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German Pages 120 Year 2019
Katharina Tietze de Soto Deutsche Einwanderung in die chilenische Provinz Concepción 1870-1930
BERLINER LATEINAMERIKA-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Dietrich Briesemeister, Reinhard Liehr, Carlos Rincon, Renate Rott und Ursula Thiemer-Sachse Band 12
BERLINER LATEINAMERIKA-FORSCHUNGEN
Katharina Tietze de Soto
Deutsche Einwanderung in die chilenische Provinz Concepción 1870-1930
VERVUERT • FRANKFURT AM MAIN • 1999
Meinen Eltern gewidmet
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Tietze de Soto, Katharina: Deutsche Einwanderung in die chilenische Provinz Concepción 1870 - 1930 / Katharina Tietze de Soto. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Berliner Lateinamerika-Forschungen ; Bd. 12) ISBN 3 - 8 9 3 5 4 - 1 6 2 - 4
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
5
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung
7
2.
Deutschland als Auswanderungsland
11
2.1
Verlauf der Auswanderung
11
2.2
Gründe filr die Auswanderung
13
2.3
Lateinamerika als Zielraum der deutschen Überseeauswanderung
15
3.
Chile als Einwanderungsland
19
3.1
Staatlich geförderte Einwanderung
19
3.2
Chilenische Einwanderungsstatistik
22
4.
Deutsche Einwanderung in Chile
26
4.1
Einwanderung in die Provinzen Valdivia und Llanquihue sowie in die Araucania: Ländliche Siedlungskolonien
26
4.2
Einwanderung in die Städte Valparaiso, Santiago und Concepción: Handelskolonien
28
4.3
Verteilung der deutschen Einwanderer in den Provinzen des Landes
33
5.
Die Provinz Concepción als Einwanderungsgebiet
36
5.1
Wirtschaftliche Entwicklung der Provinz Concepción
36
5.2
Deutsche Einwanderung in die Provinz im Rahmen der europäischen Einwanderung
39
5.3
Kettenwanderung als besondere Form der Einwanderung
42
6.
Deutsche in der Provinz Concepción
50
6.1
Verteilung der Deutschen in der Provinz Concepción
53
6.2
Regionale Herkunft
54
6.2.1
Herkunftsgebiete der deutschen Einwanderer
55
6.2.2
Regionale Herkunft der Deutschstämmigen
58
6.3
Altersstruktur, Geschlecht, Zivilstand
59
6.4
Einwanderungsverlauf
62
6.5
"Staatsangehörigkeit"
65
6 7.
Deutsche und andere Europäer im Wirtschaftsleben der Provinz Concepción
68
Anteil der europäischen Einwanderer an der Entwicklung der regionalen Wirtschaft
68
7.1.1
Frühe industrielle Entwicklung: Mühlenbetriebe und Kohleminen
68
7.1.2
Gründung von Importhäusem
69
7.1
7.1.3 Einzelhandelsgeschäfte und Handwerksbetriebe
71
7.1.4
Kapitalstärke europäischer Unternehmen
72
7.1.5
Industrien
73
7.1.6
Banken
75
7.2
Deutsche im Wirtschaftsleben der Provinz
76
7.2.1
Deutsche Unternehmen
76
7.2.2
Berufsstruktur der Deutschen
87
8.
Deutsche Institutionen
91
8.1
Schule
91
8.2
Kirche
96
8.3
Vereine
102
8.4
Soziale Einrichtungen
105
8.5
Deutsch-Chilenischer Bund
106
9.
Schlußbetrachtung
HO
Quellenverzeichnis
114
1. Ungedruckte Quellen
114
2. Gedruckte Quellen
115
Literaturverzeichnis
117
7
1. Einleitung Diese Arbeit beschäftigt sich mit der deutschen Einwanderung in die chilenische Provinz Concepción. Im engeren geht es dabei um die Herausbildung der deutschen "Kolonie", ihre Zusammensetzung, dem Anteil an der Wirtschaft der Provinz sowie die diversen deutschen Institutionen, denen bei der Aufrechterhaltung einer deutschen Identität eine zentrale Rolle zukam. Als Beginn des Untersuchungszeitraums wurde 1870 gewählt. Bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten hatten sich vereinzelt Deutsche in der Provinz niedergelassen, doch waren die 1870er Jahre das Jahrzehnt, in dem sich eine deutsche Kolonie in Concepción herauszubilden begann. Dies läßt sich sowohl an einem stetigen Anstieg der Einwandererzahlen als auch an den ersten Vereinsgründungen in jenem Jahrzehnt erkennen, die auf die Entstehung einer Kolonie mit eigener Identität hinweisen. Als Endpunkt wurde 1930 gewählt. Dieser Zeitpunkt fällt mit der Weltwirtschaftskrise zusammen, die auch Auswirkungen auf die enge wirtschaftliche Verbindung der Deutschen zum Mutterland hatte. Einwanderer aus Österreich oder der deutschsprachigen Schweiz werden hier nicht untersucht - auch wenn sie sich selbst zur Kolonie zählten. Wie aus den Zensen hervorgeht, ließen sich - im Gegensatz zu anderen Regionen Chiles auch nur sehr wenige von ihnen in der Provinz Concepción nieder. Die deutsche Einwanderung in den begrenzten Raum der Provinz Concepción kann nicht losgelöst betrachtet werden von den allgemeinen Wanderungsbewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert und den Gründen, die dazu führten. Im zweiten Kapitel werden daher die Gründe und der Verlauf der Auswanderung aus Deutschland dargestellt wie auch die Rolle Chiles als Aufnahmeland für deutsche Auswanderer untersucht. Durch diese Ausführungen kann die Auswanderung nach Chile allgemein wie auch diejenige nach Concepción im speziellen in einen breiteren Referenzrahmen eingeordnet werden. Während in diesem zweiten Kapitel also die Auswanderung im Vordergrund steht, wird im dritten Kapitel ein Perspektivenwechsel vorgenommen insofern, als Chile im Hinblick auf seine Attraktivität als Einwanderungsland untersucht wird. Die deutsche Einwanderung nach Chile folgt allerdings nicht einem einheitlichen Muster, sondern stellt sich regional und funktional unterschiedlich dar. Um die Einwanderung in die Provinz Concepción in ihrem Typus näher zu charakterisieren, wird daher im vierten Kapitel ein Vergleich der hauptsächlichen Einwanderungsformen nach Regionen und Funktionen der Einwanderung vorgenommen. Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz Concepción seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die eng mit der europäischen Einwanderung in die Provinz verbunden ist.
