Deutsche Erzählprosa der frühen Restaurationszeit: Studien zu ausgewählten Texten [Reprint 2013 ed.] 9783110920154, 9783484320758

This volume inquires into the evolution of narrative prose structures in a period in which traditional idealisms had pro

182 59 15MB

German Pages 321 [324] Year 1995

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Table of contents :
Prosaschreiben nach einer Ankunft
Johann Wolfgang Goethe: Novelle
E.T.A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster
Ludwig Tieck: Die Gesellschaft auf dem Lande
Leopold Schefer: Die Deportierten
Louise Brachmann: Das Militär
Ludwig Achim von Arnim: Metamorphosen der Gesellschaft
Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts
Willibald Alexis: Walladmor
Heinrich Heine: Die Harzreise
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Deutsche Erzählprosa der frühen Restaurationszeit: Studien zu ausgewählten Texten [Reprint 2013 ed.]
 9783110920154, 9783484320758

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 75

Bernd Leistner (Hg.)

Deutsche Erzählprosa der frühen Restaurationszeit Studien zu ausgewählten Texten

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutsche Erzählprosa der frühen Restaurationszeit : Studien zu ausgewählten Texten / Bernd Leistner (Hg.)· - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 75) NE: Leistner, Bemd [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-32075-3

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Reiner Schlichting, Weimar Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Hugo Nädele, Nehren

Vorbemerkung

Prosaschreiben in einer Zeit, da die überkommenen Idealismen obsolet geworden waren? Die Frage zielte aufs womöglich Experimentierende, vielleicht Denkwürdige dessen, was der herabstimmenden Tristheits- und Diffusionserfahrung immerhin abgenötigt oder doch abzunötigen versucht wurde. Und dieser Frage nachzugehen fanden sich Beiträger zusammen, die auf jeweils eigene Weise einem zu behandelnden Text sich näherten. Dabei zeitigte nicht in jedem Falle die aufspürende Bemühung ein Ergebnis im erwünschten Sinn - was kein Grund zur Ausgrenzung sein konnte: Das nicht ins Bild Passende darf, wenn es mit dem Bild seine Richtigkeit haben soll, keineswegs fehlen. Wo dem Herausgeber jedoch schien, es könnte dem zur Rede stehenden erzählprosaistischen Text Ergiebigeres als geschehen abgewonnen werden, hat er dies in seiner - mit Bedacht eher essayistisch gehaltenen - Einleitung angedeutet. Geboren wurde die Projekt-Idee bereits 1988, in Weimar. Und im gleichen Jahr gelang es auch, für sie eine Reihe von Autoren zu interessieren; die meisten von ihnen waren als wissenschaftliche Mitarbeiter an den damaligen Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur tätig. Ebenfalls gelang die Bindung des Projekts an einen Verlag: den Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. Dann freilich kam, was bald schon als »Wende« bezeichnet wurde. Das Begonnene geriet ins Stocken; einige der Beitragsvereinbarungen konnten nicht aufrechterhalten bleiben; die betreffenden Autoren fanden sich in einer Lage, die sie zur Absage zwang. Und eine Absage gab es auch von Seiten des AufbauVerlages, der keine Möglichkeit mehr sah, literaturwissenschaftliche Titel zu publizieren. So schien es denn, daß es sich mit dem Projekt erledigt habe. Indessen hatten einige Beiträger bereits an Arbeitsmühe viel investiert; unter ihnen waren solche, die sich nicht irre machen ließen; und dem Herausgeber - er selbst hatte zeitweilig andere Sorgen als die um den

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Band - erwuchs daraus eine Verpflichtung. Ihr gerecht zu werden fiel schließlich dadurch leichter, daß ein Interesse für das Projekt der Max Niemeyer Verlag bekundete. Zudem konnten einige der Beiträge, auf die schon kaum mehr zu rechnen war, denn doch noch zustande gebracht werden. Nicht zuletzt ermunterte die Hilfe, welche die Stiftung Weimarer Klassik gewährte. Als Redaktor engagierte sich deren Mitarbeiter Reiner Schlichting auf eine Weise, die großen Dank verdient. Gewiß nun dürfte der Band die Spuren seiner komplizierten Entstehungsgeschichte zu erkennen geben. Und weder konnten noch sollten sie getilgt werden. Vielleicht auch wird sie der Leser nicht unbedingt mißlich finden: Sie indizieren einen Vorgang, den es nicht zu verdecken gilt - auch und gerade nicht von schreibenden Literaturgeschichtlern. Bernd Leistner

Inhaltsverzeichnis

BERND LEISTNER

Prosaschreiben nach einer Ankunft

1

REGINE O T T O

Johann Wolfgang Goethe: Novelle

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ANDREAS SCIIIRMER

E.T.A. Hoffmann: Des Vetters Eckfenster

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GERT THEILE

Ludwig Tieck: Die Gesellschaft auf dem Lande

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WOLKGANG A L B R E C H T

Leopold Schefer: Die Deportierten

112

SIGRID L A N G E

Louise Brachmann: Das Militär

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H E I N Z HÄRTL Ludwig Achim der Gesellschaft ANDREAS Joseph von D Ö HEichendorff: L E Rvon Arnim: AusMetamorphosen dem Leben

168

eines Taugenichts

204

JOCHEN G O L Z

Willibald Alexis: Walladmor

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B E R N D LEISTNER

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Heinrich Heine: Die Harzreise

B E R N D LEISTNER

Prosaschreiben nach einer Ankunft

»Goldene zwanziger Jahre« waren die des deutschen 19. Jahrhunderts gewiß nicht. Eher haftet ihnen das Attribut der Tristheit an. »[...] überall Stagnazion Lethargie und Gähnen.« 1 Es war Heinrich Heine, der, kurz vor seinem Tod, die geistigliterarische Landschaft seiner Jugend mit solch eindeutigen Charakterisierungswörtern bedachte. Und nachgerade von einem Vorwalten »blödester Verdrossenheit«2 sprach der Heinesche Text. Die Gründe aber erblickte der in Paris sich Erinnernde nicht nur im Lähmenden der seinerzeit herrschenden restaurativen Politik, sondern auch darin, daß nach einer Zeit geistiger Großleistungen fast zwangsläufig eine »literarische Erschlaffung« 3 habe eintreten müssen. Tatsächlich stellte das zuvor in Deutschland auf geistigliterarischem Gebiet Hervorgebrachte eine Tradition dar, an die es sich in progredierendem Sinn schwerlich anschließen ließ. Das 18. Jahrhundert hatte die Köpfe zu außergewöhnlicher Regsamkeit stimuliert. Es hatte zu ideellen und literarischen Vorstößen getrieben, die, aufs Ganze gesehen, nicht zuletzt deswegen so denkwürdig gerieten, weil sie sich vom Bewußtsein einer sehr großen Spannung herleiteten: derjenigen zwischen starkem emanzipatorischem Impuls und widerständiger, gleichwohl als mythisch kaum noch verstandener Erfahrungswelt. Und die geistig-literarischen Kräfte hatten sich auch und gerade in einer Zeit anspornen lassen, als sich mit dieser Erfahrungsrealität die Wahrnehmung tiefgreifender geschichtlicher Umbruchsvorgänge verband. Noch in ihrer Katastrophenträchtigkeit waren die letzteren dazu angetan, die 1 Préface [Entwurf], In: Heine, Heinrich: S ä k u l a r a u s g a b e . Werke. Briefwechsel. L e b e n s z e u g n i s s e , Berlin/Paris 1970ff., Bd. 14, S. 213 (künftig: USA). 2 USA 14, S. 214. 3 I1SA 14, S. 215.

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deutsche Geisteswelt entschieden zu beflügeln; die menschheitlich gerichtete Ideentätigkeit blieb in Kraft, suchte sich in Anbetracht der geschichtlichen Entwicklungen, auf sie reagierend, erst recht zu behaupten. Exemplarisch machte sich dies in Schillers philosophisch-ästhetischen Schriften ebenso geltend wie in den konzeptiven Entwürfen der Frühromantiker, in Goethes »Farbenlehre« ebenso wie in Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Schließlich jedoch gewann in der deutschen Geisteswelt jener Nationalromantismus die Oberhand, der in wahnverhaftetem Furor gipfelte: Die katastrophenträchtige Zeitgeschichte war über Deutschland ganz unmittelbar gekommen; die reagierenden Ideen wandelten sich in feurig abwehrende; das Emanzipationsideal pervertierte zu einem deutschen, das sich auf Stammesgeschichte berief. Und der einstige Protagonist frühromantischer Denkoffenheit schrieb im Jahre 1809 Verse wie diese: »Der deutsche Stamm ist alt und stark,/Voll Hochgefühl und Glauben/Die Treue ist der Ehre Mark,/Wankt nicht, wenn Stürme schnauben.« 4 Gewiß, weder Hegel noch Goethe ließen vom deutschgläubigen Befreiungsenthusiasmus sich einfangen. Dessen Vorherrschaft freilich machte die beiden nachgerade zu Außenseitern. Wenn aber der zurückblickende Heine, indem er die apostrophierte Verdrossenheitsliteratur einer bedeutenden vorangegangenen gegenüberstellte, die Großleistungen der letzteren ausgerechnet auf die Zeit »namentlich seit den Niederlagen von Jena u Austerlitz«5 datierte, dann hat dies denn doch etwas Verwunderliches. Der werkkräftige »deutsche Geist«, so Heine, habe sich just damals »ins Gebiete der Wissenschaft der Philosophie und der Poesie geflüchtet«: ins »Traumreich des Gedankens u der Romantik«; und eben da seien ihm seine »Meisterwerke« gelungen. 6 Rein Zweifel: Heine war es darum zu tun, ein nach 1815 erfolgendes plötzliches Zurücksinken des »deutschen Geistes« sinnfällig zu machen. Die Tatsache,

4 Gelübde. In: Schlegel, Friedrich: Dichtungen. Hrsg. und eingeleitet v. d a n s E i c h n e r , München/Paderborn/Wien 1962, S. 5 9 8 (Kritische KriedrichSchlegel-Ausgabe, Bd. 5 , 1 . Abt.). 5 HSA14, S. 214. 6 HSA 14, S. 2141'.

Prosaschreiben

nach einer Ankunft

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daß dieser »deutsche Geist« bereits früher zurückgesunken war - freilich nicht in »Verdrossenheit«, sondern ins eifernd Wahnhafte -, widerstrebte seiner ideellen Dramaturgie; und entsprechend retuschierte er. Retuschierend aber verfuhr er auch in Hinblick auf die erinnerte geistig-literarische Landschaft der frühen Restaurationszeit. Dabei soll keineswegs bestritten werden, daß sie Anzeichen von »Verdrossenheit« durchaus zu erkennen gibt. Gerade die freilich verweisen auf einen simplen Zusammenhang: Das als »verdrossen« Hervortretende läßt sich leicht im Sinne eines nachfolgenden Komplements zur vorangegangenen Kampfund Hochgestimmtheit verstehen; der euphorische Zustand schlug um in den der Depression. Nur, daß es sich bei dem um einen allumfassenden Zustand nicht handelte. Denn die 1815 beginnende Zeit der großen Ernüchterung - zugleich eine Zeit diffus sich ausbreitender Verhältnisprosa - rief auch geistigliterarische Reaktionen hervor, die sich durch den Versuch charakterisierten, der wahrgenommenen neuen Situation durchaus die Stirn zu bieten. Zumal auf dem Feld der Erzählprosa sind einschlägige Vorstöße allenthalben zu registrieren. Traditionell als kunstgültig kaum anerkannt, hatte die Prosa schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf ihre »moderne« ästhetische Leistungsfähigkeit entschieden aufmerksam gemacht. Und in einer Zeit, die - dem politischen und ideologiepolitischen Reglement zum Trotz - maßgeblich im Zeichen trister Entformung stand, empfahl sich die Prosa nur um so mehr: als ein künstlerisch-literarisches Medium, das gefordert schien, gefordert in jeder Beziehung. Zu Ansehen hatte ihm nicht zuletzt Goethe verholfen: ein Verdrossener weder in jenen zurückliegenden Jahrzehnten noch fürderhin. Nun aber brachte er eine Altersprosa hervor, die in ihrer unirritiert symbolisierenden Fügkraft nachgerade zum demonstrierenden Exempel gedieh. Denn was sich mitzuteilen strebte, war ein Anspruch an die Nutzung des »modernen« Mediums, der entschieden auf das Postulat hoher ästhetischer Würde hinauslief. Goethe sah die gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen sehr genau. Ein Ernüchterungsschock war dem Uneuphorisierten erspart geblieben. Im übrigen fand er die politischen Verhältnisse, die mit den Beschlüssen des Wie-

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Bernd Leistner

ner Kongresses konstituiert worden waren, nicht unerträglich: Nach Jahrzehnten eines latenten und zwischenzeitlich durchaus akuten Kriegszustandes wußte er den »äußern Frieden der Welt« 7 gebührend zu schätzen; durchs geschichtlich Politische fühlte er sich nur noch in Maßen bedrängt. Leichter als bisher konnte er sich dazu bestimmen, ihm gegenüber Distanz zu wahren und einem Geistig-Künstlerischen Genüge zu tun, dessen Sphäre er konsequenter denn je als abgehoben eigene begriff. Und eben für die folglich suchte er auch eine Erzählprosa zu reklamieren, die sich dem Mißlichen der - als zeittypisch verstandenen - Konfusion entgegenzusetzen trachtete. Mit besonderem Nachdruck in der Prosa bestand Goethe auf einem »Bedeutenden«, das er dem allgemein grassierenden Bedeutungsschwund in trotziger Gelassenheit konfrontierte. Viele der literarischen Zeitgenossen bewunderten den so zu Werke gehenden alten Dichter. Zu folgen indes vermochten sie ihm kaum. Und nicht nur bei Heine vermischte die Bewunderung sich mit Groll. Goethe wiederum hielt den Jüngeren vor, daß sie sich aus der Kunstpflicht entließen und statt dessen dem Verrückten, Absurden, Fratzenhaften zugeneigt seien. »Das Romantische ist schon in seinen Abgrund verlaufen; das Gräßlichste der neuern Productionen ist kaum noch gesunkener zu denken.«8 Er sah zwischen sich und den Nachgewachsenen eine Kluft, wie er sie sich tiefer schwer vorstellen konnte. Dabei waren diese Nachgewachsenen eben nicht nur solche, die ihre Texte im Zeichen von Depression schrieben. Und einige mußten nicht einmal mit dem großen Schock geschichtlicher Ernüchterung erst fertig werden. E.T.A. Hoffmann, dessen Erzählprosa für Goethe als mißlich schlechthin galt, hatte sich nationalromantischem Enthusiasmus durchaus verschlossen; der Freiheitsjubel, wie er sich etwa im Brief vom 17. No-

7 Tag- und Jahres-Helle als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, von 1808 bis 1822. 1816. In: Goethes Werke. Hrsg. im Aullrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887-1919 (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. 36, S. 115 (künftig: WA). 8 M a x i m e n und Reflexionen ü b e r L i t e r a t u r und Blhik. Aus dem Nachlaß (WA 1, 42/2, S. 247).

Prosaschreiben

nach einer Ankunft.

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vember 1813 an Carl Friedrich Kunz niederschlug, 9 war kurze Augenblicksreaktion; bezeichnend auch, daß er im gleichen Brief seine Dresdener Rriegserlebnisse wie folgt zusammenfaßte: »Was soll ich von der letzten Zeit, die ich hier erlebt, sagen? Sie war gewiß die merkwürdigste meines Lebens, da ich alles das, was sonst lebhafte Träume mir vor Augen brachten, wirklich und in der Tat vor mir erblickte!«10 Was an Entsetzlichem die Phantasie ihm vorzuspielen pflegte, Hoffmann sah es durch die empirische (Kriegs-)Wirklichkeit eingeholt und nichts konnte ihm ferner liegen als deren heroisierende Aufhebung. So aber wirkte sich ihm die Kriegserfahrung nachgerade dahin gehend aus, daß er durch sie in seiner bislang erprobten prosaistischen Eigenart noch bestärkt wurde; dem Ungeheuerlichen, das sich rationalistischem Kalkül entzieht, blieb sein Erzählinteresse, und jetzt erst recht, auch weiterhin zugewandt. Entsprechend ließ er nicht ab, Stück um Stück eine Erzählwelt auszubreiten, die eine Welt des von der etablierten Ratio Unterdrückten und Sekretierten, eine Welt der Abgründe ist. Und gerade das Vortäuschende und Verdeckende jener verhältnismäßig sich regelnden Alltäglichkeit, die ihn nun umgab, erwies sich dem mit ständiger Katastrophenfurcht geschlagenen Prosaisten als schauerlich par excellence. Goethes ganzheitlich disponierter Blick strebte noch immer, die Erscheinung als wesentlich auszumachen - Hoffmann ließ das Beklemmende des Différentiellen sinnfällig werden. Dabei ging er in seinen Texten schließlich so weit, daß gegen ihn zu polemisieren sich selbst Jean Paul veranlaßt sah. 11 Auch durch ihn allerdings fühlte sich Hoffmann nicht im mindesten irritiert. Seine Prosa »Des Vetters Eckfenster«, der letzte Text, den er fertigstellte, lief auf eine entschiedene Selbstbekräftigung hinaus: Dem Tode nah, imaginierte sich Hoffmann einen Adepten, der hinreichend geeignet wäre, von ihm in seiner Wahrnehmungs-

9 Hoffmann, E.T.A.: Dichtungen und Schriften sowie Briefe und Tagebücher. Gesamtausgabe in fünfzehn Bänden. Hrsg. und mil Nachworten versehen v. Walther Harich. Bd. 15, Weimar 1924, S. 79. 10 Ebenda, S. 79f. 11 Vgl. Ε.ΤΛ. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Eine Sammlung von Friedrich Schnapp, München 1974, S. 591.

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kunst unterwiesen zu werden - und der dann womöglich die erwünschte Nachfolge antreten könnte. Und neben Goethe ein weiterer demnach, für den Verdrossenheit keineswegs in Anschlag gebracht werden kann. Dabei war ihm die Stadt Berlin genau der Lebensort, der ihn aufs höchste zu inspirieren vermochte. Die restriktive preußische Staatspolitik ließ ihn undeprimiert - stellte für ihn statt dessen gar eine Art Reiz dar, ihr entgegenzustechen. Wodurch ihn die Stadt jedoch ausgesprochen anregte, war ihr moderner Großstadtcharakter. Er liebte es, öffentliche Plätze aufzusuchen, sich unter Unbekannte zu mischen, sie begierig zu beobachten. Und er war, als moderner »Exzentriker«, in beträchtlichem Maße gesellschaftsbedürftig - war es auch insofern, als er sich durchaus versátil im Sinne eines Marktschriftstellers betrug. »Ich scheine mir an keinem Ort,/Auch Zeit ist keine Zeit,/Ein geistreich-aufgeschloss'nes Wort/Wirkt auf die Ewigkeit.« 12 Mit dieser Blickrichtung des in Weimar wirkenden Goethe berührte sich die Hoffmannsche keineswegs. Das Bestreben, bei allem Runstanspruch den Bedürfnissen einer großen Lesegesellschaft Genüge zu tun, ist von Hoffmann nicht wegzudenken. Unlethargisch aber und kunsttüchtig wird man auch Ludwig Tieck nennen dürfen. Und wenngleich ihn mit E.T.A. Hoffmann sonst kaum etwas verband, so noch zumindest, daß er das Kriterium der Breitenwirksamkeit (und damit auch der Marktgängigkeit) in ähnlicher Weise sehr ernst nahm. Nicht zuletzt deswegen bestimmte er sich schließlich dazu, das Genre der Novelle zu favorisieren. Das Almanachs- und Taschenbuchwesen hatte bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert erheblich um sich gegriffen; in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts stand es in solcher Blüte, daß ein Autor, dem es um Verbreitung zu tun war, ihm zwangsläufig Rechnung tragen mußte. Was aber dem Medium vor allem entsprach, war eine Erzählprosa von begrenztem Umfang: Romane schieden ohnehin aus, Gedichte stießen auf ein deutlich geringeres Leseinteresse. Und Tieck bediente das Genre, um es indes zugleich einem besonderen Konzept gefügig zu machen. 12 Lebensgenuß (WA I, 3, S. 162).

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Goethe, der sich dem novellistischen Erzählen, und längst schon, seinerseits aufgeschlossen hatte, bewegten solch konzeptive Erwägungen ebenfalls. Unter dem 29. Januar 1827 notierte Eckermann die - hernach so überaus geläufig gewordene - Goethesche Bemerkung, daß eine Novelle nichts anderes sei »als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit«13, zudem noch jenes abgrenzende Wort des Dichters, daß in Deutschland freilich »vieles [...] unter dem Titel Novelle«14 gehe, was ihm, da »bloß« Erzählung, keineswegs entspreche. Als Bezugsgegenstand aber lag diesen Goetheschen Äußerungen jener gegen Ende des Vorjahres erst fertiggestellte Text zugrunde, dem nun die Genrebezeichnung kurzerhand zum Titel bestimmt und der damit als mustergültig schlechthin apostrophiert wurde. Das Jagdmotiv und das des Gesanges finden sich gegeneinandergeführt; und von einem Fall wird berichtet, dessen Denkwürdigkeit darin besteht, daß in ihm der Gesang seine Macht erweisen kann: sein ihm eigenes, gemeinhin jedoch zur Wirkungslosigkeit verurteiltes befriedendes Vermögen. So indes überantwortete Goethe dem Genre der Novelle ein Handlungsgeschehen von räum- und zeitübergreifendem Belang - wobei eben der als exemplarisch vorgewiesene Text zugleich auch mitteilte, daß mit dem Wort von der »unerhörten Begebenheit« nicht einfach nur eine aufsehenerregende, außergewöhnliche gemeint sein sollte. Das Genre wünschte Goethe einem Unerhörten gewidmet zu sehen, mit dem er die Vorstellung von nachgerade menschheitlicher Bedeutsamkeit verband. Wenn nun Tieck auf seine Weise der Novelle sich zuneigte, so leitete ein anspruchsvolles Bestreben auch ihn. Anders als Goethe jedoch ließ er sich vor allem angelegen sein, seine Novellistik einer Art prosaistischem Welttheaterspiel anzunähern. Tieck war Shakespeare-Enthusiast; und in früheren Jahren hatte zu seinen künstlerischen Ambitionen nicht zuletzt diejenige eines durch Shakespeare inspirierten Theaterautors

13 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. v. Regine Otto unter Mitarbeit von Peter Wersig, Berlin und Weimar 1982, S. 104Γ. 14 Ebenda, S. 195.

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gehört. Die Theaterpraxis freilich war nur allzu herabstimmend für ihn gewesen; er sah sich genötigt, auf ein Ersatztheater zu sinnen; schließlich fand er es, indem er seine Dresdener Vortragsabende veranstaltete. Zugleich aber suchte er sich als ein Ersatzmedium die allenthalben gefragte Novelle zuzurichten. Und er prägte sie sich aus zur dialogisch strukturierten: zur Gesprächsnovelle, zu einer solchen dabei, die den arrangierenden Erzähler jenen Ironiker sein läßt, als den Tieck bereits in jungen Jahren William Shakespeare assoziiert hatte und über den in sich selbst klar zu werden er namentlich durch Solger angeregt worden ist. Shakespeare-Figuren konnten die auf der novellistischen Bühne agierenden Personen zeitgenössisch-deutscher Kleinwelt allerdings nicht sein insofern ist ein Anflug von begrenzt »Biedermeierlichem« nicht zu verkennen. Eben dies jedoch findet sich seinerseits ironisiert: Die vergegenwärtigte Beschränktheit tritt als angenommene wie als nihilierte gleichermaßen hervor. In Tiecks novellistischem Welttheater en miniature, welches das »Höchste im Nächsten, Alles im Einfachen zu entdecken« 1 3 sucht, waltet eine Begnügsamkeit, die von sich weiß und der das Gelächter beiwohnt. Und was demnach für den Erzähler sich verbot, war nicht zuletzt Parteinahme. Ohnehin war jener Tieck, der im Frühjahr 1814 den »Eichenwald« hatte »brausen« 16 lassen, in eine offene geistige Welt längst zurückgekehrt, vor deren Horizonten eine jegliche ideologische Fixiertheit sich verwehrte. Fortschrittstüchtigkeit oder rückwärts gewandtes Bestreben? Auch und gerade diese Frage findet sich auf der Tieckschen Novellenbühne verhandelt - wobei im übrigen kennzeichnend ist, daß für die Szene (»Die Gesellschaft auf dem Lande«) eine Spiel-Zeit gewählt wurde, die es ermöglichte, aktueller Direktheit denn doch auszuweichen. Kaum freilich der Gedanke an die Zensur dürfte hierfür ausschlaggebend gewesen sein. Eher sah sich Tieck zur Rückdatierung aus ästhetischen Gründen bestimmt: Der ironisch relativierenden Vorführungsweise ver-

15 Tieck, Ludwig: Kritische Schritten, Leipzig 1848-1852, Bd. 2, S. 51. 16 Vgl. An einen Liebenden im Frühling 1814. In: Tieck, Ludwig: Gedichte. 3 Teile. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1821-1825. Mit einem Nachwort v. Gerhard Kluge, Heidelberg 1967, T. 1, S. 511.

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mochte besser eine solche Spiel-Zeit zu entsprechen, die sowohl nahe genug war, konkrete Beziehungen aufscheinen zu lassen, als auch fern genug, um Distanz stiften zu können. Bei alledem jedoch fügte Tieck seine Novellen auf eine Weise, daß, wer fürs weltweise Gelächter nicht empfänglich war, eine Lesebefriedigung gleichwohl finden konnte: Eine erkältende Ironie ließ er nicht ein in seine Texte (eher unterlief ihm drastische Satire); der künstlerisch-intellektuelle Balanceakt sollte sich, ihn wahrzunehmen, keineswegs aufdrängen. Und genau dies korrelierte jenem Konzept, das E.T.A. Hoffmann verfolgte. Wenn dessen schauerliche Texte aber sich vordergründig als spannend-unterhaltsame Gespenstergeschichten präsentierten, so gab sich das ironisch grundierte Welttheater en miniature, um welches Ludwig Tieck es zu tun war, den Anschein von Salonnovellistik. (In der Lyrik dieser zwanziger Jahre zeigt sich übrigens Vergleichbares: Müllers »Winterreisen«-Gedichte wurden ins Gewand volksliedhafter Simplizität gehüllt.) Zu bewundern ist die Kunstfertigkeit, mit der bei solchen Doppeladressierungen jeweils zu Werke gegangen wurde. Dieserart Dichotomieüberspannung als eine vom Autor erstrebte aufzuspüren sollte allerdings auch in Fällen geboten sein, in denen die künstlerischen Lösungen minder glücklich gerieten. Als Exempel kann die Novellistik Leopold Schefers gelten. Immerhin zählte zu denen, die für die einschlägige Ambivalenz Scheferscher Texte ein Organ hatten, der freilich scharf sie verurteilende Wolfgang Menzel. Ärgerlich waren ihm zumal die Gedichte: »Seinen Kirchenhaß äußerte Schefer meist in Versen [...] Dieselben erscheinen ganz harmlos und sentimental, sie verbergen aber eine zitternde Wuth. Seine Poesie gleicht einer sanften, das Auge anlockenden Blume, deren unheimlicher Geruch aber bald ein tödtliches Gift verräth.« 17 Deutschchristliche Abwehr: Sie galt einem literarischen Werk, dessen »Manier« als »diabolisch«18 empfunden wurde und das aber eine solche Charakterisierung gewiß auch verdienen konnte. 17 Menzel, Wolfgang: Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit. In drei Bänden. Bd. 3, Stuttgart 1859, S. 479. 18 Ebenda.

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Denn zwar war dessen Autor, und nicht nur kurzzeitig in noch jungen Jahren, ein glühender Napoleon-Hasser, keiner jedoch im Zeichen deutsch-christlicher Identitätsgesinnung. Eben schroff allerdings hat der Skeptiker weder in seinen Gedichten noch in seiner Novellistik die »grinsende«19 Grimasse vorgezeigt. Und seine Novellen der zwanziger Jahre haben gar etwas unübersehbar Kolportagehaftes; dem modischen Trend zum Abenteuerlich-Exotischen unterwarf sie Schefer nicht weniger als jenem allenthalben anzutreffenden Fügungsreglement, das der Welteinrichtung beides bescheinigte: Konfliktund Verwirrungsträchtigkeit wie gleichermaßen das Vorwalten eines denn doch gegebenen Ordnungszusammenhanges. Dabei zehrte dies letztere, sie trivialliterarisch vernutzend, noch immer von aufklärerisch-popularphilosophischen Denktraditionen. Freilich ist jener Spätwolffianer, der in Schefers Novellentext »Die Deportierten« als Berichtender in Erscheinung tritt, ein junger Mann namens »Lambton«; und selbst wenn man geneigt ist, neben »lamb« auch »lambent« zu assoziieren, bleibt der, dem das Attribut geistreicher Züngelei zugewiesen wird, ein kleines Schaf. Schon damit aber wird eine Doppelbödigkeit des Textes deutlich signalisiert: Was sich dem Leser präsentiert, ist die Niederschrift einer Figur, deren gottklug-treuherziger Mitteilungsmodus als der ihres literarischen Urhebers gerade nicht genommen sein will; jener Urheber, seines Namenszeichens ein »Sche(ä)fer«, blickt auf sein arglos gescheites Lämmlein sichtlich herab. Und wenn der Autor sich obendrein dazu verstand, seinem Lambton den Vornamen Esaù zu geben, so wurde er damit fast schon überdeutlich: Auch noch auf die Bezugsgestalt des alttestamentlichen haarigen Schafskopfes, der die Beschränktheit schlechthin personifiziert, sollte angespielt sein. Die Kolportage, die in den »Deportierten« sich ausbreitet, findet sich demnach als ironisch gebrochene angelegt: Was und wie Lambton berichtet, verweist auf dessen Wahrnehmungshorizont; und der ist verhängt durch Prospekte, auf denen sich 19 Vgl. Schmidt, Arno: Der Waldbrand oder Vom Grinsen des Weisen. In: Schmidt: Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in 4 Bänden. Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze, Bargfeld 1988, Bd. 3, S. 81-112.

