Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht: Formen und Grenzen eines effektiven Gemeinschaftsrechtsvollzugs und Überlegungen zu seiner Effektuierung [1 ed.] 9783428490295, 9783428090297

Die steigende Zahl an Verstößen der Mitgliedstaaten gegen ihre gemeinschaftsrechtlichen Vollzugspflichten erfordert das

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German Pages 586 Year 1997

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Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht: Formen und Grenzen eines effektiven Gemeinschaftsrechtsvollzugs und Überlegungen zu seiner Effektuierung [1 ed.]
 9783428490295, 9783428090297

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WOLFGANG PÜHS

Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 39

Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht Formen und Grenzen eines effektiven Gemeinschaftsrechtsvollzugs und Überlegungen zu seiner Effektuierung

Von Wolfgang Pühs

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Pühs, Wolfgang: Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht : Formen und Grenzen eines effektiven Gemeinschaftsrechtsvollzugs und Überlegungen zu seiner Effektuierung / von Wolfgang Pühs. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum europäischen Recht; Bd. 39) Zug!.: Bayreuth, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-09029-2 brosch.

D703 Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-09029-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

9

Meinen Eltern

Daß der Weg der Gemeinschaft neu war, hat sie zu großen Leistungen gefiihrt. Aber eben darum verlangt er immer wieder das Denken des bisher nicht Gedachten, die Gewöhnung an das bisher nicht Gewohnte. Davon, ob das im Alltag der Dinge dauernd undfortschreitend gelingt, wird der Eifolg der Gemeinschaft, ja, so wird man sagen dürfen, die Einigung Europas abhängen. So steht es auch auf dem Gebiet des Rechts. Auch hier muß das Neue, das europäische Gemeinschaftsrecht einsichtig und vertraut gemacht werden; es muß sich mit den nationalen Rechten verknüpfen, sich rechtsvergleichend aus ihnen bereichern, sich begriffsbildend mit ihnen zu einem Gesamtsystem zusammenfiigen. Das zu erreichen, dazu müssen Rechtslehre und Rechtsprechung in allen Ländern der europäischen Gemeinschaft beitragen. (C. F. Ophüls, in: Jwi&w-Jahrbud11963/64, S. 162)

Vorwort Die vorliegende Monographie wurde im Somlnersemester 1996 von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation angenommen. Sie entstand weitgehend während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften von Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Schmitt Glaesero Die Arbeit wurde inhaltlich im Januar 1996 abgeschlossen. Neueste Rechtsetzung, Rechtsprechung und Literatur sind, soweit das möglich war, bis Ende Mai 1996 verarbeitet worden. Mein aufrichtiger Dank gilt zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Rudolf Streinz, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völker und Europarecht, für den Anstoß zur Beschäftigung mit der ausgewählten ThemensteIlung und für die kontinuierliche und nachhaltige Betreuung der entstehenden Dissertation. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Häberle, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Kirchenrecht, danke ich für die überaus zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie für die Förderung und die zahlreichen inhaltlichen Anregungen, die ich nicht nur als langjähriger Besucher seines Seminars erfahren habe. Schließlich möchte ich mich noch für viele inhaltliche und andere Hilfestellungen bedanken bei Herrn Regierungsdirektor Dr. Joachim Wuermeling, Herrn Rechtsreferendar Dr. Wolfgang Weiß, Herrn Rechtsreferendar Dr. Christoph ühler, LL.M., Herrn Wissenschaftlichen Assistenten Assessor Rolfdieter Bohm und Herrn Rechtsreferendar Claus Richter. Für die leidvollen, aber wichtigen Korrekturarbeiten habe ich herzlich zu danken Herrn Assessor Stefan Reichei, Frau Dipl.-Volkswirtin und Dipl.-Verwaltungswirtin (FH) Birgit Schmidt, Frau Rechtsreferendarin Katja Tovarek und besonders meinem Bruder Thomas. Für die große Unterstützung bei den Übersetzungsarbeiten möchte ich mich schließlich bei Frau Junior Researcher Marieke Lugt (Universiteit Utrecht) und bei Frau Glenice Brockmann aus Tecklenburg bedanken. Den Herausgebern, Herrn Prof. Dr. Dr. Detlef Merten und Herrn Prof. Dr. Siegfried Magiera, sei für die Aufnahme in die Reihe "Schriften zum Europäischen Recht" gedankt. Gerne danke ich auch der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München, für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, welches mich in die Lage versetzte, all die Freiheiten in Anspruch zu nehmen, die ich mir sonst während der Zeit der Promotion nicht hätte erlauben können.

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VOIWOrt

Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern, die mich auf meinem bisherigen Lebensweg stets mit Geduld, Interesse und Ermutigung in jeder Weise unterstützt haben. Bayreuth, im Dezember 1996

Woljgang Pühs

Inhaltsübersicht Erster Teil

Einleitung A. Zum Verlauf der Europäischen Integration ................................. .

33

B. Zur vorliegenden UntersuchWlg .............................................

42

Zweiter Teil

Grundbegriffe A. Zur nachfolgenden DarstellWlg ......................... . ....................

48

B. Die Europäische Gemeinschaft Wld der Binnenmarkt .......................

48

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten Wld die an ihn zu stellenden AnfordefWlgen ............................................

73

D. Die Notwendigkeit eines effektiven Vollzugs von Gemeinschaftsrecht für die HerstellWlg Wld die VelWaltung des Binnenmarktes Wld die daraus zu ziehenden Schlüsse .............................................. ..........

108

Dritter Teil

"Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht A. Überblick über die dem mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht ZUgI"Wlde liegenden "Defizite" ...............................................

UO

B. Die "Defizite" im einzelnen .................................................

112

C. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs ...... . ................................

183

D. ZusammenfassWlg ........................ . .................................

205

12

Inhaltsübersicht

Vierter Teil

Lösungsansätze A. "Zentrale" und "dezentrale" Ansätze zur Steigerung der Effizienz des Voll-

zugs von Gemeinschaftsrecht - Ein Überblick ...............................

206

B. "Zentrale" Ansätze ..........................................................

207

C. "Dezentrale" Ansätze oder die Einbeziehung des privaten Marktteilnehmers in die Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht als Mittel zu seiner Effektuierung ...........................................

371

D. Gesamtergebnis .............................................................

473

Fünfter Teil

SchluBbetrachtungen und Ausblick A. Einleitung .................................................................. .

478

B. Die Souveränität der Mitgliedstaaten Wld das Gerede von der Staatlichkeit der Gemeinschaft ...........................................................

479

C. Die Gemeinschaftsbürger und die europäische Identität

483

D. Die dauerhafte Sicherung der Europäischen Integration

484

E. Ausblick ....................................................................

484

Zusammenfassung in Thesen

486

Zusammenfassung/Summary/Samenvatting

498

Literaturverzeichnis

504

Anhang

546

Sachverzeichnis

573

Inhaltsverzeichnis Erster Teil

Einleitung A. Zum Verlauf der Europäischen Integration ................... . ....... . ......

33

I. Die Entwickhmg der Europäischen Gemeinschaften ....................

33

11. Die Begriind\Dlg der Europäischen Union, ihre Erweiter\Dlg um Finnland, Österreich \Dld Schweden \Dld andere HöheplDlkte in der ersten Hälfte der neWlZiger Jahre..............................................

36

III. Globale Aspekte \Dld Ausblick .........................................

39

B. Zur vorliegenden Untersuch\Dlg .............................................

42

I. Einführende Darstellung zur Europäischen Gemeinschaft... . ...........

42

11. Zum Verlauf der Untersuch\Dlg .................................... . ... .

45

III. Zur ZielsetZ\Dlg der Arbeit \Dld zur Struktur der Gemeinschaft .........

46

Zweiter Teil

Grundbegriffe A. Zur nachfolgenden Darstell\Dlg ............................ . .................

48

B. Die Europäische Gemeinschaft \Dld der Binnenmarkt .......................

48

I.

Vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt ................... . ......

48

1. Die ErrichtlDlg des Gemeinsamen Marktes .......................... 2. Die InitÜer\Dlg des Binnenmarktprojekts .............................

48 51

a) Das Binnenmarktprojekt \Dld die Gründe fiir seine InitüeflDlg ..... b) Die vertragliche VerankeflDlg des Binnenmarktprojekts ........... 3. Die Begrifflichkeit des Binnenmarktes und die AbgrenZ\Dlg vom Gemeinsamen Markt ................................................

51 52

11. Die Herstellung und die VerwaltlDlg des Binnenmarktes........ . ... . ...

55

1. Der Inhalt des Weißbuchs der Kommission.......................... 2. Die Instrumente der Gemeinschaft zur Erreich\Dlg des Binnenmarktes

55 57

a) Die "neue Strategie" ..............................................

57

54

14

c.

Inhaltsverzeichnis b) Die Rechtsangleich\Ulg ............................................

58

aa) Das "Harmonisier\Ulgskonzept" der Kommission.............

58

bb) Zu den Bereichen der Harmonisief\Ulg nach dem Binnenmarktkonzept .................................................

59

cc) Zur rechtsformlichen Instrumentief\Ulg der Rechtsangleich\Ulg

60

dd) Zu den Ausschermöglichkeiten der Mitgliedstaaten nach Art. 100a Abs. 4 EGV \Uld die Regel\Ulg des Art. 100a Abs. 5 EGV

61

ee) Zur Harmonisief\Ulg von Industrienormen durch die Ausarbeit\Ulg europäischer Normen....................................

63

c) Die gegenseitige Anerkenn\Ulg ....................................

64

aa) Die Herkunft des Gf\Uldsatzes der gegenseitigen Anerkenn\Ulg

64

bb) Zum Inhalt des Gf\Uldsatzes der gegenseitigen Anerkenn\Ulg ..

65

cc) Zur vertraglichen Verankef\Ulg des Konzeptes der gegenseitigen Anerkenn\Ulg .............................................

66

dd) Mit der gegenseitigen Anerkenn\Ulg verb\Uldene Probleme....

67

3. Der Stand der Herstellung des Binnenmarktes .......................

67

ill. Die BedeutlUlg des Binnenmarktes \Uld die Notwendigkeit einer fortschreitenden Integration für Europa ....................................

69

IV. Die Bedeut\Ulg der Vollend\Ulg \Uld der effektiven VerwaltlUlg des Binnenmarktes für die Bundesrepublik Deutschland .......................

71

Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten \Uld die an ihn zu stellenden Anforderungen ............................................

73

I. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht ...................................

73

1. EinleitlUlg ...........................................................

73

2. Zum mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht ...........

74

3. Zum gemeinschafts\Ulffiittelbaren Vollzug von Gemeinschaftsrecht ..

77

11. Die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht ("effet utile") \Uld die auftretenden Verstöße der Mitgliedstaaten gegen ihre Vollzugspflichten .............

79

1. EinleitlUlg ...........................................................

79

2. Die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten ("effet utile") ............

80

a) Zur Bedeut\Ulg der Auslegungsmaxime des "effet utile" im Gemeinschaftsrecht ..................................................

80

b) Der Gf\Uldsatz der "Effektivität" im Völkerrecht..................

81

c) Die Ausprägung des Gedankens des "effet utile" im Gemeinschaftsrecht auf der Gf\Uldlage der Rechtsprech\Ulg des EuGH ....

83

aa) Die Gf\Uldlagen der Auslegungsmaxime des "effet utile" in der Rechtsprech\Ulg des EuGH ...................................

83

bb) Abgrenz\Ulgen \Uld Gemeinsamkeiten .........................

85

(1) Der Gf\Uldsatz der "implied powers" ................. . ... .

85

Inhaltsverzeichnis (2) Die dynamische Auslegwlg ............................... cc) Kritische Würdigwlg des Gnmdsatzes des "effet utile" ....... (1) Zur abschließenden Definition des Gnmdsatzes des "effet utile" Wld seiner BedeutWlg fiir die Gemeinschaft ......... (2) Der Vorwwf der fehlenden Berücksichtigwlg des Willens der Mitgliedstaaten ....................................... (3) Das BegründWlgsdefIzit in der einschlägigen RechtsprechWlg des EuGH ...................................... (4) ZusammenfassWlg ........................................

15 87 89 89 90 92 94

d) Zu den konkreten gemeinschaftsrechtlichen AnfordefWlgen an den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht nach der RechtsprechWlg des EuGH ("effet utile") .......................... aa) Die HerleitWlg der gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht Wld ihre BestimmWlgsfaktoren ............................... bb) Der konkrete Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die Art Wld Weise des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht .......................................................... (1) Der gemeinschaftsrechtliche Einfluß auf den normativen Vollzug von Gemeinschaftsrecht .......................... (2) Der gemeinschaftsrechtliche Einfluß auf den mitgliedstaatlichen VerwaltWlgsvollzug von Gemeinschaftsrecht ....... (3) Der gemeinschaftsrechtliche Einfluß auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte cc) ZusammenfassWlg ............................................ e) Zwischenergebnis ................................................. 3. Zu den Verstößen der Mitgliedstaaten gegen ihre Vollzugspflichten 4. Ergebnis .............................................................

103 105 105 105 107

D. Die Notwendigkeit eines effektiven Vollzugs von Gemeinschaftsrecht fiir die HerstellWlg Wld die Verwaltung des Binnenmarktes Wld die daraus zu ziehenden Schlüsse ............................................................

108

96

96

97 97 100

Dritter Teil

"Defizite" beim mitgliedstaatlicben Vollzug von Gemeinscbaftsrecbt A. Überblick über die dem mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht zugrunde liegenden "Defizite" ...............................................

11 0

I. Zum Gegenstand der nachfolgenden UntersuchWlg ..................... 1I. Zum konkreten Inhalt der nachfolgenden UntersuchWlg ................

110 111

Inhaltsverzeichnis

16 B. Die "Defizite" im einzelnen

I. Die "materiel1rechtlichen" "Defizite" oder die sprachliche Unvollkommenheit, die "Unvollständigkeit" Wld die "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts - Die strukturellen "DefIzite" des (Gemeinschafts-) "Rechts" ................................................................ 1. Die sprachliche Unvollkommenheit des Gemeinschaftsrechts ........ a) Effizienzverluste durch das Erfordernis der Aus1egWlg ............ b) Das Problem der Verbindlichkeit des EGV in allen "authentischen" Vertragssprachen (Art. 248 EGV) ......................... c) Weitere Mängel ................................................... d) ZusammenfassWlg Wld ÜberlegWlgen zu möglichen LösWlgsansätzen ................................................................ 2. Die "Unvollständigkeit" des Gemeinschaftsrechts ............. . ..... 3. Die "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts ...................... a) Gründe für die vermeintliche "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts ............................................................. b) Die "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts Wld das Rechtsstaatsprinzip in der Gemeinschaft ................................. c) ZusammenfassWlg Wld LösWlgsansätze ........................... 4. ZwischenbetrachtWlg im Hinblick auf die gewählte ThemenstellWlg . ll. Die "verfahrensrechtlichen" oder die auf der Struktur der Gemeinschaft beruhenden "DefIzite" des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ............................................................ l. Zur Bedingtheit der "verfahrensrechtlichen" "Defizite" durch die Struktur der Gemeinschaft ........................................... 2. "Das Nebeneinander der verschiedenen mitgliedstaatlichen Wld der gemeineuropäischen Dogmatik des VerwaltWlgsgeschehens" oder das Fehlen eines gemeinschaftlichen allgemeinen VerwaltWlgsrechts 3. Die AusgestaltWlg der Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Kommission ("zentrale" Kontrolle) ... a) Die Bestandteile Wld das Wesen der "zentralen" Kontrolle ....... b) Die Mängel der "zentralen" Kontrolle im Hinblick auf einen effizienten Vollzug von Gemeinschaftsrecht .......................... aa) EinleitWlg .................................................... bb) Die zu große Distanz zwischen der Kommission Wld der das Gemeinschaftsrecht vollziehenden mitgliedstaatlichen Ebene Wld das daraus resultierende Informationsdefizit ............. cc) Das Kapazitätsdefizit der Kommission ....................... dd) Die Nachträglichkeit Wld Schwerfälligkeit der "zentralen" Kontrolle ..................................................... ee) Fehlende WeisWlgsbefugnis der Kommission im Hinblick auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten

112

112 112 112 114 117 118 119 121 121 124 126 129

129 129

130 132 132 134 134

135 136 137 138

Inhaltsverzeichnis

m.

2 Püh,

11) Die fehlende Durchsetzbarkeit eines gemeinschaftsrechtskonformen Verhaltens bei einer festgestellten VertragsverletZlDlg gg) Zusammenfassung der Mängel der "zentralen" Kontrolle . . .. . c) Schlußbetrachtung ....... ......... ........................ ........ 4. Einschränkungen des effektiven und einheitlichen mitgliedstaatlichen Vollzugs aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Ermächtigung . . ...... .. a) Einleitung.......... .. . ............ ...... ............ ....... . ...... b) Zu den zulässigen Beschränkungen des freien Warenverkehrs . . . . c) Das konkrete "Defizit" des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ..... d) Ausblick .......................................................... 5. Zusammenfassung.... ............ . .................. ....... ..... .. .. Exkurs: Das "demokratische Defizit" als Problem der Legitimation der Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft ... ............ ..... . . ... l. Das "demokratische Defizit" als "DefIzit" des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ... . ...... ............. ... ..... . .......... ........... .... . 2. Der Inhalt des "demokratischen Deftzits" ..... . ... .. .......... ..... .. a) Die Europäische Gemeinschaft und das Demokratieprinzip .. ..... aa) Die UnteIWetfung der Gemeinschaft unter das Demokratieprinzip ........................................................ bb) Die Verankerung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht ... . ..... ..... .......................... . ........... ...... b) Inhalt und Ursachen des "demokratischen Defizits" der Gemeinschaft . . . ... ..... ..... ..... .. .. .......... ..... .......... ...... ..... aa) Zu Inhalt und Ursachen des "demokratischen Defizits" ... .. . . bb) Eigene Stellungnahme. .... ................................. . . c) Zusammenfassung .......... .... .................................. 3. "Akzeptanz und Recht" und der Bezug zur Gemeinschaft . .. ........ . a) Einleitung ....... ........ ... ........... .. . ... . .... ................. b) Das Problem der "Akzeptanz" und die Mitgliedstaaten..... .. ..... c) Das Problem der "Akzeptanz", die Gemeinschaftsbürger und das "demokratische Defizit" . .. ... ............... . ........... .... ... .. d) Zusammenfassung .......................... ........ .............. 4. Das "demokratische Defizit" als Strukturmerkmal der Gemeinschaft bzw. die Stellung des Europäischen Parlaments im Gefüge der Gemeinschaft ........................................................... a) Einleitung . ... .... .................. ....... . . ..... .. ... .. .... ..... . b) Die RechtsetZlDlg durch die Gemeinschaft unter besonderer Beachtung der Rolle des Europäischen Parlaments ........... .... ... aa) Die Rechtsnatur der Gemeinschaft und ihre Berechtigung zur RechtsetZlDlg .. .......... ... . ............. ... ................. bb) Überblick über das Entscheidungs- und RechtsetZlDlgsverfahren der Gemeinschaft .... . ........... ...... .. ........ . ..... ...

17

139 141 141 142 142 142 144 144 145 145 145 147 147 147 148 150 150 153 157 157 157 159 160 162

163 163 163 163 164

18

Inhaltsverzeichnis cc) Die Bedeutung des "institutionellen Gleichgewichts" für das gemeinschaftliche EntscheidWlgs- Wld RechtsetZ\Dlgsvenahren Wlter besonderer Beachtwtg der Rolle des Europäischen Parlaments ......................................................... c) ZusammenfassWlg ................................................ 5. Überlegungen zum Ausgleich des "demokratischen Defizits" ........ a) Einleitwtg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausgleich auf der mitgliedstaatlichen Ebene ...................... c) Ausgleich auf der Ebene der Gemeinschaft ........................ aa) Einleitwtg .................................................... bb) Strukturell neue Kompetenzen für das Europäische Parlament? cc) Der systemverbWldene Ansatz zum Ausbau Wld zur Erweiterwtg der Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments .... dd) ZusammenfassWlg ............................................ d) BehebWlg des "demokratischen Defizits" Wlter BeachtWlg der Struktur der Gemeinschaft durch einen systemverbundenen Ausgleich sowohl auf mitgliedstaatlicher als auch auf gemeinschaftlicher Ebene ...................................................... 6. ZusammenfassWlg Wld Ausblick......................... . .. . ........ IV. Zwischenergebnis Wld zum weiteren Vorgehen.........................

166 169 170 170 170 173 173 173 176 179

179 181 183

c. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs.......................................

183

I. Einfiihrung in die ProblemstellWlg ..................................... l. Die Finalstruktur des Gemeinschaftsrechts im Gegensatz zu den BindWlgen des VerwaltWlgsrechts der Mitgliedstaaten .................. 2. Die rechtlichen Grenzen des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ..................................................... ll. "Schutmormen" im Gemeinschaftsrecht ...............................

183

l. Zu den Gründen für die Vereinbarwtg von "Schutmormen" Wld zu ihrem Auftreten im Gemeinschaftsrecht ............................. 2. "Schutzklauseln" ................................... . ........... . .... 3. "Notstandsklauseln" ................................................. 4. Ungeschriebene "Schutz-" Wld "Notstandsklauseln" ................. 5. ZusammenfassWlg .................................................. . ill. Gemeineuropäische rechts staatliche Venahrensgarantien Wld Menschenrechte als rechtliche Grenze des Vollzugs ........................

IV. Die mitgliedstaatlichen Menschenrechte Wld VenassWlgsgrwtdsätze als Grenze eines effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ............. l. Die ProblemstellWlg aus deutscher Sicht .................. . ... . ..... 2. Das "Gebot der Rücksichtnahme" ................................... 3. Die Notwendigkeit der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts .........................................................

183 185 186 186 187 188 190 191 192 196 196 198 200

Inhaltsverzeichnis

19

4. Ergebnis ............................ . ................................ V. Ausblick ............... . ...............................................

202

D. ZusammenfasslDlg ..........................................................

205

204

Vierter Teil Lösungsansätze A "Zentrale" lDld "dezentrale" Ansätze zur SteigerlDlg der Effizienz des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht - Ein Überblick ...............................

206

B. "Zentrale" Ansätze ..................................... . ....................

207

I. VorbemerklDlg ........................................................ .

207

11. Die Zusammenarbeit der mitgliedstaatlichen VerwaltlDlgen lDld der Kommission bei der AnwendlDlg lDld DurchsetZlDlg des Gemeinschaftsrechts für den Binnenmarkt ("Sutherland-Bericht") .....................

208

1. EinleitlDlg ...........................................................

208

2. Die Zusammenarbeit der VerwaltlDlgen bei der AnwendlDlg lDld DurchsetZlDlg des Gemeinschaftsrechts für den Binnenmarkt ........ a) Der "Sutherland-Bericht" .........................................

210 210

b) Unmittelbare Folgemaßnahmen zum "Sutherland-Bericht" ....... c) Das "Strategische Programm" der Kommission zur optimalen GestaltlDlg des Binnenmarktes .......................................

212

d) Die MitteillDlg der Kommission über die EntwiCkllDlg der Zusammenarbeit der VerwaltlDlgen vom 16. Februar 1994 ...............

213

aa) Zur Einordnung der Mitteihmg ...............................

213

bb) Das Konzept der Kommission über die "administrative Zusammenarbeit" ............................................... (1) Die nach Ansicht der Kommission maßgeblichen Grundsätze der "administrativen Zusammenarbeit" ..............

211

213 213

(2) Zum Konzept und zur Intention der Kommission .........

214

3. BewertlDlg des Konzepts der Kommission unter dem Blickwinkel der Steigerung der Effizienz des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ...... III. Das VertragsverletZlDlgsverfahren gemäß Art. 169 EGV ................