8 Im sechsten Kapitel wird eine Charakterisierung der deutschen Kolonie hinsichtlich ihrer Zusammensetzung vorgenommen. Dabei geht es unter anderem um den Verlauf der Einwanderung in die Provinz, die regionale Herkunft der Einwanderer, ihre Verteilung innerhalb der Provinz sowie um das "Alter" der Kolonie. Im siebten Kapitel wird der Anteil der Deutschen und der anderen europäischen Nationen an der wirtschaftlichen Entwicklung der Provinz, insbesondere im Hinblick auf den Handel, aber auch auf die Industrie untersucht. Das achte Kapitel ist den verschiedenen deutschen Institutionen wie Schule, Kirche, Vereinen und sozialen Einrichtungen gewidmet, die von den Deutschen gegründet wurden und denen bei der Aufrechterhaltung der kulturellen Identität eine zentrale Rolle zukam. In der Schlußbetrachtung wird unter übergeordneten Gesichtspunkten auf die Rolle der deutschen wie auch der anderen europäischen Kolonien für die Entwicklung der chilenischen Gesellschaft eingegangen, verbunden mit Überlegungen zur weiteren Entwicklung der Kolonie. Der Forschungsstand über Deutsche in Chile kann auf der Grundlage zweier 1974 erschienener Werke als relativ gut bezeichnet werden. Es handelt sich um Jean Pierre Blancpains Les allemands au Chili (1816-1945) und George F.W. Youngs Germans in Chile: Immigration and Colonization, 1849-1914, wobei Blancpains Werk die detailliertere Darstellung liefert. Über zwei Jahrzehnte hinweg blieb dieses Werk die umfassendste Darstellung nicht nur der deutschen Einwanderung nach Chile, sondern überhaupt der deutschen Einwanderung in ein lateinamerikanisches Land. Eine äquivalente Darstellung der deutschen Einwanderung in ein anderes lateinamerikanisches Land existiert nur und auch erst seit neuestem für Argentinien mit Anne Saint Sauveur-Henns 1995 erschienenem Werk Un siècle d'immigration allemande à l'Argentine. Für Brasilien fehlt bislang eine entsprechend ausführliche Darstellung. Blancpains Werk ist umfassend angelegt, enthält eine sehr reichhaltige Bibliographie sowie einen ausführlichen Quellenanhang. Allerdings liegt sein Schwerpunkt eindeutig auf der Darstellung der Einwanderung in die Provinzen Valdivia und Llanquihue seit dem Ende der 1840er Jahre. Die Beschreibung der Einwanderung in die wirtschaftlichen Zentren des Landes beschränkt sich im wesentlichen auf Valparaiso. Zu Santiago bietet das Werk recht wenig, zu Concepción so gut wie gar nichts: Einige deutsche Institutionen wie Schule, Kirche und Krankenhaus werden eher beiläufig erwähnt, ansonsten gibt es keine Ausführungen über diejenigen Deutschen, die sich in Concepción niedergelassen haben. Auch bei Young finden sich diesbezüglich keine Betrachtungen. Eine eigene Darstellung der deutschen Kolonie von Concepción ist lediglich in der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Deutschen Schule von 1938 enthalten. Diese beschränkt sich allerdings - neben einer ausführlichen Schulchro-
9 nik - auf die Darstellung der deutschen Vereine und sonstigen Institutionen und erhebt nicht den Anspruch einer historisch-kritischen Darstellung. Insofern wird mit der vorliegenden Arbeit erstmals der Versuch unternommen, die Entstehung und Entwicklung der deutschen Kolonie in Concepción nachzuzeichnen. Der Forschungsstand nimmt sich auch in Bezug auf die Einwanderung der übrigen europäischen Nationen in die Provinz Concepción recht bescheiden aus. Einzig die Einwanderung von Italienern ist 1989 im Rahmen einer Dissertation von Leonardo Mazzei de Grazia unter dem Titel Inmigración italiana a la provincia de Concepción, 1880-1930 untersucht worden. Nicht nur hinsichtlich der europäischen Einwanderung liegen über die Provinz Concepción kaum Forschungsergebnisse vor, vielmehr ist die Provinz insgesamt auch hinsichtlich anderer Fragestellungen bislang noch relativ wenig zum Gegenstand von Regionalstudien gemacht worden. Dementsprechend beruhen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung im wesentlichen auf Quellen, die im Rahmen dieser Arbeit erstmals ausgewertet wurden. Dabei sind zwei Hauptquellen zu nennen: - Zum einen handelt es sich um die Matrikelbücher des Deutschen Konsulats von Concepción, die sich seit der 1993 erfolgten Schließung des Konsulats von Concepción in der Konsularabteilung der Deutschen Botschaft in Santiago befinden. - Zum anderen handelt es sich um die auf die Provinz Concepción bezogene Erhebung des Deutsch-Chilenischen Bundes, die im Rahmen der entsprechenden Gesamterhebung für ganz Chile, Zählung der in Chile ansässigen Deutschen und Deutschstämmigen, 1916/17 durchgeführt wurde. Dieses nur einmal im Original existierende Dokument wurde freundlicherweise aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt. Es befindet sich heute im Archiv des DeutschChilenischen Bundes in Santiago. Des weiteren wurde zurückgegriffen auf: - Jahr- und Adreßbücher der in Chile ansässigen Deutschen, - die chilenischen Zensen, die in Abständen von etwa zehn Jahren erhoben wurden, - die Akten der deutsch-evangelischen Kirchengemeinde in Concepción, sowohl diejenigen, die sich im Kirchenarchiv in Concepción selbst befinden, als auch diejenigen, die im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin aufbewahrt sind, - sowie die Jahresberichte des deutschen Konsuls von Concepción, soweit sie im Bundesarchiv Potsdam vorhanden sind.
