziehender Sprache (l gos) von je unterschiedlicher Art in den verschiedenen Partien, [sc. sie ist Nachahmung] von Handelnden und nicht durch Bericht, wobei sie durch Mitleid ( leos) und Furcht (ph bos) hindurch die Reinigung (k tharsis) solcher Gef hle bewirkt. bersetzung von Martin V hler. Ders. und Dirck Linck, Zur Einf hrung ,

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Vorgang allerdings nicht n her erl utert.7 Und so ist unklar geblieben, wie die Katharsis erfolgt. Reinigt die Trag die die Leidenschaften, oder ndet eine Reinigung durch die Leidenschaften statt, oder wird der Zuschauer von den Leidenschaften befreit? Aristoteles sprachlich mehrdeutiger Trag diensatz hat eine ungemein produktive Wirkung entfaltet 8 und so suchen Wissenschaft und Kunst seit Wiederentdeckung der Poetik in der Renaissance9 nach einer f r sie ad quaten Interpretation der Katharsis.10 In seinem Buch Die Entdeckung des Unbewussten stellt Henry Ellenberger fest, dass die Katharsis um 1900 ein[e]s der am meisten er rterten Themen unter Gelehrten und das aktuelle Gespr chsthema in den Wiener Salons gewesen ist.11 Verantwortlich f r das gesteigerte Interesse ist Jacob Bernays, der einige Jahre zuvor mit seiner provokanten Deutung der Katharsis die Diskussion um den Wirkmechanismus der Trag die neu entfacht hat.12 In Abkehr von den Poetiken des 18. Jahrhunderts hatte der Philologe die Katharsis von allen moralischen Deutungen befreit und in ihr einen medizinischen Vorgang gesehen. In Grundz ge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles ber Wirkung der Trag die beschreibt er sie als einen psychischen Prozess, der ber die gezielte Erregung der A ekte zu deren Ent-

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in: Linck und V hler, Grenzen der Katharsis (Anm. 1), S. IX-XIV, hier S. IX. Zur hedonischen Qualit t der Katharsis vgl. Aristoteles Aussagen im 14. und 26. Kapitel der Poetik. Aristoteles, Poetik, 14.1453b11, 26.1462b13. Vgl. hierzu Aristoteles Politik 8.1341b39f. An der Stelle behauptet er, in der Poetik werde der Vorgang ausf hrlich erkl rt. Bis heute konnte nicht gekl rt werden, ob die entsprechenden Teile der Poetik verschollen sind, oder ob Aristoteles seinem eigenen Anspruch niemals gerecht geworden ist. Bernd Seidensticker und Martin V hler, Zur Einf hrung: Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles , in: dies., Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles. Zum kulturellen Hintergrund des Trag diensatzes, Berlin-New York: De Gruyter 2007, S. VI-XIII, hier S. VIII. Erstver ffentlichung 1498. Vgl. hierzu u. a.: Matthias Luserke (Hrsg.), Die Aristotelische Katharsis. Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahrhundert, Hildesheim-Z rich-New York: Olms 1991; Donald Keesey, On Some Recent Interpretations of Catharsis , in: The Classical World 72 (1978/79), S. 193-205; Stephen Halliwell, Appendix 5: Interpretations of Katharsis, in: ders., Aristotles Poetics: A Study of Philosophical Criticism, London: Duckworth 1987, S. 350-356; Anton Kerkhecker, Furcht und Mitleid , in: Rheinisches Museum f r Philologie 134 (1991), S. 288-310; Elizabeth Belfiore, Tragic Pleasures: Aristotle on Plot and Emotion, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1992. Henri Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten (1970), aus dem Englischen bersetzt von Gudrun Theusner-Stampa, Bern-Stuttgart-Wien: Huber 1973, Band 2, S. 665. Vgl. hierzu Jacob Bernays, Grundz ge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles ber Wirkung der Trag die (1858) , in: ders., Zwei Abhandlungen ber die aristotelische Theorie des Dramas, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968, S. 1-118. Zu Jacob Bernays vgl.: Marie-Christin Wilm, Die Grenzen tragischer Katharsis. Jacob Bernays Grundz ge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles (1857) im Kontext zeitgen ssischer Trag dientheorie , in: Linck und V hler, Grenzen der Katharsis (Anm. 1), S. 21-50; Karlfried Gr nder, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis , in: Luserke, Die Aristotelische Katharsis (Anm. 10), S. 352-385.

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ladung f hre, und er vergleicht, unter Berufung auf Aristoteles Politik,13 die medizinische Form der Katharsis mit der theatralen Wirkung.14 Bernays belegt, dass Aristoteles den Begri der Katharsis metaphorisch verwendet. Er erkl rt, dass der Terminus urspr nglich zur Beschreibung medizinischer wie auch religi ser Reinigungsvorg nge gebraucht wurde und erst von Aristoteles auf den Bereich der sthetik bertragen worden sei.15 Bernays Deutung l ste einen kreativen Prozess aus, der vor allem in Wien Fr chte trug.16 1893 stellten die rzte Sigmund Freud und Josef Breuer mit ihrer kathartischen Methode erstmals ein Heilverfahren vor, mit dessen Hilfe sie hysterische Patienten von ihren verdr ngten Erinnerungen befreien wollten.17 In den Studien ber Hysterie f hren sie aus, dass sich die eingeklemmten A ekte der Hysteriker abf hren lie en, indem deren traumatische Erfahrungen und die diese begleitende[n] A ekt[e] wachgerufen und so lebhaft als m glich wiederholt w rden.18 Die Parallelen zwischen Bernays Katharsisinterpretation und der Theorie der beiden rzte sind o ensichtlich. [B]oth [...] are based on a concept of emotional release through a ective discharge. 19 Mit den Worten beschreibt Sanford Gi ord die hnlichkeiten zwischen den Positionen und f gt hinzu, dass es bei beiden darauf ankomme, die Emotionen anzuregen, bevor es zu einer Beruhigung und Linderung der Symptome komme.20

13 Vgl. hierzu: Bernays, Aristoteles ber Wirkung der Trag die (Anm. 12), S. 10. 14 Bernays bersetzt Aristoteles Trag diensatz wie folgt: [D]ie Trag die bewirkt durch [Erregung von] Mitleid und Furcht die erleichternde Entladung solcher [mitleidigen und furchtsamen] Gem thsaffectionen. Bernays, Aristoteles ber Wirkung der Trag die (Anm. 12), S. 21. 15 Vgl. Bernays, Aristoteles ber Wirkung der Trag die (Anm. 12), S. 6. 16 Vgl. zum Wiener Katharsis-Diskurs : G nter G dde, Therapeutik und sthetik Verbindungen zwischen Breuers und Freuds kathartischer Therapie und der Katharsis-Konzeption von Jacob Bernays , in: Linck und V hler, Grenzen der Katharsis (Anm. 1), S. 63-91; Michael Worbs, Katharsis in Wien um 1900 , in: Linck und V hler, Grenzen der Katharsis (Anm. 1), S. 93-116. 17 Josef Breuer und Sigmund Freud, Vorl ufige Mitteilung ber den psychischen Mechanismus hysterischer Ph nomene , in: Neurologisches Zentralblatt 12 (1893), S. 4-10, 43-47. 18 Josef Breuer und Sigmund Freud, Studien ber Hysterie (1895), Frankfurt a. M.: Fischer 1970, S. 30. 19 Sanford Gifford, Abreaction and Catharsis: Freud s Theory before 1897 , in: International Encyclopedia of Psychiatrie, Psychology, Psychoanalysis, and Neurology, Band 1, herausgegeben von Benjamin B. Wolman, New York: Aesculapius Publ. 1977, S. 174-180, hier S. 179. 20 Vgl. Gifford, Abreaction and Catharsis (Anm. 19), S. 179-180. Vgl. zur Verwandtschaft der Ideen von Bernays, Breuer und Freud u. a.: Juan Dalma, La catarsis en Aristoteles, Bernays y Freud , in: Revista de Psiquatria y Psycologia m dica 11/6 (1963), S. 253-269; Albrecht Hirschm ller, Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Josef Breuer s, Bern: Hans Huber 1978, S. 206 f.; Volker Langholf, Die kathartische Methode. Klassische Philologie, literarische Tradition und Wissenschaftstheorie in der Fr hgeschichte der Psychoanalyse , in: Medizinhistorisches Journal 25 (1990), S. 5-39.

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Hermann Bahrs Position im Wiener Katharsis-Diskurs Obwohl der Wiener sthetikprofessor Alfred von Berger in seiner 1896 erschienenen Rezension der Studien ber Hysterie in der kathartischen Methode ein St ck uralter Dichterpsychologie 21 erkannte und auf die Verwandtschaft zwischen Literatur und Psychoanalyse hingewiesen hat, dauerte es einige Zeit, bis sich die Dichter den berlegungen von Breuer und Freud angenommen hatten.22 So auch der selbsternannte Herr von Adabei , 23 Hermann Bahr. Neben seinen Publikationen geben vor allem Bahrs Tagebuch- und Notizheftaufzeichnungen aus der Zeit um 1900 von seiner heftigen Besch ftigung mit dem Thema Katharsis Auskunft. 24 Unter den Wiener Kunst- und Kulturscha enden nahm Bahr eine exponierte Position ein. Als selbsternannter Wortf hrer des Jung-Wien 25 und bekennender Mann von bermorgen 26 verfolgte er den Anspruch, kulturelle Moden zu erkennen, bevor sie konsensf hig wurden und sie zu berwinden, sobald sie sich etabliert hatten. Er wirkte als Katalysator und Multiplikator von neuen Ideen. In seinen feuilletonistischen und kulturtheoretischen Schriften trug er aktuelle Erkenntnisse aus Kunst und Wissenschaft zusammen, setzte sie miteinander in Beziehung und schuf so neues Wissen, das er in die Diskurse der Zeit einbrachte. Auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Katharsis erwies sich Bahrs Beitrag als besonders produktiv. Im Juli 1903 erschien Bahrs Dialog vom Tragischen,27 in dem er zun chst die von Breuer und Freud aus der Wirkungspoetik befreite Katharsis zur ck aufs Theater 21 Alfred von Berger, Chirurgie der Seele , in: Morgen Presse (2. 2. 1896), S. 1-2, hier S. 2. 22 Als einer der Ersten hat sich Arthur Schnitzler des Themas angenommen. Vgl. hierzu: ders., Paracelsus. Versspiel in einem Akt , in: Cosmopolis 12/35 (1898), S. 489-527. 23 Hermann Bahr, Selbstbildnis, in: ders., Kritische Schriften, herausgegeben von Claus Pias. Weimar: VDG 2011, Band 18, S. 2. 24 Hermann Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte, Band 3: 1901-1903, herausgegeben von Moritz Cs ky und bearbeitet von Lukas Mayerhofer und Helene Zand, Wien: B hlau 1997, S. 170. 25 Dabei handelt es sich um einen lockeren Zusammenschluss von Autoren, die der Wunsch einte, die sterreichische Literatur zu erneuern, und die im Zuge dessen eine antinaturalistische Position entwickelt haben. Neben Bahr z hlten zu der Gruppe, die weder eine Programmschrift publizierte noch feste Statuten besa , u. a. Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Felix Salten und Peter Altenberg. Vgl. hierzu: Gotthart Wunberg, Vorwort , in: Das Junge Wien. sterreichische Literatur- und Kunstkritik 1887-1902, Band 1: 1887-1896, ausgew hlt, eingeleitet und herausgegeben von dems., T bingen: Niemeyer 1976, S. VIIXI. 26 In einer seiner Autobiographien berichtet Bahr davon, dass Maximilian Harden ihm den Namen gegeben habe. Bahr, Selbstbildnis (Anm. 23), S. 2. 27 Zun chst wurde er in der Neuen deutschen Rundschau ver ffentlicht, bevor er noch im selben Jahr um sechs thematisch verwandte Texte erg nzt vom Fischer Verlag in Berlin publiziert wurde. Allerdings wurde der Dialog auf das Jahr 1904 vordatiert. Vgl. hierzu: Hermann Bahr, Dialog vom Tragischen , in: Neue deutsche Rundschau 14/7 (1903), S. 716736; Hermann Bahr, Dialog vom Tragischen, Berlin: Fischer 1904, S. 9-78.

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bertr gt und die Institution als Heilanstalt f r Hysteriker beschreibt. So behauptet er, dass die Trag die nichts anderes [wolle], als jene beiden rzte tun: sie erinnert ein durch Kultur krankes Volk, woran es nicht erinnert sein will, an seine schlechten A ekte, die es versteckt, an den fr heren Menschen der Wildheit, der im gebildeten, den er jetzt spielt, immer noch kauert und knirscht, und rei t ihm die Ketten ab und l t das Tier los, bis es sich ausgetobt hat und der Mensch, von den schleichenden D mpfen und Gasen rein und frei, durch Erregung beschwichtigt, bildsam zur Sitte zur ckkehren kann. 28 Bahr beschreibt den zivilisatorischen Fortschritt als eine Folge der institutionalisierten A ektabfuhr im Theater, dessen Ursprung er in der Antike verortet.29 Doch schon im zweiten Teil des dreiteiligen Dialogs, den er als Diskussion zwischen in ihren Positionen divergenten Gespr chsteilnehmern inszeniert, stellt er fest, dass eine separativ verstandene Katharsis, eine Katharsis, durch die der Theaterbesucher von seinen A ekten befreit wird, dem neuen Menschen ,30 auf den sich die Gesellschaft zu entwickle und den Bahr nach dem Vorbild von Nietzsches bermenschen 31 entwirft, nicht mehr gerecht werde, da dieser, im Unterschied zu seinen Vorg ngern, nicht mehr unter unterdr ckten A ekten zu leiden habe.32 Stattdessen ben tige der triebbefreite Mensch eine Kunst, die seinen gewandelten Bed rfnissen entspreche. Als Alternative stellt Bahr das Theater des Schauspielers vor,33 dessen Aufgabe darin bestehe, den Zuschauer in einen Rauschzustand zu versetzen.34 Die F higkeit dazu k nne er vom B hnenk nstler lernen, da dieser qua Beruf dazu in der Lage sei, sich selbst aufzugeben.35 Bahr versteht den Schauspieler als Nachfahren der Gefolgschaft des Dionysos, von der berichtet wird, sie habe im ekstatischen Kult ihre Individuation berschritten, um mit der sie umgebenden Welt eins zu werden.36 Dabei orientiert sich Bahr an Nietzsche, der im achten Kapitel der Geburt der Trag die den dithyrambischen Chor als Chor der Verwandelten beschreibt. Nietzsche zufolge steht im Dithyramb eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns [...], die sich selbst untereinander verwandelt ansehen .37 Eine Gemeinde, die handel[t], als ob [sie] wirklich in einem andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen w re. 38 Als Voraussetzung der Verwandlung erkennt Nietzsche die dionysische Erregung .39 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 23 f. Vgl. Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 23. Vgl. hierzu Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 10 ff., 38. Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 32. Vgl. Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 48 ff. Vgl. hierzu v. a. Teil 3 des Dialogs: Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 62-78. Vgl. Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 73 f., 78. Vgl. Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 65, 67, 69 f. Vgl. Bahr, Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 68. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Trag die, in: ders., S mtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, M nchen-New York: De Gruyter 1980, Band 1, S. 9-156, hier S. 61. 38 Nietzsche, Die Geburt der Trag die (Anm. 37), S. 61. 39 Nietzsche, Die Geburt der Trag die (Anm. 37), S. 61.

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Die A ektemphase, in der der Dialog vom Tragischen endet, l sst sich als eine Antwort auf die vielbeschworene Krisensituation um 1900 verstehen.40 Nach Nietzsche war die Welt endg ltig entg ttert41 und der Geist zu Gunsten des Willens von Schopenhauer entmachtet.42 Durch die Entdeckungen der modernen Physik wurden dem Menschen seine bislang als fest erachteten Grundlagen entzogen43 und Ernst Mach erkannte, dass selbst das Ich unrettbar geworden war. 44 berdies war der Liberalismus kollabiert, die k. und k. Monarchie in Au sung begri en und tradierte Rollenbilder infolge von Industrialisierung und Technisierung erodiert.45 In einem Brief an Schnitzler schreibt Freud von der Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten ,46 auf die das Individuum zu reagieren hatte. Wissenschaft und Kunst betrieben daraufhin verst rkt Innenschau und machten sich auf die Suche nach neuen Erkenntniswegen und Ausdrucksweisen. Die K nstler der ‚Wiener Moderne fokussierten sich dabei auf die Seelenst nde ( tats d mes) und begaben sich damit in Opposition zu den Naturalisten, die mit der Beschreibung der Sachst nde ( tats de choses) befasst waren. Sie bten dar ber hinaus Kritik am Objektivit tsanspruch der Wissenschaften und bekannten sich stattdessen zum subjektiven Emp nden.47 Ihr a ektives Erleben sollte ihnen einen nicht-kognitiven 40 Grundlegend hierzu sind nach wie vor Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de si cle (1980), Frankfurt a. M.: Fischer 1982; Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion: die Wiener Moderne und die Krise der Identit t (1990), Wien: sterreichischer Bundesverlag 1990. 41 Vgl. hierzu: Friedrich Nietzsche, Die fr hliche Wissenschaft. Drittes Buch, Aphorismus 125: Der tolle Mensch , in: ders., KSA, Band 3, S. 480-482. 42 Vgl. hierzu: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), in: ders., Textkritische Ausgabe in 2 B nden, herausgegeben von Wolfgang Freiherr von L hneysen, Frankfurt a. M.-Leipzig: Insel Verlag 1996. 43 1900 entwickelt Max Planck die Quantentheorie und Albert Einstein ver ffentlicht 1905 die Spezielle Relativit tstheorie. 44 Vgl. hierzu: Ernst Mach, Analyse der Empfindungen und das Verh ltnis des Physischen zum Psychischen, (Nachdruck der 9. Auflage, Jena 1922), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991; Hermann Bahr, Das unrettbare Ich , in: Neues Wiener Tagblatt 37/99 (1903), S. 1-4. 45 Vgl. hierzu etwa: Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903) M nchen: Matthes und Seitz 1980; Agatha Schwartz, Austrian Fin-de-Si cle Gender Heteroglossia: The Dialogism of Misogyny, Feminism, and Viriphobia , in: German Studies Review 28/2 (2005), S. 347-366. 46 Sigmund Freud, Briefe an Arthur Schnitzler , in: Neue Rundschau 66 (1955), S. 95-106, hier S. 97. 47 Robert Musil pr gte in diesem Zusammenhang den Begriff der Gef hlserkenntnis . Vgl. hierzu ders., ber Robert Musil s B cher (Januar 1913), in: ders., Gesammelte Werke. Prosa und St cke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, herausgegeben von Adolf Fris , Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 995-1001, hier S. 997; Barbara Neymeyr, ‚Gef hlserkenntnisse und Denkersch tterungen . Robert Musils Konzept einer ‚emotio-rationalen Literatur im Kontext der Moderne , in: Literarische Moderne Begriff und Ph nomen, herausgegeben von Sabina Becker und Helmuth Kiesel, BerlinNew York: De Gruyter 2007, S. 199-226.

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Zugang zur Welt verscha en.48 Deshalb war ihnen daran gelegen, soviel und so intensiv wie m glich zu f hlen. Im Dialog vom Tragischen schlie t Bahr daher die Abreaktion von A ekten f r den neuen Menschen aus. Stattdessen fordert er eine Steigerung von A ekten bis hin zum ekstatischen Rausch. Bahrs Auseinandersetzung mit der Katharsis-Thematik und seine damit verbundene Besch ftigung mit den Themen A ekt und Erregung ging ber den Dialog vom Tragischen hinaus. Sein Interesse richtete sich dabei in besonderem Ma e auf den gesteigerten A ekthaushalt im Zustand der Ekstase. In Notizheften, Tageb chern, Zeitungsartikeln und Essays nden sich verschiedene Ausf hrungen zum Thema. Bahr war gefesselt von der Idee, dass der Mensch den Moment der h chsten Erregung genie t. So beschreibt er in einem Text mit dem Titel Maximen die Ekstase als Zustand, in dem der Mensch bis zu einem wahren Wahnsinn des Empndens und Erkennens hinaufgereizt wird. Und weiter ist zu lesen: [M]ochte er dann ersch pft vergehen er hatte doch den Blitz genossen. 49 Indem sich Bahr zu dieser Deutung der Ekstase bekennt, entscheidet er sich gegen die Au assung von Bernays und Freud, der zufolge sich der Zustand der Befriedigung erst im Anschluss an die Befreiung von A ekten einstellt.50 Bahrs Standpunkt l sst sich im Gegensatz dazu in Tradition zu Autoren wie Jean-Baptiste Dubos, David Hume oder Edmund Burke sehen, die erkannten, dass es vor allem die negativ valenten A ekte sind, die den Menschen in einem hohen Ma erregen k nnen. Dubos berichtet vom lustvollen Schaudern beim Anblick von Gladiatorenk mpfen51 und Burke schreibt vom Vergn gen, das man als Zuschauer von Hinrichtungen erleben kann.52 Auch Nietzsche stellt die belebende Wirkung von leidvollen A ekten eindr cklich dar und glaubt, damit einen Gegenbeweis zu Aristoteles Katharsisverst ndnis gefunden zu haben. Allerdings ist bei ihm die Distanz zum beigewohnten Schrecken, die f r Burke und Dubos noch konstitutiv f r den sthetischen Genuss war, einer unmittelbaren N he des Erlebens gewichen. In G tzend mmerung ist zu lesen: Die Psychologie des Orgiasmus als eines berstr menden Lebens- und Kraftgef hls, innerhalb dessen selbst der 48 Vgl. hierzu: Simone Winko, Kodierte Gef hle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin: Schmidt 2003. 49 Hermann Bahr, Ekstasen , in: ders., Dialog vom Tragischen (Anm. 27), S. 115-119, hier S. 117. 50 Bernays schreibt von der unter Lustgef hl erfolgten Erleichterung. Vgl. hierzu: ders., Aristoteles ber Wirkung der Trag die (Anm. 12), S. 65, hnlich auch S. 8, 16, 66, 69. Freud vertritt in seinem Entwurf einer Psychologie gar die berzeugung, Erregungen w rden prinzipiell als Unlust und deren Abbau als Lust erfahren. Vgl. hierzu: ders., Entwurf einer Psychologie (1895), in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, herausgegeben von Anna Freud, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1987, S. 373-486. 51 Vgl. hierzu: Jean-Baptiste Dubos, R flexions critiques sur la po sie et la peinture (1719), Paris: P.-J. Mariette 61755, S. 12-25. 52 Vgl. hierzu Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Adam Phillips, Oxford: Oxford World s Classic 2008, S. 43 f.

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Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schl ssel zum Begri des tragischen Gef hls [...]. Nicht um von Schrecken und Mitleid loszukommen, nicht um sich von einem gef hrlichen A ekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen so verstand es Aristoteles sondern um, ber Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst. 53 Bahr plante, im Anschluss an den Dialog vom Tragischen einen weiteren Dialog zu verfassen. Es l sst sich nachweisen, dass er in dem Zeitraum von 1904 bis 1913 an einem Text mit dem Titel Dialog vom Laster schrieb. Darin wollte er sich dezidiert mit der Erregungslust und deren Manifestation im Laster auseinandersetzen und dabei die Grenzen der Kunst erweitern.54 W hrend er im Dialog vom Tragischen die Trag die berwinden, nicht aber das Theater verlassen wollte, hatte er vor, im Dialog vom Laster die Folgen der Erregung jenseits der B hne zu untersuchen. Fertig gestellt wurde der Dialog jedoch nie.55 Bahrs berlegungen sind nicht in einem durchgehenden Text berliefert, stattdessen liegen sie in Form von einzelnen, zum Teil aufeinander folgenden Eintragungen in mehreren Skizzenb chern vor.56 Die Notate setzten sich zusammen aus Dialogentw rfen, Exzerpten, Zitaten sowie Ablaufpl nen zu dem zu schreibenden Werk. Wie der Titel des Dialogs bereits vermuten l sst, sollte die Auseinandersetzung mit dem Laster im Zentrum der Arbeit stehen. Ausgangspunkt von Bahrs berlegungen war dabei die Frage nach dem Wesen des Lasters. In seinen Notizen nden sich diverse De nitionsentw rfe, mit denen er das Laster zu erfassen versucht. Auch wenn sich die Ans tze in ihrem Wortlaut unterscheiden, so hneln sie sich in ihrer Aussage: Bahr bestimmt das Laster als Begierde nach dem Ekelhaften ,57 als eine geheimnisvoll unbekannte Macht [...], die gerade das will, was wir selber verabscheuen. 58 53 Friedrich Nietzsche, G tzen-D mmerung, in: ders., KSA, Band 6, S. 55-161, hier S. 160. 54 In dem Dialog erkl rt Bahr das Laster zur Kunst. Er schreibt: [D]as sozial Unbrauchbare, deshalb verp nt und verboten, unzul ssig in der sozialen Gemeinschaft, ausgesto en, abgesto en, verdichtet sich in den Menschen zum geheimnisvoll Imagin ren und bricht als Kunst wieder hervor. Kunst w re also R ckkehr aus der Soziet t weg zur Natur zur ck. Der k nstlerische Mensch w re also der nat rliche. Der soziale Mensch der k nstliche. Und nun [...] das Laster, als Willensakt, in der Wurzel also, genau dasselbe wie die Kunst, nur da sich das Laster im Realen durchzusetzen, eigentlich also Kunst realisieren will. Ders., Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 24), S. 345. 55 Seine letzten Notizen zu dem Projekt, das von der Forschung bislang unbeachtet ist, sind auf das Jahr 1913 datiert. Vgl. hierzu: Hermann Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte, Band 4: 1904-1905, herausgegeben von Moritz Cs ky und bearbeitet von Lukas Meyerhofer und Helene Zand, Wien: B hlau 2000, S. 360. 56 Der gr te Teil der Vorarbeiten findet sich in Skizzenb chern aus den Jahren 1901-02 (Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte, (Anm. 24), S. 83-131), 1903 (Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte, (Anm. 24), S. 339-391) sowie 1904 (Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 55), S. 209-318). 57 Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte, (Anm. 24), S. 349. 58 Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte, (Anm. 24), S. 360.

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In seinen Ausf hrungen stellt Bahr den hedonischen Aspekt des Lasters in den Vordergrund und erkl rt die Lust am Laster als unmittelbare Folge des zivilisatorischen Fortschritts: Bahr de niert den Menschen als Lebewesen, das im gesteigerten Erregungszustand Vergn gen erlebt und sich daher nach Stimulation sehnt, und er beschreibt das Dilemma, in dem sich der Mensch be ndet, da es ihm aufgrund gesellschaftlicher Konventionen nicht erlaubt sei, seinem Exaltationstrieb uneingeschr nkt nachzugeben. Wie im Dialog vom Tragischen schildert er auch im Dialog vom Laster den gesellschaftlichen Fortgang als Folge von Triebunterdr ckung und Bed rfnisregulation. Aber anders als in dem fr heren Dialog, in dem er die Utopie von einem neuen , triebbefreiten Menschen entwirft, pr sentiert er den modernen Menschen im Dialog vom Laster als Opfer seiner eingehegten Triebe. Im Zentrum der Arbeit sollte die Auseinandersetzung mit der Wollust stehen. Das Laster, das den Menschen am heftigsten erregt, ihm die meiste Lust bereitet und von der Gesellschaft besonders stark kontrolliert wird.59 Bahr hatte vor, die Wollust durch eine als T nzerin vorgestellte Haupt gur verk rpern zu lassen, die zur berwindung der Triebunterdr ckung aufruft und einen freien Umgang mit dem Laster propagiert. Dabei ist au allend, dass die als Laster beschriebene Sexualit t in besonderem Ma das Durchleben von Schmerz, Ekel und Aggression inkludiert. So schildert Bahr in den Dialogentw rfen F lle von Flagellation, Sodomie und Sadismus.60 Doch anders als Kra t-Ebing, der s mtliche in dem Dialog angef hrten Spielarten der Sexualit t in seinen um 1900 zum Beststeller avancierten Psychopatia sexualis61 aufz hlt, werden die als deviant beschriebenen Praktiken bei Bahr nicht pejorativ verstanden. Vielmehr geht er gest tzt auf die Theorien heftiger Gem tserregungen 62 davon aus, dass aus erlebtem wie auch zugef hrtem Leid ein besonderes Vergn gen hervorgehen kann. In diesem Zusammenhang berichtet er vom Ekel als Reiz 63 und der Qual als Lust 64. In seinen Vorarbeiten stellt Bahr die Behauptung auf, dass die Hingabe an das Laster wie eine Kur wirkt, die die Gesellschaft von ihren zivilisatorischen berfor-

59 Vgl. hierzu: Reinhart Meyer-Kalkus, Wollust , in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches W rterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe 2005, Band 12: W-Z., Sp. 1018-1023. Zur Sexualit t in Wien vgl. Franz X. Eder, ,Diese Theorie ist sehr delikat... Zur Sexualisierung der Wiener Moderne , in: Die Wiener Jahrhundertwende. Einfl sse. Umwelt. Wirkungen, herausgegeben von J rgen Nautz und Richard Vahrenkamp, Wien-K ln-Graz: B hlau 1993, S. 159-178 (= Studien zu Politik und Verwaltung 46). 60 Vgl. hierzu u. a. Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 24), S. 367, 362 sowie ders., Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 55), S. 324, 328, 331, 340, 349. 61 Richard Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis (1886), mit Beitr gen von Georges Bataille u. a., M nchen: Matthes und Seitz 1984. 62 Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 52. 63 Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 55), S. 349. 64 Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 55), S. 349.

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mungen und der damit verbundenen Triebunterdr ckung befreit.65 Den a ektiven Kern der Lastererfahrung interpretiert er als kathartisches Erlebnis. Und so l sst er die T nzerin den Gipfel der Wollust mit den Worten beschreiben: [G]erade wenn wir durch Leidenschaften reif zum H chsten werden, geschieht uns dies, nach eben dem zu verlangen, wovor uns ekelt, gerade mit dem G ttlichen zum Tier werden und in seiner wie der eigenen Qual Lust zu f hlen; und wenn wir diesem Entsetzlichen, weil es st rker als unsere Furcht und die Abwehr des Verstandes ist, gehorcht haben, kommt noch ein Widerspruch dazu, nemlich dass wir uns gerade durch dieses Schmutzige, ja mit sauberen Worten Unaussprechliche gel utert und gereinigt f hlen. 66 Wie aus dem Zitat hervorgeht, wird die Katharsis an dieser Stelle nicht als Befreiung von A ekten verstanden, stattdessen sind es die A ekte selbst, die den Menschen befreien. Indem sich Bahr f r die Interpretation der Katharsis ausspricht,67 wendet er sich wie schon im Dialog vom Tragischen gegen das in Wien um 1900 popul re separative Katharsisverst ndnis, geht aber ber den fr heren Dialog hinaus und erg nzt den Wiener Katharsis-Diskurs um eine neue Position. Warum Bahr im Jahr 1913 die Arbeit am Dialog vom Laster abbricht und seine Neudeutung der Katharsis unpubliziert bleibt, l sst sich nicht sagen. Feststellen l sst sich allerdings, dass Jahre sp ter ein anderer Wiener K nstler zu ganz hnlichen Antworten auf die Fragen nach dem Vergn gen an tragischen Gegenst nden gekommen ist. Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater Am Morgen des 28. Februar 1970 fanden sich in einer Galerie in M nchen zahlreiche Menschen ein, um an einer von Hermann Nitsch durchgef hrten Aktion teilzuhaben. Das 7. Abreaktionsspiel, so der Titel der Veranstaltung, die eigentlich bereits am Abend zuvor h tte statt nden sollen, von der Polizei jedoch verboten wurde, folgte der publizierten Partitur von Nitsch, mit deren Hilfe die Aktion im 65 Vgl. hierzu: Erst, in Vermutungen des Arztes, der Meister werde da gleich wieder seine Lieblingsgedanken einhacken [!], ein [!] Excursion zum tragischen Dialog, Repetition Freud Breuer: Versch ttetes, Zugedecktes wird ans Licht gehoben, die beklommene Brust, von der der Stein dieser ungeheuren Last f llt (gew lzt wird), atmet befreit auf Laster w re also die F tterung des auch im Menschen der h chsten Cultur noch vorhandenen Urmenschen, Barbaren, Tiermenschen, der dann, ges ttigt, wieder eine Zeit dumpf liegen bleibt, bis er, wieder hungrig, aufs Neue zu br llen anf ngt. Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 55), S. 350. 66 Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 55), S. 350. 67 Er war mit seiner Katharsisdeutung nicht allein. Allerdings waren die Kritiker der Bernaysschen Deutung in Wien um 1900 nicht so popul r. Vgl. hierzu: Henri Weil, Ueber die Wirkung der Trag die nach Aristoteles , in: Verhandlungen der zehnten Versammlung deutscher Philologen, Schulm nner und Orientalisten in Basel den 29. und 30. September und 1. und 2. October 1847, Basel: J. J. Mast 1848, S. 131-141.

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Folgenden veranschaulicht werden soll.68 Zun chst schildert Nitsch die Ausgangssituation, aus der heraus die Aktion entwickelt wurde. Er beschreibt den Raum, in dem sich neben den Aktionisten und dem Publikum auch ein L rmorchester, ein Schreichor sowie eine Beatgruppe befunden haben: An mit weisse[m], frisch gewaschenen sto bespannten W nden h ngen zwei geschlachtete[ ], abgeh utete[ ] schaf[e] mit dem Kopf nach unten. In der Mitte des Raumes liegt ein Mann auf einem wei bezogenen Bett. In der linken Ecke des Raums be ndet sich eine Frau auf einem wei en Tuch. neben ihr auf dem tuch liegen blutignasse lungen frisch geschlachteter rinder zu einem ball verschn rt, an welchem ein k nstliches glied befestigt ist. am boden des raumes liegen blutigfeuchte ged rme von geschlachteten tieren . Die Aktion beginnt, indem von einem Aktionsteilnehmer Zuckerst cke auf dem Boden verteilt und mit Kreide umrandet werden. Daraufhin werden die am boden liegenden ged rme [...] mit blut besch ttet . Im weiteren Verlauf wird die Frau bis auf ihre Unterw sche entkleidet. Daraufhin stopft ihr ein m nnlicher Aktionsteilnehmer blutfeuchte, schleimige ged rme in die Unterhose, bevor diese aufgeschnitten und ihr Unterleib mit blut und s mige[m] schleim besch ttet wird. Nachdem sich die Frau ekstatisch schreiend einen k nstlichen Phallus mehrmals in die Scheide gesto en hat, werden die an den W nden h ngenden Schafe zerrissen, zerschnitten, ausgeweidet und wieder mit Eingeweiden bef llt. Anschlie end wird die Frau auf ein Kreuz gebunden und von Nitsch mit einem umgeschnallten k nstlichen Phallus, mit dem er zuvor in eines der Schafe eingedrungen war, penetriert. Die Aktion, die von den Musikern mit orchestriertem Geschrei und L rm begleitet wurde, endet damit, dass die toten Tiere zusammen mit den beteiligten Aktionisten auf dem Boden liegen. Nitsch liegt mit dem kopf zwischen den gespreizten beinen der frau. alle balgen sich und w hlen sich in die ged rme und in die aufgekla ten leiber der schafe hinein. die frau besch ttet aus k beln die balgenden mit ged rmen; schleim und blut (h chste steigerung des l rms). 69 Die Aktion, die zwei Stunden gedauert und hier nur in K rze zusammengefasst ist, wurde nicht nur vom Hessischen Fernsehen aufgezeichnet, sondern auch von dem K nstlerpaar Ed und Irm Sommer ge lmt. Auf Youtube ndet sich ein daraus hervorgegangener 7-min tiger Clip.70 Obwohl ohne Ton und in schwarz-wei , wird die Drastik der Aktion ersichtlich. Nitschs M nchner Tour de Force ist dem Wiener Aktionismus zuzurechnen, der in seiner Entwicklung beeinflusst vom Tachismus und abstrakten Expressionismus in den 60er Jahren seine Hochphase hatte. Die Wiener Aktionisten , zu deren bekanntesten Vertretern neben dem bereits erw hnten Nitsch noch Otto Muehl, G nter Brus und Rudolf Schwarzkogler zu z hlen sind, einte das Interesse 68 Vgl. Hermann Nitsch, 7. Abreaktionsspiel, 32. Aktion , in: ders., O. M. Theater-Lesebuch, Wien: Freibord 1983, S. 277-284. 69 Nitsch, 7. Abreaktionsspiel, 32. Aktion (Anm. 68), S. 281. 70 Vgl. https://www.youtube.com/verify_controversy?next_url=/watch%3Fv%3Dns2p-FGF6 qs (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016).