218 220

1. EinleitlDlg ...........................................................

220

2. Zum VertragsverletZlDlgsvetfahren nach Art. 169 EGV im einzelnen

222

a) Zur Funktion und zum Charakter des VertragsverletZlDlgsvetfahrens...............................................................

222

b) Zum Gegenstand und zum Verlauf des VertragsverletZlDlgsvetfahrens............................................................... aa) Zur EinleitlDlg des VertragsverletZlDlgsverfahrens ............

223 223

20

Inhaltsverzeichnis bb) Das Vorverfahren gemäß Art. 169 Abs. 1 EGV cc) Die Anrufimg des Gerichtshofes gemäß Art. 169 Abs. 2 EGV . c) Zum Inhalt der das VertragsverletZWlgsverfahren abschließenden Entscheidung ..................................................... 3. Die Konsequenzen aus der fehlenden Vollstreckungsmöglichkeit von Entscheidungen des EuGH gegen die Mitgliedstaaten ................ 4. Zur Bewertung des VertragsverletZWlgsverfahrens gemäß Art. 169 EGV als Instrument der Kommission zur Kontrolle und zur Steigerung der Effizienz des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten ...................................................... a) Einleitung......................................................... b) Die EinschätZWlg des VertragsverletZWlgsverfahrens als Instrument der zentralen Kontrolle des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten ................................... aa) Einleitung .................................................... bb) Die fehlende Fähigkeit des VertragsverletZWlgsverfahrens, alle VertragsverletZWlgen zu erfassen ............................. cc) Die Fähigkeit des VertragsverletZWlgsverfahrens zur Beseitigung der festgestellten VertragsverletZWJ.gen .................. c) Das VertragsverletZWlgsverfahren als Instrument für die Gewährleistung eines effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten ............................................... d) Zusammenfassung ................................................ IV. Repressive und präventive Einwirkungsmöglichkeiten der Gemeinschaft auf die Mitgliedstaaten zur Erreichung eines effektiven Vollzugs von Gemeinschaftsrecht .................................................... 1. Die Vergabe von Gemeinschaftsgeldern als Instrument zur DurchsetZWlg eines effektiven Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten ...................................................... a) Einleitung......................................................... b) Das "Rechnungsabschlußverfahren" als Instrument zur DurchsetZWlg eines effektiven Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ........... aa) Einleitung .................................................... bb) Die rechtlichen Grundlagen und das Wesen des "Rechnungsabschlußverfahrens" .......................................... cc) Zum Modus der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik bzw. zu den Modalitäten des "Rechnungsabschlußverfahrens" dd) Die DurchsetZWlg des Marktordnungsrechts mit Hilfe des "Rechnungsabschlußverfahrens" .............................. ee) Die Unterschiede des "Rechnungsabschlußverfahrens" und der Aufsichtsklage nach Art. 169 EGV ........................... fi) Die Bewertung des "Rechnungsabschlußverfahrens" ..........

224 227 228 229

230 230

231 231 231 232

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Inhaltsverzeichnis c) BeschneidlDlg der Vergabe von Mitteln aus einem Struktwfonds an einen Mitgliedstaat bei einem nicht in Einklang mit den Fondsvorschriften stehenden Verhalten..................................... aa) EinleitlDlg .................................................... bb) Die Struktwfonds als Instrumente der gemeinschaftlichen Strukturpolitik................................................ cc) Die RegellDlg der Rückforder\Dlg von aus den Struktwfonds verausgabten Mitteln bei einem festgestellten Fehlverhalten .. dd) ZusammenfasslDlg ............................................ d) Die Zulässigkeit einer allgemeinen VertragserfülllDlgsklausel in FondsbedinglDlgen, um die Mitgliedstaaten zur EinhaltlDlg ihrer Vertragspflichten anzuhalten ...................................... e) Ergebnis .......................................................... 2. Sanktionskompetenzen der Gemeinschaft..... . ...................... a) EinleitlDlg IDld Abgrenz\Dlg ....................... . ............... b) Rechtliche Sanktionen ......... . ... . ... . ... . ...................... aa) EinleitlDlg ................................................ . ... bb) Die Zulässigkeit völkerrechtlicher Sanktionen ............... cc) Gemeinschaftsrechtliche Sanktionen ......................... (1) EinleitlDlg ................................................. (2) Gemeinschaftsrechtliche Sanktionen gegen private Marktteilnehmer ................................................ (3) Exkurs: Strafrechtliche Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft ............................................. (4) Die Sanktionsbefugnisse der Gemeinschaft gegen Mitgliedstaaten .................................................... c) Politische Sanktionen ............................................. d) ZusammenfasslDlg IDld Ergebnisse ................................

21

252 252 252 255 257

258 260 261 261 263 263 264 267 267 268 275 282 289 291

3. Schaffimg einer WeislDlgsbefugnis der Kommission zur EinwirklDlg auf den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht ........ a) EinleitlDlg .................. ....................................... b) Zu den für das Fehlen einer WeislDlgsermächtiglDlg vorgebrachten Gründen IDld den aus ihrem Fehlen resultierenden Konsequenzen c) SeklDldärrechtliche Ansätze für die Schaffimg von speziellen WeislDlgsrechten IDld ihre BewertlDlg ................................. d) GrIDldsätzliche StelllDlgnahme zur Einfiihrung von WeislDlgsrechten für die Kommission ........................................... 4. Die HarmonisieflDlg des für den Vollzug von Gemeinschaftsrecht relevanten mitgliedstaatlichen VerwaltlDlgsverfahrensrechts ........... a) EinleitlDlg .................................................... . . . . .

299 299

b) Grober Überblick über bereits bestehende Normen des Gemeinschaftsrechts ......................................................

301

293 293 294 295 297

22

Inhaltsverzeichnis c) Besonderheiten der RechtsangleichWlg mit dem Instrument der Richtlinie ......................................................... d) BewertWlg ........................................................ 5. ZusammenfassWlg Wld Ergebnis ..................................... V. Schaffimg einer zentralen Gemeinschaftsaufsicht dargestellt am Beispiel der LebensmittelüberwachWlg .................................... l. Einfiihnmg .................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lebensmittelrecht Wld Binnenmarkt................................. a) Zur Wahl des Lebensmittelrechts im Binnenmarkt fiir die hier zu behandelnde Thematik ............................................ b) Die Konzeption der Kommission fiir den Binnenmarkt im Bereich der Lebensmittel .................................................. 3. Die Stufen eines gemeinschaftlichen Aufsichtssystems im Lebensmittelbereich ........................................................ a) EinleitWlg ......................................................... b) HarmonisierWlg der mitgliedstaatlichen Vorschriften über die LebensmittelüberwachWlg ( l. Stufe) ................................. c) Die Schaffimg eines KoIps von Gemeinschaftsinspektoren (2. Stufe) aa) Die ProblemstellWlg .......................................... bb) Beispiele fiir einschlägige Normen des Gemeinschaftsrechts .. (1) Innergemeinschaftliche Veterinärkontrollen ............... (2) Veterinärkontrollen der Einfuhren aus Drittländem ....... (3) Kontrollen von Obst Wld Gemüse ......................... (4) Kontrollen im Tabaksektor ................................ (5) RegelWlgen im Weinsektor ....... ........................ (6) Normen aus nicht agrar- oder lebensmittelrechtlichen Bereichen.................................................... cc) Relevante Ansätze im System der gemeinschaftlichen LebensmittelüberwachWlg ........................................... dd) ZusammenfassWlg ............................................ d) Die Schaffimg einer Europäischen Lebensmittelbehörde mit Aufsichts- bzw. WeisWlgskompetenzen (3. Stufe) .................... aa) EinleitWlg .................................................... bb) Das gemeinschaftliche LebensmittelüberwachWlgssystem als Ergänzung von zentralen Kontrollelementen Wld administrativer Kooperation .............................................. cc) Die Notwendigkeit der Schaffimg einer zentralen Aufsichtsbehörde mit WeisWlgsbefugnissen .............................. dd) ZusammenfassWlg ............................................ 4. ZusammenfassWlg Wld BewertWlg des dargestellten Ansatzes Wlter dem Aspekt der EffektuierWlg des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ..................................................

303 304 306 307 307 308 308 310 314 314 314 315 315 316 316 318 318 319 319 320 323 323 326 326

327 329 330

331

Inhaltsverzeichnis VI. GemeinschaftsWlDlittelbarer Vollzug von Gemeinschaftsrecht nach dem Vorbild des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts .................... 1. Einfiihnmg ........................................................... 2. Inhalt und Ziele des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts (Art. 85 f[ EGV) und die wirtschaftspolitische Vetfassung der Gemeinschaft. a) Die wirtschaftspolitische Verfassung der Gemeinschaft und die Ziele des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts ................. b) Zum Inhalt des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts ........... aa) Überblick..................................................... bb) Das gemeinschaftliche Kartellrecht (Art. 85, 87-89 EGV) .... cc) Das Verbot des Mißbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 86-89 EGV) ........................................ dd) Die Fusionskontrolle ......................................... ee) Die Anwendung der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften des EGVauföffentliche Unternehmen (Art. 90 EGV) ............. ff) Die gemeinschaftliche Beihilfenaufsicht (Art. 92 f[ EGV) .... c) Ausnahmebereiche vom gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht ... 3. Der gemeinschaftsWlDlittelbare Vollzug des gemeinschaftlichen Kartellrechts ............................................................ a) Einleitung......................... . ..... ........................ .. b) Die Organzuständigkeit innerhalb der Gemeinschaft .............. c) Der Vollzug des gemeinschaftlichen Kartellrechts durch die Kommission ........................................................... d) Die Rolle der Mitgliedstaaten bzw. ihrer zuständigen Behörden und Gerichte beim Vollzug des gemeinschaftlichen Kartellrechts . aa) Einleitung und Abgrenzungen ................................. bb) Die Unterstützung der Kommission durch mitgliedstaatliche Stellen beim Vollzug von gemeinschaftlichem Kartellrecht ... cc) Die eigenverantwortliche Anwendung des gemeinschaftlichen Kartellrechts durch mitgliedstaatliche Stellen ................ (I) Das Konzept der "dezentralen Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts" ...................................... (2) Die Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts durch die mitgliedstaatlichen Behörden ............................. (3) Die Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts durch die mitgliedstaatlichen Zivilgerichte .......................... dd) Bewertung des aufgezeigten Ansatzes unter dem Aspekt der Effektuierung des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht .......... e) Zusammenfassung ................................................ 4. Die Einrichtung eines Europäischen Kartellamtes ................... a) Die Forderung nach einem Europäischen Kartellamt.............. b) Das "Für" und "Wider" der Errichtung eines Europäischen Kartellamtes.............................................................

23

334 334 336 336 338 338 338 339 340 341 342 343 345 345 345 346 348 348 349 350 350 350 352 355 356 357 357 357

24

Inhaltsverzeichnis c) Die rechtlichen Probleme bei der Schaffimg eines Europäischen Kartellamtes mit eigenständigen Entscheidwtgsbefugnissen ....... aa) Gnmdsätzliche Ausfiihnmgen zu rechtlichen Problemen bei der Schaffimg von Gemeinschaftsbehörden ................... bb) Vorschlag für ein Modell eines Europäischen Kartellamtes... cc) Die Erforderlichkeit einer Vertragserweiterwtg für die Schaffimg eines Europäischen Kartellamtes ........................ d) Effektuierwtg des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Errichtwtg von eigenständigen Gemeinschaftsbehörden mit Vollzugsaufgaben .......................................................... e) Zusammenfassung ................................................ 5. Stellungnahme ....................................................... VII. Zwischenergebnis ......................................................

C. "Dezentrale" Ansätze oder die Einbeziehwtg des privaten Marktteilnehmers in die Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht als Mittel zu seiner Effektuierwtg ............................................... I. Einfiihnmg wtd Darstellwtg der Gedankenfiihnmg ...................... I. Einleitwtg ...........................................................

2. Vorbemerkwtgen zur Einbeziehwtg der privaten Marktteilnehmer in die Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ................................................................. 3. Zum Verlauf der nachfolgenden Untersuchwtg ....................... II Die Elemente der "dezentralen" Kontrolle (im engeren Sinne) ......... I. Einleitwtg ........................................................... 2. Die "wtmittelbare Anwendbarkeit" von Gemeinschaftsrecht ......... a) Einleitwtg ......... .. ........................... . ......... . ........ b) Die "wtmittelbare Wirkwtg" von primärem Gemeinschaftsrecht .. c) Die "wtmittelbare Wirkwtg" von sekwtdärem Gemeinschaftsrecht d) Exkurs: "Unmittelbare Wirkwtg" von GemeinschaftsbÜfger "belastenden" Richtlinienbestimmwtgen? ............................... aa) Einleitwtg .................................................... bb) Die "wtmitteIbare Wirkwtg" von Richtlinien mit für einen GemeinschaftsbÜfger "belastenden" RegeIwtgen ................. cc) Die Richtlinie mit "Doppelwirkwtg" ................ . ......... dd) Exkurs: Die "richtlinienkonforme Auslegwtg" ................ ee) Zusammenfasswtg ............................................ e) Stellwtgnahme .................................................... 3. Der "Vorrang des Gemeinschaftsrechts" ............................. 4. Das Zusammenwirken von mitgliedstaatlichen Behörden wtd Gerichten wtd dem EuGH im Sinne eines einheitlichen wtd effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ........................................

361 361 363 364

364 369 370 370

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399

m.

Inhaltsverzeichnis

25

a) Einleitung......................................................... b) Das Verhältnis von mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden und Gerichten im Rahmen des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ...... c) Das Kooperationsverhältnis zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH ........................................... aa) Einleitung ..................................................... bb) Die Notwendigkeit eines effektiven Rechtsschutzes ........... ce) Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EGV ........ (1) Zur Aufgabe und zum Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens .................................................... (2) Zum Gegenstanddes Vorabentscheidungsverfahrens ...... (3) Fakultative und obligatorische Vorlage.................... (4) Die Rechtswirkung der Vorabentscheidung des EuGH .... (5) Die Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EGV im Rahmen der "dezentralen" Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ..................... (6) Zusammenfassung und Ausblick .......................... dd) Vorläufiger Rechtsschutz vor den Gerichten der Mitgliedstaaten bei erheblichen Zweifeln an der Gültigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht ...................................... ee) Zwischenergebnis ............................................ d) Zusammenfassung ................................................ 5. Stellungnahme ....................................................... Das "Staatshaftungsrecht der Gemeinschaft" ........................... 1. Einfiihrung und Gang der Untersuchung ............................. 2. Die "Staatshaftung" der Gemeinschaft ............................... 3. Zur gemeinschaftlich veranlaßten Staatshaftung der Mitgliedstaaten. a) Einleitung..... ........................................ ............ b) Die Rechtsprechung des EuGH ................................... aa) Die frühere Rechtsprechung .................................. bb) Die "Francovich"-Entscheidung oder die gemeinschaftlich veranlaßte Staatshaftung in Fällen von mitgliedstaatlichen Verstößen gegen ihre Umsetzungspflichten .......................... (1) Der Sachverhalt............ ............................... (2) Die Haftungsvoraussetzungen ............................. (3) Bestätigung der in der "Francovich"-Entscheidung aufgestellten Grundsätze und weitere beim EuGH anhängige Verfahren ................................................. ce) Die "Brasserie du pecheur"-Entscheidung oder die gemeinschaftlich veranlaßte Staatshaftung fiir mitgliedstaatliehe Verstöße gegen das Primärrecht .............................. (l) Der Sachverhalt ....................... . ...................

399 399 403 403 404 406 406 407 409 410

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431 431

26

Inhaltsverzeichnis (2) Die VoraussetZWlgen für die Begriind\Dlg der Hafhmg des Mitgliedstaates für Verstöße gegen das Primärrecht ....... dd) Ausblick ...................................................... c) Die dogmatische Begriind\Dlg des gemeinschaftlich veranlaßten Staatshaft\Dlgsanspruchs gegen Mitgliedstaaten durch den EuGH \Dld seine Einordn\Dlg in die bisherige Rechtsprech\Dlg zur "unmittelbaren Wirk\Dlg" von Richtlinienbestimm\Dlgen bzw. zum Gebot der "richtlinienkonfonnen Auslegwg" sowie zur "unmittelbaren Wirk\Dlg" von Nonnen des primären Gemeinschaftsrechts ........ d) Die Begriind\Dlg eines allgemeinen Staatshaftwgsanspruchs in Fällen, in denen gegen ihre gemeinschaftsrechtliche Vollzugspflichten verstoßende Mitgliedstaaten bzw. ihre Organe privaten Markteilnehmern einen Schaden beibringen ............................... e) Zusammenfass\Dlg ................................................ 4. Die mitgliedstaatliehe Staatshaftwg als Ansatzp\Dlkt für die Effektuierung des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht .... a) Einleit\Dlg . ........................................................ b) Die Akzeptanz eines allgemeinen Grundsatzes der gemeinschaftlich veranlaßten Staatshaftung in den Mitgliedstaaten ............. c) Der präventive Effekt der "Abschreck\Dlg" ........................ d) Zusammenfass\Dlg ................................................ IV. Die Instrumentalisierung der GemeinschaftsbÜfger im Rahmen der "Umweltinfonnations-Richtlinie" zur Effektuierung des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Umweltgemeinschaftsrecht ........................ 1. Einfiihrung zum Themenkomplex .................................... a) Einleit\Dlg .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zum Verlauf der nachfolgenden Untersuch\Dlg .................... 2. Die Umweltpolitik der Gemeinschaft ................................ a) Die Gemeinschaft \Dld die Umweltpolitik ......................... b) Die Umweltpolitik der Gemeinschaft in der Zeit vor der Verabschiedung der EEA ................................................ c) Die Verankerung der Umweltpolitik in der Gemeinschaft durch die EEA .............................................................. d) Die Umweltpolitik nach dem EUV ....... . ... . ........ . ........... e) Ausblick .......................................................... 3. Das umweltrechtliche Instrumentarium der Gemeinschaft und seine Ineffizienz im Hinblick auf den mitgliedstaatlichen Vollzug des Umweltgemeinschaftsrechts ............................................. a) Einleit\Dlg ......................................................... b) Das rechtliche Instrumentarium der Gemeinschaft im Umweltbereich.............................................................. c) Die Ineffizienz des rechtlichen Instrumentariums der Gemeinschaft im Hinblick auf den mitgliedstaatlichen Vollzug des gemeinschaftlichen Umweltrechts \Dld die für sie maßgeblichen Gründe .......

432 434

434

438 441 442 442 442 445 445

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454 454 454

455

Inhaltsverzeichnis

27

aa) Der Vollzug des Umweltgemeinschaftsrechts \Dld seine Kontrolle ......................................................... bb) Die Dokumentation der Mängel des mitgliedstaatlichen Vollzugs des Umweltgemeinschaftsrechts ......................... cc) Die spezifischen Gründe für die Mängel des mitgliedstaatlichen Vollzugs ................................................ d) Zusammenfass\Dlg ................................................ 4. Die Instrumentalisier\Dlg der privaten Marktteilnehmer für die effektive DurchsetZWlg des Umweltgemeinschaftsrechts dargestellt am Beispiel der "Umweltinformations-Richtlinie" ....................... a) EinleitlDlg ................................................. . . . . . . . . b) Zur Entsteh\Dlg \Dld ZielsetZWlg der "Umweltinformations-Richtlinie" oder der Anspruch auf "Öffentlichkeit der VerwaltlDlg" ..... c) Zum Inhalt der "Umweltinformations-Richtlinie" ................. d) Die Instrumentalisier\Dlg des GemeinschaftsbÜIgerinteresses an einer intakten Umwelt durch die "Umweltinformations-Richtlinie" e) Zusammenfass\Dlg ................................................ 5. Stell\Dlgnahme ....................................................... V. Die EinrichtlDlg von die Kommission bzw. den EuGH entlastenden mitgliedstaatlichen Beschwerdesystemen .................................. VI. Zwischenergebnis

472

D. Gesamtergebnis ...... . ... . ..................................................

473

455 456 457 459

460 460 460 464 464 467 468 470

Fünfter Teil SchluJJbetrachtungen und Ausblick A. Einleit\Dlg ..................... . ....................... . ........... . ... . .....

478

B. Die Souveränität der Mitgliedstaaten \Dld das Gerede von der Staatlichkeit der Gemeinschaft ...........................................................

479

I. Die Souveränität der Mitgliedstaaten \Dld die Gemeinschaft ............ 11. Die Gemeinschaft \Dld das Gerede von ihrer Staatlichkeit ..............

479 481

C. Die GemeinschaftsbÜIger \Dld die europäische Identität

483

D. Die dauerhafte Sichef\Dlg der Europäischen Integration

484

E. Ausblick ........ . ...................................... . ... . ... . ... . ... . ....

484

28

Inhahsverzeichnis

Zusammenfassung in Thesen

486

Zusammenfassung

498

Summary

500

Samenvatting

502

Uteramrverzeichnis

504

Anhang Anhang!:

Angeführte GerichtsentscheidWlgen

546

Anhang II:

Zitierte Gemeinschaftsrechtsnormen ........... . ........... . .....

554

Anhang ill:

Aufgeführte Kommissionsdolrumente .......... . ... . ....... . ... . .

565

Sachverzeichnis

573

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Ansicht

a.a.O. ABI.

am angegebenen Ort Amtsblatt der EG bzw. EU

Abs. a.E.

Absatz am Ende

a.F.

alte Fassung ASEAN Free Trade Area

AFTA AgrarR Anm.

Agrarrecht

AöR

Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts

APEC Art.

Asian-Pacific Economic Cooperation Artikel

ASEAN BayVBI.

Association ofSoutheast Asean Nations Bayerische Verwaltungsblätter

BBPS Bd.

Band

BFH BGBL

Bundesfmanzhof Bundesgesetzblatt

BGH BullBReg. BullEG

Bundesgerichtshof Bulletin des Presse und Informationsamtes der Bundesregierung Bulletin der Europäischen Gemeinschaften

BeutlerlBieberlPipkornJStreil (siehe Literaturverzeichnis )

BullEU

Bulletin der Europäischen Union

BVerfG BVerfGE bzw.

Bundesverfassungsgericht

CEN CENELEX CMLRev. ders./dies. d. h. DÖV DStZ DV

Entscheidung des BVerfG beziehungsweise Comite Europeen de Normalisation Comite Europeen de Normalisation Electronique Common Market Law Review derselbe/dieselbe das heißt Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Steuer-Zeitung Die Verwaltung

30

Abkürzungsverzeichnis

DVBl.

Deutsches Verwalnmgsblatt

EA EAG EAGFL

Europa-Archiv Europäische Atomgemeinschaft (siehe auch: Euratom) Europäischer Ausrichnmgs- Wld Garantiefonds für die Landwirtschaft Vertrag zur GründWlg der EAG

EAGV ECU EEA

EUV EuZW

European Currency Unit Einheitliche Europäische Akte European Food Law Review Europäischer Fonds für Regionale EntwicklWlg European Free Trade Association Europäische GemeinschaftenJEuropäische Gemeinschaft (nach dem EGV) Europäische Gemeinschaft für Kohle Wld Stahl Vertrag zur GründWlg der EGKS Vertrag über die GründWlg der Europäischen Gemeinschaft ErgänzungslieferW1g European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention endgültige F assWlg eines Kommissionsdokumentes Europäische Politische Zusammenarbeit Europäischer Sozialfonds Europäische Union Europäische Umweltagentur Gericht erster Instanz der EG bzw. EU Europäischer Gerichtshof Europäische GrWldrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Atomgemeinschaft (siehe auch: EAG) Vertrag über die EU Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWG EWGV EWS EWS f bzw. ff.