10 Auch konnten aus Privatbesitz freundlicherweise bereitgestellte Aufzeichnungen eingearbeitet werden. Dabei handelt es sich zum einen um ein 60-seitiges Briefdokument, das die Lebensbeschreibung des Unternehmers Moritz Gleisner zum Inhalt hat, zum anderen um die Chronik der Familie Junge. Mit Ausnahme der Akten der Kirchengemeinde Concepción, auf denen die Darstellung des entsprechenden Abschnitts in Fritz Mybes' Buch Die Geschichte der aus der deutschen Einwanderung entstandenen lutherischen Kirchen in Chile: Von den Anfängen bis 1975 basiert, sind alle anderen Quellen in dieser Arbeit erstmalig ausgewertet worden.
11
2. Deutschland als Auswanderungsland Die deutsche Auswanderung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war Teil der europäischen Auswanderungsbewegung. Bis 1890 wanderten vor allem Menschen aus dem nördlichen Europa aus, d.h. aus Irland, Großbritannien, Deutschland und Skandinavien. Nach 1890 hingegen stellten Auswanderer aus süd- und osteuropäischen Ländern, vor allem Spanien, Portugal, Italien sowie aus österreich-Ungarn und Rußland den Hauptanteil (Bade 1984: 270). Insgesamt verließen in dem Zeitraum von 1824 - 1924 etwa 52 Millionen Europäer ihre Heimat. Davon zog es fast drei Viertel (72%) in die U.S.A., 7% nach Australien und etwa ein Fünftel (21%) nach Lateinamerika (Mörner/Sims 1985: 47). Von den 52 Millionen europäischen Auswanderern waren etwa 6,5 Millionen Deutsche, von denen es mit 5,9 Millionen rund 90% in die U.S.A. zog (siehe Abbildung 1). Weitere wichtige Aufnahmeländer waren Kanada, Australien, Brasilien und Argentinien. Die Zahl derjenigen Deutschen, die sich in Chile niederließen, war vergleichsweise gering.
2.1 Verlauf der Auswanderung Die ersten kleineren Auswanderungswellen nach Übersee gab es bereits im 18. Jahrhundert, wobei die Auswanderer vor allem aus dem südwestdeutschen Raum kamen (Marschalck 1973: 30ff.). Erst seit den 1830er Jahren ist ein Anwachsen der Überseewanderung zu verzeichnen. Abbildung 1 gibt eine Übersicht über den Gesamtverlauf der deutschen Überseeauswanderung seit diesem Zeitpunkt bis zum Jahr 1932. In diesem hundertjährigen Zeitraum können mit Bade vier größere Auswanderungswellen unterschieden werden: 1846-1857, 1864-1873, 1880-1893 und 1923. Der Gipfel der ersten großen Auswanderungswelle von 1846-1857 lag im Jahr 1854 mit 239.200 Auswanderern. 1 Dies war nicht nur der Höhepunkt dieser ersten großen Welle, sondern zugleich auch der absolute Jahreshöhepunkt des gesamten Untersuchungszeitraums. Allerdings sind die Spitzenwerte für einzelne Jahre nur bedingt aussagekräftig, wenn es darum geht, die gesamte Stärke der jeweiligen Wellen zu kennzeichnen. Betrachtet man die jeweils zu einer Auswanderungwelle gehörenden Jahre im Zusammenhang, dann ergibt sich folgendes Bild: Als stärkste Auswanderungswelle kann die dritte Welle bezeichnet werden. In den 14 Jahren von 1880-1893 verließen 1.824.700 Menschen Deutschland. In der ersten Welle waren es 1.267.500 Menschen, in der zweiten Zahlenangaben für die einzelnen Jahre bei Marschalck (1973: 35ff.).
12 A b b i l d u n g 1: V e r l a u f d e r d e u t s c h e n Ù b e r s e e a u s w a n d e r u n g 1830-1932
1846-57 240 000
1864-73
1880-93
i
1923 -
200000
150 000
ìi
100 000
50000 30 000 10 000 0 1830
Quelle:
'40
1
li 1 —r t
'50
Bade (1984:264).
'60
'70
'80
r '90
1830
10
'20
1830
13 Welle waren es 1.088.000. Gegenüber diesen Zahlen fällt die letzte Welle im Jahr 1923 mit insgesamt 115.000 Auswanderern geradezu gering aus. Welchen Anteil Chile und andere lateinamerikanische Länder an den jeweiligen Auswanderungswellen hatten, wird im dritten Teil dieses Kapitels näher beschrieben werden.