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am (m glichst intensiven) a ektiven Erleben. Ihr Bestreben war es, den A ektausdruck unmittelbar zur Anschauung zu bringen. Die tradierten Kunstformen schienen ihnen daf r nicht geeignet. Sie wollten die Grenzen der Leinwand berwinden, indem sie sich dem K rper zuwendeten. Gleichzeitig erkannten sie die Beschr nkungen der Sprache, weshalb sie ihren Fokus auf den Leib, seine Materialit t, Ausdrucks- und Transformationsf higkeit richteten. Ihnen war daran gelegen, Rezeptionsgewohnheiten aufzubrechen, um eine neue Sensibilit t des Zuschauers zu erreichen. Dabei wollten sie die Grenze zwischen Kunst und Leben berschreiten. Ihren eigenen Aussagen zufolge begehrten die K nstler gegen die Verdr ngungskultur der sterreichischen Nachkriegsgesellschaft, gegen berkommene Ordnungen, staatliche Repression, kirchliche Autorit ten und als berholt empfundene gesellschaftliche Konventionen auf.71 Dabei bedienten sie sich besonders drastischer Gegenst nde, was zwangsl u g zu Skandalen f hrte und f r die Protagonisten regelm ig in Arrestzellen endete bzw. in strafrechtlicher Verfolgung m ndete.72 Gegen Ende der 60er Jahre begann sich die Gruppe aufzul sen: Brus brach seine aktionistische T tigkeit ab, nachdem er sich mit der Aktion Zerrei probe nah an den Selbstmord herangef hrt hatte.73 Muehl gr ndete die Aktionsanalytische Organisation , in der er als autorit rer F hrer auftrat und dabei zum Kindesmissbrauch animierte und Schwarzkogler starb, nachdem er aus einem Fenster gefallen war. Einzig und allein Nitsch blieb der Aktionskunst treu, die er bis heute in Form des Orgien Mysterien Theaters betreibt. Nitsch, der weithin als die zentrale Figur des Wiener Aktionismus wahrgenommen wird, entwickelte seine Vorstellung vom Orgien Mysterien Theater bereits in den 50er Jahren.74 Bis heute h lt er an der Idee von einem syn sthetischen Gesamtkunstwerk, durch das der Mensch ber alle Seinsbeschr nkungen hinaus zu sich selbst kommen soll, fest.75 71 Vgl. hierzu die Aktion Kunst und Revolution (7. 6. 1968, Uni Wien) begleitenden Texte. Gemeinsam mit Fotos der Aktion und Pressereaktionen auf die Aktion dokumentiert in: Wien. Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film, herausgegeben von Peter Weibel und Valie Export, Frankfurt a. M.: Kohlkunstverlag 1970, S. 201-223. 72 Vgl. hierzu bspw. die Presseberichte in Wien. Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film (Anm. 71). In den Artikeln wird davon berichtet, dass und wie die Aktionisten f r die drastische Aktion in der Wiener Universit t, bei der in den H rsaal gekackt und gepinkelt wurde, w hrend die Ausf hrenden die Nationalhymne gesungen haben, bestraft wurden. 73 Vgl. hierzu die Beschreibung der Aktion auf der Seite https://www.museum-joanneum.at/ neue-galerie-graz/sammlung/sammlungsbereiche/bruseum/guenter-brus-zerreissprobe (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016). 74 Vgl. hierzu: Dieter Schwarz, Aktionsmalerei-Aktionismus. Wien 1960-65. Eine Chronologie, Z rich: Seedorn 1988, S. 7, zitiert nach Kalina Kupczynska, Vergeblicher Versuch das Fliegen zu lernen . Manifeste des Wiener Aktionismus, W rzburg: K nigshausen & Neumann 2012, S. 153. 75 Vgl. hierzu u. a. Nitschs Homepage, auf der er seine Aktionen dokumentiert und z. T. erl utert, bzw. Publikationen auflistet und/oder zum Download zur Verf gung stellt. Exemplarisch sei auf den von Nitsch verfassten Text Das Orgien Mysterien Theater verwiesen, den er 1999 f r einen Katalog der white box gallery formuliert hat. Vgl. http://www.nitsch.org/ index-de.html (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016).

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Seit 1971 residiert Nitsch im Schloss Prinzendorf in Nieder sterreich, wo er regelm ig Orgien Mysterien Theater veranstaltet. Kulminationspunkt seiner Arbeit war die Durchf hrung eines 6-Tage-Spiels im Sommer 1998.76 Zwar l st Nitsch mit seiner Arbeit immer noch Protestst rme aus, nichtsdestotrotz ist er mittlerweile im kulturellen Establishment angekommen: Als Staatsk nstler ausgezeichnet, dem zu Ehren bereits zwei Museen er net wurden, durfte er 2005 sogar im Wiener Burgtheater ein St ck Orgien Mysterien Theater inszenieren.77 In seinen Arbeiten setzt sich Nitsch intensiv mit dem Thema Katharsis auseinander.78 In zahlreichen seiner die Aktionen flankierenden theoretischen Erl uterungen, Manifesten und Interviews kommt Nitsch auf sie zu sprechen.79 In der Katharsis, die er in Anlehnung an Freud auch als abreaktion 80 bezeichnet, erkennt er den Kern seines Orgien Mysterien Theaters . Nitsch stellt fest, dass der Wunsch nach Rausch, bzw. die Lust an der Erregung, eine anthropologische Konstante ist.81 Er nennt diesen angestrebten Zustand den Grundexzess 82. Im Lauf der Zivilisation als Ergebnis gesellschaftlicher Reglementierung sei der Mensch jedoch dazu gen tigt worden, das Bed rfnis nach Rausch und die dazugeh rigen A ekte zu unterdr cken, was in der Folge zu einer Hysterisierung der Gesellschaft und damit verbunden zu einem Abreaktionsbed rfnis 83 gef hrt habe. Mit seiner Arbeit will Nitsch dieser Fehlentwicklung entgegenwirken. Seine Aktionen sollen unterdr ckte A ekte freisetzen. Den Vorgang, den er auf dem Wege einer totalen berforderung und berreizung des Aktionsteilnehmers herbeif hren m chte, nennt Nitsch Triebdurchbruch 84. Er schreibt davon, dass unbewu t gestaute energie [...] nach au en [gelangt] und [...] formal bewu t gemacht [wird]. ein tiefgreifend sinnliches bringt ein tiefgreifend psychisches ausagieren mit sich. 85 Um 76 Vgl. hierzu die Ank ndigung der Aktion und den Verweis auf den Kartenvorverkauf unter: http://omt1998.nitsch.org/ien/facts.htm (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016). 77 Siehe hierzu die Rezension Blut und Hoden vom 17. 5. 2010 von Helmut Sch del in der S ddeutschen Zeitung unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/orgien-mysterien-theaterblut-und-hoden-1.428461 (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016). 78 Vgl. hierzu: Oliver Jahraus, Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewu tseins, M nchen: Fink 2001, S. 240-251 (= Das Problempotential der Nachkriegsavantgarden. Grenzg nge in Literatur, Kunst und Medien 2); Nikolaus Edinger, Kathartische Exzesse: Eine Reise durch die Empfindungswelten des Orgien Mysterien Theaters von Hermann Nitsch, Hamburg: Disserta 2013. 79 Vgl. hierzu beispielsweise: Hermann Nitsch, Von den Wurzeln der Trag die (Ausschnitt), abgedruckt in: Hermann Nitsch. Leben und Arbeit, aufgezeichnet von Danielle Spera, Wien: Christian Brandst tter Verlag 2005, S. 78 f., hier S. 78. 80 Nitsch, Von den Wurzeln der Trag die (Anm. 79), S. 78. 81 Nitsch, Von den Wurzeln der Trag die (Anm. 79), S. 78. 82 Nitsch, Von den Wurzeln der Trag die (Anm. 79), S. 79. 83 Nitsch, Von den Wurzeln der Trag die (Anm. 79), S. 79. 84 Nitsch, O. M. Theater-Lesebuch (Anm. 68), S. 50. 85 Peter Gorsen, Der Wiener Aktionismus in seinen Festen des Psychophysischen Naturalismus , in: Julius Hummel (Hrsg.), Wiener Aktionismus. Sammlung Hummel, Wien, Milano: Edizioni Gabriele Mazzotta 2005, S. 77-90, hier S. 83.

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diese berw ltigungserfahrung herbeizuf hren, verfolgt Nitsch das Ziel, s mtliche Perzeptionskan le der an der Aktion Beteiligten zu besetzten: In dem als Beispiel f r Nitschs Orgien Mysterien Theater angef hrtem 7. Abreaktionsspiel wird das Geh r des Aktionsteilnehmers vom Schreichor, der Beatgruppe, dem L rmorchester wie auch dem Gebr ll der Aktionisten herausgefordert. Es riecht nach Blut und den in den Eingeweiden enthaltenen Exkrementen. Dabei folgt Nitsch Artaud, der sein Streben nach F kalit t damit begr ndet, dass es [da,] wo es nach Scheie riecht, [...] nach Leben [riecht]. 86 Weiterhin wird der an der Aktion Teilhabende k rperlich a ziert. Er bekommt die Leiblichkeit der Opfertiere zu sp ren, wird im Verlauf der wilder werdenden Aktion mit dem Blut und dem Ged rm der toten Tiere bespritzt. Zudem wird er psychisch bedr ngt: Er wird Zeuge von Gewalt und sexueller Aggression gegen Mensch und Tier. Er wird Tabuverletzungen ausgesetzt und mit Ekelerregendem konfrontiert. Er sieht wie die Tiere zerschnitten, zerrissen und ausgeweidet werden und die Aktionisten sich gegenseitig besudeln und penetrieren. Auf diesem Weg sollen alle an der Aktion Beteiligten dazu gebracht werden, Zugang zu ihren unterdr ckten A ekten zu erlangen. Dabei orientiert sich Nitsch an der von Breuer und Freud vertreten Annahme, dass die unterdr ckten A ekte so lebhaft als m glich 87 wiederholt werden m ssen, um sie wirkungsvoll abzureagieren. Aber auch wenn sich Nitsch auf die Psychoanalyse bezieht,88 sie als eine Erkl rungsgrundlage seines Kunstverst ndnisses benennt und ihre Terminologie nutzt, so unterscheidet sich sein Katharsisverst ndnis von dem von Breuer und Freud in entscheidenden Punkten: Zum einen wird die Katharsis bei Nitsch nicht durch das Wort, sondern durch die Tat herbeigef hrt,89 und zum anderen stellt sich das Reinigungserlebnis im Orgien Mysterien Theater im Rausch der A ekte und nicht als Folge von deren Abreaktion ein. berdies entsteht das aus der Reinigung hervorgehende Vergn gen bei Nitsch im Moment der Ekstase und nicht in der Ruhe danach. Nitsch schreibt in diesem Zusammenhang vom extre86 Antonin Artaud, Das Streben nach F kalit t , in: ders., Schluss mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater, aus dem Franz sischen bersetzt von Elena Kapralik, M nchen: Matthes und Seitz 1980, S. 15. 87 Breuer und Freud, Studien ber Hysterie (Anm. 18), S. 30. 88 Seinen Bezug auf die Psychoanalyse erkl rt Nitsch wie folgt: das vorgehen der psychoanalyse wurde f r das o.m. theater brauchbar gemacht. eine aufdeckende schichtenth llende dramatische arbeit bringt tiefliegendes nach aussen. verhinderte energien gelangen voll zum ausbruch. verdr ngtes wird aus uns herausgerissen und gelingt im theater zu ekstatischem erlebnis. vorhandene intentionen von lebendigkeit werden aktiviert bis in die abgr nde des exzesses, des tragischen, des todes. Ders., gedanken zur theorie des aktionismus und des o. m. theaters , in: ders., Das Orgien Mysterien Theater. Manifeste, Aufs tze, Vortr ge, SalzburgWien: Residenz 1990, S. 164. 89 Nitsch selbst weist darauf hin: mein theater hat die psychoanalyse erweitert, nicht beichten durch das wort, sondern beichten hervorgeholten erlebniswillen, durch hervorgeholtes direktes erleben zu exzess sich steigernden sinnlichen wahrnehmens. Ders., gedanken zur theorie des aktionismus und des o. m. theaters , in: ders., Das Orgien Mysterien Theater (Anm. 88), S. 164.

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men endpunkt des lusterlebens 90 , der im 7. Abreaktionsspiel mit der h chsten Steigerung des L rms 91 einhergeht. Rausch und Reinigung Hermann Bahr und Hermann Nitsch im Vergleich Vergleicht man Nitschs Aktion mit Bahrs Beschreibungen im Dialog vom Tragischen92 und vor allem dem Dialog vom Laster, so f llt auf, dass beide K nstler den Anspruch verfolgen, dass Kunst a ektives Erleben zur Anschauung bringen und den Rezipienten unmittelbar und m glichst stark a zieren soll. Dabei sehen sich Bahr wie auch Nitsch mit den Grenzen der herk mmlichen Ausdruckformen, die die Zust nde heftiger Erregung nur unzureichend abbilden bzw. ausl sen k nnen, konfrontiert und streben daher nach Entgrenzung der tradierten Genres; nach berschreitung der Kunst zum Leben hin. Vermittelt ber die Darbietung stark a zierender Aktionen wollen sie den unter seiner Zivilisierung leidenden Menschen in einen Rauschzustand versetzen, der gleicherma en vitalisierend wie reinigend wirkt und von einem starken Lusterlebnis begleitet wird. Ihre Vorstellung von der Katharsis vereint diese beiden Momente. Sowohl bei Bahr als auch bei Nitsch geht das kathartische Erlebnis einher mit der Aufhebung der Distanz. Bahr schreibt von der Einswerdung von Subjekt und Objekt im Moment der Ekstase, wenn wir durch Leidenschaften reif zum H chsten werden und in der eigenen wie der fremden Qual Lust f hlen. 93 Und Nitsch berichtet davon, dass sich Aktionist und Zuschauer im Moment der h chsten Erregung ineinander aufl sen und dabei einen rauschzustand erleben, in dem qual und wollust vermischt sind.94 Dabei rekurrieren beide auf Nietzsches Mysterienlehre der Trag die . Im zehnten Kapitel der Geburt der Trag die stellt Nietzsche die Behauptung auf, dass die lteste Form der Kunst nur die Leiden des Dionysos zum Gegenstand gehabt habe,95 die im Zustand der dionysischen Ekstase sympathetisch vom Chor auf den Zuschauer bertragen worden sei.96 In seiner Vorstellung vom leidenden Gott bezieht er sich auf den Zagreus-Mythos,97 der seiner Meinung nach98 im Dionysos90 Nitsch, O. M. Theater-Lesebuch (Anm. 68), S. 50. 91 Nitsch, O. M. Theater-Lesebuch (Anm. 68), S. 281. 92 Zum Vergleich von Nitschs Orgien Mysterien Theater mit dem Dialog vom Tragischen vgl.: Ekkehard St rk, Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater und die Hysterie der Griechen . Quellen und Traditionen im Wiener Antikebild seit 1900, M nchen: Fink 1987. 93 Bahr, Tageb cher, Skizzenb cher, Notizhefte (Anm. 55), S. 350. 94 Hermann Nitsch, O. M. Theater , abgedruckt in Hummel (Hrsg.), Wiener Aktionismus. Sammlung Hummel, Wien (Anm. 85), S. 51. 95 Nietzsche, Die Geburt der Trag die (Anm. 37), S. 71. 96 Vgl. hierzu Kapitel 8 der Geburt der Trag die; erl uternd hierzu: Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Trag die aus dem Geiste der Musik (Kap. 1-12), Stuttgart-Weimar: Metzler 1992, S. 202 f. 97 Vgl. hierzu: Nietzsche, Die Geburt der Trag die (Anm. 37), S. 62, 143, 208, 216, 259 ff., 339. 98 Nietzsche folgt dabei C. O. M ller, der dieses bereits einige Jahre vor ihm behauptet hat. Vgl. hierzu: Renate Schlesier, Lust durch Leid: Aristoteles Trag dientheorie und die Mysterien. Eine interpretationsgeschichtliche Studie , in: Walter Eder (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Akten ei-

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kult nachempfunden wurde, bevor er in sublimierter Form Gegenstand der fr hen Trag die geworden ist.99 Nietzsche schildert das tragische Erlebnis in seiner Urform als distanzlos.100 Im Prozess der Anschauung ger t der Zuschauer in Ekstase und verwandelt sich in den Satyrchor.101 Auf diese Weise nimmt er unmittelbar am Geschehen teil. Im Zustand der h chsten Erregung sp rt er das Leiden des Dionysos (Zagreus) am eigenen Leib, den er mit dem Gott teilt, und daraus Lust gewinnt.102 Bahr und Nitsch machen sich Nietzsches Thesen zu eigen und identi zieren die dionysische Ekstase als vitalisierendes Element der von ihnen visionierten Kunst. Die Gegen berstellung von Bahr und Nitsch zeigt, dass sich beide in ihren Annahmen sehr hnlich sind. Ihrer Erregungslogik folgend entgrenzen sie die Kunst, um mit dem Laster und dem Orgien Mysterien Theater neue Genres zu etablieren. Da sie von der tonischen Wirkung drastischer Gegenst nde ausgehen, lehnen sie ein separatives Katharsisverst ndnis ab und setzen ihm ein subjektives entgegen. Im Gegensatz zu Bahr l sst Nitsch seinen Worten jedoch Taten folgen. W hrend Bahrs Beschreibungen von Ekstase und Exzess Fiktion bleiben, macht Nitsch Ernst. In einem Text mit dem Titel Wir brauchen Exzesse aus dem Jahr 1970 ist zu lesen: [Die] aktionsabl ufe des o. m. theaters werden nicht gespielt; sie ereignen sich wirklich. 103 Und auch wenn der dargebotene Schrecken choreographiert und aufgrund seines Au hrungscharakters sthetisiert ist, so werden die Tiere doch real ausgeweidet, penetriert wird tats chlich und im Blut wird wirklich gebadet. Ob, wie von Nitsch behauptet, aber tats chlich Abreaktion und Triebdurchbruch bei allen an der Aktion Beteiligten statt nden,104 ist folgt man Rezensionen zumindest zu bezweifeln.105 In den 80er Jahren wurde Nitsch in einem Interview auf die Parallelen zu Bahr angesprochen, woraufhin er entgegnete, dass er Bahrs theoretische Arbeit nicht kenne, da er ihn als Schriftsteller nicht sch tze.106 Ekkehard St rk, dem als ersten die bereinstimmungen zwischen Bahr und Nitsch aufgefallen sind, zieht daraus den Schluss, da die Distanz von sechzig Jahren, durch die die beiden Texte ge-

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nes Symposiums 3.-7. August 1992. Bellagio, Stuttgart: Franz Steiner 1995, S. 389-415, hier S. 397 ff. Vgl. hierzu Kapitel 10 der Geburt der Trag die; erl uternd hierzu von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (Anm. 96), S. 267 ff. Nietzsche, Die Geburt der Trag die (Anm. 37), S. 59. Vgl. hierzu Nietzsche, Die Geburt der Trag die (Anm. 37), S. 61. Vgl. hierzu Nietzsche, Die Geburt der Trag die (Anm. 37), S. 33. Hermann Nitsch, Wir brauchen Exzesse , in: Neues Forum (J nner 1970), S. 57-58, hier S. 58. Vgl. hierzu Nitsch, Wir brauchen Exzesse (Anm. 103), S. 58. Vgl. hierzu eine Rezension zum 7. Abreaktionsspiel. Der Autor berichtet freundlich. Einen Triebdurchbruch hat er aber nicht erfahren. K. H. Kramberg, Unter Ausschlu der ffentlichkeit , in: S ddeutsche Zeitung (2. 3. 1970), abgedruckt in: Spera, Hermann Nitsch. Leben und Arbeit (Anm. 79), S. 143. St rk, Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater (Anm. 92), S. 71.

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trennt sind, nur von der Kontinuit t einer Tradition berbr ckt wird, die ihre wesentlichen Voraussetzungen und Anregungen in gemeinsamen Quellen ndet. 107 Im Fall von Bahr und Nitsch scheint es vor allem die kreative Kombination der Lekt re von Freud/Breuer und Nietzsche zu sein, die die Wiener Tradition des Vergn gens an drastischen Gegenst nden begr ndet.

107 St rk, Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater (Anm. 92), S. 71.

GEGENWARTSKULTUR

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DRASTIK UND WARENWELT

Drastik hat bislang im sthetischen Diskurs eine marginale Rolle gespielt. Abgesehen von einigen Bestimmungsversuchen in Dietmar Daths essayistischem Briefroman Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit, dominiert in Bezug auf sie ein alltagssprachlicher Gebrauch. Dabei l sst sich allerdings der Eindruck gewinnen, dass immer mehr Sachverhalte, Ereignisse oder Bilder als drastisch rmieren. Konsultiert man Googles Ngram Viewer, eine Statistik, die verzeichnet, wie h u g Begri e in den von Google Books erfassten B chern vorkommen, dann ist im Fall von Drastik und drastisch im deutschsprachigen Raum ab den 1960er Jahren ein steiler Anstieg festzustellen. Wirft man einen kursorischen Blick in Google News, dann scheint es, als werde das Epitheton drastisch in allererster Linie metaphorisch verwendet, und zwar insbesondere dann, wenn es um fallende bzw. steigende Bilanzen geht. Als drastisch gelten K rzungen (des Lohns, von Sozialleistungen) bzw. Erh hungen (von Steuern oder von Fl chtlingszahlen). Die Vokabel f llt ferner, wenn die Folgen politischer Entscheidungen und Handlungen in ein grelles Licht ger ckt werden sollen. Auf Kulturseiten wird ber die Drastik medialer Darstellungen diskutiert, ber drastische Worte sowie insbesondere ber drastische Bilder , von denen es in Zeiten umfassender medialer Vernetzung mehr denn je gibt. Nicht selten werden diese beispielsweise von Terrororganisationen oder kriminellen Kartellen kalkuliert zur Machtdemonstration produziert. Ein solches Kalk l kann freilich nur dann aufgehen, wenn auf Rezipienten- wie auf Medienseite ein entsprechendes Bed rfnis vorausgesetzt werden darf. Gleichzeitig mehren sich k nstlerische Positionen, die fragen, wie man in einer Welt, die von Texten und Bildern berschwemmt ist,1 berhaupt noch eine gewisse Wirkung bei den abgestumpften Betrachtern erreichen kann. Drastik ist hier eine m gliche Antwort. Damit werden solche Positionen aber unvermeidlich zu Akteuren auf einem Markt der Aufmerksamkeiten, und zwar inmitten von popul ren Formaten wie Werbung, Videoclips oder Filmen, die stets aufs Neue aushandeln, wie sehr sie die Drastik ihrer Darstellungen erh hen m ssen, um ein Massenpublikum zu nden, bzw. wie weit sie dabei gehen k nnen, ohne dieses zu verlieren. Man hat es bei der Drastik also mit einem durch und durch zeitgen ssischen Ph nomen zu tun, dessen Bedeutung indessen di us erscheint. Der vorliegende Text versucht, in dreifacher Hinsicht zu einer Konturierung beizutragen. Erstens wird in einer allgemeinen berlegung die aktuelle Konjunktur alternativer sthetischer 1 Vgl. etwa auch: W.J.T. Mitchell, Cloning Terror. The War of Images, 9/11 to Present, Chicago: University Press 2011.

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Kategorien jenseits des Sch nen und Erhabenen dargestellt und gefragt, welchen Platz Drastik in diesem Zusammenhang einnehmen k nnte. Zweitens widmet sich die Untersuchung unter erz hltheoretischen und semiotischen Gesichtspunkten einer Verfahrensseite des Drastischen, wie sie in Daths sthetisch ambitionierter Lesart des Ph nomens zum Vorschein kommt. Im dritten Abschnitt wandert der Blick von solch avancierter Drastik wieder zur ck zur konomisierten Unterhaltungsindustrie und zum Spektakel. In Bezug auf die Warenwelt und die Werbung wird diskutiert, wieviel Drastik in der Mainstream-Kultur m glich ist bzw. welche Funktion Drastik hier besitzt und welchen Ein uss dies f r die Einsch tzung k nstlerischer Drastik hat. 1. Drastik im Feld alternativer sthetischer Kategorien In einem Aufsatz mit dem Titel A Plea for Excuses: The Presidential Addresss erkl rt der Sprachphilosoph John L. Austin, warum im Zentrum seiner Analysen nicht die Besch ftigung mit dem Begri s- und Kategorienrepertoire der Philosophie steht, sondern die Auseinandersetzung mit der ordinary language. Our common stock of words , f hrt er aus, embodies all the distinctions men have found worth drawing, and the connexions they have found worth marking, in the lifetimes of many generations. 2 Zweifellos werden dadurch, so Austin, eine F lle von Di erenzierungen ans Tageslicht geholt, durch die sowohl die herk mmliche philosophische Systematik als auch jede akademische armchair-Bequemlichkeit vor Herausforderungen gestellt werden. Eine hnliche Belebung w nscht sich Austin auch f r andere Disziplinen, etwa f r die sthetik: How much it is to be wished that similar eld work will soon be undertaken in, say, aesthetics; if only we could forget for a while about the beautiful and get down instead to the dainty and the dumpy .3 Heute, fast 50 Jahre nach Austins Bemerkung, scheinen die Zeichen nicht schlecht daf r zu stehen. Die Devise Get down to the dainty and the dumpy, also runter zum Niedlich-Zarten und Plumpen, stellt im sthetischen Diskurs keine skurrile Ausnahmeposition mehr dar. Insbesondere die hyperkommodi zierte Welt der ber ussgesellschaften gibt Anlass dazu. F r den amerikanischen Publizisten Daniel Harris ist es beispielweise eine veritable Aufgabe, to recover the repressed aesthetic data of our lives; to make this vast archive of subliminal images accessible to conscious analysis .4 Der Blick f r sthetische Formentscheidungen, so Harris These, sei nicht nur anhand der blichen Kunstgegenst nde oder an gewohnten Orten wie dem Museum zu kultivieren, sondern auch angesichts von ketchup bottles, subway 2 John L. Austin, A Plea for Excuses: The Presidential Address , in: Proceedings of the Aristotelian Society 57 (1956-1957), New Series, S. 1-30, hier S. 8. 3 Austin, A Plea for Excuses (Anm. 2), S. 9. 4 Daniel Harris, Cute, Quaint, Hungry and Romantic. The Aesthetics of Consumerism, Boston: Da Capo Press 2001, S. xi.

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passes, digital alarm clocks, placemats, heating pads, and thermoses .5 Die Kapitel von Harris Buch lauten: Cuteness , Quaintness , Coolness , e Romantic , Zaniness , e Futuristic , Deliciousness , e Natural , Glamorousness und Cleanness . Zwei dieser Kennzeichnungen cute und zany, was man mit s oder niedlich bzw. kasperhaft oder irre komisch bersetzen k nnte hat die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai aufgegri en und, erg nzt um eine dritte interesting , zum ema einer Monographie gemacht, deren Untertitel schlicht Our Aesthetic Categories lautet.6 Es geht hier also nicht um irgendwelche Abseitigkeiten. e zany, the interesting, and the cute , argumentiert Ngai, that three aesthetic categories, for all their marginality to aesthetic theory [...], are the ones in our current repertoire best suited for grasping how aesthetic experience has been transformed by the hypercommodi ed, information-saturated, performancedriven conditions of late capitalism. 7 Unter zaniness ist laut Ngai eine sthetik des Performativen zu verstehen, die nicht nur als kunstvolles Spiel, sondern als a ective labor funktioniere: als Arbeit an und mit den Gef hlen, als clowneske berspitzung und Parodie des ubiquit ren Imperativs, auch im Arbeitsleben spontan und kreativ sein zu m ssen.8 Betri t zaniness also den Bereich konomischer Produktion, so wird die gewisserma en altehrw rdige, auf Friedrich Schlegel zur ckgehende Kategorie des Interessanten der Zirkulation zugerechnet, man k nnte auch sagen: der modernen Aufmerksamkeits konomie. F r die Konsumtion schlie lich ist laut Ngai cuteness die zentrale sthetische Gr e. In dieser b ndle sich the surprisingly wide spectrum of feelings, ranging from tenderness to aggression, that we harbor toward ostensibly subordinate and unthreatening commodities. 9 Mit anderen Worten: sthetik besteht f r Ngai weder in der Perpetuierung etablierter Kategorien wie sch n , erhaben oder auch h sslich und ekelhaft . Sie geht vielmehr von allt glichen Situationen aus, in denen sthetische Einstellungen und Erfahrungen zu verzeichnen sind, und verfolgt die daraus gewonnenen kategorialen Unterscheidungen cute, zany, interesting in der Sph re der Kunst, wo sie nicht einfach abgebildet, sondern verhandelt werden. Im Hintergrund von cute, zany und interesting schimmert freilich auch ein Konzept, das auf eine gewisse Karriere im Rahmen einer alternativen sthetik zur ckblicken kann. Die Rede ist von Camp, jenem Begri , den Susan Sontag in einem 5 Harris, Cute, Quaint, Hungry and Romantic (Anm. 4), S. xi. 6 Sianne Ngai, Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge Mass.-London: Harvard University Press 2012. 7 Ngai, Our Aesthetic Categories (Anm. 6), S. 1. 8 Vgl. dazu Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativit t. Zum Prozess gesellschaftlicher sthetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012. Luc Boltanski und ve Chiapello, Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel , in: Christoph Menke und Juliane Rebentisch (Hrsg.), Kreativit t und Depression. Freiheit im gegenw rtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos 2010, S. 18-37. 9 Ngai, Our Aesthetic Categories (Anm. 6), S. 1.

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Essay aus dem Jahr 1964 ber hmt gemacht hat. Zentral ist auch hier eine konsequente sthetisierung der Welt, die ausdr cklich not in the terms of beauty vollzogen wird. 10 Many things in the world , so Sontag zu Beginn ihres Essays, even if they have been named, have never been described. One of these is the sensibility unmistakably modern, a variant of sophistication but hardly identical with it that goes by the cult name of Camp .11 Dabei geht es zentral darum, how to be a dandy in the age of mass culture ,12 wie sich also Ra nesse und Verfeinerung auch in einer Welt grellen Massenkonsums bzw. der Nivellierung von Unterschieden aufrecht erhalten lassen. Zur Debatte steht mithin eine sthetik der a uent society . Als tender feeling teilt Camp dabei Eigenschaften mit der cuteness, durch seine gleichzeitige A nit t zu arti ce and exaggeration weist es dar ber hinaus A nit ten zur zaniness auf. 13 Der Unterschied, auf den es Ngai ankommt, liegt allerdings in der Verspieltheit von Camp, seiner Tendenz, fortw hrend serious into the frivolous 14 zu verkehren. Vor dem Ernst steht das Spiel, die Hervorhebung des Stils, an attitude which is neutral with respect to content , und diese Haltung wird von Sontag als disengaged, depoliticized or at least apolitical ausgeflaggt.15 Was w re f r die dandyhafte Pose auch weniger denkbar, als ein direkt artikuliertes Engagement? Dennoch betont Sontag, dass Camp dadurch noch lange nicht f r reine Beliebigkeit stehe. Es gehe vielmehr um eine komplexere Haltung gegen ber dem Ernst: One can be serious about the frivolous, frivolous about the serious .16 So ist Camp durchaus beseelt von einem democratic esprit ?17 Und wie anders als politisch ist seine N he zu outstanding creative minorities in contemporary urban culture zu bezeichnen, zu den two pioneering forces of modern sensibility , namentlich Jewish moral seriousness and homosexual aestheticism ? Die irony ,18 die von Sontag mitten in diesen Kontext situiert wird, h tte demnach eine politische F rbung. Nicht zu vergessen ist schlie lich auch, dass die Konsum sthetik des Camp sensibel bleibt f r die psychopathology of a uence .19 Dennoch schrillen bei Ngai angesichts von Begri en wie irony oder playful die Alarmglocken. Ironic detachment sei angesichts einer neoliberalen Arbeitswelt, deren hegemonialer Anspruch mit der allgegenw rtigen Forderung nach Kreativit t und Flexibilit t nicht in Frage gestellt, sondern best tigt werde, schlicht keine Option. Pain of failure and loss , von denen Camp ebenso programmatisch gekennzeichnet sei wie zaniness, werde von Camp allzu leichtfertig in victory and 10 Susan Sontag, Notes on Camp , in: dies., Against Interpretation and other Essays, New York: Farrar, Straus & Giroux 1966, S. 275-292, hier S. 277. 11 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 277. 12 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 288 f. 13 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 275. 14 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 276. 15 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 277. 16 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 288. 17 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 289. 18 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 290. 19 Sontag, Camp (Anm. 10), S. 289.