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durchweg der Ausgleich von Aulklärungsfrömmigkeit und christlich religiöser malt Noch und gerade die Schnabel-Reminiszenzen wollen in solchem Sinn - und also fernab einer bloß auf flache Traditionsvernutzung hinauslaufenden Interpretation gesehen und verstanden sein. Die Schnabelsche Inselutopie als aufklärerisch-literarischer GroBentwurf, welcher sich bei Schefer im Bild einer insularen Erziehungs- und Besserungsanstalt spiegelt: Es sind deren Sachwalter, die ihr auf Gehorsamkeit und Arbeit hindrillendes Regiment entsprechend idealisieren und ideologisieren - und der treuherzige Lambton macht diese Optik zu seiner eigenen. Einem nicht so treuherzigen Leser indes mochte und sollte sich, ein höhnisches Gelächter erzeugend, die Differenz zur Geltung bringen. Wolfgang Menzels Wort vom harmlos und sanft Erscheinenden Scheferscher Texte, dem sich gleichwohl etwas Unheimliches und »Giftiges« verbinde, verifiziert sich auf frappante Art Allerdings stößt das Doppelspiel-Verfahren des Muskauer Pücklerfreundes insofern an eine Grenze, als der glückliche Fabelverlauf den Berichtenden durchaus bestätigt. Die Geschehenskonstruktion als solche ist es, die dem vom Autor mit sarkastischer Ironie Betrachteten letztlich eine Legitimation erteilt, die gewiß nicht gewollt war. Und der De-facto-Erzähler ließ sich jedenfalls die Geschichte, deren Mitteilung er einem Esaù Lambton listig anvertraute, von diesem buchstäblich aus der Hand nehmen. Was damit dem Autor passierte, war der fragwürdige Triumph dessen, worüber er travestierend zu verfügen gedachte - travestierend auf eine Weise freilich, die das konventionelle Publikum nicht verprellen sollte. So aber unterlief ein Nebeneinander: Der Autor begab sich des Hausrechts in der von ihm gegründeten Geschichte und konnte demnach nur noch wissen lassen, daß sie seine Geschichte nicht sei. An spannungsvoll integrierendem Vermögen, wie E.T.A. Hoffmann oder Ludwig Tieck es bewiesen, ermangelte es Leopold Schefer. War nun aber jenes »höhere Bewußtsein«, das einer tauglichen Vermittlung mit den Ansprüchen der Trivialität sich entzog, im Falle Schefers ein durch weitgreifende Skepsis gekennzeichnetes, so im Falle von Louise Brachmann ein schlechthin unglückliches. Und das wiederum schlug sich literarisch selbst

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zentrifugal nicht nieder. Statt dessen trieb es die Mittvierzigerin schließlich dazu, den Freitod zu suchen: In einer Septembernacht des Jahres 1822 sprang sie, nachdem sie sich einen größeren Stein um den Hals gebunden hatte, vom Hölty-Fels bei Halle in den Saalefluß. Damit freilich wurde ein Selbstmord erwählt, mit dem Louise Brachmann, indem sie den Sprung der Sappho vom Leukadischen Felsen ins Ägäische Meer nachahmte, ein deutliches Zeichen zu setzen strebte: Was sich dem literarischen Werk nicht eingeschrieben hatte, sollte nun durch diesen Tod suppliert werden können; das Werk selbst sollte demnach in einem neuen Licht erscheinen; der Wunsch ging dahin, daß es Kenntlichkeit erlange als künstlerisches Zeugnis einer bedingungslos existentiellen, dabei auf sich zurückgeworfenen Liebessehnsucht. Daß man sie fortan - und zumindest kurzzeitig - mitunter als deutsche Sappho erinnerte, hat Louise Brachmann durch diese ihre zeichensetzende Todesveranstaltung immerhin erreicht. Nicht zu erwirken war allerdings die begehrte Neuidentifizierung des erzählprosaistischen und lyrischen Werks. Noch der Text, der im letzten Lebensjahr entstand, blieb einer sich schöngeistig wähnenden Trivialität komplett verhaftet und fügte sich dabei zugleich nach den Maßgaben einer Wunschprojektion, für die das Kriterium existentieller Unbedingtheit ebensowenig in Anschlag gebracht werden kann wie das einer spielerischen Relativierung. Völlig ungebrochen berichtet die Fabel dieser Erzählung (»Das Militär«) von einem aus kleinen (Pfarrhaus-)Verhältnissen stammenden Mädchen mit stiller Neigung zu allem Guten und Schönen, von einem adeligen Kavallerieoffizier, der im antinapoleonisch-vaterländischen Krieg heldenhaft kämpft, verwundet wird und den die Jungfrau aufopferungsvoll gesundpflegt - und am Ende gibt es die (zunächst unmöglich scheinende) Liebesheirat: als Einheirat Marianes in einen Stand, dessen männlich-schöner und hochherzig-edler Vertreter inzwischen zu friedvoller Besorgung seines freiherrlichen Besitztums zurückgekehrt ist. Und Verdrossenheitsliteratur nun wirklich: in der Erscheinungsform von wunschprojizierender Erzählprosa, die das Elend zu überblenden trachtet. Für Louise Brachmann war der Erfahrungsort dieses Elends das kleinstädtische Weißen-

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fels; hier alterte sie, eine »schöne Seele«, trist vor sich hin; mehrfach hatten sich hochgespannte Heiratshoffnungen zerschlagen. In einer Zeit allumfassender Banalisierung banalisierte sich somit zugleich ihr eigenes Dasein - zu dem einer alten Jungfer, die sich von der konventionellen Gesellschaft belächelt sehen muß. Erzählprosaistisch aber illusionierte sich Louise Brachmann nicht nur die Möglichkeit gesellschaftlicher Rettung an und für sich, sondern akzentuiert einer solchen, welche auch die Befriedigung idealischen Anspruchs in sich einschließt. In ihrer Jugend hatte sie Kontakt zu Schiller gehabt; freundlich war sie von ihm ermuntert worden. Mariane nun, in der Erzählung »Das Militär«, spricht von den »Forderungen des höhern Bewußtseyns«20, denen der Mann, dem einzig sie sich verbinden könnte, unbedingt genügen müsse. Schillers Idealismus für den privat-häuslichen Gebrauch zugerichtet: für das Gewünschte einer Versorgungsehe, die damit nicht nur eine im materiellen und gesellschaftsverbürgenden Sinne sein soll. Über den Antagonismus von Ronventionalität und Idealität setzte sich die Wunschprojektion glücksüchtig hinweg - und tilgte ihn gemäß einer Phantasie, die eben auch insofern ideologisch befangen blieb, als sie die Frau auf die Rolle einer Versorgungsbedürftigen schlechthin verwies. Und folglich wäre es, wenn der sapphische Sprung vom Felsen zur Rede steht, wohl nun durchaus exakter, von Louise Brachmanns »tieferem« Bewußtsein zu sprechen. Ironie? Zu ihr vermochte sie sich nicht zu erheben. So wurde sie das Opfer eines solchen ironischen Spiels, das mit dem, welches des Künstlers ist, nur insofern zu tun hat, als es ihm eine Herausforderung bedeutet. Heine hätte - ironisch - die große Gottesironie apostrophiert. Zu denen aber, die die Herausforderung annahmen, zählte auch Achim von Arnim. Und ein Sprung vom Felsen ließe sich bei ihm wohl ehestens als Vorkommnis in einem seiner Texte denken - wobei die Figur dann doch wieder aufgetaucht und als verwandelte höchst lebendig geblieben wäre. Tatsäch20 Brachmann, Louise: Das Militär. In: W.G. Beckers Taschenbuch zum geselligen Vergnügen auf das Jahr 1822. Hrsg. v. Friedrich Kind, Leipzig (1821), S. 245.

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lieh findet sich in Arnims Prosa noch und gerade der Tod ins Indefinite gewendet; und ihr ironischer Grundgestus korrespondierte nicht zuletzt auch mit jener Unsterblichkeitsmystik, deren Reflexe im Werk des Wiepersdorfer Gutsherrn allenthalben aufscheinen. Entsprechend liegt zwischen der Arnimschen und der Tieckschen Ironie viel an Trennendem. Ein transzendent gerichteter Bezug, wie er bei Arnim anzutreffen ist, macht sich in den Texten von Tieck keineswegs geltend. Und Arnims Reserviertheit gegenüber dem einst in hoh e m Maße verehrten Tieck gründete zudem darauf, daß er selbst es verschmähte, die Leseerwartungen jenes »großen Publikums« ins Kalkül zu ziehen, das der Dresdener Novellist so unverkennbar berücksichtigte. Charakteristisch denn auch, daß Arnim für den Zyklus »Landhausleben« die Konstruktion eines Erzählens im geselligen Rahmen zwar in Anspruch nahm, doch in einer Weise, die eine Reduktionsstufe anzeigt; und es ist die Versprengung der Gruppe, wodurch sich die Schlußpointe bestimmt. Kommunikatives Erzählen im Absterben begriffen: Was Tieck, die Kluft überspannend, zu kultivieren trachtete, wurde von Arnim als aporetisch gekennzeichnet. Und indem er sein Welttheater spielen ließ, sah er von Publikumsfreundlichkeit entschieden ab. »Metamorphosen der Gesellschaft«: In diesem so betitelten ersten Zyklus-Text vollzieht sich ein Geschehen von verwirrender Vieldeutigkeit; die Figuren sind jenen Marionetten gleich, die dem im 18. Jahrhundert florierenden sogenannten Metamorphosentheater das Gepräge gaben und die durch Fadenzug in Blitzesschnelle verwandelt werden konnten; diese Figuren erweisen sich als nicht identifizierbar, sie treten auf in unvermittelt wechselnden Erscheinungsarten, hinter denen ein Wesenhaftes unentdeckbar bleibt. Der große Maskenball, den der abschließende Teil des Textes beschreibt, stellt dessen charakteristische Klimax dar; im Karnevalesken offenbart sich, was als karnevalesk recht eigentlich nur existent ist. Auch Beziehungen, Verhältnisse können demnach etwas Gegründetes nicht haben - und Arnim unterwarf solcher Diagnose keineswegs nur Zwischenmenschliches, sondern gleichfalls auch Besitzständisches. So führt der Erzähltext kaleidoskophaft ein allumfassend Trügerisches vor. Und es ist dasjenige einer Welt, deren Personnage zwar ausschließlich aus

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Adligen sich zusammensetzt, die sich aber als Adelswelt nicht schlechthin bestimmt. Konkret gesellschaftskritische und zumal staatskritische Akzente sind kenntlich; eben sie jedoch erweisen sich eher als peripher. Arnim ging es durchaus um lebensweltlich Exemplarisches in einer Zeit, die er als fragwürdig in höchstem Maße wahrnahm. Und zu den ernstlich Verdrossenen zählte er gewiß. Noch immer freilich zwang er dieser seiner Verdrossenheit eine Prosa ab, deren ironisch-spielerische Rarnevalistik das als bedrückend Empfundene artifiziell aufhebt und damit komödisch nichtet. Gleichwohl die Arnimsche Sorge bei alledem, das Spiel zu einem rein gottlosen nicht geraten zu lassen. Die Frage ist nur, inwieweit es dem Autor tatsächlich gelang, die gewünschte Transparenz den erzählten Vorgängen als solchen zu verleihen. Auf jenes metaphysische Lebensprinzip, das in ihnen denn doch sympathetisch sich geltend machen soll, verweisen sie jedenfalls auf hinreichend sinnfällige Art kaum, am ehesten noch insofern, als nebst dem Tod auch die Geburt genichtet erscheint. Und Arnim selbst dürfte das Problem erkannt haben. So wohl erklärt sich auch, daß er sich entschloß, sein Credo, dem er Ausdruck unbedingt verschaffen wollte, ganz direkt in den Mund einer Figur zu legen. Herzuhalten hatte die des Ministers: dessen einschlägige Redesequenz in der Aufforderung gipfelt, »das Leben« zu predigen und »die Vergänglichkeit zur Empfänglichkeit des Ewigen« 21 zu erheben. Damit allerdings findet sich das von Arnim ernstlich Gemeinte einem personellen Medium überantwortet, das als Inbegriff des Schillernden schlechthin hervortritt. Was sich einer befriedigenden Integration ins Spiel versagte und diesem aber unverzichtbar beigegeben sein sollte, wird soghaft erfaßt von ihm und verschlungen.

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Arnim, Achim von: Sämtliche Erzählungen 1 8 1 8 - 1 8 3 0 . Hrsg. v. Renate Moering, Frankfurt a.M. 1992 (Arnim: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Roswitha Burwick u.a. Bd. 4; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 83), S. 543.

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Nicht unterlaufen ist derartiges dem Freiherrn von Eichendorff. Seine »Taugenichts«-Erzählung, deren Titelfigur sich Arnim wesentlich verdankte, 22 gedieh zu einem subtil strukturierten Ganzen, bei dem keinerlei Indizien darauf hindeuten, daß es dem Gestaltungskalkül des Autors nur bedingt entspräche. Dabei zielte dieses Kalkül auf schwer zu Leistendes: auf eine Erzählprosa, in der sich Moderne und Vormoderne poetisch einander verschwistern sollten. Ein ironisch grundiertes Spiel ließ demnach auch Joseph von Eichendorff sich angelegen sein, doch eben eines, dem sich die Vorstellung von heiter Gelöstem und Schwebendem verband. Nichts ist naiv an diesem hochartifiziellen Text. Als »Meister«-Kontrafaktur bezieht er sich auf die Tradition des Schelmenromans; zudem schließt er sich der des Märchens auf, auch der von Verwechslungskomödie und Opera buffa; gegenwärtig in ihm ist die Kunstwelt des Rokoko. Und was aber dem Differentiellen begegnet, läßt sich als jener ästhetische Wille identifizieren, der Zusammenstimmung zu erreichen trachtet; am Werk ist ein komponierendes Subjekt, das entschieden auf innige Verschmelzung hinwirkt und dabei wiederum zugleich sich selbst zurückzunehmen sucht. Entsprechend ist Herstellung von Naivität das eigentliche Movens des Eichendorffschen Textes. Daß jedoch der De-facto-Erzähler um das zutiefst Paradoxe seines Anliegens weiß und noch dieses Wissen auf eine Weise einzubringen vermag, durch die das Spiel nicht aufgesprengt wird, macht das Erstaunliche des Textes aus. Erzählperspektivisch bleibt der Point of view jener intellektuell unentfalteten Taugenichts-Figur durchweg gewahrt, die in schönem Gottvertrauen in die Welt zieht, um nach mancherlei Verwirrung das erwünschte Heirats- und Eheglück zu finden. Eben dieser Taugenichts indes nimmt, indem er sich äußert, eine Rolle wahr, deren Text sehr viel mehr sagt, als dem personellen Medium bewußt ist. Entsprechend diesem Rollentext hat der Ich-Erzähler Schelm und vagabundierender Troubadour, Märchenpeter und Papageno, romantischer Antiphilister

22 Vgl. Arnims Nachrede »Von Volksliedern«. In: Des Knaben W u n d e r h o r n . Alle deutsche Lieder. Gesammelt von Ludwig Achim von Arnim und Clem e n s Brentano, München 1986, Bd. 3, S. 242.

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und unorthodoxer Katholik in einem zu sein; und aus ihm redet dies alles nach Maßgabe der ihm zubestimmten, sich Gott befehlenden Simplizität. Aber fortwährend umspielt wird des Simplex Rede von jenen Bedeutungen, auf die die Zeichen des Rollentextes ja verweisen und die damit denn doch für Différentielles sorgen. Eichendorffs Leistung besteht darin, daß er durch sie seine Figur freilich nicht beschädigen oder gar in Frage stellen ließ; die Differenz stiftet »lediglich« jene Unscharfen, die für die »Taugenichts«-Erzählung so charakteristisch sind und dem Text das ihm eigene vielberufene Schwebende verleihen. Die Entstehungszeit des Textes währte, mit Unterbrechungen, fast ein Jahrzehnt. Ein Schnellschreiber war Eichendorff nicht und mochte es auch nicht sein. Ähnlich wie Arnim stand er dem Literaturbetrieb ausgesprochen skeptisch gegenüber. Und ähnlich wie Arnim betrachtete auch er die vorwaltenden Zeit- und Lebensverhältnisse auf jene Weise kritisch, der Goethe bereits in einem Brief an Zelter vom 21. Mai 1816 prägnant Ausdruck gegeben hatte. In diesem Brief war von einem »wunderlichen Gewirre« die Rede gewesen, das zu erblicken sei, »wenn man in die Verflechtung der politischen, moralischen, Kunst- Handwercks- und Wissenschafts-Welt« hineinsehe. 23 Bitter pointierende Quintessenz: »Alles was Ausdehnung und Vermehrung erleidet vortrefflich! Was Innigung und Einigung bedürfte, nahe dem Untergang.«24 Das Elend der Moderne: Just in einem Moment war es Goethe sinnfällig geworden, da die aufgeregte Geschichte doch zur Ruhe gebracht schien und ihr sich ein restaurativ gerichtetes Ordnungsreglement entgegendämmte. Aber dies letztere eben vermochte, was es eigentlich sollte, nicht zu leisten. Ordnungspolitik und Ordnungsideologie wirkten lediglich dahin gehend, daß sich die Diffusion im Zeichen eines Beherrschtseins vollzog, dem sie unterschwellig all die Räume abgewann, welche sich nicht oder nicht völlig beherrschen ließen. Und das wiederum waren schlechthin sämtliche, die es gab, Inbegriffen der des Politischen selbst: Arnims »Metamorphosen der Gesellschaft« 23 WA IV, 27, S. 16f. 24

WA (V, 27, S. 17.

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indizieren auch und gerade dies. Eichendorff indes ließ sich von seinem Mißvergnügen über die moderne Zerfahrenheit zum Entwurf einer Textgestalt bestimmen, die ungrimmig entgegnend sein sollte: Innigung der Prosa durch ein schmerzlich-heiter ironisches Spiel poetischer Rückbindung. Dabei war es auch ein unmittelbar biographisches Stigma, das ihn zu einer derartigen Reaktionsweise hinleitete. Korrekt versah Eichendorff seinen Dienst als preußischer Beamter, ein tätig Pflichtbewußter, der sich Tag für Tag aufs neue in die Resignation einübte und dem der Ort, an dem er dies sich abverlangen mußte, die Diaspora bedeutete. Der Verlust seiner schlesisch-kindheitlichen Schloßheimat blieb für ihn unverwundbar - im »Taugenichts« wurde er traumspielerisch zu kompensieren versucht. Das Elend der Moderne freilich trieb zur kompensierenden Rückwendung nicht nur den Dichter. Entschieden machte sich eine entsprechende Neigung ganz allgemein bemerkbar; und wenn das lesende Publikum besonders in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre überaus begierig nach den Romanen von Walter Scott griff, so kann dies als ein belegkräftiges Phänomen gelten. Im »Nordsee«-Reisebild sprach Heine vom schmerzhaft erschütternden Ton, der in den Scottschen Romanen herrsche, von einem Ton, der an Verlorenes gemahne und der eben deswegen eine so weltweit-enorme Resonanz habe finden können: »Dieser Ton klingt wieder in den Herzen unseres Adels, der seine Schlösser und Wappen verfallen sieht, er klingt wieder in den Herzen des Bürgers, dem die behaglich enge Weise der Altvordern verdrängt wird durch weite, unerfreuliche Modernität; er klingt wieder in katholischen Domen, woraus der Glaube entflohen, und in rabbinischen Synagogen, woraus sogar die Gläubigen fliehen; er klingt über die ganze Erde, bis in die Banianenwälder Hindostans, wo der seufzende Bramine das Absterben seiner Götter, die Zerstörung ihrer uralten Weltordnung und den ganzen Sieg der Engländer voraussieht.«25 Übertrieben haben dürfte Heine nur wenig.

25 USA 5, S. 79.

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Es w a r a b e r ein bis dahin noch n a h e z u gänzlich Unbekannter, w e l c h e r 1823 der Scott-Mode auf seine Weise Rechn u n g trug und sich als ambitioniert zu Werke g e h e n d e r Nacha h m e r erprobte. Romanschreiber, die sich Scott z u m Muster n a h m e n , gab es inzwischen längst; u n d es w a r e n ihrer schon viele. Insofern reihte sich Georg Wilhelm Heinrich Häring alias Willibald Alexis schlechthin ein. Herausragend jedoch wirkte er dadurch, daß ihn bei seinem Unterfangen ein auf Originalität b e d a c h t e s k ü n s t l e r i s c h e s Selbstbewußtsein leitete, d e m die Verfahrensweise bloßen Nachahmens keineswegs genügte. Und w e n n er mit »Walladmor« einen Roman schrieb, der den Scottschen Hervorbringungen geradezu auf d e m Fuße folgte, so indes einen solchen, der sich zugleich überhob und mit d e m Imitierten sein Spiel trieb. Dabei ließ letzteres noch i m m e r zu, daß ein scottbegeistertes großes Lesepublikum d u r c h a u s auf seine Kosten k a m - und Häring/Alexis hatte wohl auch bewußt, i n d e m er seinen Roman als Übersetzung »Frei nach d e m Englischen des Walter Scott« offerierte, der Möglichkeit einer derartigen Aufnahme einigen Vorschub geleistet. Zwar m a c h t e der abschließende der drei Bände selbst d e m Arglosesten deutlich, daß es »echter« Scott nicht w a r , womit er sich lesend abgab. Die Romanwelt freilich, von der er sich bislang hatte einfangen lassen, mußte ihm deswegen im nachhinein nicht mißfällig werden; und tatsächlich dürfte ihr ein gewisses Selbstbehauptungsv e r m ö g e n nicht abzusprechen sein. Ähnlich wie für Hoffmann, Tieck oder auch Schefer läßt sich damit f ü r den »Walladmor«-Autor j e n e s Bestreben registrieren, das auf Dichotomie-Überspannung zielte. Ein marktgängig-breitenwirksames Werk sollte es jedenfalls sein, was er vorlegte. Und d e r a n s p r u c h s v o l l e r e L e s e r sollte a b e r e i n e n Erzähler entdecken können, der auf pointierende Weise Literatursatire betreibt. So a u c h findet sich (fast) d u r c h w e g eine ironische Distanz angezeigt; die Scottsche Manier u n d deren erzähltechnische Vehikel w u r d e n zur Anwendung in komisch ü b e r s t e i g e r n d e r Art g e b r a c h t ; p a r o d i s t i s c h e E f f e k t e gibt es zuhauf. Und die schicksalhaft-verworrene, ebenso kolportier e n d wie spöttisch mitgeteilte Geschichte löst am Ende zwief a c h sich auf: In sie k o m m t das e r w ü n s c h t e , sie n a c h t r ä g l i c h e r h e l l e n d e Licht; u n d auf sie fällt das g l e i c h e r m a ß e n , d o c h

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sehr anders erhellende, das sie als nicht eigentlich ernst zu nehmenden, als fiktionalen Plot identifiziert. Daß es aber dem Autor des »Walladmor« noch um einiges mehr zu tun war als um jenes zwischen Kolportage und Satire schwebende literarische Spiel, erweist sich nicht zuletzt an seiner Entscheidung, das Handlungsgeschehen in der modernen Zeit: in der (walisischen) Gegenwart anzusiedeln. Und die Welt von Walladmor Castle ragt in diese Gegenwart als ein Vergangenes hinein, dem unverkennbar der Status des Musealen eignet und dessen Antiquiertheit sowohl etwas Rührendes für den Erzähler hat wie auch etwas Belächeinswertes. Auf nachgerade sarkastische Art dagegen wird jenes Zeitgemäße vorgeführt, dem ein interessengeleitet politisierender, dabei bigott sich drapierender Krämersinn das Gepräge gibt. Das gleichsam Scottsche Reservat einer alten inmitten solch neuer Welt: Häring/Alexis kehrte den Kontrast hervor, bestimmte das Verhältnis zwischen beidem als geschichtliches Unverhältnis. Und aus dem wiederum »erklärt« der Roman das Phänomen des Affinitiven. Entsprechend aber findet sich das, woran er selbst seine Teilhabe bezeugt, auch insofern ironisch gebrochen, als es im Spiegel eines Bewußtseins erscheint, dessen reflektierende Tätigkeit eine kulturkritisch gerichtete schlechthin ist. Dabei begegnet es als zerrissenes Bewußtsein im Roman sich selber und freilich war es nicht dessen Autor, sondern Heine, der einige Jahre später auf ein derartiges Bewußtsein sich bezog und diese Sätze schrieb: »Ach, theurer Leser, wenn du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzwey gerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden.« 26 Daß nun diese Sätze zugleich etwas Kokettierendes haben, ist nicht zu verkennen: Auch Heine wurde vom Bestreben geleitet, einem großen Lesepublikum sich noch immer anzuempfehlen. Und indem er dessen Repräsentativfiguren mit Spott und Hohn bedachte, zeigen die Texte, in denen er es tat, nichtsdestoweniger die Kennmale eines Werbens um Zuwen-

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Die Bäder von Lukka (USA 6, S. 83).

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dung. Dabei hatte es mit diesem ambivalenten Verhältnis bei Heine insofern eine besondere Bewandtnis, als er jüdischer Herkunft war. Der jüdischen Autochthonie entwachsen, hatte er als Grenzgänger die übelsten Erfahrungen zu machen; und nicht minder jedoch wollte er, daß man ihn annehme, erzwingen. Eben dies letztere Begehren als ein in sich wiederum notwendig gebrochenes: Das Verächtliche der konventionellen Gesellschaft, voller ideologischer Ressentiments noch und gerade in ihrer Diffusität, sorgte in Hinblick auf die zäh sich behauptende Wunschvorstellung fürs unausgesetzt Kontrapunktierende eines großen Gelächters. So aber trug die spezifische Situation Heines erheblich dazu bei, daß er als künstlerischer Intellektueller ein Problem- und Konfliktbewußtsein ausbilden konnte, das exemplarisch genannt werden darf. Und ein Erzähltext wie »Die Harzreise« gewann von ihm her jene allumfassende strukturierende Ironie, die als intellektuelle Notreaktion und als intellektuelle Widerstandsleistung in einem hervortritt. Die auf dem Harz begegnende Sozietät ist Karikaturensammelsurium und ist aber auch unverzichtbare Gesprächsgesellschaft; das Ich kennzeichnet sich durch Emanzipationsdrang gleichermaßen wie durch jenes regressive Verlangen nach mythisch-märchenhafter Einbindung, welches seine Imaginationen in die Waldnatur hineinpoetisiert; im übrigen changiert dieses Ich zwischen Ahasver, Werther, Harlekin, Gerechtigkeitsritter - und ganz gewöhnlichem Philister mit eingefleischtem Anti-Schwulen-Affekt. Und im Ablauf des Textes folgt Stilbruch auf Stilbruch. All dieses nicht Zusammenpassende wird jedoch als nicht zusammenpassend geradezu artistisch vorgeführt; eine ironische Souveränität macht sich geltend, die sich das Partikulare spielerisch unterwirft; entsprechend wird der permanente Stilbruch als »verbindendes« Stilmittel gehandhabt. Und die Verwirbelung erreicht gar einen solchen Grad, daß das Ich schließlich einen Halt sucht, für den ihm das Kreuz zu Diensten sein muß - noch diese Pointe aber ist notbezeugend in einer blasphemisch verfügenden Art, durch welche die ironische Behauptungskraft geradezu demonstrativ hervorgekehrt wird. Die auch findet sich deutlich in jenem Nachspann herausgestellt, in welchem das Ich dem Elend herrschender Beziehungskälte die Selbstbewahrung lie-

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benden Vermögens entgegentrotzt: »[...] und hörst du plötzlich den Schuß - Mädchen! erschrick nicht! ich hab' mich nicht todt geschossen, sondern meine Liebe sprengt ihre Knospe, und schießt empor in strahlenden Liedern, in ewigen Dithyramben, in freudigster Sangesfülle.« 27 Lebensrettung durch Liebe durch eine Liebe freilich, die, um rettend wirken zu können, ums »Eigentliche« ihrer selbst gebracht sein muß: Es ist dies eine Liebe, die ohne Erwiderung auszukommen hat. Das Ich bestimmt sie sich zu als ein Agens, das vorm wertherischen Selbstmord bewahren soll. Im 14. Buch von »Dichtung und Wahrheit« hatte Goethe auf freie Weise seine Philine-Figur zitiert: »Uneigennützig zu sein in allem, am uneigennützigsten in Liebe und Freundschaft, war meine höchste Lust, meine Maxime, meine Ausübung, so daß jenes freche spätere Wort: Wenn ich dich liebe, was geht's dich an? mir recht aus dem Herzen gesprochen ist.«28 Das »freche« Wort in kontextualer Umfriedung: Goethe erinnerte es, um es sogleich auf eine Liebes- und Freundschaftsreligion zu beziehen, die er in jenem 14. Buch auf eigentümliche Art mit Spinoza verband. Sollte Heine indes durch eben diesen Goethe-Passus - was nicht verwunderlich wäre zur einschlägigen Nachspann-Sequenz der »Harzreise« angeregt worden sein, so dürfte ihn die andächtige Überwölbung des »frechen« Worts eher zum Spott gereizt haben. Das Wort als solches vermochte ihn gleichwohl zu betreffen: seine künstlerische Existenz in einer Zeit, in der es sich mit Liebesund Freundschaftsidealismus weitgehend erledigt hatte. Die sich ausbreitende Prosa moderner Verhältnisse ließ derartige Idealismen als in höchstem Maße fragwürdig erscheinen; sie brachte die Erfahrung eines unheimlichen Auseinanderfalls; sie konfrontierte den künstlerischen Autor mit dem Wahrzuhabenden einer Wesensverflüchtigung, die zugleich eine Sinnverflüchtigung bedeutete. Und charakteristisch, daß sie vereinzelnd wirkte. Zwar gab es literarische Salons und literarische Geselligkeit, aber Gruppierung fand kaum statt. Zeitschriften, Almanache und Taschenbücher existierten in Fülle, doch kei27

USA 5, S. 59.