2.2 Gründe für die Auswanderung Menschen, die Deutschland verließen, um in ein anderes Land einzuwandern, taten dies aus unterschiedlichen Gründen. Im wesentlichen können vier Auswanderungsgründe unterschieden werden (Marschalck 1973: 53, 71): -
religiöse Unterdrückung, politische Unterdrückung, soziale Mißstände, wirtschaftlich-spekulative Motive.
Die Zahl der religiös bedingten Auswanderungen blieb - vor allem in Bezug auf Übersee - gering und spielt im Hinblick auf Chile keine Rolle (Marschalck 1973: 30, 56ff.). Unter den politisch motivierten Auswanderern fanden sich vor allem Angehörige "intellektueller" Berufe. Die meisten derjenigen Auswanderer, die Deutschland aus politischen Motiven verließen, taten dies im Gefolge der 1848er Revolutionsereignisse. Insgesamt machten sie jedoch nicht mehr als einige tausend aus (Marschalck 1973: 58). Einige von ihnen finden sich unter den Einwanderern, die nach 1848 in den Süden Chiles gelangten. Der dritte Auswanderertypus war derjenige, der seine Heimat aus wirtschaftlich-sozialen Motiven verließ. Er stellte das Gros aller deutschen Auswanderer dar - auch derjenigen, die zur Zeit der ersten Auswanderungswelle in den chilenischen Süden sowie zur Zeit der dritten Auswanderungswelle in das Gebiet der Araucania 2 einwanderten. Diese Auswanderer rekrutierten sich vor allem aus kleinbäuerlichen Schichten, Tagelöhnern, Kleingewerbetreibenden und Handwerkern. Es waren Menschen, die aufgrund des Anwachsens der Bevölkerung und der dadurch verursachten relativen Übervölkerung, d.h. einem "Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Nahrungsspielraum" (Marschalck 1973: 60) verarmt waren. 3 Sie sahen sich in ih2
3
Die Araucania, auch Frontera genannt, umfaßt das Gebiet südlich des Flusses Bio Bio und nördlich des Flusses Tolten. Hierzu siehe Kapitel 4.1. Das Bevölkerungswachstum kam dadurch zustande, daß die Sterbeziffern sanken, während die Geburtenrate - zunächst - unvermindert hoch blieb. Dieser Prozeß vollzog
14 rer ökonomischen Existenzgrundlage und in ihrem sozialen Status gefährdet bzw. unmittelbar von Armut und Elend bedroht. Die Attraktivität überseeischer Einwanderungsgebiete und die damit verbundene Perspektive auf neue Lebenschancen gaben dann den Anlaß, ihre Heimat zu verlassen. 4 Mit der in den 1890er Jahren einsetzenden Phase der industriellen Hochkonjunktur und dem dadurch stark gestiegenen Angebot auf dem deutschen Arbeitsmarkt flaute auch die überseeische Massenauswanderung ab. Die jährliche Auswanderung aus Deutschland pendelte sich aufgrund dieser Entwicklung bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges auf jährlich 20.000 bis 30.000 Auswanderer ein - Auswanderer, die im Regelfall aus anderen Gründen als existenzieller Not ihre Heimat verließen (Bade 1984: 284ff.). Die Auswanderungskurve schnellte noch einmal in die Höhe, als 1923 mehr als 110.000 Menschen Deutschland verließen. Die Gründe hierfür sind in erster Linie in den besonderen Krisenphänomenen des Jahres 1923 zu sehen, vor allem der Inflation und der Ruhrkrise, die die wirtschaftlichen Lebensbedingungen in Deutschland erschwerten. Gemeinsam war den religiös, politisch und wirtschaftlich-sozial motivierten Auswanderern, daß die von der Heimat abstoßenden Kräfte (Push-Faktoren) ausschlaggebend waren für den Entschluß auszuwandern. Anders verhielt es sich hingegen mit jener vierten Gruppe von Auswanderern, die es aus wirtschaftlichspekulativen Gründen nach Übersee zog. Hier war die Anziehungskraft des Ziellandes ausschlaggebend (Pull-Faktor) (Marschalck 1973: 71). Dieser Auswanderertypus wurde angezogen von der Hoffnung auf einen größeren Gewinn, ohne in der Heimat irgendeinem Druck ausgesetzt gewesen zu sein. Hierzu müssen vor allem Kaufleute gezählt werden, die in Übersee Niederlassungen gründeten und Handel trieben, aber auch Abenteurer wie beispielsweise Goldsucher in Kalifornien und anderen Teilen der Erde. Zahlenmäßig waren die Auswanderungen aus spekulativen Gründen gering. Erst gegen Ende des Jahrhunderts erhöhte sich ihr Anteil (Marschalck 1973: 59f.). Diesem Auswanderertypus ist, wie im folgenden zu zeigen sein wird, der überwiegende Teil derjenigen Deutschen zuzuordnen, die sich in der Provinz Concepción, vor allem der Stadt Concepción sowie in Valparaiso und Santiago niederließen. sich in ganz Europa, ausgehend von Großbritannien und Irland, w o es allein in den Jahren 1821-1830 ein Bevölkerungswachstum von jährlich 1,37% gab, hin zu den südund osteuropäischen Ländern. Die europäische Bevölkerung wuchs von rund 187 Millionen im Jahr 1800 auf 266 Millionen im Jahr 1850 und auf 401 Millionen im Jahr 1900. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam diese Bevölkerungsexplosion zum Stillstand (Mörner, Sims 1985: 35). 4
Insofern wird man Bade zustimmen können, wenn er in den Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts "deutliche Züge eines partiellen Exports der Sozialen Frage" sieht (Bade 1984: 268).