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enjoyment bersetzt.20 Zaniness stelle hingegen mit einer gewissen Verzweiflung die Unf higkeit zu einer solchen Erm chtigung aus. The camp performer tends to be the author of the joke , kritisiert Ngai, whereas the zany performer can only be its object .21 Bei aller Aufmerksamkeit f r sthetisch Seltsames und f r Formen, die durchaus etwas Spielerisches haben, dominiert bei Ngai am Ende also der Ernst. Damit ndet sie sich in einer wachsenden Gesellschaft post-postmoderner Theoretiker, die betonen sie nun Pr senz,22 Postsemiotik bzw. -hermeneutik,23 Viszeralit t24 oder Immersion25 die Kategorie des Realen, des von Zeichensystemen Unvermittelten und -verstellten, gegen das von gro en Teilen der Postmoderne als unhintergehbar aufgefasste Symbolische bzw. Mediale zu Ehren kommen lassen. Auch Drastik geh rt in diese Reihe. Laut Dietmar Daths essayistischem Briefroman Die salzwei en Augen ist sie recht eigentlich im Bereich des letzten Drecks zu Hause, in kulturindustriellen Produkten wie Horror lmen der B-Kategorie, Pornos, Reality TV oder Heavy Metal.26 Freilich herrschen auch in diesem absichtlich besonders schlecht ausgeleuchteten, peinlichen und esen Winkel der Kultur Codes und somit die Gesetze des Semiotischen.27 Schlechter Geschmack, sch bige Produktionsbedingungen, extreme Oberfl chlichkeit, rein auf E ekt reduziertes, in jeder Hinsicht rudiment res und krudes Kunsthandwerk, Drogenmi brauch, Prostitution und Psychopathologie gehen stets mit Stilen einher bzw. sind nicht anders zu lesen denn als E ekte von Darstellungskonventionen.28 Daher will ein einigerma en reflektierter Drastikbegri [...] nicht einfach auf Kunstlosigkeit , Authentizit t , Unmittelbarkeit hinaus: aber doch auf den Ernst 29 oder vielleicht besser: auf eine Variante des Ernsts, die sich nicht so unumwunden in ein B umchen-wechsle-dich-Spiel mit der Frivolit t einl sst wie Susan Sontags Camp. Drastik stehe, so Esteban Sanchino Mart nez, f r die andere, extreme Seite der kulturindustriellen Medaille , sie stelle das Komplement zur h u g als bunt, ober20 Ngai, Our Aesthetic Categories (Anm. 6), S. 12. 21 Ngai, Our Aesthetic Categories (Anm. 6), S. 250, FN 46. 22 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Materialit t / Das Nichthermeneutische / Pr senz Anekdoten ber epistemologische Verschiebungen , in: ders., Diesseits der Hermeneutik. Zur Produktion von Pr senz, Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 17-37. 23 Vgl. Dieter Mersch, Posthermeneutik. Deutsche Zeitschrift f r Philosophie, Sonderband 26, Berlin: Akademie Verlag 2010. 24 Vgl. Robin Curtis, Viszeralit t und Monotonie: Girls , Spring Breakers , in: Pop. Kultur & Kritik 3 (2013), S. 66-70. Zum viszeralen Drone Metal der Band Sunn0))): Diedrich Diederichsen, ber Pop-Musik, K ln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. 357. 25 Vgl. Frances Dyson, Sounding New Media. Immersion and Embodiment in the Arts and Culture, Berkeley-Los Angeles-London: University of California Press 2009, S. 107-136. 26 Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 15. 27 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 15. 28 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 15. 29 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 19.

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fl chlich, sinnlich, unterhaltend, in Teilen kitschig beschriebenen Welt des Camp dar.30 In drastischen Darstellungen werde der anti-idealistische Impuls[] der Popsthetik (wie Sinnlichkeit, Hedonismus und Materialismus) sowohl motivisch als auch formal ins Extreme getrieben.31 In einer Welt, in der Konzepte wie sthetischer Schein , symbolische oder mediale Vermittlung dominieren, steht das Drastische somit f r den Einschlag des Realen, der uns physisch nicht selten unangenehm zu ber hren wei und Fragen der Hermeneutik eher auf den Bereich k rperlicher Reaktionen verschiebt. Von einem solchen A ektregime wird eine m gliche Antwort auf das Problem erwartet, wie wir [...] eigentlich noch Wirkliches erfahren k nnen .32 Wegrei en der Schutzh lle, Eindringen in den K rper, und zwar nicht nur im Dargestellten, sondern auch durch die Art der Darstellung und ihre Wirkung auf den Rezipienten. Das griechische Adjektiv drastik s, was soviel hei t wie tatkr ftig oder wirksam , fasste im deutschen Sprachraum Fu im 18. Jahrhundert, und zwar in substantivierter Form: in Gestalt jener Drastika , die Zedlers Universal-Lexicon verzeichnet, Abf hrmittel, welche eine k rperliche (und wom glich seelische) Verpanzerung ebenso zu l sen anstrebten wie schon die Katharsis im griechischen Drama.33 Auch im Begri Drama steckt dieselbe Wortwurzel, das griech. Verb dr n ( handeln , tun ).34 Drastik weist also eine konzeptuelle A nit t zu Darstellungsformen auf, die weniger auf eine intellektualisierte, moralisch distanzierte oder psychologisch reflektierte Rezeption zielen als auf unmittelbare und heftige k rperliche Wirkung. Kaum erstaunlich, dass dabei Formen im Mittelpunkt stehen, die nicht sch n zu nennen sind, und zwar weder im Sinne von harmonisch und balanciert, noch formal fein ausdi erenziert oder komplex. A nit ten unterh lt die Drastik vielmehr zum Bereich jener nicht mehr sch nen K nste , die sich seit dem achtzehnten Jahrhundert auch in der sthetischen Theorie emanzipieren. Mit dem Spitzenvertreter dieser Spezies, dem Erhabenen, sollte man die Drastik allerdings nicht kurzschlie en.35 In Kants idealistischer Variante h ngt das Erhabene zwar an einem unf rmigen Gegenstand , der gleichsam gewaltt tig f r die Einbildungskraft erscheinen mag und der anders als beim Sch nen durch das Ge30 Esteban Sanchino Mart nez, Wirklichkeitserfahrung in der Massenkultur. Drastik als moderne Erlebensweise , in: polar. Zeitschrift f r politische Philosophie und Kultur 16 (2014), S. 29-33, hier S. 29. 31 Mart nez, Wirklichkeitserfahrung (Anm. 30), S. 29. 32 Mart nez, Wirklichkeitserfahrung (Anm. 30), S. 32. 33 Vgl. Dirck Linck, ber die M glichkeit des popkulturellen Vergn gens an drastischen Gegenst nden , in: ders. und Martin V hler, Grenzen der Katharsis in den modernen K nsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin: De Gruyter 2009, S. 293-322. 34 Vgl. Anna-Catharina Gebbers, An den R ndern des Denkbaren. ber die Kunst der Ersch tterung , in: polar. Zeitschrift f r politische Philosophie und Kultur 16 (2014), S. 127131, hier S. 127. 35 Anders Thomas Melle, Vom Krassen. Pr senz statt Referenz , in: polar. Zeitschrift f r politische Philosophie und Kultur 16 (2014), S. 26-27.

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f hl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskr fte bestimmt ist.36 Erhaben ist f r Kant aber nicht der Gegenstand selbst, beispielsweise der durch die angels chsischen Erhabenheitstheoretiker topisch gewordene weite, durch St rme emp rte Ozean , ist sein Anblick doch gr ßlich . Erhaben ist nach Kants Verst ndnis vielmehr die Abwendung des Subjekts von einem solchen Gegenstand hin zu den Ideen der Vernunft , das Gef hl , durch welches das Gem t motiviert wird, die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die h here Zweckm ßigkeit enthalten, zu besch ftigen .37 Besser passt die schmuddela ne Drastik in jenen sthetischen Kramladen ,38 als welcher die moderne sthetik in Friedrich Schlegels Studiumsaufsatz bezeichnet wird. In einer Zeit, so Schlegels f r das Jahr 1795 bemerkenswerte Diagnose, die nach immer heftigere[n] und sch rfere[n] Reizen giert,39 nden sich neben dem Interessanten, f r dessen theoretische Nobilitierung Schlegels Essay (bei aller Kritik in der Sache) steht, auch allerlei ekelhafte Krudit ten .40 So ist die Rede vom Choquante[n] , das abenteuerlich, ekelhaft oder gr ßlich , also nach klassischen Zurechnungen wider sthetisch sei,41 vom Piquante[n] oder vom Frappante[n]. 42 Deutet das Piquante etymologisch auf einen, wenn auch punktuellen, Angri auf die Unversehrtheit der K rperoberfl che, so wird das Frappante, das eigentlich einen Schlag bedeutet, als Stachel f r die Einbildungskraft in denselben Bildbereich integriert. 2. Drastische Verfahren Neben dem aggressiven Duktus und der A nit t zur Kulturindustrie benennt Dath auch solche Charakteristika der Drastik, die ihre Form bzw. ihre Semiotik betre en. Erstens ist Drastik laut Dath buchst blich gemeint, das Dargestellte ist also keine Interpretationssache, und zweitens sei Drastik insistent, d. h. sie weise Z ge des Repetitiven bzw. eines qu lend in die L nge gezogenen Verharrens bei Darstellungen auf, die kaum ertr glich scheinen. Buchst blichkeit als vehement und ostentativ eben nicht nur anti-, sondern vor allem unb rgerliche Verfahrensweise in der Kunst, geh rt nach Dath so unabl s36 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, herausgegeben von Manfred Frank und V ronique Zanetti, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2009, 23, S. 576 f. 37 Kant, Kritik der Urteilskraft (Anm. 36), S. 576 f. 38 Friedrich Schlegel, ber das Studium der griechischen Poesie , in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean- Jacques Anstett und Hans Eichner. Erster Band: Studien des klassischen Altertums., herausgegeben von Ernst Behler, Paderborn-M nchen-Wien: Schoening 1979, S. 217-367, hier S. 222. 39 Schlegel, Studium (Anm. 38), S. 254. 40 Schlegel, Studium (Anm. 38), S. 223. 41 Vgl. dazu auch Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999. 42 Schlegel, Studium (Anm. 38), S. 254.

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lich zur Drastik wie Symbolik zum Sakralen. 43 Die Rede ist also von einer Darstellung, die, um es mit einer Formulierung aus Walter Benjamins Trauerspielbuch zu sagen, nicht zur Auferstehung treulos berspringt , sondern die im Schrecklichen, im Verh ngnis verharrt .44 So zeige ein d nne[s] Filmchen wie Yoko Onos Rape , wie Dath kritisiert, lediglich eine metaphorische Bel stigung einer jungen Frau durch einen Kameramann. Dies provoziere, so die polemische Bewertung, nichts als geistreiche Vermutungen dar ber, da Gemeinheiten dieser intimen Sorte eben nur mit Frauen zu machen sind und folglich der Film das Blickregime des Sexismus analysiert. Typische Mittelstandsneurosen , be ndet Daths jugendlicher Briefautor mit sorgsam kultiviertem Proletatriergestus: Wenn K nstler, deren Scha en mich interessiert und die ich zur Kategorie Drastik rechne, auf ein Werk Vergewaltigung schreiben, dann gibt es da auch etwas ber eine Vergewaltigung zu lesen, zu sehen oder zu h ren; ob mit den besten oder ganz b sen, ob mit rein geldabgreiferischen oder volksp dagogischen Absichten.45 Drastik verst rt demzufolge, weil sie immer sie selbst bleibt und den Ausweg in hermeneutische Auslegung oder symbolische bzw. allegorische Aufladung als Formen der Sinngebung verbaut. Ein Zombie im drastischen Sinne ist nicht von Anfang an augenzwinkernd als Platzhalter der Verdammten dieser Erde zu verstehen, eine Lesart, die George A. Romero, der Regisseur des Genreklassikers Dawn of the Dead, in Interviews freilich gerne bef rdert hat, sondern der Zombie [bedeutet] zun chst mal einen Zombie . Und eine m nnerfressende Frau sollte dem Publikum nicht plump als feministisches Rache-Konstrukt untergejubelt werden , sondern meint nicht mehr als eine m nnerfressende Frau. 46 Das Komplement zu solcher Buchst blichkeit ist die Insistenz. Darunter sind zwei Aspekte zu verstehen. Zun chst eine Art berausf hrlichkeit oder -einl sslichkeit, man k nnte auch sagen, ein Hyperrealismus in einem Bereich, dem man sich normalerweise nicht so genau zuwendet. Die Datendichte der drastischen Darstellung kommt einem h her vor, weil Daten dabei sind, die man normalerweise unterschlagen w rde .47 Ferner geht es um ein Verharren bei Details, Ereignissen oder Handlungen, die schon bei der ersten Nennung berfl ssig, m glicherweise sogar unertr glich gewirkt haben. Als Beispiel weist Daths Erz hler Bret Easton Ellis Roman American Psycho aus. Bekannt ist dieser Text f r seine seitenlangen Beschreibungen stets exakt gelabelter 43 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 17. 44 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften I/1, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenh user, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 203-430, hier S. 406. 45 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 16 f. 46 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 19. 47 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 30.

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Luxusbekleidung, -nahrungsmittel oder -einrichtungsgegenst nde sowie f r die schockierend ausf hrliche und gewaltstrotzende Darstellung von Folter- und Mordexzessen. Es reicht Ellis nicht , schreibt Dath, das lmische Prinzip von Schnitt, Gegenschnitt und Wiederholung zu adaptieren und dann gebe ich ihr noch mal Tr nengas... , ... und dann gebe ich ihr noch mal Tr nengas, was gar nicht n tig gewesen w re... nein, sogar die Wiederholungsworte wieder , immer wieder und noch mal selbst werden mehr als einmal gebraucht.48 Von solcher Ausf hrlichkeit werde jede Verallgemeinerbarkeit [...] zerrissen . Wir erfahren zu viel, als da man das noch auf irgendwelche Abstrakta projizieren k nnte. Zu sehen ist nur noch de[r] Einzelfall, de[r] Moment , und das, was dargestellt wird, ist buchst blich, ja sogar pers nlich zu nehmen.49 Es reicht, aufh ren , soll die Emp ndung beim Lesen sein. Der drastische E ekt kommt hier also nicht zuletzt auch durch Textverfahren zustande, welche die Darstellung weder in einen lebensweltlich nachvollziehbaren, psychologisch plausiblen, sthetisch wohlgeordneten oder lexikalisch austarierten Frame entlassen, die somit nicht realistisch verfahren und sich dadurch ebenso gegen leichte Konsumierbarkeit sperren wie gegen vorschnelle Sinnzuweisung. Wie ist das zu verstehen? Frames sind nach Au assung der Linguistik Kontiguit tsverb nde 50. Kontiguit t bedeutet im Wortsinn Ber hrung. Es geht also um eine Darstellung, deren Elemente fest miteinander verbunden sind. Dies ist in dreifacher Hinsicht zu unterscheiden: Erstens k nnen damit lebensweltliche Erfahrungszusammenh nge gemeint sein. Denken wir beispielsweise an einen Restaurantbesuch , dann gehen wir von Kellnern aus, die G sten Speisen und Getr nke servieren, es gibt Servietten und Besteck, nach dem Essen muss man eine Rechnung bezahlen. Ein Self-Service w re kein Bruch mit einem solchen Frame, sondern w rde seine Geltung nur ex negativo best tigen. Zweitens gibt es Diskurstraditionen, etwa gattungs- oder genreabh ngige blichkeiten der Darstellung. Drittens sind davon syntagmatische, sich im Textverlauf etablierende Kontexte zu unterscheiden. Damit ist zun chst das gemeint, was in der Linguistik lexikalische Solidarit t oder auch usuelle Kookkurenz genannt wird,51 Routinen der gemeinsamen Verwendung von Lexemen. Betrachtet man etwa das Leben eines Wall Street-Yuppies, dann ist es nicht ganz abwegig, eine gewisse moralische Nonchalance zu erwarten. Diese Erwartung verdankt sich m glicherweise weniger lebensweltlichen Kenntnissen als Diskurstradi48 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 69. 49 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 68. 50 Richard Waltereit, Metonymie und Grammatik , zit. n. Moritz Ba ler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine kulturpoetische Text-Kontext-Theorie, T bingen: Narr Francke 2005, S. 56. 51 Vgl. Ba ler, Die kulturpoetische Funktion (Anm. 50), S. 56.

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tionen man denke nur an einschl gige Hollywood lme wie Wall Street mit Michael Douglas. Ein bestialischer Massenm rder w re in diesem Rahmen aber noch l ngst nicht zu erwarten. Tauchte aber doch einmal einer auf, dann w rden dessen Taten wohl eher nicht akribisch geschildert. Nicht viel anders steht es in Bezug auf die Inneneinrichtung seiner Wohnung. Ein paar Accessoires sollten da schon stehen, auch ein Yuppie muss schlie lich irgendwie wohnen, und durch seine Einrichtungsgegenst nde wird er m glicherweise auch pr gnant charakterisiert. Wenn man den Test macht und sich vorstellt, wie das konkret aussehen w rde, dann s he man mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Art Penthouse mit gro en Fensterfronten vor sich, eher k hl im modernistischen Stil, nicht sehr vollgestellt. Seitenlange Beschreibungen erforderte dies nicht. Die Exuberanz der Darstellung diente auch nicht der syntagmatischen Kontextualisierung. Ein realistischer Text wird n mlich gerade dadurch bestimmt, dass er niemals alles erz hl[t] .52 Vitium est ubique quod nimium est ,53 hei t die entsprechende Devise aus der Rhetorik: Zuviel ist zuviel und deshalb ein Malum. Es besteht die Anweisung, in Beschreibungen einigerma en sparsam zu verfahren, weil der E ekt sonst nicht die gew nschte perspicuitas ist, der Durchblick aufs Dargestellte, sondern obscuritas, ein Sich-Verheddern in der Vielzahl der Textf den. Nur wenn in der Darstellung eine gewisse konomie herrscht, k nnen syntaktische und semantische Kontiguit t zusammenstimmen. In einem solchen Fall erfolgt der bergang von der Textebene zur Darstellungsebene, von der Ebene der Zeichen zur Diegese [...] automatisch. 54 Das meint: Der Text setzt dem Leser keinen Widerstand entgegen, vielmehr korrespondieren die syntaktischen reibungslos mit semantischen Frames und dar ber w lbt sich ebenso automatisiert eine Bedeutungsebene: Welt und Handlung eines Romans [...] bedeute[n] [ihrerseits] noch einmal etwas. 55 Dies w re nach Ma gabe eines solch realistischen Textmodells der, mit Roland Barthes gesagt, kulturelle Code , d. i. eine Art Vulgata des Wissens , dasjenige, was sich sprichworthaft[] , nat rlich[] oder stereotyp[] aus der Text- und Darstellungsebene ergibt, oder wie Barthes zuspitzt: Ideologie .56 Nicht umsonst f hlt sich Barthes von einer solch eingefahrenen realistischen Schreibweise abgesto en. Lust bereitet es ihm stattdessen, den Diskurs zu unterbrechen ,57 etwa in Form einer Aposiopese oder einer Tmesis, einer Zerschneidung des Textfortlaufs. Hierf r eignet sich nach Barthes insbesondere dasjenige, was 52 Moritz Ba ler, Deutsche Erz hlprosa 1850-1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2015, S. 21. 53 Quintilian, Institutionis Oratoriae / Ausbildung des Redners, herausgegeben und bersetzt von Helmut Rahn, Bd 2, VIII 3, 42, Darmstadt: WBG 2006, S. 167. 54 Ba ler, Erz hlprosa (Anm. 52), S. 22. 55 Ba ler, Erz hlprosa (Anm. 52), S. 18. 56 Roland Barthes, S/Z (1970), aus dem Franz sischen bersetzt von J rgen Hoch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 101. 57 Roland Barthes, Die Lust am Text (1973), aus dem Franz sischen bersetzt von Traugott K nig, Berlin: Suhrkamp 1974, S. 15.

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dysfunktional f r die zielgerichtete Entwicklung der Anekdote von einem Knotenpunkt zum n chsten erscheint: beispielsweise lose miteinander verbundene Aufz hlungen (Asyndeta) oder Beschreibungen, mit denen man gewisserma en am Text kleben bleibt, statt in der Handlung vorw rts zu kommen. Der fr he, strukturalistische Barthes sieht durch solche Ph nomene noch semantische Spannung geweckt. Es gehe dabei um ein Spiel der Lockung und Versagung: Es gab, es wird Sinn geben , signalisiere der Text durch seine Unwirtlichkeiten hindurch. Dies verst rke seine phatische Funktion, helfe, den Kontakt zwischen dem Erz hler und dem Empf nger der Erz hlung aufrecht zu halten.58 Der poststrukturalistische Barthes apostrophiert dieselben Ph nomene nun aber als Indizien einer Nutzlosigkeit des Textes .59 Das ist freilich nicht negativ gemeint, denn nur so entziehe sich ein Text dem allm chtigen gesellschaftlichen Tausch- und Nutzenprinzip. Das Resultat besteht in einer Poetik, in deren Zentrum kein Text der Lust mehr steht, kein Text, der befriedigt, erf llt, Euphorie erregt; der von der Kultur herkommt, nicht mit ihr bricht, an eine behagliche Praxis der Lekt re gebunden ist . An dessen Stelle trete ein Text der Wollust: der in den Zustand des Sichverlierens versetzt, der Unbehagen erregt (vielleicht bis zu einer gewissen Langeweile), die historischen, kulturellen, psychologischen Grundlagen des Lesers, die Best ndigkeit seiner Vorlieben, seiner Werte und seiner Erinnerungen ersch ttert [...]. 60 Sowohl die Genese solcher Texte als auch die entsprechende Rezeptionshaltung haben weit mehr als mit jenem Rausch, an den man angesichts der Nomenklatur denken k nnte, mit Akribie und Besessenheit zu tun.61 Nicht zuletzt darin hnelt Barthes Textbegri der Dathschen Drastik, die als Kind der Pedanterie 62 beschrieben wird. Gibt Barthes aber angesichts solcher Ph nomene den Dandy, dem es vor der kleinb rgerlich[en] [...] Massenkultur graust und der Texte der Wollust stattdessen mit aristokratischer Haltung als Luxus 63 genie t, so geriert sich Daths Erz hler als unbedingter Bef rworter der Kulturindustrie .64 Dieser Unterschied in der Haltung kann jedoch nicht den Blick auf Gemeinsamkeiten bei den favorisierten Darstellungsverfahren verstellen. Anders gesagt: Ungeachtet aller Polemik, die Daths Erz hler gegen ber jenen avantgardistische[n] Modernisten anbringt, die mit ihren Hervorbringungen bei den feinsinnigen jungen Herrschaften und h heren T chtern der akademienahen Pop- und Trash-Betrachtung um dero werten Schock einkommen ,65 l sst sich nicht bersehen, dass er die Verfah-

58 Roland Barthes, Einf hrung in die strukturale Analyse von Erz hlungen , in: ders., Das semiologische Abenteuer (1985), aus dem Franz sischen bersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 102-143, hier S. 113 f. 59 Barthes: Lust am Text (Anm. 57), S. 36. 60 Barthes, Lust am Text (Anm. 57), S. 36. 61 Barthes, Lust am Text (Anm. 57), S. 18 f. 62 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 72. 63 Barthes, Lust am Text (Anm. 57), S. 20, 36, 58. 64 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 25. 65 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 16.

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rensseite der Drastik eng an jene Text-Materialismen anlehnt, von denen Barthes in der Lust am Text schreibt. Eine solche Insistenz der Drastik ist demzufolge nicht als ph nomenologische Einl sslichkeit zu interpretieren, nicht als Zeugnis einer sthetische[n] Einstellung , deren Aufmerksamkeit auf die Wirklichkeit selbst den gesamte[n] Reichtum und die gesamte Kompliziertheit des Aktes markiert, mit dem der Beobachter sie wahrnimmt .66 Die Wahrnehmungsweise der Drastik bleibt trotz aller Details programmatisch stumpf. Drastische F lle ist o enbar nicht dazu da, die Weltbegegnung zu verfeinern oder zu beleben. Im Kern bleibt sie ziellose Wucherung, das berborden des Sinnlosen. 3. Zu Geil :D. Drastik in Werbung und Warenwelt Stand Drastik im vorangegangenen Abschnitt unter Verfahrensgesichtspunkten zur Debatte, so soll sie nun abschlie end wieder mit Blick auf ihr angestammtes kulturindustrielles Terrain untersucht werden. Dabei gilt das Augenmerk nicht jenen exquisiten Drastika aus dem Kanon des letzten Drecks , sondern es geht um die Karriere des Drastischen in der Werbung sowie in Darstellungen der Warenwelt. Dath w rde m glicherweise bestreiten, dass hier berhaupt von Drastik die Rede sein kann. Kein Geringerer als Niklas Luhmann aber hat das Drastische als bevorzugtes Darstellungsverfahren der Werbung ausgewiesen. Der Grund daf r ist, dass dort die bewu te Aufmerksamkeit [...] nur extrem kurzfristig in Anspruch genommen werden kann und deshalb mit aller Verve zu sichern, bzw. in sofortige Erinnerung zu verwandeln ist.67 Verkaufsdisplays werden schon in der konsumkulturellen Fr hzeit als wuchtig oder sogar gewaltsam verstanden. So schreibt Walter Benjamin in der Aphorismensammlung Zentralpark aus dem Jahr 1938/39 von einem Eindringen der Schaufenster in die Fassaden und f hrt aus, dass die ausgestellten Waren aus den ihnen gel u gen Zusammenh ngen f rmlich herausgerissen w rden.68 Der Kunstkritiker Paul Westheim spricht 1910 in einem Beitrag der Sozialistischen Monatshefte davon, dass im Wesen des Schaufensters das Anregende und Aufreizende liege, dieses Aufpeitschen der K ufersinne. 69 Einige Jahre zuvor, im Jahr 1896, schreibt Georg Simmel ber die Strategien zur Erheischung von Aufmerksamkeit, auf die er 66 Jan Muka ovsky, Kunst, Poetik Semiotik, herausgegeben und mit einem Vorwort von Kv toslav Chvatík, aus dem Tschechischen bersetzt von Erika Annu und Walter Annu , Frankfurt. M.: Suhrkamp 1989, S. 63. 67 Niklas Luhmann, Die Realit t der Massenmedien, Wiesbaden: Verlag f r Sozialwissenschaften 2009, S. 60. 68 Walter Benjamin, Zentralpark , in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenh user, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 654-690, hier S. 670, Herv. v. mir, HD. 69 Paul Westheim: Schaufenster , in: Sozialistische Monatshefte (1910), zit. nach Gudrun K nig, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien-K ln: B hlau 2009, S. 130 f.

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bei einem Besuch der Berliner Gewerbe-Ausstellung tri t, von einer Paralyse des Wahrnehmungsverm gens oder der Hypnose , durch die der einzelne Eindruck nur noch die obersten Schichten des Bewusstseins streift. Jeder feine emp ndliche Sinn aber , schlie t er an, wird sich durch die Massenwirkung des hier Gebotenen vergewaltigt und derangiert f hlen. 70 Es geht also bei dem, was im Diskurs ber Werbung und Warenwelt als drastisch rmiert, eher um eine schockhafte Erfahrung, die dem Rezipienten ohne Zusammenhang entgegengeschleudert wird, als um jene Form der Insistenz, auf die Dath verweist. Nun ist die Warenproduktion, wie Benjamin erkennt, nicht frei von einer gewissen Dialektik. Denn die stets pr tendierte Neuheit des Produkts (als Stimulans der Nachfrage) geht einher mit dem Immerwiedergleiche[n] der Massenproduktion .71 A Coke is a Coke and no amount of money can get you a better Coke than the one the bum on the corner is drinking. All the Cokes are the same and all the Cokes are good. A Coke is a Coke ,72 lautet Andy Warhols Feier des uniformen Konsumgegenstands. Auch Luhmann spricht angesichts der Werbung von der Stabilisierung eines Verh ltnisses von Redundanz und Variet t .73 Es geht also gewisserma en um die zugespitzteste Attacke auf die Aufmerksamkeit im gleichzeitig mainstreamigsten Mainstream. Dies erkl rt, dass Werbung im Ton durchaus nicht immer aggressiv oder drastisch ist, sondern mitunter sogar von einer Semantik des Sanften oder Zarten dominiert wird. Klopapier hat weich zu sein, Eiscreme wird f r ihren zarten Schmelz gelobt, ein beliebter Schokoriegel tr gt sogar den Namen Tender . Daniel Harris konstatiert die bertragung von Epitheta wie gentle , kind , careful and whisper-soft von Kosmetika auf Putzmittel.74 Sollte sich der Geisteszustand unserer Kultur auch an Flaschen- und Dosenformen [...] ablesen lassen , sinniert der Erz hler von David Wagners Supermarktroman Vier pfel, beispielsweise an denen unserer Haarpflegeprodukte , dann ergibt sich bei einem Blick auf Etiketten wie Total Repair Sp lung, Milde & Balance Therapy, Haar-Anf ller, Lift & De nition, Color & Care, Repair & Pflege eine ziemlich eindeutige Diagnose: Es scheint ziemlich viel kaputt zu sein, wo so viel Reparatur, Therapie und Pflege n tig sind. 75 Die Konsumsph re, soviel ist klar, umschmeichelt die potenziellen Kunden, gibt vor, sie unendlich zu verw hnen und versetzt sie durch ihre schier unendliche Warenpalette zur ck in eine Art Kindheit, in das wunderbare Gef hl des Beschenktwerdens 70 Georg Simmel, Berliner Gewerbe-Ausstellung , in: Gesamtausgabe in 24 B nden, Bd. 17: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeitr ge 18891918. Anonyme und pseudonyme Ver ffentlichungen 1888-1920, bearbeitet und herausgegeben von Klaus Christian K hncke unter Mitarbeit von Cornelia Jaenichen und Erwin Schullerus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 33-38, hier S. 34, Herv. v. mir, HD. 71 Benjamin, Zentralpark (Anm. 68), S. 680. 72 Andy Warhol, The Philosophy of Andy Warhol (From A to B and Back Again), San DiegoLondon: Harvest 1975, S. 100 f. 73 Luhmann, Realit t der Massenmedien (Anm. 67), S. 66. 74 Harris, Cute, Quaint, Hungry and Romantic (Anm. 4), S. 243. 75 David Wagner, Vier pfel, Reinbek: Rowohlt 2009, S. 115.

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durch die Eltern (besonders durch die Mutter). Ohne an das Produkt zu glauben , erkl rt Jean Baudrillard die komplizierte Wirkung von Werbung, glaube man daher an die Werbung, die einen glauben l sst .76 Auch in dem Roman Tag der geschlossenen T r des deutschen Autors und Musikers Rocko Schamoni l dt die Warenwelt zur Kontemplation ein: Zur ck in meiner Wohnung setze ich mich gl cklich vor meinen kleinen Stapel von Einkaufsg tern und versinke in ein ruhiges Betrachten. Andere Leute sitzen zu Hause vor dem Fernseher, ich sitze h u g vor solchen Stapeln und sehe mir die Gegenst nde aus der Produktpalette der globalisierten Warenketten an .77 Diese nat rlich ein bisschen tongue-in-cheek formulierte Szenerie ruft ein Bild regressiver Geborgenheit auf. Beschworen wird ein Zustand der Vollversorgung satt am Busen der Gesellschaft .78 Wie ein Kind freut sich auch der Erz hler aus Wagners Roman Vier pfel ber die Energie und Zuversicht, die so unverhohlen aus [den] Produkten sprechen. Der Zusatz: Sie machen mich glauben, f r kurze Zeit jedenfalls, alles w rde immer besser, markiert allerdings ein Bewusstsein sowohl f r die manipulativen Kr fte der Waren als auch f r den Illusionscharakter der angezeigten Utopie.79 Das Zarte, F rsorgliche, Umhegende der k uflichen Dinge ist deshalb von Momenten der Ambivalenz umgeben. Die softfocused sentimentality ,80 mit der wir vermeintlich umsorgt werden, kann nicht verdecken, dass die Dinge m glicherweise viel aggressiver auf uns einwirken. Die entsprechende Reaktion darauf ist, zumindest imagin r, entsprechend gewaltsam. Violence , so Sianne Ngai, is always implicit in our relation to the cute object .81 Entsprechend bleibt der Anthropomorphismus, von dem die Strategie der cuteness gepr gt ist,82 als Zuschreibung kenntlich, die ebenso narzisstische wie spektakul r-gewaltsame Z ge hat. So erinnert sich der Erz hler von Vier pfel an jene Aufsteller vor wei gekachelten Fleischereien , auf denen meist ein auf den Hinterbeinen stehendes, fr hlich grinsendes Schwein zu sehen gewesen ist, das manchmal mit Kochm tze auf dem Kopf und einem langen Fleischermesser im Spalthuf, eine Tafel h lt, auf der es die Schlachtangebote des Tages, oft also auch seine Artgenossen anpreist. 83 Der Kannibalismus bzw. die Autophagie dieses Arrangements kehrt im Roman mehrfach wieder: Ein St ck Menschenfleisch, gut abgehangen bitte , h rt sich der Erz hler in einem seiner Tagtr ume verlangen. Die Vorstellung (die im brigen an

76 Jean Baudrillard, Das System der Dinge. ber unser Verh ltnis zu den allt glichen Gegenst nden (1991), aus dem Franz sischen bersetzt von Joseph Garzuly, Frankfurt a. M.-New York: Campus. 2. Aufl., S. 206. 77 Rocko Schamoni, Tag der geschlossenen T r, M nchen-Z rich: Piper 2011, S. 15. 78 Schamoni, Tag der geschlossenen T r (Anm. 77), S. 15. 79 Wagner, Vier pfel (Anm. 75), S. 91 f. 80 Harris, Cute, Quaint, Hungry and Romantic (Anm. 4), S. 15. 81 Ngai, Our Aesthetic Categories (Anm. 6), S. 85. 82 Vgl. Harris, Cute, Quaint, Hungry and Romantic (Anm. 4). 83 Wagner, Vier pfel (Anm. 75), S. 45.

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Arbeiten des K nstlerduos Fischli & Weiss erinnert), dass das ganze[] Leben [...] aus Wurstst cken und Fleischpasteten nachgeformt und mit Wacholderzweigen dekoriert, zwischen Bierschinken und Baguettesalami in der Vitrine auszuliegen scheint,84 wird in einer anschlie enden Phantasie weiter entfaltet: Als Kind bekam ich von solchen unterleibslosen Frauen [i. e. weil sie hinter der Theke stehen, HD] meist ein St ck Fleischwurst gereicht, [...] ein St ck Fleischwurst im Ring, deren senfgelbe oder orangefarbene Pelle von der Frau ohne Unterleib mit einem scharfen Messer erst eingeschnitten und dann wie ein St ck Haut, die Handbewegung hatte etwas Grausames, ber die Klinge abgezogen wurde. Der Einschnitt war in der freigelegten, weichen Wurst, die man mir ber die Vitrine reichte, noch zu sehen. Manchmal war ich mir daraufhin gar nicht mehr sicher, ob ich das, was mir da zum Geschenk gemacht wurde, noch essen wollte. Heute, das habe ich schon ein paar mal beobachtet, fragen die Verk uferinnen die begleitenden Elternteile immer um Erlaubnis, bevor sie einem Kind eine Scheibe Gesichtswurst oder eine kleine Gefl gelwiener anbieten.85 Anthropomorphistische Niedlichkeit wird Stichwort Gesichtswurst mit kannibalistischer Grausamkeit berblendet sowie mit einer seltsamen sexuellen Phantasie inklusive Kastrationsdrohung: Damen ohne Unterleib, die an weichen W rsten herumschneiden. Angesichts dieser traum hnlichen Szenerie ist man versucht, auch die Gefl gelwiener , in der sich vorderhand die Sorge um ungesundes Schweinefleisch dokumentiert, auf doppelte Weise beim Wort zu nehmen: Einerseits als gefl gelte Phalli, wie sie in Bildwerken der Antike g ngig waren, aber auch als zu (gesunder) Wurst verarbeitete Wiener. Auch ein Wort wie Elternteile klingt nicht blo ganz anders, es k nnte einem auch ganz anders werden in einem Kontext, in dem darauf verwiesen wird, dass die zur Debatte stehenden W rste nun einmal aus gemahlenen Knochen, Wasser, Fett und Schlachtabf llen bestehen.86 Drastisch im Dathschen Sinne ist das alles wohl dennoch nicht, daf r ist die Darstellung insgesamt zu subtil und zu wenig trashig. Was sich zeigt, ist allerdings, wie sehr Phantasien der Warenwelt mit gewaltsamen, abjekten und zumindest im alltagssprachlichen Sinn drastischen Imaginationen verwoben sind. Auch in den Mainstream der Werbung dringen solche immer wieder ein, jedoch nur unter speziellen u erungsbedingungen, wie ich abschlie end zeigen m chte. Ein Clip f r Maggi-Buchstabensuppe:87 Wir be nden uns im Esszimmer einer o ensichtlich neokonservativen Familie. Das Mittagessen erfolgt schweigend, zu h ren sind nur das Pendel einer Standuhr und das dezente Klackern der L el auf Porzellantellern, von denen die Buchstabensuppe gel elt wird. Der Vater tr gt 84 85 86 87

Wagner, Vier pfel (Anm. 75), S. 47. Wagner, Vier pfel (Anm. 75), S. 47 f. Wagner, Vier pfel (Anm. 75), S. 48. https://www.youtube.com/watch?v=TlUEiq-jRjg (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016).