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur GründWlg der EWG Europäisches W ährWlgssystem Europäisches Wirtschafts- Wld Steuerrecht fortfolgende (Seite) bzw. fortfolgende (Seiten)

FIAF FS GASP GDCh

Finanzinstrument für die AusrichtWlg der Fischerei Festschrift Gemeinsame Außen- Wld Sicherheitspolitik Gesellschaft deutscher Chemiker

EFLR EFRE EFTA EG EGKS EGKSV EGV EL ELR EMRK endg. EPZ ESF EU EUA EuG EuGH EuGRZ EuR Euratom

Abkürzwtgsverzeichnis GG

Gnmdgesetz

GRUR

Gewerblicher Rechtsschutz Wld Urheberrecht

GS

Gedächtnisschrift

GTE

von der Groeben!Thiesing/Ehlermann (siehe Literaturverzeichnis )

GVBl.

Gesetz- Wld VerordnWlgsblatt

hrsg.

herausgegeben

Hrsg.

Herausgeber

HSVE HWWA i.d.g.F. i.S.d. i.Y.m. JA JURA JuS JZ

Hummer/SimmaNedderlEmmert (siehe Literaturverzeichnis ) Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv (alte BezeichnWlg) in der gültigen F assWlg

im Sinne des in VerbindWlg mit Juristische Arbeitsblätter Juristische AusbildWlg Juristische SchulWlg JuristenzeitWlg

KOM LA

(Dokwnent der Europäischen) Kommission Liber Amicorum

LG

Landgericht

lit.

litera

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

MERCOSUR

Mercado ComUn deI Sur

MOEL m.v.a.

Mittel- Wld osteuropäische Länder mit Verweis auf

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NAFTA

North American Free Trade Area (auch: Agreement)

NATO

North Atlantic Treaty Organization

n.F.

neue F assWlg

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

NVwZ

Neue Zeitschrift für VerwaltWlgsrecht

OECD

Organization for Economic Cooperation and Development

ÖJZ

Österreichische Juristen-ZeitWlg

OLG R

Oberlandesgericht

RIW

Recht der Internationalen Wirtschaft

Rn.

Randnummer

Rs.

Rechtssache (EuGHlEuG)

S. SEK

Dokwnente des Generalsekretariats der Kommission

Refere (vorläufiger Rechtsschutz)

Seite

31

32

Ab~gsverzeichrris

Slg.

Sammhmg des EuGH

sog.

sogenannte(n1r/s) Süddeutsche Zeitung

SZ Tätigkeiten u. u.a. UAbs.

UPR u.v.m. VA verb. (RB.) vgl.

VN

Tätigkeiten des Gerichtshofes \Dld des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften \Dld \Dld andere Unterabsatz Umwelt- \Dld Plan\Dlgsrecht \Uld viele mehr Verwaltungsarchiv verb\Dldene (Rechtssachen) vergleiche Vereinte Nationen

VwVfG

Veröffentlich\Dlgen der Vereiniglmg der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsverfahrensgesetz

WiVerw WTO

Wirtschaft \Dld Verwaltung W orld Trade Organisation

VVDStRL

WVRK ZaöRV z. B. ZG ZLR ZRP ZStW

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Zeitschrift fiir ausländisches öffentliches Recht \Uld Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift fiir Gesetzgeb\Dlg Zeitschrift fiir Lebensmittelrecht Zeitschrift fiir Rechtspolitik Zeitschrift fiir die gesamte Strafrechtswissenschaft

Erster Teil

Einleitung A. Zum Verlauf der Europäischen Integration J. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften Die drei Europäischen Gemeinschaften sind seit ihrer Gründung in den fünfziger Jahren! in ihrem Fortkommen zahlreichen Schwankungen unterworfen gewesen. Regelmäßig folgte einer Hochphase ein Stimmungstief. Zahlreiche Reformansätze, die eine Belebung oder Intensivierung der Gemeinschaftspolitiken zum Ziele hatten, brachten diese weiter? Es stehen ihnen jedoch nicht wenige Gestaltungsinitiativen gegenüber, die zwar teilweise zunächst mit großem Elan vorangetrieben, dann aber doch fallengelassen wurden oder deren Realisierung erheblich hinausgezögert worden ist. 3 Die Gemeinschaften hatten im ! Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) am 18. April 1951; der EGKS-Vertrag (EGKSV) fmdet sich in seiner ursprünglichen Fassung abgedruckt, in: BGBI. 195211, S. 447 ff, in seiner aktuellen Fassung, in: Sartorius 11 Wlter Nr. 150. GründWlg der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) Wld der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) am 25. März 1957; der EAG-Vertrag (EAGV) fmdet sich in seiner ursprünglichen FassWlg im BGBI. 195711, S. 1014 ff, abgedruckt in seiner aktuellen Fassung, in: Sartorius 11 Wlter Nr. 200; der EWG-Vertrag (EWGV) fmdet sich in seiner ursprünglichen Fassung im BGBl. 1957 11, S. 766 ff, berichtigt ebenda aufS. 1678 bzw. in BGBI. 195811, S. 64. 2 Siehe nur die 1986 Wlterzeichnete Wld gemäß ihres Art. 33 Abs. 2 zum 1. Juli 1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte (EEA), ABI. 1987, L 169, S. 1 ff Vgl. dazu Streinz, ZLR 1992, S. 233 (233); Loth, in: Gesamteuropa, S. 18 (29 ff); Woyke, in: Gesamteuropa, S. 362 (368 f). Woyke bezeichnet die EEA als das erste fixierte umfassende Reformwerk der Europäischen Gemeinschaften. Vgl. zur Kritik an der EEAPescatore, EuR 1986, S. 153 ff 3 An dieser Stelle sei nur auf die vergeblichen BemühWlgen um die Schaffimg einer Europäischen Politischen Union auf der Grundlage der Fouchet-Pläne in den sechziger Jahren verwiesen. Siehe dazu die zahlreichen Dokumente bei Sieg/er, Ew-opäische politische Einigwtg, S. 114 ff Vgl. auch die EinleitWlg, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 2 f; Oppermann, Ew-oparecht, Rn. 27; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 6; Loth, in: Gesamteuropa, S. 18 (26); Woyke, in: Gesamteuropa, S. 362 (365 f). Außerdem ist hier die Nichterreichung einer Wirtschafts- Wld Währwtgsunion trotz verschiedener Initiativen (Barre-Plan 1969, Wemer-Plan 1970) in den siebziger Jahren zu

3 Püh.

34

1. Teil: Einleitung

übrigen auch solche Krisen zu überstehen, die bis hin zur Existenzfrage gingen.' Die "Eurosklerose"5 wurde phasenweise zum geflügelten Wort und symbolisierte den lange anhaltenden Stillstand der Europäischen Integration nach 1969. 6 Im Jahre 1981 sank die Zustimmung zum europäischen Integrationsprozeß in Meinungsumfragen in der Bevölkerung sogar einmal unter die 50-Prozentmarke7 , obwohl doch kurz zuvor im Jahre 1979 erstmals eine Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes stattgefunden hatte. 8 Die mangelnde Akzeptanz der Gemeinschaft zu Beginn der achtziger Jahre ist sicherlich insbesondere auf die damalige besorgniserregende Wirtschaftslage in den Mitgliedstaaten und auf die damit einhergehenden Zweifel der Bürger an der Handlungsfähigkeit der EWG in ihrer Funktion als Wirtschaftsgemeinschaft zurückzuführen. 9 Doch auch noch in den neunziger Jahren offenbarten die heftigen Diskussionen um den Vertrag über die Europäische Union (EUV) vom 7. Februar 1992 10 und die Ergebnisse der Referenden in Dänemark und nennen. Im Jahre 1978 konnte allerdings das Europäische Währungssystem (EWS) begründet werden. Vgl. dazu nur Oppermann, Europarecht, Rn. 32 ff. bzw. Rn. 811 f; Woyke, in: Gesamteuropa, S. 362 (366 f). Schließlich sei aber auch an das Scheitern der Begründung einer Europäischen Union auf der Grundlage des sog. Tindemans-Berichts erinnert. Der Tindemans-Bericht [mdet sich abgedruckt, in: Beilage 1/76 zu BullEG 1976. Vgl. Bengel (u.a.), Nur verpaßte Chancen?, S. 18 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 42 f; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 7; Woyke, in: Gesamteuropa, S. 362 (367 f). 4 Vgl. dazu Wilmowsky, JURA 1992, S. 337 (337); Pipkorn, in: BBPS, Die EU, S. 36. Hier soll nur hingewiesen werden auf das Fernbleiben Frankreichs von den Beratungen im Ministerrat der EWG im Jahre 1965. Die daraus resultierende Krise konnte erst durch die Luxemburger Vereinbarung der sechs EWG-Außenminister vom 29. Januar 1966 beigelegt werden. Der sog. "Luxemburger Komprorniß" [mdet sich abgedruckt, in: EuR 1966, S. 73 f Vgl. dazu insbesondere Streinz, Die Luxemburger Vereinbarung, S. I ff. Vgl. ferner Eiden, DVBI. 1988, S. 1087 (1088 f); Seeler, EuR 1990, S. 99 (101); Oppermann, Europarecht, Rn. 29 f 5 Vgl. zu diesem Begriff Wilmowsky, JURA 1992, S. 337 (337); Loth, Integration 1994, S. 149 (151); Fischer, Europarecht, S. 17. vgl' dazu auch Baur, JA 1992, S. 65 (69); Weiden/eId, in: Der vollendete Binnenmarkt, S. 7 (7). 6 Vgl. Leipold, in: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, S. 41 (47 bzw. 53 f) m.w.N. Dieser sieht den Grund für die Stagnation in erster Linie in dem durch die "Luxemburger Vereinbarung" gleichsam festgeschriebenen Einstimmigkeitserfordernis für alle bedeutsamen Entscheidungen. 7 Loth, Integration 1994, S. 149 (151). 8 Vgl. zur ersten Direktwahl des Europäische Parlamentes die Ausfiihrungen von Schönberger, Hauptsache Europa, S. 19 ff. m.w.N. Siehe aber auch unten im 3. Teil unter B. m. 3. c) a.E. 9 Siehe die Angaben zur wirtschaftlichen Lage in der Gemeinschaft zu Beginn der achtziger Jahre bei Weiden/eId, Europäische Defizite, europäische Perspektiven, S. 57. 10 Abgedruckt, in: ABI. 1992, C 191, S. I ff. Siehe auch ABI. 1992, C 224, S. I ff.

A. Zum Verlauf der Europäischen Integration

35

Frankreich die Akzeptanzprobleme der Gemeinschaft in der Bevölkerung mancher Mitgliedstaaten. I I Warum der Weg der Europäischen Integration tatsächlich dann doch immer weiter fortgeführt wurde, mag verschiedene Gründe haben. Sicherlich gab es Politiker, die auf das europäische Trittbrett aufsprangen, weil es gerade zeitgemäß und opportun war. 12 In jedem Fall steht aber hinter der Europäischen Integration die Einsicht, daß immer mehr staatliche Probleme nicht mehr von den Mitgliedstaaten alleine, sondern nur noch oder zumindest effizienter auf europäischer Ebene einer sachgerechten Lösung zugeführt werden können. 13 Die Europäische Integration stellt daher keinen Selbstzweck dar, sondern die Antwort auf Herausforderungen unserer Zeit. 14 Als Garant des Friedens in Europa und als Instrument der Wohlfahrtssteigerung in ihren Mitgliedstaaten ist sie unverzichtbar. '5 Es soll jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit sein, umfassend darauf einzugehen, welche konkreten Aufgaben die Mitgliedstaaten nur im Rahmen der Gemeinschaft bewältigen können bzw. zu bewältigen gedenken. '6 Dies kann nachfolgend nur auszugsweise und nur unter Beachtung der hier zu behandelnden Fragestellungen geschehen.

Vgl. dazu Weidenfeld, Europa '96, S. 8. Vgl. auch Leipold, in: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, S. 41 (48). 13 Woyke, in: Gesamteuropa, S. 362 (362 bzw. 363), der deshalb wie viele andere auch eine Europäische (politische) Union fordert. Vgl. auch Everling, in: FS für Doehring, S. 179 (190 f); Delors, in: Die Zukunft Europas, S. 75 (76); Schmidhuber, in: FS für Helmrich, S. 1994, S. 395 (397); Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, S. 106 ff.; Weidenfeld, Europa '96, S. 15. Vgl. ferner von SimsoniSchwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 6: "Die Staaten brauchen die Gemeinschaft, sonst wäre es nie zu ihr gekommen." Vgl. dann die ganz grundlegenden Ausfühnmgen von Tomuschat, in: Deutschlands neue Außenpolitik, S. 15 (17 f), über die Gründe für die Einsicht der Staaten in die "rechtliche Begrenztheit souveräner Staatsmacht" . Beachte aber auch die von Demmke, DV 1994, S. 49 (49 f) m.w.N., aufgeworfene These, wonach die Mitgliedstaaten versuchen, ihre aufgrund bestimmter Entwicklungen im inland abnehmende Handlungsfähigkeit über eine "Europäisierung" von Politik bereichen wiederzugewinnen. 14 Pernice, DV 1993, S. 449 (487) m.w.N. Vgl. auch Piepenschneider, in: Europäische Integration als deutsches Interesse, S. 30 (30). 15 Vgl. nur Pernice, DV 1993, S. 449 (487). Nach Aussage des Bundesministers der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland, Volker Rühe, BulffiReg. 1995, S. 73 (74), stellt die Europäische Union einen Stabilitätsraum dar, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Vgl. auch Häberle, in: FS für Schelsky, S. 141 (157). 16 Siehe nur die Aufzählung bedeutender Problemstellungen bei Woyke, in: Gesamteuropa, S. 362 (363). 11

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l. Teil: Einleitung

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11. Die Begründung der Europäischen Union, ihre Erweiterung um Finnland, Österreich und Schweden und andere Höhepunkte in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Die Europäische Integration erfuhr in der ersten Hälfte der neunziger Jahre eine in erster Linie überaus positive Entwicklung. Zu den Höhepunkten dieser Zeit zählt zunächst die weitgehende Verwirklichung des Binnenmarktprojekts. 17 Außerdem ist der Abschluß des EUV am 7. Februar 1992 hervorzuheben. 18 Durch die in diesem Vertrag geregelten substantiellen Veränderungen des EWGV erfuhr die Idee der Europäischen Integration einen weiteren, zum Teil bemerkenswerten vertraglichen Ausbau. Diese Bewertung gilt unabhängig davon, daß die durch ihn begründete und lange angestrebte Europäische Union (EU) keine eigene Rechtspersönlichkeit besitd 9 und der Europäische Raf o am 12. Dezember 1992 in Edinburgh gravierende Ausnahmeregelungen beschließen mußte, um allen Staaten die Ratifizierung zu ermöglichen. 21 Der EUV beinhaltet insbesondere die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen22 als auch die intergouvemementale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik (Art. J EUV)23 sowie in den Bereichen Justiz und innere Sicherheit (Art. K EUV)24. Schließlich ist noch die ErweiteVgl. hier nur van Scherpenberg, S. 9. Siehe dazu Wlten im 2. Teil Wlter B. So ebenfalls trotz aller einschränkenden Kritik Woyke, in: Gesamteuropa, S. 362 (373 ff). 19 Piplwrn, in: BBPS, Die EU, S. 38. Vgl. auch Oppermann, in: Der StaatenverbWld der Europäischen Union, S. 87 (90) m.w.N.; Streinz, in: Die Europäische Union Wld Österreich, S. 29 (34); Oeter, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (678) m.w.N.; Huber, in: Verfassungsrecht im Wandel, S. 349 (358); Lecheier, in: VerfassWlgsrecht im Wandel, S. 383 (393). Differenzierend Wld im Ergebnis eine partielle Völkerrechtssubjektivität bejahend Dörr, EuR 1995, S. 334 (343 f). Ress, JuS 1992, S. 985 (986), erkennt der Europäischen Union hingegen eine eigene Rechtspersönlichkeit zu; vgl. auch ders., EuR Beiheft 2 - 1995, S. 27 ff 20 Der Europäische Rat ist das LeitWlgsorgan der EU. Vgl. dazu nur Streinz, Europarecht, Rn. 279; ders., in: Die Europäische Union Wld Österreich, S. 29 (35 ff). Er ist zu Wlterscheiden vom EG-Organ Rat (Art. 145 ff EGV). Vgl. zum Verhältnis zwischen Europäischem Rat (Art. D EUV) Wld Rat (Art. E EUV) ebenfalls ders., in: Die Europäische Union Wld Österreich, S. 29 (37). 21 Piplwrn, in: BBPS, Die EU, S. 38 f Insbesondere Dänemark wurde so die Abhaltung eines weiteren Referendums im Mai 1993 ermöglicht, das dann einen positiven Ausgang genommen hat. 22 Vgl. dazu nur Häde, EuZW 1992, S. 171 ff; Streinz, Europarecht, Rn. 857 ff 23 Vgl. zur Gemeinsamen Außen- Wld Sicherheitspolitik (GASP) nur Müller-Graff, in: Die Gemeinsame Außen- Wld Sicherheitspolitik der Europäischen Union, S. 53 ff 24 Vgl. dazu nur SchweizerIHummer, Europarecht, S. 404. 17

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A Zum Verlauf der Europäischen Integration

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rung der neu geschaffenen EU um die drei ehemaligen EFT A-Mitgliedef 5 Finnland, Österreich und Schweden zum 1. Januar 1995 anzuführen?6 Die EU der 15 Mitgliedstaaten zählt damit nun 370,5 Millionen Bürger und bildet mit einer gesamtwirtschaftlichen Leistung (Bruttoinlandsprodukt) von rund 11 Billionen DM den größten Binnenmarkt der Welt. 27 Norwegen, dessen Aufnahme ebenfalls vorgesehen war, konnte der EU nach einer ablehnenden Volksabstimmung nicht beitreten?8 Doch es gibt noch weitere richtungsweisende Entwicklungen. Als Konsequenz aus dem Wegfall der bipolaren Weltordnung und den damit einhergehenden friedlichen Revolutionen in Osteuropa kommt es zu einer umfangreichen Annäherung der Staaten aus dieser Region an die EU. So wurden am 18. Juli 1994 Freihandelsabkommen zwischen der EU und den baltischen Staaten unterzeichnet, die ebenfalls am 1. Januar 1995 in Kraft traten?9 Zu diesem Termin gelangten schließlich auch die letzten der weitreichenden "Europa-Abkommen"3o mit Bulgarien, Polen, Rumänien, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn zur Geltung. 31 Diese Abkommen stellen einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Mitgliedschaft in der EU dar. Nachdem Ungarn am 1. April 1994 und Polen am 8. April 1994 einen Antrag auf Beitritt in die EU gestellt hatten32 , bekräftigte der Europäische Rat während seiner Gipfelkonferenz vom 9. bis 10. Dezember 1994 in Essen seinen auf seiner Tagung im Juni 1993 in Kopenhagen gefaßten Beschluß, daß "der künftige Beitritt der assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas vorbereitet" wird. 33 Zu diesem Zweck hat insbeVgl. zur EFTA (European Free Trade Association) nur Gasteyger, S. 154 fI Vgl. dazu KaiserlVisurilMalmströmlHjelseth, Integration 1995, S. 76 fI 27 Siehe EU-Informationen (Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland) Nr. l/Januar 1995, S. 3. 2& Siehe Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 30. November 1994, S. 1 bzw. S. 33. 29 Siehe EUROPA FORUM - Informationen aus dem Europäischen Parlament - Nr. 11194, S. 3. 30 Vgl. zum Charakter der "Europa-Abkommen" nur Läufer, 22 Fragen zu Europa, S.104. 31 Siehe SZ vom 2. Januar 1995, S. 1. 32 Siehe die Nachweise, in: EU-Informationen (Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland) Nr. lIJanuar 1995, S. 6. 33 Siehe BullBReg. 1994, S. 1069 (1070 bzw. 1073). Siehe auch den in Essen vorgelegten "Bericht des Rates an den Europäischen Rat Essen über die Strategie zur Vorbereitung des Beitritts der assoziierten MOEL", BullBReg. 1994, S. 1069 (1078 fI). Siehe zur neueren Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und den mittel- und osteuropäischen Staaten ebenfalls die überaus zahlreichen Dokumente, in: EA 1994, D 641 fI Vgl. zum Stand der Integrationsfiihigkeit der mittel- und osteuropäischen Staaten auch Bertelsmann Stiftung, Mittel- und Osteuropa auf dem Weg in die Europäische Union, S. 5 fI 25 26

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1. Teil: Einleitung

sondere die Komrnission34 bereits verschiedene Dokumente vorgelegt.35 In Essen bestätigte der Europäische Rat ebenfalls, "daß in die nächste Phase der Erweiterung der Union Zypern und Malta einbezogen werden".36 Dieser Sachstand blieb auch nach der Tagung des Europäischen Rates am 26. und 27. Juni 1995 in Cannes unverändert. 37 Doch steht für die nähere Zukunft nicht nur eine Erweiterung der EU an, sondern auch eine Überprüfung ihrer vertraglichen Grundlagen. So hatte der Europäische Rat während seiner Tagung am 24. und 25. Juni 1994 auf Korfu beschlossen, eine "Reflexionsgruppe" einzusetzen. Diese bereitete ab dem 2. Juni 1995, also genau 40 Jahre nach der Konferenz von Messina, welche im Jahre 1955 den Beginn des europäischen Einigungsprozesses einleitete38, die nach Art. N Abs. 2 EUV für das Jahr 1996 einzuberufende Vertragsrevisionskonferenz VOr. 39 Die "Reflexionsgruppe", der neben Vertretern der Außenmini34 Die jetzt übliche Bezeichmmg fiir die Kommission der EG (Art. 155 ff. EGV) ist Europäische Kommission. Vgl. dazu nur Läufer, 22 Fragen zu Europa, S. 17 m.w.N. Siehe aber auch die Nachweise, in: EuZW 1994 (Heft 4), S. XLI. Demnach bleibt die Bezeichnung "Kommission der Europäischen Gemeinschaft" bei juristischen und formellen Texten bestehen, da sie die richtige juristische Bezeichnung ist. Es wird daher nachfolgend die Bezeichnung "Kommission" verwendet werden. 35 Siehe dazu nur das "Weißbuch. Vorbereitung der assoziierten Staaten Mittelund Osteuropas auf die Integration in den Binnenmarkt der Union", KOM (95) 163 endg. vom 3. Mai 1995. Dieses Weißbuch wendet sich übrigens auch an die baltischen Staaten und Slowenien. Siehe KOM (95) 163 endg., S. 5. Siehe aber auch schon die "Mitteilung der Kommission an den Rat. Die Europa-Abkommen und die Zeit danach: Eine Strategie zur Vorbereitung des Beitritts der Länder Mittel- und Osteuropas", KOM (94) 320 endg. vom 13. Juli 1994, bzw. die "Mitteilung der Kommission an den Rat. Ergänzende Ausfiihnmgen zu der Mitteilung der Kommission über "Die EuropaAbkommen und die Zeit danach: Eine Strategie zur Vorbereitung des Beitritts der länder Mittel- und Osteuropas", KOM (94) 361 endg. vom 27. Juli 1994. Siehe ferner die "Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament. Industrielle Zusammenarbeit mit den Ländern Mittel-IOsteuropas", KOM (95) 71 endg. vom 14. März 1995. 36 Siehe BullBReg. 1994, S. 1069 (1073). 37 Siehe BullBReg. 1995, S. 609 (611 f). Siehe auch die Schlußfolgerungen des Rates ebenda, S. 615 ff. Vgl. zu den möglichen fmanziellen Konsequenzen für die EU, die insbesondere im Bereich der Agrarfmanzierung gerade durch die Beitritte der mittelund osteuropäischen Staaten eintreten können, Baldwin, Internationale Politik 1995, S. 27 (32 ff.) m.w.N. 38 Siehe die am 2. Juni 1955 gefaßte Resolution, abgedruckt, bei: Siegler, Europäische politische Einigung, S. 83 ff. Vgl. zu Konferenz von Messina auch Küsters, S. 119 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 22; Loth, in: Gesamteuropa, S. 18 (24 f). 39 Siehe zum Beschluß des Europäischen Rates BullBReg. 1994, S. 685 (693 f). Vgl. zu den Aufgaben der Reflexionsgruppe nur J. Böhm, EURO-Aktuell (Bayerisches Staatsministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten), Nr. 124 vom 28. Juli