15
2.3 Lateinamerika als Zielraum der deutschen Überseeauswanderung Nach Lateinamerika zog es im Zeitraum von 1820-1930 insgesamt etwa 5% der deutschen Auswanderer (Bernecker, Fischer 1992: 197f.). Zahlenmäßig war der deutsche Auswandererstrom nach Lateinamerika somit gering, sowohl gemessen an der deutschen Auswanderung, als auch gemessen an der Zahl europäischer Einwanderer, die Lateinamerika aufnahm: Von den rund 11 Millionen Europäern, die zwischen 1824 und 1924 nach Lateinamerika auswanderten, stammten nur 3% aus Deutschland. Das Gros kam aus Italien (38%), Spanien (28%) und Portugal (11%) (Mömer, Sims: 1985: 36). In der folgenden Tabelle ist auf der Grundlage der deutschen Auswanderungsstatistik die Auswanderung der Jahre 1846 bis 1931, gegliedert nach den Zielgebieten Brasilien, Argentinien und Chile, den drei großen lateinamerikanischen Aufnahmeländern deutscher Auswanderer, dargestellt. Ebenfalls enthält die Tabelle die Auswanderung nach Lateinamerika insgesamt. 5 Betrachtet man die Auswanderungen nach Lateinamerika, so machten diese im Zeitraum bis 1895, dem Endpunkt der großen Auswanderungswellen, maximal 7,8% in einem Fünfjahresabschnitt (1875-1879) aus. Im Regelfall bewegte sich ihr Anteil eher um 3-4%. Der relative Anteil an der Auswanderung nach Lateinamerika stieg erst mit dem Absinken der Auswanderungszahlen zum Ende des 19. Jahrhunderts bzw. in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und erreichte sein Maximum in den 1920er Jahren: In dem Jahrfünft 1920-1924 zog es 36,5% aller deutschen Auswanderer nach Lateinamerika. Zu diesem starken Anstieg in der ersten Hälfte der 1920er Jahre dürften einerseits die Einwanderungsbeschränkungen der U.S.A. beigetragen haben (Bade 1984: 273), andererseits aber auch das starke Wirtschaftswachstum besonders in Argentinien und Brasilien. Eine weitere Rolle dürfte gespielt haben, daß die Einwanderung letztlich eher problemlos erfolgen konnte, denn den auch in Südamerika relativ strengen Einwanderungsgesetzen stand eine de facto großzügige Anwendung gegenüber (Bernekker, Fischer 1992: 198).
Die Auswanderung nach Zentralamerika und in den Norden Südamerikas war zahlenmäßig insgesamt unbedeutend. Lediglich in den 1920er Jahren stieg die Zahl deutscher Einwanderer in Mexiko und Zentralamerika leicht an. Auch Uruguay hatte in den 1920er Jahren einen Anstieg der deutschen Einwanderung zu verzeichnen (Kellenbenz, Schneider 1976: 400). Zur Darstellung der deutschen Einwanderung in die einzelnen lateinamerikanischen Länder siehe die entsprechenden Länderbeiträge in Fröschle (1979).
16
Tabelle 1: Deutsche Auswanderung in den Jahren 1846 bis 1931 nach Brasilien, Argentinien und Chile sowie nach Lateinamerika insgesamt auf der Grundlage der deutschen Auswanderungsstatistik u «
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17 Insgesamt kamen in den Krisenjahren der Nachkriegszeit - der vierten großen Auswanderungswelle in unserem Untersuchungszeitraum - über 86.000 Deutsche nach Lateinamerika. Auch in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre besaßen die lateinamerikanischen Staaten noch eine beträchtliche Anziehungskraft. Die deutsche Auswanderung nach Lateinamerika wich somit stark vom allgemeinen Verlauf der deutschen Auswanderung ab: Sie begann mit einem starken Gesamtanteil in den 1820er Jahren 6 , fand aber nur einen geringen Niederschlag während der drei großen Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts, stieg vor dem Ersten Weltkrieg bei sinkender deutscher Gesamtauswanderung an und war durch einen enormen Anstieg auf über ein Drittel der Gesamtauswanderung in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg gekennzeichnet. Die Anteile, die Brasilien, Argentinien und Chile - Länder, von denen staatlicherseits zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine Anwerbung von europäischen Einwanderern ausging - in den jeweiligen Jahren an der Aufnahme deutscher Einwanderer hatten, waren wiederum sehr unterschiedlich. Brasilien war, wie bereits beschrieben (siehe Fußnote 7), in den 1820er Jahren einer der bedeutendsten Zielräume für deutsche Auswanderer. Das Land zog im 19. Jahrhundert den Hauptteil der Lateinamerika-Auswanderung auf sich und war auch in den 1920er Jahren sehr attraktiv für deutsche Auswanderer. 7 Argentinien wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts für eine größere Zahl von deutschen Auswanderern interessant. In den 1880er Jahren zog es mehrere tausend deutscher Einwanderer an, ähnlich wie auch später in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Zur Zeit des Lateinamerikabooms der deutschen Auswanderung in den 1920er Jahren war Argentinien nach Brasilien das Land Lateinamerikas, das die größte Zahl deutscher Einwanderer aufnahm: Im Zeitraum 1920-1924 zog Argentinien mit über 25.000 Personen 10,6% der Gesamtauswanderung aus Deutschland auf sich. Chile wurde schon am Ende der 1840er Jahre und damit noch vor Argentinien zum Aufnahmeland für deutsche Auswanderer. Bis zum Ende der 1850er Jahre wanderten über 3.300 staatlicherseits angeworbene deutsche Einwanderer dorthin aus und auch in den folgenden Jahrzehnten, besonders in den 1880er Jahren, wurde Chile das Ziel mehrerer tausend deutscher Auswanderer. Für die Jahrzehnte nach 1894 macht die deutsche Auswanderungsstatistik leider keine bzw. unglaubwürdig erscheinende Angaben: Für die Jahre 1895-1899 und 1905-1909 gibt die deutsche Auswanderungsstatistik Kellenbenz und Schneider (1976) zu6
Die deutsche Einwanderung nach Brasilien konkurrierte in den 1820er Jahren sogar mit derjenigen in die U.S.A.: In den 1820er Jahren zog es 7.000 Deutsche nach Brasilien, während im gleichen Zeitraum 7.700 Deutsche in die U.S.A. auswanderten (Marschalck 1973: 50).