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Krawatte unterm V-Ausschnitt-Pullover, die Kinder sind im Sonntagsstaat. Alle sitzen mit vorbildlich geradem R cken. Eingezw ngt in diese steife Atmosph re, beginnen die Kinder einen Streit, der, zun chst unbemerkt von den Eltern, mimisch ausgetragen wird. Der Junge streckt dem M dchen die Zunge heraus, auf der er zuvor mit den Buchstabennudeln das Wort Kuh gebildet hat. Das M dchen antwortet auf dieselbe Weise mit Depp . Es folgt ein stummer Nudel-Wortwechsel mit den Beschimpfungen Zicke und Idiot . Pl tzlich schl gt der Vater, der also doch etwas davon gemerkt hat, zu aller Entsetzen heftig auf den Tisch und formt mit Nudeln auf seiner Zunge, adressiert an seine Tochter, das Wort Hure (Abb. 1 und 2). Entsetzt und peinlich ber hrt schauen sich alle an. Der Vater be-

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merkt seinen Fauxpas und korrigiert die Buchstabenfolge zu: Ruhe . Nun ist dieser allseits als frech gelobte und pr mierte, mehr als eine Million Mal angeklickte Werbeclip, der von dem Frankfurter Creative Director Andreas Redlich f r die Werbeagentur Publicis produziert wurde, nie im Fernsehen oder im Kino gezeigt, sondern allein f r die virale Verbreitung gedreht worden. Die Logik der Distribution fordert dort ein h heres Ma an Unkonventionalit t. Da darf dann auch ein drastischer Begri fallen, der in der TV-Werbung nie zugelassen w re. F r den Erfolg in sozialen Netzwerken bildet dies aber geradezu eine Voraussetzung. Die virale Verbreitungsform steigert also die Drastik von Werbung. Best tigen l sst sich dieser Befund, wenn man sich dem Algorithmus an die Hand gibt und auf Youtube von dem Buchstabensuppenclip, der weit ber eine Million Clicks erfahren hat, in der Angebotsleiste verwandter Videos zu einer

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Sammlung der 10 besten deutschen Werbespots 2013 leiten l sst.88 Wie schon die Titel verwandter Rankings wie beispielsweise the creepiest 10-, 10 most shocking-oder the funniest banned commercials vermuten lassen, herrscht hier eine sthetik der Steigerung, die auf grelle E ekte setzt. In unserer Liste tut sich dabei ausgerechnet die Werbung f r den s en Kleinwagen Smart hervor, der gleich mit drei Eintr gen vertreten ist. Einer der Spots unterlegt die Niedlichkeit des Autos mit heftigem Metal-Hip Hop der Band Rage against the Machine. Ein weiterer zeigt hyperrealistische Szenen aus entlichen Verkehrsmitteln, in denen ungewollte K rpern he inklusive Schwei , Erk ltungsausw rfe und L rm die Hauptrolle spielen, und l sst dies in dem auf den Smart gem nzten (ein bisschen schn seligen) Claim kulminieren: Fast so vern nftig wie die entlichen. Nur ohne die entlichkeit. Der dritte Smart-Spot zeigt grotesk von Sch nheitsoperationen verunstaltete Gesichter und K rper und kontert dieses Horrorkabinett, in dem sich m glicherweise ironisch auch die botoxverwandten Exzesse im SUV-Segment spiegeln, mit dem Slogan: Ein Facelift, das jeder gerne h tte. Betrachtet man drei weitere Clips aus diesen Charts, die noch deutlicher mit drastischen Momenten spielen, dann wird man in einem ersten mit einer nach allen Regeln der Genrekunst gestalteten Horrorszenerie konfrontiert. Filmmonster wie Leatherface aus dem Texas Chainsaw Massacre oder der Clown aus Stephen Kings It

88 https://www.youtube.com/watch?v=AvK-StBOpBs (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016).

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k mpfen unter schrecklichem Gegrunze gegen ihr Ertrinken an (Abb. 3-5). An ihren F en zerrt, wie man wahrscheinlich erst auf den zweiten Blick erkennt, ein riesiger Teebeutel, was auch die F rbung des Wassers erkl rt, die man zun chst wohl genregem als Blut entschl sselt hat. Drown your fears , lautet der Claim der Marke Herbaria Tea, der f r die komische Pointe sorgt. Ein zweiter Clip zeigt, unterlegt mit dr uender Musik, einen Mann, der mit angstvollem Gesicht in einem Restaurant sitzt, im Wechselschnitt mit einem alten Haus, an das die Kamera bedrohlich heranzoomt. Mit hochgefahrener Atmo sind Ger usche wie Splittern oder Zerbrechen zu h ren. Der Mann packt sich voller Schreck an seinen Nacken und sieht ein paar Steinbr ckel in seiner Hand. Eilig bricht er auf und erreicht au er Atem vor Anstrengung und Panik das Haus. Mit der Einblendung Keiner sp rt es so wie Du wird ein Riss in der Hausfassade mit einem im Atemrhythmus kla enden Riss am Hals des Mannes zusammengef hrt (Abb. 6) nur um in einer letzten Einstellung entschlossen von diesem zugespachtelt zu werden. Die fetischistische Einf hlung des Besitzers in seinen Besitz wird also zun chst glamour s berh ht wann sonst w re der biedere Heimwerker schon mal der Star in einem Horror lm? , dann aber tatkr ftig profaniert, was vom anschlie enden Soundlogo Dabba-da-ja-yippie-yippie-yeah mit kleinkindlicher Ausgelassenheit gefeiert wird. Mit einem dritten Clip scheinen wir mitten in einem Kosmetikblog mit dem rechts oben im Bild eingeblendeten Namen Nikkie.Tutorials gelandet zu sein (Abb. 7). Ausf hrlich erkl rt eine frontal in die Kamera sprechende junge Frau Schminkpraktiken, als sie, v llig unvorhersehbar und mit gro em Knall, von einer gewaltigen Kraft nach vorne geschleudert wird (Abb. 8), eine Bewegung, die nach dem ersten Schock in Superslowmotion ausgekostet wird, um die Frau dann wieder in Realgeschwindigkeit nach hinten prallen zu lassen. Der Bildschirm wird schwarz. Noch ganz geschockt, lesen wir darauf die Zeitungsmeldung: 500.000 road crashes are caused by women drivers applying make-up. The Telegraph . Es folgt der Appell: Please dont make up and drive. Dann: VW Das Auto .

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Auf den ersten Blick ist man versucht, diesen letzten Clip f r den Drastischsten zu halten. Dies mag darin begr ndet sein, dass dort die Drastik nicht kom diantisch aufgehoben und damit auch nicht als blo er Aufmerksamkeitsteaser markiert wird, nicht als Marke in einem Spiel fungiert, in dem der Werber sein Interesse an Werbung o enlegt 89 und der Beworbene sich als aufgekl rter Partner in diesem Spiel f hlen kann. Der VW-Spot scheint anders zu funktionieren, weil wir unversehens einen hier w rtlich zu nehmenden Einschlag des Realen erleben sollen. Kann man also sagen, dass die Drastik dieser Werbung ernst und nicht spielerisch ist? L sst sich auf diesen Spot jene These des Philosophen Peter Siller beziehen, f r den drastische Kunst als Strategie des Zeigens ungeliebter Wahrheiten , als Bildgebung gegen die Unsichtbarmachung zu werten sei?90 Die VW-Werbung w re dann die Sichtbarmachung dessen, was beim Autofahren Schreckliches passieren kann, und zwar als drastische Abweichung von der herk mmlichen Bildgebung der Werbung, die eher Spa am Fahren, m glicherweise sogar am Tempo verhei t oder aber, mit entsprechend sanften Bildern, Sicherheit oder konomische Vernunft des Autos propagiert. Wie steht es aber um ein solch aufkl rerisches Anliegen, wenn die Drastik zugleich ein bedeutsamer Hingucker und somit eine veritable Gr e im Rahmen der Aufmerksamkeits konomie ist? Ist Werbung per se unaufrichtiger als ein k nstlerischer Versuch? Oder unterscheidet sich die VW-Werbung von Kunst vielleicht eher dadurch, dass sie plumper p dagogisch ist? Als solche wird sie freilich von jenen Usern, die sich auf Youtube u ern, gar nicht verstanden. Nach 89 Luhmann, Realit t der Massenmedien (Anm. 67), S. 61. 90 Peter Siller, Politik der Drastik. 30 Versuche ber die Sichtbarmachung des Furchtbaren , in: polar. Zeitschrift f r politische Philosophie und Kultur 16 (2014), S. 9-16, hier S. 9.

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einer angstvollen Frage in die Runde: Wer ist noch bei der VW-Werbung so erschrocken? , fallen Bemerkungen wie: Zu krass , was als Lob zu verstehen ist. Die VW Werbung ist ja sowas von klasse!!! , stellt jemand anders fest. Und noch nachdr cklicher hei t es: OOOOOOH MEIN GOOOTTT die VolswagenWerbung (sic!) ist einfach ZU GEIL :D. Drastik lie e sich ausgehend hiervon als Steigerungsform jener familien hnlichen Kategorien wie geil oder krass lesen.91 Es ist nicht ganz einfach einzusch tzen, ob sich in solchen u erungen der von Daths Briefschreiber erw hnte ewige Mob u ert, der sich jederzeit f r im Fernsehen bertragene Hinrichtungen begeistern lie e, Gesch fte pl ndert oder Fl chtlingsheime in Brand steckt 92 (schlechte Drastik), oder ob es sich eher um Dokumente f r das von demselben Erz hler gefeierte transgressive Spielmaterial der kollektiven (und einsamen) Tr ume Jugendlicher handelt, die wir ernster [...] nehmen sollten als dies die bliche Abfertigung als Trivialzeug tut (gute Drastik).93 Es scheint, dass diese Schwierigkeit mit der Struktur des Drastischen selbst zusammenh ngt. Denn das, was vermeintlich den symbolischen Rahmen durch- bzw. zerschl gt, um ein verstelltes Reales wieder sichtbar zu machen, ist zugleich das, was innerhalb der g ngigen, massenmedial unterst tzen Symbolsysteme eine positive R ckkopplung und damit einen systembedingten Verst rkere ekt erf hrt. In popul ren Kulturen geht es stets, so der Siegener Medienwissenschaftler Jochen Venus, um das Packende per se. Ihnen genuin ist also eine Logik der Stei91 Vgl. Verf., sthetik des Supermarkts. Bes. Kap. 1 Supergeil tanz: University Press 2015, hier S. 7-45. 92 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 135. 93 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 26), S. 137, 139

ber Konsumgef hle , Kons-

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gerung: Wann immer popul re Kulturen einen Aufmerksamkeitserfolg erzielen, kristallisiert sich an diesem Erfolg sofort ein Konvolut hnlicher Produkte. Jedes Faszinosum geht unmittelbar in Serie, strahlt aus, metastasiert und bezieht immer mehr Rezipienten in die spezi sche Form spektakul rer Selbstreferenz ein .94 Mit dem Terminus spektakul re Selbstreferenz f r das Verfahren popul rer Stile spitzt Venus die Erkenntnis zu, dass das Popul re auf medientechnologische Weise verbreitet wird und in dessen Logik unweigerlich eine Steigerung, eine Intensivierung erf hrt, die jenseits aller vorgeblichen Referenz als Evokation des Medialen selbst zu verstehen ist. Im Popul ren geht es also darum, Figurationen des Erregenden, des Schockierenden, des Tabuisierten, des Niedlichen, des Virtuosen um ihrer selbst willen zu produzieren, oder in Geschmacksbegri en gesprochen: Das Scharfe, Salzige, S e, Bittere, Kalte und Hei e zu bevorzugen, alle Qualia [...] hoch[zutreiben] . F r die Rezeption popul rer Kulturen hei t das, dass sie sich immer knapp an der Schwelle zur Mutprobe entlang bewegt.95 Drastik wird somit als Figur der Ambivalenz im Popul ren kenntlich. Ihr w tender Wunsch nach dem Realen, danach, in einer durch und durch medial vermittelten Welt wieder echte Referenzen sp rbar zu machen, produziert eine sich selbst immer weiter verst rkende Eigenreferenz. Von hier aus l sst sich noch einmal ber den nach wie vor ber hmtesten Streitfall in Sachen drastischer Werbung nachdenken, die Ende der 1990er Jahre ver ffentlichten Benetton-Werbetafeln von Oliviero Toscani. Diese provozierten seinerzeit eine heftige Debatte, die in einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gipfelte. Kern des Streits war die Tatsache, dass anders als im Fall der VW-Werbung nichts auf den Bildern mit dem beworbenen Produkt in Verbindung stand und man sich manchmal erst beim wiederholten Hinsehen berhaupt bewusst wurde, dass es sich hier um Werbung handelte. Auf den Plakaten war beispielsweise ein sterbender Aids-Kranker im Kreis seiner Familie zu sehen, inszeniert wie ein leidender Christus, die blutgetr nkte Uniform eines im Bosnien-Krieg gefallenen Soldaten oder eine lverschmierte Ente. Ist das nun der blanke Zynismus, die letzte M glichkeit, in der hyperkommodi zierten, mit grellen Bildern vollgestopften Welt unterm Tarnmantel politischer Aufkl rung noch exklusive Aufmerksamkeit f r ein Produkt zu erlangen? Oder ist diese Entkopplung von Produkt und Werbebild als coole Geste eines Werbescha enden einzustufen, dem sein Produkt herzlich egal ist, der vielmehr die konomische Potenz des Unternehmens nutzt, um auf diesem Trittbrett aufr ttelnde Bilder zu verbreiten? In gewisser Hinsicht ist das eine Werbung, die ihr eigenes Adbusting zwar nicht betreibt, jedoch (paradoxerweise) h chst werbewirksam inszeniert.96 Daraus resultiert, ebenfalls paradox, dass 94 Jochen Venus, Die Erfahrung des Popul ren. Perspektiven einer kritischen Ph nomenologie , in: Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke (Hrsg.), Performativit t und Medialit t popul rer Kulturen, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 49-73, hier S. 67. 95 Venus, Die Erfahrung des Popul ren (Anm. 94), S. 67. 96 Vgl. zu diesem Begriff Kalle Lasn, Culture Jamming. Das Manifest der Anti-Werbung, Freiburg: Orange Press 2006.

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die Glaubw rdigkeit der Werbung erh ht wird. Indem so getan wird, als w rde gar nicht f r die spezielle Ware geworben, ja als w rde Werbung insgesamt kritisiert, steigt deren Akzeptanz f r jene, die medien- oder werbekritisch eingestellt sind, also f r die Allermeisten. Ein hohes Maß an Selbstreflexion ist Toscanis BenettonWerbung aber ebenso zu konzedieren. Ist sie, die inmitten der marktschreierischen Werbeoberfl chen solche Bilder platziert, die den Betrachter attackieren und verletzen wollen, am Ende sogar ein Exempel des von Gottfried Boehm so genannten starken Bildes ? Eines Bildes, das aus einer doppelten Wahrheit lebt: n mlich der, etwas zu zeigen, auch etwas vorzut uschen und zugleich die Kriterien und Pr missen dieser Erfahrung zu demonstrieren ?97 Wenn man z gert, dies zu unterschreiben, dann liegt das daran, dass man der Zweckfreiheit eines solchen Unternehmens nicht traut. W hrend in der Kunst die Reflexivit t, ihre Eigenschaft, viel zu denken zu geben, in dem Umstand begr ndet ist, dass sie autonom ist, dass also im Umgang mit ihr keine bindende Bestimmtheit vorliegt ,98 hat Werbung kein anderes Ziel, als die Ware fest im Wahrnehmungs- und Gef hlsapparat des Kunden zu verankern. Dieser soll sie kaufen, immer wieder, so einfach ist das. Aber auch die Kunst steht nicht jenseits des medialen Feldes, nach dessen Gesetzen Werbung organisiert ist. So weist der Philosoph Martin Saar darauf hin, dass in der zeitgen ssischen Kunst [...] Grenz berschreitung und rastlose berbietung zum Normalbetriebsmodus geh ren.99 Auch hier funktioniert Drastik als ziemlich sicherer Generator von Aufmerksamkeit. Es ist also nur die halbe Wahrheit, jene drastische[n] Kriegsopferbilder[] von Thomas Hirschhorn oder das direkte Inszenieren ausbeuterischer Arbeitsbedingungen, unter denen (auch) Kunst gemacht wird , wie sie beispielsweise Santiago Sierra in Szene setzt,100 als ein R hren an Wunden zu adeln, deren Nichtber hren eine stillschweigende Voraussetzung des reibungslosen Funktionierens von Kunstgenuss und Kunsthandel zu sein scheint. 101 Denn dasselbe Argument w rde auch f r Toscanis Benetton-Fotos funktionieren. Ebenso l sst sich kaum von der Hand weisen, dass solche Kunst ihren Platz im Betrieb nicht zuletzt durch ihre Drastik sichert. Es geht also eher darum, mit dem Drastischen ber eine f r die massenmedial vermittelte, kapitalistische Gesellschaft charakteristische Ambivalenz nachzudenken. Im Angesicht drastischer Gegenst nde kann man sich nie sicher sein, ob man es mit aufr ttelnder Kunst, mit einem aufkl rerischen Interesse an der Durchschlagung ideologischer Gewohnheiten oder mit Sensationslust und niederen Trieben zu tun hat, 97 Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder , in: ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild? M nchen: Fink 1994, S. 11-38, hier S. 35. 98 Kant, Kritik der Urteilskraft (Anm. 36), 49, S. 665. 99 Martin Saar, Zu viel. Drastik und Affekt , in: polar. Zeitschrift f r politische Philosophie und Kultur 16 (2014), S. 19-22, hier S. 20. 100 Vgl. Claire Bishop, Antagonism and Relational Aesthetics , in: October 110 (2004), S. 5179, hier 70-72. 101 Saar, Zu viel (Anm. 99), S. 20 f.

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eben mit, wie Dath formuliert, dem letzten Dreck. Aufschlussreicher, als letztgenannten Bereich einer zur Gegenkultur verkl rten Jugendszene vorzubehalten, scheint es mir daher, das Wirken von Drastik bis in die Alltags- und Mainstreamkultur zu verfolgen. Dort ist sie als sthetische Kategorie vermutlich zeitgem er und aufschlussreicher als jenes schon von Friedrich Schlegel bedachte Interessante.

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UNTOTES Ein Essay ber ontologische Beunruhigungen

Mit dem Begri des Untoten werden Entit ten erfasst, bei denen die Grenze zwischen lebendig und tot verwischt, fragw rdig, problematisch geworden ist.1 Charakteristisch f r den Begri des Untoten ist, dass sich sein Gegenstand permanent entzieht. Lebendig und tot sind uns vertraute Kategorien, mit denen wir unsere Welterfahrung und Dingorientierung strukturieren. Untotes kann und darf es in unseren Ontologien gar nicht geben. Die Rede von lebendig und tot scheint ein tertium non datur zu implizieren: Noch lebendig zu sein, ist schlicht lebendig. Fast tot zu sein, ist immer noch lebendig. Schon tot zu sein, ist eben einfach tot. Einer bergangs- und Zwischenkategorie scheinen wir auf den ersten Blick also gar nicht zu bed rfen. Doch woher kommt dann die horride Faszination an der Drastik des Untoten, wie sie in der Popkultur regen Ausdruck ndet? Filme, Serien, Videospiele, Comics und verschiedene andere (Meta-)Texte sind bev lkert von Untoten. Neben pubertierenden Vampiren ist derzeit vor allem der Zombie medial quicklebendig, wenn diese Ausdrucksweise erlaubt ist. Der Zombie ist eine spezi sche Figuration des Untoten, ein Schreckbild der Moderne. Mir scheint es kein Zufall zu sein, dass seit einigen Jahrzehnten so viele Geschichten ber Zombies erz hlt werden. Es gibt gesellschaftliche und philosophische Gr nde daf r, dass das spezi sche Sein des Zombies, sein unklarer Status zwischen tot und lebendig , so vielf ltig imaginiert und zum ontologischen und moralischen Problem gemacht wird. Dietmar Dath hat zwar gesagt, dass ein Zombie nicht immer etwas bedeuten m sse, dass ein Zombie vielmehr schlicht einen Zombie bedeute.2 So stimmig das im Rahmen einer sthetik des Drastischen sein mag weil die Wirkung der Drastik durch die berf hrung in Deutungskategorien unterlaufen wird , sind mit der Figur des Zombies seit ihrer Entstehung durchaus verschiedene Deutungsmuster und Auslegungshorizonte verbunden. Traditionellerweise ist mit der Zombie-Figur seit ihrem ersten Auftauchen im Film eine Form von Gesellschafts- und Konsumkritik adressiert. Doch schaut man sich die spezi sche K rperlichkeit und die Abwesenheit personaler Identit t an, scheint es mir so zu sein, als werde mit der 1 Der Text basiert auf einer k rzeren Version, die unter dem Titel Ontologische Verunsicherungen. Das Untote und die moderne Biomedizin , in: polar 16 (2014), S. 35-39 erschienen ist. 2 Vgl. Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.

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Drastik des Zombies auch ein Unbehagen in Bezug auf die moderne Biomedizin zum Ausdruck gebracht. Denn die biomedizinischen Technologien scheinen Entit ten oder Zust nde hervorzubringen, die eine ontologische Verunsicherung herbeif hren, eine Beunruhigung aufgrund der Zweifel ber die Eindeutigkeit der Kategorien des Toten und Lebendigen: Sind wir mit dem Hirntod wirklich ganz tot? Sind kryokonservierte Embryonen oder Zellkulturen noch lebendig? Im Folgenden will ich dieser These nachgehen und in einem ersten Kapitel die angerissenen berlegungen zum Zombie-Begri vertiefen, um dann einige Linien zum historischen Zusammenhang von Untotem und Medizin zu ziehen, bevor ich einige Felder der modernen Biomedizin in Bezug auf deren ontologische Beunruhigung untersuche. Dabei geht es mir in keiner Weise darum, Untotes mit Entit ten der Biomedizin gleichzusetzen oder konkrete biotechnologische Zombi zierungen zu behaupten. Ich will vielmehr Anhaltspunkte daf r liefern, dass bestimmte, mit der modernen Biomedizin einhergehende Verunsicherungen in der popkulturellen Figur des Untoten wie dem Zombie zum Ausdruck kommen. I. Mit den Zombies verbindet sich (urspr nglich) ein gesellschaftskritisches Deutungsmuster in Bezug auf willenlose Arbeitssklaven, passive Konsumenten oder rechtlose Individuen. Hannah Arendt hat nicht von ungef hr in ihrem Totalitarismusbuch von lebenden Leichnamen gesprochen.3 In dieser Tradition ndet sich das gros der Zombie-Deutungen. Ein signi kantes Beispiel ist das Zombie Manifesto von Sarah Juliet Lauro und Karen Embry. Sie schreiben dort: However, our intention is to illustrate that the zombie s irreconcilable body (both living and dead) raises the insu ciency of the dialectical model (subject/object) and suggests, with its own negative dialectic, that the only way to truly get posthuman is to become antisubject. We propose that reading the zombie as an ontic/hauntic object reveals much about the crisis of human embodiment, the way power works, and the history of mans subjugation and oppression of its Others .4 Neben derartigen Texten, die den Begri des Zombies direkt aufgreifen, um ihn kulturdiagnostisch und gesellschaftskritisch fruchtbar zu machen, ndet sich auch eine Reihe von Texten, die eher indirekt von Zombi zierungen durch die Ordnung der Gesellschaft und ihren Kontrollmechanismen handeln. Ein sch nes Beispiel

3 Hannah Arendt, Elemente und Urspr nge totalit rer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, M nchen: Piper 1986, S. 929 ff. 4 Sarah Juliet Lauro und Karen Embry, A Zombie Manifesto: The Nonhuman Condition in the Era of Advanced Capitalism , in: boundary 2, 35:1 (2008), S. 85-108, hier S. 87.

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hierf r ist Bernard Stieglers Buch Prendre soin.5 Stiegler versucht den bergang von der Biopolitik zur Psychomacht zu beschreiben. In Abgrenzung zu Foucault sieht er in der Zerst rung der Aufmerksamkeit bei Kindern das zentrale Problem unserer Gesellschaft. In einer Reihe ph nomenologischer Analysen und in Auswertung neurowissenschaftlicher Daten zeichnet er ein d steres Bild der modernen Mediengesellschaft, die den Kindern keine Zeit mehr f r ihre Entwicklung l sst: Den Kindern diese Zeit zu geben bedeutet, ihnen den Zugang zu den Musen zu gew hren, zur Phantasie, die allein zu ermuntern vermag, bedeutet, ihr imaginatives Leben zu begr nden, als Quelle f r Kunst, Wissenschaft und alle Formen der geistigen T tigkeit. L t man dagegen zu, da die Psychotechnologien die Kontrolle ber die kindliche Aufmerksamkeit erlangen, so gestattet man der Kulturindustrie, diese bergangsr ume zu zerst ren [...].6 Die Kontrolle der Aufmerksamkeit bringt nun gewisserma en zombie hnliche Wesen hervor, denn Stiegler beschreibt den Gegensatz zwischen den Interessierten und den Fahrl ssigen zwischen jenen, die Sorge tragen, und jenen, denen alles egal ist .7 Ob man Stieglers etwas alarmistische Analyse teilen will oder nicht, er f hrt eine bestimmte Form der Zombi zierung vor, die durchaus als eine Versch rfung der konsum- und medienkritischen Tradition in der Deutung der ZombieFigur gelesen werden kann. Doch neben derartigen Deutungshorizonten erinnern die marode K rperlichkeit des Zombies und die Abwesenheit personaler Eigenschaften auch an normative Reflexionstypen, das Bildrepertoire und an die Herausforderungen der modernen Biomedizin. Der Zombie hat nicht nur, aber auch Konjunktur, weil die moderne Medizin Umbruchssituationen herbeif hrt, die vertraute ontologische Rahmenvorstellungen unterminieren. Es ist kein Zufall und f r unsere (Popul r-)Kulturgeschichte von gro er Bedeutung, dass im Jahr 1968 sowohl der erste Zombie-Film von George A. Romero in die Kinos kam, als auch das Hirntodkriterium durch das Ad Hoc Committee der Harvard Medical School als g ltiger Todeszeitpunkt eingef hrt wurde. Romeros Night of the Living Dead ist der erste Film, der den Zombie nicht nur als bewusstseinslosen, apathischen Arbeitssklaven vorf hrt, sondern in der seitdem f r Zombies typischen versehrten K rperlichkeit. Der Zombie-K rper ist halb verwest, das Bewusstsein auf Automatismen reduziert, erst der (nochmalige) Hirntod f hrt dazu, dass der Zombie richtig tot ist. Der Zombie stirbt also zweimal, wobei der erste Tod ihn zu einem Zwischenwesen zwischen Leben und Tod macht, eben zu einem Untoten. Oft geh rt zur Zombi zierung auch die Infektionsmetaphorik: Zombies sind ansteckend sie machen die Menschen, die sie t ten, 5 Auf Deutsch in zwei B chern bei Suhrkamp erschienen: Bernard Stiegler, Die Logik der Sorge. Verlust der Aufkl rung durch Technik und Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008; ders., Von der Biopolitik zur Psychomacht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. 6 Stiegler, Die Logik der Sorge (Anm. 5), S. 31. 7 Stiegler, Von der Biopolitik zur Psychomacht (Anm. 5), S. 133 f.

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ebenfalls zu Untoten. Aber es ist eben nicht nur die Infektionsangst, durch die der Zombie lm Medizinisches verarbeitet: Die Inszenierung der Untoten im Horrorlm ist sicher auch eine Reaktion auf die mit der Einf hrung des Hirntodkriteriums und den ersten Erfolgen der Transplantationsmedizin notwendig gewordenen Neujustierung unseres Verst ndnisses von lebendig und tot .8 Mit dem Hirntodkriterium wird der Tod zerebralisiert, punktualisiert und konventionalisiert:9 Ein Moment im Sterbeprozess wird dabei nicht nur empirisch, sondern auch normativ zu dem Tod des Menschen. Das Hirntodkriterium ist notwendig f r die Legitimierung der Transplantationsmedizin. Doch f hrt es auch zu einem Wahrnehmungswiderspruch, den vor allem Angeh rige und Pflegekr fte zu sp ren bekommen: Der atmende Leib, der vor ihnen liegt, ist tot. Was lebendig zu sein scheint, ist eigentlich schon tot. Die vermeintlich klare De nition des Hirntodes macht die Unterscheidung von lebendig und tot unsicher, verwischt die Grenzen, er net den Erfahrungsraum des Untoten. Solche Formulierungen sind heikel: Hirntote Patienten sollen, um es noch einmal zu betonen, in diesem Text in keiner Weise mit Zombies gleichgesetzt werden. Es soll vielmehr die These aufgestellt werden, dass der Zombie lm dieses Unbehagen, das in der Klinik entsteht, aufgreift und in ein Imaginationssystem des Horriden transformiert. Die moderne Biomedizin verursacht ontologische Grenzf lle und Grauzonen. Der Mensch, der heute stirbt , schreibt Thomas Lemke, ist nicht wirklich tot. Er oder sie lebt zumindest potentiell weiter, oder genauer: Teile dieses Menschen: seine Zellen oder Organe, sein Blut, Knochenmark etc. k nnen weiter existieren in den K rpern von anderen Menschen, deren Lebensqualit t sie erh hen oder deren Tod sie hinausschieben [ ]. So k nnen Zell-Linien unbegrenzt vermehrt werden, und es bleibt die Option, als gespeicherte Information in spezialisierten GenBanken fortzuleben. 10 Lemke pointiert daher: Es ist sicher nicht voreilig oder berzogen festzustellen, da der Tod des Menschen [er zitiert den Schluss der Ordnung der Dinge von Michel Foucault] eine der weitreichendsten Folgen der Biomacht darstellt. Die Subjektform Mensch beginnt sich aufzul sen, da der Mensch zum Hindernis auf dem Weg zu einer immer weitergehenden Optimierung des Lebens wird. Die Fragmentierung des Biologischen macht weder vor dem K perinneren noch vor den Artgrenzen halt.11

8 Vgl. Hans Jonas, Gehirntod und menschliche Organbank: Zur pragmatischen Umdefinierung des Todes , in: ders. (Hrsg.), Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, S. 219-241. 9 Vgl. Petra Gehring, Theorien des Todes, Hamburg: Junius 2013 (3. Auflage). 10 Thomas Lemke, Rechtssubjekt oder Biomasse? Reflexionen zum Verh ltnis von Rassismus und Exklusion , in: Martin Stingelin (Hrsg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 160-183, hier S. 165. 11 Lemke, Rechtssubjekt oder Biomasse? (Anm. 10), S. 178.

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Es sind derartige, durch die Medizintechnologien hervorgerufene ontologische und anthropologische Verunsicherungen, die in der Popkultur reflektiert werden: Der Zombie ist daher nicht nur eine Art Symbol gur der Konsumgesellschaft, sondern auch ein imagin res Nebenprodukt des medizinisch-technischen Fortschritts. II. Das hat eine Vorgeschichte. Die Neuzeit formiert sich ber ein explizites anatomisches K rperverst ndnis siehe etwa De humanis corporis fabrica von Andreas Vesalius, in dem Menschen/Leichen/Untote von den Sektionstischen geholt werden und in eleganten oder expressiven Posen in Landschaften hineininszeniert werden. Zur Rationalit t der Neuzeit geh rt das Explizitmachen k rperlicher Vorg nge. Aufkl rung ist in ihrem Kern durch eine Radikalisierung der K rperbilder charakterisiert. Die Zurschaustellung des K rpers ist eine Demonstration der Verf gung ber sie dies erweist sich dann als Biomacht und Biopolitik , wie Michel Foucault gezeigt hat.12 Aber w hrend Foucaults Konzept der Biopolitik noch die Dichotomie lebendig vs. tot zugrunde liegt (es geht ihm um die biopolitische Unterscheidung zwischen dem, was leben soll, um dem, was sterben muss ), produziert die moderne Biomedizin ontologische Grauzonen. Neben lebendig und tot bed rfen wir des Untoten als Diagnosekategorie. Bei Philippe Ari s kann man nachlesen, welches Zwielicht Kunst, Literatur, Medizin im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert um das Leben, den Tod und deren Grenzen aufrechterhalten haben. Der Lebend-Tote ist vom barocken Theater bis zum schwarzen Roman ein st ndiges Thema geworden. 13 Es ist nicht berraschend, dass die medizinische Wissenschaft und die neuen K rperdarstellungen an der Grenze zwischen lebendig und tot durch die halblegalen Obduktionen zu einer epochalen Verunsicherung und Faszination beigetragen haben. Ari s zitiert z.B. den Marquis de Sade: Ein bizarrer Einfall wird in diesem Saal ausgef hrt: Man sieht dort ein mit Leichen gef lltes Grab, an dem sich alle verschiedenen Grade der Zersetzung vom Augenblick des Todes bis zur v lligen Zerst rung des Individuums verfolgen lassen. Diese d stere Ausf hrung ist aus Wachs, das so nat rlich gef rbt ist, da die Natur nicht ausdrucksvoller, nicht noch echter sein k nnte. 14 Die Quelle f r derartige Inszenierungen liegt in den Versuchen der Medizin, das Kontinuum des Sterbens zu konzeptualisieren und Antworten auf Irritationen wie das Weiterwachsen der N gel oder Erektionen von Toten zu nden. In der Fr hen Neuzeit ist der Kadaver eine Kategorie, mit der das Untote erfasst werde sollte: Der Kadaver ist noch der K rper und schon der Tote. Auf Grund des Todes ist er 12 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalit t II. Vorlesungen am Coll ge de France 1978/1979, herausgegeben von Michel Sennelart und aus dem Franz sischen bersetzt von J rgen Schr der, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. 13 Philippe Ari s, Geschichte des Todes, M nchen: Hanser 1980, S. 504. 14 Ari s, Geschichte des Todes (Anm. 13), S. 469.