28 WA I, 28, S. 288.

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ne, mit denen sich ein programmatischer, dabei von einer »Schule« verfochtener Anspruch verbunden hätte. Jeder der Autoren arbeitete sich ganz und gar einzelgängerisch ab; und wollte er nicht schlechthin triviale Leseware produzieren, so sah er sich darauf verwiesen, der im Grunde als aporetisch befundenen Schreibsituation eine Möglichkeit abzugewinnen, die nur die seine sein konnte. Demgemäß das verschiedenartig Experimentierende, welches sich bemerkbar macht: Zumal im Medium der Erzählprosa, dessen Nutzung die Zeit- und Gesellschaftsläufte noch am ehesten nahezulegen schienen, lassen sich vielfältig-unterschiedliche Versuche erkennen, mit denen je eigentümlich erstrebt wurde, der Aporie zu begegnen. Dabei charakteristisch zugleich, daß sich von diesen Experimenten nicht wenige aufs Überspannen der Dichotomie richteten: Dem konventionalisierten Erwartungshorizont des kaufenden großen Publikums sollte nicht minder Rechnung getragen werden als einer Bewußtseinslage, die sich durch weitgreifende Skepsis und die Wahrnehmung existentieller Fremdheit bestimmte. Daß einige der einschlägigen Experimente nur halbwegs oder auch kaum gelangen, ist nicht zu verkennen. Noch hier freilich läßt sich aufspüren, daß der Versuch im Zeichen jener großen Ironie unternommen wurde, die allenthalben vorwaltete. Und sie auch stiftete ein Gemeinsames, das viele der vereinzelt ans Werk gehenden Autoren denn doch miteinander verband. Das genuin (früh-)romantische Ironiedenken als Tradition: Sie aufzunehmen bedeutete, sie zu brechen. Die erzählprosaistischen Spiele der zwanziger Jahre wissen sich nicht (oder kaum) mit einer imaginären Zukunft im Bunde, auf die sich hinspiegeln ließe. Wenn diese Spiele von intellektueller Freiund auch Frechheit sind, so zum wenigsten von einer solchen, die zu einem offenen Morgen hindrängt. Daß sich bei Heine eine diesbezügliche Komponente findet, sollte nicht zum Kurzschluß verleiten, sie sei der Hauptstrang, um den sich alles andere nur herumwinde. (Selbst die spätere Heinesche Autorschaft, die der dreißiger und vierziger Jahre, umschließt Ambivalenzen, die eine einsinnige Festschreibung verbieten sollten.) Man sah, es richtete eine Welt sich ein, in der nichts zusammenstimmte, die sich trist in disparate Verhältnismäßigkeiten verlor - und deren Gegenwart dem vormals entwickel-

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ten großen Ideenwerk geradezu hohnsprach. Noch immer erinnerte man sich dieses Werks, zog aus ihm, was fürs Spiel sich verwenden ließ: Spielend und spielerisch verarbeitete man es, wie man mit Tradiertem auch im übrigen verfuhr. Sinnstiftende Vermittlung wäre Lüge gewesen. Gleichwohl verschrieben die Spiele sich nicht der Sinnlosigkeit. Sie bezeugen sich als artistische Versuche, der Diffusionserfahrung die Macht des Lähmenden zu nehmen. Und in larmoyanter Rundgabe von »Weltschmerz« üben sich die interessanteren von ihnen gerade nicht. Er ist das Zugrundeliegende, kaum das sich Äußernde. Was sich vielmehr äußert, ist das Bemühen, ihn zu kompensieren: nach Maßgabe eines »höheren« Bewußtseins, das nach Einsturz seines Ideenbaus immerhin zur Möglichkeit des Zirzensischen hat finden können. Im übrigen blieb, sich dieser letzteren zu verweigern, zwar praktizierbar, doch mußte es schon die Altersgeistigkeit eines Goethe sein, der es in der Tat zu gelingen vermochte, mit der Verweigerung eine Alternative zu verbinden. Das Exempel Louise Brachmann steht für die andere, die gewöhnliche Verweigerungsart. Wenn aber der fünfundfünfzigjährige Heine, indem er memorierte, einzig sich selbst als einen der »Lethargie« Begegnenden erinnerte, so war sein Blickpunkt der eines Mannes, der sich kurz vorm Tod seiner einstmals inspirierenden und gleichsam ein neues Kapitel der Literaturgeschichte eröffnenden Rolle zu versichern suchte: Er wünschte sich als einzelgängerischen Wegbereiter des Jungen Deutschland zu sehen. Genau dies freilich war eine zwar keinesfalls absonderliche, doch bündig ausschließende Betrachtungsart. Auch und gerade das Heinesche Jugendwerk partizipierte an dem, was dem literarischen Jahrzehnt vor 1830 allenthalben das Gepräge gab und eben ein Prädominieren von »Stagnation« ganz und gar nicht erkennen läßt. Und weder sollte es als nachromantisch noch als biedermeierlich bestimmt werden, weder auch als vor-vormärzlich noch als frührealistisch. Eher charakterisiert es sich, zumindest hinsichtlich der Prosa, durch ein vielfältiges literarisches Experimentierverhalten, das sich als solches vorerst kaum fortzeugte, dem später indes, sogar erheblich später, die Stunde wiederum schlug; und diese Stunde schlug schließ-

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lieh stets aufs neue. Dabei fielen die Experimente jeweils anders aus; sie griffen weiter; sie zogen auch das Wort: das sprachliche Zeichen ins Spiel. Und an dem immerhin war seinerzeit noch kaum gerührt worden, nur bei witzträchtiger Gelegenheit. Noch hatten die Zeichen selbst sich nicht in Frage gestellt.

RE G INE OTTO

Johann Wolfgang Goethe: Novelle

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Die »Novelle« erschien zur Ostermesse 1828 im 15. Band der Ausgabe letzter Hand von Goethes Werken. In den Beurteilungen, die sie erfuhr, kamen seither - oftmals zeitlich nahe benachbart - schroff gegensätzliche Ansichten zum Ausdruck. Überwiegend Positives war zunächst in der Umgebung des Dichters zu vernehmen: Noch während der Drucklegung konnte Goethe in einem »anmuthig theilnehmendem Schreiben« von Carl Wilhelm Göttling lesen, daß die »Novelle« zwar die Vermutung erwecke, sie könne Teil eines umfangreicheren Werkes sein, daß sie aber dennoch »mit ihrem einfach klaren schönen Sinne« als ein »beredtes Ganze« erscheine. 1 Freundschaftliche Zustimmung bekundete auch bei dieser Gelegenheit Karl Ludwig von Knebel. 2 Frédéric Jacques Soret beschrieb dem Dichter die reizvolle Wirkung, die die »kleine Erzählung« auf ihn ausübte. 3 Und Johann Peter Eckermann, der den entstehenden Text passagenweise als erster kennengelernt hatte, pries das »geheime Gewebe« dieser Prosa als »vollendete Komposition« und das darin waltende »Wunder« als eine aus Poesie und Musik konstituierte »höhere WirklichZitate aus Text, Schemata und Varianten der »Novelle« werden nach Bd. 12 der Berliner Ausgabe von Goethes Werken (bearbeitet von Regine Otto, Berlin 1963) wiedergegeben. 1 Göttling wirkte auch am Druckmanuskript für »Wilhelm Meisters Wanderjahre« mit, deren 1821 publizierte erste Fassung bereits eine Reihe von Novellen enthielt. Das Manuskript der »Novelle« hatte er Ende Dezember 1827 zur Revision von Orthographie und Interpunktion erhalten und sandle es am 15. Januar 1828 zurück. Vgl. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887-1919 (künftig: WA), Abt. 1, Bd. 18, S. 460 und Goethes Tagebuch, 19. Januar 1828 (WA III, 11, S. 166f.). 2 Knebel an Goethe, 11. September 1828. In: Briefwechsel zwischen Goethe und Knebel (1774-1832). Hrsg. v. Gottschalk Eduard Guhrauer, Leipzig 1851,2. Teil, S. 389. 3 Frédéric Soret, Zehn Jahre bei Goethe. Erinnerungen an Weimars klassische Zeil. 1822-1832. Hrsg. v. Heinrich Hubert Houben, Leipzig 1929, S. 281.

Goethe: Novelle

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keit«, deren Erfahrung und Anerkennung dem Menschen des »ungläubigen neunzehnten Jahrhunderts« dringend nottue. 4 Bewundernde Zustimmung brachten auch die wenigen öffentlichen Reaktionen auf das erste Erscheinen der »Novelle« zum Ausdruck. Doch zugleich reagierten sie polemisch auf die Goethe-Feindschaft, die sich seit dem Beginn der zwanziger Jahre - von teils weit auseinander liegenden Positionen her immer stärker ausgeprägt hatte. Die beiden anonymen Rezensenten traten als Verteidiger des Dichters auf. So hieß es 1829 im »Allgemeinen Oppositionsblatt«, die »Novelle« beweise erneut, daß »unsre ganze Literatur« ohne Goethe »nur ein kümmerliches [...] Ansehen« habe; selbst »das Beste, was wir aufzuweisen haben«, erscheine »neben ihm in getrübtem oder halbem Lichte« vor allem dadurch, daß es im »Zwiespalt zwischen Phantasie und Reflexion« verharre, während Goethe die »Einheit und Ungetrübtheit« einer »wahrhaftgroßen Dichternatur« verkörpere. Zugleich bemerkte der Rezensent, der Schluß der »Novelle« habe ihn so wunderbar überrascht, daß er das Nachdenken über die »Konstruction des Ganzen« noch aufschieben müsse. 5 Unter dem Titel »Das Kind mit dem Löwen« veröffentlichten die »Blätter für literarische Unterhaltung« 1834 eine Besprechung, in der die »Novelle« ebenfalls der gesamten zeitgenössischen Literatur als Muster gegenübergestellt wurde speziell die »moderne Ironie, die heutzutage die poetische Welt durchzittert«, weise der »Genius der Poesie« in ihre »wahrhafte Schranke« zurück. Für den »einzig unendlichen Inhalt« sei hier der »wahrhafte Ausdruck« gefunden und somit »erwiesen, wie die Welt und ihr Inhalt, anstatt ein in sich Nichtiges und Verdrehtes zu sein, wirklich und wahrhaftig das Unendliche selbst« seien. So habe Goethe das »frömmste Gedicht dieser Zeit« geschaffen, in dem er Frieden predige und die »Rückkehr zum Unendlichen« als Erlösung verkünde. Gerichtet war diese demonstrative Lobrede auch an alle diejenigen, die sich »Hohn und Spott 4 E c k e r m a n n , J o h a n n Peter: G e s p r ä c h e mit Goethe in d e n letzten J a h r e n seines Lebens. Hrsg. v. Regine Otto u n t e r Mitarbeit von Peter Wersig. 3. Aull. Berlin und Weimar 1987 (künftig: Eckermann), S. 410, 413f. (10. und 15. März 1831; gedruckt 1836). 5 In: Allgemeines Oppositionsblatl. Eine Zeitschrift für Literatur und Kunst. Redigiert von K.J. Coppenhagen und Heinrich Friedrich Ludwig Rellstab. Nr. 332, 21. Mai 1829, S. 113f.

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gegen das Ganze, Volle und Schöne« erlaubten, während sie »in ihrer eignen Zerlumptheit« dahinlebten. 6 Goethes »Novelle« wurde in diesen Besprechungen hauptsächlich zur pauschalen Aburteilung einer als »modern« kritisierten Literatur und der ihr zugeschriebenen »zerlumpten« Welt-, Lebens- und Kunstanschauung benutzt. Wer damit aber eigentlich gemeint war, blieb unausgesprochen. Goethegegner aus der mit dem Namen Pustkuchen zu kennzeichnenden konservativen Fraktion mußten sich von solchen Vorwürfen jedenfalls nicht betroffen fühlen. Andere Rezensionen der »Novelle« erschienen nicht. Insofern behielt der Mitarbeiter des »Allgemeinen Oppositionsblattes« recht mit der Feststellung: »[...] unsere kritischen Institute, die sonst so wacker drauf losrecensiren, haben keine Zeit oder fühlen keinen Beruf, sich noch mit Werken Göthe's abzugeben. Ein tiefes Stillschweigen herrscht darüber [...]«7 Man muß freilich in Betracht ziehen, daß der Erstdruck der »Novelle« in einer von Anfang an schwer verkäuflichen Edition wie der Ausgabe letzter Hand das Publikum von dem neuen Text eher fernhielt. 8 Allerdings hatten die in die »Wanderjahre« aufgenommenen Novellen, die zwischen 1809 und 1819 vorab in Cottas »Taschenbuch für Damen« erschienen waren, ebenfalls keine nennenswerte Aufmerksamkeit erregt. Eine solche den literarischen Markt berücksichtigende Publikationsform stand für die »Novelle« 1828 gar nicht zur Debatte, und bis zum Ende des Jahrhunderts wurde das Werk in Deutschland niemals als selbständiger Text gedruckt. Auch im Ausland fand es, trotz mehrerer Übersetzungen (die erste, von Thomas Carlyle, wurde unter dem irreführenden Titel »Fragment« schon 1832 publiziert), kaum Beachtung. Dem spezifischen Kunst-Charakter dieser Prosa, der von Eckermann als vollendet gerühmten »Komposition«, fragten

6 Das Kind mit d e m Löwen. Novelle von Göthe. in: Blätter für literarische Unterhaltung. Nr. 13, 13. J a n u a r 1834, S. 54. 7 Vgl. Anm. 5. 8 Vgl. aber Goethe an Cotta, 18. September 1827 (WA IV, 43, S. 63, 65).

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die Zeitgenossen nicht nach. 9 Die zuerst von Georg Gottfried Gervinus ausgesprochene Behauptung, Goethes Spätwerke dokumentierten das Versiegen seines dichterischen Vermögens - der Literaturhistoriker tat die »Novelle« 1842 als »unsäglich geringfügige Produktion« eines ermüdeten Alten ab - , 1 0 galt weithin als berechtigt. So wurden denn auch zunächst ausschließlich stoffliche Einzelfragen erörtert, wobei man die Suche nach lokalen Modellen besonders intensiv betrieb.11 Nur selten kamen gesellschaftliche und historisch-politische Aspekte zur Sprache, als Zeugnisse für den Bezug des Werkes »zu dem heutigen Tag«.12 Und als Friedrich Gundolf endlich den »Stil« der »Novelle« in die Auslegung einbezog, wirkte das auf das gesamte Spätwerk Goethes gemünzte ästhetische Verdikt der Vorgänger noch immer mit: Selbst das »Wunder« des

9 Die einzige, verspätete Ausnahme blieb folgenlos: Giesebrecht, Ludwig: Über Goethesche Dichtungen. 4. Die Novelle. In: Damaris. Zeitschrift von Ludwig Giesebrecht, Stettin 1861. 10 Gervinus, Georg Gottfried: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Teil 5, Leipzig 1842, S. 7201'. 11 Simrock, Karl: Das malerische und romantische Deutschland. Goethes Romane. 1808-1832, Leipzig 1847, S. 31f. (Grafschaft Vaduz). - Dünlzer, Heinrich: Goethes »Novelle« und die »Guten Frauen«. In: Erläuterungen zu den deutschen Klassikern. Abt. 1. Bd. 16, Leipzig 1873, S. 5-93 (Heidecksburg und Greifenstein bei Rudolstadt). - Seuffert, Bernhard: Goethes »Novelle«. In: Goethe-Jahrbuch 19 (1898), S. 133-166. - SeufTert, Bernhard: Teplilz in Goethes »Novelle«, Weimar 1903 (Dornburg, Teplitz, Schloß Clary). - WukadinoviS, Spiridon: Goethes »Novelle«. Der Schauplatz. Coopersche Einflüsse, Halle 1909 (Eisenberg in Böhmen und Ruine Ilassenstein; amerikanische Assoziationen aus Romanen Coopers). - Meyer, Herman: Natürlicher Enthusiasmus. Das Morgenländische in Goethes »Novelle«, Heidelberg 1973, S. 57f. (Luisenburg bei Wunsiedel). Vgl. auch Anm. 59. 12 Göschel, Carl Friedrich: Unterhaltungen zur Schilderung Göthescher Dicht- und Denkweise. Ein Denkmal. Bd. 2, Schleusingen 1834, speziell S. 242-248 (vgl. dazu Brummack, Jürgen: »Blankes Schwert erstarrt im Hiebe«. Eine motivgeschichtliche Bemerkung zu Goethes »Novelle«. In: >Getempert und gemischet« für Wolfgang Mohr zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller, Göppingen 1972, S. 355-376, speziell S. 356); ähnlich Lehmann, Johann August: Über Gölhes Novelle: Das Kind mit dem Löwen, Marienwerder 1846, S. 14f. Die Nähe zur Gesellschallslehre der »Wanderjahre« und den Rückbezug auf die Französische Revolution hob zuerst Heinrich Düntzer hervor: Das epische Gedicht »Die Jagd« und die »Novelle«. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 4, Elberfeld 1848, H. 1, S. 1-43.

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Schlusses erschien lediglich als mechanisches »Kunstmotiv« akzeptabel, da es mit Hilfe einer »ausgespitzten Technik« nur dazu gedient habe, ein »letztes Muster für Goethes alexandrinische Gattungspoesie« hervorzudrechseln. 15 Erst in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts leiteten einige ausbaufähige Erkenntnisse über die Bildlichkeit und die Sprachstruktur des Textes eine neue Phase der Erschließung ein. 1 4 Die seit dem Ende der dreißiger Jahre intensivierte wissenschaftliche Hinwendung zu Goethes Alterswerken zeitigte anhand der »Novelle« besonders prägnante Ergebnisse, wobei eine Reihe von Fragen immer wieder aufgenommen wurden: 13 Wer ist der »Held« des Werkes und damit der Träger der »Botschaft« - Honorio, Fürst oder Fürstin, das singende Rind?16 Mit welchen epischen Mitteln »realisiert« Goethe Raum und Landschaft als Konstituenten des Geschehens? 17 Wie ist der Text insgesamt strukturiert, und wie ist dies ästhetisch zu bewerten? (Extreme auch hier: vorsätzlicher Edelkitsch; penetrante Schönheit; sublime Symbo-

13 Gundolf, Friedrich: Goethe, Berlin 1916, S. 7431'. 14 Beili, Richard: Goethes Bild der Landschaft. Untersuchungen zur Landschaftsdarstellung in Goethes Kunstprosa, Berlin und Leipzig 1929. - Grolmann, Adolf: Goethes »Novelle«. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 9 (1921), S. 181-187. - May, Kurt: Goethes »Novelle«. In: Euphorion 33 (1932), S. 277-299. 15 Die in den folgenden Anmerkungen vorgenommene chronologische Gruppierung der Arbeiten folgt der jeweils dominierenden Themenstellung. Die meisten Arbeiten betreffen mehrere Problemkreise. 16 Seuffert 1898, a.a.O. - Wäsche, Erwin: Honorio und der Löwe. Studie über Goethes »Novelle«, Säckingen 1947. - Thieberger, Richard: Le Genre de la Nouvelle dans la Littérature Allemande, Nice 1968, S. 132-134, 216-232 (deutsch: Die Fürstin als Heldin in Goethes »Novelle«. In: Thieberger: Gedanken über Dichter und Dichtungen, Bern/Frankfurt a.M. 1982). - Staraste, Wolfgang: Die Darstellung der Realität in Goethes »Novelle«. In: Neophilologus 44 (1960), S. 322-333. - Klingenberg, Anneliese: Goethes »Novelle« und »Faust II«. Zur Problematik Goethescher Symbolik im Spätwerk. In: Impulse 10 (1987), S. 75-124. 17 Meyer, Herman: Kaumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst. In: Studium Generale 10 (1957), S. 620-630; zitiert nach dem Wiederabdruck in Meyer: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart 1963, S. 40-46. - Staroste, a.a.O. - Vgl. auch Mannack, Eberhard: Raumdarstellung und Realitätsbezug in Goethes epischer Dichtung, Frankfurt a.M. 1972, S. 204-223.

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lik. 1 8 ) Wie exemplarisch ist der Titel zu verstehen, und w i e w e i t reicht seine genregeschichtliche Verbindlichkeit? 19 Welchen Platz nimmt das Werk ein in Goethes Novellistik von den »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« bis zu »Wilhelm Meisters Wanderjahren«? 2 0 Wie »amalgamierte« der Dichter seine Auffassungen von Natur und Geschichte hier mit orientalisch-antiken Traditionen? 2 1 Ist die »Novelle« per se oder aus der Nähe z u m z w e i t e n Teil des »Faust« als S u m m e Goethescher Welt-, Natur- und Kunstanschauung zu begreifen? 2 2 Alle diese Fragen m ü n d e n in die nach den weltanschaulich-religiösen und historisch-sozialen Ronsequenzen des Gehaltes (christliche Erlösung oder säkulare Utopie; konkret nachrevolutionäre oder überzeitlich gefährdete Sozietät) - und danach, ob h u m a n e Befriedung, gewaltlose Bändigung existentieller Gefahr hier durch Kunst geleistet werde oder ob Kunst die ein-

18 Himmel, Hellmuth: Metamorphose der Sprache. Das Bild der Poesie in Goethes »Novelle«. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins. N.F. der Chronik 65 (1961), S. 86-100. - Schumann, Detlev W.: Mensch und Natur in Goethes »Novelle«. In: Dichtung und Deutung. Gedächtnisschrift für Hans M. Wolff. Hrsg. v. Karl S. Guthke, Bern und M ü n c h e n 1961, S. 151-142. - Zagari, Luciano: Sovramondo melodrammatico e pericolo estetizzante nell'ultimo Goethe. A proposito della »Novelle«. In: Zagari: Studi di letteratura tedesca dell'Ottocento, Rom 1965, S. 81-119. - Brown, Jane Κ.: The Tyranny of the Ideal. The Dialectics of Art in Goethe's »Novelle«. In: Studies in Romanticism 19, Boston/Mass. 1980, S. 217-231. Goethe, Johann Wolfgang: Erzählungen. Hrsg. v. Hannelore Schlaffer, Stuttgart 1989, S. 354-368. - Meyer 1957, a.a.O. (grundlegend). Die Symbolfrage behandelt ausführlich Klingenberg, a.a.O. Sie versteht Symbolik als ein Mittel zur Aufrechterhaltung evolutionärer Weltsicht trotz widerständiger Erfahrung, das politisch-ideologisch wie naturwissenschaftlich bis 1830 brauchbar gewesen sei. 19 Stellvertretend für die umfangreiche genrehistorische und -theoretische Literatur: Keller, Werner: Johann Wolfgang Goethe. In: Handbuch der deutschen Erzählung. Hrsg. v. Karl Konrad Polheim, Düsseldorf 1981, S. 82-90, 566-568. - Träger, Christine: Novellistisches Erzählen bei Goethe, Berlin und Weimar 1984, S. 223-242. 20 Brummack, a.a.O. - Träger, a.a.O. - Klingenberg, a.a.O. 21 Schumann, a.a.O. - Brummack, a.a.O. - Meyer 1973, a.a.O. - Becker, Jochen: »Amor vincit omnia«: on the closing image of Goethe's »Novelle«. In: Simiolus. Netherlands quarterly for the history of art 18 (1988), S. 134-156. 22 Klingenberg, a.a.O.; die vorangegangene Literatur zu dieser tYage ist dort kritisch aufgearbeitet.

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zige Möglichkeit zu solchem Überwinden und daher mit ihm identisch sei. 23 Angesichts dieser Fragen, deren jede »aufs Ganze« gehen kann, bietet Herman Meyers aus den Forschungen zur »Novelle« abgeleitetes Understatement »Die Späteren haben immer leicht reden!«24 wenig Trost. Nicht nur hatten die »Späteren« es schon seit dem Bekanntwerden der Eckermann-Goetheschen »Gespräche« aus den Jahren 1826/27 mit lenkend-prononcierten, mehr oder weniger authentischen Selbstkommentaren des Dichters zu tun. Nicht nur beträgt der Umfang der wissenschaftlichen Literatur über die »Novelle« inzwischen längst ein Vielfaches des schmalen Textes von 1828. Der qualitative Ertrag dieser Zeugnisse und Deutungen aus reichlich anderthalb Jahrhunderten ist noch dazu überwiegend respektabel und bedenkenswert, läßt daher kritische Bescheidenheit durchaus ratsam erscheinen. Welche thematische Auswahl und methodische Entscheidung empfiehlt sich aber, wenn auf knapp begrenztem Raum - ein weiteres Mal von diesem Prosastück gehandelt werden soll? Eine in jüngsten Publikationen auffällig exponierte Tendenz kann diese Auswahl und Entscheidung womöglich erleichtern: 23 Beutler, Ernst: Ursprung und Gehalt von Goethes »Novelle«. In: Deutsche V i e r t e l j a h r s s c h r i f t f ü r L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t und G e i s l e s g e s c h i c h t e 16 (1938), S. 324-352. - Stöcklein, Paul: Die Sinnbilder in der »Novelle«. In: Stöcklein: Wege z u m späten Goethe. 2. Aufl. H a m b u r g 1960, S. 84-92. Wiese, Benno von: Novelle. 3. Aufl. Stuttgart 1963. - Stareste, a.a.O. Schönberger, Otto: Johann Wolfgang von Goethe. Novelle, München 1965. - Clouser, Robin: Ideas of Utopia in Goethe's »Novelle«. In: Publications of the English Goethe Society 49 (1979), S. 1-44. - Jacobs, Jürgen: »Löwen sollen L ä m m e r werden«. Zu Goethes »Novelle«. In: Literarische UtopieEntwürfe. Hrsg. v. Hiltrud Gnüg, Krankfurt a.M. 1982, S. 187-195. - Hahn, Karl-Heinz: Aus der Werkstatt deutscher Dichter. Goethe. Schiller. Heine, Halle 1963, S. 131-193. - Swales, Martin: T h e threatened society. Some r e m a r k s on Goethe's »Novelle«. In: Publications of the English Goethe Society 38 (1968), S. 43-68. - Steer, A.G.: Goethe's »Novelle« as a document of its lime. In: Deutsche Vierteljahrsschrill für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 414-433. - Kaiser, Gerhard: Zur Aktualität Goethes. Kunst und Gesellschalt in s e i n e r »Novelle«. In: J a h r b u c h d e r D e u t s c h e n Schillergesellschaft 29 (1985), S. 248-265. - Vgl. auch Jäger, Hans-Wolf: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz, Stuttgart 1971, S. 76-78 sowie Borchmeyer, Dieter: Höfische Gesellschaft und Französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsyslem der W e i m a r e r Klassik, Kronberg/Ts. 1977, S. 333-350. 24 Meyer 1973, a.a.O., S. 82 (dort Anm. 43).

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Wiederholt wurde in den letzten Jahren, mehr oder weniger strikt, die Ansicht vorgetragen, daß (auch) die »Novelle« ohne umfassende Kenntnis anderer Goethescher Werke - Dichtungen, naturwissenschaftlicher und ästhetischer Schriften, Briefe - nicht verstehbar sei und daß mithin diese Prosa sich wohl der wissenschaftlichen Analyse, kaum aber dem Leser erschließe, der sich mit dem »bloßen« Text begnüge. 25 Mit solchen Aussagen wird tendenziell Rezeption weniger befördert als verstellt oder gar abgeschnitten. Zweifellos gehört Goethes »Novelle« zu den besonders »anstrengenden« Werken. Jedoch sollte der legitime wissenschaftliche Anspruch nicht zur Sekretierung seines Gegenstandes führen. Zutrauen in die substantiell-genuine Aussage- und Wirkungsfähigkeit des poetischen Textes (ohne Verzicht auf verwandte Zeugen oder bereits gewonnene Erkenntnisse und ohne Rückzug in enthistorisierende Immanenz) muß erlaubt sein - im Bewußtsein, daß weder auf diesem noch auf einem anderen Wege ein Generalschlüssel zur »Novelle« zu finden ist.26 2.

Die »Novelle« entstand zwischen Anfang Oktober 1826 und Anfang März 1828. Der Vorgang ist hauptsächlich durch Goethes Tagebücher dokumentiert: Der konzentriertesten Arbeitsphase (4.-22. Oktober 1826) folgten kleinere Änderungen und Durch-

25 So sieht Christine Träger, die die »Novelle« als gedichtete Kunsttheorie auslegt, die »formale Vollkommenheit« des Werkes vorrangig als Hindernis an für die »Aufnahme der Dichtung als lebendiges Kunstwerk« (Träger, a.a.O., S. 239). Demgegenüber läßl Klingenberg, von ähnlichen Überlegungen ausgehend, immerhin noch gelten: »Auch die Erberezeption kennt Überraschungen« (a.a.O., S. 88, 104f.). 26 Was gleichsam auf einem Mittelweg der hinführende Begleittext zu leisten vermag, belegen auf jeweils charakteristische Weise die Vor- bzw. Nachworte: Goethe: Novelle. Mit einem Nachwort von Jochen Golz und Radierungen von Frank Ruddigkeil, Berlin und Weimar 1969, S. 4 7 - 5 4 . Goethe, Johann Wolfgang: Novellen. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen v. Katharina Mommsen, Krankfurt a.M. 1979, S. 283-287. - Goethe, Johann Wolfgang von: Novelle. Mit Federzeichnungen von Max l.iebermann. Nachwort von Helmut Heißenbüttel, Tübingen 1980, S. 43-48. Goethe, Johann Wolfgang: Novellen. Hrsg. und eingeleitet v. Christine Träger, Leipzig 1982, S. 26-31. - Goethe, Johann Wolfgang: Erzählungen. Hrsg. v. llannelore Schlaffer, Stuttgart 1989, S. 354-368.