A Zum Verlauf der Europäischen Integration

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ster der Mitgliedstaaten und einem Vertreter des Präsidenten der Kommission auch zwei Vertreter des Europäischen Parlamentes angehörten40 , hat ihren Bericht dem Europäischen Rat bei dessen Tagung im Dezember 1995 in Madrid vorlegt. 41 Der Europäische Rat hat daraufhin Tagungsort und Tagungsbeginn der Vertragsrevisionskonferenz, "deren Aufgabe es sein wird, die politischen und institutionellen Voraussetzungen für die Anpassung der Europäischen Union an die heutigen und künftigen Erfordernisse zu schaffen, insbesondere mit Blick auf die nächste Erweiterung"42, beschlossen. 43 Die Konferenz hat somit im Rahmen einer Sondertagung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am 29. März 1996 in Turin unter Beteiligung des Europäischen Parlamentes begonnen. 44 Verbindliche Ergebnisse der Regierungskonferenz werden frühestens im ersten Halbjahr 1997 erwartet. 45

ill. Globale Aspekte und Ausblick Die hier aufgezeigten Entwicklungen belegen, daß es sich bei der EU nicht um ein Auslaufmodell handelt, sondern daß diese so viel Attraktivität ausstrahlt, daß diejenigen europäischen Staaten, die bisher noch kein Mitglied der EU geworden sind, einen Beitritt als unbedingt notwendig ansehen. 46 So steht die Einsicht in die Notwendigkeit, sich in der EU zusammenzuschließen, schließlich auch in einem engen Zusammenhang mit den globalen wirtschaftspolitischen Entwicklungen sowie der zunehmenden regionalen Wirtschaftsinte1994, S. 1 (13 f). Vgl. zu den Zielen der Vertragsrevisionskonferenz Pinder, Integration 1994, S. 138 (145 f). 40 Siehe BullBReg. 1994, S. 685 (693). 41 Dieses Vorgehen entsprach im übrigen auch den Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates bei seiner Tagung am 26. und 27. Juni 1995 in Cannes, BullBReg. 1995, S. 609 (614). Vgl. zum Inhalt des Berichts die Ausführungen des Mitglieds der Reflexionsgruppe Brok, Europäische Zeitung Nr. 1/1996, S. 5. Vgl. ferner die Analyse des Berichts bei Wesseis, Integration 1996, S. 14 ff 42 Siehe die Schlußfolgerungen des Vorsitzes, BullBReg. 1996, S. 61 (61 bzw. 72). 43 Siehe BullBReg. 1996, S. 61 (61, 72 bzw. 99 ff). 44 Siehe dazu im einzelnen die Schlußfolgerungen des Vorsitzes, in: BullBReg. 1996, S. 345 (345 ff). Siehe auch die Vereinbarung der Außenminister vom 26. März 1996 über die Beteiligung des Europäischen Parlamentes an den Beratungen der Regierungskonferenz, in: BullBReg. 1996, S. 347. 45 Siehe auch SZ vom 29. März 1996, S. 2. Vgl. zu möglichen Ergebnissen der Konferenz nur das offizielle deutsche Mitglied der Reflexionsgruppe Hoyer, Integration 1995, S. 189 ff 46 Vgl. auch Woyke, in: Gesamteuropa, S. 362 (364).

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1. Teil: Einleitung

gration in allen Teilen der Welt. 47 Gerade die Bildung zwischenstaatlicher Wirtschaftskooperationen in Nord- und Südamerika, im Pazifikraum und in Südostasien stellt eine große Herausforderung an die internationale Wettbewerbsfähigkeit der in den Mitgliedstaaten der EU ansässigen Unternehmen dar. 48 Dies gilt um so stärker, wenn man berücksichtigt, daß durch die Begründung der World Trade Organisation (WTO) zum 1. Januar 1995 49 und das ihr zugrunde liegende Regelungswerk eine weitreichende Liberalisierung des Welthandels mit entsprechenden Wachstumsmöglichkeiten erreicht wurde. 50 An zwischenstaatlichen Wirtschaftskooperationen sollen hier insbesondere die North American Free Trade Area (NAFT A)51, der Mercado Comun del Sur (MERCOSUR), die Association of Southeast Asean Nations (ASE AN) als auch die Asian-Pacific Economic Cooperation (APEC) Erwähnung finden. 52 Diese Kooperationen stecken zum Teil noch in den Anfangen und streben bisher grundsätzlich "lediglich" Freihandelszonen an. Bei der NAFT A handelt es sich dabei um das umfassende Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko, das am 1. Januar 1994 in Kraft trat. 53 Darüber hinaus besteht ein NAFT A-Zusatzabkommen mit parallelen Bestrebungen zum Schutz der Umwelt und der Beibehaltung der Arbeitsnormen. Die Vertragspartner streben eine Ausdehnung auf weitere Staaten Lateinamerikas an, wodurch eine Freihandelszone mit 800 Millionen Einwohnern geschaffen werden soll. Grundlage des MERCOSUR stellt die am 26. März 1991 zwischen Argen47 Gnmdlegend Henkel, VN 1995, S. 193 ff. Rode, in: Deutschlands neue Außenpolitik, Band 2, S. 23 (34), führt an, daß seit 1990 33 neue regionale Freihandelszonen entstanden oder vereinbart worden sind. 48 Vgl. Läufer, 22 Fragen zur Europa, S. 29. 49 Vgl. zu den Besonderheiten des Inkrafttretens des Abkommens zur Errichtung der wro Benedek, VN 1995, S. 13 (15). 50 Vgl. zur Schaffimg der wro May, S. 1 ff.; Jansen, EuZW 1994, S. 333 ff.; Benedek, VN 1995, S. 13 ff. Siehe auch die Schätzungen der Organization for European Economic Cooperation (OECD) zu den Effekten der Vereinbarungen auf die Weltwirtschaftsleistung im Jahre 2002, in: EUROPA FORUM - Informationen aus dem Europäischen Parlament - Nr. 12/94, S. 3. Siehe dazu auch die Angaben bei May, S. 110 f; Rode, in: Deutschlands neue Außenpolitik, Band 2, S. 23 (34). Skeptisch jedoch Münster, SZ vom 07./08. Januar 1995, S. 29. 51 Auch: North American Free Trade Agreement. 52 Vgl. dazu den Überblick im Auszug aus der Studie "Regionalismustendenzen im Welthandel" des HWW A (früher: Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv) - Institut für Wirtschaftsforschung -, abgedruckt, in: EU-Magazin Heft 5/1995, S. 8 ff. 53 Vgl. zur NAFTA insgesamt Meub, EuZW 1993, S. 532 ff.; Eizenstat, Amerika Dienst, Nr. 26 vom 6. Juli 1994, S. 1 ff.; Darby, S. 1 ff. Vgl. zu den vor Abschluß des NAFTA-Abkommens bereits bestehenden Handelsbeziehungen zwischen den drei Vertragsstaaten nur Meub, EuZW 1993, S. 532 (532 f) m.w.N.

A. Zum Verlauf der Europäischen Integration

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tinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay getroffene völkervertragliche Vereinbarung dar, in Anlehnung an ein Zollunionskonzept einen Gemeinsamen Markt errichten zu wollen. 54 Die ihm zugrunde liegende Freihandelszone ist bis auf geringfügige Ausnahmen zum 1. Januar 1995 vollendet worden. 55 Auch der Durchbruch zum Gemeinsamen Markt ist aufgrund der jüngsten institutionellen Beschlüsse gelungen. 56 Der MERCOSUR stellt für die EU einen nicht zu unterschätzenden Handelspartner dar. 57 Nicht zuletzt deshalb bemüht sich die EU, den Auswirkungen des möglichen Bestrebens der NAFT A, auch MERCOSUR-Staaten für die NAFTA zu gewinnen, vorzubeugen. 58 Bei der ASEAN handelt es sich um einen Zusammenschluß südostasiatischer Staaten aus dem Jahre 1967. 59 Ihre Mitglieder beschlossen im Januar 1993 den Aufbau einer ASE AN Free Trade Area (AFT A) bis zum Jahre 2008. 60 Die APEC schließlich stellt eine im Jahre 1989 gegründete Wirtschaftsorganisation pazifischer Staaten dar. Darunter befinden sich unter anderem Australien, China, Chile, Indonesien, Japan, Kanada, Neuseeland, Taiwan und die USA. Die Staatschefs und hochrangigen Vertreter der achtzehn Mitgliedstaaten der APEC beschlossen am 15. November 1994 auf ihrem Gipfel in Jakarta (Indonesien), bis zum Jahre 2020 stufenweise die größte Freihandelszone der Welt zu schaffen. 61 54 Vgl. dazu im einzelnen Dichiara, Integration 1994, S. 234 (236 ff). Vgl. ferner WoljJ, "Argentinien", Beilage zur SZ vom 2. Jwli 1995, S. m. 55 Vgl. dazu Pabsch, "Argentinien", Beilage zur SZ vom 2. Jwli 1995, S. I; WoljJ, "Argentinien", Beilage zur SZ vom 2. Juni 1995, S. IIl. 56 Pabsch, "Argentinien", Beilage zur SZ vom 2. Juni 1995, S. I. 57 Siehe dazu die Zahlenangaben im Auszug aus der Studie "Regionalismustendenzen im Welthandel" des HWWA - Institut für Wirtschaftsforschung -, abgedruckt, in: EU-Magazin Heft 5/1995, S. 8 (10 f). 58 Vgl. dazu auch den aufschlußreichen Auszug aus der Studie "Regionalismustendenzen im Welthandel" des HWW A - Institut für Wirtschaftsforschung -, abgedruckt, in: EU-Magazin Heft 511995, S. 8 (11 f). Siehe aber ebenfalls zu den Bestrebungen der EU in Hinsicht auf denkbare Formen der Zusammenarbeit mit dem MERCOSUR die "Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament. Ausbau der Politik der Europäischen Union gegenüber MERCOSUR", KOM (94) 428 endg. vom 19. Oktober 1994. 59 Vgl. zur Geschichte der ASEAN nur Rüland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13-14/95, S. 3 ff 60 Vgl. dazu im einzelnen den Auszug aus der Studie "Regionalismustendenzen im Welthandel" des HWW A - Institut für Wirtschaftsforschung -, abgedruckt, in: EU-Magazin Heft 5/1995, S. 8 (9 f). Mittlerweile haben sich die ASEAN-Staaten jedoch darauf geeinigt, die geplante Freihandelszone AFTA bereits bis zum Jahre 2003 (zumindest) in kleinen Schritten anzustreben und einzufiihren. Siehe dazu SZ vom 11. September 1995, S. 28. Vgl. ferner Rüland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13-14/95, S. 3 (7 f). 61 Vgl. dazu Köhler, SZ vom 17. November 1994, S. 32; Buchsteiner, DIE ZEIT

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1. Teil: Einleitung

Vor ebendiesem hier aufgezeigten globalen Hintergrund der stetig zunehmenden wirtschaftlichen Kooperationen ist die Fortentwicklung der EU zu verstehen und zu bewerten. Das Hauptanliegen der EU muß daher darin bestehen, um der allgemeinen Wohlfahrt wegen die internationale Wettbewerbsfähigkeit der in den Mitgliedstaaten der EU ansässigen Unternehmen zu stärken. 62 Aus der langfristigen Perspektive heraus sind dabei aber sowohl die sozialen Belange als auch die natürliche Lebensumwelt in der EU zu beachten. 63 Um diesen Zielen auch in Anbetracht der anstehenden Erweiterung gerecht zu werden, muß sich die EU einen Rahmen geben, in dem Entscheidungen auf überschaubare Art und Weise gefällt und durchgesetzt werden können. 64 Dazu bedarf es wiederum handlungs- und entscheidungsfahiger Institutionen. 65 Es muß jedoch um der Existenz der EU willen sichergestellt sein, daß gefällte Entscheidungen sowohl von den Mitgliedstaaten als auch von deren Bürgern akzeptiert werden können.

B. Zur vorliegenden Untersuchung I. Einführende Darstellung zur Europäischen Gemeinschaft Die vorliegende Arbeit wird ausschließlich Belange der Europäischen Gemeinschaft (EG) behandeln. 66 Die EG hat in den letzten Jahrzehnten im Vervom 25. November 1994, S. 3. Taiwan konnte auf Betreiben der Volksrepublik Chinas lediglich mit einem "mittleren" Beamten an dem Gipfel teilnehmen. Vgl. Köhler, SZ vom 12./13. November 1994, S. 21. 62 Vgl. dazu auch "Welthandel als globale Herausfordenmg: Eine Marktöffinmgsstrategie der Europäischen Union. (Mitteihmg der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen.)", KOM (96) 53 endg. vom 14. Februar 1996, insbesondere S. 2 f 63 Vgl. zu den langfristigen umweltpolitischen Anforderungen an die EU auch Pernice, NVwZ 1990, S. 414 (422). Vgl. außerdem Weiden/eId, in: Der vollendete Biruienmarkt, S. 7 (11). 64 Plakativ Janning, EA 1993, S. 645 (645): Am Ende der Regierbarkeit? 65 Vgl. Delors, in: Die Zukunft Europas, S. 75 (76). 66 Bei der Europäischen Gemeinschaft (EG) handelt es sich um die frühere EWG. Gemäß Art. G EUV wurde die EWG in EG umbenannt. Siehe jetzt auch Art. 1 EGVertrag (EGV). Der EGV findet sich abgedruckt, in: Sartorius 1I unter Nr. 150. Vorher hatte sich im allgemeinen Sprachgebrauch eingebürgert, den Begriff der Europäischen Gemeinschaft (EG) als Oberbegriff fiir alle drei europäischen Gemeinschaften (EWG, EGKS und EAG) zu verwenden. Die Verwendung des Singulars war jedoch juristisch nicht korrekt, da nach wie vor drei getrennte Gemeinschaften mit getrennten Griindungsverträgen bestehen. Siehe auch Art. 1 EEA. Vgl. dazu nur Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 19 m.w.N.

B. Zur vorliegenden Untersuch\Ulg

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gleich zur EGKS und zur EAG die rasanteste Entwicklung durchgemacht. Sie wurde am 25. März 1957 mit Wirkung zum l. Januar 1958 gegründet und ist darauf angelegt, eine umfassende wirtschaftliche Integration der beteiligten Staaten herbeizuführen. 67 Das Kernstück der EG im Jahre 1957 war dabei die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes (Art. 2 EGV).68 Seit dem Jahre 1985 strebt die EG nun die Herstellung eines Binnenmarktes (Art. 7a EGV) an. 69 Bei der EG handelt es sich um eine "Rechtsgemeinschaft" .70 Ihre ausschließlichen Handlungsformen zur Verwirklichung der Europäischen Integration sind die des Rechts. 7! Weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane sind dabei der Kontrolle darüber entzogen, ob ihre diesbezüglichen Handlungen im Einklang mit dem EGV stehen. 72 Die Gemeinschaft73 erteilt den Mitgliedstaaten zur Erreichung des Integrationsziels grundsätzlich Anweisungen in den in Art. 189 EGV genannten Rechtshandlungsformen, denen diese Folge zu leisten haben. 74 Diesen Anweisungen kommen die Mitgliedstaaten jedoch nicht immer in der erforderlichen Weise nach. 75 Ein vertragswidriges Vollzugsverhalten der Mitgliedstaaten beschert deren Volkswirtschaften in der Regel zum Teil erhebliche Wettbewerbsvorteile. 76 Zugleich gefahrdet es aber das Fortkommen der Gemeinschaftsprojekte und damit das der Europäischen Integration als solcher. Die uneinheitliche Ausführung von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten begründet nämlich einen allgemeinen Vertrauensverlust in die Problemlösungsfahigkeit der Gemeinschaft, der nur allzu schnell in 67 Vgl. Fischer, Europarecht, S. 15. Vgl. zur Gründ\Ulg der EWG insgesamt Küsters, S. 1 ff. 68 Siehe dazu unten im 2. Teil unter B. I. 1. 69 Siehe dazu unten im 2. Teil insbesondere unter B. I. 2. bzw. unter B. 11. 70 Vgl. dazu Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 31 ff.; Schwarze, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 9 (9); Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (545 f) jeweils m.w.N. 7! Vgl. Klein, Der Staat 1994, S. 39 (39) m.w.N. Vgl. auch bereits Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 33 ff. 72 Siehe Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 23. April 1986, Rs. 294/83 (parti ecologiste "Les Verts"lEuropäisches Parlament), Slg. 1986, S. 1339 (Rn. 23). Vgl. dazu auch Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (545). 73 Wenn nachfolgend der Begriff der "Gemeinschaft" verwendet wird, so ist damit die EG gemeint. Unter "Gemeinschaftsrecht" ist dementsprechend das Recht der EG zu verstehen. 74 Vgl. dazu Hetmeier, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 189 Rn. 1 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 375 ff. Der EGV kennt auch sog. "ungekennzeichnete Rechtshandlungen". Diese sind hier aber zu vernachlässigen. Vgl. zu ihnen nur SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 91 f m.w.N. 7S Siehe dazu im einzelnen nur im 2. Teil unter C. 11. 3. 76 Vgl. nur Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (327).

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l. Teil: Einleitung

eine erhebliche Gefahrdung des Fortbestands der Europäischen Integration einmünden kann. 77 Die hier angestellte Untersuchung bemüht sich daher, Überlegungen aufzuzeigen, wie die Mitgliedstaaten angehalten werden können, Gemeinschaftsrecht tatsächlich vollständig und im Sinne der Gemeinschaft zu vollziehen. Die nachfolgenden Betrachtungen werden sich dabei im übrigen vorrangig an der Herstellung und Verwaltung des Binnenmarktes orientieren. 78 Die Errichtung des Binnenmarktes hat die Europäische Integration gewaltig vorangebracht und stellt zur Zeit gleichsam ihr Symbol dar. Aus diesem Grunde darf es keinen Stillstand gegeben. Die mit dem Binnenmarkt geschaffenen Strukturen sind um jeden Preis zu erhalten, ja sogar weiter auszubauen. Andernfalls geriete die Europäische Integration ebenfalls in eine möglicherweise existenzbedrohende Krise. Die Gemeinschaftsrechtsordnung stellt im übrigen eine eigenständige Rechtsordnung dar. 79 Insoweit stehen sich das Gemeinschaftsrecht und das mitgliedstaatliche Recht jeweils als getrennte, aber nicht isolierte Rechtsordnungen gegenüber. 80 Vielmehr durchdringen sich beide und sind voneinander abhängig. Man spricht insoweit auch von einer IVerzahnung" 81 der Rechtsordnungen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. 82

77 Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (290) m.w.N., kommt zu dem Schluß, daß sich der einheitlich effektive Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten immer mehr als Existenzfrage der Europäischen Gemeinschaften erweist. 78 Vgl. zum Verhältnis einer wirksamen Kontrolle der mitgliedstaatlichen Anwendung von Gemeinschaftsrecht und der Schaffung bzw. des Funktionierens des Binnenmarktes auch Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (206). 79 Siehe nur Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62 (Van Gend & LooslNiederländische Finanzverwaltung), Sig. 1963, S. 1 (25); Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. 6/64 (CostalE.N.E.L.), Sig. 1964, S. 1251 (1269 bzw. 1270). Die Frage, ob es sich bei Gemeinschaftsrecht um eine "eigenständige" Rechtsordnung sui generis oder doch noch um Völkerrecht handelt, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Vgl. dazu nur Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 207 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 107 ff. jeweils m.w.N. Die Einordnung ist praktisch im Prinzip nicht von Bedeutung, weil aus ihr alleine keine weiterreichenden rechtlichen Folgerungen abzuleiten wären. Vgl. auch Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 77; Streinz, Europarecht, Rn. 114. 80 Vgl. dazu nur Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (253) m.w.N. 81 Vgl. zu diesem Begriff Pescatore, EuR 1970, S. 307 (308); Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 36. 82 Vgl. dazu im einzelnen Streinz, Europarecht, Rn. 171 bzw. Rn. 175 ff.

B. Zur vorliegenden UntersuchWlg

45

11. Zum Verlauf der Untersuchung Der Untersuchung vorangestellt wird eine Abhandlung der wichtigsten Grundbegriffe und Zusammenhänge (2. Teil). Dabei wird insbesondere die konkrete "Verzahnung" des Gemeinschaftsrechts und des Rechts der Mitgliedstaaten eine eingehendere Darstellung erfahren. Darüber hinaus soll dort noch einmal die Notwendigkeit eines effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten für das Gelingen des Binnenmarktprojekts herausgestellt werden. Im Anschluß daran werden im 3. Teil Defizite des Vollzugs des Gemeinschaftsrechts behandelt. Es wird dabei zwischen "materiellrechtlichen" (unter B. I.), "verfahrensrechtlichen" (unter B. 11.) und solchen Defiziten unterschieden, "die die Legitimation des Gemeinschaftsrechts betreffen" (unter B. III. Exkurs). Im Vordergrund des 3. Teils steht im Hinblick auf den 4. Teil die Behandlung der "verfahrensrechtlichen" Defizite. Es schließt sich eine Betrachtung der "rechtlichen Grenzen der Effizienz" an (unter C.). Dieser Abschnitt ist Ausdruck einer hier vertretenen Prämisse, wonach die schlichte Finalorientierung des Gemeinschaftsrechts auf Dauer zwangsläufig seine unangefochtene und konsequente Anwendung in den Mitgliedstaaten behindert. Es wird somit ein Begriff der Effizienz zugrunde gelegt, nach dem die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts durch die zwingende Notwendigkeit zur Berücksichtigung der Menschenrechte der privaten Marktteilnehmer beschränkt wird. 83 Der 4. Teil schließlich befaßt sich mit solchen Lösungsansätzen, die möglicherweise eine effiziente(re) Befolgung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten gewährleisten. Es gilt dabei, die gemeinschaftsrechtlichen oder in der Literatur entwickelten Ansätze zu systematisieren, in angemessenem Umfang darzustellen und unter Effizienzgesichtspunkten zu bewerten. Unterschieden wird dabei zwischen "zentralen" (unter B.) und "dezentralen" (unter c.) Ansätzen. Diese Unterscheidung rührt daher, daß das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich von den Mitgliedstaaten vollzogen wird. 84 Insofern ist unter "zentralen" Ansätzen zu verstehen, wie die Gemeinschaft auf die Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten einwirkt, ja es eventuell sogar selbst vollzieht. Im Rahmen "dezentraler" Ansätze hingegen wird aufzuzeigen sein, auf welche Art und Weise der private Marktteilnehmer immer stärker in die Überwachung des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht einbezogen wird. Diese Ansätze nahmen ihren Ausgangspunkt in der Recht83 84

Vgl. dazu auch Bleckmann, in: FS für Bömer, S. 29 (31 f). Siehe dazu Wlten im 2. Teil Wlter C. I. 2.