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jedoch nicht eines Emp ndungsverm gens beraubt. Er bewahrt eine vis vegetans, eine Lebenskraft, ein vestigium vitae, einen R ckstand von Leben. 15 Mit Blick auf die hohe Zahl an Fachpublikationen dieser Zeit ist es wenig verwunderlich, dass ein gro es Thema in der Medizin dann das Ph nomen des Scheintodes wird.16 Die Zonen des Untoten werden verschiedentlich und nicht ohne Angstphantasien kartiert, was sich mitunter in Verf gungen niederschl gt, nach dem Tod nicht gleich begraben zu werden, damit ein Dazwischen garantiert bleibt, in dem die Entscheidung zwischen tot und lebendig noch o en gehalten werden kann. Der Zusammenhang des neuen, drastisch gezeigten, empirischen K rpers mit dem Versuch, die Grenze zwischen lebendig und tot zu kontrollieren, wird auch in Mary Shelleys Roman Frankenstein, or The modern Prometheus durchgespielt: Leichenteile werden zusammengesetzt und durch Elektrizit t lebendig gemacht. Frankenstein muss daf r die Verwesungsprozesse der Leichen auf Friedh fen studieren. Shelley portr tiert dabei Empirie als etwas notwendig Drastisches. Insgesamt geht es nicht mehr um eine dichotomisch-epikur ische Bestimmung von Leben und Tod (tertium non datur), sondern um die Thematisierung des Zwischen , das Eintreten in eine Zone der Unsicherheit der Kategorien. Der ZombieGedanke entsteht mit der s kularen Idee, den Tod durch Eingri e in Lebensprozesse zu berwinden. Statt der Transformation des Todes in ein ewiges Leben wird der K rper Ort des Zwielichtes, Umschlagplatz des Untoten: tertium datur. In diesem Punkt kann an Dietmar Daths Thesen zur sthetik der Drastik angeschlossen werden. F r Dath ist Drastik [d]er sthetische Rest der Aufkl rung nach ihrer politischen Niederlage. 17 In der Drastik ndet man die K perbilder [...], die solchen Angstzeiten die nat rlichen sind, weil Drastik ebendie kulturindustrielle Form ist, die das Selbstwunsch- und Angstbild von modernen Menschen annimmt, wenn die sozialen Versprechen der Moderne nicht eingel st werden .18 Damit erinnere die Drastik auf verquere Weise an das Versprechen der Aufkl rung , man k nne den Dingen ins Auge sehen, wie sie sind .19 Drastik ist daher rational , weil Rationalisierungen wie Positivismus, Kausalit t, Materialismus, Instrumentalit t besonders markant vorgef hrt werden k nnen, gewisserma en in ihrer Reinform wie es Mary Shelley durch Frankensteins exzessiven Empirismus darlegt.

15 16 17 18 19

Ari s, Geschichte des Todes (Anm. 13), S. 433. Vgl. Ari s, Geschichte des Todes (Anm. 13), S. 504 ff. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 2), S. 162. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 2), S. 167. Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 2), S. 167.

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III. Die drastischen Angstbilder des modernen Menschen und die R ckst nde von Leben k nnen nun auch im Hinblick auf die Beunruhigungen durch die moderne Medizin thematisiert werden. Hintergrund mancher ontologischer Verunkl rungen ist zun chst die implizite Lebens-Steigerungslogik der Biotechnologien, wie sie Petra Gehring beschrieben hat: [Wir] sind gew hnt, unseren K rper als Lebenssto zu denken [ ]. Das Leben als ein biologischer und populationssoziologischer Sto , der uns alle durchzieht, in uns steckt und in uns physisch bearbeitet werden kann, ist keine Illusion, auf die man einfach verzichten kann .20 Der Lebenssto fungiert als konomisierbarer Mehrwert: Der Mehrwert des Lebens wird abgesch pft und er will abgesch pft werden: Vom guten Gen ber den Erwerb von Lebenszeit bis zum T tungsservice in der Sterbehilfe ist das biotechnisch gefasste Leben als Konsumgut attraktiv. 21 Insofern ist es nicht berraschend, dass man hier schnell beim Untoten landet: In der Ausdi erenzierung der Biotechniken und im ver nderten K rper-Schema der heutigen Zeit zeichnet sich das Phantasma ab, der variabel begrenzte Bio-K rper sei tats chlich eine perfekte , eine universal formbare, eine im Fluss des Lebens unfestgelegte Sache. Und es zeichnet sich die Ho nung ab, dieser Bio-K rper k nnte letztlich ein todloser K rper sein. 22 Man k nnte auch sagen: Der alte Traum der Unsterblichkeit wird in Form des Untoten realisiert. Oder wieder anders: Der Mehrwert des Lebens ist das Untote. Untotes ndet sich auch in den verschiedenen Formen des Organ- und Gewebehandels. In Speicherungsvorg ngen und im Vertrieb wird der tote K rper partialisiert und konomisiert, damit er in anderen K rpern weiterleben kann. Auf diese Weise k nnen Organe und Gewebeteile berleben und weiterleben . In diesem Sinne sind viele Objekte der modernen Biomedizin Untotes . Durch die Medizintechnologien entstehen Entit ten, die irgendwo zwischen Leben und Tod anzusiedeln sind. Dass sie da sind, man aber nicht genau wei , was sie sind, ist das ontologisch Beunruhigende. Sehr anschaulich ndet sich dies auf ZEITonline vom 27. Mai 2010 ( Ein Sch pfungsakt ), wo die neuen Aktivit ten von Craig Venter mit einem konservierten Embryo illustriert werden. Beides hat zwar nichts miteinander zu tun, doch ist diese Darstellung drastisch, weil der Betrachter nicht wei , ob der Embryo lebendig oder tot ist bzw. wieder lebendig werden k nnte, ob es sich um noch ein verf gbares Ding (Biomasse, Zellhaufen) oder schon um sch tzenswertes Leben handelt. Der Begri der Drastik hat seinen Reflex in der biomedizinischen Ethik im Yuk-Factor oder der Wisdom of Repugnance gefunden, mit denen Bioethi-

20 Petra Gehring, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, New York-Frankfurt a. M.: Campus 2006, S. 222. 21 Gehring, Was ist Biomacht? (Anm. 20), S. 222. 22 Gehring, Was ist Biomacht? (Anm. 20), S. 34.

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ker wie Leon R. Kass spontanen Abscheu, Ekel, Widerwillen hinsichtlich bestimmter biomedizinischer Verfahren oder ihrer Produkte konzeptualisieren.23 Dass man gerade diese Bebilderung gew hlt hat, d rfte auf jene Wisdom of Repugnance und das damit einhergehende subkutane Unbehagen zur ckzuf hren sein: Allein in den USA sind insgesamt eine halbe Million Embryonen in entsprechenden Banken kryokonserviert. In den reproduktionsmedizinischen Prozessen haben sie den Status des berz hligen und berfl ssigen . Es ist auch rechtlich noch eine Grauzone, was mit ihnen passiert, ob sie begraben werden d rfen oder sollten, wem sie berhaupt geh ren . Die rechtliche Regelung schwankt zwischen dem Vernichtend rfen und dem Zur-Adoption-Freigeben. Oft werden die eingefrorenen Eizellen oder Embryonen aus so banalen Gr nden wie einem nicht gemeldeten Umzug vergessen . Totsein f llt zunehmend in den Verf gungsbereich der Technik, Lebendigsein wird zur Aufgabe der Technik: Daher ist der Zombie eine drastische Chi re f r den lebendig erhaltenen, nicht erl sten K rper. Der Zombie steht f r die Angst, nicht wirklich sterben zu k nnen (verwandt mit dem Motiv des Scheintodes und des Lebendig-Begrabenseins). Der Alltagsbefund zeigt: Kaum jemand will auf die Intensivmedizin im Ernstfall verzichten, trotzdem weckt sie ein Unbehagen gerade weil sie das Zwischenreich zwischen lebendig und tot beherbergt. Nicht sterben zu d rfen ist eine der ngste, die moderne Biomedizin hervorgebracht hat. Philip K. Dick hat in UBIK (1969) eine Technik beschrieben, die es m glich macht, Verwandte in einem Zustand des half-life zu konservieren, mit reduziertem Bewusstsein, aber mit Kommunikationsm glichkeit. Dieses half-life reflektiert das Verm gen der Intensivmedizin, Sterbeprozesse immer weiter zu verz gern. Die Diskussionen um die Patientenverf gungen werden zwar vordergr ndig vor dem Hintergrund der Autonomie der Patienten gef hrt, doch darf dabei nicht vergessen werden, dass hier die Angst, nicht sterben zu d rfen , eine zentrale Rolle in der Diskussion um die intensivmedizinischen Ma nahmen spielt. Der in diesem Kontext gern verwendete Ausdruck des blo en Dahinvegetierens ist ein Beispiel f r die drastische Sprache des Untoten.Aber auch im Kontext der Steigerungslogiken des biotechnologischen Enhancements nden wir Untotes. Ray Kurzweil, u. a. Transhumanist, nimmt dank gr erer E zienz t glich nur noch 200 Nahrungserg nzungsmittel,24 um seinem pers nlichen und wissenschaftlichen Ziel nahezukommen: dem Ende des Todes . Die berwindung des Todes mit biotechnologischen Mitteln ist bei ihm ein Gegenprogramm zu anderen kulturellen und religi sen Umgangsweisen. Interessant ist dabei die programmatische Negierung des Todes und die Vision eines untoten Lebens durch Reprogrammierung unserer Biochemie sowie die Aussicht, dass die sich dann in unserem K rper be ndliche Nanotechnologie und die Nanoroboter uns bef higen werden, ewig zu leben .25 In Kurzweils 23 Leon R. Kass, The Wisdom of Repugnance , in: The New Republic 216 (1997), S. 17-26. 24 Tobias H lswitt und Roman Brinzanik, Werden wir ewig leben?, Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 20. 25 H lswitt und Brinzanik, Werden wir ewig leben? (Anm. 24), S. 18.

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Biologismus scheint es zweitrangig, in welcher Gestalt wir ewig leben. Auch wenn er Liebe als Kriterium des guten Lebens anf hrt, ist die Garantie der Fortexistenz des biotischen Substrats mit allen Mitteln die Basis seiner Arbeit zumindest so lange, bis wir unserem Geist in Programmen und Festplatten eine neue Heimstatt geben k nnen. Das Leib-Seele-Problem wird dann zum Maschine-Seele-Problem. Der Biogerontologe Aubrey de Grey spricht von todesresistenten Zellen , die urs chlich f r Alterungsprozesse verantwortlich sind und die es zu bek mpfen gelte.26 In einem Kapitel, das tats chlich mit Die Zombies zur Ruhe betten berschrieben ist, beschreibt er diese Zellen als Immun-Zombies . In nicht nur mechanistischer Metaphorik (K per als komplexe Maschine), sondern auch in martialischer Rhetorik ( Truppenzustandsbericht , Alte Soldaten sterben nie , Kenne deinen Feind ) schl gt er vor, diese Zombie-Zellen, die das umliegende Gewebe o enbar durch fehlgeleitete, chemische Signale sch digen, mittels Stammzelltherapie zu eliminieren. Diese Form der Auto-Zombi zierung, die Zombi zierung k rpereigener Prozesse, erscheint hier als Legitimationsinstrument: In der Zombie-Rhetorik ndet eine Horribilisierung biologischer Vorg nge statt, um den Einsatz von Biotechnologien zu rechtfertigen, denn schlie lich ist ja die Eliminierung eines Zombies moralisch gut . Als Herrin ber Leben und Tod tritt die Maschine in Konkurrenz zu Gott, doch kann sie den Verfall nur aufhalten, sie kann uns nicht erl sen. Der ZombieK rper ist ein extremes Gegenbild zur k rperlichen Trans guration im Christentum. Der Zombie thematisiert ngste vor dem Sein nach dem Tod: Man existiert noch, aber in desolater, unerl ster Form. Der Zombie thematisiert den Verlust von Personalit t und Leiblichkeit. Totsein wird nicht mehr als Trans guration, als berschreitung in eine neue Seinsstufe begri en, sondern als Korrosion des derzeitigen Erfahrungshorizonts: Mit dem Zombie wird durchgespielt, was mit dem K rper und mit dem Bewusstsein passiert, wenn sie weg sind. Die Abwesenheit personaler Eigenschaften verweist ex negativo auf die Normativit t des Personseins. IV. Nicht von ungef hr taucht der Zombie in den Gedankenspielen der analytischen Philosophie auf (Titel einer Tagung: Conversations with Zombies ). Der philosophische Zombie hat mit dem lmischen Zombie das Fehlen personaler Eigenschaften gemein, unterscheidet sich von diesem aber durch die k rperliche Unversehrtheit und durch das menschenidentische Verhalten. Die Pointe ist, dass der philosophische Zombie nicht von einem Menschen unterschieden werden kann, da er menschentypisch redet, denkt, sogar ber seine Gef hle reden kann obwohl er kein Bewusstsein und keine Gef hle hat. Das insbesondere von David Chalmers

26 Aubrey de Grey und Michael Rae, Niemals alt! So l sst sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verj ngungsforschung, Bielefeld: transcript 2010, S. 201 ff.

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verwendete Argument lautet:27 Wenn Zombies denkbar sind, dann ist ein strenger Naturalismus bzw. Physikalismus in der Theory of Mind widerlegt (denn das Beweisziel ist eben das Bewusstsein). So gibt es in der Theory of Mind einen permanenten Zombie-Verdacht , der sich bisweilen in einer Art philosophischem McCarthyismus u ert: hinter dieser Theorie m ssen doch Zombies stehen! Jene Theorie erm glicht die Existenz von Zombies! Insofern kann man sagen, dass auch hinter dem analytischen Zombie die Angst vor der Wegrationalisierung elementarer menschlicher Eigenschaften steht, eine Verlustangst hinsichtlich von Kerneigenschaften unseres Menschenbildes. Das Eingangszitat, das Chalmers f r sein Buch The conscious mind gew hlt hat, ist bezeichnend: Er zitiert eine Szene aus My Zombie Valentine von Dian Curtis Regan, in der um ein Antidot gebeten wird. Welches Antidot? The antidote for zombie poison. Ablesbar an dieser Debatte ist aber auch: Zombies erscheinen hier als Zerrbild des Szientismus. Um Goyas Bildwelt zu erweitern, k nnte man sagen: Der Traum der Vernunft gebiert Zombies.

27 Vgl. David Chalmers, The conscious mind. In search of a fundamental theory, Oxford: Oxford University Press 1996, S. 94 ff.

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SCHLECHT VERDAUT Harmony Korines Drastik der Form

I Drastisches Medium der Kulturindustrie: Spring Breakers Theodor W. Adorno hat das Kino mit deutlichen Worten als das drastische Medium der Kulturindustrie bezeichnet. In den Minima Moralia, Abschnitt 131, berschrift Wolf als Gro mutter . Adorno f hrt in seinem drastisch kinokritischen Minima-Moralia-Kapitel einen dialektischen Zangenangri , in dem er das Kino weder als technologisch hochger stete Volkskunst (in der also ein irgend authentischer Geschmack oder Wille der Massen seinen und sei es noch so unbewussten Ausdruck f nde) noch als Kunst strictu sensu gelten lassen will wobei er Fragen genuiner Autorschaft beim Kulturindustrieprodukt Film so wenig erw gt wie er die kollektive Arbeit als solche anzuerkennen bereit ist: Da schlie lich beim Film zahlreiche Experten, auch einfache Techniker mitzureden haben, garantiert so wenig seine Humanit t wie die Entscheidung kompetenter wissenschaftlicher Gremien die von Bomben und Giftgas. Kurzum: Dem Film ist die Verwandlung der Subjekte in gesellschaftliche Funktionen so di erenzlos gelungen, da die ganz Erfa ten, keines Konflikts mehr eingedenk, die eigene Entmenschlichung als Menschliches, als Gl ck der W rme genie en. 1 Drastische Worte ber ein drastisches Medium mit sehr gro en Z hnen. Es ist nicht nur der Entstehung des Buchs im amerikanischen Exil wegen klar, dass Adorno hier in erster Linie Hollywood, und also das Studiosystem meint. Dass aber aus der Kulturindustrie kein Heil kommt, auch dann, wenn sie sich als Gro mutter camoufliert, gilt gewiss auch f r den sp teren und sp testens seit der Freundschaft mit Alexander Kluge dem Kino mit mehr Interesse zugewandten Adorno. Gerade die doppelte und doppelt ausweglose Adornosche Verurteilung des Kinos ist f r eine erste Ann herung an den Filmemacher Harmony Korine aber durchaus nicht ungeeignet. Dieser bewegt sich mit seinem Werk n mlich in beinahe konzeptueller Absicht zwischen beiden Polen, die er, auf seine Art dialektisch, beide eher a rmiert als verwirft: Kino als Kunst und Kino als Teil der Kulturindustrie. Zu letzterer haben seine Filme ein, wenngleich programmatisch ungekl rtes, Verh ltnis. Programmatisch ungekl rt soll hei en: Korines Kino sucht die Aufkl rung dieses Verh ltnisses nicht, sondern spitzt den Widerspruch zu. Es meidet nicht den Kontakt zur Kulturindustrie, sondern sucht ihn, aber in Formen, die zwischen Mimikry und Konfrontation ungekl rt und wom glich unkl rbar, 1 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1951, S. 274 f.

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also genuin ambivalent, schwanken. Mit Spring Breakers (von 2013) ist Korine nicht im Zentrum, aber doch in der Peripherie Hollywoods angekommen, wenngleich der Status des f r 2017 angek ndigten Films The Trap mit Benicio del Toro, Al Pacino, Idris Elba, Robert Pattinson, James Franco derzeit wieder unklar ist. Mit einem Karriereweg, dessen Teleologie vom u eren Kunstrand des Kinos in Richtung kommerzieller Erfolg zielt, hat das dennoch wenig zu tun. Korine ist ein ganz anderer Fall als Steve McQueen oder Sam Taylor-Woods, RegisseurInnen, die aus der Kunst kamen und nun Filme machen, die nicht mit, sondern nach den Regeln Hollywoods spielen. Korine wurde 1995, da war er Anfang zwanzig, als Drehbuchautor des LarryClark-Films Kids ber chtigt oder ber hmt. Der Streit dar ber, ob Clark ein besonders einf hlsamer Dokumentarist junger Menschen in ihrer seelischen und k rperlichen Nacktheit oder eher ein grenzp dophiler Provokateur ist, l sst sich vielleicht nicht entscheiden. (Und der Vergleich der Filme von Clark mit denen Korines w re auch im Hinblick auf die Frage der Drastik interessant.) Damals war der Vorwurf zu h ren, der alternde Skandalfotograf Clark habe Korine und dessen Szenekenntnisse nur benutzt. Korines eigene Filme erwiesen sich dann aber als noch einmal ganz anders und au erordentlich eigen, Zeugnisse eines Projekts, das woanders her kommt und woanders hin f hrt. Die Farben und Formen wechseln, von den sehr r udigen Americana von Gummo (1997) bis zu Trash Humpers (2009) einerseits und den deutlich h her budgetierten und auf den ersten Blick kommensurableren Mister Lonely und Spring Breakers andererseits. Drastik jedoch spielt in allen F llen eine Rolle, vielleicht sogar dieselbe, aber gerade die gezielte Rekontextualisierung ist dabei speziell interessant. Erz hlt wird in Spring Breakers vom Ausflug dreier Teenagerinnen in die Feiermeile der Str nde Floridas w hrend der einw chigen Fr hjahrsferien. Dort erleben sie Rausch, Gewalt, Alkohol, Sex und Crime und begegnen einem kriminellen Bling-Bling-Typen aus dem Klischeebilderbuch. Der eigentliche Coup ist die Besetzung: Als eines der M dchen hat Korine Selena Gomez gecastet, On- and O Freundin von Justin Bieber und Star der bunten, kitschigen Serien f r Kids des amerikanischen Disney Channel. Daneben steht schro als Gangster James Franco, der gro e Trickster der amerikanischen Gegenwartskultur, Nervens ge, Hassobjekt, K nstler, Sexiest Man Living, Schriftsteller, Regisseur, Workaholic, Star und vor allem der Mann, der zwischen den kulturellen Subsystemen, Milieus und Rollenzuschreibungen geradezu nach Belieben wechselt, von MoMA bis Spiderman, von Wim Wenders bis Wizard of Oz, von Daily Soap bis Yale, von Cannes und Venedig und Berlin bis n +1, als w re das nichts. (Was den Leuten dabei besonders auf die Nerven geht, ist vermutlich, dass dieses Shapeshiften und Milieuwechseln wie ein cleveres Konzeptkunstprojekt aussieht und dann auch noch aufgeht). In Spring Breakers ist Franco am richtigen Platz: mitten in Hollywood, aber in einem Film, der als These und Antithese zugleich zu lesen w re zu dem Kinoprodukt, das den Zuschauern die Gerechtigkeit jeglicher Weltordnung in jeglichem Lande grell, drohend in die Augen und Ohren treibt, um sie aufs neue, und gr nd-

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licher, das alte F rchten zu lehren (so wieder Adorno).2 Grell und drohend (und drastisch) sind Spring Breakers und Korines andere Filme durchaus, aber von Gerechtigkeit sprechen sie nicht. Sie entfalten vielmehr Szenarien der Anomie, Zust nde des Zerfalls, von K rpern, Gemeinschaften, Handlungszusammenh ngen, Bildern. Sie zeigen das Trostlose und machen es keineswegs goutierbar, gewinnen ihm dennoch eine sehr eigene sthetik ab. Und auf nicht unkomplizierte Weise auch eine Form von Hipness. Korine hat eine Menge Street und Art und andere Credibility, die er f r Besetzungscoups wie die mit Gomez & Co, aber etwa auch einen Kurz lm wie Umshini Wam (2011) nutzt, in dem er die exzentrischen Musiker von Die Antwoord kongenial in Szene setzt bzw. sie sich selbst in Szene setzen l sst. Die vielfachen Hipness-Markierungen haben nichts mit simpler Exploitation und nichts mit Vers hnung des Elends zu tun was sie davor (und ebenso vor g ngiger Kitchensink-Sentimentalit t) rettet, ist gerade die Drastik der Darstellung. Hipsterdrastik, sozusagen, aber in dem Ma faszinierend, in dem das Klischee des Hipsters als desjenigen, der sophisticatede Formen der Semidistanz zu Normen performiert, und wirkliche Drastik sich eigentlich widersprechen. Korines Hipsterdrastik, so viel steht fest, polarisiert enorm. Janet Maslin hat seinen Deb t lm Gummo in der New York Times als pr tenti s und zynisch und den schlechtesten Film des Jahres beschimpft.3 Keine Frage, dass Korine mit dem Fragw rdigen spielt, mit Dingen, mit denen man politisch korrekter Weise eher nicht spielen darf: geistig Behinderte, sozial Deprivilegierte, Armut, Gewalt. Er spielt aber mit o enen Karten. Er sucht das Zwiesp ltige und ndet es. Die Urteilsenthaltung, die Nichtfestlegung auf Kritik oder A rmation sind das, was Maslin und andere zynisch nden aber diese Urteilsenthaltung ist gerade der Punkt. Es ist eine Urteilsenthaltung in einem umfassenden Sinn. Die Drastik des Gezeigten wird nicht in eine Ordnung r ck berf hrt weder eine narrative noch eine moralische Ordnung, keine soziale oder gesellschaftskritische noch eine Genreordnung. Die Drastik wird sozusagen freigestellt, zum eigentlichen Gegenstand der Filme, denen aber, weil sie die blichen Rahmungen (und Distanzierungsoptionen) weglassen, das Drastische roh und sogar noch ohne ausgestellte Gesten der Transgression servieren. In dieser Rohheit, dem Verzicht auf pr sentierende Geste, der Verweigerung eines geschlossenen Werkcharakters, von Ordnung und R ck bersetzung, liegt, w rde ich sagen, selbst eine Drastik das aber nun als Drastik der Form, eine sthetik des Drastischen, die genau darin drastisch ist, dass sie die Distanzierung

2 Den filmhistorischen und popkulturellen Referenzen des Spring-Break-Motivs geht Elena Meilicke genauer nach. Dies., Postfordistische Verf hrungen. Harmony Korines Spring Breakers mit Tiqqun , in: Zeitschrift f r Medienwissenschaft online (10. 10. 2014), unter: http://www.zfmedienwissenschaft.de/online//web-extra/postfordistische-verf%C3%BChr ungen (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016). 3 Vgl. Janet Maslin, Cats, Grandma and Other Disposables , in: New York Times (17. 10. 1997), unter: http://www.nytimes.com/movie/review?res=9907E6DA123FF934A25753C 1A961958260 (zuletzt aufgerufen: 20. 7. 2016).

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und Rahmung, die den sthetischen Genuss m glich machen, zu unterlaufen versuchen. Es fehlt, um Missverst ndnissen vorzubeugen, in den Filmen Harmony Korines von Gummo bis Spring Breakers sicher nicht an Drastik im gel u gen Sinn, also der Wahl von Gegenst nden und Darstellungsformen, die g ngige Normen nicht anerkennen oder berschreiten: Es fehlt nicht an sprachlicher Drastik, nicht an K rperdrastik mit Sex, Gewalt gegen Sachwelt, Menschen und Tiere, nicht an Katzenpr geln und Katzent ten, nicht an Handlungsdrastik und auch nicht an etwas, das man vielleicht szenische Drastik nennen und als einen speziellen Modus der Au hrung der drastischen Gegenst nde und Verhaltensweisen nennen k nnte. Szenische Drastik w re etwa das performanceartige Ausreizen und Steigern und Totreiten von Szenen der Dem tigung, des Streits, der Brutalit t, sei es, dass in Gummo unter gegenseitigen Anfeuerungsrufen eine K che gr ndlich zerlegt wird; sei es, dass in Julien Donkey-Boy Werner Herzog mit dem Schlauch in der Hand seinen Film-Sohn dem tigt und verh hnt; seien es die ausgedehnten und titelgebenden Szenen des M llv gelns in Trash Humpers oder auch die viel slicker inszenierten Orgien an Floridas Str nden in Spring Breakers, eine Szenerie, in der Hedonismus in Mord und Gewalt kippt und wieder zur ck. Diese szenische Drastik steht ihrerseits in einem interessanten Verh ltnis zur theatralischen Drastik und zwar wiederum als Form, die diese nicht nach den Regeln der inszenatorischen Kunst unterstreicht, sondern als eine, die die Ordnung und Rahmung unterl uft die postdramatische Variante, wenn man so will. II Bewegtbilddrastik (Exkurs) Zun chst ein kurzer Exkurs. Wer Drastik und Film sagt, denkt oft nur an das eine: Splatter und Porn. Es gibt so etwas wie eine konventionelle Geschichte des drastischen Kinos, die von Tod Brownings Grand-Guignol-Werken mit abges belten Gliedern und deformierten K rpern ber die Begr nder des Slasher- und Splatterlms von Hershell Gordon Lewis ber etwa das Texas Chainsaw Massacre und Cannibal Holocaust bis zur Ankunft dieser Bewegtbildk rperdrastik im Mainstream mit den Saw- oder Hostel lmen. Das ist sozusagen die Scenic Route, die einem vor Augen steht, wenn im Kino von Drastik die Rede ist. Es mischen sich darin Traditionen des Schauders der Gothic, Formen des Grotesken und des Bizarren, die man in die einschl gigen Traditionen der Literatur, Kunst, des Theaters zur ckverfolgen k nnte. Anders gesagt: Es gibt ein Motivrepertoire und es gibt Genres des Drastischen im Kino. Gorehounds suchen in der Drastik vertraute Gen sse, wissen je nach Geschmack Steigerung, Anspielung, Sophistication, Variationen und sogar den Fiktionsbruch zu sch tzen. F r die Wirkungen des Drastischen ist es freilich nicht unproblematisch, wenn es als weithin akzeptierte sthetische Form ein Sammelgebiet neben anderen wird. Zumal im Feld der als Fiktion durchsichtigen Fiktion, die mit dem Dokumentarischen nie anders als ktional spielt. Aber w re dann Snu also, exemplarisch f r

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das Imaginationsfeld, das mit Snu adressiert ist, etwa der real aufgezeichnete Mord , w re also der Punkt, an dem der Fiktions- und Spielcharakter gestrichen ist, noch (oder vielleicht sogar erst eigentlich) Drastik? Ist Drastik, anders gefragt, ein ins rhetorische Repertoire einf gbarer Begri , oder greift sie erst recht an den Punkten, an denen Realit t roh (was immer das nun hei en kann) pr sentiert wird? Ist das, was man bei rotten.com (Selbstbezeichnung: an archive of disturbing illustration ) ndet, tats chlich drastisch? Ist Drastik gradierbar w re es sinnvoll, von einer Skala zu sprechen, die von ein bisschen drastisch bis krass drastisch reicht? Wenn man Drastik da am Werk sieht, wo mehr oder minder konventionalisierte Formen der Darstellung und des K rpereinsatzes bersteigert, entstellt, ber die Konvention hinausgetrieben oder auch unterboten werden, dann w re Drastik als Genre und Konvention eigentlich keine Drastik mehr, oder vielleicht: abgesunkene Drastik. Das gibt eine m gliche Fragerichtung vor. Wer nach Drastik fragt, fragt nach Grenzen, aber weniger nach ihrer Subversion oder berschreitung im gew hnlichen Sinn, sondern vor allem nach ihrem Unbestimmtheitsmoment: Drastik ist da, wo man weder eindeutig diesseits noch eindeutig jenseits ist; oder, rezeptions sthetischer formuliert: wo man nicht angeben kann, ob das, was man sieht, noch geht oder ob es dr ber ist. Drastik w re dann eine Operation, die sich gerade deshalb der Begri sde nition entzieht, weil sie dem Akt der De nition, also dem Versuch klarer Abgrenzung, widerstrebt. Von Drastik w re dann in genau jenen F llen zu sprechen, in denen die De nition (als h sslich, zul ssig, verboten, sinnvoll, funktional und so weiter) immer noch aussteht. Harmony Korines Filme geh ren ganz sicher nicht in die Tradition der abgesunkenen Drastik im Kino, sie haben daran sehr o enkundig kein Interesse, obgleich es durchaus Slashermomente, Grand-Guignol-hafte Szenen in ihnen gibt. Die Filme suchen nicht die konventionalisierten Wirkungen des Horror- und Slasherkinos, den schockhaften Schrecken, das namenlose Entsetzen, die Angstlust der Zerst ckelung, Entstellung, Zerst rung von K rpern. Dietmar Dath hat freilich und sicher nicht als erster die Drastik der Gordon Lewis, Jess Franco, Lucio Fulci weniger in diesen konventionellen Wirkungen gesehen als darin, dass die K rperdrastik sozusagen die Textur der Filme als Erz hl- und Spiel lme zerrei t. Drastische Tableaus haben es nicht nur in Fulcis zusammenhangzersetzenden Horror lmen wesenhaft an sich, dass sie mit ihrer eigenen distinkten Sch rfe ihren n heren Kontext komplement r verschwimmen lassen, ihn sozusagen berstrahlen, mit emphatisierten, stark leitenden Details. 4 Vom Horror lm her gedacht, w re von Drastik also da zu reden ich bersetze in etwas poststrukturalistischer anmutende Kategorien , wo sich etwas Ungef ges ereignet, das sich nicht mehr in die Erz hlung, den Plot bertragen l sst. Drastik ist, wo Elemente hors categorie aufscheinen, Tableaus, K rper oder K rperverh ltnisse, Sprachformen, Bilder, die nicht nur nicht konventionell sind, sondern sich gegen jede Konventionalisierung erfolgreich sperren. Dirck Linck weist nachdr cklich auf das Detail als das Moment hin, 4 Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 27.

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das dabei die zentrale Rolle spielen kann weil es sich dem Betrachter als Punctum, und damit als Einfallstor f r Akte der Zusammenhangszersetzung, der Fetischisierung anbietet.5 Andererseits f hrt das unter Umst nden paradoxerweise wieder zur ck zum konventionalisierten Genuss: Im Mainstream-Splatter lm jedenfalls ist das von der Logik der drastischen Szenen als Filetst ck nicht weit entfernt, die wer den entsprechenden Appetit hat ohne Reue genie t. Zu den erstaunlichen Eigenschaften von Harmony Korines Filmen geh rt es nun allerdings, dass sie eigentlich komplett aus Tableaus und Szenen bestehen, die den Zusammenhang zersetzen, aus Episoden von distinkter Sch rfe, bei denen es nicht einmal die Unterstellung gibt, dass ein Plot, eine psychologische Erl uterung, eine soziale oder gesellschaftskritische Kontextualisierung wieder ein ganzes Bild herstellen k nnte. Sie erm den und ersch pfen in ihrer Adramaturgie, ja, sie sind mitunter drastisch langweilig in endlosen Wiederholungen, Szenen, die auf keine Pointe hinauslaufen etc. Bei aller scheinbaren Slickness und Rekonstruierbarkeit eines Plots gilt das auch f r Spring Breakers, in dem der Zusammenhang in, so Korines eigenes Wort, Mikroszenen aufgel st wird. brig bleiben , so Elena Meilicke, Wortfetzen, Satzbausteine und Szenenbruchst cke, d rftige Dialogrudimente, in deren unabl ssiger und beschw render Wiederholung ( Spring Break, Spring Break...! ) sich die Sprache entleert und zerfasert. 6 Radikaler freilich nimmt sich Trash Humpers aus. Von Zersetzung eines Zusammenhangs l sst sich kaum noch reden, wo es diesen Zusammenhang, anders als noch beim unsortiertesten und w stesten Fulci-Film, von Anfang an gar nicht gibt. Der Akt der von Dath und Linck beschriebenen drastischen Rezeption als Fokussierung aufs berscharfe Detail scheint darum um eine Stelle verr ckt: Es ist Korine selbst, der seinen Zugri auf die Wirklichkeit (und auf die existierenden Wirklichkeitsdarstellungen) bereits drastisch organisiert. III Drastik & Dogma, Sozialrealismus (Make it, Make it, dont Fake it) Korines Filme haben mit der Ausnahme von Mister Lonely und Spring Breakers auf den ersten Blick durchaus eine gewisse N he zum Vokabular eines zeitgen ssischen Sozialrealismus. Die Protagonisten entstammen in Gummo, Julien DonkeyBoy oder Trash Humpers den Unterschichten, die Assoziation zu White Trash ruft Korine mit einem Titel wie Trash Humpers bewusst selber auf. Sie beziehen sich klar auf amerikanische Gegenwart, ihre Protagonisten sind als Sozialtypen erkennbar, die Milieus als Trailerpark- oderSuburbiaszenerien mit windschiefen H usern, wenig sozialer Aufsicht, alleinerziehenden M ttern, dysfunktionalen Familien mit gewaltt tigen V tern, mit Dropouts und Au enseitern, bergri gen lteren M nnern und wassersto blondierten jungen Frauen.