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sieht (19.-20. November 1826), Gespräche mit E c k e r m a n n (11.-31. Januar 1827), neuerliche »Retouche« im Anschluß an diese Unterhaltungen (13.-24. Februar 1827) und »Abschluß« (25. Februar 1827). Nach weiteren Gesprächen (mit Friedrich Wilhelm Riemer und im Kreis der Familie, Februar und April 1827) wurde die Aufnahme in die Ausgabe letzter Hand bestimmt (18. September 1827), der Text am Jahresende nochmals »vorgenommen« (28. Dezember 1827), die Revision veranlaßt (29. Dezember 1827), die abschließende Redaktion durchgeführt (26.-29. Januar und 12. Februar 1828). Das Druckmanuskript wurde am 15. Februar 1828 nach Augsburg gesandt. 27 Die Frage des Geschäftsführers der Cottaschen Druckerei nach dem endgültigen Titel beantwortete Goethe am 4. März 1828 mit der Erklärung: »Die Überschrift der kleinen Erzählung [...] heisse ganz einfach: Novelle. Ich habe Ursache, das Wort Eine nicht davorzusetzen.« 28 Der knappe Zeitraum der »eigentlichen« Genese täuscht in gewisser Weise. Die »Novelle« gehört zu denjenigen Werken, deren stoffliche und ästhetische Problematik Goethe sehr lange mit sich herumtrug. Zwischen April und Juni 1797 hatte er mit Schiller und Wilhelm von Humboldt die Gattungsgesetze von Epos und Drama erörtert und dabei den Plan zu einem epischen Gedicht erwogen, das »Die Jagd« heißen sollte. 29 Die 27 WA III, 10, S. 252-260, 271; 11, S. 6-15, 20-25,171-179; WA IV, 43, S. 63-65. 28 G o e t h e an Wilhelm Reichel, 4. März 1828 (WA IV, 44, S. 7); K o r r e k t u r g e m ä ß Auktionskatalog Henrici XC, J u n i 1924, Nr. 51. Krüher w a r die Titelfrage bereits mit E e k e r m a n n erörtert worden; Eckermann, S. 19f. (29. - richtig: 25. - J a n u a r 1827). 29 Diese Bezeichnung findet sich in Schillers Brief an Goethe vom 26. Juni 1797. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Weimar 1943fr. (künftig: SNA), Bd. 29, S. 87. Goethe sprach allgemein, nach d e m vorläufigen Abschluß von »Hermann und Dorothea«, von einem n e u e n »epischen Gedichte« (23. März 1797; WA III, 2, S. 62), von seinem neuen »Plan« (an Schiller, 22., 26., 28. April 1797; SNA 37/1, S. 11, 13,15) und ü b e r »meine Tieger und Löwen« (an Schiller, 27. Juni 1797; SNA 37/1, S. 52). Im Rückblick der »Tag- und Jahreshelle« n a n n t e er den Plan »ein n e u e s episch-romantisches Gedicht« (Goethe. Berliner Ausgabe, Berlin und Weimar 1960-1978 (künftig: BA], Bd. 16, S. 53). Bei W i e d e r a u f n a h m e ist von der »wunderbaren Jagd«, der »Jagdgeschichte« und d e m »romantischen Jagdstück« die Rede (4. u n d 8. Oktober 1826, 11. J a n u a r 1827; WA III, 10, S. 252, 254; 11, S. 6), d a n n s e h r bald ohne Anführungszeichen von der Novelle (zuerst 10. Oktober 1826; WA III, 10, S. 255). Vgl. auch Anm. 36.

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Publikation seines Briefwechsels mit Schiller vorbereitend und im Nachdenken über »Erfordernisse der neuen Wanderjahre«, prüfte Goethe Anfang Oktober 1826 »Ältere Aufsätze und Schemata«. Das dabei zunächst vergeblich gesuchte, dann doch wiedergefundene ausführliche Schema zu jenem Plan von 1797 ist nicht überliefert. Wohl aber sind Zeugnisse der neuen schematisierenden Vorarbeit, beträchtliche Teile der Ausarbeitungen von 1826/27 sowie das Druckmanuskript erhalten geblieben; sie wurden philologisch detailliert ausgewertet. 30 Über Stoff und Fabel des alten Plans berichtete Wilhelm von Humboldt seiner Frau brieflich am 7. April 1797: Das Sujet sei »aus höhern Ständen« genommen, es handle sich um eine »Jagdpartie«, um einen »deutschen Erbprinzen«, um Gespräche »über den Krieg, über das Schicksal der Staaten usw.«, Feuer entstehe auf einem kleinstädtischen Jahrmarkt, wilde Tiere brechen aus, und »die heroische Handlung dieses epischen Gedichts« sei »nun eigentlich die Bekämpfung dieser Tiere«.31 Schiller sprach, mündliche Mitteilungen rekapitulierend, von der »Löwen und Tieger-Geschichte«, von »Fürstlichen Personen und Jägern«, »Ritterfiguren«, »vornehmem Stand«.32 Goethe wollte nicht allzuviel vorab preisgeben, lieber nur »im allgemeinen über die Materie« verhandeln und »Gegenstand« wie »Idee« erst »im Stillen« abwartend prüfen. 33 Welche Form dem proponierten Stoff anstünde, war der eigentliche Diskussionsgegenstand jenes Frühsommers. Rasch kamen bei den grundsätzlichen Erörterungen Zweifel auf, ob das Sujet (Schiller nannte es nordisch-feudalisch, romantisch,

50 Vgl. das Tagebuch vom 2.-8. Okiober 1826 (WA III, 10, S. 251-254). Dazu Brief an Wilhelm von Humboldt, 22. Oktober 1826 (WA IV, 41, S. 203) und E c k e r m a n n , S. 174f. (15. J a n u a r 1827). Philologische A u s w e r t u n g d e r überlieferten Handschriften: Praschek, Helmut: Zur Entstehungsgeschichte der »Novelle« von Goethe. In: Forschungen und Fortschritte 35 (1961), S. 302-306. - Praschek: Bemerkungen zu Goethes Arbeitsweise im Bereich s e i n e r E r z ä h l u n g e n . In: Scheibe, S i e g f r i e d / J e n s e n , I n g e / H a g e n , Waltraud/Praschek, Helmut: Goethe-Studien, Berlin 1965, S. 97-122. - Hahn, a.a.O. 31 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hrsg. v. Anna von Sydow, Berlin 1907, Bd. 2, S. 37. 32 Schiller an Goethe, 26. Juni 1797 (SNA 29, S. 88). 33 Goethe an Schiller, 28. April 1797 (SNA 37/1, S. 15).

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modem 5 4 ) sich überhaupt für ein Hexameterepos nach klassisch-antikem Muster eigne oder ob es nicht besser in die Strophen· und Reimstruktur der Ballade zu fügen sei. Goethe erwog die Argumente - und zog sich zurück. Rückblickend stellte er fest: »Der Plan war in allen seinen Teilen durchgedacht, den ich unglücklicherweise meinen Freunden nicht verhehlte. Sie rieten mir ab, und es betrübt mich noch daß ich ihnen Folge leistete: denn der Dichter allein kann wissen was in einem Gegenstande liegt, und was er für Reiz und Anmut daraus entwickeln könne.«35 Eine lehrreiche Erfahrung war der Diskurs zweifellos. Bei der Wiederaufnahme des Plans ließ sich Goethe auf dergleichen nicht ein. Am 22. Oktober 1826 teilte er Wilhelm von Humboldt mit: »[...] damals riethen Sie mir die Bearbeitung ab, und ich unterließ sie; jetzt, bey'm Untersuchen alter Papiere, finde ich den Plan wieder und enthalte mich nicht, ihn prosaisch auszuführen, da es denn für eine Novelle gelten mag, eine Rubrik, unter welcher gar vieles wunderliche Zeug cursirt.« 36 Die Schlußwendung verweist auch auf die Novellen-«Rubrik« aktueller Taschenbuchproduktion, die in der Tat »gar vieles wunderliche Zeug« in Umlauf brachte. Der eher relativierenden Äußerung steht des Dichters anderthalb Jahre später endgültig verfügte Entscheidung für den lakonisch auf Exemplarisches deutenden Titel der ehemaligen »Löwen und Tieger-Geschichte« allerdings einigermaßen schroff gegenüber. 3. Goethes definitorische Aussagen zum Genre Novelle bieten eine Formel an, die Exzeptionalität gegen Beliebigkeit setzt. Im Un34 Vgl. Anm. 32 und 36. 35 »Tag- und Jahreshefte« für 1797 (BA 16, S. 53; formuliert u m 1823). Ähnlich im Brief an Christoph Ludwig Friedrich Schultz, 29. Juni 1829 (WA IV, 45, S. 318). Vgl. auch Eckermann, S. 185 (18. J a n u a r 1827). 36 Goethe an Wilhelm von Humboldt, 22. Oktober 1826 (WA IV, 41, S. 203). Der Ausdruck »wunderlich« (auch im Sinne von »wunderbar«) f ü r das G e n r e verweist hier zugleich auf die Anwendung des Begriffs »romanlisch« (als »modern« im Sinne von nicht-antik) auf den Stolf des Plans (zuerst durch Schiller, vgl. Anm. 32) u n d die Ausarbeitung der »wunderbaren Jagd« (siehe Anm. 29). Über die Beziehungen zur »klassisch-romanlischen Phanlasmagorie« in »Faust« II, an der Goethe gleichzeitig arbeitete, vgl. Meyer 1973, a.a.O., S. 29-32.

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terschied zu den Parallelfällen »Das Märchen« und »Ballade« bringt die »Novelle« die Definition selbst zur Sprache, und zwar dreifach: Zuerst nennt Honorio den Brand auf dem Markt aus der Ferne einen »unerwartet außerordentlichen Fall« (S. 419). Bald darauf sieht sich der Fürst mit dem an dieser Stelle nur in Resultaten sichtbaren »seltsamen, unerhörten Ereignis« konfrontiert: Der Tiger ist getötet; die »Gruppe« - Fürstin, Honorio, Frau und Knabe der Schaustellerfamilie - steht dabei; »was der Anblick nicht selbst ergab« (der zuvor erzählte Vorgang), »wird mit wenigen [nicht wiedergegebenen] Worten erläutert« (S. 424). Schließlich »beengt« den alten Jäger, Wächter der Stammburg, der »seltene menschliche Fall« - das Rind ist auf dem Wege zum Löwen, jetzt weder sichtbar noch zu hören -, zu dessen Lösung er am liebsten selbst beitrüge (S. 431). Gegenüber diesen abgestuften Bezeichnungen, die auf unterschiedliche Vorgänge und Situationen sowie auf verschiedenartige Blickwinkel und Gefühlszustände bezogen sind, besitzt die von Eckermann überlieferte Formulierung eindeutig definitorischen Charakter. Im Anschluß an die Erörterung des noch festzulegenden Titels - wobei andere »Vorschläge« erwogen wurden, die Eckermann aber nicht mitteilt - heißt es unter dem 29. Januar 1827: »>Wissen Sie waswir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. «Walladmorlocus amoenusManchester Massacre< of 1819. Niklas is presented as having played a leading part in the >Catostreel-conspiracy< of 1820, T h i s t l e w o o d ' s plot to m u r d e r the whole Cabinet. Allusions are also frequently made to important political figures of the lime such as Castlereagh, Canning, Liverpool and such radical leaders as Thistlewood and Hunt.« (a.a.O., S. 221)

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Militär rückte aus, u m die Versammlung »aufzulösen«; Hunderte von Toten blieben zurück. Ein Gesetz zur rigorosen Einschränkung von Presse- und Versammlungsfreiheit wurde erlassen. Politischer Zündstoff hatte sich, wie die Catostreet-Verschwörung von 1820 bezeugt, auch in der im engeren Sinne an der politischen Macht teilhabenden großbürgerlich-aristokratischen Schicht angehäuft. Erzählerisch vergegenwärtigt wird dieser zeitgeschichtliche Hintergrund in der breitangelegten Exposition des Romans, die den gesamten ersten Band einnimmt. Dabei konzentriert der Erzähler sein Interesse auf den sich als liberaler Reformer geb e n d e n Thomas Dulberry, der in den Wirtshausgesprächen das große Wort führt und f ü r die in der Bill of Right garantierten persönlichen Freiheiten, für Handelsfreiheit und einen sparsamen Staat lauthals seine Stimme erhebt. Dieser Dulberry freilich, einst w o h l h a b e n d e r kapitalistischer U n t e r n e h m e r , jetzt von seinen Renten auskömmlich lebend, erweist sich eher als Karikatur denn als substantieller Charakter. 2 9 Der Erzähler gibt ihm nicht die Wesenszüge eines Sonderlings englischer Provenienz, dessen Skurrilitäten in der Regel das exemplarisch H u m a n e verhüllen; vielmehr nutzt er jede Gelegenheit, Dulberry der Lächerlichkeit preiszugeben. Damit w e r d e n auch die von Dulberry verfochtenen liberalen Ideen in das Licht ironischer Distanzierung gestellt. Es ist dies ein Verfahren, das in unmittelbarem Zusamm e n h a n g mit der Gegenwartsskepsis des Erzählers zu s e h e n ist. 5 0 Daß Alexis ü b e r d i e s der englandtypischen Amalgamierung von Unternehmergeist und christlichem Glauben mit gehöri29 Thomas, a.a.O., S. 222 schreibt: »Alexis parodies the type of >original< character lo be found in Scott in the eccentric and almost grotesque figure of Master Dulberry, the radical >alderman< Crom Manchester. Iiis exaggerated regard lor the political righLs ol'the individual is satirized in a n u m ber of scenes.« 30 Daß solche Skepsis auch aus Alexis' Erkenntnis resultiert, in der Gegenwart büße die Kunst an Wirkung ein, bezeugt nicht n u r der »Walladmor« selbst, wo an einigen Stellen aul' das Verhältnis von Kunst und Gegenwart Bezug g e n o m m e n wird, sondern ebenfalls z.U. seine Rezension von Washington Irvings Roman »Bracebridge Hall, or the Humorists« (Literaris c h e s Conversations-Blalt, 1822, Nr. 2571'.), wo Alexis a m Beispiel d e r amerikanischen Gesellscliall über das Verhältnis von llandelskapitalismus und Kunstschönem nachdenkt: »[...| wo im llandelsgeiste und im Nutzen das vereinigende Prinzip liegt, da kann das Schöne sich nicht entfalten. Ja selbst im Handel scheint sich der Krämersinn noch nicht zum groflartigen Handelsgeisie emporgeschwungen zu haben.« (S. 1028)

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gem Mißtrauen begegnet, erweist die breite Darstellung der Ijeichenprozession am Ende des ersten Bandes, die ja in Wahrheit ein gutorganisiertes Schmuggelunternehmen ist. Der Erzähler hat es auch hier nicht an ironischer Illumination für den Leser fehlen lassen. Die im Wirtshaus ausgehängte Einladung zur Teilnahme an der Prozession beginnt mit dem Satz: »Wer Jesum liebt und die Freiheit des Handels [...]« (I, S. 276). Der skeptische Blick des Erzählers auf die Gegenwart bleibt für die Rekonstruktion des Geschichtlichen im Roman nicht ohne Folgen. Geschichte stellt sich nicht mehr, wie bei Scott, als in ihrer Totalität bewahrenswertes, im Gegenwärtigen fortwirkendes »Erbe« dar, sondern überwiegend als ein in die geschichtslose Gegenwart eingelagertes museales Sediment. Im Roman wird dieses historische Sediment durch die Welt von Walladmor Castle repräsentiert, die aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt ist. Aus der Perspektive des Abenteuerromans liefert die bizarre Schloßszenerie Handlungselemente, Naturstimmungen, folkloristische Einlagen als Versatzstücke für eine kolportagehaft-exotische Räuberstory, die auf das Unterhaltungsbedürfnis eines bürgerlichen Lesepublikums zugeschnitten ist. Aus der Perspektive des Geschichtsromans bringt die Welt des Sir Morgan Walladmor immer noch einen Rest von historischer Authentizität ein. Freilich erhält sie dabei den Charakter inselhafter Abgeschlossenheit, und zwischen der breiten, »modernes« Leben abspiegelnden Exposition im ersten Band und der eigentlichen Walladmor-Handlung tun sich Diskrepanzen auf. Auf der insgesamt strukturbestimmenden Ebene des Zeitromans verkörpert Walladmor Castle als Topos das Antiquiert-Gestrige, unci Sir Morgan vollends, öffentlicher Repräsentant der guten alten Zeit, erscheint aus dieser Perspektive vor allem als komische Figur. Die mit ihm sich konstituierende kulturelle Tradition besaß einstmals historische Legitimation, im Lichte der modernen Zeit aber, in der Dampfboote und Maschinen das Lebenstempo vorgeben, wirkt sie in ihren einzelnen Formen wie ein Relikt des längst Vergangenen und wird vom Erzähler mit einer Mischung aus Rührung und Spott betrachtet. Bildet die Welt von Walladmor Castle in gewisser Hinsicht noch eine künstliche Insel der Tradition und des Wertbewußtseins, spiegelt sich in den Wirtshausgesprächen vor allem das

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»moderne« Leben in seiner nivellierenden Durchschnittlichkeit ab, so erweist sich die Vita des Räubers und Schmugglers James Nichols als alternatives Modell zur aristokratischen Werthierarchie wie zur bürgerlichen Normalität. Ausgestattet mit allen Requisiten romantisierender Kolportage, entfaltet sie sich im Zeichen exotischer Antibürgerlichkeit und gesetzloser Freiheit. Als »hohe Gestalt« (III, S. 197), als großer Verbrecher wird James Nichols ins Bild gebracht. Dabei hat Nichols, dessen wechselnde Namen seine Lebensrollen bezeichnen, nicht durchweg ein wildes Räuberleben geführt. Auch als Schauspieler hat er sich versucht und dadurch Bildung und Weltkenntnis erworben. Überdies verfügt er über ein Reflexionsvermögen, das ihn zu seinen Spießgesellen Distanz gewinnen läßt und ihm die Rolle des Einsamen und Unverstandenen ermöglicht. Als reflektierender Schurke aber besitzt er keinen homogenen Charakter, sondern repräsentiert nicht zuletzt den Typus des weltschmerzlich »Zerrissenen«, wie ihn vor allem Byron in die zeitgenössische Dichtung eingeführt hatte.31 Dabei erscheint ihm die Natur in ihrer Größe und Einsamkeit als trostspendender und rettender Gegenpol zur »gebildeten Welt«. »Hier, Bertram«, so monologisiert James angesichts der Naturkulisse von Kloster Griffith, »stehe ich oft an dem schwindelnden Abgrunde, und sehe im Mondenschein das große ruhige Schauspiel an, und dann ist's mir oft, als bedürfe ich keines Freundes, als sei die große Natur ein Freund, wie ich ihn nur verlangen kann, weit besser und verständiger, als alles das, was Ihr gebildete Welt nennt.« (II, S. 73) Mit dieser Vorstellung von Natur als wertbehauptendem, widerständigem Element gegenüber einer kritisch gesehenen modernen Zivilisation verbindet sich Nichols' Bewußtsein vom naturgegründeten Wert des Menschen, von seinem Recht auf Widerstand gegen eine gesellschaftliche Unnatur, dem er durch sein empörerisches Handeln Geltung zu verschaffen sucht, ein Handeln, das ein in chiliastischen Farben

31 Vgl. Jahrbücher der Literatur, XV, S. 105-131 und dort Alexis' Ausführungen zu »The Corsair, a Tale« (S. 116-120), die die Beziehungen zwischen Byrons Korsar Konrad und Alexis' Räuber James Nichols deutlich werden lassen.

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gemaltes Reich sozialer Versöhnung und Gerechtigkeit herbeiführen helfen soll. Faßlich wird dies an jenem Punkt der Handlung, da James im nächtlichen Dialog mit dem Bruder in Kloster Griffith über die Gründe seiner Teilnahme an der CatostreetVerschwörung Rechenschaft ablegt: »Es war ein schönes Bild, wenn ich mir alle die großen Häupter kopflos dachte und darin ähnlich und gleich dem armen Sünder, welcher ein halbes Pfund gestohlen, wenn er vom Galgen herunter kommt, und die Freude ihm den Kopf abgeschnitten zu haben. Dann sollte kein Squire und Lord stolz vor uns vorüberreiten, kein Schloß übermüthig auf die Hütte oder den Schlupfwinkel des Verfolgten herabblicken, nur der Werth sollte gelten -« (II, S. 78). Ein »Zerrissener« aber ist James insofern, als er bei aller rebellischen Empörung gegen Willkür und Unrecht zugleich Trauer über seinen moralischen »Fall« und Sehnsucht nach einer (aristokratischen oder bürgerlichen) Normalität empfindet. So sucht er in Bertram, dem er sein Leben verdankt, weniger den Komplizen als vielmehr eine moralische Instanz zu gewinnen, der er sich mit seinen Skrupeln und Zweifeln anvertrauen kann. Eine solche Instanz stellt für ihn auch Ginievra dar, und seine Liebe zu ihr verbindet sich zudem mit der Hoffnung, in der Beziehung zum anderen gesellschaftliche Schranken aufheben, naturwüchsige Bindungen herstellen und sich des eigenen besseren Selbst versichern zu können. »Ginievra!«, so schreibt er ihr, »damals erschien mir, zwischen Dir und mir stehend, ein Gespenst, ein furchtbares Gespenst, fratzenhaft ausgeschmückt aus Despotismus, Verkennung der Menschenrechte, Unterschied des Standes, - lächle nur - auch Unterschied der Tugend und des Lasters! - Um die Schmach meiner niedrigen Geburt, meines entehrenden Gewerbes, abzuwaschen, um die Kluft zwischen Deiner Hoheit und meiner Erbärmlichkeit, Deiner Bildung und meiner Roheit auszufüllen, - Ginievra! allein um Dich zu erwerben, verschwor ich mich gegen das Gespenst, und wurde der eifrigste unter den Mördern der Catostraße.« (II, S. 151) Ginievra aber, die den »wilden Mann, der, ausgestoßen durch Verhältnisse, sich seine eigene Bahn - wenn auch eine furchtbare - gebrochen«, hätte lieben können, weist den »gemeinen Mörder« (II, S. 146) zurück. Des edlen Räubers Verzweiflung über diese Abweisung artet, mit dem jungen Schiller zu reden, in

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einen »Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht« 3 2 aus. Als sein Versuch fehlschlägt, sich Ginievras mit Gewalt zu bemächtigen, und seine Niederlage besiegelt ist, stellt sich James seinen Richtern und will, auch darin Schillers Räuber Karl Moor nicht unähnlich, ein »Bekenntnis« ablegen, das alle »schaudern« (III, S. 183) machen soll. In dem von Sir Morgan geführten Verhör und dann vor allem in der öffentlichen Gerichtsverhandlung jedoch tritt das ganz auf sich selbst verwiesene »verdorbene Genie« wieder in seine Rechte, verschafft sich »die große Natur in diesem ihrem ausgearteten Sohne« (III, S. 9) Geltung. In einem Schlußwort vor Gericht erklärt James: »Beim Himmel! - unter den wackern, kräftigen Leuten, die vom Sturm und den tobenden Wogen berauscht wurden, habe ich nur gelernt, daß dieses Land, wo die Gesetze herrschen sollen, ein Land des Eigennutzes, des Betruges, der Unterdrückung sei. Meine Herren! In spätem Jahren lernte ich Sitte, Gesetz, Verfassungen, und wie Ihr sonst die Einrichtungen unter gebildeten Wesen n e n n e n mögt, kennen, aber ich lernte sie, wie ein Schauspieler seine Rollen - u m mitzuspielen. Ich bin so thörig und unerfahren geblieben, daß ich nicht begreifen kann, weshalb man die Menschen, welche auf hohen Schlössern oder in Pallästen geboren sind, höher achtet, als die in Hütten gebornen. [...] Der ganze Staat - nicht der dieses Landes allein - Königreiche und Republiken erschienen mir wie große Puppenspiele, u m Alle oder Einen zu amüsiren, u m Alle oder Einen zu hintergehn.« (III, S. 252t.) Eigennutz, Betrug und Unterdrückung sind für James die w a h r e n Triebkräfte der Gesellschaft, Sitten oder Gesetze n u r deren verhüllende Konventionen. War er zunächst bereit, die Konventionen der Gesellschaft zu akzeptieren und ihre »Puppenspiele« mitzuspielen, so reut ihn nunmehr, seine Spielrolle aufgegeben und an der Catostreet-Verschwörung teilgenommen zu h a b e n , weil die zurückliegende vierzehntägige Haft ihm endgültig vor Augen geführt habe, daß »Staat oder gesetzliche Ordnung [...] erbärmlich und lächerlich« seien. Der »gebildete Staat« sei nicht in der Lage, die widerstreitenden Interessen und 52 Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 2, Berlin 1981, S. 416.

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Absichten der voneinander isolierten Individuen nach den Prinzipien von Sitte und Gesetz zu regeln, und so reduziere sich der Unterschied zwischen Besitzenden und Räubern letztlich auf den von verbrämtem und unverhülltem Egoismus: »Jeder lebt und wirkt für sich, das habe ich als die Bedeutung des Lebens überall gefunden, nur mit dem Unterschiede, daß man in einem gebildeten Staate einen Mantel über die Absicht wirll, und wir freien Leute und Ritter der Kraft frei, auch dem Richter ins Gesicht, unsere Absicht aussprechen.« (III, S. 233f.) Sosehr James' Verteidigungsrede als Rollenrede in einem kolportagehaften Textzusammenhang zu verstehen ist, sosehr hier auf die Tradition vom edlen Räuber als empörerischem Bewahrer des Naturrechts Bezug genommen wird, so wenig darf doch außer acht gelassen werden, daß in sie auch durchaus moderne geschichtliche Erfahrungen des Erzählers hineingearbeitet sind. Und unter diesem Aspekt erweist sich James Nichols, jenseits aller räuberromantischen Kostümierung, als ein Zeitgenosse des Lesers von 1823/24, der über die eigene Lebensrolle in einem modernen Gesellschaftsgefüge verzweiflungsvollskeptische Meditationen anstellt. Daß sich James am Ende, nach der Aussöhnung mit dem Vater, eine Perspektive eröffnet, ist als ironisches Akzidens zu sehen, vor allem aber als Zugeständnis an die Mechanismen Scottscher Erzähltechnik. Denn da nur einer der Brüder Ginievra heiraten kann, muß der andere, soll er nicht am Galgen enden, in die Welt geschickt werden, und zwar nach Südamerika, das für die Deutschen am Anfang des 19. Jahrhunderts noch einen Kontinent der Hoffnung darstellte. 4. In Alexis' Erzählen mischen sich verschiedene Intentionen: Einerseits wollte er einen historisierenden Unterhaltungsroman nach den Regeln der Scottschen Erzähltechnik für einen aufnahmebereiten Markt produzieren; zugleich aber erzählte er aus der Sicht des skeptisch-kritischen Zeitgenossen, durch dessen Einrede sich ein zeitgeschichtliches Panorama über den altertümelnd-kulturgeschichtlichen Hintergrund legt; und diese Stimme wiederum klingt zusammen mit der des Artisten romantischen Geblüts, der, auf seine literarischen Ziehväter Tieck und

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Hoffmann blickend, die Scottsche Erzähltechnik ironisiert und parodiert. Nicht zu verkennen ist, daß Alexis durch sein Erzählverfahren einer (ihm durchaus bewußten) latenten Trivialität entgegenwirken wollte. So befördert der Erzähler wohl durch die Konstruktion einer spannenden Story beim Leser detektivische Lust, sucht jedoch zugleich durch ironisch illuminiertes Erzählen die einmal gestiftete Ordnung partiell aufzuheben und fordert damit dazu auf, die Geschichte nicht ganz ernst zu nehmen. Am Ende dann, wenn alle Fäden zusammengeführt werden, soll sich für den Leser spannungsvolle Lust in das Empfinden von Befreiung und moralischer Befriedigung auflösen; gleichzeitig aber wird ihm nahegelegt, sich mit dem Erzähler lachend über den trivialen Plot zu erheben. Von besonderem Interesse ist bei alledem, wie Alexis mit dem Scottschen Typus des mittleren Helden verfahrt. In seinem Scott-Essay hatte er für diesen Helden eine dreifache Funktion nachgewiesen: als Medium für die Fabelentwicklung, als Repräsentant des Lesers und als Reproduktion des Autor-Ichs, und in allen drei Erscheinungsweisen wird er unter dem Namen Bertram auch in den »Walladmor« übernommen. Fast immer ist Bertram im Roman anwesend, ob er nun als Subjekt der Handlung auftritt oder als Zeuge des Geschehens fungiert, als Beobachter, als Kommentator, als Partner in Gesprächssituationen. In dieser Beziehung konnte Alexis das Rollenverhalten des Scottschen »Nicht-Helden« nahezu ungebrochen reproduzieren. Hingegen trägt die zeitliche Koinzidenz von Erzählgegenstand und Erzählerstandpunkt dazu bei, daß Bertram auf besondere Weise den Leser repräsentiert. Sollte Scotts mittlerer Held dem Leser die Optik auf das historische Geschehen vermitteln und für ihn überdies moralische Integrität und common sense verkörpern, so konnte Alexis mit einem solchen Rollenverständnis nur noch ironisch umgehen. Bei ihm soll der mittlere Held unmittelbar teilhaben an der Durchschnittlichkeit, dem Spannungsbedürfnis und der romantisierenden Empfindelei des deutschen Lesepublikums. Als »von romantischen Ideen geleiteter Jüngling« (II, S. 9), als »romantischer Freund« (II, S. 50) wird Bertram im Roman apostrophiert.

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Bertrams Rolle schließt auf spezifische Weise auch die eigene Autorschaft ein. Nicht mehr nur als Medium eines souveränen Erzählers fungiert er im narrativen Kontext, sondern er selbst wird mit den Attributen eines zeitgenössischen Autors ausgestattet, dessen Existenz als Reisender in Sachen Spannung sliteratur freilich im Lichte ironisch-reflexiver Brechung erscheint. Solche ironische Relativierung wird zunächst durch den Erzähler selbst vorgenommen, der Bertrams Schreibversuche distanzierend kommentiert, sie geschieht insbesondere aber durch die Einführung von Bertrams literarischem alter ego Thomas Malburne, der als »großer Unbekannter« 33 immer wieder überraschend in der Romanhandlung erscheint und seinen Teil zur glücklichen Entwirrung der Familienstory beiträgt. Beide Figuren stehen in einer durchaus spannungsvollen Beziehung zueinander, und ihre Dialoge erweisen sich nicht nur als fortlaufender Diskurs über das Verfertigen von Romanen, es sind zugleich Gespräche des Autors Alexis mit sich selbst, der sich hier in einem ironisch-romantischen Erzählspiel in den trivialen Erfolgsbelletristen und in den »realistischen« Romancier auseinanderdividiert hat.34 Was Malburne als ironische Widerrede zu Bertrams literarischer Produktion vorbringt, berührt sich eng mit den Grundzügen jener Romanpoetik, die Alexis in seinem Scott-Essay entwickelt hatte, und weist insofern Elemente einer kritischen Selbstreflexion auf. Gegen Ende des ersten Bandes, im Wirtshaus zu M x x x , warnt Malburne seinen jungen enthusiastischen Freund vor der Gefahr, sein Talent frühzeitig zu »verschleudern«, und leitet daraus eine literarisch-ästhetische 33

Als »the great unknown« ging Scott im literarischen Leben Englands und Schottlands um; allerdings trug schon die erste deutsche Scott-Übersetzung 1817 den Namen des Verlassers auf d e m Titelblatt. Die Brockhaussche »Real-Enzyklopädie« legte sich 1819 in der Verfasserfrage noch nicht l'est. Scott, der mit d e m Publikum ein humoristisches Spiel trieb, gab selbst seine wahre Identität erst 1827 preis. Vgl. Schüren, a.a.O., S. 22-26.