7
Bis 1870 waren die Deutschen in Brasilien mit 13,5% nach den Portugiesen (42%) die zweitwichtigste Einwanderergruppe (Kellenbenz, Schneider 1976: 388).
18
folge keine Auskunft über Chile. Für die Jahre 1900-1904 weist sie lediglich 22 Auswanderer aus, für die Jahre 1910-1914 gar keine. Daß in diesen Jahren tatsächlich so wenige bzw. gar keine Deutschen nach Chile einwanderten, ist ausgeschlossen. 8 Der chilenische Zensus von 1907 hingegen ergibt für die Jahre 1895-1907 einen Zuwachs von über 3100 deutschen Einwanderern. 9 Für die 1920er Jahre weist die deutsche Auswanderungsstatistik knapp 500
Chile-
Auswanderer aus; der chilenische Zensus von 1930 hingegen verzeichnet gegenüber dem Zensus von 1920 einen Zuwachs von über 1.900 deutschen Einwanderern. Insgesamt muß die Zahl der deutschen Chile-Auswanderer in dem über hundertjährigen Zeitraum von der Unabhängigkeit Chiles bis 1930 deutlich weniger als 20.000 Personen betragen haben. 10
8
Zur Problematik bzw. Unzulänglichkeit der deutschen Auswanderungsstatistik im einzelnen siehe Kellenbenz und Schneider (1976: 389ff.). Der Zählung des DeutschChilenischen Bundes zufolge lebten 1917 allein in der Provinz Concepción 27 Deutsche (aller Altersstufen), die in den Jahren 1900-1904 nach Chile eingewandert waren, sowie 156 Deutsche, die 1910-1914 eingewandert waren (siehe hierzu Kapitel 6.3). Auch die beiden Standardwerke über deutsche Einwanderung nach Chile bieten zu dieser Frage keine überzeugenden Antworten: Bei Blancpain (1974) finden sich gar keine kontinuierlichen Angaben für die Zeit nach 1875, Young (1974: 14) kommt aufgrund der Angaben der "Memoria de la Inspección Jeneral de Colonización e Inmigración" (1909-1913) für die Jahre 1905-1913 auf 419 deutsche Einwanderer.
9
Zu den chilenischen Zensusdaten bezüglich deutscher Einwanderer vgl. Kapitel 4.3. Vgl. in Kapitel 4.3 die chilenischen Volkszählungen der Jahre 1854 - 1930. Die Frage der Rückwanderungen von nach Chile eingewanderten Deutschen muß hier unberücksichtigt bleiben, da es keine diesbezüglichen Untersuchungen gibt. Es läßt sich allerdings festhalten, daß die Rückwanderungsrate bei nach Lateinamerika ausgewanderten Europäern insgesamt mit fast 50% sehr hoch war, während sie für die U.S.A. nur etwa ein Drittel betrug (Mörner, Sims 1985: 67f.).
10
19
3. Chile als Einwanderungsland Chile zog in dem über hundertjährigen Zeitraum von der Unabhängigkeit bis 1930 insgesamt mehrere zehntausend europäische Einwanderer an. Ein Teil von ihnen wurde in Europa von "Kolonisationsagenten", die im Auftrag der chilenischen Regierung tätig waren, angeworben, andere, darunter viele Kaufleute, wanderten "frei" ein, d.h. angezogen von den wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich ihnen in Chile boten. In den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit waren es in der Regel Geschäftsleute, die nach Chile kamen. Vor allem englische und deutsche Kaufleute ließen sich seit den 1820er Jahren in Valparaiso, der wichtigsten Hafenstadt Chiles, nieder. Doch auch Angehörige anderer europäischer Nationen sowie U.S.-Amerikaner gelangten in die wirtschaftlichen Zentren des Landes, wo sie neben dem Handel auch am Salpeter- und Kupferabbau beteiligt waren. Auch wurden Ausländer in das Land gerufen, um an der Organisation des Erziehungswesens und dem Ausbau des Militärwesens mitzuwirken (Deutsche), oder öffentliche Bauten und andere Infrastrukturprojekte mitzugestalten (vor allem U.S.-Amerikaner). Franzosen kamen als Künstler, Architekten und Weinbauspezialisten, Italiener wurden mit der Organisation kultureller Einrichtungen wie dem Teatro Municipal und der Academia de Bellas Artes betraut (Vial 1981: 720).
3.1 Staatlich geforderte Einwanderung Schon wenige Jahre nach der Unabhängigkeit machte sich die chilenische Regierung Gedanken darüber, wie man Einwanderer aus Europa in das dünn besiedelte Chile holen und dadurch zu seiner wirtschaftlichen Entwicklung beitragen könnte. Ein erstes Gesetz zur Förderung der Einwanderung wurde 1824 erlassen. Darin wurde jedem Ausländer, der in Chile "fábricas de cáñamo, lino, cobre i otros objetos de industria nacional sobre las primeras materias [sie] que produce el país"11 einzurichten beabsichtigte, eine Reihe von Privilegien gewährt. Auch wurde Ausländern, die sich in Chile niederlassen wollten, um sich landwirtschaftlich zu betätigen, Land zur Verfügung gestellt und anfängliche Steuerfreiheit gewährt. Da mit diesem Gesetz jedoch keine konkreten Maßnahmen zur Anwerbung von Einwanderern verbunden waren, blieb es letztlich bedeutungslos.