46

1. Teil: Einleitung

sprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)85, der nicht zu Unrecht als "Motor der Integration" bezeichnet wird. 86 Im abschließenden 5. Teil sollen die dargestellten Lösungsansätze noch einmal unter verschieden Aspekten zusammengefaßt und analysiert werden.

ill. Zur Zielsetzung der Arbeit und zur Struktur der Gemeinschaft Die vorliegende Erörterung strebt also an, vor dem Hintergrund der Herstellung und Verwaltung des Binnenmarktes unter Bezugnahme auf die noch näher darzustellenden Defizite einen effizienteren Vollzug von Gemeinschaftsrecht zu erreichen. Dieser Zielsetzung liegt die Einsicht zugrunde, daß die Gemeinschaft langfristig nur bestehen kann, wenn es ihr gelingt, glaubhaft zu machen, daß sie die ihr übertragenen Kompetenzen und Aufgaben tatsächlich wirksam ausübt bzw. erfüllen kann. Das kann natürlich nur im Idealfall unter Abstellung eines jeden Reibungsverlustes bzw. unter völliger Abstellung der noch aufzuzeigenden Mängel geschehen. Möglicherweise wird sich zeigen, daß zahlreiche beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten begangene Vertragsverletzungen gerade auf die Struktur der Gemeinschaft zurückzuführen sind. Die Struktur der Gemeinschaft ist in besonderer Weise vom Verhältnis zwischen ihr und ihren Mitgliedstaaten geprägt.87 Daher hängen der Fortbestand, die Fortentwicklung und das Funktionieren der Gemeinschaft maßgeblich von der Intensität des Zu85 Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wurde ein Gericht erster Instanz (EuG) beigeordnet. Die Beiordnung des EuG, dem die Zuständigkeit für bestimmte Klagearten übertragen werden konnte, wurde auf der Grundlage des durch die EEA in den Vertrag eingefiigten früheren Art. 168a Abs. 1 EWGVermöglicht. Mit dem "Beschluß des Rates (88/591IEGKS, EWG, Euratom) vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichtes erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften", abgedruckt, in: Sartorius II unter Nr. 220b, wurde von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Siehe jetzt auch Art. 168a Abs. 1 EGY. VgI. zum EuG insgesamt, insbesondere zu seinen konkreten Zuständigkeiten, Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 168a Rn. I ff; SchweitzerlHummer. Europarecht, S. 63 ff; Streinz, Europarecht, Rn. 329 bzw. Rn. 333; Kirschner, Das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, S. I ff jeweils m. w.N. Siehe jetzt aber auch den "Beschluß des Rates vom 8. Juni 1993 zur Änderung des Beschlusses 88/591IEGKS, EWG, EURATOM zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (93/350IEURATOM, EGKS, EWG)", ABI. 1993, L 144, S. 21 f 86 Vgl. Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (70); Schwarze/Becker/Pollak. S. 17 jeweils m.w.N. VgI. aber auch Streinz, Europarecht, Rn. 494. 87 Grundlegend H. P. lpsen, Gemeinschaftsrecht, S. 207 ff m.w.N.

B. Zur vorliegenden UntersuchlUlg

47

sammenwirkens der Mitgliedstaaten in ihr und mir ihr ab. 88 Die Abhängigkeit wird besonders dadurch verdeutlicht, daß im Regelfall den Gemeinschaftsinstitutionen die Aufgabe zukommt, "europäische Politik zu betreiben und in deren Konsequenz Gemeinschaftsrecht zu erlassen"89, dessen Vollzug dann grundsätzlich den Mitgliedstaaten obliegt. 90 Die vorliegende Arbeit vermag es jedoch nicht zu leisten, den Versuch der Entwicklung einer neuen Gemeinschaftsstruktur zu unternehmen. Gerade vor dem Hintergrund der bevorstehenden Erweiterung der EU erscheint weder eine erheblich stärkere Zentralisierung noch eine erheblich stärkere Dezentralisierung der Gemeinschaftsstrukturen als sinnvoll. Die im 4. Teil aufzuzeigenden Lösungsansätze sind deshalb auch vor dem Hintergrund der bestehenden Gemeinschaftsstruktur zu sehen.

88 Vgl. Everling, in: FS für Doehring, S. 179 (190); Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (548); Streinz, Europarecht, Rn. 122. Seidl-HohenveldernlLoibl, Das Recht der Internationalen Organisationen, Rn. 0115, stellen dazu zutreffend fest, daß der Erhalt der Gemeinschaft "in der Praxis aber weniger vom Buchstaben der Satzung als vom Fortbestand eines stärkeren Willens zur Zusammenarbeit" abhängt, "als er bei sonstigen Organisationen üblich ist". 89 Oppermann, Europarecht, Rn. 544. 90 Vgl. Everling, in: FS für Doehring, S. 179 (190); Pache, S. 77 m.w.N. Siehe dazu aber im einzelnen lUlten im 2. Teil unter C. I. 2.

Zweiter Teil

Grundbegriffe A. Zur nachfolgenden Darstellung Im Zweiten Teil sollen einige Grundbegriffe und Zusammenhänge erläutert werden, die zum Verständnis der nachfolgenden Teile erforderlich sind. Zunächst bedarf es einer Darstellung des engen Verhältnisses zwischen der EG und dem Gemeinsamen Markt bzw. dem Binnenmarkt. Es folgen daher insbesondere Ausführungen darüber, wie der Binnenmarkt hergestellt bzw. verwaltet werden soll. Ferner soll die Bedeutung des Binnenmarktes vor allen Dingen auch für die Bundesrepublik Deutschland aufgezeigt werden (unter B.). Schließlich gilt es, sich genauer mit der Art und Weise des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht auseinanderzusetzen. An dieser Stelle ist in erster Linie darauf einzugehen, wie die gemeinschafts rechtlichen Anforderungen an den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten beschaffen sind. Dazu bedarf es auch der näheren Erläuterung des in der Rechtsprechung des EuGH zur Begründung von speziellen Vollzugsanforderungen häufig herangezogenen Grundsatzes des "effet utile" (unter c.). Abschließend soll dann noch einmal die Notwendigkeit eines effektiven mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht für die Herstellung und die Verwaltung des Binnenmarktes herausgestellt werden (unter D.).

B. Die Europäische Gemeinschaft und der Binnenmarkt I. Vom Gemeinsamen Markt zum Binnenmarkt 1. Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes

Die mit der Unterzeichnung der sogenannten Römischen Verträge am 25. März 1957 vollzogene Begründung der EWG sollte der wirtschaftlichen Integration der damaligen sechs Gründungsmitglieder dienen; dies waren Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. 1 Kern-

B. Die Europäische Gemeinschaft und der Binnenmarkt

49

stück dieser Integration war die Absicht, während einer Übergangszeit von im Grundsatz zwölf Jahren (Art. 8 EWGVZ), die jedoch keinesfalls länger als bis Ende 1973 dauern durfte (Art. 8 Abs. 6 EWGV3), einen Gemeinsamen Markt (Art. 2 EWGV4 ) zu errichten. 5 Unter dem Gemeinsamen Markt i.S.d. Art. 2 EWGV ist ein Wirtschaftsraum zu verstehen, in dem ein freier Verkehr von Waren und sonstigen Leistungen gewährleistet ist. 6 Dazu bedarf es der Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel, die einer Verschmelzung der mitgliedstaatlichen Märkte zu einem einheitlichen Markt im Wege stehen. 7 Nach der Grundkonzeption des Gemeinsamen Marktes wird die "Freiheit nach innen" dabei durch die "Einheitlichkeit des Marktes nach außen" vervollständigt.8 Die Grundlage des Gemeinsamen Marktes stellte die Zollunion (Art. 9 ff.

EWG~) dar. Diese erstreckte sich auf den gesamten Warenaustausch. Es wur-

den somit gemäß Art. 9 Abs. 2 EWGV IO daher sowohl die aus Mitgliedstaaten stammenden Waren als auch solche aus dritten Ländern, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr (Art. 10 Abs. 1 EWGyIl) befinden, erfaßt. Die angestrebte Zollunion, also die Abschaffung aller Zölle und Abgaben gleicher

1 Vgl. zur Entstehung der sog. Römischen Verträge nur Loth, in: Gesamteuropa, S. 18 (22 ff.). Vgl. ferner Gröner, in: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, S. 3 (5 f) m.w.N. Siehe ansonsten auch schon oben im l. Teil unter B. I. 2 Jetzt: Art. 7 EGY. 3 Jetzt: Art. 7 Abs. 6 EGY. 4 Jetzt: Art. 2 EGY. 5 Vgl. dazu auch Pescatore, EuR 1986, S. 153 (153 f); Schwarze/Becker/Pollak, S. 15f m.w.N. 6 Siehe EuGH, Urteil vom 7. Oktober 1985, Rs. 199/84 (procuratore della RepubblicalMigliorini und Fischl), Slg. 1985, S. 3317 (Rn. 14). Vgl. dazu Oppermann, Europarecht, Rn. 1128 m.w.N. Vgl. zur näheren Erläuterung des Gemeinsamen Marktes i.S.d. Art. 2 EWGV auch Grabitz, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, 2. Grundlieferung (Mai 1986), Art. 2 EWGV Rn. 14 ff. 7 Siehe dazu auch EuGH, Urteil vom 5. Mai 1982, Rs. 15/81 (Schul Douane Expediteur BV/lnspecteur der invoerrechten en accijnzen, Rosendaal), Slg. 1982, S. 1409 (Rn. 33). Vgl. dazu auch SchwarzelBeckerlPollak, S. 15 m.w.N. 8 Vgl. dazu im einzelnen Grabitz, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, 2. Grundlieferung (Mai 1986), Art. 2 EWGV Rn. 15 f; ders., in: FS fiir Steindorff, S. 1229 (1233) jeweils m.w.N. 9 Jetzt: Art. 9 ff. EGV. 10 Jetzt: Art. 9 Abs. 2 EGY. 11 Jetzt: Art. 10 Abs. I EGY.

4 Pühs

50

2.

Teil:~db~e

Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 13 ff. EWGV12Y3 und die Aufstellung eines Gemeinsamen Zolltarifs (Art. 18 ff. EWGVI4 YS, konnte bereits vor Ablauf der Übergangszeit erreicht werden. 16 Große Schwierigkeiten gab es jedoch bei der Verwirklichung der im Vertrag normierten fünf7 Grundfreiheiten. 18 Der Art. 100 Abs. 1 EWGV 9 enthielt die allgemeine gemeinschaftsrechtliche Ermächtigungsgrundlage für die Errichtung des Gemeinsamen Marktes. Diese erfordert einstimmige Beschlüsse des Rates hinsichtlich des Erlasses von "Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken".20 Art. 100 Abs. 1 EWG gelangte als Generalklausel gegenüber spezielleren Vertragsvorschriften, die eine Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ermöglichen, allerdings nur subsidiär zur Anwendung?1 Der Ansatz der Rechtsangleichung scheiterte im Ergebnis jedoch. Dies lag insbesondere daran, daß im Rat die erforderliche Einstimmigkeit nicht häufig genug herzustellen war. Außerdem wuchs die Zahl der Rechts- und Verwaltungsvorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten so schnell, daß die diesbezüglichen AngleiJetzt: Art. 13 ff. EGV 13 Oppermann, Europarecht, Rn. 1134 ff. m.w.N. 14 Jetzt: Art. 18 ff. EGV. 15 Oppermann, Europarecht, Rn. 1147 ff. m.w.N. 16 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 1130; J. F. Baur, JA 1992, s. 98 (98); SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 247 jeweils m.w.N. Vgl. zu den Anfangserfolgen der Gemeinschaft auch Leipold, in: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, S. 41 (45 f). 11 Bei den fünf ~dfreiheiten handelt es sich um die Warenverkehrsfreiheit nach den Art. 30 ff. EWGV (jetzt: Art. 30 ff. EGV), die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach den Art. 48 f EWGV (jetzt: Art. 48 f EGV), die Niederlassungsfreiheit nach den Art. 52 ff. EWGV (jetzt: Art. 52 ff. EGV), die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 59 ff. EWGV (jetzt: Art. 59 ff. EGV) und die Kapitalverkehrsfreiheit nach den Art. 67 ff. EWGV (jetzt: Art. 73b ff. EGV). Vgl. dazu insbesondere Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 453. Wenn in der Literatur häufig nur von "vier" ~dfreiheiten die Rede ist, so werden zwei der ~dfreiheiten unter "einer" ~dfreiheit zusammengefaßt. Vgl. nur Gröner, in: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, S. 3 (6). Noch anders Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 47. 18 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 1175 f; SchwarzelBeckerlPollak, S. 16 f; Immenga, JA 1993, S. 257 (258) jeweils m.w.N. 19 Jetzt: Art. 100 Abs. 1 EGV 20 Vgl. dazu nur Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1508 ff. 21 Vgl. Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100 EGV Rn. 72 ff. m.w.N.

12

B. Die Europäische Gemeinschaft und der Binnenmarkt

51

chungsbestrebungen der Gemeinschaft mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten konnten. 22 Hinzu kam, daß der Gemeinsame Markt aufgrund der weitreichenden Zielsetzungen der Gemeinschaft zu Beginn der siebziger Jahre, nämlich insbesondere der Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion und später auch der Umwandlung der Gemeinschaft in eine politische Union, aus dem unmittelbaren europapolitischen Blickfeld geriet. 23 Es drohte sogar die Gefahr, daß er das Scheitern dieser Zielsetzungen würde teilen müssen. Es folgte danach eine längere Phase der Stagnation. 24

2. Die Initiierung des Binnenmarktprojekts a) Das Binnenmarktprojekt und die Gründe für seine lnitiierung Auf seiner BfÜsseler Tagung vom 29./30. März 1985 bestimmte der Europäische Rat, daß "Maßnahmen zur Verwirklichung eines großen Binnenmarktes bis zum Jahre 1992, wodurch ein günstigeres Umfeld für die Förderung der Unternehmen, des Wettbewerbs und des Handels geschaffen wird"25, zu ergreifen seien. 26 Die Kommission wurde deshalb beauftragt, ein entsprechendes detailliertes Programm mit einem genauen Zeitplan auszuarbeiten. Dieser Aufforderung kam sie am 14. Juni 1985 nach und legte dem Europäischen Rat während seiner Tagung in Mailand das Weißbuch über die "Vollendung des Binnenmarktes"27 vor, welches von diesem auch gebilligt wurde. 28 Bei dem Weißbuch der Kommission handelte es sich um einen detaillierten, präzisen und mit genauen Zeitvorstellungen versehenen "Gesetzesfahrplan" für ungefähr 300 Rechtsakte, deren Verabschiedung als für die Realisierung des Binnenmarktes wesentlich angesehen wurde. 29 So Franzmeyer, in: Gesamteuropa, S. 342 (343). Vgl. dazu Seidel, in: FSfiirSteindorff, S. 1455 (1468). 24 Vgl. auch van Scherpenberg, S. 17 f Siehe zu dieser Entwicklung bereits oben im 1. Teil unter A. I. 25 Siehe BullEG NI. 3/1985, S. 13. 26 Vgl. dazu Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 396. Siehe aber auch schon die Billigung eines Binnenmarktkonzeptes durch den Europäischen Rat im Jahre 1982 in Kopenhagen, BullEG Nr. 12/1982, S. 9 (10 f). Vgl. dazu Streinz, ZLR 1992, S. 233 (234). 27 "Vollendung des Binnenmarktes. Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat", KOM (85) 310 endg. von 14. Juni 1985. 28 Vgl. dazu ebenfalls van Scherpenberg, S. 15; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 396 f 29 Vgl. dazu Oppermann, Europarecht, Rn. 1177. Siehe auch unten unter ll. 1. 22

23

52

2. Teil:

~dbegrilfe

Die Initiative für das Binnenmarktkonzept geht auf die späten siebziger Jahre zurück. 30 Ihre Motive stehen in einem engen Zusammenhang mit dem in den siebziger Jahren eingetreten Stillstand der Europäischen Integration und den drohenden Wettbewerbsnachteilen gegenüber den Volkswirtschaften insbesondere Japans und der USA. 31 Vor diesem Hintergrund beabsichtigte man nun, einen effektiven Binnenmarkt unter den Mitgliedstaaten zu schaffen. Dieser sollte eine Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa und des Prozesses der Europäischen Integration, aber auch die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen und die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen diesen erreichen. 32 Mit dem Vorhaben der Herstellung des Binnenmarktes ist schließlich auch die Absicht verbunden, über mehr Wachstum und eine gestärkte Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen eine verbesserte Beschäftigungssituation in der Gemeinschaft zu erreichen. 33

b) Die vertragliche Verankerung des Binnenmarktprojekts

Seine vertragliche Normierung erfuhr die Binnenmarktkonzeption durch Art. 13 EEA34 , der Art. 8a3S mit Wirkung vom 1. Juli 1987 in den EWGV einfügte. 36 In Art. 8a Abs. 2 EWGV erfuhr der Binnenmarkt eine Legaldefinition. Gemäß Art. 8a Abs. 1 EWGV sollte er bis zum 31. Dezember 1992 verwirklicht werden. Diese Bestimmung ist jedoch entgegen dem das Ende der Über30 Vgl. ZW' Entstehungsgeschichte PelkmanslBeuter, in: Jahrbuch der Europäischen Integration 1985, S. 149 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 35 bzw. 908 jeweils m.w.N. Siehe auch die Nachweise bei SchwarzelBeckerlPollak, S. 19 f, bzw., in: KOM (85) 310 endg., S. 3. 31 Vgl. dazu Seidel, in: FS für Steindorff, S. 1455 (1467); van Scherpenberg, S. 15; Weidenfeld, in: Der vollendete Binnenmarkt, S. 7 (7); Schwarze/Becker/Pollak, S. 20 m.w.N. 32 Vgl. Capelli, EuR - Beiheft 1- 1992, S. 11 (11); Ehlermann, Integration 1995, S. 11 (17f). 33 Siehe dazu insbesondere die Ausführungen, in: "Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausfordenmgen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert. Weißbuch", KOM (93) 700 endg. vom 5. Dezember 1993, S. 150 ff. Vgl. dazu EgelnHörnle/Licht, EU-Magazin Heft 6/1994, S. 26 ff. Vgl. ferner Läufer, 22 Fragen zu Europa, S. 31 bzw. S. 33 ff. Siehe aber auch die Schlußfolgenmgen des Vorsitzes des Europäischen Rates ZW' Verbesserung der Beschäftigungssituation auf seiner Tagung auf Korfu am 24. /25. Jtmi 1994, BullBReg. 1994, S. 685 (686 f). 34 Siehe ZW' EEA schon oben im 1. Teil unter A. I. 3S Jetzt: Art. 7a EGV. 36 Vgl. dazu SchwarzelBeckeriPollak, S. 21; Streinz, ZLR 1992, S. 233 (233).

B. Die Europäische Gemeinschaft lUld der Binnenmarkt

53

gangszeit regelnden Art. S Abs. 7 EWGV37 rechtlich nicht verbindlich. 38 Dies wird nicht zuletzt dadurch belegt, daß Art. Sa Abs. 1 EWGV ausdrücklich auf die "Bestimmungen dieses Vertrages" Bezug nimmt und Art. Sb und lOOb EWGV39 eben für den Fall besondere Verfahren vorsehen, daß die erforderlichen Angleichungen nach Art. 100a EWGV nicht bis zum 31. Dezember 1992 vorgenommen sein würden. 40 Der Konzeption zur Herstellung des Binnenmarktes liegen verschiedene Ansätze zugrunde, die dazu beitragen sollen, daß die bei der Errichtung des Gemeinsamen Marktes sichtbar gewordenen Probleme nicht mehr auftreten. 41 Hier ist in erster Linie die sogenannte "neue Strategie" der Kommission zu nennen. 42 Danach sollte die Rechtsangleichungspolitik der EG in binnenmarktrelevanten Fällen von nur ganz bestimmten Ausnahmen abgesehen durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ersetzt werden. 43 Dieses Prinzip fand in Art. lOOb Abs. 1 EWGV seine vertragliche Verankerung. 44 Durch die EEA wurde mit der Regelung des Art. 100a EWGV45 aber auch das Mehrheitsprinzip bei Abstimmungen über den Binnenmarkt betreffende Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten in den Vertrag eingeführt. 46 In der Praxis ist dadurch das Rechtsetzungsverfahren der Gemeinschaft tatsächlich beschleunigt worden, da allein

Jetzt: Art. 7 Abs. 7 EGY. Siehe auch die Erklär\Ulg zu Art. 8a EWGV in der Schlußakte zur EEA, ABI. 1987, L 169, S. 20 (24). Vgl. ferner Grabitz, in: FS für Steindor1f, S. 1229 (1232); Schweitzer/Hummer, S. 396; Schwarze/Becker/Pollak, S. 21; Streinz, Europarecht, Rn. 37 jeweils m.w.N. GrlUldlegend Nicolaysen, Die rechtliche BedeutlUlg des Schlußtermins zur Erricht\Ulg des Binnenmarktes, S. 1 ff. 39 Jetzt: Art. 7b bzw. Art. lOOb EGY. 40 Vgl. Everling, in: FS für Steindor1f, S. 1155 (1161); Streinz, ZLR 1992, S. 233 (235) m.w.N. 41 Vgl. dazu Franzmeyer, in: Gesamteuropa, S. 342 (343); Fischer, Europarecht, S. 171. Vgl. aber auch schon Delors, Das neue Europa, S. 37. 42 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 18 ff. Rn. 61 ff. Siehe dazu lUlten lUlter ll. 2. a). 43 VgI. Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (lll); Seidel, in: FS für Steindorff, S. 1455 (1468); Streinz, ZLR 1992, S. 233 (240). 44 Vgl. dazu insgesamt Franzmeyer, in: Gesamteuropa, S. 342 (343). Vgl. zu Art. lOOb EWGV aber auch Seidel, in: FS für Steindor1f, S. 1455 (1471). Siehe zu Art. lOOb EGV schließlich lUlten lUlter ll. 2. c) cc). 45 Jetzt: Art. 100a EGY. 46 Vgl. zu den weiteren Neuer\Ulgen in Art. 100a EWGV (EGV) Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 1. 37

38

54

2.

Teil:~dbegrüfe

die Furcht, überstimmt zu werden, die Kompromißbereitschaft bei manchem Mitgliedstaat erheblich erhöht hat. 47

3. Die Begrifflichkeit des Binnenmarktes und die Abgrenzung vom Gemeinsamen Markt Es wird teilweise bestritten, daß sich die damalige EWG im Jahre 1985 mit der "Vollendung des Binnenmarktes" tatsächlich ein neues Ziel gesetzt hat. 48 Möglicherweise handelt es sich beim Binnenmarktprojekt nämlich lediglich um eine Umschreibung des ursprünglichen, in Art. 2 EGV niedergeschriebenen Ziels "Errichtung eines Gemeinsamen Marktes". In diesem Fall würde die Einfügung des Vertragsziels "Binnenmarkt" lediglich bedeuten, daß das bisherige Konzept des Gemeinsamen Marktes besser und schneller verwirklicht werden könnte. 49 Die Frage nach der Abgrenzung von Gemeinsamem Markt und Binnenmarkt ist deshalb von so großer Bedeutung, weil Art. 100a EGV, der an den Begriff des Binnenmarktes anknüpft, gegenüber Art. 100 und 235 EGV Besonderheiten hinsichtlich der Anforderungen an das Beschlußregime, an die Parlamentsbeteiligung sowie an die Ausschermöglichkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten vorsieht. Schließlich besteht keine Wahlmöglichkeit im Hinblick auf die anzuwendende Ermächtigungsgrundlage. 50 Grundsätzlich strebte die Kommission in ihrem Weißbuch das ursprüngliche Ziel des EWGV an. 51 Es sollte ein Binnenmarkt hergestellt werden, der einen Raum ohne Binnengrenzen urnfaßt, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen des Vertrages gewährleistet ist (Art. 7a Abs. 2 EGV). Zu diesem Zweck sollten die Behinderungen für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs beseitigt und ein System zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen eingeführt werden. Außerdem beabsichtigte man, die für das störungsfreie Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderliche Angleichung von Rechtsvorschriften und zugleich die Angleichung der indirekten Steuern im Interesse des 47 Vgl. Schreiber, in: WeidenfeldlWessels, Europa von A-Z, "Binnenmarkt", S. 90 (91). Vgl. ferner die empirischen Angaben zur beschlewtigten Beschlußfasswtg im Rat bei Leipold, in: Die europäische Integration als ordnwtgspolitische Aufgabe, S. 41 (61 f)m.w.N. 48 Siehe nur die Nachweise bei Grabitz, in: FS fiir Steindorff, S. 1229 (1229). 49 So Grabitz, in: FS fiir Steindorff, S. 1229 (1229) m.w.N. 50 Müller-Graß", EuR 1989, S. 107 (122 f) m.w.N. 51 Vgl. dazu auch Oppermann, Europarecht, Rn. 1178.