34

Z u m soziokulturellen Status des schottischen und des deutschen Schrillsteliers hatte sich A l e x i s auch in s e i n e m Aufsatz »Bei G e l e g e n h e i t von W a l l e r Scott« ( v g l . A n m . 27; Literarisches Conversalions-Blalt, a.a.O., S. 391) geäuüert: Scott sei » k e i n deutscher Schriftsteller [...], d e r z w i schen seinem Studirzimmer und dem Lesecabinet, Harmonie oder Museum, in Erwartung der nächsten Messe lebt: sondern ein Mann, der dem öffentlichen Leben von Natur angehört und angeborne Berührungspuncte mit seinen M i t b ü r g e r n hat«.

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Nutzanwendung ab: »Anders ist es mit uns altern Herren. Da uns die Jahre die Flügel gelähmt haben, zwingt uns schon die Natur, länger bei jeder Erscheinung zu verweilen; der gereifte Verstand läßt uns aber bei weitem mehr darin erblicken, als wir je im Feuer der Jugend darin vermuthen konnten. Um im Gleichniß fortzufahren, wir werfen die einmal angebissene Frucht nicht eher fort, als bis wir allen Saft und alles Fleisch verzehrt, und vielleicht sogar den Kern aufgeknackt haben. So, junger Herr, sitze ich noch immer in M x x x , obgleich wochenlang vor Ihnen angekommen, und stoße noch immer auf Merkwürdiges und Neues unter den Menschen, und denke auch noch einige Zeit lang Merkwürdiges und Neues zu finden; und auch Sie, junger Herr, können hier noch sehr viel lernen und sehen [...]« (I, S. 274f). Freilich erscheint Malburne nicht durchweg in der Rolle des Ratgebers, der auf die ästhetische Relevanz von Lebensrealität verweist. Als »Freund von allem [...], was den Stempel des Alters an sich trägt« (I, S. 173) tritt er in ein Verhältnis komischer literarischer Rivalität zu Bertram, denn beide befinden sich, mit ihrer Schreibtafel versehen, dauernd auf der Jagd nach literarischen Antiquitäten. Lange wird der Leser im unsicheren darüber gelassen, welche Bewandtnis es hat mit der Rivalität beider Literaten, als die sie sich nach und nach zu erkennen geben. Erst zu Beginn des zweiten Kapitels des dritten Bandes wird Malburnes Rollenspiel durchsichtiger, als er wieder einmal bei einem nur scheinbar zufälligen Zusammentreffen - Bertrams lyrisierende Paraphrasen über die »wunderbare, romantische Welt« (III, S. 36) der Artus-Sage, poetische Ausbeute von Sir Morgans geselliger Runde, mit der ironischen Frage kommentiert, ob er denn für sein Notizbüchelchen »keine anderen Früchte [...] über Völker- und Menschenkunde gezogen« (III, S. 39) habe, und ihm dann bedeutet, er habe seine »Citrone besser ausgepreßt«, was er mit dem Vortrag einiger »Notate« (III, S. 40) demonstriert. Aber auch hier wird der Schleier noch nicht ganz gehoben, denn Malburnes Aufzeichnungen stellen keine eigenständigen literarischen Texte dar, sondern ironisch-kritische Kommentare zur urwalisischen Kulissenwelt auf Schloß Walladmor und zu Bertrams romantisierendem Literatentum im Lichte eines (vom Erzähler selbst nicht unkritisch gesehenen) realistisch-gesunden Menschenverstandes.

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Am Ende des Romans aber stehen sich Bertram und Malburne nicht mehr nur als Kontrahenten mit gegensätzlichen literarisch-ästhetischen Ansichten, sondern als für den Markt produzierende Konkurrenten gegenüber. Nunmehr stellt sich heraus, daß beide auf den gleichen Zweck hingearbeitet haben. Ein Gespräch kommt zustande, bei dem der Autor Alexis wiederum ein doppeltes Rollenspiel treibt und in dem die Entstehungsbedingungen seiner eigenen literarischen Produktion mitreflektiert werden. Bertram, das ist auch der junge, romantisch kostümierte Erzähler Alexis, dem das alter ego Malburne durch geschicktes Befragen seine künstlerischen Intentionen ablistet. Er muß zugeben, daß er, die Vorliebe des deutschen Publikums für Erzählstoffe aus der Fremde einkalkulierend, nach England gereist sei, um Stoff für einen Roman in der Manier Walter Scotts zu sammeln. Die Reise sei notwendig gewesen, weil Scott selbst sich stets an die Schauplätze seiner Romane begeben habe und auch sein Manuskript »ausländische Luft« (III, S. 294) atmen müsse. Überdies habe er, was Breite der Darstellung und Reichhaltigkeit des Stoffes beträfe, sein Bestes getan, um »die Manier der mystischen Person aus Edinburgh oder Canada zu imitieren« (III, S. 295). Mit ironischer Bereitwilligkeit ergänzt Malburne diese Darstellung, indem er ein ganzes Arsenal von Figuren und Motiven à la Scott aus dem »Walladmor« zusammenstellt - ganz offensichtlich hatte Alexis gehörigen Spaß daran, die eigene Autorschaft auf ein komisches Theater zu ziehen und seine Leser gründlich zu verwirren. Und um die Verwirrung vollkommen zu machen, präsentiert sich Malburne, der sich einen Freund Walter Scotts nennt, Bertram dann als Autor des »Waverley« sowie zahlreicher anderer Scottscher Romane und verkündet, daß er jetzt ebenfalls mit einem WalladmorRoman aufwarten wolle. Daraus entwickelt sich ein komischer Konkurrenzkampf, bei dem beide jeweils eigene Textproben zum Besten geben: Während Bertram eine stimmungsvoll-romantische Schilderung der mondbeschienenen Gebirgslandschaft des Snowdon vorträgt (III, S. 298ff. = II, S. 70ff.), repliziert der als Malburne auftretende Anonymus mit dem original hochländischen Abenteuer eines Nachtlagers im Schafstall (III, S. 301f. = II, S. 103ÍT.).

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Bertram begreift, daß er diesem Ronkurrenten nicht gewachsen ist. Dennoch gibt er erst in dem Moment auf, da Malburne den entscheidenden Trumpf ausspielt: Zwei Bände seines Werkes seien bereits in den Pressen von Edinburgh »verarbeitet« (III, S. 304). Dafür bietet Malburne dem Abgeschlagenen eine »Entschädigung« an, mit der er auch der »schlichten Wahrheit« (III, S. 304) getreu bleiben kann. Denn Bertram sei wohl »ein Romanenschreiber geworden, [...] aber nichts desto weniger der leibliche, eheliche, männliche Sohn des Squire Morgan Walladmor« (III, S. 306). Bertram ist augenblicklich bereit, das Romanschreiben aufzugeben, und stürzt dann, »von Hoffnung und dem Gefühle, daß es wahr sei, instinktartig getrieben, [...] dem Schlosse zu« (III, S. 307). Damit ist er von seinem romantisierenden Literatentum kuriert und wird der Lebensnormalität zurückgegeben, während Malburne, der über allem waltende materialisierte »Geist der Erzählung«, sich gewissermaßen in Nichts auflöst. Bei diesem Spiel mit literarischer Fiktionalität erweist sich Alexis als Erbe jener romantischen Tradition, wie sie von Tiecks Lustspiel »Der gestiefelte Kater« (1797) ihren Ausgang genommen hatte, einer Tradition, die nicht zuletzt der ironischen Intention verpflichtet war, Kunst als Kunst kenntlich zu machen. Und hatte Tieck in seinem Lustspiel insbesondere berlinische Literatur- und Theaterverhältnisse ironisch-satirisch gespiegelt, so nimmt auch der Erzähler Alexis spielerisch-parodistisch Bezug auf zeitgenössische Literaturverhältnisse: auf den historischen Roman Scotts ebenso wie auf die marktgängige Trivialliteratur à la Scott. 55 Da er aber selbst für einen expandierenden literarischen Markt produziert, muß er auch dem dort geltenden Mechanismus von Angebot und Nachfrage Rechnung tragen - was bedeutet, daß er sich letztlich im Status der Unfreiheit befindet und nicht mit ironischer Souveränität über seinen Stoff verfügen kann. Zwar geht er seine Parodie auf Scott und dessen Nachahmer mit erzählerischer Bravour an, kann diese aber notwendigerweise insgesamt nur halbherzig ausformen, 35

Humphrey, a.a.O., S. 76 urteilt v o m Schluß her ü b e r den »Walladmor« insg e s a m t : »II is a novel a b o u t the historical novel.« Aul' S. 85 heißt e s d a n n : »IValladmor,

therefore, is noi a wholly isolated p h e n o m e n o n in his early

work: it is a p e r s i f l a g e not so m u c h of Scott a s of what Alexis c o n s i d e r s to be the deterioration and misappropriation of Scott.«

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weil sie einerseits mit den Zwängen des trivialen Plots, andererseits mit den Elementen »ernsthafter« Geschichtsdarstellung und Zeitkritik im Roman kollidiert. Die Postulate des Theoretikers Alexis kann der Romancier noch nicht einlösen. Im »Walladmor« wird keiner der erzählerischen Ansätze - zum Geschichtsroman, zum (teils parodistischen, teils ernsthaften) Unterhaltungsroman und zum kritischen Zeitroman - künstlerisch bruchlos realisiert. Und das forcierte ironische Erzählspiel am Ende des Romans macht eher die Disparatheit des Ganzen kenntlich, als daß es eine ästhetische Verklammerung stiftete. Für Alexis sollten sich schließlich diejenigen Erzählpassagen als produktiv erweisen, in denen er - vor allem auf der Ebene des Zeitromans - auf Scottsche prosaistische Techniken zurückgriff. Dazu zählt das Entwerfen zeitkritischer Genreszenen in Gesprächen, die ausladende Schilderung der Landschaft, ebenso ein dialogisches Erzählen in den Formen der kontrastiven Wechselrede, der kultivierten Plauderei, des Verhörs. In ersten Umrissen konstituiert sich ein Erzählverfahren, das Alexis auf einem komplizierten künstlerischen Entwicklungsweg dann als Romancier der märkisch-preußischen Geschichte ausgeformt hat. 5.

Dem »Walladmor« verdankte Alexis seinen ersten großen literarischen Erfolg. Das »romanlesende Publicum«, so hieß es in einer Besprechung der zweiten Auflage des Romans in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung«, verschlang die Bände »als scottisch und schottisch, unbekümmert um die Feinkenner, die Literatoren und die Gelehrten. Niemand hat während dieser Verhandlungen behaglicher lachen können und gewiß gelacht, als der Verleger und der verkappte Vf. des Walladmor. - Das Buch ging reißend ab und wurde berühmt.«36 Daß der ehrgeizige »Originale-Autor Alexis über solchen »falschen« Ruhm nicht unbedingt glücklich war, bezeugen seine »Erinnerungen«: »Ach das Lob, der Ruhm, der Beifall galt nicht meiner Erfindung, nicht meinem Eigenthum, sondern dem, was Scott gehörte. Nicht meine Satyre, sondern was sie mit der Geißelspitze kitzelte, das gefiel, 56 Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 113, Mai 1826, Sp. 66.

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es gefiel um so mehr, weil ich es übertrieben, mit glänzenderen und dunkleren Farben aufgetragen hatte, die brillanten und die grausigen Scenerien, die heulenden Stürme über den Feudalthürmen, die herrlichen Familienflüche und Prophezeihungen, die rohen Massen von Eingreifendem und Interessantem, die ich aus dem Chaos aufgewühlt und vor der Kunst ungebändigt hingeworfen hatte!«37 Den zeitgenössischen Rezensenten indes waren die satirischparodistischen Züge des »Walladmor« nicht verborgen geblieben. Der Roman, so wurde in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« festgestellt, sei der »Opposition« und »Polemik« gegen die in Europa grassierende »Scottomanie« zuzuordnen. In Deutschland wüte sie »gegenwärtig als hitzige Hetzkrankheit der Uebersetzer, als Spekulationsauszehrung der spottwohlfeilen Verleger und als wüthende Papierverschlingerin; des Unheils nicht zu gedenken, welches sie durch den Reiz der Nachahmung Affenleber könnten wir sagen - unter unsern schriftstellerischen Männern und Frauen anrichtet«.58 Ganz ähnlich definierte der Rezensent des »Literarischen Conversations-Blattes« die »Scottomanie« als die »literarische Modekrankheit der Deutschen unsrer Zeit«, welcher der Autor des »Walladmor« besonders in seiner Dedikation an Walter Scott mit »Spott« und »Unwillen« begegne. 39 Zusammenfassend heißt es dann im zweiten Teil der Besprechung: »Die meisten Charaktere des Walladmor sind Copien von Stereotyp-Personen à la mode aus den edinburger Novellen, jedoch mit Uebertreibungen und Ueberfärbungen der Züge der-

37 A.a.O. (vgl. Anm. 21), S. 279. Am 23. Okiober 1831 schrieb Alexis dann rückblickend an Karl Leberecht Immermann: »Die Leute haben nach dem Walladmor viel zu viel erwartet. Das was ihnen, der Menge, gefiel, gefiel mir gerade nicht.« (Zitiert nach der Erstveröffentlichung bei Thomas, Lionel: W i l l i b a l d Alexis: T a g e b u c h a u s z u g und B r i e f w e c h s e l der Jahre 1829-1835. In: Zeilschrirl lür deutsche Philologie 95 |1976], S. 225.) Aul den zwiespältigen Charakter des »Walladmor«-Erl'olges weist auch Humphrey, a.a.O., S. 77 hin: »On the one hand, it was important lor Alexis thus to reconnoitre the genre which he enherited from Scoli. II was important loo that he should gain literary success, and should be able to decide on a literary career. [...] As a beginning to a literary career, on the olher hand, Walladmor

was also a misfortune. For its dual nature as a hoax and a sa-

lire laid it open to misinterpretation.« 38 A.a.O., Sp. 65. 39 Literarisches Conversalions-Blall, Nr. 172, 27. Juli 1824, S. 687.

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selben bis zur Caricatili·. [...] Kurz, der Verfasser des Walladmor hat die Manier des edinburger Novellisten auf eine höchst geistreiche Weise imitirt, nicht ohne einen leisen Anstrich von Parodie [,..]«40 Nicht anders urteilte der Autor der Besprechung in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung«. Die »Nachahmung Scottischer Formen, Stoffe, Motive, Charaktere, Situationen, Lokalitäten u.s.w. mit der Absicht und dem Bewußtseyn einer parodischen Uebertreibung« sei »die Tendenz des Walladmor«; der Verfasser schaffe »nirgends mit freyer Begeisterung«, sondern baue »nur durch Zerstörung« auf.41 Die parodistische Tendenz, darin waren sich die Kritiker einig, verschaffe sich in der Gestalt des Dulberry, vor allem aber im Vorwort zum dritten Band und dann am Schluß des Romans Geltung. Damit jedoch sei, so der Rezensent des »Literarischen Conversations-Blattes«, auch erwiesen, daß Scott nicht der Autor des »Walladmor« sein könne. In der Verfasserfrage waren die Meinungen der Zeitgenossen durchaus geteilt. So sahen einige einen deutschen Parodisten am Werke, während andere für Scott selbst, für W a shington Irving oder Coleridge als Verfasser plädierten. 42 Auf die Dauer geheimhalten ließ sich die wahre Verfasserschaft nicht, und so wurde Alexis bereits 1824 »enttarnt«.43 1825, in der zwei40

A.a.O., Nr. 173, 28. Juli 1824, S. 691.

41

A.a.O., Sp. 67.

42

Oer Herausgeber des Dresdner » W e g w e i s e r s im Gebiete der Künste und Wissenschaften«, Th. Hell (Pseudonym für C.G.Th. W i n k l e r ) , schrieb in einer Rezension der ersten beiden »Walladmor«-Bände am 7. Februar 1824 Washington Irving den Roman zu. Diese Hypothese wies der unermüdliche Karl August Röuiger, der Irving in Dresden k e n n e n g e l e n i l hatte, in der Ausgabe v o m 11. Februar 1824 zurück. Den Beschluß der Debatte machte dann ein am 6. Oktober 1824 anonym veröfl'enllichler Beitrag von Alexis, »An einige schwache Seelen. Ein Brief vom Ueberselzer des Walladmor«, eine Satire auf die »biedern urlheilenden S e e l e n « der Rezensenten. Auch Coleridge war als Verfasser im Gespräch (vgl. die bibliographischen Nachweise dazu bei Thomas, »Walladmor«, a.a.O., S. 218).

45

Der Rezensent des »Literarischen Conversations-Blattes« (Nr. 173, 28. Juli 1824) entzifferte die Initialen »W....S« auf dem Titelblatt als »Willibald Alexis«. Tieck wußte ebenfalls um den wahren Verfasser. Vgl. dazu Tiecks Brief an Friedrich von Raumer vom 19. N o v e m b e r 1824, in dem sich dieser auch ausführlich zu den ästhetischen Qualitäten des Romans äußert. Vollständige Publikation des Briefes in: Germanie Review Texts. Number T w o . Ludwig Tieck - Friedrich von Räumer Letters. Hitherto Unpublished Letters from Ludwig Tieck to Friedrich von Raumer. Contributed by Edwin II. Zeydel and Percy Matenko, N e w York 1930, S. 29-33.

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ten Auflage des »Walladmor«, gab er sich dann selbst als Autor zu erkennen. Übersetzungen ins Schwedische, Französische, Holländische und Polnische kamen heraus. 44 Ein eigenes Kapitel bildet die »Walladmor«-Rezeption in England. 45 Scott selbst meldete sich mit einer humorigen literarischen Replik zu Wort. In seinem in Wales spielenden Roman »The Betrothed and The Talisman« führte er den aus »The Antiquary« bekannten Mr. Dousterswivel, einen Deutschen, als Autor des »Walladmor« ein. Alles in allem hatte sich Alexis auf dem literarischen Markt etablieren können. In jener Zeit wechselte er auch in den Beruf eines freien Schriftstellers über. Als er 1827 seinen zweiten, wiederum dreibändigen Roman »Schloß Avalon« bei Brockhaus in Leipzig herausbrachte, stellte der Untertitel »Frei nach dem Englischen des Walter Scott vom Uebersetzer des Walladmor« nur mehr eine leicht durchschaubare Mystifikation des Publikums dar, mit der Alexis im einleitenden Erzählspiel unbeschwerter als in seinem Erstling verfahren konnte. In diesem narrativen »Abenteuer« in der Postkutsche finden folgende Personen zueinander: der Autor selbst, ferner sein englisches Pendant Mr. Dousterswivel, sodann der »große Unbekannte« aus dem »Walladmor«, Bertram Walladmor, der sich zu einem standesbewußten englischen Landedelmann entwickelt hat, und schließ44 Bibliographische Angaben bei Thomas, »Walladmor«, a.a.O., S. 231. 45 Zum Problem der englischen »Walladmor«-Rezeption vgl. die grundlegende Darstellung dazu bei Thomas, »Walladmor«, a.a.O., S. 224-251, der Alexis' »Erinnerungen« in einigen Punkten berichtigen konnte. Zuerst wurde der »Walladmor« in einer Fußnote zur Besprechung von Scotts Roman »St Ronan's Well« in der »Literary Gazette« (Dezember 1823) erwähnt: »It is a curiosity of literature that a pseudotranslation of this novel reached London before the original. It is entitled >Walladmor< and published by Herbig, Berlin. The first chapter is an account of the explosion and wreck of the Steam-packet Halcyon, off Bristol; and details with some attempt at effect, the struggles of two of the passengers in endeavouring to save their lives on the same cask! The whole is indeed a Tale of a Tub.« (Thomas, a.a.O., S. 225.) Thomas de Quincey publizierte eine Rezension im »London Magazine« (Oktober 1824), in der er den Roman als »the boldest hoax of our times« (Thomas, a.a.O., S. 225) bezeichnete, dem Verfasser aber auch historische Anachronismen und geographische Fehler ankreidete; Alexis ließ die Besprechung in der zweiten Auflage des »Walladmor« abdrucken. Eine sehr freie »Walladmor«-Übersetzung de Qiiinceys kam schon im Dezember 1824 heraus.

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lieh der Held des Romans. Der unter den Reisenden sich entspinnende ironisch-spielerische Diskurs konzentriert sich zunächst auf die Frage, welchen historischen Gegenstand von nationaler Repräsentanz ein deutscher Romancier wählen solle, ein Problem, das Alexis schon in seiner Abhandlung »Bei Gelegenheit von Walter Scott« reflektiert hatte und das ihn 1827 auch in seiner Rezension von Wilhelm Hauffs Roman »Lichtenstein« beschäftigte. 46 Der Erzähler selbst sieht den Auftritt der Sängerin Henriette Sontag in Paris als das größte nationale Ereignis an, und mit solch ironischer Aussage wird die Frage nach einem »würdigen« Gegenstand aus der deutschen Geschichte als nicht beantwortbar abgetan. Da Alexis weder die nationale Vergangenheit noch die eigene Gegenwart darstellenswert erscheinen, bedient er sich der schottischen Historie als Behelfs-Alternative, sowohl Geschichte »objektiv« ästhetisch rekonstruieren als auch im Bilde der Vergangenheit gegenwärtige Verhältnisse spiegeln zu können. Daß Alexis mit dem Versuch einer »ernsthaften« ScottNachfolge - wobei er noch dazu einen historischen Stoff behandelte, vor dem Scott selbst bisher zurückgewichen war - ein nicht geringes Risiko einging, war ihm selbst durchaus bewußt, wie der ironische Diskurs mit dem »großen Unbekannten« (Scott) bezeugt. Dieser nämlich will sich als Autor nur zu erkennen geben, wenn das Werk Erfolg hat; finde es nicht den Beifall des Publikums, müsse der »Übersetzer« allein dafür einstehen.

46

Die Besprechung erschien am 16. November 1826 in den »Blättern für literarische Unterhaltung« (Nr. 114). Auch hier wird Scott das Verdienst der »Erfindung und Ausmittelung des echten historischen Romans« zugeschrieben, das ungeachtet der »Schwächen des literarisch Alternden« Bestand habe (S. 453). Die deutsche Geschichte dagegen setze dem historischen Roman objektiv Widerstand entgegen. Sie sei »weit reicher als man gewöhnlich glaubt, sowohl an erhabenen, als auch an romantischen, ja sogar romanenhaflen Begebenheiten, aber sie spielten entweder in Zeiten, in die sich der Roman nicht verlieren darf', oder es sind Katzbalgereien um Besitz und Eigenthum, denen nur der Dichter ein höheres Interesse unterzulegen vermöchte. Wir deuten nur die Schwierigkeit an, Themata eines allgemeinern und tiefern Interesses in der deutschen Geschichte für einen deutsch-historischen Roman auszuiinden, ohne deshalb dem Genius das Recht abstreitig zu machen, durch seinen G «ist auch das anscheinend Todte zu beleben.« (S. 4 3 4 )

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Die dahinter sich verbergende Skepsis war nicht grundlos. An den Erfolg des »Walladmor« konnte Alexis nicht anknüpfen. 47 Mit einem Roman, der alle Merkmale eines »echten« Scott aufwies - die Darstellung der schottischen Geschichte zwischen 1682 und 1689 aus der Perspektive eines mittleren Helden samt allen daraus erwachsenden erzähltechnischen Kunstgriffen - , 4 8 hob sich Alexis nicht wesentlich über den Durchschnitt der deutschen Scott-Nachahmer hinaus, und überdies wurde das deutsche Publikum allmählich der »Scottomanie« müde. Die Frage aber nach einem angemessenen Gegenstand für den deutschen historischen Roman beschäftigte Alexis weiter, und ausgangs der zwanziger Jahre fand er zu seinem Thema. 1832 kam »Cabanis« heraus, sein erster Roman aus der preußischen Geschichte, in dem sich ein von Scott hergeleitetes Erzählverfahren mit einem Stoff verband, den Alexis als national repräsentativ begriff. Preußische Geschichte - in diesem Falle: der Verlauf des Siebenjährigen Krieges - erschien darin als Modell für die Überwindung nationeller (preußisch-sächsischer) Gegensätze und der große König und Schlachtenlenker Friedrich II. als Repräsentant eines aufgeklärten Herrschaftssystems, das seine geschichtliche Lebensfähigkeit noch in der Gegenwart erweisen sollte. Ein jungdeutsches Intermezzo unter47 Besprochen wurde »Schloß Avalon« in der »Allgemeinen Literalur-Zeilung« (Nr. 235, September 1827; weitere Rezensionen habe ich nicht ermitteln können), Dort verbindet sich mit einem recht konventionellen Lob der historischen Darstellung Kritik an der Komposition des Buches, dessen Tendenz zur »Selbst-Ironie« ihm schade. Zusammenlassend hei lit es dann, »Schlot! Avalon« sei, »mit Ηαιφ'α Lichtenstein, der beste deutsche historische Roman, der in neuerer Zeit erschienen ist; er stehe nicht allein seinem altern Bruder, Walladmor, an Besonnenheit und Consequenz weit vor, sondern lasse sich auch nie zu der Breite und Weitschweifigkeit der meisten Walter-Scottschen Darstellungen herab.« (Sp. 206) 48 Vgl. dazu Thomas, Lionel: »Schloß Avalon« - a german historical novel with an english setting. In: German Life & Letters X ( 1 9 5 6 - 1 9 5 7 ) , S. 97-105. Seine wichtigsten Thesen, die dann genauer ausgeführt werden, lauten: »Alexis lakes a slice of history containing a number of exciting events and describes them with artistic power in a series of Genrebilder.« (S. 97) »Alexis followed Scott's example in selecting an epoch which reflects contemporary developments, in this case in the field of politics.« (S. 98) Alexis selbst hat in seinen »Erinnerungen« (S. 2801.) dieses »Werk« über das »Spiel« des »Walladmor« gestellt und darauf verwiesen, daü die zur Julirevolulion führenden politischen Ereignisse in Frankreich den Enlstehungshintergrund für den Roman bildeten.

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271

brach in den dreißiger Jahren zunächst Alexis' literarischen Weg zu den Ursprüngen des märkisch-preußischen Staates. 1840 dann eröffnete der »Roland von Berlin« die Reihe seiner Romane aus Brandenburg und Preußen. Eine Generation später war es Theodor Fontane, der in »Vor dem Sturm« (1878) auf einer neuen Stufe den Versuch unternahm, preußische Geschichte als Nationalgeschichte aus dem Geist Scottschen Erzählens darzustellen. Im Alter setzte er Alexis ein essayistisches Denkmal, 49 durch das er dem Vorgänger Dank und Respekt bezeugte.

49

Veröffentlicht in Fontane, Theodor: Sämtliche W e r k e , Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Bd. 1, München 1969, S. 407-462.