11
Norambuena Carrasco und Bravo Acevedo (1990: 102ff.) geben im Anhang ihres Artikels die wichtigsten Gesetze der chilenischen Regierung bezüglich der Einwanderung wieder.
20 In den 1840er Jahren trat die Einwanderungsfrage erneut in den Vordergrund und führte zu dem 1845 erlassenen Gesetz, das die Grundlage für die Besiedlung des chilenischen Südens mit deutschen Einwanderern bildete. Dieses Gesetz sollte vor allem die Besiedlung der von Indianern bewohnten und meist sehr dünn besiedelten Gebiete des Nordens und des Südens des Landes anregen. Danach wurde einer Siedlerfamilie, die beabsichtigte, sich in den mit Ausnahme der Enklaven Valdivia und Chiloe von Mapucheindianem besiedelten Gebieten südlich des Flusses Bio Bio niederzulassen, 25 "cuadras" 12 Land zur Verfügung gestellt, zusätzlich 12 "cuadras" für jeden mindestens zehnjährigen Sohn. Außerdem wurde den Kolonisten für die ersten zwanzig Jahre Steuerfreiheit gewährt (Norambuena Carrasco/Bravo Acevedo 1990: 103f.). Angeworben durch einen von der chilenischen Regierung daflir bestellten "Kolonisationsagenten" gelangten in den Jahren nach 1848 rund 3.300 deutsche Einwanderer in die Provinzen Valdivia und Llanquihue, die zum Kolonisationsgebiet erklärt worden waren (siehe Kapitel 4.1). Nach Jahrzehnten, in denen die Frage der Einwanderung keine Rolle spielte, gelangte sie in den 1880er Jahren wieder auf die politische Tagesordnung, womit die zweite Phase staatlich geförderter Einwanderung eingeläutet wurde. Im Oktober 1882 wurde von der chilenischen Regierung die Agencia General de Colonización ins Leben gerufen. Sie war eine Vertretung Chiles in Europa, die in den einzelnen Ländern Propaganda für die Auswanderung nach Chile machen und Einwanderer rekrutieren sollte. Ihr Hauptsitz war anfangs in Paris, später in Bordeaux; hinzu kamen eine Reihe lokaler Vertretungen in Großbritannien, Belgien, Deutschland, Italien, der Schweiz, Holland und Spanien (Vega 1896: 36). Zeitlich fiel die Schaffung der Agencia mit der "pacificación" der Araucania, dem Gebiet zwischen den Flüssen Bio Bio und Toltén zusammen, das bis dahin von den Mapucheindianem hatte verteidigt werden können. Nachdem dieses Gebiet nun dem chilenischen Staat einverleibt worden war, sollte es auch besiedelt und wirtschaftlich, vor allem auch landwirtschaftlich nutzbar gemacht werden. Diesem Zweck schien neben der Ansiedlung von Chilenen auch diejenige von Europäern dienlich zu sein, zumal letztere den Ruf hatten, besonders fleißig und gut ausgebildet zu sein (Stabiii 1986: 188). Im Unterschied zur deutschen Einwanderung in die Provinzen Valdivia und Llanquihue sollte die Araucania somit von verschiedenen Nationen besiedelt werden. 13 12
Eine "cuadra" umfaßt 125 m 2 .
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Diese Frage spielte in der Diskussion um Einwanderung eine wichtige Rolle: Der Effekt des "sur alemán" sollte vermieden werden, empfand man doch die geringe Assimilierung und das Aufrechterhalten des "Deutschtums" im Süden teilweise auch als bedenklich im Sinne eines Staates im Staat. Auch Nicolás Vega, der von der chilenischen Regierung bestellte "agente de colonización", legte ausführlich die Vorteile einer national gemischten Einwanderung dar, allen voran "la rápida eliminación del carácter extranjero de la población y, por tanto, en nuestro caso, la CHILENIZACIÓN
21 Die Erneuerung der Einwanderungspolitik entsprach jedoch auch allgemein dem Bedürfnis, die industrielle Entwicklung des Landes durch den Zuzug von Fachkräften anzutreiben. In diesem Zusammenhang beauftragte die chilenische Regierung 1884 die im Jahr zuvor gegründete Sociedad de Fomento Fabril (SOFOFA), eine Einrichtung zur industriellen Entwicklung Chiles, damit, der Agencia in Europa diejenigen industriellen Bereiche anzuzeigen, denen eine Zufuhr von Fachkräften für ihre Entwicklung besonders zugute käme, um gezielter entsprechende Einwanderer anwerben zu können (Stabiii 1986: 191).14 Alle von der Agencia vermittelten Einwanderer genossen Vergünstigungen bezüglich der Reisekosten. Denjenigen Einwanderern, die in die neugegründeten Kolonien der Araucania gelangten, um dort Landwirtschaft zu betreiben, wurde Land zugeteilt und für den Anfang Saatgut und Vieh zur Verfügung gestellt. Detaillierte Ergebnisse der Arbeit der Agencia legte Nicolás Vega, der 1893 zum "Kolonisationsagenten" berufen worden war und der Agencia in Paris vorstand, in seiner "Memoria sintética de las operaciones de la Agencia General de la Colonización de Chile en Europa desde su creación en 1882 hasta 1894 inclusive" dar. Demzufolge wurden in dem Zeitraum von 1882-1894 von der Agencia 31.139 europäische Einwanderer angeworben. 