B. Die Europäische Gemeinschaft md der Binnenmarkt

55

Gemeinsamen Marktes vorzunehmen. 52 Aufgrund dieser Ausführungen könnte sehr wohl auf eine Identität von Gemeinsamem Markt und Binnenmarkt geschlossen werden. 53 Dagegen sprechen jedoch gewichtige Gründe. So werden sowohl Binnenmarkt als auch Gemeinsamer Markt in Art. 7c EGV mit unterschiedlichem Bezug erwähnt. 54 Auch unterscheidet das Weißbuch selbst zwischen Binnenmarkt und weiterreichendem Gemeinsamen Markt. 55 Der Binnenmarkt stellt daher "lediglich" eine Art Teilmenge des Gemeinsamen Marktes dar. 56 Die gegenständliche Begrenzung seiner Definition in Art. 7a Abs. 2 EGV schließlich wirkt sich dahingehend aus, daß von den Materien des Gemeinsamen Marktes die Agrarpolitik, die allgemeine Verkehrspolitik, die Wettbewerbspolitik, die Sozialpolitik, die spezifische Umweltpolitik und die gemeinsame Handelspolitik durch das Binnenmarktprojekt und seine Instrumente nicht mit erfaßt werden. 57

ll. Die Herstellung und die Verwaltung des Binnenmarktes 1. Der Inhalt des Weißbuchs der Kommission

Der Binnenmarkt umfaßt gemäß Art. 7a Abs. 2 EGV "einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist. ,,58 Um einen solchen Binnenmarkt zu erreichen, sieht das Weißbuch der KommisVgl. dazu auch Streinz, Europarecht, Rn. 36. So Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1526 m.w.N. Vgl. ferner Middeke, DVBI. 1993, S. 769 (773); Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 20 ff m.w.N. Vgl. auch die diese Ansicht stützenden Nachweise bei Müller-Graf!, EuR 1989, S. 107 (123). 54 Vgl. dazu auch Zacker, RIW 1989, S. 489 (490); Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 398. AA Middeke, DVBI. 1993, S. 769 (772). 55 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 4 Rn. 4. Vgl. dazu ebenfalls Streinz, Europarecht, Rn. 914. 56 Zacker, RIW 1989, S. 489 (490); Streinz, Europarecht, Rn. 915. So wohl auch Oppermann, Europarecht, Rn. 1178; Everling, in: FS für Steindorff, S. 1155 (1169 ff). Im Ergebnis ebenso, aber mit sehr kritischen Anmerkmgen, Pescatore, EuR 1986, S. 153 (157). Vgl. für die gegenteiligen Ansichten auch die bei Streinz, Europarecht, Rn. 912 ff, angeführten Argumente. 57 So auchStreinz, Europarecht, Rn. 914. Vgl. auch Zacker, RIW 1989, S. 489 (489 f). AA Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (123 ff). 58 Siehe auch schon oben mter I. 3. 52

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2. Teil: Grrundbegrüfe

sion über die "Vollendung des Binnenmarktes" ein konkretes Aktionsprogramm mit einem genauen Zeitplan für die Realisierung der angezeigten Vorhaben vor. 59 Das Weißbuch besteht aus rund 300 Vorschlägen, wie die nach wie vor bestehenden Hindernisse für den Binnenmarkt überwunden werden können. 60 Die Kommission hat sich insoweit eine dreiteilige Aufgabenstellung gegeben. Zunächst soll die Notwendigkeit von Zollgrenzdienststellen durch die Beseitigung der "materiellen Schranken"61 (Warengrenzkontrollen, Personengrenzkontrollen), welche die Wirtschaft mit die Produktionskosten steigernden "unnötigen Fristen, Formalitäten, Beforderungs- und Umschlagsgebühren" belasten62, entfallen. Daneben ist die Abschaffung der "technischen Schranken"63 (non-tarifare Handelshemmnisse für den freien Warenverkehr, öffentliches Auftragswesen, Freizügigkeit für abhängig Beschäftigte und Selbständige, gemeinsamer Dienstleistungsmarkt64 , Kapitalverkehr, industrielle Zusammenarbeit, Anwendung des Gemeinschaftsrechts) und der "steuerlichen Schranken"65 (Mehrwertsteuer, Verbrauchssteuern) vorgesehen. 66 Nachfolgend soll noch kurz auf einige ausgewählte Details des Aktionsprogrammes eingegangen werden. Im Hinblick auf die völlige Beseitigung der Kontrollen von Waren an den Binnengrenzen der Gemeinschaft ("materiellen Schranken") sollen zunächst durch einzelne Angleichungsmaßnahmen namentlich gemeinschaftliche gesundheitsschutz-, lebensmittel- und tierseuchenrechtliche Standards und Kontrollverfahren am Ort des Versandes geschaffen werden, um nach Art. 36 EGV bisher durch Grenzkontrollen gerechtfertigte Beschränkungen des Warenverkehrs auszuschalten. 67 Auch was die gänzliche Abschaffung der Einreisekontrollen für Gemeinschaftsbürger, die aus einem anderen Mitgliedstaat kommen, betrifft, eröffnet das Weißbuch die Ergreifung weitreichender Maßnahmen auf den Gebieten des Waffen- und Drogenrechts Vgl. dazu nur SchwarzelBeckerlPollak, S. 22. Die 300 Vorschläge ww-den von Kommission in der Zwischenzeit auf 282 verringert. Vgl. dazu nur SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 398. 61 KOM (85) 310 endg., S. 6 Rn. 11 ff. \Dld S. 9 ff. Rn. 24 ff. 62 KOM (85) 310 endg., S. 9 Rn. 24. 63 KOM (85)310 endg., S. 6 Rn. 13 \Dld S. 17 Rn. 57 ff. 64 Siehe zur Bedeutung des DienstleistlDlgsverkehrs innerhalb des Binnenmarktes KOM (85) 310 endg., S. 25 f Rn. 95 ff. 65 Siehe KOM (85)310 endg., S. 6 Rn. 14 bzw. S. 39 ff. Rn. 160 ff. 66 Vgl. dazu im einzelnen Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (113 ff.); Seidel, in: FS für Steindorff, S. 1455 (1466 ff.); J. F. Baur, JA 1992, S. 65 (69 f); SchwarzelBekkerlPollak, S. 23 f; Streinz, Europarecht, Rn. 36. 67 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 12 Rn. 39 f Vgl. dazu auch Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (113 f) mit zahlreichen weiteren Nachweisen.

59 60

B. Die Europäische Gemeinschaft Wld der Binnenmarkt

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und der Visumpolitik. 68 Der Abschnitt über die "technischen Schranken" des Freiverkehrs beinhaltet die Bestrebungen, solche Schranken zu beseitigen, die nicht auf Kontrollen an den Grenzen beruhen, sondern im Binnenland der einzelnen Mitgliedstaaten vorrangig aufgrund unterschiedlicher Normen und Regeln bestehen. 69 Die Absichten der Kommission um die Beseitigung der "steuerlichen Schranken" schließlich sind ebenfalls auf die Abschaffung von entsprechenden Kontrollen an den Binnengrenzen gerichtet. 70 Die "steuerlichen Schranken" bestanden trotz der früheren gemeinschaftlichen Angleichungsmaßnahmen7! weiterhin in Form unterschiedlich hoher Sätze insbesondere der Mehrwertsteuer, aber auch in den unterschiedlichen Arten und Sätzen der übrigen indirekten Steuern. 72 Hier hoffte man unter anderem, die Strukturen und Sätze der indirekten Steuern nach dem Prinzip der Steuerentrichtung beim Zufuhren zum Verbrauch und durch Annäherung der Steuersätze angleichen zu können. 73 Speziell das Mehrwertsteuerrecht sollte fur den innergemeinschaftlichen Verkehr nach dem Gedanken der Gleichbehandlung zu Umsätzen innerhalb eines Mitgliedstaates angeglichen werden. 74

2. Die Instrumente der Gemeinschaft zur Erreichung des Binnenmarktes a) Die "neue Strategie"

Das Weißbuch zur "Vollendung des Binnenmarktes" enthält nicht nur das Binnenmarktkonzept, sondern nennt auch die Instrumente zu seiner Verwirklichung. Die negativen Erfahrungen mit einer umfassenden Rechtsangleichung von Vorschriften in der Vergangenheit bewog die Kommission dazu, eine "neue Strategie,,75 zu verfassen. 76 Diese sollte die positiven Elemente der Siehe KOM (85) 310 endg., S. 15 Rn. 55 ff. Siehe KOM (85) 310 endg., S. 17 Rn. 57 ff. Vgl. dazu auch SchwarzelBekkerlPollak, S. 23 m.w.N. 70 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 39 Rn. 160 bzw. S. 40 f Rn. 168. 7! Siehe dazu KOM (85) 310 endg., S. 39 Rn. 161 ff. 12 Vgl. dazu auch SchwarzelBeckerlPollak, S. 24. 73 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 50 Rn. 213 ff. 74 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 49 Rn. 206 ff. Vgl. dazu Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (116) m.w.N. 75 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 18 Rn. 61 ff. In der Literatur wird die "neue Strategie" teilweise auch als "neue Konzeption" oder "neuer Ansatz" bezeichnet. Vgl. dazu SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 397; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1568 ff. Siehe auch schon oben Wlter I. 2. b). 76 Vgl. dazu auch Streinz, Europarecht, Rn. 916. Zutreffend auch SchwarzelBek68

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2. Teil: Gaundbegndfe

"Rechtsangleichung"77 und der "gegenseitigen Anerkennung"78 verbinden, um so schnellere Fortschritte zu ermöglichen. 79 Der Schwerpunkt der "neuen Strategie" war der Anwendung der gegenseitigen Anerkennung der Gleichwertigkeit mitgliedstaatlicher Regeln zugedacht. 80 Die Kommission ging dabei davon aus, "daß die gesetzgeberischen Ziele der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Schutzes der Gesundheit, der Sicherheit und der Umwelt im Kern gleichwertig sind. ,,81 Die wesentlichen Instrumente zur Verwirklichung des Binnenmarktes sind somit die Angleichung der zur Errichtung und für das Funktionieren des Binnenmarktes einschlägigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten aufgrund der durch die EEA in den Vertrag eingeführten Ermächtigungsgrundlage des Art. lOOa EGV und die gegenseitige Anerkennung der Gleichwertigkeit mitgliedstaatlicher Regelungen. Rechtsangleichung und gegenseitige Anerkennung sollen sich also insoweit bei der Herstellung des Binnenmarktes sinnvoll ergänzen.

b) Die Rechtsangleichung aa) Das "Harmonisierungskonzept" der Kommission Dem "Harmonisierungskonzept"82 der Kommission liegt die Grundannahme zugrunde, daß es sowohl solche Bereiche gibt, in denen eine Rechtsangleichung unerläßlich ist, als auch solche, in denen die gegenseitige Anerkennung der mitgliedstaatlichen Regelungen und Normen ausreicht. Eine Harmonisierung soll sich dabei auf Bereiche von herausgehobener Bedeutung beschrän-

keriPollak, S. 25. Diese fuhren aus, daß die gegen die RechtsangleichlUlg erhobenen Einwände zusätzliches Gewicht erhalten hätten, "wenn man das umfangreiche GesetzgeblUlgsprogramm des Weißbuches allein nach der traditionellen Methode der RechtsangleichlUlg hätte wnsetzen wollen." 77 Siehe lUlten lUlter b). 78 Siehe lUlten lUlter c). 79 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 18 Rn. 64. 80 Vgl. SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 397; SchwarzelBeckerlPollak, S. 25; Streinz, Europarecht, Rn. 916 f 81 KOM (85) 310 endg., S. 19 Rn. 65. 82 Siehe dazu KOM (85) 310 endg., S. 19 Rn. 65. Die Begndfe "HarmonisierWlg" lUld "RechtsangleichlUlg" werden hier im übrigen synonym verwendet. Vgl. auch Streinz, Europarecht, Rn. 918.

B. Die Europäische Gemeinschaft lUld der Binnenmarkt

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ken. Im übrigen wird die Angleichung von Industrienormen durch die Ausarbeitung europäischer Normen weitestmöglich gefordert.

bb) Zu den Bereichen der Harmonisierung nach dem Binnenmarktkonzept Von diesen Grundsätzen ausgehend ist lediglich noch eine Rechtsangleichung sogenannter "allgemeiner Fragen" in bezug auf sämtliche Produkte einer bestimmten Kategorie von der Rechtsangleichung beabsichtigt ("horizontale" Harmonisierung83). Auf eine Angleichung produktspezifischer Fragen ("vertikale" Harmonisierung) soll weitgehend verzichtet werden. 84 Die Kommission strebt somit unter ZUTÜckdrängung der Detailangleichung eine Minimal- oder Kemangleichung an. 85 Eine Rechtsangleichung soll konkret dem Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Gemeinschaftsbürger, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Umwelt dienen und deshalb nur dort vorgenommen werden, wo die technische Sicherheit bzw. die zur Information der Verbraucher bestimmte Kennzeichnung von Waren betroffen ist, um so "die Grundvoraussetzungen für die Verkehrsfähigkeit eines Produkts in der ganzen Gemeinschaft festzulegen. ,,86 Anders formuliert bedeutet dies, daß die Rechtsangleichung zur Beseitigung von Handelshemmnissen grundsätzlich nur noch produktgebundene Regelungen erfaßt, also solche Normen, die durch Verbote oder Gebote das Inverkehrbringen bzw. die Vermarktung von Waren reglementieren. 87 Ansonsten gilt, "daß Waren, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, ungehindert nach anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden dürfen. ,,88 Der eigentliche Schutzzweck wird insoweit nämlich bereits durch die entsprechenden (Schutz-)Normen des HerVgl. dazu auch Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1563. So auch Streinz, Europarecht, Rn. 917. 85 So Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (111) m.w.N. Vgl. auch SchwarzelBekkerlPollak, S. 26. 86 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 19 f Rn. 68. Vgl. auch Streinz, Europarecht, Rn. 17. Dieser stellt zutreffend fest, daß nach dem Weißbuch nur noch aU das harmonisieren werden mußte, was auch nach der "Cassis de Dijon"-RechtsprechlUlg des EuGH berechtigterweise noch eine Berufimg auf Art. 36 bzw. die immanenten Grenzen des Art. 30 EGV ermöglichte. Vgl. dazu auch Lenz, EuGRZ 1993, S. 57 (60). Siehe zur "Cassis de Dijon"-RechtsprechlUlg des EuGH ebenfalls die Ausfiihnmgen lUlten lUlter c). 87 So Seidel, in: FS für Steindorff, S. 1455 (1462). Don findet sich auch eine umfangreiche AuflistWlg der konkreten Rechtsbereiche, in denen eine RechtsangleichlUlg vorgenommen wird. 88 KOM (85) 310 endg., S. 17 Rn. 58 bzw. S. 22 Rn. 77. Vgl. dazu auch SchwarzelBeckerlPollak, S. 25 f 83 84

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2.

Teil:~dbegrüfe

kunftslandes einer Ware erfüllt. 89 In solchen Fällen reicht die gegenseitige Anerkennung der entsprechenden Normen aus. 90 Um in den aufgezeigten Bereichen eine Harmonisierung auf dem Schutzniveau desjenigen Mitgliedstaates, in dem die niedrigsten diesbezüglichen Anforderungen gelten, zu verhindern, hat die Kommission nach Maßgabe des Art. lOOa Abs. 3 EGV bei ihren Vorschlägen für entsprechende Harmonisierungsmaßnahmen von einem hohen Schutzniveau auszugehen. 91 Es handelt sich hierbei um eine Rechtspflicht92 , die der Kommission zwar einen weiten Ermessensspielraum einräumt, dessen Einhaltung aber der Kontrolle durch den EuGH unterliegt.93

cc) Zur rechtsformlichen Instrumentierung der Rechtsangleichung Nach Art. lOOa Abs. 1 EGV können, soweit im Vertrag nichts anderes bestimmt ise4 und solange nicht die in Abs. 2 genannten Bereiche betroffen sind, "Maßnahmen" zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben, ergriffen werden. Nach einer Erklärung der Regierungskonferenz zu Art. lOOa EWGV (a.F.) sollte die Kommission bei ihren Vorschlägen der Rechtsform der die Souveränität der Mitgliedstaaten schonenden Richtlinie den Vorzug geben, wenn die Angleichung in einem oder mehreren Mitgliedstaaten eine Änderung gesetzlicher Vorschriften erfordern würde. 95 Dies schließt bei ausreichender Begründung die Verwendung der Grabitz, in: FS für Steindorff, S. 1229 (1237) m.w.N. Siehe dazu Wlten Wlter c). 91 VgI. dazu auch Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 100a Rn. 6; Ehlermann, Integration 1995, S. 11 (14 f). 92 Vgl. Langeheine, in: Grabitz/Hil[, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 55 m.w.N. 93 VgI. Streinz, Europarecht, Rn. 924 m.w.N. 94 Um gegenüber Art. 100a EGV spezielleren ErmächtigWlgsgrWldlagen zur RechtsangleichWlg handelt es sich etwa bei Art. 54 Abs. 2 Wld 3 lit. g, Art. 56 Abs. 2, Art. 57 Abs. 1 Wld 2 EGV für die NiederlassWlgsfreiheit sowie in VerbindWlg mit Art. 66 EGV für die DienstleistWlgsfreiheit, bei Art. 69 Wld 70 EGV für die Kapitalverkehrsfreiheit Wld bei Art. 101 Abs. 2 EGV für die BeseitigWlg von WettbewerbsverzeITWlgen. Vgl. dazu Langeheine, EuR 1988, S. 235 (240 f.); ders., in: Grabitz/Hil[, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 15; Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (122); Everling, in: FS für Steindorff, S. 1155 (1166 ff) jeweils m.w.N. 95 Die ErkläfWlg zu Art. 100a EWGV (a.F.) in der Schlußakte zur EEA findet sich abgedruckt, in: ABI. 1987, L 169, S. 20 (24). Vgl. dazu Streinz, Europarecht, Rn. 923. 89

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B. Die Europäische Gemeinschaft Wld der Binnenmarkt

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Rechtsform der Verordnung zur Angleichung jedoch nicht aus. 96 Im übrigen kann das Instrument der Richtlinie ebenfalls eine hohe Regelungsdichte aufweisen und so den Anwendungsspielraum der mitgliedstaatlichen Gesetzgebung erheblich einschränken. 97

dd) Zu den Ausschermöglichkeiten der Mitgliedstaaten nach Art. lOOa Abs. 4 EGV und die Regelung des Art. lOOa Abs. 5 EGV Die Regelung des Art. lOOa Abs. 4 EGV8 ermöglicht es den Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen von einer vom Rat mit qualifizierter Mehrheit erlassenen Harmonisierungsmaßnahme abzuweichen. 99 So ist es einem Mitgliedstaat erlaubt, für bestimmte Schutzgüter ein anderes als das in der gemeinschaftlichen Harmonisierungsmaßnahme auf der Grundlage des Art. lOOa EGV erreichte Niveau zu beanspruchen. loo Es darf sich dabei jedoch nur um solche Abweichungen handeln, die ein höheres Schutzniveau als die gemeinschaftsrechtliche Angleichungsmaßnahme anstreben. 101 Bei den angeführten Schutzgütem handelt es sich gemäß Art. 100a Abs. 4 UAbs. 1 EGV im übrigen um "wichtige Erfordernisse im Sinne des Art. 36" EGV oder um "den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz" .102 Entsprechende mitgliedstaatliche Maßnahmen sind der Kommission mitzuteilen (Art. lOOa Abs. 4 UAbs. 1 EGV); sie können erst dann von den Mitgliedstaaten angewendet werden, 96 Vgl. dazu Ehlermann, in: FS für Pescatore, S. 205 (219) m.w.N.; Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (140); Lenz, EuGRZ 1993, S. 57 (60); Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 45 m.w.N.; Streinz, Europarecht, Rn. 923. Siehe aber auch die 11. EmpfehlWlg des Abschlußberichts ("Der Binnenmarkt nach 1992. Die HerausfordeTWlg annehmen") der von Peter Sutherland geleiteten Kommission, S. 41 f Der Abschlußbericht wird nachfolgend als "SutherlandBericht" zitiert. Siehe dazu auch insbesondere Wlten im 4. Teil Wlter B. 11. 2. a). 97 Vgl. dazu SchwarzelBeckerlPollak, S. 33; Streinz, Europarecht, Rn. 387 bzw. 919 jeweils m.w.N. 98 Vgl. zur EntstehWlg Ehlermann, CML Rev. 1987, S. 361 (389); Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 56. Siehe zu Art. 100a Abs. 4 EGV auch Wlten im 3. Teil Wlter C. 11. 3. 99 Vgl. dazu ausfiihrlieh Bergmann, S. 19 ff; Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 56 ff. m.w.N. 100 So Streinz, Europarecht, Rn. 925. 101 Streinz, Europarecht, Rn. 929; Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 69 m.w.N. 102 Vgl. dazu im einzelnen Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 68 ff.; ders., in: GS für Grabitz, S. 369 ff. jeweils m.w.N.

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2.