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Heinrich Heine: Die Harzreise

1. Der Band »Reisebilder von H. Heine. Erster Theil« erregte, als er 1826 erschien, beträchtliches Aufsehen. Wesentlich wurde es durch die in ihm enthaltene »Harzreise« bewirkt. Deren verstümmelter - Abdruck im Gubitzschen »Gesellschafter« (20. Januar bis 11. Februar 1826) hatte kaum Reaktionen gezeitigt. Nun aber gab es sie in Fülle; die rezensierenden Zeitgenossen entzündeten sich an diesem Text; das Wechselfeuer eines Für und Wider entbrannte. Gewiß war es nicht von einer Beschaffenheit, daß es den Autor hätte »befriedigen« können. Dieser freilich sah sich noch immer darauf verwiesen, das vielfach gebrochene Echo als solches zu nehmen und an ihm das Faktum eines literarisch-publizistischen Erfolgs festzustellen. Weit deprimierender wäre für Heine gewesen, hätte er ein Vorherrschen flauer Durchschnittsbelobigungen registrieren müssen oder gar einen gänzlichen Mangel an kritischer Resonanz. Und selbst mit den scharfen Verrissen, die publiziert wurden, war Heine, da auch einige Enthusiasmierte sich äußerten, auf eine bittere Art einverstanden: Er wurde — laut und unüberhörbar als ein interessanter, nicht gleichgültig lassender Autor besprochen. Es wäre völlig verfehlt, wollte man für die Entstehung der »Harzreise« das Heinesche Bestreben, sich hervorzutun, schlechthin als Beweggrund anführen. Ebenso verfehlt wäre es allerdings, sähe man von ihm ab. Denn seit früher Jugend strebte Heine einem literarischen Ruhme nach, der von gesellschaltlich-existentiellem Belang für ihn war. Durch ihn, so hoffte er, sollte jene Diskreditierung aufzuheben sein, die er permanent wegen des Makels seiner jüdischen Herkunft erfuhr. In der Vielzahl seiner »kleinen Lieder« hatte er die Signatur des Abgewiesenen, lieblos Zurückgestoßenen wieder und wieder aufgegriffen und versionsreich ins Bild gesetzt; der diese »Lieder« aber

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Harzreise

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vortrug, suchte sich mit ihnen einer Gesellschaft anzuempfehlen, die ihn ob der poetischen Leistung einer sentimental-ironischen Liebesschmerzdichtung doch schätzen und »lieben« lernen müßte. Und für die Journalprosa »Briefe aus Berlin« wurde die Maske eines wendigen Insiders gewählt; der erwünschte Status des schreibenden Subjekts trat als literarischer Status quo in Erscheinung - wobei nun hier dem lesenden Publikum eine witzige und auch fürwitzige Souveränität Eindruck machen sollte. Freilich, wie vorher bereits aus Bonn und Göttingen, so sah sich Heine sehr bald schon auch aus Berlin vertrieben; in Lüneburg erlebte er alsdann die provinzielle Variante des in der Restaurationszeit sich regenerierenden Rischeß; und in Göttingen schließlich, wohin er zurückkehrte, um sich resigniert auf sein Jura-Studium zu konzentrieren, begann er mit der Arbeit am »Rabbi von Bacherach«, an jenem strengen Projekt also, mit dem er nun trotzig der konventionellen Gesellschaft und ihren literarischen Erwartungsmustern die Stirn bieten wollte. Aber weder dem Disziplingebot, das er sich hinsichtlich des Studiums auferlegte, noch den Anforderungen, die das »Rabbi«-Vorhaben an ihn stellte, vermochte er fortdauernd standzuhalten. Gewiß, die Fußwanderung durch den Harz, die er wahrscheinlich am 12. oder 13. September 1824 antrat, empfahl sich ihm nicht zuletzt auch wegen des Kopfübels, an dem er krankte; zugleich jedoch war sie als eine Reise geplant, die der ambitionierte, monatelang unterdrückt gebliebene Poet in ihm sich verschrieb - und als deren Höhepunkt eine Begegnung in Weimar: das ersehnte Gespräch mit Goethe, gedacht wurde. Entsprechend dürfte der Plan einer literarischen Reisebeschreibung von vornherein mit erwogen worden sein. Und vielleicht sogar erträumte sich Heine die Möglichkeit eines Textes, der über die erhoffte Begegnung mit einem aufgeschlossen sich zuwendenden Goethe würde berichten können? Man weiß, dieser 2. Oktober 1824 war ein schwarzer Tag für Heine. Zwar wurde er von Goethe empfangen, doch verlief das kurze Gespräch in steifer Atmosphäre. Und wenn es einen literarischen Plan von der Art des gemutmaßten gab, so mußte ihn Heine dahinschwimmen sehen. Indessen war er seit seiner Jugend darin geübt, seine Verletzungen literarisch zu kompensieren: mit ihnen ein sentimental-ironisches Spiel zu treiben,

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durch das er halbwegs fertig werden konnte mit dem, worunter er litt, und das zugleich als ein Ruhmes-, mithin als ein Liebeswerben in die Welt hinausgeschickt und in ihr wirksam werden sollte. Kein Zweifel: Die kalte Gleichgültigkeit, die ihm in Weimar entgegenschlug, war verletzend für ihn, dem mehr als anderen jungen Dichtern ein akzeptierendes Goethe-Wort hilfreichste Bestärkung bedeutet hätte. »Ich küsse die heilige Hand, die mir und dem ganzen deutschen Volke den Weg zum Himmelreich gezeigt hat[...]«1 Mit solchem Werben um den ersehnten Segen hatte Heine sich schon im Dezember 1821 an Goethe gewandt, hoffnungsvoll hatte er nach Weimar ein Exemplar seiner »Gedichte« geschickt. Und im Frühjahr 1823 war in »tiefster Verehrung« 2 die Übersendung seiner »Tragödien« gefolgt. Eine Goethesche Reaktion freilich hatte es weder das eine noch das andere Mal gegeben: Heine war beim zweiten Näherungsversuch wie beim ersten auf die Rolle des Schiffers im kleinen Schiffe verwiesen worden; und hoch oben, im Lichte, hatte der einen Goethe erblicken müssen, welcher glanzvoll und erhaben in sich ruhte. So aber stand der dritte Näherungsversuch nicht nur im Zeichen eines sehnsüchtigen Liebeswerbens schlechthin, sondern zugleich auch in dem einer äußersten Anspannung. Diesmal, im Gespräch, wollte sich Heine die Goethesche Zuwendung nachgerade erzwingen - um so größer demnach die Enttäuschung, die er nach dem Besuch empfand. Nach Göttingen wanderte ein neuerlich Gedemütigter zurück, ein Verletzter, der, kaum daß er die ihm verhaßte Universitätsstadt erreicht hatte, sich nichts anderes wußte, als die Schmerzerfahrung schreibend zu bewältigen. Und gewiß abweichend von dem, was wohl zunächst ins Auge gefaßt worden war, gestaltete sich die Prosa der »Harzreise« ganz wesentlich - auch zu einem Text der Auseinandersetzung mit Goethe. Auffallend schon die Fülle der Anspielungen und der ausgesprochen parodistischen Pointen. In seinem Aufsatz »Wer1

Heine an Goelhe, 29. Dezember 1821. In: Heine, Heinrich: Säkularausgabe. Werke. Briefwechsel. Lebenszeugnisse. Hrsg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkställen der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Berlin/Paris 1970IT. (künftig: USA), Bd. 20, S. 46.

2

Heine an Goelhe, Mai 1823. In: USA 20, S. 88.

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thers Harzreise« hat Jost Hermand 3 sie zusammengestellt. Er hat gezeigt, daß Heine vor allem den Goetheschen Briefroman konterkarierte: Das Ich der »Harzreise« bezeugt den WertherGefühlen gegenüber wieder und wieder eine ironische Überlegenheit. So bereits, wenn dieses Ich die Mädchen, denen es begegnet, nie eine fesselnde Macht über sein Herz gewinnen läßt - es sind Liebesepisoden, von denen der Harzreisende Mitteilung macht. So des weiteren, wenn sich das Ich als gefühliger Goethe- und »Werther«-Leserin just einer philiströsen Dame erinnert, zu deren Konversationsstoff der Roman gehört. Und die beiden betrunkenen Hallenser, Homoerotiker, die seufzend der an Liebesschmerz gestorbenen »Lore« gedenken, steigern sich ins Deklamieren von Ossian-Passagen hinein: Was im »Werther«4 einer Situation tragischer Ausweglosigkeit den düster bezeichnenden Ausdruck gibt, ist in der »Harzreise« einem BesoffenSein zugeordnet; und dem Pistolenschuß des Goetheschen Romans korrespondiert schließlich, daß den empfindsam-volltrunkenen Jünglingen der Rotwein zum Halse herausströmt, daß sie sich wechselseitig »überschwemmen« (HSA 5, S. 48) und zu verbluten vermeinen. Signifikant aber ist in besonderer Weise der erst 1826 hinzugefügte Epilogteil, jenes Textstück, in dem auf die Stationentour und auf das von ihr gegebene Bild zurückgeblickt wird und das einen gegenwärtigen »ersten May« (HSA 5, S. 58) beschreibt. Denn hier nun findet sich der »Werther«-Bezug aufs bündigste pointiert: »[...] und hörst du plötzlich den Schuß - Mädchen! erschrick nicht! ich hab' mich nicht todt geschossen, sondern meine Liebe sprengt ihre Knospe, und schießt empor in strahlenden Liedern, in ewigen Dithyramben, in freudigster Sangesfülle.« (HSA 5, S. 59) Auch und gerade aus dem zeitlichen Abstand heraus distanzierte Heine sein »Harzreise«-Ich entschieden von einem Werther, der in dezemberlicher Hoffnungslosigkeit sich selber tötet - wohingegen dem, welcher sich kritisch von ihm abstößt, ein Frühling angebrochen ist, ein Frühling, in dem aus seiner Liebe »Lieder« erwachsen: Die Mög3 l l e r m a n d , Jost: Werthers Harzreise. In: Hermand: Von Mainz nach Weim a r ( 1 7 9 3 - 1 9 1 9 ) . S t u d i e n z u r d e u t s c h e n L i t e r a t u r , S t u t t g a r t 1969, S. 129-151. 4 Vgl. Goethes Werke. Hrsg. im Aullrage der Groüherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887-1919 (künftig: WA), Abt. I, Bd. 19, S. 165-176.

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lichkeit einer dichterischen Sublimierung von Liebesverlangen und von erfahrenem Liebesschmerz scheint ebenso gewiß wie die Bewältigung der abweisenden Verhaltensart eines Goethe, der den sich Nähernden einem Werther-Schicksal »eigentlich« überantwortet hatte. Doch in der »Harzreise« manifestiert sich nicht nur dieses Aufbegehren gegenüber der Werther-Rolle, in die sich Heine und zumal durch Goethe selbst - allenthalben gedrängt sah. Denn zugleich opponiert die gesamte Textfaktur jenem Goetheschen Kunstbetragen, das Heine schon einmal - nach dem kränkenden Ausbleiben einer Reaktion auf die Zusendung der »Gedichte« und auf den beigefügten Huldigungsbrief - in aller Öffentlichkeit kritisiert hatte: in den »Briefen aus Berlin«. Da war von Heine provokant auf Schiller gewiesen und die Frage nach dessen »Söhnen« gestellt worden; über Goethe aber hatte es geheißen, der sei »ein großer Mann in einem seidnen Rock« (HSA4, S. 134). Und brieflich hatte er hernach - dazwischen lag das Goethesche Schweigen auch im Falle der neuerlichen Werk-Dedikation - über die »ächte großherzl Weimarsche Hofprosa«5 gehöhnt. Eben in der »Harzreise« aber wurde nun der weimarischen Autorität nicht mehr nur en passant kritisch gedacht. Wobei als markante Stelle besonders der Schlußteil des Traums zu Osterode gelten dürfte. Norbert Altenhofer hat diesen ersten Traum der »Harzreise« bündig als einen »Erfüllungstraum« gedeutet. 6 Tatsächlich hat die Wendung, die der Traum nimmt, etwas Befreiendes, Rettendes: Aus dem Unerträglichen einer Göttinger Rechtsgelehrsamkeit, deren geschichtliche Disputationen einen Aufschrei der Themis provozieren, vermag sich das Traum-Ich in einen Bereich der Ruhe zu flüchten, in dem es ein tröstliches Refugium findet. Ja, der historische Saal, »wo die heiligen Bilder des belvederischen Apoll's und der mediceischen Venus neben einander stehen«, erweist sich diesem Traum-Ich geradezu als eine »Gnadenstelle«: »[...] und ich stürzte zu den Füßen der Schönheitsgöttin, in ihrem Anblick vergaß ich all das wüste Treiben, 5 Heine an Rudolf Christiani, 26. J a n u a r 1824. In: HSA 20, S. 138. 6 Vgl. Altenhofer, Norbert: Harzreise in die Zeit. Z u m Funktionszusammenh a n g von T r a u m , Witz und Z e n s u r in Heines f r ü h e r Prosa, Düsseldorf 1972, S. 20.

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dem ich entronnen, meine Augen tranken entzückt das Ebenmaß und die ewige Lieblichkeit ihres hochgebenedeiten Leibes, griechische Ruhe zog durch meine Seele, und über mein Haupt, wie himmlischen Segen, goß seine süßesten Lyraklänge Phöbus Apollo.« (HSA 5, S. 13) Solchem Hinsinken an einem Altar der Schönheitsruhe aber eignen zugleich alle Anzeichen einer Ersatzbefriedigung; der weihevolle Ort lähmt jegliche Aktivität und jeglichen individuellen Impuls; und mit dem »drängenden Tollhauslärm« ist ja nicht minder auch die »Stimme des theuren Prometheus« (HSA 5, S. 13) vergessen. Bezeichnend zudem, daß die »heiligen« Bilder des Traums hernach durch andere kontrastiert werden: Der Erwachende erblickt »Schildereien« an den Zimmerwänden, die auf die jüngste politische Geschichte verweisen. Im übrigen aber war in der ersten Buchausgabe noch ein Passus angefügt, der vom Wandbild einer Madonna berichtet: »[...] so schön, so lieblich, so hingebend fromm, daß ich das Original, das dem Maler dazu gesessen hat, aufsuchen und zu meinem Weibe machen möchte. Freylich, so bald ich mal mit dieser Madonna verheirathet wäre, würde ich sie bitten, allen fernem Umgang mit dem heiligen Geiste aufzugeben, indem es mir gar nicht lieb seyn möchte, wenn mein Kopf, durch Vermittlung meiner Frau, einen Heiligenschein, oder irgend eine andre Verzierung gewönne [,..]«7 Später hat Heine dieses »anstößige« Textstück - leider - wieder getilgt, aus Gründen der Rücksichtnahme auf Animositäten des zeitgenössischen Lesepublikums. Gerade im Zusammenhang mit dem Vorangehenden jedoch erhellt die Stelle jene beträchtliche Distanz, in welcher die »Erfüllung«, die im Traume erlebt wurde, nun erscheint: Gegen die »griechische Ruhe« zeitentfernten Hingegossenseins sind jetzt das wache Bewußtsein politischer Zeitgenossenschaft sowie die Vitalität eines erotischen Verlangens gesetzt, das - um mit dem Wagnerschen »Tannhäuser«-Text zu reden - aus dem Wunderbronnen durchaus zu trinken begehrt.

7

Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Düsseldorfer Ausgabe). Hrsg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1973Π'. (künftig: DHA), Bd. 6, S. 567.

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So aber wäre gegenüber Altenhofer8 eine Interpretation geltend zu machen, die den Traumvorgang weniger in sich abgeschlossen sieht und statt dessen das Nacheinander von Justiztraum, Antikentraum und morgendlicher Reflexion im Sinne einer kryptisch indizierenden Zeichenfolge begreift. Und diese dürfte sich auf die Heinesche Flucht aus dem Göttinger Studienalltag einer stupiden Juristerei zur »Gnadenstelle« Goetheschen Griechentums beziehen und schließlich auf den Vorgang eines Erwachens zu zeit-, weit- und selbstbewußter Lebendigkeit: Die Lyraklänge »Wolfgang Apollos« - so heißt Goethe hernach in der »Nordsee« (HSA 5, S. 65) - vermischen sich bei diesem Erwachen mit dem Glöckchen-Geklinge, das von den Harzer Viehherden herrührt; die bannende Schönheitsruhe, welche im »historischen Saal« herrscht, weicht einer auf die Beine helfenden Tageslust; und wenn der Antikentraum zwar insofern eine Wunschprojektion in sich einfaßt, als er ja dem Träumenden einen von Apoll gespendeten »himmlischen Segen« beschert, so geht er eben doch einer morgendlichen Selbstfindung voran, deren emanzipativer Charakter unverkennbar ist. Den »toten« Goethe, Heine verwies ihn ins Museum. Sich selbst aber stellte er als einen einzelgängerisch Wandernden dar, der mit offenen Sinnen und wachem Verstand durch eine Welt zieht, die ganz und gar zerstückt, zerrissen, ein Kaleidoskop, ein Panoptikum ist - und die sich demnach der Art des Goetheschen Anschauens geradezu strikt widersetzt. Dem Wanderer tritt das Urphänomen Goethe seinerseits als ein in dieser Welt demontiertes, partikular vernutztes, in Fetzen verfügbar gemachtes immer wieder entgegen: im Trällergesang des dünnen Schneiderleins (vgl. HSA 5, S. 14), im Goethegeschwätz der konversierenden älteren Dame (vgl. HSA 5, S. 42), in dem, was an »abenteuerlich verruchter Lust« die »hübschen Faustbilder des Meister Retzsch« (HSA 5, S. 38) darbieten. Der klassische Ganzheitsdichter, so bedeutet es die »Harzreise«, ist unter die Leute einer Welt gekommen, die ihn sich gehörig zurechtstückt - und ihn just dadurch der Wirklichkeitsfremdheit seines Künstlertums schlagend überführt. 8

Vgl. auch die Kritik an Norbert Altenhofer von Jürgen Voigt (Ritter, Harlekin und Henker. Der jutige Heine als romantischer Patriot und als Jude. Kin Versuch, ^Yaπklurl a.M./Bern 1982, S. 268-270).

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2.

Heine, dem das Bewußtsein eignete, aus dem Welt- und Gesellschaftszusammenhang herausgefallen zu sein, und der solchen Zusammenhang schlechthin mit Skepsis bedachte, kannte natürlich die Goetheschen Reisebeschreibungen: Von ihnen stieß er sich mit der »Harzreise« ebenso ab wie von jenen aufklärerischen Reisewerken, die einer enzyklopädischen Tendenz gehorchten. Impulse dagegen empfing er von einer Reiseliteratur, der ein stark subjektiver Bezug eignete und die pittoresk, humoristisch, empfindsam gerichtet war. 9 Hinsichtlich der deutschen Tradition wurde dabei von der Heine-Forschung besonders Moritz August von Thümmel namhaft gemacht (»Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich«); hinsichtlich der außerdeutschen hat man vor allem auf Lawrence Sterne (»A Sentimental Journey«), auf Byron (»Childe Harold's Pilgrimage«), auf Washington Irving (»Bracebridge Hall«) hingewiesen.10 Im übrigen nahm Heine Anregungen von Arnim, Jean Paul, Kerner, Brentano, E.T.A. Hoffmann auf.11 Freilich war Heine kein synkretistisch zu Werke gehender Nachformer. Gewiß wird man bei etlichen strukturellen und stilistischen Eigentümlichkeiten vornehmlich an Sterne und an Irving unmittelbar erinnert; doch der Heinesche Gesamt-Text ist von völlig eigenständigem Gepräge und von einer satirischsentimentalen Faktur, wie sie nirgendwo vorgebildet war: Der trotzig sich behauptende, der Not seines Abgewiesenseins tapfer die Stirn bietende deutsch-jüdische Intellektuelle verfaßte eine Prosa, die exakt seiner geistig-psychischen Situation korrespondierte und ihr - auf verborgene Weise - Rechnung trug. Licbesverlangen und der Wunsch, geliebt zu werden - auch und gerade die »Harzreise« gibt diesem zweieinigen Begehren Ausdruck; der »lachend« auf die Gesellschaft Niederschauende 12 ist kein anderer als der, welcher vor Jahren schon, 1821, ein solches La-

9

Vgl. d a z u Sengle, F r i e d r i c h : B i e d e r m e i e r z e i l . D e u t s c h e L i t e r a t u r i m S p a n n u n g s i ' e l d z w i s c h e n R e s t a u r a t i o n u n d R e v o l u t i o n 18L5—18Ί·8. Bd. 2: Die F o r m e n w e l l , Stuttgart 1972, S. 238-277.

10 V e r w i e s e n sei hierzu auf Jost l l e r i n a n d in DI1A 6, S. 522-525. 11 Vgl. DIIAG, S. 5 2 2 - 5 2 5 . N o c h i m m e r i n s t r u k t i v a u c h L o e w e n l h a l , E r i c h : Studien zu H e i n e s »Reisebildern«, Berlin 1922. 12

Vgl. d a s E i n g a n g s g e d i c h t (USA 5, S. 8).

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chen seiner Erfahrung des Verachtet-Seins abzwang und abzwingen mußte; 13 die Sehnsucht aber nach einer Harmonie, der die konventionelle Welt sich verweigert, treibt märchenhaftsentimentale Phantasien hervor und determiniert zugleich die Art der Wahrnehmung und Schilderung von durchwanderter Natur. Diesem letzteren ist oftmals kritisch nachgefragt worden. Helge Hultberg, der die »Harzreise« bündig als ironischen Ausdruck Heinescher Erkenntnis interpretierte, daß die Welt sinnlos schlechthin sei, sprach dabei von einem absichtsvoll trivialisierenden Umgang mit der Natur; diese werde nicht im geringsten »ernst genommen«, sie sei »eine Kulisse, deutlich ästhetisch arrangiert, um einen so großen Effekt wie möglich zu machen«.14 Und Bernd Rortländer nahm das Wort von der Natur-«Kulisse« auf, um zu schlußfolgern: »[...] auch das Landschaftserlebnis ist gesellschaftlich korrumpiert, es ist machbar, manipulierbar und hat eine Tröstungs- und Betäubungsfunktion. Der Weg in die Natur als Weg aus der Entfremdung heraus führt genau in diese zurück, er wird zu einem Weg mitten in Gesellschaft und Geschichte.«15 Derartige Deutungen stießen sich ab von jenen älteren, die eine romantische Beseelung der Natur behauptet hatten; 16 und insofern ist ihr rigoroser Zugriff verständlich. Schon Klaus Pabel freilich wies mit Recht auf den Unterschied hin, der zwischen den auf die Natur bezogenen Äußerungen der Harzbesucher und denen des Erzähler-Ichs besteht. 17 Und eben den einschlägigen Passagen dieses Erzähler-Ichs sah er Ironie mitnichten eingeschrieben. So auch sei das, was in ihnen sich kundgebe, im Grunde nichts anderes als eine Notlösung: 13 Siehe hierzu die »Fresko Sonette an Christian S.« (USA 1, S. 58-62, insbes. Nr. Ill, S. 59). Über d e r e n künstlerisch-biographischen Stellenwert L e i s t n e r , Bernd: S p i e l r a u m d e s P o e t i s c h e n , Berlin u n d W e i m a r 1985, S. 220-223. 14 Ilultberg, Helge: Heines »Die llarzreise«. In: Heinrich Heine. Hrsg. v. Helm u t Koopmann, Darmstadt 1975, S. 352. 15 Holtlander, Bernd: Natur als Kulisse? Landschansdarstellungen bei Heinrich Heine. In: Heinrich Heine 1797-1856. Internationaler Veranstaltungszyklus z u m 125. Todesjahr 1981 bei Eröffnung des Studienzentrums KarlMarx-Haus Trier, Trier 1981, S. 56. 16 Vgl. etwa Müller, Joachim: Beim Lesen von Heines »Harzreise«. In: Neue Deutsche Literatur 1 (1955), S. 100. 17 Vgl. Pabel, Klaus: Heines »Reisebilder«. Ästhetisches Bedürfnis und politisches Interesse am Ende der Kunstperiode, München 1977, S. 107.

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»Die harmonische Übereinstimmung von Mensch und Natur gelingt ihm [Heine - B. L.] nicht als erlebtes Gefühl, sondern nur als Floskel, die die Gefühlstiefe vorgibt, aber nicht ausdrückt[...]« 18 An anderer Stelle: »Heine setzt den Sinnbildcharakter der Natur ein, um harmonische Naturkulissen zu bauen, die [...] den Eindruck von Glück und Einverständnis mit der Natur antäuschen.« 1 9 Tatsächlich sind die Heineschen Landschaftsschilderungen die eines Wanderers, der sich mit der Natur nicht unmittelbar in Beziehung zu setzen vermag. Diese Natur ist ihm keine geheimnisvoll organische Ordnung, die er zu »erleben« in der Lage wäre; vielmehr gerät sie ihm zum Kabinett von anregenden Bildern, durch welche seine assoziationsbereite, vor allem dabei: märchensinnige Phantasie in Bewegung gebracht wird. Diese Phantasie tritt nachgerade als verfügende Instanz in Erscheinung - und wenn Goethe zu verstehen gegeben hatte, die Natur sei es, der analog der Dichter schaffe (schaffen müsse), so nahm Heine auch keinerlei Anstand, das Verhältnis schlankweg umzukehren: »Die Berge wurden hier noch steiler, die Tannenwälder wogten unten wie ein grünes Meer, und am blauen Himmel oben schifiten die weißen Wolken. Die Wildheit der Gegend war durch ihre Einheit und Einfachheit gleichsam gezähmt. Wie ein guter Dichter, liebt die Natur keine schroffen Uebergänge. [...] Eben wie ein großer Dichter, weiß die Natur auch mit den wenigsten Mitteln die größten Effekte hervor zu bringen.« (HSA 5, S. 15) Andernorts werden die betrachteten Naturphänomene kurzerhand nach den assoziativ herangezogenen Maßgaben einer romantisierenden Genremalerei beschrieben: »In ihren weißen Nachtmänteln standen die Berge, die Tannen rüttelten sich den Schlaf aus den Gliedern, der frische Morgenwind frisirte ihnen die herabhängenden, grünen Haare, die Vöglein hielten Betstunde, das Wiesenthal blitzte wie eine diamantenbesäete Golddecke [...]« (HSA 5, S. 28). Für den Natur erschaffenden »Gott« gar figuriert als Vergleichsinstanz jeder beliebige - auf Lob für sein Werk bedachte - »Autor« (HSA 5, S. 29). Der Blick vom Brockengipfel sodann: Goethe hatte

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te ihn als ein Schauen auf die »Reiche und Herrlichkeit«20 der Welt hymnisch gefeiert - Heine indes ließ seinen Erzähler vor allem an eine »scharfgezeichnete, rein illuminirte Spezialkarte« (HSA 5, S. 40) denken. Und das Gebirgsflüßchen Ilse wandelt sich ihm in jene Märchenprinzessin, die mit einem »weißen Schaumgewand«, mit »silbernen Busenbändern« bekleidet ist, Diamanten trägt - und »lachend und blühend den Berg hinab läuft« (HSA 5, S. 53).21 Die Natur, so erweist es sich, hat für den Erzähler jegliche Autorität verloren. Ihr gegenüber macht sich ein Ich geltend, dessen assoziationsbereite Phantasie willkürlich mit ihr umspringt und sie spielerisch in Relationen setzt, durch die sie als »wahr« und »seiend«22 gerade nicht zur Anschauung gelangt. Als Ausdruck eines »gesellschaftlich korrumpierten« Landschaftsverhältnisses23 wird man dies freilich kaum werten können - wie andererseits auch jene Aussage von Pabel nicht greifen will, derzufolge es mit dem Aufbau von »harmonischen Naturkulissen« eine »antäuschende«, Gefühlstiefe in der Beziehung zur Natur vorspiegelnde Bewandtnis habe. 24 Denn eine gefühlstiefe Naturbeziehung wird eben selbst als »angetäuschte« keineswegs vermittelt. Sinnvoller sollte man wohl davon sprechen, daß die Naturbetrachtung dem Ich lediglich einen Anlaß für Imaginationen liefert, die ganz im Subjektiven angesiedelt sind und hierin aber ihre volle Wahrhaftigkeit haben. Zumal aus den Stellen, da diese Imaginationen ins Wirklichkeitsferne, Träumerische ausgreifen, ist ein solcher Befund eindeutig zu gewinnen: »An manchen Orten sprudelt das Wasser aus den Steinen und Wurzeln stärker hervor und bildet kleine Kaskaden. Da läßt sich gut sitzen. Es murmelt und rauscht so wunderbar, die Vögel singen abgebrochene Sehnsuchtslaute, die Bäume flüstern wie mit tausend Mädchenzungen, wie mit tausend Mädchenaugen schauen uns an die seltsamen Bergblumen, sie strecken nach 20 Harzreise im Winter (WA I, 2, S. 64). 21 Im Hinblick auf die Passage spricht Gerhard Höhn völlig zutreffend von einem »erotisierten >Stück< Natur« (Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk, Stuttgart 1987, S. 159). 22 Vgl. d i e s e G o e t h e s c h e n Ausrufe b e i m B e t r a c h t e n von » S e e s c h n e c k e n , Patellen und Taschenkrebsen« (WA I, 30, S. 142). 23 Vgl. die Aussage von Kortländer, a.a.O., S. 56. 24 Vgl. Anm. 18 u n d 19.

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uns aus die wundersam breiten, drollig gezackten Blätter, spielend flimmern hin und her die lustigen Sonnenstrahlen, die sinnigen Kräutlein erzählen sich grüne Mährchen, es ist Alles wie verzaubert, es wird immer heimlicher und heimlicher, ein uralter Traum wird lebendig, die Geliebte erscheint - ach, daß sie so schnell wieder verschwindet!« (HSA 5, S. 38) Die Sehnsucht nach der erträumten Geliebten: Die Landschaft betrachtend, imaginiert sich der Erzähler deren Phänomene als die einer unwirklichen, märchenhaft verklärten Menschenwelt, und aus dieser wiederum tritt ihm die Vision jener Mädchengestalt hervor, welche bereits in vielen der »kleinen Lieder« immer wieder entworfen worden war. Als Mangelerfahrung, die der Phantasie die Richtung weist, läßt sich somit die erlebte Lieblosigkeit erfassen; was an die Natur herangetragen wird, ist ein Wünschen, das seinen Grund in den Konflikten gesellschaftlicher Existenz hat; und der die Bäume und Blumen, Blätter und Kräutlein »benutzende« und verwandelnde Wachtraum ist klar als poetischer Reflex des Verlangens nach schöner, im Zeichen des Eros stehender Gemeinschaftlichkeit identifizierbar. So wird dem Wanderer, der sein Elend auch in der Waldeinsamkeit nicht vergessen kann, die Natur in der Tat zur puren Prospektenkammer. Indem er sie aber dazu degradiert, gibt er seine große Bedürftigkeit zu erkennen - der an der Gesellschaft »Erkrankte« braucht sie als Material für seine Kompensationsträume. Dabei sollte deren emotionale Wahrhaftigkeit ganz außer aller Frage stehen. Weil sie freilich dem urteilenden Intellekt des Ichs als nachgerade rührend naiv erscheinen müssen, macht der dieser emotionalen Einfalt gegenüber unausgesetzt sein Wissen geltend; und er sorgt für ironische Brechung. 2 5 Ein Ausdruck dessen findet sich in der stilistischen Tendenz zur Verniedlichung sowie zu einer puppigen Anthropomorphisierung, die das poetisch Naive des Projektionsverfahrens 25

Wolfgang Preisendanz: »Alle Beschwörungen irdischer Paradiese sind Ausdruck einer poetischen Naivität, die sich allemal in der Rellexion zersetzt; das naive Bedürl'nis nach einem naiven Dasein und Weltzustand wird von der Rellexion einer im Zeichen der Entfremdung stehenden Welt desavouiert. Aber gleichwohl behält das poetische Bedürl'nis im Scheitern sein Recht, indem es - Negation der Negation - die Entzweiung zwischen Ich und Well legitimiert.« (Preisendanz: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. 2., verm. Aufl. München 1985, S. 172.)