5 Vgl. dazu den Beitrag von Dirck Linck in diesem Band. 6 Meilicke, Postfordistische Verf hrungen (Anm. 2).

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Korine macht in Gummo zwei Jungs zu Helden, die Katzen erschie en und sie auch ertr nken und die die toten Katzen dann an den Metzger verkaufen. Sex haben Tummler und Solly, so hei en die beiden, mit einer Frau mit Down-Syndrom, die deren Mann zuhause an Freier verkauft. Xenia in Ohio ist der Schauplatz des Films (den Ort gibt es, aber Harmony Korine hat komplett in seiner Heimatstadt Nashville gedreht). Ein Tornado hat das St dtchen vor einer Weile verw stet und was die Kamera antri t, ist ein gottverlassener Pfuhl, den sozial sehr desorientierte Freaks bewohnen. All das zeigt Korine, ohne mit der Wimper zu zucken, deviantes Verhalten, deformierte K rper und derangierte Figuren, und er zeigt sie mit Gusto, aber er zeigt sie, als w ren sie nicht deviant, nicht deformiert und nicht derangiert. Von einem neutralen Blick zu sprechen, w re sehr problematisch, aber es gibt hier weder Kritik noch P dagogik, weder Mitleid noch Erl sung, weder Scham noch Emp rung. So kommentarbed rftig auch scheint, was man sieht: Es bleibt unkommentiert. Wenn es einen Kommentar gibt, dann in der Musik, die die ganz Spannbreite von Roy Orbisons gecroontem Crying bis zum Fascho-Black-Metal-Krach von Burzum bedient. Aber die Musik, die ja eindeutig signi ziert, korrespondiert hier nicht simpel: Weder bedeutet Black Metal Disharmonie noch soll Orbison oder Scott Wesley Browns Jesus Loves Me irgendjemanden mit irgendetwas vers hnen. Weder der Krach noch die Sch nheit werden geleugnet, sie laden die nicht korrespondierenden Bilder zwar durchaus mit sich und ihren A ekten auf, aber das bricht stets wieder ab und es denotiert nicht. Auch die Kamera kommentiert das alles nicht, sie h lt einfach voll drauf, aber stets auf Augenh he mit den Figuren. Janet Maslin war, wie erw hnt, der Ansicht, dass diese unaufgel ste Drastik per se zynisch und menschenverachtend sei. Das scheint mir ganz falsch: Gerade weil die Drastik so drastisch jede Einordnung verweigert, weil auch der Realismus und das H ssliche durch die Musik und die Stillstellung von Momenten und die Freistellung sehr sch ner und friedlicher und in einem durchaus vertrauten Sinn poetischer Bilder jederzeit transzendiert werden kann, liegt jedes Urteil hier im Auge des Betrachters und nirgends sonst. Das hat mit dem Erz hlen in Non-Sequitur-Collagen zu tun. Szenen bleiben lang stehen, dann brechen sie ab. Der Tanz der wassersto blonden Schwestern auf ihren Betten. Sollys Spaghettimahlzeit in der Badewanne. Der TapTanz seiner Messie-Mutter (Linda Manz) vor dem Spiegel im Keller. Armdr cken und Zertr mmerung eines Stuhls. Eine peinliche Szene, in der Harmony Korine selbst einen kleinw chsigen Schwarzen vergeblich anmacht. Das bleibt alles so stehen. Werner Herzog war von all dem enthusiasmiert: When I saw a piece of fried bacon xed to the bathroom wall in Gummo, it knocked me o my chair. 7 Im Bildvokabular scheinen Harmony Korines Filme oft dokumentarisch. Die Handkamera wackelt, viele Szenen wirken (und manche sind durchaus) improvisiert. Es erscheint darum nur konsequent, dass er seinen zweiten Film, Julien Don7 New York Times (8. 11. 2006), zit. nach Wikipediaeintrag zu Harmony Korine unter: https://en.wikipedia.org/wiki/Harmony_Korine#cite_note-herzog-17 (zuletzt aufgerufen: 26. 7. 2016).

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key-Boy, unter D wie Dogma einsortiert hat, nicht etwa nur in Anlehnung an die von Lars von Trier und anderen 1995 halb ernsthaft ausgerufenen lmischen Askeseregeln. Tats chlich hat Korine aus D nemark das Dogma-Siegel erhalten es ist der einzige dogma-zerti zierte Film aus den USA geblieben und darin wiederum eine Anomalie, obwohl er sich an die Mehrzahl der Dogma-Regeln h lt: keine extradiegetische Musik, keine Requisiten, keine k nstliche Beleuchtung, keine Nennung des Regisseurs in Vor- oder Abspann. In Sachen Realismus ist damit freilich gar nichts gekl rt. Keine Frage jedoch, dass die Assoziation Sinn macht. Die Dogma 95 -Bewegung geh rt (wie im brigen auch das Gesamtwerk Lars von Triers) in eine Geschichte der Drastik als Form: Sie stellte Regeln auf, nur um sie im n chsten Zug zu verletzen; sie oszilliert selbst zwischen Ernst und Spiel, ist alle zwischen Begeisterung und Verst ndnislosigkeit schwankenden Reaktionen darauf inklusive nur als Metadiskurs zu Fragen des Regelsetzens und Regelverletzens zu verstehen, wobei das Entscheidende ist, dass die Oszillation zwischen Setzen und Verletzen nie aufzul sen ist, weder durch eine Synthese (wie sollte das auch gehen), noch durch eine begri iche Einordnung wie Ironie . Zur Ironie dann aber im bern chsten Punkt etwas mehr. IV Besch digte Bilder (besch digte Leben, besch digte Sprache) Trash Humpers von 2009 ist ein Nullpunkt. In Trash Humpers ist alles kaputt und was nicht kaputt ist, wird im Lauf des Filmes zerst rt. Fernseher zum Beispiel, sie werden mit xten zertr mmert. Die Protagonisten sind zwei Herren und eine Frau mit Greisenmasken aus Latex: vollst ndige De guration. Es werden von den M nnern in Masken ungez hlte M lltonnen und viele B ume und einmal sogar ein frei stehender Briefkasten besprungen. Der Zeugungsakt als Allegorie der Nichtkommunikation und Negation jeder Fruchtbarkeit. Die Frau mit den schwarzroten Haaren kreischt, springt und tanzt dazu. Es gibt Sex mit sehr dicken Damen, eine Toilette steht auf der Wiese. Zwei ber Damenstrumpfm tzen siamesisch verbundene M nner bereiten Pfannkuchen und feuern einander mit den Worten Make it, make it, dont fake it dabei an. Ein dicker Junge im Anzug mit Krawatte und Brille wird erst als Basketballniete von den Greisen h hnisch verlacht und drischt dann mit dem Hammer auf eine Puppe ein und keckert vor Freude dazu. Sprachliche Verst ndigung f llt mehr oder weniger aus. ber das make it, make it, dont fake it hinaus haben die Figuren nichts zu sagen und dieser Refrain ist mehr Singsang und Kinderreim als Aufruf zu Authentizit t, die Unterscheidung zwischen make und fake ergibt keinen Sinn, ist selber schon fake : Das make it fordert nicht zu konstruktiven Handlungen auf, ein anderes als ein Kaputtmachen gibt es hier nicht. Der Plot ist kaputt, die Sprache ist kaputt, die Figuren sind kaputt und machen alles kaputt. Das alles im st dtischen Wasteland, Layingtowasteland, das man nur verschwommen erkennt. Was noch fehlt, ist die mutwillige Zerst rung des Mediums selbst, des Aufzeichnungsbildes. Also ver el Korine bei

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der Konzeption auf die konsequente Idee, auch dies massiv zu besch digen oder vielleicht war es genau andersherum: Die Idee, ein verrottetes Medium zur Abbildung einzusetzen, generiert auch inhaltlich nichts weiter als Trash. Korine hat Trash Humpers auf VHS-Video gedreht, das bers Verfallsdatum weit hinaus war. So frisst sich das Nicht-Bild ins Bild beziehungsweise rei t sich das Bild vom NichtBild immer nur st ck- und fetzenweise los. Aus jeder Restillusionierung st rzen den Betrachter sp testens die aus VHS-Zeiten bekannten Autotracking -Selbstjustierungsinformationen des Apparats. Auch das Abspielmedium mischt sich so also in die Repr sentation, in ziert sie oder generiert sie auf die Unklarheit, ob es sich um das eine oder das andere handelt, Infektion oder Generierung, l uft der Film eben hinaus. Die drastische Sprache, sagt Dietmar Dath, ist das grelle Aufblitzen einer Art semiotischen Tourette-Syndroms .8 In Trash Humpers hat das Zwangsverhalten von der Sprache auf alle anderen Ebenen bergegri en. Kompletter Ausfall jeder Vermittlung, aber auch totale Aussageverweigerung: Ist das Gesellschaftskritik? Aber woher dann der perverse Spa an der Regression, der Zerst rung, die Lust am Kaputtmachen von Bild, Gesicht, Mensch und Natur, gegen die sich der Film alles andere als sperrt? Das fortgesetzte Bespringen des M lls, die Toilette im Gras, die Zerst rung der Puppe, alles steht f r sich, in Trash Humpers wird das Kino zum drastischen Medium, das jede explizite Aussage ber das, was es ist, was es will, verweigert. V Drastik als Figur: Gegen Ironie. Kann man (Korines) Drastik genie en? Das Irritierende: Diese Verweigerung ist durchaus lustvoll. Man verfolgt das Geschehen einigerma en gebannt. Das ist einerseits die Faszination des Passanten beim Au ahrunfall. Andererseits ist da aber auch eine sthetische Faszination, die keine voyeuristische ist. Eine weder identifkatorische noch denunziatorische Lust. Es geht nicht um Verkl rung des Scheu lichen, nicht um Entsch rfung der Drastik. Schon gar nicht geht es um Ironisierung das gilt auch f r Spring Breakers, den Film, der auf den Nullpunkt Trash Humpers folgte. Wo dieser sich von jedem denkbaren Publikum abwendet, zielt jener nun auf den Mainstream. (Zielen aber auch so, wie man mit einer Wa e auf etwas zielt.) Ein entschiedener Schritt in Richtung Opulenz und drastisches Medium der Kulturindustrie. Trash Humpers und Spring Breakers stehen als Implosion versus Explosion nebeneinander. Auch in Spring Breakers gibt es lange Sequenzen, die einer Art Performancelogik sehr viel eher als Plotkonstruktionen gehorchen. Minutenlange alkoholisierte Tanzorgien am Strand. Sex and Crime. Aber mit Britney Spears und bernahmen von Genreelementen. Wer bei dieser Kombination von Glam, Pop, Gewalt und Genrezitaten an Quentin Tarantino denkt, liegt zwar falsch, aber erst auf den zweiten Blick. Auch Tarantinos Filme geh ren auf den ersten Blick ins Register der Drastik. Auf den 8 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 4), S. 33.

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zweiten Blick eher nicht. Ihr Nichtrealismus wirkt ebenso als Sicherheitsnetz wie die Ironie, die die im Bild gezeigte Drastik in Formen einf ngt, die die Gewalt komisch entlasten. Das Spezi sche der Korineschen Drastik scheint mir dabei, wie gesagt, anders gelagert. Man kann sie, vielmehr einzelne Momente, zwar komisch nden, aber das Lachen, das sie erzeugen, ist um einen sch nen Begri von Helmuth Plessner zu borgen in einem emphatischen Sinn eine Grenzreaktion .9 Anders als Tarantinos durch Ironie, Fantastik und Zitathaftigkeit entsch rfte Filme, kennen die Korines keine Sicherheitsnetze der Form. Sie verweigern jedes Urteil ber das, was sie an sozial teils u erst devianten Verhaltensformen in aller Deutlichkeit zeigen. Sie tun auch nicht so, als w re irgendetwas daran cool oder glamour s. Zum anderen verweigern sie auch jede sthetische R ck bersetzung in vertraute lmische Formen: Es handelt sich eben weder um Exploitation noch Arthouse, weder um Genre- noch Avantgarde lme noch Indie. Auch nicht um Kunst. Oder jedenfalls nicht einfach so. Sicher hat Korine eine A nit t zum Kunstfeld, nicht zuletzt deshalb, weil er selbst als bildender K nstler t tig ist, als auf diesem Feld bislang jedenfalls freilich eher marginale Figur. Dennoch k nnte man ihn vielleicht als Inversion etwa von Steve McQueen begreifen. W hrend dieser von der Kunst ins Kino gewechselt (und dort mit Oscars reich belohnt worden) ist, implantiert Korine Strategien, die aus dem Kunstfeld vertraut sind, aus dem Feld des Kinos heraus in dieses selbst. Die Verortung ist wichtig. Gewiss k nnte man sagen: Eigentlich ist etwas wie Trash Humpers Kunst. Rezipiert wird Korine aber und sicher nicht gegen seinen Willen als Kino, als wenn auch abartiger und abseitiger, nirgends so richtig einzuordnender Teil der Kulturindustrie. Korines Filme gerieren sich ausdr cklich als so etwas wie Ausschuss- und Abfallprodukte der Kulturindustrie und sich so zu gerieren, genau diese Geste l sst sich sicherlich als konzeptuelle und damit als Kunstgeste rezipieren. Das Entscheidende aber ist: Nicht nur wird sie in dieser Kontextualisierung kaum rezipiert sie ist, als eine, die sich explizit auf dem Feld des Kinos situiert, auch interessanter. Das gilt am st rksten f r Spring Breakers, aber im Grunde auch f r die anderen Filme. Stars und Mechanismen kehren wieder, aber sie sind verl sslich in Alptr ume verwandelt. Und Korine verdaut drastisch schlechter als etwa Quentin Tarantino. Was immer man bei dem als Popul rkultur reinsteckt, es kommt kulturindustriell Verwertbares raus. Bei Korine steht am Ende der Verdauungsvorg nge durchaus oft Schei e. Oder jedenfalls Ambivalenz, etwas, das man nicht recht einordnen kann. Und zwar deshalb, das noch einmal meine These, weil die Drastik von der Ebene des Dargestellten auf die Darstellung selbst bergreift. Korine zeigt in aller Deutlichkeit, kommentiert aber nicht. Er f hrt vor Augen und Ohren, tut das aber mit einer Nonchalance der Form, die zwischen Momenten des Ekels und Momenten der Sch nheit keinen Unterschied macht. Korines Filme urteilen nicht. Aber sie fahren in der o ensiven Verweigerung des eigenen Urteils auch dem Urteil des Betrachters in die Parade. Was man sieht, ist what-the-fuck und schrecklich und 9 Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen des menschlichen Verhaltens (1941), Frankfurt a. M.: S. Fischer 1985.

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sch n. Sch n und schrecklich und what-the-fuck ist auch, wie es gezeigt wird. Mildernde Umst nde gibt es nicht, weder sthetisch noch moralisch. Korines Filme a rmieren nicht und kritisieren nicht. Oder: Sie a rmieren und kritisieren zugleich. Gerade dass sie den Unterschied zwischen A rmation und Kritik neutralisieren, macht ihre Faszination aus. Eine sthetik des Drastischen eine sthetik, die als Form der Drastik des Dargestellten gerecht wird ist das genau deshalb, weil sie einem die Sprache des sthetischen (wie des moralischen) Urteils verschl gt.

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CHARLOTTE ROCHES FEUCHTGEBIETE Ekelhafte N he und humorvolle Drastik

1. Einleitung: Drastische Lekt re Es wei vielleicht nicht jeder, was eine Anal ssur ist. Das ist ein haarfeiner Riss oder Schnitt in der Rosettenhaut. Und wenn sich diese kleine, o ene Stelle auch noch entz ndet, was da unten leider sehr wahrscheinlich ist, dann tut das h llisch weh. Wie bei mir jetzt. Das Poloch ist auch immer in Bewegung. Wenn man redet, lacht, hustet, geht, schl ft und vor allem, wenn man auf Klo sitzt. Das wei ich aber erst, seit es wehtut.1 Eine Analrasur, die zu einer u erst schmerzhaften Anal ssur f hrt und einen komplizierten sowie bewusst verz gerten Heilungsprozess nach sich zieht, dient als Ausgangspunkt von Charlotte Roches 2008 erschienenem, viel besprochenem Besteller-Roman Feuchtgebiete. Zahlreiche Rezensionen und wissenschaftliche Publikationen besch ftigen sich seitdem mit der medialen Inszenierung der Autorin sowie den Ursachen f r den gro en Verkaufserfolg des Buches,2 mit der tats chlichen Tragweite des Tabubruchs im Text,3 mit den gesellschaftspolitischen Ambitionen des Pamphlet[s] gegen die Pin-up-Kultur 4 und schlie lich mit der post- und popfeministischen Verortung von Roches Oeuvre.5 So wie der berwiegende Teil der Besprechungen dem Roman eine literarische Qualit t abspricht, so mangelt es bisher an systematischen Untersuchungen zum 1 Charlotte Roche, Feuchtgebiete, K ln: DuMont 2008, S. 10. 2 Vgl. Albert Meier, Immer sehr unm dchenhaft. Charlotte Roche und ihre Feuchtgebiete , in: Hans-Edwin Friedrich (Hrsg.), Literaturskandale, Frankfurt a. M.: Lang 2009, S. 231241. Hubert Spiegel, Da kommt Mutter Natur! , in: FAZ online (16. 4. 2008), unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/erfolgsgeschichte-eines-buches-da-kommt-mutter-natur-1539783.html (zuletzt aufgerufen: 26. 7. 2016). 3 Vgl. Thea Dorn, Seichtgebiete , in: Die Zeit online (26. 5. 2008), http://www.zeit.de/2008/ 22/Oped-Tabubruch (zuletzt aufgerufen: 26. 7. 2016). 4 Ingeborg Harms, Charlotte Roche. Sexualit t ist Wahrheit , in: FAZ online (14. 4. 2008), http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/charlotte-roche-sexualitaet-ist-wahrheit-1544560.html (zuletzt aufgerufen: 26. 7. 2016). 5 Vgl. Katja Kauer, Popfeminismus! Fragezeichen! Eine Einf hrung, Berlin: Frank & Timme, 2009, S. 123 f. Maria Stehle, Pop, Porn, and Rebellious Speech , in: Feminist Media Studies 12 (2011).

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literarischen Wert oder Unwert des Textes. Demgegen ber geht die nachfolgende Lekt re davon aus, dass der Roman einer gezielten Strategie folgt, die im Rahmen einer sthetik des Drastischen zu beschreiben ist. Mit den Mitteln der literarischen Buchst blichkeit und Genauigkeit peilt der Text eine schier physische N he an, die jegliche Distanz zur Leserschaft abbaut und den Blick ebenso n chtern wie unverbl mt auf K rpersekrete und nungen der Protagonistin heranf hrt. Freilich wird dieses Vorgehen derart bersteigert, dass zu fragen ist, ob der Ekel in Feuchtgebiete nicht doch immer wieder in Humor umkippt. 2. Ekel(- guren) zwischen N he und Distanz Die Rezeption des Romans hat mehrfach die sprachliche und narrative Banalit t sowie die Ekelhaftigkeit der Darstellung angeprangert. So stark die Reaktionen sind, so sehr drohen sie jedoch, den Blick vor lauter Unbehagen abzuwenden und undi erenzierten Pauschalurteilen Vorschub zu leisten. Feuchtgebiete als banalen Ekelroman abzutun bedeutet, Entscheidendes zu bersehen. Aus dem Blick ger t n mlich der Sachverhalt, dass man es zuallererst mit einem Roman der K rperlichkeit zu tun hat, mit einem Roman der K rper nungen und der K rperfl ssigkeiten. Insbesondere die orale, vaginale und anale nung des weiblichen K rpers steht dabei im Zentrum. Nach Winfried Menninghaus ist Ekel als eine der heftigsten A ektionen des menschlichen Wahrnehmungssystems zu verstehen.6 Im Gegensatz zum Instinkt ist die A ektion ma geblich durch gesellschaftliche Einfl sse wie Sozialisation oder Erziehung gepr gt. Die 18-j hrige Protagonistin Helen f hrt diesen Grundzug des Ekels vor, indem sie allenthalben bewusst gegen allgemein geltende Hygienekonventionen verst t und sich den entsprechenden sozialen Anforderungen provokativ verweigert. Wer bei ihrer Lekt re pikiert ist oder sich gar ekelt, sp rt daran genau, wo die gesellschaftlichen oder auch individuellen Grenzen des Erlaubten im Augenblick gerade verlaufen .7 Helen versucht sich diesen gesellschaftlichen Ekelgrenzen nicht nur zu n hern, sondern bt sich in deren konsequenter berschreitung. Bemerkenswert dabei ist die Heimlichkeit und Anonymit t ihres Vorhabens. Denn w hrend jugendliche Provokation typischerweise nach entlicher Manifestation strebt, vertraut sich Helen im Raum der Fiktion niemandem an. Nur die Leser und Leserinnen nehmen an ihren Gedanken Teil, was das Gef hl des Unbehagens nicht gerade mindert. Noch eindringlicher wird die dadurch suggerierte N he durch das beengte Setting. Die gesamte Erz hlung ndet im Krankenhausbett statt, in dem sich Helen akribisch mit der Beobachtung ihres K rpers, mit dessen Trieben und Schmerzen auseinandersetzt. Dabei vermengt und verteilt Helen ihre K rper-

6 Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichten einer starken Empfindung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 7. 7 Meier, Immer sehr unm dchenhaft (Anm. 2), S. 239.

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fl ssigkeiten intra-, inter- und extrakorporal. Sie kontaminiert dadurch den sterilen Raum Krankenhaus, der als Metapher f r den sterilen Gesellschaftsk rper gelesen werden kann und f r Helens Vorhaben eine weitl u ge Angri sfl che bietet. Das Spiel des Tabubruchs wurzelt in konventionalisierten Vorstellungen von N he und Distanz, die wiederum Ekelgef hle formieren: Das elementare Muster des Ekels ist die Erfahrung einer N he, die nicht gewollt wird. Eine sich aufdr ngende Pr senz, eine riechende oder schmeckende Konsumtion wird spontan als Kontamination bewertet und mit Gewalt distanziert.8 Nach Ma gabe von N he und Distanz de niert Menninghaus Ekel als Alarmund Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Kampf und Krampf, in dem es buchst blich um Sein oder Nicht-Sein geht , als Chi re der Bedrohung .9 F r Helen scheint es keine unassimilierbare Andersheit zu geben, strebt sie doch st ndig nach der berschreitung der sozialen Ekel-Grenzen und probiert sich an ihnen aus. Konsequent ist sie auf der Suche nach Assimilation und Integration ihrer K rperfl ssigkeiten in ihren eigenen K rper und versucht, andere Orte, Pl tze und Menschen mit ihren K rperfl ssigkeiten zu kontaminieren. Sie bertritt kontinuierlich die konventionellen Grenzen von N he und Distanz, die den Ekel strukturieren, und zieht daraus Befriedigung. Doch die Darstellung des Ekelfeldzugs ist eine gebrochene. Schon die Gestaltung der Haupt gur folgt keinem g ngigen literarischen Typus. Helen wirkt vielmehr als facettenreiches Konstrukt, das mehrere Alter vermengt. So setzt sie sich aus Merkmalen des famili r traumatisierten Kindes, der geb r- und nachwuchsverweigernden Lilith, der sexuell ausschweifenden femme fatale und der ekelhaften, geilen alten Frau zusammen. Das traumatisierte M dchen nimmt jeden Schmerz in Kauf, um die konventionelle Familienordnung wieder herzustellen. Die geb r- und nachwuchsverweigernde Lilith l sst sich jedoch mit 18 Jahren sterilisieren: Ich will wirklich, seit ich denken kann, ein Kind haben. Es gibt aber bei uns in der Familie ein immer wiederkehrendes Muster. Meine Urgro mutter, meine Oma, Mama und ich. Alle Erstgeborene. Alle M dchen. Alle nervenschwach, gest rt und ungl cklich. Den Kreislauf habe ich durchbrochen. Dieses Jahr bin ich achtzehn geworden und habe schon lange darauf gespart. Einen Tag nach meinem Geburtstag, sobald ich ohne Erlaubnis der Eltern durfte, habe ich mich sterilisieren lassen.10

8 Menninghaus, Ekel (Anm. 6), S. 7. 9 Menninghaus, Ekel (Anm. 6), S. 7. 10 Roche, Feuchtgebiete (Anm.1), S. 40 f.

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Die sexuell ausschweifende femme fatale verf hrt M nner, lebt ihre L ste und sexuellen Vorlieben frei aus und besucht Bordelle. Im Motiv der belriechenden Frau kn pft der Roman an ltere Traditionen an, namentlich an den vetula-Topos, der traditionell als Sinnbild des Ekelhaften gilt,11 jedoch durch die junge Protagonistin eine spitz ndige Pervertierung erf hrt. Denn der Ekelanlass ist in Feuchtgebiete keine alte, belriechende Frau, die sich bevorzugt sexuellen Extravaganzen mit j ngeren M nnern hingibt, sondern eine 18-j hrige Sch lerin, die an der Grenze zur Vollj hrigkeit noch sehr jugendlich wirkt, aber umgekehrt mit vorwiegend lteren Geschlechtspartnern verkehrt. Die Irritation, die durch die Pervertierung der antiken vetula in Feuchtgebiete zustande kommt, kann ohne Zweifel als ein weiterer Grund f r die heftigen Reaktionen auf den Text gelten. Eine 18-J hrige, die freim tig ber ihre H morrhoiden spricht, ist ein Angri auf die geltenden Normen des guten Geschmacks ebenso, wie sie die Grenzen des sthetischen antastet, als dessen schlechthin Anderes der Ekel seit alters zu begreifen ist.12 Doch ist die Protagonistin gegen ber dem Ekelhaften ebenso nonchalant, wie sie Hygienevorschriften, im Besonderen mit Bezug auf Frauen, verschm ht: In Wirklichkeit bin ich etwas eigen in Sachen Hygiene, weil sie mir schei egal ist und ich hygienische, gepflegte, keimfreie Leute wie Margarete verachte. 13 Mit dieser berschreibung des vetula-Topos geht ein literarischer Stil einher, der in seiner kindlichen Simplizit t den Reflexionen einer 18-j hrigen Sch lerin durchaus entspricht und der kraft seiner scheinbaren Banalit t zudem als Herausforderung des sthetisch-literarischen Diskurses gelesen werden kann. 3. Ekelhafte N he: eine Taxonomie des Unbehagens Auf der Basis dieser Beobachtungen m chte ich den Roman entgegen aller Abwehrhaltungen lesen, dem Ekel in all seiner Drastik auf den Grund gehen und die zentralen Stellen im Roman mit Blick auf die exponierten K rper nungen und K rpers fte sezieren. Zur systematischen Erfassung der Ekelquellen habe ich eine Taxonomie der K rper nungen und -fl ssigkeiten erstellt und diesbez glich vier verschiedene Gruppen identi ziert. Die Gliederung orientiert sich an den jeweiligen K rper nungen, den K rpersekreten und deren Aufnahme sowie Verteilung. Das Ziel besteht darin, eine Antwort auf die Frage zu versuchen, wie sich der individuelle K rper Helens zum Gesellschaftsk rper verh lt. Die erste Ekelgruppe umfasst Beispiele, die Helens eigene K rper nungen und -fl ssigkeiten betre en, wie etwa die H morrhoiden. Der zweite Komplex thematisiert die orale Aufnahme eigener K rperfl ssigkeiten, also intrakorporale Aktio11 Vgl. Menninghaus, Ekel. (Anm. 6), S. 16. 12 Vgl. Menninghaus, Ekel. (Anm. 6), S. 15. 13 Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 108.

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nen. Die dritte, interkorporale Kategorie steigert den Ekele ekt dadurch, dass sie von der oralen oder vaginalen Aufnahme fremder K rperfl ssigkeiten handelt. In der vierten Gruppe habe ich Beispiele aufgenommen, die den interkorporalen Austausch insofern steigern, als er den entlichen Raum kontaminiert, und die Helens Hobby des Bakterienverbreitens belegen14. Zur ersten Gruppe. Die Protagonistin beschreibt ihre H morrhoiden, die Analrasur, die Anal ssur und das Platzen der Wundwasserblase. Die eindringlichste Passage aus dieser Gruppe ist jene, in der Helen schlie lich nach mehreren Ank ndigungen ihre Operationswunde am Anus neuerlich aufrei t, mit dem erkl rten Ziel, den Krankenhausaufenthalt zu verl ngern in der Ho nung, ihre Familie dadurch wieder zusammenzuf hren. Die Beschreibung dieser bewussten Selbstverletzung weist durch mehrfache Wiederholungen ostentativ auf das Wort Blut . So hei t es zum Beispiel: Ich sehe die Bremse, die blutverschmierte. Die muss ich noch sauberwischen, sonst fliege ich auf. Ich stehe ganz schnell auf und rutsche in meinem Blut fast aus. Ich halte mich am Bett fest und gehe langsam zum Fu ende. Das Blut steigt zwischen den Zehen hoch auf den Fu . Ich muss aufpassen, dass mir kein Blutaquaplanning passiert.15 Insgesamt ist in der ersten Gruppe eine klare Dominanz des Anus und der F kalien sowie des Blutes festzustellen. Programmatisch f r den ganzen Roman wird die unhygienischste Stelle berhaupt in den Mittelpunkt gestellt.16 Durch mehrfache genaue Beschreibung stellt der Text den Anus der Protagonistin allenthalben vor Augen: die H morrhoiden, die Anal ssur, die nicht heilende Wunde, die bergro e Ö nung des Anus nach der Operation, der Anblick dieser Wunde und die Geruchsbildung nach dem chirurgischen Eingri : Hier riecht es nicht gut. Diesmal kein Gas. Da kann nur mein Arsch schuld sein, wer sonst? [ ] . Das ist braunes Wasser, das nach Kacke riecht. Gestern auf dem Foto stand mein Poloch ganz o en, ich glaube, dass da jetzt einfach alles rausl uft, weil das Loch nicht ganz eng zu ist, wie sonst. Der Verschluss ist nicht mehr dicht. Ich taufe das Zeug, das da rauskommt Kackeschwitze und habe mich jetzt schon dran gew hnt.17 Eine Intensivierung des Ekelgef hls erzeugen die Exempel der zweiten Gruppe dadurch, dass die Protagonistin ihre K rper nungen nicht nur bearbeitet und deren Fl ssigkeiten beschreibt, sondern auch diverse eigene K rpersekrete oral aufnimmt. Beispielsweise bekommt Helen nach der Operation auf eigenen Wunsch die am 14 15 16 17

Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 12. Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 172. Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 23. Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 88.

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Anus herausgeschnittenen K rperteile ausgeh ndigt.18 Unerschrocken und mit bemerkenswertem Interesse begutachtet sie das zerst ckelte Gewebe, das sie mein Gulasch nennt. Als sie fast zeitgleich eine Pizza konsumiert und sich die blutverschmierten Finger ableckt, kommt es zu einem u erst ungew hnlichen Austausch von oralen und analen K rperfl ssigkeiten: Die Finger sind voll mit Blut und Glitsch. Am Bett abwischen? Das g be eine Riesensauerei. Auch nicht am Engelskost m. Gleiche Sauerei. Hm. Na ja. Sind ja meine St cke aus meinem K rper. Auch wenn die entz ndet waren. Ich lutsche die Finger einfach ab, einen nach dem anderen. Auf solche Ideen von mir bin ich immer sehr stolz. Besser, als hilflos da im Bett zu sitzen und zu ho en, dass jemand mit Feuchtt chern kommt. Wieso soll ich mich vor meinem eigenen Blut und Eiter ekeln?19 Diese Einverleibung der eigenen K rperfl ssigkeiten wird als Akt der Selbsterm chtigung inszeniert, da sich Helen unabh ngig von externer Unterst tzung selbst zu helfen wei . Zugleich stellt die Protagonistin die f r Feuchtgebiete programmatisch anmutende Frage: Wieso soll ich mich vor meinem eigenen Blut und Eiter ekeln? Das Ablecken und nachfolgende Schlucken des Blutes und des sogenannten Glitsches ist im Text neben detailreich beschriebenen autoaggressiven Akten, die gegen die Heilung der Anal ssur gerichtet sind, wohl eine der prim ren Quellen des Ekels. Gesteigert wird diese A ektion durch die N he zum Essen, als Helen die Gewebeteile auf der Pizzaschachtel platziert. In derselben Passage beschreibt sich die Haupt gur als K rperausscheidungsrecyclerin ,20 der die orale Aufnahme von Mitessersekreten, Augenkr meln, Nasensekret und Wundschorf Lust verscha t. Sowohl Helens verst render Umgang mit dem eigenen K rper als auch die textuelle Vermischung von Krankheitswunden, K rperfl ssigkeiten und Lebensmitteln versto en auf drastische Art und Weise gegen alle geltenden Hygienekonventionen, die den Gesellschaftsk rper nach den Vorgaben moderner Politik nach M glichkeit rein halten sollen. In der dritten Gruppe sind die Ekelquellen nicht auf einer intrakorporalen, sondern auf einer interkorporalen Ebene zu nden. Helen referiert in diesen Passagen vom Gl ck, das sie emp ndet, wenn sie etwa das Sperma ihrer Geschlechtspartner auf oder in ihrem K rper empf ngt. Wenn ich mit jemandem cke, trage ich doch mit Stolz sein Sperma in allen K rperritzen, an den Schenkeln, am Bauch oder wo der mich sonst noch 18 Vgl. f r die Tradition des grotesken K rpers sowie f r den Bezug auf Anus und Exkrement in der Volkskultur: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, herausgegeben von Renate Lachmann und Gabriele Leupold. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 207, 216. 19 Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 79. 20 Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 21, 120, 31.

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vollgespritzt hat. Warum immer dieses bescheuerte Waschen danach? Wenn man Schw nze, Sperma oder Smegma ekelhaft ndet, kann mans mit dem Sex auch direkt bleiben lassen.21 Entscheidend bei diesen Reflexionen sind die W rter mit jemandem , die eine Austauschbarkeit und Willk r bei der Wahl der Sexualpartner von Helen zum Ausdruck bringen und gleichzeitig eine Masse an Partnern sowie eine hohe Quantit t an Sperma suggerieren. Dieselbe Begeisterung legt Helen an den Tag, wenn sie an sp terer Stelle im Text davon schw rmt, eine Pizza mit Sperma von f nf verschiedenen M nnern zu verzehren: Ich w rde gerne mal eine Pizza mit f nf verschiedenen Spermasorten essen. Das ist ja wie Sex mit f nf fremden M nnern gleichzeitig. Na gut, nicht direkt Sex. Aber doch so, als h tten mir f nf unbekannte M nner gleichzeitig in den Mund gespritzt. Das ist doch erstrebenswert f rs Lebensbuch, oder? Wenn man das von sich behaupten kann: sehr gut.22 Das nachgestellte oder? verweist augenzwinkernd und zugleich provokativ auf die Ironie des Gesagten. W hrend die Vorstellung, unwissentlich Sperma auf einer Pizza zu verzehren, vermutlich f r viele ein Schreckensbild ist, w nscht es sich Helen mit Freude herbei, weil sie darin einen weiteren vermeintlich wichtigen Eintrag in ihrem Lebensbuch erblickt. In der lustvollen An- und Aufnahme anderer K rperfl ssigkeiten und der Ablehnung des Waschens ist wiederum eine klare Absage an alles Hygienische zu erkennen, das von Helen durchweg als steril abgewertet wird. Die vierte Gruppe umfasst die per desten Ekelquellen im Text. Helens K rperfl ssigkeiten werden nunmehr extrakorporal verteilt, mit dem Ziel, den Gesellschaftsk rper zu kontaminieren. Drei Beispiele verdeutlichen exemplarisch Helens selbst deklariertes Hobby des Bakterienverbreitens 23. Detailreich beschreibt sie etwa ihr ungew hnliches Verhalten auf entlichen Toiletten: Also habe ich mich zu einem lebenden Muschihygieneselbstexperiment gemacht. Mir macht es Riesenspa , mich nicht nur immer und berall br sig voll auf die dreckige Klobrille zu setzen. Ich wische sie auch vor dem Hinsetzen mit meiner Muschi in einer kunstvoll geschwungenen H ftbewegung einmal komplett im Kreis sauber. Wenn ich mit der Muschi auf der Klobrille ansetze, gibt es ein sch nes schmatzendes Ger usch und alle fremden Schamhaare, Tropfen, Flecken und Pf tzen jeder Farbe und Konsistenz werden von meiner Muschi aufgesogen. Am liebsten an Rastst tten, wo es f r M nner

21 Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 26. 22 Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 62. 23 Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 112.