15 Die Zahl der "inmigrantes industriales" machte dabei mit 24.782 das Gros der Einwanderer aus, während nur rund ein Fünftel, 6.357 Personen, als "colonos" kamen, d.h. als Siedler, die Land bewirtschafteten und auf die neu gegründeten Kolonien verteilt wurden (Vega 1896: 89). Auffällig ist dabei die Tatsache, daß Uber zwei Drittel dieser 31.000 europäischen Einwanderer in den Jahren 1889 und 1890 mit jährlich über 11.000 Personen kamen. Der jähe Abfall im Jahr 1891 auf 800 Einwanderer ist vor allem auf die in diesem Jahr herrschenden instabilen politischen Verhältnisse in Chile zurückzuführen. Doch auch sonst konnte die Agencia kaum mehr als 1300 Einwanderer jährlich anwerben. Dies stand allerdings auch im Zusammenhang mit den von der Regierung bereitgestellten Mitteln: Während in den Jahren 1889 und 1890 unter der Regierung Balmaceda jährlich Mittel von über 500.000 Pesos bereitgestellt wurden, waren es in den übrigen Jahren lediglich 60.000 Pesos (Vega 1896: 89). Die Erfolge der Agencia in den einzelnen europäischen Län-
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(Hervorhebung im Original) rápida de la población inmigrante: ventaja política ésta de la mayor importancia" (Vega 1896: 49; siehe auch Blancpain 1974: 470fF.). Eine Zusammenfassung der Einwanderungsdiskussion mit den Argumenten der exponiertesten Befürworter und Gegner bietet Stabiii (1986: 190ff.). "(La SOFOFA)... estaba convencida de que, para el establecimiento de nuevas fábricas y la perfección de las industrias existentes eran menester obreros inteligentes e instruidos. El trabajador chileno posee sin duda condiciones de primer orden de fuerza e inteligencia pero carece del aprendizaje técnico que ni se le ha enseñado ni ha tenido en donde recibir" (Sociedad de Fomento Fabril 1893, zit. nach Estrada, Salinas Meza 1987: 17). Bis 1898 erhöhte sich die Zahl auf 36.092 Personen (Briones Luco 1905: 487).
22 dem waren dabei sehr unterschiedlich. Bis 1894 wurden aus Spanien 9.717, aus Frankreich 7.457 und aus Italien 7.068 Einwanderer rekrutiert, womit die Arbeit der Agencia in diesen Ländern die größten Erfolge erzielt hatte. Auch aus der Schweiz konnte mit 2.991 Personen eine größere Gruppe von Einwanderern gewonnen werden. Aus Deutschland hingegen konnten nur 1.467 Einwanderer angeworben werden, obwohl die Agencia von Anfang an Vertretungen im Deutschen Reich besaß (Vega 1896: 54). 16 In den folgenden Jahren gelangten nur noch wenige hundert Europäer jährlich durch die Agencia nach Chile, bevor diese mit der Streichung der staatlichen Mittel 1904 geschlossen wurde (Norambuena Carrasco, Bravo Acevedo 1990: 98; Stabiii 1986: 192). Auch in der öffentlichen Diskussion trat die Einwanderungsfrage in Chile immer stärker in den Hintergrund. Die SOFOFA, in den 1880er und 1890er Jahren eine treibende Kraft im Hinblick auf europäische Einwanderung, bekundete in den 1910er Jahren nur noch wenig Interesse an Einwanderern, bevor sie in den 1920er Jahren zu dem Schluß kam, "el país no necesita la inmigración para el desarrollo de sus industrias"; "la llegada de obreros extranjeros aumenta la desocupación y produce trastornos sociales, en cuanto nuestros obreros rechazan al elemento extranjero que viene a disputarles el trabajo" (Boletín SOFOFA, No. 43, 1926, No. 44, 1928, zit. nach Stabiii 1986: 197).
3.2 Chilenische Einwanderungsstatistik Ein Überblick über die im Untersuchungszeitraum nach Chile eingewanderten Personen läßt sich anhand der Zensen gewinnen, die in Chile seit 1854 im Abstand von zehn bis dreizehn Jahren durchgeführt wurden. Die entsprechenden Ergebnisse sind in Tabelle 2 nach Herkunftsländern gegliedert zusammengefaßt. Das den Zensen zugrundeliegende Kriterium bei den "extranjeros" war dasjenige des Geburtsortes. Nur die im Ausland geborenen Personen wurden hier erfaßt, in Chile geborene Kinder von Einwanderern fielen nicht unter diese Kategorie. Die Zahl der in Chile lebenden Ausländer belief sich danach innerhalb des Untersuchungszeitraums auf maximal 135.000 Personen. Dabei ist zu beachten, daß es sich nicht nur um Einwanderer handelte: Die sehr hohen Anteile anderer Lateinamerikaner sind, abgesehen von einigen tausend Argentiniern, im wesentlichen auf mehrere zehntausend Bolivianer und Peruaner zurückzuführen, die in den ehemals peruanischen bzw. bolivianischen Provinzen Tarapacá, Arica, Tacna und Antofagasta lebten, welche seit 1883 in Folge des für Chile erfolg-
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Bis 1898 erhöhte sich der Anteil der angeworbenen Europäer auf insgesamt 36.092. von denen 2.041 Deutsche waren (Briones Luco 1905: 487; siehe auch Kapitel 4.1).
23 Tabelle 2: Einwanderer in Chile 1854-1930
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