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deutlich hervorkehrt. Im übrigen macht sich solche Ironie in den Stereotypen bemerkbar, zu denen die Schilderungssprache demonstrativ hinneigt: »[...] silberne Wasser brausten, süße Waldvögel zwitscherten, die Heerdenglöckchen läuteten, die mannigfaltig grünen Bäume wurden von der lieben Sonne golden angestrahlt« (HSA 5, S. 21). »Der empfindsam-überhöhte Raum«, so Slobodan Grubacic, »gerät in die Spezies des >locus amoenusrechte Sturide< der politischen Tat, zu der die >Ritter v o m heiligen Geist« angetreten sind, ist noch nicht gekommen, weil ihre Bot-

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Wenn somit die Begegnung mit der Natur wie auch mit solchen Menschen, die - noch - im tiefsten »Anschauungsleben« verwurzelt scheinen, eine gegenbildlich imaginierende, dabei märchenhaft aufhebende poetische Phantasie in Bewegung setzt, so ruft all das, was der Reisende als symptomatisch in Hinblick auf den zeitgenössisch-zivilisatorischen Zustand der deutschen Gesellschaft wahrnimmt, den sarkastischen Spötter auf den Plan. Der Harz als ein Panoptikum deutscher Spießerfratzen: Die vergleichsweise kleinen Räume, die sich die poetische Phantasie anzueignen vermag, werden umschlossen von denen einer Verhältnisprosa, deren Geschöpfe die alte »heimelige« Landschaft nachgerade überfallen zu haben scheinen und sie nun weitgehend schon besetzt halten. Der Harlekin allerdings, der mit »klatschender« Peitsche nach ihnen schlägt, ist ausgesprochen fixiert auf sie; er sucht ihnen nicht nur nicht auszuweichen, sondern unterliegt einer fast magischen Anziehungskraft, die sie auf ihn ausüben. Und der Philisterhort Göttingen, von dem das Ich doch demonstrativ fortstrebt, erweist solche Anziehungskraft just darin, daß er sich die kompakte und so berühmt gewordene erzählerische Eingangspassage erwirkt; der verstorbene Berliner Vernunftphilister Dr. Saul Ascher vergegenwärtigt sich dem Ich - und keineswegs bloß flüchtig noch im Gasthausquartier zu Goslar; auf dem Brocken wiederum schaft noch nicht verstanden wird. Das >rechte Wort< kann nicht unmittelbar Tat werden, sondern n u r in der Ersatzbildung des poetischen Worts ein glückliches Leben antizipieren. Daß der Dichter dabei auf die volkstümlichen Mythen zurückgreift, findet bei Heine seine dialektische Begründung darin, daß in ihrem primitiven Fantheismus (...) das elementare Glücksverlangen der Menschheit zwar verhüllt, aber doch stärker zum Ausdruck k o m m e als in der zum System gefrorenen Vernunflreligion des aufklärerischen Rationalismus [...]« (a.a.O., S. 36). Eine solche Interpretation wird m a n zu respektieren haben - freilich projiziert sie geschichtlich dialektische E r w ä g u n g e n , die d e m Verständnis des i n t e r p r e t i e r e n d e n Subjekts entsprechen, allzu unvermittelt auf Heine selbst zurück. Wenig schlüssig dagegen die »Auflösung« des Widerspruchs bei Pabel: »Die Befreiung der Menschheit von i h r e r Unterdrückungsgeschichte spielt sich stellvertretend im Liebeserlebnis des Dichters ab. Die Unmöglichkeit tatsächlicher, allgemeiner politischer Befreiung drängt das Individuum nach vorn - aber n u r als sexuelles Subjekt, das vielleicht wähnt, mit der sexuellen Befreiung a u c h schon die politische erreicht oder zumindest eingeleitet zu h a b e n [...]« (a.a.O., S. 123).

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schlägt sich dieses Ich die halbe Nacht um die Ohren, nur um nichts, auch gar nichts von der Philisterorgie und von ihren Weiterungen im Zimmer der Hallenser Jünglinge zu verpassen. Im übrigen aber läßt sich das Ich mit den diversen Leuten der konventionellen Gesellschaft immer wieder in Gespräche ein. Ronversierend wandert es mit ihnen des Wegs - mit dem Schneider, mit dem Bürgersmann aus Goslar -; es macht sich zum Unterhalter der beiden Damen, die es auf der Plattform des Brockenturms antrifft, folgt ihnen parlierend in ihr Zimmer, bleibt dort eine Stunde lang bei ihnen sitzen. Und diese eigentümliche Faszination, welche die Konventionalität auf das Ich ausübt, gibt zu erkennen, daß es eine stigmatische Bewandtnis auch mit der kräftig zur Geltung gebrachten satirisch-spöttischen Souveränität hat. Auf die Gesellschaft richtet sich unübersehbar ein Teilhabebegehren; und der sich - bei aller Verspottung - als Teilhabender und Kommunizierender so lässig-geflissentlich ins Spiel bringt, ist defacto jener Verhöhnte und Ausgeschlossene, dessen tragisches Integrationsverlangen und dessen Gesellschaftsbedürftigkeit auch dadurch nicht kompensierbar sind, daß er sich mit dem Außenseiter-Status identifiziert und von ihm her sein poetisches Ich gleichermaßen ausprägt wie sein harlekineskes. Dieses harlekineske Ich indessen offenbart die Wunde, die in ihm brennt, auch in der Art und Weise seines Spottverhaltens. Heine, so weiß man aus den »Memoiren«, war als Kind schon durch (typisch judenfeindliche) Verhöhnungsetikette zur Verzweiflung getrieben worden, und zumal durch solche, die ihm seine menschlich-körperliche Normalität absprachen. Immer wieder hörte er sich als Vieh bezeichnet, jedenfalls als eine Mißgestalt, die lächerlich aus dem Kreis der (gesellschafts-)menschlich Proportionierten herausfalle. Und charakteristisch nun, daß die Philistersatire der »Harzreise« mit Vorliebe darauf aus ist, ihre Opfer körperlich zu entstellen: ihnen also eine Körperlichkeit zu bescheinigen, durch die sie ihrerseits als belachenswerte Sonderlinge in Erscheinung treten sollen. Der Herr mit den zwei Damen, dem das Ich im Wirtshaus zu Northeim begegnet, erfährt denn auch seine Karikierung keineswegs nach Maßgabe irgendeines spottprovozierenden Betragens, sondern ausschließlich auf Grund seines Aussehens: »[...] wie der König Ne-

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bukadnezar [...], als er, der Sage nach, gleich einem Thiere des Waldes, nichts als Salat aß.« (HSA5, S. 11) Nicht minder boshaft erfolgt hernach die Porträtierung jener »gar großen, weitläuftigen Dame«, die des »grünen« Herrn Gemahlin ist: »[...] ein rothes Quadratmeilen-Gesicht mit Grübchen in den Wangen, die wie Spucknäpfe für Liebesgötter aussahen, ein langfleischig herabhängendes Unterkinn, das eine schlechte Fortsetzung des Gesichtes zu seyn schien, und ein hochaufgestapelter Busen, der mit steifen Spitzen und vielzackig festonirten Kragen, wie mit Thürmchen und Bastionen umbaut war, und einer Festung glich, die gewiß eben so wenig wie jene anderen Festungen, von denen Philipp von Macédonien spricht, einem mit Gold beladenen Esel widerstehen würde.« (HSA5, S. 11) Und als das groteske Gegenstück zu ihrer dicken Frau Schwester wird schließlich mit vernichtendem Spott die andere Dame beschrieben: »Stammte jene von Pharaos fetten Kühen, so stammte diese von den magern. Das Gesicht nur ein Mund zwischen zwey Ohren, die Brust trostlos öde, wie die Lüneburger Haide; die ganze ausgekochte Gestalt glich einem Freytisch für arme Theologen.« (HSA 5, S. 11) Häufiger freilich entlädt sich der körperlich karikierende Ingrimm in der schlagenden Kurzcharakteristik. Der Schneidergesell, »so dünn, daß die Sterne durchschimmern konnten«, erhält »Ziegenhainer Beinchen« (HSA 5, S. 14) bescheinigt; der »junge Handlungsbeflissene«, der in der Klausthaler »Krone« zugegen ist, gleiche einem »Affen, der eine rothe Jacke angezogen hat« (HSA 5, S. 16); dem Wirt zu Goslar wird ein »langes, überflüssiges Gesicht« (HSA 5, S. 23) attestiert. Mit dem jungen Kaufmann, welcher das zweite Bett im Brockenhaus-Zimmerchen belegt hat, verbindet sich sofort die Bezeichnung »langes Brechpulver« (HSA 5, S. 39) und mit dem »Gesichtchen« des »kleinen Herrn« die Assoziation jenes »zarten, gelblichen Tones [...], woraus die Bildhauer ihre ersten Modelle kneten« - im übrigen gemahne der Mensch, wenn er lächelt, an einen »Mops, der den Schnupfen hat« (HSA 5, S. 41). Die beiden Hallenser aber werden dadurch zu verspottenswerten Außenseitern gestempelt, daß das Ich sie als homoerotische Schönlinge, als melancholisch flötendes Liebespaar denunziert. (Die böse Stoßrichtung der Platen-Polemik zeigt sich an: gesellschaftliche Diskreditierung durch Aufweis geschlechtlicher »Abnormität«.)

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Exemplarische Haßporträts, mit denen ein Liebesobjekt bedacht wurde, das sich dem werbenden Subjekt versagt hatte. Und das Göttingen-Porträt macht die nämliche Bewandtnis erkennbar. Die nach der Flucht aus Bonn hoffnungsvoll gewählte Universitätsstadt war für Heine zum Ort einer zwiefachen Aussperrung geworden; im Dezember 1820 hatte man ihn hier als Juden - trotz seiner »schneidigen« Mißachtung des offiziellen Duellierungsverbots - aus der Burschenschaft ausgeschlossen,36 und hernach hatte ihn noch das Consilium abeundi ereilt. Nun, in der »Harzreise«, verfratzt das Ich diese Stadt Göttingen ins widerwärtig Kuriose, Mißgebildete, Abnorme. Schon die Herzählung all dessen, wodurch die Stadt »vollständig eingerichtet« sei (»mit Schnurren, Pudeln, Dissertazionen, Theedansants«; HSA 5, S. 8), kehrt entschieden ein lächerliches SammelsuriumsGesicht hervor, bei dem nichts zueinanderpaßt und das als Ganzes das Zerrbild eines Ganzen ist. Hernach zeichnet das Ich dem Bild die Faxe jenes Burschenschaftswesens ein, dem Heine selbst so begierig sich angeschlossen hatte, das jetzt aber als groteskanachronistisches Gehabe verhöhnt und verspottet wird. Die Masse der »Philister« bringt das Ich sodann nach der Maßgabe geläufiger Judenkarikaturen ins Bild - womit er selbst, Heine, verächtlich identifiziert wurde, das ließ er sein Erzähler-Ich, ebenso verächtlich, auf das philiströse Göttinger »Lumpenpack« projizieren: »schmutzige Gesichter und weiße Rechnungen« (HSA 5, S. 8). Und ganz und gar bezeichnend, daß die Porträtierung des Stadt»körpers« schließlich in einer Passage gipfelt, welche die Abnormität der göttingenschen Damenfüße beschreibt. Solche körperliche Mißgestalt aber, die sich - in unterschiedlicher Ausprägung - dem Harzreisenden wieder und wieder ins Gesichtsfeld schiebt, soll bündig als der sinnliche Ausdruck einer geistigen hervortreten. Es ist, so die Suggestion des Textes, die Borniertheit, welche sich den (häßlichen) Körper baut. Und wenn der Doktor Saul Ascher als ein Mann mit »abstrakten 36 Vgl. dazu Galley, Eberhard: Heine und die Burschenschaft. Ein Kapitel aus Heines politischem Werdegang zwischen 1819 und 1830. In: Heine-Jahrbuch 11 (1972), S. 66-95, insbes. S. 71f. - Außerdem Grappin, Pierre: Heines lyrische Anfänge. In: Heine-Studien. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Internationaler Heine-Kongreß 1972, Hamburg 1973, S. 67-70.

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Beinen« sowie mit einem »schroffen, frierend kalten Gesichte« vergegenwärtigt wird, »das einem Lehrbuche der Geometrie als Kupfertafel dienen konnte« (HSA 5, S. 26), dann versinnlicht der Text in den körperlichen Attributen die Borniertheit eines Kantianertums, dessen längst obsolet gewordenes Vernunftphilosophieren dem Urteil anheimfällt, dem Leben entfremdet zu sein. 37 Jenen anderen Philosophierenden indes, »wohlgenährt« und mit einem »glänzend wampigen, dummklugen Gesicht« (HSA 5, S. 28), führt der Text als einen bornierten Pragmatiker vor, der sich popularphilosophischen Rationalismus und Utilitarismus zugeeignet hat und ihn für die Belange seiner erwerbsbürgerlichen Existenz im Zeichen eines nüchternen Kalküls sowie einer nackten Zweckmäßigkeit in Anspruch nimmt. Das »frierend kalte« Gesicht und das »glänzend wampige«: zwei »Visagen« demnach, die dem »Harzreise«-Ich je auf andere Art eine Aufklärungsnachfolge versinnfalligen, die des schöpferischen Impulses entbehrt. In der einen Gesichtskarikatur findet es die bürgerlich-gelehrte, in der zweiten die bürgerlich-pragmatische Vernutzung aufklärerischer Denktradition ausgedrückt. Und in beiden Physiognomien »sieht« es zugleich Deformationsvarianten, die sich borniert verselbständigten, dabei von gesellschaftsstabilisierender Wirkung sind und im Dienste der Konventionalität stehen. Das »graue, altkluge Ansehen« (HSA 5, S. 8) der Stadt Göttingen: die Bezeichnung eines sinnlichen Erscheinungsbildes auch hier, welches prägnant auf die Art des geistigen Wesens verweisen soll. Es ist aber, wodurch sich dieses Wesen charakterisiert, nicht nur eine beschränkt-trockene Gelehrsamkeit schlechthin, keineswegs nur ein Universitätsbetrieb, der, selbstgerecht in sich befangen, vom Treiben des »Lumpenpacks« der Krämer 37 Ein völlig anderes Ascher-Porträt entwirft Peter Hacks in seinem Essay »Einer von meinen Leuten. Das Buch Ascher« (in: Neue Deutsche Literatur 12 (1988), S. 21-69). Hier wird in Ascher vor allem der operativ sich engagierende Schriftsteller gesehen, der in die politischen Auseinandersetzungen der Zeit beherzt einzugreifen suchte und jeglicher Spielart des politischen Nationalromantismus beharrlich opponierte. Hacksens Darstellung ist stark purifizierend. Gleichwohl hebt sie ins Bewußtsein, daß Heine dem verstorbenen Ascher kaum ein angemessenes Denkmal setzte. - Vgl. auch Littmann, Ellen: Sau] Ascher. First Theorist of progressive Judaism. In: Year Book of the Leo Baeck Institute 5 (I960), S. 107-121. Im übrigen DHA 6, S. 609.

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bloß relativ sich unterscheidet. Denn der Traum im Gasthof zu Osterode läßt nicht minder auch die spezifische Bewertung der göttingisch-zünftigen Rechtswissenschaft erkennen; über deren exegetische und historische Betätigung - es ist die von Vertretern der historischen Rechtsschule - wird ein Urteilsspruch verhängt, der auf regressives »Geschwätz und Gezänke« (HSA 5, S. 13) lautet. Wobei sich diese Worte der Themis auf die Unangemessenheit historisch orientierter Rechtsauslegung in einer Zeit beziehen, da der »theure Prometheus« (HSA 5, S. 13) gefesselt liege: Napoleon wird erinnert, der an den »Marterfelsen« (HSA 5, S. 13) St. Helena gekettete Lichtbringer und Fackelträger der Revolution. 38 Und die eigentliche Forderung des Tages bestünde darin, der »höhnenden Kraft«, der »stummen Gewalt« (HSA 5, S. 13) Chiffren für die Heilige Allianz - entgegenzuwirken: Recht also und Freiheit politisch verwirklichen zu helfen. Der »Narr in Lebensgröße« aber (HSA 5, S. 45) - ein »Mann aus jenen Zeiten, als die Läuse gute Tage hatten und die Friseure zu verhungern fürchteten« (HSA 5, S. 45) - verkörpert jenes altdeutsch-patriotische Gewese, das sich vor allem mit den Burschenschaften verband und auf das Heine gerade deshalb so allergisch reagierte, weil er mit ihm die leidvollsten Erfahrungen gemacht hatte. Die freilich hatten ihn zugleich dahin geführt, daß er sehr bald schon den pseudooppositionellen Deutschheitskult als emanzipationswidriges Phänomen schlechthin begriff;39 bereits in den »Briefen aus Berlin« findet sich das Wort vom »Sumpfe der Nazionalselbstsucht« (HSA 4, S. 144); hier auch taucht erstmals als Attribut der deutsch-patriotischen Borniertheit die Bierseligkeit auf: Den kategorischen Satz, daß auf einer »deutschen Mummerei« der »Deutsche deutsch sprechen« solle, »donnert« ein Jüngling »im urteutonischen Bierbaß« (HSA 4, S. 144). So ist denn der Greifswalder »Narr« ein eifernder Blücherianer, den die Heinesche Prosa längst kennt; und wenn er den Fortbestand »deutscher Thatkraft und Einfältigkeit« beredet, tut auch er es nicht, ohne »dröh38 Vgl. dazu vor allem Altenhofen a.a.O., S. 18f. 39 Siehe hierzu vor allem die resümierende, kontextual sehr umsichtig beschreibende Darstellung bei Oesterle, Günter: Integration und Konflikt. Die Prosa Heinrich Heines im Kontext oppositioneller Literatur der Restaurationsepoche, Stuttgart 1972, S. 26-29.

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nend« sich »auf die Brust« zu schlagen und »eine ungeheure Stange Weißbier« (HSA 5, S. 45) zu leeren. Dabei verfährt das »Harzreise«-Ich mit dem Exponenten teutscher Tumbheit in gleicher Weise wie mit dem jenes geschäftsbürgerlich adaptierten Zweckrationalismus: Es repliziert nach Maßgabe der ihm begegnenden Borniertheit selbst, macht, daß sie in seiner Antwort ironisch sich übergipfelt; und es »erledigt« sie damit. Und der Text stellt so eine spielerische Souveränität aus, die den Harlekin, der sie demonstriert, als mühelos Überlegenen erscheinen läßt. Daß der harlekinesk Abfertigende de facto ein Bedrängter ist, bleibt in den einschlägigen Episoden unsignalisiert. Der Kunstkniff aber, der ein solch souveränes Agieren ermöglicht, besteht letztlich darin, daß sich Heines »Harzreise«Ich die auf diverse ideologische Konventionen eingeschworene Menge in charakteristischen Einzelexemplaren konfrontieren kann. Was realiter en masse auftrat und gerade dadurch als bedrückend erlebt werden mußte, vermag sich also das Ich des künstlerischen Textes in einzelnen Individuen herzunehmen; und diese, von der Macht der Menge ungeschützt, haben denn auch einen Kontrahenten, dem gegenüber nichts ihnen bleibt, als lächerliche Stupidität zu offenbaren. Jener andere Burschenschafter indes - »der kürzlich zur Purifikazion in Berlin gewesen« (HSA 5, S. 43) - hat individuell für die Tumbheit einer preußisch-hauptstädtischen Theatergemeinde einzustehen, die, widerstandslos und auf beschränkte Weise afliziert, florierendem Illusionismus huldigt. Dieser »junge Mensch« (HSA 5, S. 43), mit dem das »Harzreise«-Ich ironisch sein Spiel treibt, muß gleichsam die Austauschbarkeit von altdeutschpatriotischer und theaterseliger Philistrosität personifizieren - Tertiurn comparationis ist die kritiklose Hingabe an einen faulen Zauber, welcher der Emanzipation menschlicher Subjektivität entgegenwirkt und zumal die Freisetzung politischer Vernunft nachhaltig behindert. Und im Gespräch mit dem ästhetisch purifizierten Burschenschafter findet das Ich schließlich zu seiner politisch schärfsten Pointe des Textes insgesamt: Dem Jüngling, gaffendes und bewunderndes »blödes Volk« (HSA 5, S. 44) in Einzelfiguration, werden die Sprünge und Bewegungen des Balletts prosaisch dechiffriert; das Ich konsterniert ihn dabei durch eine schroff politisierende Interpretation, die den ästhe-

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tischen Schein sarkastisch zerstört - und die ein abbreviiertes Realbild der politischen Verhältnisse Deutschlands liefert. Daß dieses Bild, hervorkehrend ein inneres Kräfte-Patt im Schatten latenter Furcht vor dem »allzugroßen Freund im Osten« (HSA 5, S. 44), bereits an und für sich ein Kabinettstück politischer Lageschilderung darstellt, will eigens betont sein. Bemerkenswert freilich nicht weniger die Reaktion, die der Text dem belehrten Jüngling zuschreibt: »Dem jungen Manne fielen die Schuppen von den Augen [...]« (HSA 5, S. 44). So hat sich dessen Beschränktheit noch darin zu erweisen, daß er in gläubiger Andacht auch diesen Auslegungskapriolen des Ichs folgt - der Harlekin läßt ihn als Unmündigen, geistlos Anhangenden ein weiteres Mal sich bezeugen. Schließlich die diversen Poesie- und Naturschwärmer: jenes dünne Schneiderlein, das beim Gesang des Liedes »Lottchen bey dem Grabe ihres Werthers« vor Sentimentalität »zerfließt« (HSA 5, S. 14); das gefühlvolle »lange Brechpulver«, das, den Sonnenuntergang betrachtend, in den Ruf ausbricht: »Wie ist die Natur doch im Allgemeinen so schön!« (HSA 5, S. 42); die Dame mit dem Codex-palimpsestus-Gesicht, die Stellen aus Byrons Gedichten rezitiert. Wiederum indiziert das Körperliche den geistigen Habitus und spricht zugleich das Urteil über ihn. Und das verspottete Triviale der jeweiligen Poesie- und Naturbeziehung kennzeichnet der Text im Sinne eines kompensatorischen Bestrebens, von dem aus entweder das Zitat oder aber die emphatische Platitüde beansprucht wird - beides Äußerungsvarianten jener allgegenwärtigen Philistrosität, der das Ich somit attestiert, daß sich ihre Beschränktheit, und damit: Emanzipationsfeindlichkeit, gerade auch auf solche Art schlagend erweise. Demgemäß rücken Poesie- und Naturschwärmer, Vernunftpurist, »wampiger« Geschäftsmann, Rechtsgelehrter, Korpspatriot, Theaterschwadroneur gleichsam in eine Reihe; es ist die Reihe von Repräsentativkarikaturen, welche die Masse vertreten und für sie - im Nacheinander - mit der klatschenden Peitsche vernichtenden Spotts geschlagen werden. Und das durch ein harlekineskes Ich, das zwar aus Notwehr handelt, im Zuge dieser Notwehr jedoch zugleich sein geistiges Selbst zu steigern vermochte: zu jener Höhe kritischer Reflexion, von der aus auf die deutsche Gesellschaft der zwanziger Jahre genau

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und treffend gezielt werden konnte. Der Widerspruch freilich bleibt; dem satirisch abfertigenden Ich der »Harzreise« opponiert dieses andere, auf Ronversation und Kommunikation bedachte; und eben derjenigen deutschen Gesellschaft, die exemplarisch so überlegen wie ätzend verspottet und verlacht wird, gelten nichtsdestoweniger auch Gesten einer Betragensweise, durch welche der harlekinesk Agierende sich anzuempfehlen sucht. 5. Heine schrieb im Januar 1825 über seine »Harzreise« dahin gehend, daß sie »im Grunde ein zusammengewürfeltes Lappenwerk«40 sei. Zugleich freilich gab er sich dabei überzeugt, sie werde »sehr gefallen«41. Gerade das Buntscheckige des Textes erschien ihm demnach als ein strukturelles Charakteristikum, von dem er sicher war, es bürge für den Erfolg des Werks bei der zeitgenössischen Leserschaft. So aber wird man auch annehmen können, daß für Heine während des Schreibprozesses selbst schon diese Effekterwägung eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben dürfte. Er kannte die Konversationsart literarisch-geselliger Kreise vor allem Berlins; er wußte um den Geschmack, den man am kurzweiligen Wechsel, am Fragmentismus, am Springen vom einen zum andern fand; er hatte erfahren, daß eine geistvolle Wendigkeit, die dem Bedürfnis nach »Poetischem« ebenso Rechnung trug wie dem nach der frechwitzigen Pointe, sehr wohl zu imponieren vermochte. Gleichermaßen war es der Zeitungsfeuilletonismus, dessen potentielle Gefälligkeit Heine vor Augen stand; mit seinen »Briefen aus Berlin« hatte er sich 1822 selbst als originell-feuilletonistischer Berichterstatter erprobt. Und indem er die »Harzreise« hervorbrachte, zeigte er alledem keineswegs die kalte Schulter: Sich in die Tradition der aufklärerisch-statistischen Reisebeschreibung zu stellen, fortgediehen inzwischen zum Reisehandbuch, dies konnte für Heine ohnehin nicht in Frage kommen - wenn er aber auf den Typus sowohl der subjektiv-humoristischen als auch der subjektiv-politischen Reisebeschreibung gewiß zwar zurückgriff, 42 40 Heine an Moses Moser, 11. J a n u a r 1825 (HSA 20, S. 184). 41 Kbenda. 42 Speziell zu dieser Verquickung Sauerland, Karol: Gattungsgeschichlliche Reflexionen zu Heines »Reisebildern«. In: Heinrich Heine. Hrsg. v. Luciano Zagari und Paolo Chiarini, Stuttgart 1981, S. 79-88.

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so eben doch und sehr entschieden auf jene innovatorische Weise, durch die er ihn mit der Faktur moderner Foyer- und Salonkonversation sowie mit der des modernen Zeitungsfeuilletonismus vermittelte. Dabei wäre in erster Linie die »interessante« Dynamik einer Textbewegung namhaft zu machen, die sich durch feuilletonistische Machart, raschen Wechsel der Darstellungsarten, frappierende Übergänge, kurzweilige Episodik, ironisch-komische Sprachgesten, das heißt insgesamt: durch ausgesprochene Unterhaltsamkeit kennzeichnet. Diese Prosa ist für Abwechslungssüchtige berechnet; genau solche Leser will sie fortdauernd in ihren Bann schlagen. Heine freilich, wenn er dergestalt eine Textstruktur ausbildete, die so deutliche Merkmale von Anpassung aufweist, beging damit keineswegs einen Akt künstlerischer Prostitution. Denn dieses Strukturelle stimmt wahrhaftig mit dem zusammen, was sich als wesentliche Komponente des mitgeteilten Ich-Verhaltens ausmachen läßt: Die Sehnsucht des existentiellen Außenseiters nach Integration verschafft sich Geltung. Und der kurzweilig-originelle, geistvolle Gesprächsmaitre, der den beiden Damen auf ihrem Zimmer im Brockengasthof Gesellschaft leistet und sie zu »unterhalten« (HSA 5, S. 42) weiß, folgt, indem er dies tut, einem Antrieb, der sich von dem seines Autors kaum unterscheidet. Wenn sich aber das Ich stets assimilationsbegierig anpaßt, um dann doch sein spottend-ironisches Selbst freizusetzen, so trifft; für den formenden und vortragenden Autor auch dies zu. Seine gefallig strukturierte Rede kommt Erwartungen entgegen, und zugleich überhebt sie sich; sie ist fixiert aufs Konvenierende und treibt nichtsdestoweniger ein gewagtes Spiel mit ihm, in welchem sich Exzeptionalitätsbewußtsein entäußert. Dabei tritt letzteres in diesem Spiel vordergründig als provozierende anmaßliche Arroganz in Erscheinung. Hinter ihr verbirgt sich jedoch nichts anderes als der ironische Selbstbehauptungsversuch einer Subjektivität, die sich permanent genötigt sieht, mit der Wahrnehmung eines zweifachen Mangels fertig werden zu müssen: Sie weiß sich uneingebunden in einen organischen Welt- und Gesellschaftszusammenhang; und es stellt sich ihr die Existenz eines solchen Zusammenhanges schlechthin in Frage.

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So auch läßt sich das Textstrukturelle, wie immer es dem bezeichneten Anpassungsbestreben gehorcht, nun gleichermaßen als Reflex dieses Subjektbewußtseins und dieser Mangelerkenntnis fassen. Schroff kontrastiv findet sich nebeneinandergesetzt, was sich dem Subjekt auch defacto als ein Nebeneinander darbietet; das Facettenhafte, Pointillistische korrespondiert dem erfahrenen Weltstückwerk; die Reihenbildungen, aus Disparatem gefügt, treiben das empirisch Wahrgenommene eines bloßen Zusammengewürfeltseins nur mehr komisch auf die Spitze: »Ich glaube wir sprachen auch von Angorakatzen, etruskischen Vasen, türkischen Shawls, Makaroni und Lord Ryron [...]« (HSA 5, S. 42). Und keine andere Bewandtnis hat es mit den immer wieder anzutreffenden assoziativen Vermischungen und phantastischen Imaginationen; der Kopf des Ichs produziert Zusammenhänge, deren subjektiv Willkürliches auf eigene Weise den Diffusitätsbefund bekräftigt: »[...] nachdem ich meinen Damen einige Höflichkeiten gesagt, eilte ich hinab, um in der warmen Stube Kaffee zu trinken. Es that Noth; in meinem Magen sah es so nüchtern aus, wie in der Goslar'schen Stephanskirche. Aber mit dem arabischen Trank rieselte mir auch der warme Orient durch die Glieder, östliche Rosen umdufteten mich, süße Bulbullieder erklangen, die Studenten verwandelten sich in Rameele, die Brockenhausmädchen, mit ihren Congrevischen Blicken, wurden zu Houris, die Philisternasen wurden Minarets u. s. w.« (HSA 5, S. 50). So auch haben die zusammenschießenden Phantasiegebilde, wie sie für die Mehrzahl der Träume charakteristisch sind, in etlichen Tagphantasien durchaus ein Pendant; hier wie da handelt es sich um bildhafte Verbindungen, die als okkasionelle hervortreten und deren Beziehungsgrund einzig im »zufällig« Subjektiven liegt. Dem allen entspricht, daß in der »Harzreise« keine Personen vorkommen: Ähnlich wie der Erzähler über Natur und Landschaft verfügt, sind ihm die Menschen keineswegs Individuen, sondern Rollen- und »Symptomträger«43. Bis auf die Ausnahme Sartorius44 gibt es kein einziges respektiertes Gegenüber im Text. 43

Grubaciii a.a.O., S. 16.