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und Frauen nur eine Toilette gibt. Und ich habe noch nie einen einzigen Pilz gehabt. Das kann mein Frauenarzt Dr. Br kert best tigen.24 Helen berichtet freudig ber die physische Aufnahme fremder K rperhaare und -fl ssigkeiten und demontiert zum wiederholten Mal g ngige Hygienebestimmungen. Neben einer verunreinigten Grillzange, die f r das Herausholen eines verloren gegangen Tampons aus der Vagina verwendet wird und danach unges ubert wieder zum Grillen benutzt wird, erreicht der Text mit dem letzten Beispiel einen H hepunkt: In einem regelrechten Amoklauf der K rperfl ssigkeiten verteilt Helen schlie lich Menstruationsblut neben den Druckkn pfen im Krankenhausaufzug und hinterl sst ein gebrauchtes Tampon. Wenig sp ter erneuert Helen ihre Spuren im Aufzug, als sie feststellt, dass der hinterlegte Tampon entfernt wurde. Nichts da. Wie vermutet. Tampon weg. Nicht der Hauch von einem Blutfleck zu erkennen. Im Krankenhaus haben Blutflecken eine kurze Halbwertszeit. Ich schiebe die Spitze meines Zeige ngers in meinen Blutbeh lter und tupfe wie fr her beim Karto eldruck einen ovalen Blutfleck genau an die Stelle, von der die meine Sachen entfernt haben. Die kriegen mich nicht. 25 Der Satz Die kriegen mich nicht erinnert an Die wollen es nicht so genau wissen .26 In beiden Aussagen stellt sich Helen der Gesellschaft gegen ber und inszeniert sich als Rebellin, nahezu als Menstruationsblutkriegerin. Eine sterilisierte 18-J hrige verunreinigt den sterilen Raum Krankenhaus also mit einer K rperfl ssigkeit, die selbst als Rest eines weiblichen k rperlichen Reinigungsprozesses gilt und sich aus den ausgeschiedenen Resten einer nicht erfolgten Empf ngnis zusammensetzt. Solcherart macht Helen tabuisierte Weiblichkeit sichtbar; und zwar genau dort, wo Sterilit t und Hygiene den h chsten weil auch lebenserhaltenden Stellenwert haben: im Krankenhaus.27 In allen vier Gruppen ndet ein intensiver und extensiver Austausch an K rperfl ssigkeiten statt. W hrend Helen verbal wenig bis gar nicht mit ihren Mitmen24 25 26 27

Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 20. Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 146. Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 137. Nach Julia Kristeva l t sich die Dominanz der Vagina und des Menstruationsbluts als Zeichen eines genuin weiblichen Aufbegehrens verstehen, w hrend der Fokus auf Exkremente eine Gef hrdung der weiblichen Identit t von au en markiert: Excrements and its equivalents (decay, infection, disease, corpse, etc.) stand for the danger to identity that comes from without: the ego threatening by the non-ego, society threatened by its outside, life by death. Menstrual blood, on the contrary, stands for the danger issuing from within the identity (social or sexual); it threatens the relationship between the sexes within a social aggregate, and through internalization, the identity of each sex in the face of sexual difference . Julia Kristeva, Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press 1982, S. 71.

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schen kommuniziert, zeigt der Fokus auf den K rper den Sachverhalt an, dass sie im Wesentlichen physisch mit der Au enwelt interagiert. 4. Der versehrte weibliche K rper im Brennpunkt Schon auf den ersten Seiten treten Programm und Strategie des Textes deutlich hervor: Der weibliche K rper steht im Brennpunkt; und zwar der versehrte und schmerzende K rper der Frau. Der imaginierte Blick der Leserschaft wird dabei aufdringlich nah auf die K rper nungen und -fl ssigkeiten der Protagonistin gerichtet. Ausw chse wie H morrhoiden, Einschnitte wie die selbstverursachte Analssur, Fremdgegenst nde in der Vagina wie der Avocadokern und o ene, nicht heilende Wunden stehen einem glatten und unbedarften K rper entgegen und rebellieren gegen eine sterile, hygienische sthetik des Weiblichen. Die Signi kanz der K rperoberfl che, der K rper nungen und deren K rperfl ssigkeiten f r die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen, f r die Abgrenzung des Innen und Au en und somit f r die Autonomie und Identit t verdeutlicht Susan Grosz wie folgt: The surface of the body, the skin, moreover provides the ground for the articulation of ori ces, erotogenic rims, cuts on the body s surface, loci of exchange between the inside and the outside, points of conversion of the outside into the body, and of the inside out of the body. These are sites not only for the reception and transmission of information but also for bodily secretions [ ], ongoing processes of sensory stimulation which require some form of signi cation and sociocultural and psychical representation.28 Grosz argumentiert f r eine weibliche K rperlichkeit des Aussickerns.29 In Feuchtgebiete ndet sich dieses Moment des Aussickerns anal wie vaginal wieder, wird jedoch um das Moment des Aufnehmens erg nzt. Helen verliert Fl ssigkeit freiwillig oder nicht und nimmt K rperfl ssigkeiten bewusst auf, wodurch sie sich gegen das passiv-weibliche Modell des Aussickerns und Auslaufens wehrt. Helens sekretreicher Rachefeldzug gegen die Hygienegesellschaft ist aber ein gebrochener. Nie distanziert sie sich vollst ndig vom Gesellschaftsk rper. Stets ist es eine partielle Integration, ein Austarieren ihrer eigenen Bed rfnisse und Verh ltnisse, das sie an bestimmten Konventionen festhalten l sst (etwa an der weiblichen Rasur) oder nicht (z.B. die Verwendung eines Ekel-Parfums ).30 In diesen Bruchstellen liegt meiner Meinung nach Potenzial f r eine drastische Lekt re des Textes, die Helens Positionierung innerhalb und au erhalb des Gesellschaftsk rpers unter28 Elizabeth Grosz, Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington: Indiana Universiy Press 1994, S. 36. 29 Vgl. Grosz, Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism (Anm. 28), S. 203. 30 Roche, Feuchtgebiete (Anm.1), S. 19.

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sucht sowie die Grenzen dieser betont naiven, (un-)m dchenhaften und humorvoll gebrochenen Provokations-Drastik ausmacht. 5. Drastik und Ekel Innerhalb und au erhalb des Texts wird ber die k rperliche N he eine spezi sch drastische Qualit t erreicht, die neue literarische Formen der weiblichen pop- und postfeministischen Selbsterm chtigung auslotet. Hoch aufl send detailreich um mit Dietmar Daths Worten zu sprechen wird eine ekelhafte K rperlichkeit diskutiert, die Ausdruck eines tiefer liegenden Unbehagens ist.31 Insofern erf llt Feuchtgebiete auch drei wichtige Aspekte von Terezia Moras Verst ndnis von drastischer Kunst, wenn von dieser verlangt wird, dass sie weit genug gehen, ber hren und berschreiten muss.32 Mora res miert, dass es die betonte Leiblichkeit ist, die manche Leute als drastisch empfanden; dass alles darin so sehr K rper war. 33 Diese pr sente K rperlichkeit, die intensive und extensive Nutzung der aufgezeigten Ekelquellen und - guren sowie die derbe und deutliche Sprache machen Feuchtgebiete zu einem drastischen Text, wenn man sich an den g ngigen Wortbedeutungen orientiert.34 Im Roman dient diese Drastik einem gezielten Angri auf gesellschaftliche Konventionen und verlangt nach einer ad quaten sthetischen Haltung: Wenn die unedel gewordenen K nste Drastik ins Spiel bringen, geht es immer um die Minimierung von Distanz, sei diese emotional, intellektuell oder r umlich verstanden. Drastische Objekte sind idealerweise so verfasst, dass sie den Rezipienten berfordern oder ihm will er sie aushalten Distanzierungs- und Kontrollleistungen abverlangen, die ihrerseits drastisch sind.35 In Feuchtgebiete wird diese Distanzierungs- und Kontrollleistung , die einer Abwendung des Blicks gleichk me, thematisch, wenn Helen sinniert: Es wird dich zum Gl ck keiner darauf ansprechen. So sind die Menschen nicht. Die wollen es nicht so genau wissen .36 In dieser Schl sselpassage spricht Helen das Skandalon des Textes selbst an. Es besteht darin, dass die autodiegetische Erz hlung eine N he produziert, die derart unertr glich wirkt, dass sie nach Distanzierung verlangt. Im 31 Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 59. 32 Ter zia Mora, ber die Drastik , in: Bella triste 16 (2006), S. 68-74. 33 Mora, ber die Drastik (Anm. 32), S. 68. 34 Vgl. Werner Drosdowski, G nther Scholze-Stubenrecht und Mattias Wermke (Hrsg.), Duden Fremdw rterbuch, 6. Auflage, Mannheim: Dudenverlag 1997, S. 206. 35 Dirck Linck, ber ein paar M glichkeiten, das popkulturelle Vergn gen an drastischen Gegenst nden zu erkl ren , in: Kultur & Gespenster 7 (2008), S. 293-322, hier S. 44. 36 Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 137.

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Folgenden m chte ich die Drastik des Textes ber die herk mmlichen Parameter hinaus mit Blick auf das Verh ltnis zum Humor analysieren. 6. Humorvoll und drastisch Der Stil folgender Passage ist repr sentativ f r den gesamten Roman und zeigt m glicherweise auf, wie dessen Drastik strukturiert sein k nnte: Weil ich mich innerlich sehr gegen das Rasieren wehre, mache ich das immer viel zu schnell und zu dolle. Genau dabei habe ich mir diese Anal ssur zugef gt, wegen der ich jetzt im Krankenhaus liege. Alles das Ladyshaven schuld. Feel like a Venus. Be a goddess!37 Dieser Textstelle kommt insofern eine verst rkte Bedeutung zu, als sie die eigentliche Erz hlursache n her erl utert. Trotz der inneren Abwehr gegen das Rasieren gibt Helen den gesellschaftlichen Anforderungen des Ladyshavens nach, was zuletzt zu einem l ngeren schmerzhaften Krankenhausaufenthalt f hrt. Ein Kon ikt zwischen den Bed rfnissen des weiblichen Individuums und gesellschaftlich- sthetischen Konventionen stellt demnach den Schmerz- und Verletzungsausl ser dar. In hnlich apsigem Ton werden der Leserschaft auf ber 200 Seiten Einblicke in das unkonventionelle Leben der jungen Anti-Heldin gew hrt. Die viel kritisierte Form des Textes ist durch umgangssprachliche Wendungen und grammatikalisch unvollst ndige S tze charakterisiert. So wird der Eindruck einer naiven, unverf lschten und unmittelbaren M ndlichkeit im Erz hlen erzeugt, die gleichsam die Authentizit t in der Darstellung der Gedanken einer 18-J hrigen in einem psychologischen Ausnahmezustand verb rgen soll. Oftmals sind die Passagen durchzogen von fast wissenschaftlich akribischen Beobachtungen am eigenen K rper und von medizinischen Fachtermini, die wiederum von jugendsprachlichen Bezeichnungen aus dem Gebiet der Sexualit t konterkariert werden: sauberer Posex 38 und Arsch cken 39, H morrhoiden als Blumenkohl 40 und Smegma 41 vs. Muschischleim 42. Die Gesamtheit der sprachlichen Merkmale kann als Verweigerung gegen ber g ngigen sthetischen Konventionen gelesen werden. Weitere Stilmerkmale, die sich durch den gesamten Roman ziehen, sind die Figuren der Steigerung, der Hyperbel und der Ironie. Die inhaltliche und formale Hyperbolik 43 sowie die inten37 38 39 40 41 42 43

Roche, Feuchtgebiete (Anm.1), S. 10. Roche, Feuchtgebiete (Anm.1), S. 91. Roche, Feuchtgebiete (Anm.1), S. 92. Roche, Feuchtgebiete (Anm.1), S. 9. Roche, Feuchtgebiete (Anm.1), S. 26. Roche, Feuchtgebiete,(Anm.1), S. 21. Annette Peitz, Chick Lit. Genrekonstituierende Untersuchungen unter anglo-amerikanischem Einfluss, Frankfurt a. M., u. a.: Peter Lang 2010, S. 216.

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sive Selbstbeobachtung und Selbst xierung 44 lassen den Text k nstlich und konstruiert wirken45 und erzeugen eine humorvolle Wirkung, die jedoch immer wieder gebrochen wird und an die Strukturen von Freuds Ausf hrungen zum (Galgen-) Humor erinnert: Kein Zweifel, das Wesen des Humors besteht darin, da man sich die A ekte erspart, zu denen die Situation Anla g be, und sich mit einem Scherz ber die M glichkeit solcher Gef hls u erungen hinaussetzt.46 Freud geht davon aus, dass das Ich durch Humor nicht zul sst, sich zum Leiden n tigen zu lassen, es beharrt dabei, da ihm die Traumen der Au enwelt nicht nahegehen k nnen, ja es zeigt, da sie ihm nur Anl sse zu Lustgewinn sind . Insofern zeigt sich das Ich nicht resigniert, sondern trotzig und lustorientiert. Es versucht sich im Humor ber die Ungunst der realen Verh ltnisse zu behaupten .47 Durch diese beiden letzten Z ge, die Abweisung des Anspruchs der Realit t und die Durchsetzung des Lustprinzips n hert sich der Humor den regressiven oder reaktion ren Prozessen, die uns in der Psychopathologie so ausgiebig besch ftigen.48 Charlotte Roche sch pft diese Eigenschaften des Humors als Realit tsabweisungsund Lustdurchsetzungsprinzip voll aus, wenn sie etwa detailreiche Beschreibungen des Schmerzes mit einem Augenzwinkern bricht: Be a goddess kontrastreicher k nnte das Bild der von der Werbung gezeichneten haarfreien weiblichen G ttin im Vergleich mit der verletzten und von H morrhoiden geplagten Helen nicht sein. In Abgrenzung zu herk mmlichen, ausschlie lich auf Ekel gest tzten Varianten konterkariert der Text das Drastische in markanter Art und Weise durch Momente des Humors. Wenn sich dieses Wechselspiel von Drastik und Humor als ironisches Verfahren beschreiben l sst, kann davon ausgegangen werden, dass Roche in Feuchtgebiete eine neue, eigene Form humorvoller Drastik erzeugt. Die Autorin f hrt vor, dass Drastik durch Humor nicht zwangsl u g aufgel st wird. Diese Form der humorvollen Drastik basiert auf zahlreichen Irritationsmomenten, die sich in der Kollision von Schmerz und Lust, jugendlicher Naivit t, abgebr hter Experimentierfreudigkeit und gesellschaftlichem Aufbegehren sowie im Versto gegen g ngige sthetische Normen innerhalb und au erhalb des Textes manifestieren. In der Per44 Peitz, Chick Lit. (Anm. 43), S. 213. 45 Vgl. Peitz, Chick Lit. (Anm. 43), S. 225. 46 Sigmund Freud, Der Humor (1927), in: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Werke aus den Jahren 1925-1931, Band 14, herausgegeben von Sigmund Freud, Anna Freud und Maria Bonaparte, London: Imago 1948, S. 383-389, hier S. 384. 47 Freud, Der Humor (Anm. 46), S. 385. 48 Freud, Der Humor (Anm. 46), S. 386.

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vertierung patriarchal-maskuliner Ekelkonzepte wie der vetula zeigt sich diese humorvolle Drastik als eine weibliche. Gerade durch zahlreiche Bruchstellen beweist der Text seine Qualit t und zeigt auf, dass sich Drastik und Humor nicht ausschlieen m ssen. Auch das Textende, insbesondere das allerletzte Wort, legt eine derartige Lekt re nahe, als Helen mit ihrem Krankenpfleger Robin das Krankenhaus verl sst. Wir gehen bis zur Glast r. Ich dr cke mit Schmackes auf den Buzzer, die T r schwingt auf, ich lege den Kopf in den Nacken und schreie. 49 Der Text endet weder mit einer drastischen Schmerzensbekundung noch mit befreiendem Humor, sondern mit einem ambivalent zu deutenden Schrei der Protagonistin einem Schrei, der sowohl als Symptom f r Humor als auch f r Drastik gelesen werden kann.

49 Roche, Feuchtgebiete (Anm. 1), S. 220.

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BLUTIG BLUTEN DRASTIK IN RAINALD GOETZ

SUBITO

Spricht man ber Subito , geht es h u g weniger um den gleichnamigen Text, den Rainald Goetz im Juni 1983 bei den Ingeborg-Bachmann-Tagen in Klagenfurt pr sentiert hat.1 Erinnert wird vielmehr dessen Pr sentation, die Lesung als spektakul rer Auftritt, als Aufsehen erregende Aktion.2 Dabei kommt zumeist nur ein vergleichsweise kurzer Ausschnitt aus Goetz Lesung beim Wettbewerb in Klagenfurt in den Blick, der au llt, weil er auf spezi sche Weise gleich mehrfach die Register dessen zieht, was man als sthetik des Drastischen begreifen kann, und auch auf diese Weise die Begleitumst nde und Rahmenbedingungen des Wettbewerbs adressiert, die Bachmannpreis-Jury und die anwesenden Literaturkritiker, das Saal- wie das Fernsehpublikum, das den Wettbewerb erstmals in Farbe empfangen konnte. Eine Collage aus den ersten entlichen Reaktionen auf den Auftritt f hrt vor Augen, worauf sich die Blicke bevorzugt gerichtet haben: Blut flo am Wochenende beim Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb in der K rntener Landeshauptstadt Klagenfurt, als sich der deutsche Autor Rainald G tz zum Abschlu seiner Lesung vermutlich mit einer Rasierklinge einen tiefen Schnitt auf der Stirn beibrachte. Blut berstr mt trug er die letzten Passagen seines Wettbewerb-Textes vor, der bereits zuvor wegen seiner Aggressivit t gegen das kulturelle und literarische Leben und insbesondere den Bachmann-Preis selbst beim Publikum und der Jury Spannung ausgel st hatte. Der Saal war zum Zeitpunkt des Zwischenfalls mit Hunderten von Menschen besetzt ... Der junge Mann im New-Wave-Look beginnt mit Ausz gen aus seinem Buch, geht dann unvermittelt nur auf den Anla bezogen zur Fehde ber, liest vom Schmarren , denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird . Steigert sich zum atemlosen Staccato: Ohne Blut logisch kein Sinn. Und weil ich kein Terrorist nicht gewor1 Rainald Goetz, Subito , in: Klagenfurter Texte zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1983, herausgegeben von Humbert Fink und Marcel Reich-Ranicki, M nchen: List 1983, S. 65-77; eine geringf gig modifizierte Version ist abgedruckt in: Peter Glaser (Hrsg.), Rawums. Texte zum Thema, K ln: KiWi 1984, S. 152-165; im Folgenden wird zitiert wird nach dem Wiederabdruck von Subito in: Rainald Goetz, Hirn, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 9-21. 2 Ein Zusammenschnitt der Lesung findet sich u.a. unter http://www.youtube.com/ watch?v=Wn64AVFydDw (zuletzt aufgerufen: 30. 7. 2016); ausf hrlich zu Goetz Auftritt und zu den medialen Rahmenbedingungen von Lesung und Mitschnitt Innokentij Kreknin, Poetiken des Selbst. Identit t, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst, Berlin: de Gruyter 2014.

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den bin, deshalb kann ich blo in mein eigenes wei es Fleisch schneiden. Und z ckt blitzschnell eine Rasierklinge, schneidet sich quer ber die ganze Stirnbreite, sitzt deziliterweise blutend da, bis das Publikum merkt: Das Blut ist echt. Erste Hilfe wird aufgeboten, der Autor wehrt ab. Die Jury erkl rt: Herr Goetz hat Medizin studiert, er will nicht, da sich ein Arzt um ihn k mmert; es ist sein Wunsch, in blutendem Zustand die Meinung der Jury zu h ren ... Er las einen sprachlich keineswegs reizlosen, inhaltlich aber wirren und nach wohlfeilen E ekten haschenden Text vor ... Blut quoll aus der Wunde, lief ber die Nase, das Kinn und tr pfelte auf das Manuskript, aus dem er bis zum Ende las, als sei nichts geschehen ...3 Nicht nur die erste Rezensionswelle hebt fast ausschlie lich auf das Blutbad ab ,4 das Goetz mit seinem Schnitt in die Stirn ausgel st hat, bis heute wird Goetz derma en mit dieser Aktion identi ziert, dass es bei Einlassungen auf seine Texte immer noch blich ist, zumindest kurz zu erw hnen, dass er der Autor ist, der sich 1983 in Klagenfurt die Stirn aufgeschnitten hat. Selbst die deutlich sp ter einsetzende Kanonisierung von Subito als Ausgangspunkt f r eine neue, sich unter den Vorzeichen von Pop formierende Gegenwartsliteratur lenkt die Aufmerksamkeit noch auf den Stirnschnitt: Erst durch einen Schnitt in die Stirn mit einer Rasierklinge kam Pop zur ck ins Spiel. 5 Und: Was danach geschrieben wurde und immer noch geschrieben wird, ist nat rlich nicht alles Pop. Aber Pop war ein Anfang, Goetz war ein Anfang, der Schnitt in Klagenfurt war ein Anfang... 6 Dass das Blutbad hier mit Pop assoziiert wird, mag ebenso berraschen wie die Tatsache, dass angesichts des Schnitts in die Stirn die Lesung und, mehr noch, der gelesene Text weitgehend aus dem Blick ger t. Das ist auch insofern misslich, als hier, im Text, der bei der Lesung vollzogene Schnitt ebenso vorweggenommen und reflektiert wird wie der literarische Entwurf einer Pop- sthetik. Dabei erweist sich der Text bei n herem Hinsehen nicht nur als brauchbarer Fundort f r Stellen, die das Repertoire der Drastik sachgerecht erg nzen k nnen, sondern auch als Rah3 Auszug aus einer sehr viel umfangreicheren Collage von Reaktionen auf die Lesung, die ich unter dem Titel Klagenfurt, Schnitte ver ffentlicht habe in: Anf hren Vorf hren Auff hren. Texte zum Zitieren, herausgegeben von Volker Pantenburg und Nils Plath, Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 281-286, hier: S. 281 (zitiert werden hier eine dpa-Meldung, die Basler Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung). 4 Thomas Doktor und Carla Spies, Gottfried Benn Rainald Goetz. Medium Literatur zwischen Pathologie und Poetologie, Opladen: VS Verlag f r Sozialwissenschaften 1997, S. 101. 5 Georg M. Oswald, Wann ist Literatur Pop? Eine empirische Antwort , in: Der deutsche Roman der Gegenwart, herausgegeben von Wieland Freund und Winfried Freund, M nchen: Wilhelm Fink 2001, S. 29-43, hier S. 30 f. 6 Volker Weidermann, Pop war nur ein Anfang. Es begann mit einem scharfen Schnitt: Diese f nfundzwanzig B cher mu man gelesen haben , in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 17.3.2002; der Text er ffnet eine Feuilletonbeilage mit dem Titel Die neuen Klassiker. Ein kleiner Kanon f r die Gegenwart: Die wirkungsvollsten deutschen B cher der letzten zwanzig Jahre , in der u. a. auch Goetz Roman Irre kommentiert wird.

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men f r weiterf hrende Reflexionen zu einer sthetik des Drastischen nicht nur, aber auch unter den Vorzeichen von Pop. So lassen sich in Subito bereits Anfang der 1980er Jahre schon die drei Positionen ausmachen, mit denen Davide Giuriato im vorliegenden Band Schwerpunkte der Drastik-Diskussion der letzten Jahre skizziert.7 Goetz verschreibt sich jener vivisektionistischen Explizitheit , die Dietmar Dath in Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Drastik und Deutlichkeit als konstitutives Moment von Drastik hervorhebt.8 In einer eigent mlichen Fixierung auf den Modus der Wahrheit und mit deutlichen Abwehrgesten gegen ber ironischen Distanzierungsma nahmen scha t Goetz dabei zugleich die Voraussetzungen f r ein sthetisches Ereignis, das dem Leser oder Zuschauer bis zur Unertr glichkeit auf den Leib r ckt , wie Giuriato mit Blick auf die Position von Ter zia Mora schreibt.9 Zudem lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Komplikationen jener Gegen berstellung von drastischer und gnostischer Rezeption, die Carolyn Abbate hervorhebt, um den Modus der direkten Erfahrung von hermeneutisch ansetzenden Zugangsweisen zu unterscheiden.10 Wenn dabei eine Rhetorik der Unmittelbarkeit und Drastik , wie Brigitte Weingart im Blick auf Goetz Texte aus den 1980er Jahren schreibt, zum Programm geh rt,11 ist damit zun chst jene Pop-Programmatik benannt, f r die Goetz am Ende von Subito f r ein paar S tze in die Sprache des Manifests wechselt: Wir brauchen keine Kulturverteidigung. Lieber geil angreifen, k hn totalit r roh k mpferisch und lustig, so mu geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt. [...] Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop.12 Hier wie an anderen Stellen nden sich, ohne dass im Text oder in der damaligen Diskussion von Drastik die Rede ist, jene Strategien der Steigerung, der Zuspitzung , die drei ig Jahre sp ter mit diesem Begri belegt werden, wie auch der Modus der bertreibung und Provokation , der gleicherma en mit Drastik assoziiert, in der aktuellen Diskussion hinsichtlich seiner Tragf higkeit aber zunehmend 7 Vgl. dazu Davide Giuriato, Aktualit t des Drastischen. Zur Einleitung , im vorliegenden Band, S. 7-19, hier S. 8-11. 8 Dietmar Dath, Die salzwei en Augen. Vierzehn Briefe ber Deutlichkeit und Drastik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 21. 9 Giuriato, Aktualit t des Drastischen (Anm. 7), S. 10, mit Bezug auf Ter zia Mora, ber die Drastik , in: BELLA triste 16 (2006), S. 68-74. 10 Carolyn Abbate, Music Drastic or Gnostic? , in: Critical Inquiry 30 (2004), S. 505-536; vgl. dazu Giuriato, Aktualit t des Drastischen (Anm. 7), S. 10f. 11 Brigitte Weingart, Faszinationsanalyse , in: Der Stoff, an dem wir h ngen. Faszination und Selektion von Material in den Kulturwissenschaften, herausgegeben von Gerald Echterhoff und Michael Eggers, W rzburg: K nigshausen & Neumann 2002, S. 19-29, hier S. 21. 12 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 21.

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problematisiert wird.13 Zugleich adressiert Goetz mit Subito Schlagworte wie Leben , Gegenwart und Intensit t , die gegenw rtig die Drastik-Diskussion mitpr gen,14 Anfang der 1980er Jahre aber auch unabh ngig davon vieldiskutierte Konzepte der sthetischen Theorie waren, angesto en etwa durch Jean-Fran ois Lyotards Buch Intensit ten, 1978 in deutscher bersetzung im Merve Verlag publiziert, oder Karl Heinz Bohrers 1981 ver entliche Studie Pl tzlichkeit, auf die Goetz mit seinem Titel Subito durchaus direkt verweist.15 All das aber, Drastik, Zuspitzung, Provokation und Pl tzlichkeit, wirkt zun chst merkw rdig deplatziert, wenn man den Anfang von Subito liest: Eines Abend, oder war es sp ter Nachmittag, die W rme des vergangenen, seltsam berhitzten Fr hlingstages lag noch auf den Str uchern, Wiesen und Kieswegen, fand sich Doktor Raspe in grundloser Heiterkeit auf einer Parkbank im Innenhof der Klinik wieder, neben Kiener, der sich gew hnlich Hegel nannte, und zwischen Raspe und Kiener flogen bisweilen Scherzworte hin und her, von einem hellen Witz. Nichts drohte. Oh, wie wohl ist mir am Abend, dachte Raspe und hatte ein Lied im Ohr. Melodien, Musik wozu K mpfe? Er f hlte die W rme der Luft in seinen K rper dringen, blau und hoch der Himmel, kosmische Vereinigung, und mit der W rme den Geruch der Erde.16 Der Ton und die Bilder, die der Text im ersten Absatz entfaltet, sind kaum mit jenen Rezeptionszeugnissen in Verbindung zu bringen, die auf den Auftritt in Klagenfurt oder die heute noch verf gbaren Mitschnitte fokussiert bleiben. Wird auch deshalb der Anfang von Subito nur u erst selten zitiert? Er steht zumindest, wie auch die folgende, nur wenige Abs tze sp ter vorzu ndende Passage, die die zu Beginn entworfene Stimmung in anderer Form fortschreibt, merkw rdig quer zu den Eindr cken, die der Text und seine Pr sentation in Klagenfurt hinterlassen haben: Dankbar reiste er mit den Augen Claude Lorrains. Von Licht und Weisheit durchflutet lag da die herrlich hingemalte Landschaft, fern, so fern, da stand sie still. Das war eine Wiese, und die Felder bl hten hell, in der N he, da verschoben sich die H gel, dazwischen ein Flecken mit Kirchturm, in die Unendlichkeit hinverduckte Dorfnatur B ume Silhouetten, sfumato und fort, der Bahnwall zog hoch, ein Himmelheben und Senken und Heben, pl tzlich 13 Peter Siller und Bertram Lomfeld, Editorial , in: polar #16 (2014): Kunst der Drastik, unter: http://polar-zeitschrift.de (zuletzt aufgerufen: 30.7.2016). 14 Vgl. Giuriato, Aktualit t des Drastischen (Anm. 7), S. 7 sowie Siller und Lomfeld, Editorial (Anm. 13). 15 Jean-Fran ois Lyotard, Intensit ten, Berlin: Merve 1978; Karl Heinz Bohrer, Pl tzlichkeit. Zum Augenblick des sthetischen Scheins, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981. 16 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 9.

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weitete sich wieder der Blick, und oben stand die Sonne, ja, diese Ruhe hinten in der Ferne, im Dunst, so ein Stillstand, da wu te Raspe die H gelstreifen des Horizonts erstmals als BL UE zu sehen. Wie lange schon hatte er in die Ferne geschaut und ihren Namen nicht gekannt. Und nun sah er auch, wie der Meister jenseits der letzten H gelahnung der sph rischen Dunstfarbe ein Hellstbraunpigmentlein eingemischt hatte, so sehr wollte der Himmel der Erde sich anverwandeln.17 Warum, k nnte man fragen, sind es nicht diese Impressionen, warum ist es nicht dieser merkw rdig hohe, zugleich dezente Ton, diese selbst durchaus lichten Reflexionen anl sslich der lichtdurchfluteten Bilder von Claude Lorrain,18 warum sind es nicht die sph rische Dunstfarbe und das Hellstbraunpigmentlein , die erinnert werden, wenn man sich auf Subito bezieht, sich an den Text erinnert? Sind sie nicht repr sentativ? Fallen sie aus dem Zusammenhang? Beides ist, sieht man sich den Zusammenhang, dem sie entnommen sind, genauer an, der Fall. Allerdings nur insofern, als bei einem genaueren Hinsehen zugleich deutlich wird, dass auch jene anderen, h u ger zitierten und umwegloser auf die hier zur Diskussion stehende sthetik des Drastischen beziehbaren Passagen kaum repr sentativ zu nennen sind f r einen Text, in dem einiges aus eben dem Zusammenhang f llt, den er gleichwohl selbst konstituiert. Der anf nglichen Evokation der W rme der Luft , dem Bild des Himmels, blau und hoch , und dem Geruch der Erde folgen im Text zun chst Reflexionen Raspes ber die Situation in der Klinik, die ihn, die Tonlage deutlich verschiebend, erw gen lassen, dem Direktor voll in die Eier zu haun und ihm die Maske der braun gebrannten Gesichtshaut samt schlohwei wei em Haar herunterzurei en .19 Der n chste Absatz setzt dann unvermittelt mit berlegungen Raspes zu einer Lesung ein, die sich nicht zuletzt als eine selbstreflexive Wendung erweisen, die Subito im R ckblick gleicherma en auf die Pr sentation in Klagenfurt wie auf Goetz ersten Roman Irre beziehbar machen, der einige Monate nach der Lesung in Klagenfurt, im Herbst 1983, erschienen ist und in dem die zitierte Anfangspassage von Subito nahezu wortw rtlich abgedruckt wird: Das ist doch ein Schmarren, sagte Raspe, das ist doch ein Krampf, denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird, eine tote Leiche w re das, die ich mitbringen t te und hier voll tot auf den Tisch hin legen t te, ich bin doch kein Bl del nicht, ich lege denen doch keinen faulig totig stinkenden Kadaver da vor sie hin, vom dem sie eine Schlafvergiftung kriegen 17 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 10. 18 Das Reisen mit den Augen Claude Lorrains ist vermutlich auch auf eine Ausstellung zur ckzuf hren, die im Fr hjahr 1983 in M nchen zu sehen war, vgl. dazu den Ausstellungskatalog von Marcel Roethlisberger, Im Licht von Claude Lorrain. Landschaftsmalerei aus drei Jahrhunderten, M nchen: Hirmer 1983. 19 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 9.