Teil:caundb~e

wenn diesen eine entsprechende Bestätigung der Kommission vorliegt.l03 In der Praxis wurde von der Ausschermöglichkeit des Art. lOOa Abs. 4 EGV bisher kaum Gebrauch gemacht. 104 Die Ausnahmeklausel des Abs. 4 kann gleichsam als Preis für die Aufgabe des Einstimmigkeitsgrundsatzes bei der allgemeinen Rechtsangleichung im Rahmen des Art. lOOa Abs. 1 EGV angesehen werden. l05 Sie weicht insofern auch von der bisherigen, vom EuGH präzisierten Regel ab, wonach Mitgliedstaaten nach erfolgter abschließender gemeinschaftsrechtlicher Regelung kein Dispensrecht aus einer Schutzklausel zusteht, sofern nicht eine Richtlinie selbst eine entsprechende Klausel aufweist. l06

Art. lOOa Abs. 5 EGV sieht vor, daß die von Art. lOOa EGV erfaßten Harmonisierungsmaßnahmen in geeigneten Fällen mit einer eng auszulegenden Schutzklausel zu verbinden sind. l07 Diese ermächtigen die Mitgliedstaaten, aus einem oder mehreren der in Art. 36 EGV genannten nicht-wirtschaftlichen Gründe auch vorübergehende Abweichungen von der gemeinschaftlichen Har103 Vgl. zum Verfahren der Abgabe einer entsprechenden MitteilWlg an die Kommission Langeheine, EuR 1988, S. 235 (246 bzw. 253 ff) m.w.N.; ders., in: Grabitz/Hilj, Kommentar ZW" EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 79 ff; Müller-Graf!, EuR 1989, S. 107 (144 ff); Streinz, Europarecht, Rn. 931. Kritisch dazu Pescatore, EuR 1986, S. 153 (158). Zur BedeutWlg der BestätigWlg durch die Kommission Wld zu den AnforderWlgen an die betreffenden mitgliedstaatlichen BestimmWlgen nach Maßgabe des Art. 100a Abs. 4 UAbs. 2 EGV siehe jetzt EuGH, Urteil vom 17. Mai 1994, Rs. C-41193 (FrankreichIKommission), Slg. 1994 I, S. 1829 (Rn. 30). Vgl. dazu auch Streinz, Europarecht, Rn. 931 f Vgl. ferner Reich, NJW 1994, S. 3334 (3335): "Der 'mitgliedstaatliche Alleingang' ist also an strenge formale Ketten gelegt." 104 Vgl. Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 100a Rn. 13. lOS So auch Langeheine, EuR 1988, S. 235 (246); ders., in: Grabitz/Hilj, Kommentar ZW" EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 57; Müller-Graf!, EuR 1989, S. 107 (143); Bergmann, S. 25; Reich, NJW 1994, S. 3334 (3334) jeweils m.w.N. Die Luxemburger Vereinbanmg wird vom Verfahren nach Art. 100a Abs. 4 EGV nicht berührt. Jedoch bietet Art. 100a Abs. 4 EGV den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Ziele im Rahmen des Vertrages zu erreichen. So auch Müller-Graf!, EuR 1989, S. 107 (144); Streinz, Europarecht, Rn. 927 jeweils m.w.N. AA Langeheine, EuR 1988, S. 235 (245) m.w.N. Dieser hält die Blockienmg einer AbstimmWlg im Rat im Rahmen des Art. 100a EGV durch eine Berufimg auf die Luxemburger Vereinbanmg für Wlstatthaft. Vgl. aber auch Pescatore, EuR 1986, S. 153 (155 f bzw. 165) m.w.N.; Bergmann, S. 25 f; Everling, in: FS für Steindorff, S. 1155 (1164 f). Siehe im übrigen ZW" Luxemburger Vereinbanmg die Nachweise oben im 1. Teil unter AI. 106 Siehe nur EuGH, Urteil vom 5. Oktober 1977, Rs. 5/77 (TedeschiIDenkavit Commerciale s.r.l.), Slg. 1977, S. 1555 (Rn. 37/40); EuGH, Urteil vom 5. April 1979, Rs. 148/78 (Ratti), Slg. 1979, S. 1629 (Rn. 36 ff); EuGH, Urteil vom 8. November 1979, Rs. 251/78 (Denkavit Futtermittel GmbHlMinister für Ernährung, Landwirtschaft Wld Forsten des Landes Nordrhein-Westfalen), Slg. 1979, S. 3369 (Rn. 14). Vgl. dazu auch Müller-Graf!, EuR 1989, S. 107 (143) m.w.N. 107 Vgl. dazu auch Streinz, Europarecht, Rn. 933.

B. Die EW"opäische Gemeinschaft und der Binnenmarkt

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monisierungsmaßnahme zu treffen. Die getroffenen rnitgliedstaatlichen Maßnahmen müssen ebenfalls der Kommission angezeigt werden und unterliegen einem gemeinschaftlichen Kontrollverfahren. 108 Da die Möglichkeit zur Einfiihrung von Schutzklauseln in Angleichungsrichtlinien auch schon früher möglich war, hat die Regelung in Abs. 5 insoweit nur deklaratorischen Charakter. 109

ee) Zur Harmonisierung von Industrienormen durch die Ausarbeitung europäischer Normen Nach dem Weißbuch der Kommission zur "Vollendung des Binnenmarktes" sollte sich die Gemeinschaft im Prinzip darauf beschränken, im Rahmen der Rechtsangleichung allgemeine Sicherheitsanforderungen festzulegen. 110 Diesbezüglich beabsichtigte man, lediglich in den ganz grundlegenden Fragen eine Angleichung durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften vorzunehmen, während die Ausarbeitung von spezifischen technischen Normen weitgehend den privaten europäischen Normungsorganisationen (CEN111 , CENELEXl12 u.a. 113) überlassen werden sollte. 114 Man ging dabei davon aus, daß ein nach einer solchen Norm hergestelltes Produkt den in der entsprechenden Richtlinie verbind-

108 Vgl. Rötfinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 100a Rn. 17; Langeheine, in: Grabitz/ Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 91. 109 Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGVRn. 88 m.w.N. llO Siehe KOM (85)310 endg., S. 19 Rn. 65. III EW"opäisches Komitee fiir Normung. Vgl. dazu auch Nicolas, S. 28 ff; Breulmann, S. 41 ff 112 EW"opäisches Komitee fiir elektronische Normung. Vgl. dazu Nicolas, S. 28 ff; Breulmann, S. 43 ff tl3 Vgl. zur Entwicklung der Normungspolitik der Gemeinschaft Nicolas, S. 37 ff m.w.N. Siehe auch die "Mitteilung der EG-Kommission zum Ausbau der EW"opäischen Normung. Maßnahmen zur schnelleren technologischen Integration in EW"opa (9l/C 20/01)" (Grünbuch), KOM (90) 456 endg. vom 16. Oktober 1990, S. 8 ff 114 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 19 f Rn. 68 f Vgl. auch Breulmann, S. 125 ff; Micklitz, EuZW 1994, S. 631 (631); Ehlermann, Integration 1995, S. II (13); Tünnesen-Harmes, DVBI. 1994, S. 1334 (1337); Streinz, EW"oparecht, Rn. 917 m.w.N. Vgl. aber auch Seidel, in: FS fiir Steindorff, S. 1455 (1473), der in nachvollziehbarer Weise verfassungsrechtliche Bedenken erhebt, weil "die gleitende Bezugnahme auf industrielle Normen und Standards zur Konkretisierung staatlicher Sicherlteitsgewährleistungen" auf "die Übertragung von RechtsetZWlgsbefugnissen auf private Institutionen" hinaus läuft.

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2. Teil: Grrundbegrüfe

lich festgelegten, grundlegenden Sicherheitsanforderungen entspricht. 115 Um diesem Konzept zum Erfolg zu verhelfen, hat die Kommission, um das Vertrauen in die in anderen Mitgliedstaaten entsprechend vorgenommenen Kontrollen zu wahren, ein "globales Konzept für Zertifizierung und Prüfwesen"116 entworfen und zugleich Richtlinien vorgeschlagen, in denen die Mindestanforderung an bestimmte Kontrollen und die Bedingungen für ihre gegenseitige Anerkennung vereinheitlicht wurden. 117

c) Die gegenseitige Anerkennung aa) Die Herkunft des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung Wie schon ausgeführt 118 hatte die Kommission in ihrem Weißbuch die Notwendigkeit einer "neuen Strategie" hervorgehoben, weil sich die in der Vergangenheit praktizierte umfassende Rechtsangleichung insgesamt als ineffektiv erwiesen hatte. 119 Den wesentlichen Bestandteil dieser "neuen Strategie" stellte die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der Gleichwertigkeit mitgliedstaatlicher Regeln dar. 120 Dieses Prinzip war zuvor vom EuGH in seiner sogenannte "Cassis de Dijon"-Rechtsprechung im Bereich der Warenverkehrsfreiheie 21 entwickelt worden, bevor es nun von der Kommission

Vgl. Schreiber, in: WeidenfeldlWessels, Europa von A-Z, S. 90 (94). "Ein globales Konzept für Zertifizienmg Wld Prüfwesen. Instrument zur GewährleistWlg der Qualität bei Industrieerzeugnissen", KOM (89) 209 endg. (MitteilWlg der Kommission an den Rat, von der Kommission vorgelegt am 15. Juni 1989), abgedruckt, in: ABI. 1989, C 267, S. 3 ff 117 VgI. dazu im einzelnen Streinz, Europarecht, Rn. 917. Vgl. aber auch ders., ZLR 1992, S. 233 (243 ff) m.w.N. Vgl. schließlich die zahlreichen Hinweise auf entsprechende Richtlinien bei Tünnesen-Harmes, DVBI. 1994, S. 1334 ff Siehe jetzt auch die "MitteilWlg der Kommission an den Rat Wld das Europäische Parlament. Über die stärkere NutZWlg der NormWlg in der Gemeinschaftspolitik", KOM (95) 412 endg., S. 1 ff 118 Siehe oben Wlter 2. a). 115

116

119 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 18 Rn. 61. Vgl. auch Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1570. 120 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 19 Rn. 65 bzw. S. 22 Rn. 77 ff Vgl. auch Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1571. 121 Siehe nur EuGH, Urteil vom 20. Februar 1979, Rs. 120178 (REWE-ZentralAGIBWldesmonopolveIWaltWlg für Branntwein), Slg. 1979, S. 649 (Rn. 8).; EuGH, Urteil vom 12. März 1987, Rs. 178/84 (KommissionlDeutschland), Slg. 1987, S. 1227 (1273 f). Vgl. dazu auch Streinz, Europarecht, Rn. 687 ff

B. Die Europäische Gemeinschaft lUld der Binnenmarkt

65

in ihr Weißbuch zur "Vollendung des Binnenmarktes" aufgenommen worden ist. 122 Zwar war für den Bereich der Warenverkehrsfreiheit eben durch die "Cassis de Dijon"-Rechtsprechung und in abgeschwächter Fonn für die Bereiche der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit durch die Rechtsprechung des EuGH zur "unmittelbaren Wirkung" dieser Grundfreiheiten 123 die Effekte einer gegenseitigen Anerkennung zum Teil schon erreicht worden, dennoch bestand nicht zuletzt aufgrund der insgesamt nur begrenzten Reichweite der Rechtsprechung weiterer Regelungsbedarf. 124 Auch die der "Cassis de Dijon"-Rechtsprechung anhaftenden Unwägbarkeiten konnten nach Ansicht der Kommission im Ergebnis nur durch eine ausdrückliche gegenseitige Anerkennung mittels Rechtsakt beseitigt werden. 125

bb) Zum Inhalt des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung besagt, daß "in den Fällen, in denen eine Harmonisierung der Vorschriften und Nonnen nicht aus gesundheits-, sicherheits- oder industriepolitischen Gründen als wesentlich angesehen wird", die sofortige uneingeschränkte Anerkennung unterschiedlicher Qualitätsnonnen und unterschiedlicher Vorschriften in den Mitgliedstaaten den Regelfall darstellen soll.126 Auf diese Art und Weise soll die Freiverkehrsfahigkeit von Produkten gesichert und die "bürokratische Last auf Unternehmen", die auf einer gemeinschaftsweiten Grundlage produzieren wollen, gemindert werden. 127

122 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 17 Rn. 58. Vgl. dazu Müller-Graff, EuR 1989, S. 107 (lU); Grabitz, in: FS fiir Steindorff, S. 1229 (1230 f); SchwarzelBeckerlPollak, S. 25 jeweils m.w.N. Durch die gegenseitige AnerkennlUlg der Gleichwertigkeit von mitgliedstaatlichen Regeln als Kennzeichen der Binnenmarktpolitik wurde auch ein Wechsei vom sog. BestimmlUlgslandprinzip hin zum sog. Herlrunftslandprinzip vollzogen. 123 Siehe dazu insbesondere lUlten im 4. Teil lUlter C. ll. 2. b). 124 Streinz, Europarecht, Rn. 935. 125 So auch Streinz, Europarecht, Rn. 935. 126 So KOM (85) 310 endg., S. 22 Rn. 77 fiir den Lebensmittelbereich. Vgl. auch Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1571. 127 Siehe KOM (85) 310 endg., S. 22 Rn. 79. Vgl. auch Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1570.

5 Püh,

66

2. Teil: Chundbegrüfe cc) Zur vertraglichen Verankerung des Konzeptes der gegenseitigen Anerkennung

In dem durch Art. 19 EEA in den Vertrag eingeführten Art. lOOb EGV findet sich eine primärrechtliche Verankerung des Konzeptes der gegenseitigen Anerkennung. 128 So kann der Rat gemäß Art. lOOb Abs. 1 UAbs. 2 EGV durch Beschluß nach Maßgabe des Art. 100a EGV die gegenseitige Anerkennung solcher mitgliedstaatlicher Vorschriften herbeiführen, für die im Laufe des Jahres 1992 keine Angleichung im Rahmen des Art. 100a EGV stattgefunden hat. 129 Jedoch kam die Kommission zu dem Schluß, daß kein Bedarf bestehe, dem Rat entsprechende Vorschläge für Entscheidungen über die gegenseitige Anerkennung einzel staatlicher Vorschriften vorzulegen. 130 Auch aufgrund möglicher zu erwartender Widerstände von seiten einzelner Mitgliedstaaten im Rat 131 schlug die Kommission die Schaffung eines einfacheren, rascheren und transparenteren Mechanismus vor, um die wenigen in diesem Umfeld noch bestehenden Probleme zu lösen. 132 Es handelt sich dabei um ein unkompliziertes und gegenseitiges Verfahren zur gegenseitigen Information, bei dem die Mitgliedstaaten und die Kommission gemeinsam für eine transparente Handhabung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung der noch nicht angeglichenen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften durch die Gemeinschaft Sorge tragen. 133 Neben Art. lOOb EGV finden sich im Vertrag aber weitere Ermächtigungsgrundlagen, die 128 VgI. dazu Matthies, in: FS fiir Steindorff, S. 1287 ff Siehe aber auch schon oben Wlter I. 2. b). 129 VgI. zur EntstehWlg Matthies, in: FS fiir Steindorff, S. 1287 (1288 ff); Ehlermann, Integration 1995, S. 11 (13). Vgl. auch die Kritik an dieser Vorschrift bei Streinz, Europarecht, Rn. 936. 130 Siehe die "Mittei1Wlg der Kommission an den Rat Wld das Europäische Parlament. HandhabWlg der gegenseitigen AnerkennWlg einzelstaatlicher Vorschriften nach 1992. SchlußfolgefWlgen aus der ErfassWlg noch bestehender Handelshemmnisse nach Art. lOOb EG-Vertrag", ABI. 1993, C 353, S. 4 ff Vgl. dazu auch Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. lOOb Rn. 7 m.w.N. 131 So Streinz, Europarecht, Rn. 936. 132 VgI. Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. lOOb Rn. 7. m Siehe die "EntscheidWlg Nr. 3052/95/EG des Europäischen Parlaments Wld des Rates vom 13. Dezember 1995 zur Einfiihnmg eines Verfahrens der gegenseitigen UnterrichtWlg über einzelstaatliche Maßnahmen, die vom GrWldsatz des freien Warenverkehrs in der Gemeinschaft abweichen", ABI. 1995, C 321, S. 1 ff Siehe zuvor schon den "Vorschlag fiir eine EntscheidWlg des Europäischen Parlaments Wld des Rates zur Einfiihnmg eines Verfahrens der gegenseitigen Information über nationale Maßnahmen, die vom Chundsatz des freien Warenverkehrs in der Gemeinschaft abweichen", KOM (93) 670 endg. vom 15. Dezember 1993, auch abgedruckt, in: ABI. 1994, C 18, S. 13 f VgI. dazu aber auch Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. lOOb Rn. 7; Streinz, Europarecht, Rn. 936 jeweils m.w.N.

B. Die Europäische Gemeinschaft IDld der Binnenmarkt

67

eine gegenseitige Anerkennung mitgliedstaatlicher Standards aufgrund sekundärrechtlicher Verpflichtung ermöglichen. 134

dd) Mit der gegenseitigen Anerkennung verbundene Probleme Insgesamt bleibt die gegenseitige Anerkennung aber mit Problemen behaftet. Niedrigere rechtliche Anforderungen an die Qualität eines Produktes stellen in der Regel einen Standortvorteil dar, der möglicherweise die Gefahr von Produktionsverlagerungen birgt.135 Diese Erkenntnis könnte einen Mitgliedstaat dazu bewegen, seine Rechtsvorschriften entsprechend anzupassen, um so Umkehrdiskriminierungen für seine eigenen Bürger zu vermeiden. Möglicherweise würde sogar von seiten der mitgliedstaatlichen Anbieter ein diesbezüglicher Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt. \36 Das aber stellte den Weg zu einer Nivellierung auf dem Stand des Mitgliedstaates mit dem jeweils niedrigsten Niveau dar. 137 Eine solche Entwicklung hingegen liefe dem Interesse zuwider, gemeinsam auf europäischer Ebene einen hohen Qualitätsstandard zu erreichen. \38 Dennoch darf die vermeintliche Gefahr der Nivellierung insgesamt nicht überschätzt werden. Schließlich gibt es neben den rechtlichen Anforderungen noch andere Standortvorteile, und außerdem kann sich die höhere Produktqualität sehr wohl als erfolgreiche Vermarktungschance erweisen. 139

3. Der Stand der Herstellung des Binnenmarktes

Das Binnenmarktkonzept war bis zum 31. Dezember 1992 (Art. 7a Abs. 1 EGV) nicht vollständig verwirklicht worden. Das im Weißbuch enthaltene umfangreiche Programm zur Herstellung des Binnenmarktes konnte zwar auf Gemeinschaftsebene nahezu vollständig realisiert werden l40 , jedoch erweist sich 134 Siehe nur Art. 57 Abs. 1 EGV Vgl. dazu nur Streinz, Europarecht, Rn. 938. Siehe auch Grabitz, in: FS für Steindorff, S. 1229 (1238), der einige Beispiele für Richtlinien auflistet, in denen sich das Prinzip der gegenseitigen AnerkennlDlg niedergeschlagen hat. 135 Streinz, Europarecht, Rn. 939. \36 Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1570. 137 Vgl. auch Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1574 f; Streinz, Europarecht, Rn. 939. \38 Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1570. \39 So auch Streinz, Europarecht, Rn. 942. 140 Bis zum 3l. Dezember 1992 waren fast 95 Prozent oder 264 von 282 der im Weißbuch vorgesehenen Maßnahmen vom Rat angenommen worden. Bis zum 28. Ok-

68

2.

Teil:~dbegrilfe

die Umsetzung des entsprechenden Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten immer noch als problematisch. 141 Über den Stand der Arbeiten im Hinblick auf die Verwirklichung des Binnenmarktes informieren sowohl die Berichte der Kommission, die diese nach Maßgabe des Art. 7b Abs. 1 EGV erstellt hae 42 , als auch die jährlichen Berichte, welche die Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die Durchführung des Weißbuches aufstellt. 143 Daneben veröffentlicht die Kommission aber regelmäßig weitere einschlägige Informationen. l44 Verzögerungen gab bzw. gibt es insbesondere bei der Abschaffung der Kontrollen an den Grenzen l45 , bei der Harmonisierung der indirekten Steuern, beim industriellen Eigentum, bei der Abschaffung der doppelten Besteuerung von Gesellschaften und beim Gesellschaftsrecht. 146 Auch das von der tober 1994 waren 268 Rechtsakte vom Rat erlassen worden. Vgl. dazu nur Streinz, Europarecht, Rn. 944 m.w.N. Siehe auch EU-Nachrichten (Europäische KommissionlVertretung in der BWldesrepublik Deutschland) Nr. 47/1994, S. 5. 141 Vgl. etwa van Scherpenberg, S. 203; Weidenfeld, in: Der vollendete Binnenmarkt, S. 7 (8 f); SchwarzelBeckerlPollak, S. 28 f jeweils m.w.N. Siehe aber auch "Der Binnenmarkt 1995 - Bericht der Kommission an den Rat Wld das Europäische Parlament -.", KOM (96) 51 endg. vom 20. Februar 1996, S. 10 f 142 Siehe die Nachweise bei Lenz, in: ders., EG-Vertrag, Art. 7b Rn. 1. 143 Siehe die Nachweise bei Streinz, ZLR 1992, S. 233 (241); Lenz, in: ders., EGVertrag, Art. 7b Rn. 2. 144 Siehe dazu die Nachweise bei Lenz, in: ders., EG-Vertrag, Art. 7b Rn. 2. Siehe aber auch die von der Kommission verfaßten Jahresberichte an das Europäische Parlament über die Kontrolle der AnwendWlg des Gemeinschaftsrechts. Siehe dazu auch "Elfter Jahresbericht an das Europäische Parlament über die Kontrolle der AnwendWlg des Gemeinschaftsrechts - 1993 - (94/C 154/01)", KOM (94) 500 endg. Siehe ferner jüngst "Zwölfter Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts - 1994 - (95/C 254/01)", KOM (95) 500 endg. 145 Siehe dazu auch das außerhalb des vertraglichen Rahmens abgeschlossene sog. Schengener Abkommen vom 14. JWli 1985 (inklusive des dazugehörigen Durchfiihrungsübereinkommens vom 19. JWli 1990), welches auf eine gänzliche Beseitigung von Grenzkontrollen für den Personen- Wld Güterverkehr zwischen den Partnerstaaten dieser Abkommen abzielt. Vgl. dazu Dörr, DÖV 1993, S. 696 (697 f); van Scherpenberg, S. 206 f; SchwarzelBeckerlPollak, S. 27 f; Beinhofer, BayVBl. 1995, S. 193 (193 f); Achermann/BieberlEpineylWehner, S. 1 ff jeweils m.w.N. Inzwischen ist das Durchfiihnmgsübereinkommen zum 26. März 1995 zumindest für den überwiegenden Teil der beteiligten Staaten in Kraft getreten. Siehe dazu nur das AbschlußkommWlique der SitZWlg des Schengener Exekutivausschusses am 22. Dezember 1994 in Bonn, BullBReg. 1995, S. 16. Vgl. ferner EU-Informationen (Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland) Nr. 3/JWli 1995, S. 3. Vgl. dazu Münster, SZ vom 25./26. März 1995, S. 8. 146 Vgl. dazu Weidenfeld, in: Der vollendete Binnenmarkt, S. 7 (8 f) m.w.N.; Schmidhuber, in: FS für Helmrich, S. 395 (398). Vgl. ferner auch "Der Binnenmarkt 1994. Bericht der Kommission an den Rat Wld das Europäische Parlament", KOM (95) 238 endg. vom 15. JWli 1995, S. 7, 8 f[, 27, 76 f[ Vgl. zum aktuellen Stand jetzt "Der

B. Die Europäische Gemeinschaft Wld der Binnenmarkt

69

Kommission auf europäischer Ebene angestrebte flächendeckende Regelwerk an neu zu schaffenden technischen Normen konnte in den dafür vorgesehenen Zeiträumen nicht erreicht werden. 147 Es gilt schließlich zu beachten, daß selbst eine vollständige Umsetzung der Vorgaben des Weißbuchs in den Mitgliedstaaten lediglich ein quantitatives Faktum darstellt; dies würde jedoch kaum etwas über die qualitative Realisierung des Binnenmarktprogramms in den Mitgliedstaaten aussagen. 148 Nicht zuletzt deshalb wird die Fortentwicklung und "Verwaltung" des Binnenmarktes zur gegenwärtigen, aber auch zur zukünftigen Aufgabe der Gemeinschaft. 149

ill. Die Bedeutung des Binnenmarktes und die Notwendigkeit

einer fortschreitenden Integration für Europa

Sowohl der Binnenmarkt als auch die in den Bereichen Verkehr, Telekommunikation und Energie noch zu schaffende Einheitliche Europäische Infrastruktur (Art. 129b ff. EGV)150 stellen für die Gemeinschaft eine Grundlage dar, an die im Rahmen der fortschreitenden Integration weitere Bausteine angehängt werden können. Um solche handelt es sich nach dem EUV bei der Binnenmarkt 1995 - Bericht der Kommission an den Rat Wld das Europäische Parlament -.", KOM (96) 51 endg. vom 20. Februar 1996, S. 10 ff. m.w.N. 147 Vgl. dazu insbesondere Tünnesen-Harmes, DVBI. 1994, S. 1334 (1337) m.w.N. Vgl. auch Narfes, in: FS für Deringer, S. 110 (116). 148 So Hatfe, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 51 (52). 149 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 944. Siehe dazu aber auch Wlten im 4. Teil Wlter B. II. An dieser Stelle soll ebenfalls auf die Grenzen der HerstellWlg des Binnenmarktes hingewiesen werden. Dies wird verdeutlicht durch ein anschauliches Beispiel aus Großbritannien, welches Brunner, in: Die Subsidiarität Europas, S. 9 (11 f), anfuhrt: Hier stieß die Ansicht Großbritanniens, das seit Jahrzehnten die Einfuhr von nicht mit einer bestimmten feuerfesten Chemikalie imprägnierten Polstermöbeln verbietet, auf den Widerstand der Kommission, die darin ein WlZUlässiges Handelshemmnis sah. Großbritannien war aber auf keinen Fall bereit, nach dem Prinzip der gegenseitigen AnerkennWlg die Einfuhr Wlbehandelter Polstermöbel zuzulassen. Doch auch eine gemeinschaftsweite HarmonisiefWlg, wonach alle Polstermöbel mit besagter Chemikalie zu imprägnieren sind, war nicht möglich. Diese lehnte die BWldesrepublik Deutschland ab, weil genau jene Chemikalie hier als Gift verboten war. Somit war also weder eine HarmonisiefWlg noch eine gegenseitige AnerkennWlg möglich. Dies Beispiel belegt, daß die Gemeinschaft in Einzelfragen aufgTWld divergierender Ansichten der Mitgliedstaaten einfach "nicht regelWlgsfähig" sein kann Wld daher mit Rücksicht auf die Mitgliedstaaten "kleine Lücken des Binnenmarkts" hinzunehmen sind. 150 Siehe KOM (93) 700 endg., S. 28 f bzw. S. 96 ff. Vgl. dazu Rambow, in: Lenz, EG-Vertrag, VorbemerkWlg zu Art. 129b - 129d Rn. 1 ff.; Pinder, Integration 1994, S. 138 (142 f)jeweils m.w.N.