44

Z u m Sarlorius-Bezug vgl. Kanowsky, W a l l e r : Vernunft und Geschichte. Heinrich Heines Studium als Grundlegung seiner Welt- und Kunslanschauung, Bonn 1975, S. 132-173.

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Vom karikierenden Verfahren war dabei schon ausführlich die Rede - jenes andere aber, nicht minder genutzte, ist gleichermaßen zu erinnern: das der AUegorisierung. Die Urgroßmutter im besuchten Bergstädtchen hat »tiefes Anschauungsleben« zu figurieren, das Mädchen der »Berg-Idylle« die Idee unschuldiganschmiegsamer weiblicher Liebe, der Cicerone die deutsche Treue usw. Ob jedoch satirisch beleuchtet oder auch nicht, alle Figuren ermangeln des Persönlichen, fast alle bleiben sie namenlos, sie werden, zumeist nur kurz, ins Blickfeld geholt und rasch wieder aus ihm entlassen.43 Und in bezug auf einen Kosmos, der seiner selbst hohnspricht, besitzen sie prägnant indizierende Bedeutung - sie sind gleichsam Partikel, ebenso charakteristisch wie unwesentlich. Das Subjekt aber, das sich der Welt- und Gesellschaltsfacetterie gegenüber zu behaupten strebt, kann es seinerseits nur gemäß einer Zerrissenheit tun, welche zwangsläufig ihm auch selbst eignet. Vor allem manifestiert sich dies in einer Sprache, die als Medium von Subjektkundgabe die einander widersprüchlichsten Elemente in sich birgt und die insofern von Plastizität oder »behaglich« Konsistenzhaftem weit entfernt ist. Die Sprache der »Harzreise« ergreift Hohes und Niederes, Pathetisches und Triviales; durch permanente »Kombination von >Entlegenem«< signalisiert und zeitigt sie fortwährend »Störung« 46 : Der Stilbruch läßt sich geradezu als sprachgestalterisches Prinzip dieser Prosa bestimmen.47 Und die Heterogenität von Eindrücken und Assoziationen, denen sich das Ich auf der Turmwarte des Brockens hingibt, gelangt in der sprachlichen Reproduktion zu schroff-gespanntestem Ausdruck. Da wird zuerst die anwesende Dreiergruppe registriert; es folgt eine (leicht ironisch-)emphatische Beschreibung der sehr schönen jungen Dame; deren Federschmuck indessen zieht sofort eine sentimental gefärbte, märchenselige Kindheitsreminiszenz nach sich, und die wieder45

Vgl. dazu auch Grubacii^ a.a.O., S. 16.

46

Wiilfling, Wulf: Skandalöser »Witz«. Untersuchungen zu Heines Rhetorik. In: Heinrich Heine. Artistik und Engagement. Mit Beiträgen von Joachim Bark (u.a.). Hrsg. v. W o l f g a n g Kultenkeuler, Stuttgart 1977, S. 58.

47

Vgl. Bourke, T h o m a s : Stilbruch als Slilmittel. Studien zur Literatur der Spät- und Nachromantik. Mit b e s o n d e r e r Berücksichtigung von E.T.A. Holtmann, Lord Byron und Heinrich Heine, Frankfurt a.M./Bern/Cirencester 1980.

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um erfährt im Handumdrehen jene ernüchternde Brechung, die des Ichs naturgeschichtlich beschlagener Kopf herbeiführt und die einer trivialen Pointe zuarbeitet. (»Jetzt denke ich anders, seit ich [...] weiß, daß jene symbolischen Federn von dem dümmsten Vogel herkommen, und daß die Schleppe eines Damenkleides auf sehr natürliche Weise naß werden kann.«; HSA 5, S. 39f.) Hernach aber dieses ironisch gelagerte Was-wäre-Wenn, das die schöne Dame dann doch zur Fee phantasmagoriert - nur daß sie flugs aus dem Gesichtskreis verschwindet, da mit der Blickwendung zum Landschaftspanorama eine pathetische Reflexion ihr Recht fordert: »Ja, in hohem Grade wunderbar erscheint uns Alles bey'm ersten Hinabschauen vom Brocken, alle Seiten unseres Geistes empfangen neue Eindrücke, und diese, meistens verschiedenartig, sogar sich widersprechend, verbinden sich in unserer Seele zu einem großen, noch unentworrenen, unverstandenen Gefühl.« (HSA 5, S. 40) Kaum ist dies gesagt, schwenkt freilich die Reflexion unvermittelt vom Pathetisch-Erhabenen ins Pathetisch-Komische; ein freundlich-spottlustiger Vergleich (»Der Brocken ist ein Deutscher.«; HSA 5, S. 40) reiht sich an, provoziert pointenfindige assoziative Weiterungen, läßt schließlich den Vers aus dem Claudiusschen »Rheinweinlied« erinnerlich werden: »Der Blocksberg ist der lange Herr Philister!« (HSA 5, S. 40) Und diesem festschreibenden poetischen Zitat aber kontert, erneuter Schwenk, ein prosaisch-hymnischer Lobpreis; er gilt dem imaginierten Walpurgisnacht-Brocken, der »seine Nebelkappe jubelnd in die Lüfte« wirft und »echtdeutsch romantisch verrückt« (HSA 5, S. 40) werde. Danach Absatz, harter Schnitt: »Ich suchte gleich die schöne Dame in ein Gespräch zu verflechten: denn Naturschönheiten genießt man erst recht, wenn man sich auf der Stelle darüber aussprechen kann.« (HSA 5, S. 40) Eine Passage wie die hier herangezogene verdeutlicht freilich zugleich, daß die Sprache das Heterogene nicht schlechthin reproduziert, sondern sich seiner auf eine geradezu virtuose Art bemeistert: Was einerseits als Zerrissenheitsnot in Erscheinung tritt, konstituiert andererseits ein Sprachbewußtsein, das aus ihm die Dynamik seines Ausdrucks gewinnt und damit zugleich das Vermögen, spielerisch zuspitzend zu verfahren. Und derart bezeugt der Stil der Heineschen »Harzreise« sowohl

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die Not des Subjekts wie auch den spannkräftig unternommenen Versuch einer beherzten Not-Wendung. Wobei sich letztere gar als souveräne präsentiert - so daß der Eindruck entstehen konnte, ein »Pathos freier Heiterkeit«48 durchwalte den Text. Solche Formulierung ignoriert freilich, daß die Stirn der Bedrängnis nach deren Maßgabe geboten wird; die Selbstbehauptung kann einzig im Sinne einer fortwährend-bizarren Seibslbewegung gelingen; und wenn diese sich zwar als artifiziell gesteigerte darbietet, so bleibt doch feststellbar, daß ihr ein Hakenschlagartiges zugrunde liegt, welches den Unbehausten, ja den Gejagten hinreichend kenntlich macht. Noch dies aber ist dem Bewußtsein des Subjekts schärfstens gegenwärtig: Die durchweg ironische Akzentuierung der Selbstkundgabe läßt Souveränität ebenso in Erscheinung treten, wie sie doch auch deren notvolle Bewandtnis exakt anzeigt. Auf eigene Weise reflektiert sich die krisenhafte Bewußtseinslage im »Miniaturfinale«49 des Textes. Es führt das Ich auf dem Ilsenstein vor; und dieses Ich, das im bisherigen sowohl die »chaotisch« bewegte Welt- und Gesellschaftsfacetterie als auch diejenige seines Selbst notspielerisch reproduziert hat, nimmt jetzt nur noch eine allumfassende Verwirbelung und Verwirrung wahr von einer Art, daß es vom Schwindel ergriffen wird und ihm die Sinne zu vergehen drohen: »Denn als ich dort stand, in Gedanken verloren, hörte ich plötzlich die unterirdische Musik des Zauberschlosses, und ich sah, wie sich die Berge ringsum auf die Köpfe stellten, und die rothen Ziegeldächer zu Ilsenburg anfingen zu tanzen, und die grünen Bäume in der blauen Luft herum flogen, daß es mir blau und grün vor den Augen wurde, und ich sicher, vom Schwindel erfaßt, in den Abgrund gestürzt wäre, wenn ich mich nicht, in meiner Seelennot, an's eiserne Kreuz festgeklammert hätte. Daß ich, in so mißlicher Stellung, dieses letztere gethan habe, wird mir gewiß Niemand verdenken.« (HSA 5, S. 55f.) Eine Bewußtseinsangst setzt sich frei, die dem Ich die bedrohliche Konsequenz seiner notspielerischen Aktivität imaginiert. Und das Kreuz im Gebirge als rettender Halt: Am 28. Juni 1825 ließ Heine, der entwurzelte hochintellektuelle deut48

Kaufmann, a.a.O., S. 151.

49

GrubaciÈ, a.a.O., S. 22.

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sehe Jude, in Heiligenstadt sich taufen. Diese Korrespondenz von literarischer Signatur und biographischem Faktura bezeugt denn auch, daß die Finalpointe der »Harzreise« einen nicht fortzuwischenden geistig-existentiellen Beziehungsgrund hat. Freilich, der stilistische Duktus bleibt völlig in Kraft; er macht, daß die Anspielung auf das Kreuzsymbol als frivole, freigeistig-blasphemische erscheint; und hinsichtlich der Textbewegung insgesamt wäre die Finalstelle gar als deren Klimax zu bezeichnen. 6.

Über die Varnhagens hatte Heine die Schwägerin von Rahel, Friederike Robert, kennengelernt. Deren Bruder, der Karlsruher Buchhändler Gottlieb Braun, gab den Almanach »Rheinblüthen« heraus; und Friederike wandte sich an Heine, ihn als Beiträger zu gewinnen. Dieser übersandte zunächst, am 27. Mai 182430, sechs Gedichte, um zugleich mitzuteilen, für den folgenden Jahrgang werde er »etwas recht gutes Großes«51 liefern. Prompt wurde er im Februar 1825 freundlich an sein Versprechen erinnert; Heine mochte der Frau gegenüber, die ihm Eindruck gemacht hatte, nicht wortbrüchig werden - und so avisierte er ihr am 4. März das Manuskript seiner »Harzreise«. Daß er es freilich nur widerwillig dem Braunschen Almanach überließ, geht aus seinem Brief vom 1. April an Moses Moser hervor: »Ich will meine Harzreise für die Rheinblüthen geben. [...] Ich war früher gesonnen sie ins Morgenblatt zu geben, und deßhalb wollte ich an Cotta schreiben. Ungern gebe ich sie in die Rheinblüthen; das Almanachswesen ist mir im höchsten Grade zuwider. Doch ich habe nicht das Talent schönen Weibern etwas abzuschlagen.« 52 Insofern auch verdroß es Heine kaum, daß der Almanach dann gar nicht zustande kam; ärgerlich war ihm allerdings der Zeitverzug - er sei, so schrieb er an Moser, »um den Ruhm von 1825 geprellt«53 worden. Und unverzüglich schickte er das zurückerhaltene Manuskript an Friedrich Wilhelm Gubitz, der ihm als Herausgeber des »Gesellschaf50 Vgl. H e i n e an F r i e d e r i k e u n d L u d w i g Robert, 27. Mai 1824 (USA 20, S. 166). 51 HSA 20, S. 166. 52 Meine an Moses Moser, 1. April 1825 (USA 20, S. 192). 53 Heine an Moses Moser, 9. J a n u a r 1826 (HSA 20, S. 235).

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ter« für die nun dringlich erwünschte Sofortpublikation der geeignetste Mann zu sein schien. Bezeichnend, daß sich im Begleitbrief nicht weniger als dreimal die Forderung nach Eile ausgedrückt findet. Sie war Heine genau so wichtig wie die inständig formulierte Bitte, Gubitz möge keine Textänderungen vornehmen - sollte die Zensur das eine oder andere beanstanden, dann seien unmißdeutbar die »gebräuchlichen Querstriche«54 zu setzen. Um so größer der Heinesche Zorn, daß beide Forderungen unerfüllt blieben. Ob dabei Gubitz tatsächlich, wie er später schrieb, noch immer »das Möglichste«55 erwirkt hatte, läßt sich nicht ausmachen. Jedenfalls kam dem ungeduldigen Heine die Publikation ganz entschieden zu spät.56 Und die Verärgerung nahm zu, als ihm das Gedruckte erwies, daß Gubitz an etlichen Stellen in den Text eingegriffen hatte: Retuschiert fanden sich politische, persönliche, moralische »Bedenklichkeiten«. Die Ronsequenz aber, die Heine nun zog, lag in der Bekräftigung des schon früher gefaßten Entschlusses, die »Harzreise« neu zu publizieren, und zwar im Rahmen eines Sammelbandes, der über 320 Seiten stark sein sollte und damit nicht der Vorzensur unterliegen würde. Ein Glücksfall trat hinzu: Noch Ende Januar lernte Heine den soeben in Hamburg ansässig gewordenen Buchhändler und Verleger Julius Campe kennen; er gewann sich in diesem einen ebenso wagemutigen wie verläßlichen Partner; das Projekt der »Reisebilder von H. Heine. Erster Theil« konnte Gestalt annehmen und ins Werk gesetzt werden. Gebündelt wurden »Die Heimkehr«, »Götterdämmerung«, das »Ratkliff«-Gedicht, »Donna Clara«, das »Almansor«-Gedicht, »Die Wallfahrt nach Kevlaar«, »Die Harzreise«, »Die Nordsee. Erste Abtheilung«. Und Heine arbeitete bis in den April 1826 hinein intensiv auch am »Harzreise«-Text selbst, änderte, erweiterte ihn. Vielleicht gar standen die Erweiterungen (Göttingen-Abschnitt, Hamburg-Epilog) im Zeichen der Sorge, nur ja das kritische Druckbogenlimit nicht zu verfehlen. Verhielt es sich so, dann war die Mühe freilich vertan: Es erwies sich schließlich,

54 Heine an Friedrich Wilhelm Gubitz, 23. November 1825 (USA 20, S. 223). 55 Gubitz, Friedrich Wilhelm: Erinnerungen, Berlin 1868, Bd. 2, S. 290. 56 Vgl. Heine an Moses Moser, 9. J a n u a r 1826 (HSA 20, S. 234).

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daß insgesamt lediglich 301 Druckseiten herauskamen; unausweichlich stand man denn doch vor der Hürde der Vorzensur; um Friedrich Ludwig Hoffmann führte kein Weg herum. Es gelang aber Campe, die Hoffmannschen Beanstandungen für null und nichtig erklären zu lassen: Er wandte sich schließlich an den Hamburger Oberzensor (und Senatssyndikus) Jacob Albrecht von Sienen, umgarnte diesen, listete ihm eine Druckgenehmigung ab, die sich nun mit keinerlei Bedingung mehr verband. 57 Nach Auslieferung des Bandes aber (Mitte Mai 1826) ging Heine emsig daran, Publizität zu organisieren. Und indem er Exemplare versandte, gab er den Adressaten zumeist auch zu verstehen, daß er sie sich als freundlich-engagierte Rezensenten wünsche. Sehr deutlich fiel der Brief an Joseph Lehmann aus: »Ja, lieber Lehmann, die Zeiten sind schlecht, ich muß etwas für meinen Ruhm sorgen, indem ich jetzt so halb und halb davon leben muß, und vorzüglich weil der Lorbeer der meine Stirn umkränzt, doch manchem Lump, der mich mit Roth bewerfen möchte, eine heilige Scheu einflößt. Darum sollen Sie, lieber Lehmann, wieder etwas für diesen Ruhm wirken, und ich wünschte sehr daß Sie Sorge trügen für mein neues Büchlein.«58 Wenn aber Lehmann die in ihn gesetzten Erwartungen tatsächlich erfüllte, 59 wenn gleichermaßen Varnhagen sich kräftig einsetzte 60 sowie der wohl mündlich angegangene Friedrich Gottlieb Zimmermann 61 , so erlebte Heine auch die enttäuschende Reaktion eines Adolf Müllner, an den er sich mit Dedikationsexemplar und Brief - »Hochgeehrter Herr Hofrath!« -

57 Ausführlicher dazu Jost I lermand im Apparat von DHA 6 (S. 534f.). 58 Heine an Joseph Lehmann, 26. Mai 1826 (USA 20, S. 245). 59 Vgl. die mit »A-.« gezeichnete Rezension in der »Berliner Schnellpost für L i t e r a t u r , T h e a t e r u n d Geselligkeit«, Jg. 1826, Nr. 79 (3. Juli), S. 314f. sowie Nr. 80 (5. Juli), S. 518f. 60 Vgl. die mit »W.« gezeichnete B e s p r e c h u n g in Der Gesellschafter o d e r Blätter Tür Geist u n d Herz, Jg. 1826, Nr. 103 (30. Juni), S. 520. Wiederabdruck in Varnhagen von Ense, Karl August: Zur Geschichtsschreibung und Utteralur. Berichte und Beurtheilungen. Aus den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik u n d a n d e r e n Zeitschriften gesammelt, Hamburg 1833, S. 583-587. 61 Vgl. die Kurzkritik in Staats und Gelehrten Zeitung des Mamburgischen unpartheyischen Correspondenten, 4. Juli 1826, S. 6f.

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am 21. Juni gewandt hatte 62 und der vier Monate später im »Mitternachtsblatt für gebildete Stände« einen Verriß publizierte. 63 Das allgemeine lebhafte Interesse freilich, das Heine dem Band inzwischen doch gewidmet sah, ließ ihn die Müllnerschen »Schnöditäten« ziemlich unerregt quittieren: »Dieser Mann kann doch nur verletzen und hat gewiß geglaubt, mein Teufel bezöge sich auf ihn. Er sieht überall nur sich.«04 Heine schrieb dies aus Lüneburg an Merckel, und zwar in einem Brief, der zugleich die übergreifende Aussage vom »vortrefflichen« Fortschreiten65 des Buches enthält. Eben dieses Fortschreiten aber vollzog sich - soweit es die Besprechungstexte dokumentieren - als ein Wechselspiel von Lob und kräftigem Tadel, das bei aller ihm eigenen Spannung doch ein gravierendes Moment von Einheitlichkeit zutage treten ließ: Alle diversen Rezensionen stimmten in dem Punkte überein, daß sie der gesellschafts- und ideologiesatirischen Provokation der »Harzreise« entschieden auswichen. Die Besprechungen reduzierten sich auf Stil- und Formkritisches; und die Urteile finden sich abgeleitet von der Meinung, die der jeweilige Rezensent zum ästhetisch-strukturellen Erscheinungsbild hatte. Entsprechend wurde die »Frechheit«, die man registrierte und - unterschiedlich - wertete, fast ausnahmslos als Eigentümlichkeit der ästhetisch sich niederschlagenden Subjektivität erwogen; der Objektbezug spielte keine Rolle. Günstigstenfalls deutete man jene Subjektivität als eine zeitsymptomatische an. Und aus einem so beschaffenen Gesamtfeld ragt ein Satz wie dieser - von Zimmermann stammende - bereits auffallend hervor: »Alle Schilderungen sind nach dem Leben, der bizarren Gegenwart, nemlich.«66 So aber zeigen die »Harzreise«-Kritiken eine Abstinenz an, die zunächst auf eine signifikant verengende Traditionsnachfolge verweist: Aus einem ästhetischen Denken, das zu Hochzeiten der »Kunstperiode« horizontaufsprengend gewirkt hatte, waren verkürzende Normen hervorgegangen, für die das klas62 63 64 65 66

Vgl. HSA20.S. 251. Jg. 1826, Nr. 139 (15. November), S. 554-556. Heine an Friedrich Merckel, 16. November 1826 (USA 20, S. 275). Vgl. HSA 20, S. 274. Staats und Gelehrten Zeitung, a.a.O., 4. Juli 1826, S. 7.

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sisch-romantische Autonomie-Postulat nun gleichsam als grundlegendes Dogma galt. 67 Der Begriff »Epigonenzeit« mag als Periodenbegriff wenig taugen, überblickt man indes die literaturkritische Praxis der zwanziger Jahre, so assoziiert man ihn fast zwangsläufig. Und das anzutreffende ästhetische Süßlertum ist denn auch ganz dazu angetan, die Stichhaltigkeit der einschlägigen ideologiekritischen Implikationen des Heineschen Textes selbst zu erweisen; auf frappierende Art ähnelt der Rezensionsmodus jener poesiebezogenen Beschränktheit, die in der »Harzreise« als Spottgegenstand vorgeführt wird. Daß freilich eine solche literaturkritische Normalität Platz greifen und sich verfestigen konnte, hing wohl nicht nur mit staatsbürokratischer Restriktivität und einschüchternder Zensurpraxis zusammen, sondern gleichermaßen mit einem Widerstand, der gegen die allenthalben andrängende Erfahrung trist um sich greifender bürgerlicher Verhältnisprosa geleistet wurde; ästhetischer Traditionalismus im Dienste von Abwehrverlangen. 68 Das Pro und Kontra aber, das die »Harzreise« hervorrief, kennzeichnete sich dadurch, daß es in puncto ästhetisch-struktureller Qualität doch sehr unterschiedliche Meinungen gab. Karl Immermann, wiewohl insgesamt freundlich rezensierend, rügte den Text dahingehend, daß er einer durchgeformten Ganzheitlichkeit entbehre und auseinanderklaffe: »Überhaupt findet sich in der Harzreise zu viel nüchterne Reflexion, die Darstellung wird zwar an einzelnen Punkten zur runden, poetischen Gestalt, jene Punkte stehen aber zu isolirt da, und so wohl sich auch der Mittelpunkt dieses Gedichts erkennen läßt, so hat der Dichter es dennoch nicht vermocht, den geistigen Verband in allen Theilen durchschimmern zu lassen. Zuweilen finden sich Anklän67 Siehe auch die Aussage Ralf H. Klinkenbergs: »Man [...] bedient sich Beurteilungskrilerien, die an der Klassik und Romantik gewonnen sind.« (Die Reisebilder Heinrich Heines. Vermittlung d u r c h literarische Stilmitlel, Frankfurt a.M./Bern 1981, S. 46.) 68 Jost Hermand v e r f u h r im Banne der Achtundsechziger-Ideologie freilich allzu rigoros: Heines f r ü h e Kritiker wertete er als Restauralionsideologen schlechthin, und dabei suggerierte er auch, daß fast d u r c h w e g scharfe Verrisse vorgenommen worden seien. (Heines frühe Kritiker. In: Der Dichter und seine Zeit - Politik im Spiegel der Literatur. Drittes Amherster Kolloquium zur modernen deutschen Literatur 1969. Hrsg. v. Wolfgang Paulsen, Heidelberg 1970, S. 113-133.)

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ge von Jean Paul, ja selbst vom verstorbenen Hoffmann, welche beide wohl nicht Muster der Darstellung werden sollten.«69 Amalie Henriette Caroline von Voigt, zeichnend mit »Vir«, machte geltend, es sei »zuviel Erzwungenes« in der »Harzreise«; und: »[...] der Witz ist seicht, der Spaß trivial, ja gemein oder manierirt.«70 Ein anderer Rezensent sprach gar von »übergeschnapptem Athem« und nannte die »Harzreise« ein »Brouillon«.71 Johann Baptist Rousseau hingegen, Heines ehemaliger Studienfreund, gelangte zu uneingeschränktem Lob des textlichen Gebildes: »Die Harzreise ist zwar nur Fragment, aber dessen ungeachtet ein in sich abgerundetes scharfes Ganze, das von Witz und Laune sprudelt und selbst bei Austheilung der bittersten Sarkasmen ein gefälliges Ansehn behauptet.« 72 Auch Varnhagen sprach ausdrücklich und anerkennend von einem »Zusammenhang«, in den alles verschiedenartige einzelne der »Harzreise« gestellt sei.73 Varnhagen sah freilich auch gehörige »Schatten«; und die Texte des Heineschen Bandes insgesamt reflektierend, bemerkte er, daß sich im ineinander Verflochtenen auch immer wieder »Frevelhaftigkeit und Frechheit« fänden. Wobei man die entsprechenden Stellen noch mit »Achselzucken« quittieren könne, sofern sie »im Geleit der höheren Macht« des Geistes einherkämen - fehle indessen die geistige Lizenz, so setze sich die »Ungebühr« unweigerlich dem Schicksal aus, »in Stücke« gerissen zu werden. »Einige der Gebilde unseres Autors können durchaus kein besseres Schicksal erwarten, sie überschreiten jedes Maß, und ohne alle Noth; er wird selbst am besten wissen, was er sich selber zu Ehren und seinem Buche zum Frommen aus demselben hätte weglassen sollen.«74 Partiell also ein Verletztsein des ästhetischen Gefühls auch bei Varnhagen; und er hielt Heine vor, mitunter die Regeln ästhetischer Moralität mißachtet zu haben. Mit denen aber brachte er zugleich die Anstandspostulate jener etablierten außerästhetischen Moralideo69 70 71 72 75 74

J a h r b ü c h e r für wissenschaftliche Kritik, Jg. 1827, Nr. 98, Sp. 775. Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 1826, Nr. 176, Sp. 448. Iris, Jg. 1826, Nr. 200 (7. Oktober), S. 804. Literaturblatt der »Rheinischen Flora«, Jg. 1826, Nr. 28 (20. August), S. 105. Varnhagen von Ense, a.a.O., S. 586. Ebenda, S. 585.

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logie zur Geltung, die dem auf Ordnung insistierenden Staatsund Zeitgeist ihrerseits verpflichtet war und für die sich ein jegliches »Frivoles«, »Obszönes« etc. strikt verbot. Dabei zählte Varnhagen noch immer zu den Ungestrengen; daß mit dem ästhetischen ihr moralisches Gefühl beleidigt worden sei, vermerkten andere, zu differenzierenden Erwägungen keineswegs bereit, durchaus entschiedener. Insofern mögen denn auch solche Besprechungen, die dem »Humoristischen« vorbehaltlos zustimmten und es im Sinne eines Erlaubnisscheines hervorhoben, als behutsamer Ausdruck doch eines gewissen moralideologischen Freisinns zu werten sein. 75 Jahrzehnte später, als die französische Ausgabe der ersten »Reisebilder« neu aufgelegt werden sollte und Heine eine Vorrede entwarf, kommandierte er seine Erinnerung wie folgt: »Aus der Studentenwelt sollte auch das Buch hervorgehn, welches den deutschen Geist aus seiner Schlafsucht weckte, Leben u Literatur wohlthätig erfrischte und der alten Apathie ein Ende machte; auch trug seine Sprache das Merkmal der burschikosen Oposizion gegen das Hergebrachte, gegen den Schlendrian, gegen das akademische Zopfthum, gegen das Philisterthum in allen seinen Erscheinungen. In dieser Beziehung ward es auch Prototyp einer Denk- und Schreibweise, die bey dem Autor erst einige Jahre später ganz zur Entwicklung kam und alsdann das sogenannte Junge Deutschland ins Leben rief. / Dieser Autor bin ich selbst und ich rede von den Reisebildern, die in der That wie ein Gewitter einschlug[en] in die Zeit der Fäulniß und Trauer.« 76 Und Heine traf damit eine Aussage, durch die er die unmittelbar zeitgenössische Wirkung zumindest des Bandes von 1826 doch stark stilisierte. (Wobei auch mitzudenken ist, daß trotz des vernehmlichen literaturkritischen Echos der buchhändlerische Erfolg sich sehr in Grenzen hielt.) De facto war der Effekt, den der Band machte, vor allem wohl derjenige eines als »pikant« befundenen literarischen Phänomens, das seinem Autor einen sehr zwiespältigen Ruhm angedeihen ließ. Und dieser Autor selbst hatte ja nach Lage der Dinge auch kaum etwas anderes erhofft, als jedenfalls ein ihm förderliches 75 Vgl. vor allem die Rezension Rousseaus (Anni. 72). 76 Préface [Entwurf! (USA 14, S. 216f.).

Heine: Die Harzreise

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Aufsehen zu erregen - wenngleich der Wunsch, aufbrechend zu wirken, dem Text der »Harzreise« gewiß eingeschrieben ist. Am Ende aber mußte sich Heine gar ans eigentlich Inadäquate klammern - charakteristisch, daß er schließlich schon eine Rezension wie die von Immermann mit ziemlicher Freude und Genugtuung zur Kenntnis nahm: Aus London wandte er sich an Friedrich Merckel und bat ihn, geflissentlich doch Sorge zu tragen, daß diese Kritik »recht unter die Leute komme, etwa durch partiellen Abdruck an einem angemessenen Ort«77. Wer es nicht verschmähen konnte, auf die Werbewirkung einer solchen Kritik zu setzen, war denn auch nach wie vor in der Situation, sich eigentlich »an den eigenen Haaren«78 emporziehen zu müssen: Der erwirkte und so sehr zwiespältige Ruhm trug nicht; und indem er nur allzu viel von einem Ruch hatte, konnte ihm Heine auch entnehmen, daß gerade das Angepaßte der Schreibart keineswegs befriedigend verfing. Es stieß auf konventionelle Vorstellungen, von welchen aus der Text als kategorisch betrachtete schöne Literatur begutachtet wurde an ihnen gemessen, mußte dieses Angepaßte im Sinne eher eines Normwidrigen in Erscheinung treten und also der Ablehnung anheimfallen. Um so bewunderungswürdiger folglich, daß Heine unverdrossen blieb und daß er seine in den ersten »Reisebildern« exponierte »Denk- und Schreibweise« doch noch jahrelang in einem Deutschland weiterbildete, das ihr sich zu verweigern keineswegs nachließ. Dabei galt als unverzichtbar für Heine jene provozierend antilineare Textgestalt, die in dieser ihrer Eigenart jeglicher Borniertheit, jeder stumpfen Einsinnigkeit opponierte. Indessen, das Land, in dem die Heinesche Schreibart dann erst »ganz zur Entwicklung« gelangen konnte, lag ja nicht rechts vom Rheine; es hieß Frankreich. Die Conditio sine qua non lautete: Emigration.

77 Ileine an Friedrich Merckel, 1. Juni 1827 (USA 20, S. 290). 78 Heine an Johann Hermann Detmold, 28. Juli 1827 (USA 20, S. 294).