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m ssen, es mu doch BLUTEN, ein lebendiges echtes rotes Blut mu flie en, sonst hat es keinen Sinn, wenn kein gescheites Blut nicht flie t, dann ist es blo ein Pippifax oder ein ausgelutschter B stenhaltertr ger, aber logisch nichts Gescheites, ein Blut ein Blut ein Blut, das m te raus flie en, Spritz Quill Str m, so m sste es voll echt spritzen, am besten aus so einem fetten Direktor, das t te mir gefallen, in dem sein Fleisch hinein zumschneiden, den zumfoltern, und w hrend er blut berstr mtmundig um Gnade winseln t te, t te er logisch ge lmt werden, wie dann hinein geschnitten wird in das n chste Fleisch, alles logisch in Farbe, das bleiche wei e fette Fleisch und das sch ne rote Blut, alles blutig voll Blut, bis es enden t te, zum Schlu , er dauernd schon, R chel R chel .20 Im Modus schriftlich simulierter M ndlichkeit, die bayerische Idiomatik mit Versatzst cken aus Comicsprache und Splatter lmimagination unterlegt, wird das zuvor entwickelte Klinik-Szenario mit Reflexionen ber eine bevorstehende Lesung und den Literaturbetrieb kurzgeschlossen. Dies geschieht ber die Einf hrung jenes Bildkomplexes, den der Text im weiteren Verlauf noch mehrfach aufrufen wird und den Goetz mit dem Schnitt in die Stirn am und mit dem eigenen K rper in Szene setzt, indem er eben das performativ reproduziert, was der Text gleich zu Beginn als Wunsch und Forderung vorgibt lebendiges echtes rotes Blut mu flieen , ein Blut ein Blut ein Blut , das sch ne rote Blut, alles blutig voll Blut . Mit kaum zu berbietender Plakativit t wird der ruhige Ton der Anfangspassage durch vitalistische Bilder und Gesten konterkariert, durch eine Sprache, die die Drastik des Dargestellten mit kaum weniger drastischen Darstellungsweisen supplementiert, sich als berschreitung nicht nur sittlich-moralischer, sondern auch sprachlicher Konventionen pr sentiert. Die merkw rdig bersteigerte Fokussierung auf das Blut f hrt allerdings zugleich vor Augen, wie schnell drastische Bilder durch Zuspitzung, Steigerung und Wiederholung ins Komische kippen k nnen, wie schro e Kontraste durch berplakativit t nicht nur provokativ, sondern zugleich auch l cherlich wirken k nnen. Der komische E ekt, das Kippen ins L cherliche, wird im n chsten Absatz des Textes der direkt an das imaginierte R chel R chel des Klinikdirektors anschlie t jedoch wieder durch eine weitere Variation drastischer Darstellungsweisen konterkariert, die durch weitere schro e Kontraste Verkn pfungen zwischen den im Text entfalteten Szenarios erm glichen und so zugleich die Narration vorantreiben: Was r chel, sagte der Kr ppel, der Raspe gegen ber sa , Raspe sa n mlich im Zug. Wieso r chel, sagte Raspe. Du wieso dudu wieso, sagte der Kr ppel, der Kr ppel war eine junge Frau im Conterganalter, schlu hippiem ig aus20 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 9 f.; die Anfangspassage von Subito findet sich, nur geringf gig modifiziert, in Rainald Goetz, Irre, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 207.

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sta ert, du hast doch eben r chel r chel gesagt. Was soll ich?, sagte Raspe, was wie ich?, und mit Ihnen bin ich brigens noch lange nicht auf du.21 Was als implizite, aber un bersehbare Auseinandersetzung mit dem Anfang der 1980er Jahre virulenten Diskurs ber das Sprechen ber Behinderungen und ber die Unangemessenheit eines Wortes wie Kr ppel einsetzt, wird zun chst ber eine erneute R ckbindung an die zuvor entwickelten Folterphantasien und den wei fleischig fett blut berstr mt imaginierten, r chelnden Direktor fortgesetzt, bis es enden t te mit einem saubernen Genickschu , was, wie es im Text hei t, sch n w re und Raspe im n chsten Absatz zum Reisen mit den Augen Claude Lorrains f hrt.22 In der Folge entwickelt der Text dann eine Verschr nkung gegenl u ger Bilder und Sprechweisen, die die Sch nheit des aus dem Zugfenster beobachteten Lichts der Landschaft mit einer Betrachtung des Kr ppels im Zugabteil kontrastiert, der ebenso detailliert beschrieben wird wie die Schau der Landschaft, die Lichtlandschaft im Fenster ,23 wobei das Lexikon der Kunstbetrachtung allerdings von dem des rztlichen Blicks abgel st wird: Da machte sich an Raspes lateralem Augenwinkel etwas zu scha en, ein Kratzen, nur so ein Schaben, ein stetes Schaben auf der Hornhaut, das nicht einmal die Retina erreichte, bis endlich, ber den dicken Sehnervenstrang befeuert, die Hirnrinde ganz hinten im Occipitallappen wu te, da da eine L stigkeit links, was ist denn da los, da links, das mu doch der Kr ppel, die bewegt sich doch, diese Frau, was macht denn der Kr ppel da dr ben. Raspe drehte seinen Kopf nach links. Das Innere des Abteils war den Lichtlandschaftsaugen d ster. Der Kr ppel hatte keine Arme, rechts waren drei ngerartige Stummel neben dem Hals, links an der Schulter war ein Fleischerhaken festgemacht, der war nicht sehr beweglich, und mit den angewinkelten Beinen, den strumpflosen F en, die Zehen behende als Finger ben tzend, fummelte der Kr ppel an irgendeinem Leinensack einen Rei verschlu auf. Mensch ist das ein Gefummel, sagte Raspe, hat die vielleicht ein sch nes Gesicht, Sakrament, so ein Gesicht, und so verkr ppelt am ganzen Oberk rper. Dann wurde der Leinensack von einem Fu auf den Fleischerhaken neben den Hals geh ngt und mit einem Schwung zur Seite bewegt. Raspe schaute.24 W hrend der Text durch seine plakativen Gesten der berschreitung konventioneller Grenzen die moralische Fragw rdigkeit inkriminierter Handlungen und Sprechweisen eher ausstellt denn selbst provoziert, relativiert er durch die detaillierte Darstellung des Kr ppels , die der rztliche Blick erm glicht, die zuvor aufgerufenen E ekte des Komischen und er net dem Text so zugleich neue Dimensio21 22 23 24

Goetz, Goetz, Goetz, Goetz,

Subito Subito Subito Subito

(Anm. 1), S. 10. (Anm. 1), S. 10. (Anm. 1), S. 11 f. (Anm. 1), S. 11.

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nen der Drastik, die durch die Wiedereinf hrung des Sch nheitsparadigmas in der Darstellung des Kr ppels nicht relativiert, sondern vielmehr noch verst rkt werden. Bei diesen Verschiebungen, Verdopplungen und berlagerungen fungiert Raspe als Protagonist, als Reflexions gur und als textinterne Verkn pfungsinstanz, die auch nach der erneuten Verlagerung des Geschehens ber eine n chtliche Taxifahrt ins Nachtleben im Nachtcaf und dem damit einhergehenden unvermittelten Wechsel zum Ich 25 die verschiedenen Szenarien zusammenf hrt und zusammenh lt. Dies geschieht nicht zuletzt durch wiederholte Reminiszenen an die zuvor bereits imaginierte blutige Folter , die Raspe wie das Ich immer auch auf sich selbst beziehen, an das lebendige rote Blut, das irgendwo heraus flie en m te, damit alles einen Sinn erg be. 26 Die ebenfalls auch zuvor bereits vollzogene Kopplung von Blut und Sinn zielt, wie sich noch genauer zeigen wird, hier wie an anderen Stellen nicht auf hermeneutische Reflexionen ab, sondern auf eine noch etwas grunds tzlicher ansetzende Suche nach Wahrheit: Ich schneide in die Haut, Blut quillt hervor, und es macht: Flie Rinn Zisch L sch. In mir brennt es n mlich von innen, es brennt vor so viel Lebenbrennen, und au en ist die glatte Haut. Aber mit meiner Rasierklinge ernttarne ich die L ge.27 Der Schnitt, die Selbstverletzung, wird ber die zun chst nochmals aufgerufene Sprache des Comics in die ebenfalls bereits eingef hrte vitalistische Metaphorik berf hrt. Der Schnitt in die Haut erscheint hier allerdings nicht als die durchaus erwartbare, im gegebenen Zusammenhang einschl gige Metapher, bleibt nicht beim sprichw rtlichen Schnitt ins eigene Fleisch stehen. Der M glichkeit einer metaphorisch-metaphysischen Lesart wird vielmehr gezielt entgegengearbeitet, indem die Darstellung in den Duktus des medizinischen Diskurses wechselt, das vitalistische Pathos durch die sachliche Drastik des Schnitts, die vivisektionistische Genauigkeit des rztlichen Blicks ersetzt: Mit ruhiger Hand setze ich die Rasierklinge auf eine beliebige Stelle unversehrter Haut und schneide gut sichtbar und tief in die Epidermis ein. Die so hergestellte Spalte ist f r einen Augenblick von hell wei en Wundr ndern eingefa t und beginnt dann langsam, vom Wundgrund her, sich mit Blut zu f llen, das spannt dann zwischen den R ndern eine ber das Hautniveau erhabene W lbung, Blutkuppel, die dann, sobald die stetig von unten her nach sickernde Fl ssigkeit die Oberfl chenspannung gesprengt hat, zugleich ausl uft und in sich zusammensackt, schlie lich den Blick freigibt auf den jetzt 25 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 14: ... hier kriege ich Lust auf das Ich, weil jetzt wird es lustig . 26 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 16. 27 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 16.

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rot gl nzenden Spalt und die jetzt rot berfluteten Wundr nder. Das frische helle Blut sucht nun, der Schwerkraft gehorchend, seinen Weg nach unten und bildet so eigensinnige Ornamente auf der Haut.28 Was wie eine detailgenaue Beschreibung jenes Schnitts wirkt, mit dem Goetz in Klagenfurt f r Unruhe gesorgt hat, bleibt an dieser Stelle auch insofern im Modus literarischer Imagination, als diese Darlegung den bei der Lesung erst zu einem sp teren Zeitpunkt vollzogenen Stirnschnitt allenfalls vorwegnimmt. Es ist an dieser Stelle im Text wie im Rahmen der Lesung noch nicht absehbar, dass das im Text Dargestellte im Modus einer verschobenen Wiederholung zu einem sp teren Zeitpunkt nochmals an der Stirn des lesenden Autors durch diesen selbst nachvollzogen werden sollte. Zun chst wird das zuvor schon eingef hrte Szenario im Nachtcaf weiter ausgeschrieben, in dem das Ich auf seine G tter tri t, auf Maler und Popmusiker , auf Figuren, die im Text nicht wie die Maler Albert Oehlen und Werner B ttner oder der Popkritiker Diedrich Diederichsen hei en, aber hei en k nnten. So begegnet das Ich im Nachtcaf den Malern Albert Gagarin und Werner Andropov sowie seinem "Ultraheroen, dem genialen Kulturkritiker Neger Negersen", im Text vorgestellt als "jener begnadete junge Mensch, der die inzwischen eingegangene Popmusikzeitung SOUNDS gemacht hat".29 Mit Blick auf die bevorstehende Lesung entwickelt sich im Nachtcaf ein Gespr ch ber die bevorstehende Lesung in Klagenfurt, ber die dort praktizierte lustige H ftenschu kritik , das gut abgewogene und gut abgehangene Nullengesabbele der Nullenkritiker und die sonstige ganze Klagenfurter Branchenschei e , der, so das Zwischenfazit eines langen Monologs des Ichs , in jedem Fall mit grandios apodiktischer Geb rde begegnet werden m sse was der geniale Kulturkritiker best tigen kann: Mann, nichts wie hin nach Klagenfurt, sagte Neger Negersen, zum Nullenanschauen und verh hnen, auf nach Klagenfurt, vielleicht kann man auch beil u g irgendeine Minderheit verunglimpfen oder ein paar Deppen sauber qu len. Genau, sagte ich, das macht mir einen Spa .30 Das angeregte Gespr ch setzt sich fort, nimmt Motive auf, die im Text zuvor schon vorbereitet waren, indem es blicherweise als unerfreulich begri ene Aktivit ten Verh hnen, Verunglimpfen, Qu len neu bestimmt, und erweitert zugleich die Polemik gegen Klagenfurt, den Literaturbetrieb und die allgemein verbreitete Suche nach Sinn und Identit t durch ein durchaus lustvolles Ausschreiben drastischer Bilder und Sprechweisen, um schlie lich gegen den geistigen Schlamm und Schleim , 28 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 16; vgl. die Wiederaufnahme dieser Passage in Goetz, Irre (Anm. 20), S. 19. 29 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 14 f. u. 17; Diedrich Diederichsen war Anfang der 1980er Jahre Redakteur der Zeitschrift Sounds, deren letzte Ausgabe im Januar 1983 erschienen ist. 30 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 18.

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den BIG SINN , den das Wackertum , das ganze Geschwerl , das Nullenpack produziere, die eigene Position zu behaupten: Wir m ssen ihn kurz und klein zusammenschlagen, den Sausinn, damit wir die notwendige Arbeit tun k nnen. Die ist was viel was Schwereres, die notwendige Arbeit ist: die Wahrheit schreiben von allem, die keinen Big Sinn nicht hat, aber notwendig ist, notwendig ist das einfache wahre Abschreiben der Welt.31 Das aufsteigende Pathos, das durch die Momente von Komik, die diese Passage gleicherma en pr gen, nicht relativiert wird, bricht im n chsten Absatz dann jedoch weil ich so Ma loses von den G ttern gefordert habe 32 j h ab, schl gt unvermittelt um in Verzweiflung und Lethargie, die alles befallen, was zuvor die Wahrnehmung wie die Darstellung bestimmt und erm glicht hat: das Denken, das Sehen, die Sprache. Und sie f hren das Ich schlie lich auch zu der Aktion, die es zuvor sprachlich-imaginativ schon minuti s vorweggenommen hat und die bei der Lesung in Klagenfurt zudem durch die besagte Parallelaktion auf der Stirn des lesenden Autors supplementiert wurde: Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir mein Hirn auslaufen. Ich brauche kein Hirn nicht mehr, weil es eine solche Folter ist in meinem Kopf. Ihr folterts mich, ihr Schweine, derweil ich doch blo eines wissen m chte, wo oben, wo unten ist und wie das Schei leben geht. [...] Und ich schreie nichts K nstliches daher, sondern echte Schreie, die mir blutig bluten.33 Dass es gelingt, diese Schreie im Text als echte Schreie ernst zu nehmen, ist letztlich weniger auf die hier nochmals in Anschlag gebrachte Strategie der Steigerung und Zuspitzung blutig bluten und auch nur bedingt auf den vom Autor an dieser Stelle vollzogenen Stirnschnitt zur ckzuf hren, als vielmehr auf die Tatsache, dass der Text nicht allein mit einer H ufung von drastischen Bildern und Darstellungweisen arbeitet, sondern zugleich auch die M glichkeiten und Grenzen einer sthetik des Drastischen austariert. Dies geschieht, bei aller Abwehr des K nstlichen , im Form eines hochgradig arti ziell konstruierten Textes, der verschiedenste Szenarios, Diskurse und Sprechweisen miteinander verkn pft und so ineinander verschr nkt, dass sie sich, ohne dass dies von einer Vermittlungsinstanz erl utert oder bewertet wird, sowohl gegenseitig kommentieren als auch konterkarieren. So wie das vitalistische Pathos durch die Sachlichkeit des medizinischen Diskurses unterlaufen, wenn nicht als l cherlich ausgestellt wird, so wie die bedeutungs31 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 19. 32 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 19. 33 Goetz, Subito (Anm. 1), S. 20.

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schweren Zeichen, mit denen der Text ausgiebig arbeitet, zugleich ausgeh hlt und in den Modus des Komischen verschoben werden, so wird auch neben das gro spurige, euphorisch ausgestaltete Projekt des Schreibens der Wahrheit von allem der kleinlaute Zusammenbruch des Ichs gesetzt das nach dem zitierten Schnitt allerdings eine weitere Geste der Selbsterm chtigung vollzieht, die nach Zeichen von Demut und Dankbarkeit gegen ber der sichtbaren Welt letztlich auch die bereits zitierten paar S tze in der Sprache des Manifests und weitere grandios apodiktische Geb rden freisetzt, die den Text abschlie en: Nichts ist schlimm, nur die Dummheit und die Langeweiler m ssen noch vernichtet werden. So bernehmen wir die Weltherrschaft. Denn alles alles alles geht uns an. Und jetzt, los ihr rsche, ab ins Subito. Die letzten S tze von Subito , die signi kanterweise mit dem Wort enden, mit dem der Text beginnt, ohne den mit ihm neben der Pl tzlichkeits sthetik bezeichneten Ort, eben das Subito , zu erreichen, f hren nochmals vor Augen, was den Text von Beginn an bestimmt und was ihn als einen drastischen Text ausweist, der zugleich als Reflexion ber die sthetik des Drastischen zu lesen ist: Goetz arbeitet in eben dem Ma mit den Mitteln der bertreibung, der Provokation, der drastischen Zuspitzung, indem er sie zugleich in Frage stellt, ins Leere laufen, scheitern l sst. Und nur auf diese Weise, k nnte man schlie en, erscheint doch auch das m glich, was in Subito als das einfache wahre Abschreiben der Welt nicht nur programmatisch benannt, sondern versuchsweise auch praktisch umgesetzt wird. Wenn das, wie im vorliegenden Fall, auf eine Weise vollzogen wird, die dem zivilisierten Miteinander widerspricht , insofern es gar nicht auf Verst ndigung abzielt, ergibt sich nicht nur eine direkte Verbindung zu den berlegungen, die Dath in Die salzwei en Augen im Blick auf drastische Kunst entwickelt.34 Es wird auch deutlich, in welchem Ma sich Goetz hier auf einen Diskurs einl sst, der im Text durch seine G tter , durch die Maler und Popmusiker , durch die Chi ren Sounds und Subito adressiert und aufgerufen wird. Wie in seinem Roman Irre und weiteren Mitte der 1980er Jahre publizierten Texten schlie t sich Goetz auch schon in Subito an das Selbstverst ndnis an, das er in einer Zeitschrift wie Sounds oder bei Malern wie Oehlen und B ttner entdeckt, die wie Diederichsen Anfang der 1980er Jahre in der Hamburger Kneipe Subito anzutre en waren.35 Goetz verortet sich mit seinem Text im Rahmen der gleichen Koordinaten, schreibt sich nicht zuletzt im Modus der Bewunderung in einen laufenden Diskurs ein, nimmt 34 Dath, Die salzwei en Augen (Anm. 8), S. 33. 35 Zur Hamburger Kneipe Subito vgl. Michele Avantario, 1977-1987. Von Krawall bis Totenschiff: Punk, New Wave und Hardcore , in: L den, Schuppen, Kaschemmen. Eine Hamburger Popkulturgeschichte, herausgegeben von Christoph Twickel, Hamburg: Nautilus 2003, S. 67-69.

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Sprechweisen, Spr che, Redewendungen auf, die den Fortgang des Textes bestimmen, wenn er etwa, ohne dies zu markieren, Ausschnitte aus einer Kolumne von Diederichsen wortw rtlich reproduziert und zugleich dessen apodiktischen Ton, bevorzugte Superlative und stakkatoartige Adjektivketten aufnimmt und fortschreibt.36 Auch das in Subito als notwendige Arbeit ausgelegte einfache wahre Abschreiben der Welt verweist auf diesen im Text aufgerufenen Kontext, nimmt die Suche nach der Wahrheit und die daf r bevorzugte Methode, Wahrheit am Duktus zu erkennen, vorweg, die B ttner und Oehlen zusammen mit Martin Kippenberger ein Jahr sp ter, im Fr hjahr 1984, in ihrem Ausstellungskatalog Wahrheit ist Arbeit entwickeln, in dem sie neben anderen auch Beitr ge von Diederichsen und Goetz abdrucken.37 Goetz steuert zu diesem Ausstellungskatalog seinen Text Warum die Hose runter mu bei, der die in Subito angelegten Verkn pfungen auf den Ebenen von Programmatik, Sprache und Duktus weiter ausbaut.38 Daf r verlagert er die Suche nach der Wahrheit einmal mehr in den Modus und das Lexikon des medizinischen Diskurses, auf den Prozess der Anamnese, die Abtasterei , die Eingehende K rperliche Untersuchung . In die detailreiche Aufreihung von Bl schen, Quaddeln, E orenzen , von Epizoonose , Kr tze und Kn tchen am Penis wird, zwischen extremer Verborkung und starkem Pruritus , unvermittelt und ohne entsprechende Markierung, der Titel eines Bildes von Kippenberger einmontiert: Komm Asta Leck mich. 39 Explizit wird der Bezug auf Kippenberger erst, wenn am Ende des Textes die rztliche Praxis der Anamnese direkter mit dem in Wahrheit ist Arbeit verfolgten Projekt der Wahrheitssuche und der von den Beteiligten, insbesondere Kippenberger verschiedentlich praktizierten Praxis des entlichen Hoserunterlassens gekoppelt wird: Ist das dreckige schmutzige miese eklige Das Leben? Ist die Wahrheit doch in Wirklichkeit l cherlich, n mlich ernst? Der Ernst, die Depression, Das NichtWissenWieWeiter, Wohin, die Niedergeschlagenheit? Mu deshalb

36 Vgl. etwa Goetz: Subito (Anm. 1), S. 18 f.; Goetz zitiert hier unmarkiert Diederichsens Kolumne Krieg & Frieden , in: Spex 4/1983, S. 17, wo sich wiederum Diederichsen erstmals ffentlich zu Goetz u ert. 37 Werner B ttner, Martin Kippenberger und Albert Oehlen, Wahrheit ist Arbeit, Ausst.-Kat. Museum Folkwang Essen, Essen 1984, S. 31. 38 Rainald Goetz, Warum die Hose runter mu , in: B ttner, Kippenberger und Oehlen, Wahrheit ist Arbeit (Anm. 37), S. 92 95; Wiederabdruck in Goetz, Hirn (Anm. 1), S. 26 31. 39 Goetz, Warum die Hose runter mu (Anm. 38), S. 93 (im Wiederabdruck hei t es dann Effloreszenzen ); Komm Asta Leck Mich lautet die titelgebende Bildunterschrift unter einem Sch ferhundkopf mit heraush ngender Zunge in l auf Leinwand, das Bild war im Rahmen der ersten Kippenberger-Ausstellung bei Max Hetzler 1981 in Stuttgart ausgestellt; vgl. http://www.maxhetzler.com/exhibitions/martin-kippenberger-ein-erfolgsgeheimnis-desherrn-onassis-investieren-sie-ol-1981 (zuletzt aufgerufen: 6. 7. 2016).

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Kippenbergers Hose runter? Wird deshalb getrunken und gesungen? O flieg Du flammende, Du rote Fahne.40 Wie hier, wo Goetz die Frage nach der Wahrheit nicht nur auf Kippenbergers heruntergelassene Hose bezieht, sondern zugleich mit einer Reminiszenz an das antifaschistische Kampflied Die Arbeiter von Wien koppelt, bleibt er auch in Subito nicht bei einem Kontext, bei einem Diskurszusammenhang, einem Bild stehen. Er wechselt, gelegentlich ber harte Schnitte und kaum nachvollziehbare Verkn pfungslogiken, die Kontexte, verschr nkt Klinikalltag, Nachtleben und Literturbetrieb ineinander, verkn pft Folterphantasien und Splatterexzesse mit literarischen und kunsthistorischen Perspektivierungen, verweist auf Gottfried Benn und Thomas Bernhard,41 aber eben auch auf ein Hellstbraunpigmentlein von Claude Lorrain, ohne dabei die Drastik der Darstellung abzumildern oder auf andere Weise zu relativieren. Dies verhindert nicht zuletzt die durchg ngig pr sent gehaltene Rhetorik der Abgrenzung, der klaren Markierung von Di erenzen, mit der Goetz auch seine Attacken auf den Literaturbetrieb formuliert. So wie diese auf pr zisen Beobachtungen und informierten Analysen aufbauen,42 die nicht nur aus einer distanzierten, sondern zugleich auch involvierten Position entwickelt werden, markiert und verschiebt Goetz auch die Bezugspunkte innerhalb des Pop- und Kunst-Diskurses, wenn er mit seinem Text und dessen Pr sentation in Klagenfurt genau jenen Punkt markiert, an dem die strategisch-a rmativen Pop-Sprechweisen, die Anfang der 1980er Jahre mit den Schlagworten Sounds und Subito aufgerufen werden, in die Faszination f r neue (und auch alte) Versionen von Eigentlichkeit umschlagen kann.43 So l sst sich Subito nicht zuletzt als Beispiel f r und zugleich als Reflexion auf die R ckkehr jener blutverschmierten Issues begreifen, denen Diederichsen Mitte der 1980er Jahre in seinem Buch Sexbeat das Potenzial f r eine reflektierte, aber gleichwohl forcierte berwindung von K nstlichkeitsemphase, ZitatPop und Simulationseuphorie zuschreibt.44

40 Goetz, Warum die Hose runter mu (Anm. 38), S. 95. 41 Zur Verarbeitung von Benns Gehirne-Novellen in Subito und Irre vgl. Doktor und Spies, Gottfried Benn Rainald Goetz (Anm. 4), S. 139-165; zu Benn, Bernhard und Goetz vgl. J rgen Oberschelp, Raserei. ber Rainald Goetz, Ha und Literatur , in: Merkur 41 (1987), S. 170-174. 42 Eine ausf hrliche Auseinandersetzung eines Besuchers mit den Herren des deutschen Feuilletons [...], denen er, seit er denken kann, seine Orientierung verdankt , findet sich in: Rainald Goetz, Reise durch das deutsche Feuilleton , in: TransAtlantik 8/1981, S. 12-23. 43 Auch Goetz Texte werden Anfang der 1980er Jahre in dieser Hinsicht rezipiert, so macht Lorenz Lorenz, zuvor von Goetz angegriffen, bei diesem einen Geruch von Eigentlichkeit aus; vgl. Lorenz Lorenz, Die gro e Auskotze. Lorenz Lorenz vs. Rainald Goetz , in: Spex 3/1984, S. 8. 44 Diedrich Diederichsen, Sexbeat. 1972 bis heute, K ln: KiWi 1985, S. 169, 173.

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Dieser Abkehr von postmodernen Positionen korrespondiert, durchaus vergleichbar zur gegenw rtigen Diskussion,45 auch Anfang der 1980er Jahre schon, das f hrt Goetz mit Subito deutlich vor Augen, ein verst rktes Interesse an Formen einer sthetik des Drastischen. Goetz pr sentiert und reflektiert dieses Interesse, indem er Bilder und Sprechweisen entwickelt, Konstellationen entwirft und Fragen provoziert, die das zeigen auch die Beitr ge im vorliegenden Band die M glichkeiten und Grenzen einer sthetik des Drastischen markieren k nnen. Dabei korrespondiert der Verweigerung gegen ber Begr ndungen, dem Vergn gen an apodiktischen Sprechweisen und der Abneigung gegen ber einer hermeneutisch reflektierten Sinnsuche eine spezi sche Au assung von Wahrheit, derzufolge diese nicht erschlossen werden, sondern sich allenfalls zeigen kann. Das Prinzip, auf Behauptungen und nicht auf Begr ndungen zu setzen, folgt dieser Logik ebenso wie die Bevorzugung von Demonstration und Pr sentation gegenber diskursiver Vermittlung und moderierender Kommentierung. Dass das einfache wahre Abschreiben der Welt auch in dieser Hinsicht geradezu notwendig scheitern muss, widerspricht dem nicht. Das Scheitern geh rt vielmehr in eben dem Ma zu den Voraussetzungen der hier fokussierten sthetik des Drastischen, in dem diese auch durch das unvermittelte Nebeneinander von visueller Evidenz und kaum nachvollziehbarer Hermetik gekennzeichnet ist. An die Stelle vermittelnder Eingri e r ckt immer wieder ein geradezu stoisches Aufrechterhalten von Kontrasten, Di erenzen, Gegens tzen, eine Rhetorik der Abgrenzung, des aggressiven Schnitts, die Di erenzen sichtbar macht, trennt, spaltet und unterbricht, zugleich aber im Sinn von Cut-Up und Montage auch Verbindungen erm glicht, sichtbar macht. Und dies auch und gerade da, wo ein geschlossener Zusammenhang, die Konstituierung eines Werkzusammenhangs, die Etablierung einer nachvollziehbaren Ordnung bewusst vermieden wird.46 Dies gilt auch f r das Nebeneinander von Pl tzlichkeits sthetik und Evokationen von Sch nheit, f r die schro en Kontraste zwischen drastischen Bildern und leisen, lichten Landschaftsbeschreibungen, f r die Konfrontation von Pathos und Komik, von hohem Ton und brachialen Sprechweisen, die allesamt, wie gezeigt, schon die ersten Seiten von Subito kennzeichnen. Was hier zu beobachten ist, ist gerade nicht eine Form der Vers hnungs sthetik, in der drastische Elemente im Sinne von Rosenkranz sthetik des H lichen in der Totalit t eines Kunstwerks [...] durch die Gegenwirkung des Sch nen aufgehoben werden und somit im Zusammenhang verschwinden.47 Die Logik der Gegens tze, mit der der Text arbeitet, hebt diese nicht auf, sondern bezieht sie aufeinander, l sst sie sich wechselseitig kommentieren und konterkarieren. Drastik entsteht auf diese Weise nicht nur durch das durchaus berpr sente Blut und die mit ihm aufgerufenen Reminiszen45 Vgl. dazu Giuriato, Aktualit t des Drastischen (Anm. 7), S. 7. 46 Vgl. dazu, mit Blick auf die Filme Harmony Korines, den Beitrag von Ekkehard Kn rer in diesem Band. 47 Karl Rosenkranz, sthetik des H lichen (1853), Leipzig: Reclam 1990, S. 48; ausf hrlich dazu der Beitrag von Dirck Linck in diesem Band.

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zen an die Wiener Aktionisten, an Nitsch und Schwarzkogler,48 nicht nur durch Gewaltphantasien, moralische Fragw rdigkeiten und sprachliche Entgleisungen. Der Text f hrt vielmehr vor Augen, dass auch das Reisen mit den Augen Claude Lorrains , dass auch ein Hellstbraunpigmentlein , als irritierende St rungen und mithin als konstitutive Momente einer sthetik des Drastischen fungieren k nnen.

48 Vgl. dazu den Beitrag von Daniela Sch nle in diesem Band.

BER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

MICHAEL EGGERS, geb. 1969, Akademischer Rat am Institut f r deutsche Sprache und Literatur I der Universit t zu K ln. Ver entlichungen: Vergleichendes Erkennen. Zur Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie des Vergleichs und zur Genealogie der Komparatistik (Heidelberg: Winter 2016); Texte, die alles sagen. Erz hlende Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und Theorien der Stimme (W rzburg: K nigshausen & Neumann 2003). DAVIDE GIURIATO, geb. 1972, Professor f r Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universit t Z rich. Ver entlichungen: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens (M nchen: Fink 2006); klar und deutlich . sthetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert (Freiburg i. Br.: Rombach 2015). HEINZ DR GH, geb. 1965, Professor f r Neuere deutsche Literaturwissenschaft und sthetik an der Goethe Universit t Frankfurt a. M. Ver entlichungen: sthetik der Beschreibung. Kulturelle und poetische Energie deskriptiver Texte (T bingen: Narr/Francke 2006); sthetik des Supermarkts (Konstanz: University Press 2015). EKKEHARD KN RER, geb. 1971, Redakteur des Merkur. Deutsche Zeitschrift f r europ isches Denken und Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift Cargo. Film/ Medien/Kultur. Ver entlichungen: Entfernte hnlichkeiten. Zur Geschichte von Witz und Ingenium (M nchen: Fink 2007); Battlestar Galactica (Z rich, Berlin: diaphanes 2013). ELIAS KREUZMAIR, geb. 1986, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut f r Deutsche Philologie der Universit t Greifswald. Ver entlichungen zum Verh ltnis von Literatur und Digitalisierung, Literatur und Pop und zur Idee der Universit t. HELMUT LETHEN, geb. 1939, em. Professor f r Neueste deutsche Literatur der Universit t Rostock; 2007-2016 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien. Ver entlichungen: Verhaltenslehre der K lte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (Frankfurt a. M.: edition Suhrkamp 1994); Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit (Berlin: Rowohlt 2014). DIRCK LINCK, geb. 1961, Literaturwissenschaftler und Autor in Berlin. Ver entlichungen: Batman & Robin. Das dynamic duo und sein Weg in die deutschprachige Popliteratur der 60er Jahre (Hamburg: Textem 2012); Creatures. Aufs tze zu Homosexualit t und Literatur (Hamburg: M nnerschwarm 2016).

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BER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

OLIVER M LLER, geb. 1972, Privatdozent am Philosophischen Seminar und im Exzellenzcluster BrainLinks-BrainTools der Universit t Freiburg i. Br. Ver entlichungen: Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs ph nomenologische Anthropologie (Paderborn: mentis 2005); Selbst, Welt und Technik. Eine anthropologische, geistesgeschichtliche und ethische Untersuchung (Berlin, New York: De Gruyter 2014). ALEXANDRA P LZLBAUER, geb. 1984, Lektorin f r Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Deutsch als Fremdsprache im Austria-Illinois Exchange Program an der Wirtschaftsuniversit t Wien und an der Webster University Vienna. Ver entlichungen: Geschichte(n) in globalisierten ZeitR umen. sterreichische Romane nach 2000 (Wien: Pr sens, in Vorbereitung); Lebensabend Abendland. Michael K hlmeier erz hlt vo(r)m Sterben , in: Franz-Josef Deiters u. a. (Hrsg.), Limbus (Freiburg i. Br.: Rombach 2015, S. 235-252). ESTEBAN SANCHINO MARTINEZ, geb. 1984, Doktorand der Graduate School Practices of Literature an der WWU M nster. Ver entlichungen: Der Garten der Pfade, die sich trennen. ber Borges postmoderne Schreibweise und ihre soziokulturellen Implikationen , in: Promotionskolleg Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft (Hrsg.): Literatur-Macht-Gesellschaft. (Heidelberg: Winter 2015); ber die Bedingungen des herrschenden Formalismus im philologischen Diskurs , in: Daniel Alder u. a. (Hrsg.): Inhalt. Perspektiven einer categoria non grata im philologischen Diskurs (W rzburg: K nigshausen & Neumann 2015). DANIELA SCH NLE, geb. 1978, Literaturwissenschaftlerin aus Berlin. Promovierte sich an der FU Berlin mit der Arbeit Rausch und Reinigung. Hermann Bahrs Beitrag zum Wiener Katharsis-Diskurs . ECKHARD SCHUMACHER, geb. 1966, Professor f r Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universit t Greifswald. Ver entlichungen: Die Ironie der Unverst ndlichkeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000); Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, 2. Aufl. 2011). MARTINA S ESS, geb. 1974, Postdoc-Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds an der Universit t Konstanz. Ver entlichungen: F hrernatur und Fiktion. Charismatische Herrschaft als Phantasie einer Epoche (Konstanz: Konstanz University Press 2017); Die kleinen F chen der gro en Katharina. Frauenherrschaft bei Sacher-Masoch , in: M. Gamper, I. Kleeberg (Hrsg.): Gr e. Zur Medien- und Konzeptgeschichte personaler Macht im langen 19. Jahrhundert (Z rich: Chronos 2015). J RG TREMPLER, geb. 1970, Lehrstuhl f r Kunstgeschichte / Bildwissenschaften an der Universit t Passau. Mitglied im Exzellenzcluster Bild, Wissen, Gestaltung der Humboldt Universit t Berlin. Ver entlichungen: Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild (Berlin: Wagenbach 2013).

BER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

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THOMAS WEITIN, geb. 1971, Professor f r Germanistik und Digitale Literaturwissenschaft an der Technischen Universit t Darmstadt. Letztes Buch: S kulare Tabus. Die Begr ndung von Unverf gbarkeit (Berlin: Matthes & Seitz 2015).