70

2. Teil: ChundbegrilIe

Wirtschafts- und Währungsunion (Art. l02a ff. EGV), bei der GASP (Art. J EUV) und bei der Zusammenarbeit in den Bereichen der Justiz und der inneren Sicherheit (Art. K EUV).151 Beim Binnenmarktprojekt handelt es sich zwar um ein Wirtschaftsprogramm, jedoch strahlen die Konsequenzen seiner mittlerweile weit vorangeschrittenen Realisierungl52 nahezu zwangsläufig über Wirtschaft und Handel hinaus auch auf die Strukturen von Politik, Verwaltung und öffentlichen Haushalten sowie auf andere Politikbereiche aus. 153 Trotz dieser Entwicklung und der bereits vertraglich normierten Erweiterungen des politischen Handlungsspektrums der Gemeinschaft bzw. der EU muß es als unbestritten gelten, daß nur eine erfolgreiche und konsequente Realisierung des Binnenmarktprojekts verbunden mit den entsprechenden Wohlfahrtssteigerungen l54 die Staaten dazu bewegen kann, tatsächlich unter Verzicht auf eigene Souveränitätsvorbehalte die neuen politischen Kompetenzen mit Leben zu erfüllen. 155 Insoweit stellt die Vollendung des Binnenmarktes ein Art "AufschwungprogrammOl für die Zukunft der Gemeinschaft bzw. der EU, nicht zuletzt aber auch der Mitgliedstaaten dar. 156 Auf Dauer aber kann nur eine auch mit weitreichender politischer Handlungsfahigkeit ausgestattete Gemeinschaft politische Stabilität, wirtschaftliche Prosperität und dauerhaften Frieden in ihren Mitgliedstaaten schaffen und auch sichern. 157 Die supranationalen Entscheidungsstrukturen bieten ihrerseits dabei weitestgehend Gewähr dafür, daß auch bei einem fehlenden Konsens zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten eine tragfähige Lösung gefunden werden

151

Siehe dazu bereits oben im 1. Teil Wlter A. ll. Siehe dazu oben Wlter ll. 3. 153 Vgl. Weidenfeld, in: Der vollendete Binnenmarkt, S. 7 (10 f). An dieser Stelle sei das Integrationskonzept des "FWlktionalismus" in ErinnefWlg gerufen. Danach lag der BegriindWlg der Gemeinschaft der Gedanke zugrWlde, im Rahmen eines stetig fortschreitenden Integrationsprozesses auf dem wirtschaftlichen Sektor letztendlich die EinbeziehWlg auch anderer politischer Sektoren zu erreichen (sog. "spill over"-Effekt). Vgl. zur "fimktionellen Integration" auch H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 196 ff.; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 119 ff.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 5. 154 Vgl. zu den Folgen der UmsetZWlg des Binnenmarktprojekts auf die Wirtschaftstätigkeit in der Gemeinschaft etwa Weidenfeld, in: Der vollendete Binnenmarkt, S. 7 (8); Dicke, in: Jahrbuch der Europäischen Integration 1993/94, S. 153 (157 ff.) jeweils m.w.N. Vgl. zuvor bereits Cecchini, Europa '92. Der Vorteil des Binnenmarkts, 1988. Vgl. dazu auch Franzmeyer, in: Gesamteuropa, S. 342 (350 ff.). ISS Vgl. auch Oppermann, Europarecht, Rn. 1178 m.w.N. 156 Vgl. Läufer, 22 Fragen zu Europa, S. 31. 157 Vgl. auch Stürmer, in: Deutschlands neue Außenpolitik, S. 39 (54 ff). 152

B. Die Europäische Gemeinschaft Wld der Binnenmarkt

71

kann. 15S Wie bedeutsam die europäische Einigung gerade auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik ist, wird einmal mehr deutlich vor dem Hintergrund der unglaublichen Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien, wo uralte, längst vergessen geglaubte Vorurteile wiederauflebten. Denn dort warfen die politischen Formationen des Ersten und Zweiten Weltkrieges ihre Schatten und hinderten die Gemeinschaft daran, ihr politisches Gewicht in die jugoslawische Waagschale zu werfen, so daß sie als Friedensstifter zwangsläufig versagen mußte. 159

IV. Die Bedeutung der Vollendung und der effektiven Verwaltung des Binnenmarktes für die Bundesrepublik Deutschland Die Bedeutung der Vollendung und der effektiven Verwaltung des europäischen Binnenmarktes für die Bundesrepublik Deutschland kann nur vor dem Hintergrund elementarer deutscher Interessen l60 in Europa und der Welt gesehen werden. Für seine innere politische Stabilität und damit den Erhalt des vorhandenen politischen und rechtlichen Systems ist Deutschland in hohem Maße auf die Erlangung und Erhaltung wirtschaftlicher Prosperität angewiesen. Diese wiederum ist ihrerseits abhängig von leistungsfähigen Unternehmen und geordneten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, für die sowohl die Innen- (Finanz-, Justiz- und Wirtschaftspolitik) als auch die Außenpolitik verantwortlich zeichnen. Die Gemeinschaft bildet dabei in vielerlei Hinsicht einen bedeutenden Rahmen, in dem sich die deutschen, aber auch die Interessen Europas insgesamt erreichen lassen. 161 Nur im Rahmen der Gemeinschaft kann es gelingen, über die Verpflichtungen gegenüber einer supranationalen Organisation im Inland wirtschaftliche Rahmenbedingungen im Sinne von mehr Wettbewerb gegen den zum Teil beträchtlichen Widerstand von innerstaatlichen Interessengruppen durchzusetzen oder zumindest im diesem Sinne zu beeinflussen. 162 Darüber hinaus bewirkt eine gezielte, auf Integration und Kooperation 158 Vgl. auch Piepenschneider, in: Europäische Integration als deutsches Interesse, s. 30 (31). 159 So StauffenberglLangenfeld, ZRP 1992, S. 252 (252). Vgl. ferner Schmidhuber, in: FS für Helmrich, S. 395 (397). Vgl. aber auch Pinder, Integration 1994, S. 138 (144 f), der belegt, daß die Gemeinschaft zahlreiche außenpolitische Erfolge durch ihre Außenwirtschaftspolitik erreichen konnten. 160 Gnmdlegend dazu Stürmer, in: Deutschlands neue Außenpolitik, S. 39 ff. 161 Piepenschneider, in: Europäische Integration als deutsches Interesse, S. 30 (46). 162 Vgl. auch Härtel, in: Der vollendete Binnenmarkt, S. 114 (119): "Mit dieser Art der europäischen Integration konnten Verkrustungen aufgebrochen Wld Besitzstände in Frage gestellt werden, vor denen die nationalen RegierWlgen bereits kapituliert hatten."

72

2. Teil: Chundbegrilfe

gerichtete Außenpolitik Deutschlands im Rahmen der Europäischen Integration verbunden mit den entsprechenden institutionellen Erfolgen, daß die übrigen europäischen Staaten ihre noch verbliebenen Vorbehalte gegenüber Deutschland als an Bevölkerung größtem und wirtschaftlich potentestem europäischen Staat 163 verlieren l64 und so eine dauerhafte europäische Friedensordnung geschaffen werden kann. 165 Die Europäische Integration bildet dabei den Rahmen, der sicherzustellen vermag, daß insbesondere nach der Wiedervereinigung ein wie auch immer definiertes deutsches Interesse nicht erneut auf Kosten der Sicherheitsinteressen seiner europäischen Nachbarn geht. 166 Die Einigung auf das Binnenmarktprojekt bewirkte, daß man gemeinsam daran gehen konnte, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu steigern. Für die in konjunktureller Hinsicht in erheblicher Weise vom Export abhängige Bundesrepublik Deutschland167 bedeutet dies zweierlei. Zunächst wurden durch die Schaffung des Binnenmarktes für deutsche Unternehmen neue Absatzchancen in Europa eröffnet. 168 Zugleich konnten diese durch den mit der Vollendung des Binnenmarktes verbundenen Abbau von bürokratischen Lasten und die daraus resultierenden Einsparungen an Produktionskosten auch ihren Stand auf dem Weltmarkt verbessern. Es ist dabei mehr als nur konsequent, daß die Finanzierung der europäischen Gemeinschaf163 Vgl. dazu nur Kloten, in: Deutschlands neue Außenpolitik, S. 63 ff.: "Die Bundesrepublik als Weltwirtschaftsmacht." 164 Vgl. zur historischen Dimension der diesen Vorbehalten zugrunde liegenden Ängsten Schwarz, in: Deutschlands neue Außenpolitik, S. 81 (84 ff.) m.w.N. 165 Vgl. auch Stürmer, in: Deutschlands neue Außenpolitik, S. 39 (55); Piepenschneider, in: Europäische Integration als deutsches Interesse, S. 30 (45). Stürmer, a.a.O., S. 58, weist im übrigen zutreffend daraufhin, daß bisher jeder deutscher Souveränitätsgewinn - von der Gründung der EGKS über den Beitritt zur North Atlantic Treaty Organization (NATO) bis hin zum Abschluß des EUV - durch den Transfer von Macht ausgeglichen und kompensiert wurde. 166 Vgl. Piepenschneider, in: Europäische Integration als deutsches Interesse, S. 30 (34) m.w.N. Vgl. aber auch MöscheI, in: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, S. 21 (26). 167 Vgl. Läufer, 22 Fragen zu Europa, S. 15 und S. 40; Brok, in: Europäische Integration als deutsches Interesse, S. 15 (22); Piepenschneider, in: Europäische Integration als deutsches Interesse, S. 30 (41 f). Vgl. zu den Gründen auch Kloten, in: Deutschlands neue Außenpolitik, S. 63 (67 f) 168 Vgl. Eckhoff, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 181 (204 f). Vgl. aber auch Weidenfeld, in: Der vollendete Binnenmarkt, S. 7 (12) m.w.N. Weidenfeld stellt heraus, daß die Bundesrepublik Deutschland zwar volkswirtschaftlich gesehen zu den Gewinnern des Binnenmarktes gehört, daß jedoch damit zu rechnen ist, daß die Arbeitslosigkeit durch das Auslagern arbeitsintensiver Produktionsprozesse in Niedriglohnländer in manchen Bereichen zunächst zunehmen wird.

c. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

73

ten nach der wirtschaftlichen Potenz ausgerichtet sein muß. Demnach hat die Bundesrepublik Deutschland der Hauptgeldgeber zu sein. 169 Keinesfalls kann man im übrigen die bloße "Nettozahlung" an die Gemeinschaft zur Grundlage der Bewertung heranziehen, ob ein Staat einen zu hohen Beitrag leistet. 17o Gerade die ökonomischen Vorteile, welche Deutschland aus der europäischen Einigung zieht, können kaum in konkreten Zahlen ausgedrückt werden. l7l Darüber hinaus ist der erreichte andauernde Frieden in Mitteleuropa überhaupt nicht zu bewerten. Unter Beachtung des Symbolcharakters der erfolgreichen Realisierung des Binnenmarktprojekts für den weiteren Ausbau der politischen Integration sollte die Bundesrepublik Deutschland in besonderem Maße darauf bedacht sein, daß die Vollendung und effektive Verwaltung des Binnenmarktes ohne große Umwege erfolgt. 172 Denn hierin liegt ein existentielles deutsches Interesse.

c. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten und die an ihn zu stellenden Anforderungen L Der Vollzug von ~meinschaftsrecht 1. Einleitung

Nachfolgend soll aufgezeigt werden, wie das Gemeinschaftsrecht vollzogen wird. Es ist dabei zwischen dem "Vollzug von Gemeinschaftsrecht"173 durch 169 Vgl. dazu auch Kinkei, EA 1994, S. 335 (336), der die Obergrenze der deutschen Zahhmgsmöglichkeiten als erreicht ansieht. 170 Vgl. EckhojJ, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 181 (181). 171 Vgl. dazu nur Brok, in: Europäische Integration als deutsches Interesse, S. 15 (21 ff); EckhojJ, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 181 (204 ff). m Bisher hinkt Deutschland jedoch mit der Umsetzung des Binnenmarktprojekts hinterher \Dld rangiert lediglich an vorletzter Stelle der 15 Mitgliedstaaten. So waren am Ende des Jahres 1995 erst 89 % der verabschiedeten Richtlinien formell in das eigene Recht aufgenommen worden, während diese Quote Anfang 1995 lediglich 85 % betragen hatte. Siehe dazu im einzelnen die EU-Nachrichten (Europäische KommissionNertretlDlg in der B\Dldesrepublik Deutschland) Nr. 5/1996, S. 2. 173 Die Terminologie in der Literatur ist nicht einheitlich. Hier wird "Vollzug von Gemeinschaftsrecht" als Oberbegrifffiir jede Form seiner Durchfühnmg verwendet. So auch Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 2 m.w.N. Zum Teil wird der Vollzugsbegriffnur in Verbind\Dlg mit dem entsprechenden Handeln der VerwaltlDlg gebraucht. Vgl. nur H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 220 m.w.N. Häufig bedient man sich auch des Begriffes der "Durchfühnmg von Gemeinschaftsrecht" als

74

2. Teil: Chundbegrilfe

die Mitgliedstaaten ("indirekter" Vollzug) und dem durch die Gemeinschaft unmittelbar ("direkter" Vollzug) zu unterscheiden. 174 Da der mitgliedstaatliche Vollzug in der hier vorliegenden Abhandlung im Mittelpunkt steht, soll vorrangig auf ihn eingegangen werden.

2. Zum mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten ("indirekter" Vollzug) stellt den Regelfall dar. 175 Er entspricht der Grundstruktur des EGV, zumal dieser für die Gemeinschaft grundsätzlich keinen eigenen Verwaltungsunterbau vorsieht. 176 Eine ausdrückliche Verpflichtung zum Vollzug von Gemeinschaftsrecht ist im EGV nicht enthalten, jedoch ergibt sie sich mittelbar aus Art. 5 EGV. 177 Danach sind die Mitgliedstaaten bzw. ihre Organe verpflichtet, "alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus dem Vertrag oder aus den Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben," zu treffen (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EGV). Darüber hinaus haben sie alle Maßnahmen zu unterlassen, "welche die

Oberbegriff. Vgl. nur Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, S. 48; Rengeling, EuR 1974, S. 216 (217); Bleckmann, in: ders. Europarecht, Rn. 853 ff. 174 Vgl. zur UnterscheidWlg zwischen "direktem" Wld "indirektem" Vollzug Schwarze, Europäisches VelWaltWlgsrecht, Bd. I, S. 25 ff.; Kössinger, S. 16 bzw. S. 18 ff.; Streinz; in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 4; Schwarze/BeckeriPollak, S. 34 f; Pache, S. 74 ff.; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 957 f jeweils m.w.N. 175 H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 218; Schwarze, Europäisches VelWaltWlgsrecht, Bd. I, S. 25 (33); Streinz, in: Europäisches VelWaltWlgsrecht, S. 241 (242) m.w.N.; Jamrath, S. 72 f; Fischer, Europarecht, S. 116; Pache, S. 76 f; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 959 m.w.N. 176 Vgl. Siedentopf, Die UmsetZlmg des Gemeinschaftsrechts, S. 7; Pache, S. 77 m.w.N. Vgl. aber auch Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (925) m.w.N. Dieser weist daraufhin, daß sich im Laufe der Zeit eine ausdifferenzierte sekundäre Wld tertiäre VelWaltWlgsorganisationsstruktur der Gemeinschaft herausgebildet hat. Siehe zur Struktur der Gemeinschaft auch bereits oben im 1. Teil Wlter B. III. 177 Siehe nur EuGH, Urteil vom 21. September 1983, verb. Rs. 205-215/82 (Deutsche Milchkontor GmbH u.a.lDeutschland), Slg. 1983, S. 2633 (Rn. 17). Vgl. auch Rengeling, EuR 1974, S. 216 (227) m.w.N.; ders., DVBI. 1986, S. 306 (307) m.w.N.; Oppermann, Europarecht, Rn. 543 bzw. Rn. 546; Streinz; in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 10; Lenz, in: ders., EG-Vertrag, Art. 5 Rn. 4; Fischer, Europarecht, S. 110 f bzw. S. 119 m.w.N.; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 959 m.w.N. Vgl. zu den Besonderheiten des Art. 5 EGV gegenüber anderen internationalen Organisationen H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 213 ff.

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

75

Verwirklichung der Ziele des Vertrages gefährden könnten" (Art. 5 Abs. 2 EGV). Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten 178 umfaßt zunächst sowohl "legislative" als auch "administrative" Handlungsformen rnitgliedstaatlicher Organe. 179 Ein "legislatives" Handeln liegt dann vor, wenn die Mitgliedstaaten ganz generell "Ausführungsnormen" zum Gemeinschaftsrecht erlassen l8o ; insoweit sich diese auf die Ergänzung von Verordnungen (Art. 189 Abs. 2 EGV) beziehen, spricht man von "Durchführungsnormen", dienen diese der Umsetzung von Richtlinien (Art. 189 Abs. 3 EGV), sind sie entsprechend als "Umsetzungsnormen" zu bezeichnen. Ein "administratives" Handeln ist in solchen Fällen gegeben, in denen mitgliedstaatliche Organe Verordnungen und mitgliedstaatliche Gesetzen, die ihrerseits Richtlinien umsetzen, mittels einzelner Verwaltungsmaßnahmen "anwenden"18\ solche einzelnen Verwaltungsmaßnahmen werden als "Vollzugsakte" bezeichnet. l82 Unter "Anwendung" ist also insoweit die Konkretisierung von Gemeinschaftsrecht durch eine Verwaltungsinstanz im Einzelfall zu verstehen. 183 Jedoch obliegen auch den mitgliedstaatlichen Gerichten Vollzugsaufgaben. Da der Rechtsschutz gegen die Akte der Legislative bzw. Exekutive vor den mitgliedstaatlichen Gerichten wahrgenommen wird, sind bei Vorliegen eines Bezugs zum Gemeinschaftsrecht grundsätzlich alle drei Staatsgewalten der Mitgliedstaaten mit dem Vollzug von Gemeinschaftsrecht betraut. 184 Die mitgliedstaatlichen Gerichte werden dabei in der Weise tätig, daß sie "unmittelbar anwendbare" Normen des Gemeinschaftsrechts zu beachten und gegebenenfalls zur Geltung zu bringen haben. 185 Darüber hinaus ist das mitgliedstaatliche Recht von den Gerichten wie auch

178 Gnmdlegend dazu Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182. Vgl. auch Engel, DV 1992, S. 437 (441 ff), der jedoch von der "Durchführung des Gemeinschaftsrechts" spricht. Ebenso schon Rengeling, EuR 1974, S. 216 (217). 179 Vgl. zu dieser Zweiteilung auch Bünten, S. 20 bzw. S. 29. ISO Insbesondere Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, S. 47 f. m.w.N., bezeichnet die legislative Tätigkeit in diesem Zusammenhang als "Ausfiihrung". Vgl. auch H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 218 f; Kössinger, S. 21 f 181 Vgl. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, S. 47 f m.w.N. 182 So Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 2 m.w.N. 183 Rengeling, EuR 1974, S. 216 (217) m.w.N. 184 Vgl. Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 1 m.w.N. 185 Vgl. nur H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 218 bzw. 219 f

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2. Teil: Chundb~e

von den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten unter Umständen innerhalb bestimmter Grenzen gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. 186 Das Gemeinschaftsrecht ist im Hinblick auf seinen Vollzug in vielerlei Hinsicht auf das Zusammenwirken mit dem Recht der Mitgliedstaaten angewiesen. 187 Dies gilt im besonderen für das Rechtsinstrument der Richtlinie, die gemäß Art. 189 Abs. 3 EGV für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels zwar verbindlich ist, diesem aber zugleich die Wahl der Form und der Mittel der Zielverwirklichung überläßt. 188 Das primäre Gemeinschaftsrecht wie auch Verordnungen bedürfen hingegen keiner Umsetzung, dafür aber häufig mitgliedstaatlicher "Ausführungsnormen" .189 Eine weitere Unterscheidung, die im Hinblick auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten vorgenommen wird, ist die zwischen dem "unmittelbaren" und dem "mittelbaren" mitgliedstaatlichen Vollzug. 19o Im ersten Fall ist das Gemeinschaftsrecht "unmittelbar anwendbar" 191 und wird von den Mitgliedstaaten vollzogen, ohne daß eine mitgliedstaatliche Norm dazwischentritt. 1n Dem "unmittelbaren" mitgliedstaatlichen Vollzug können das Primärrecht, Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen und Empfehlungen unterliegen. 193 Beim "mittelbaren" mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht ist das betreffende Gemeinschaftsrecht nicht "unmittelbar anwend186 Vgl. dazu an dieser Stelle nur Zuleeg, VVDStRL Bd. 53 (1994), S. 154 (165 ff.); Fischer, Europarecht, S. 119 bzw. S. 121 f jeweils m.w.N. Chundlegend zur "europarechtskonformen" Auslegung Metallinos, S. 1 ff. Siehe dazu im einzelnen Wld insbesondere zur "richtlinienkonformen Auslegung" Wlten im 4. Teil Wlter C. n. 2. d) dd). 187 Vgl. zum Zusammenwirken von GemeinschaftsrechtsordnWlg Wld den RechtsordnWlgen der Mitgliedstaaten insbesondere Pescatore, EuR 1970, S. 307 ff. Vgl. aber auch Rengeling, DVBI. 1986, S. 306 ff.; Weber, Rechtsfragen, S. 50 ff.; Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 6 ff. jeweils m.w.N. 188 Vgl. Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 3. 189 Vgl. dazu im einzelnen Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 3 bzw. 18 m.w.N. Vgl. aber auch Schwarze/BeckeriPollak, S. 56 f m.w.N. 190 Vgl. dazu Weber, Rechtsfragen, S. 45; Kössinger, S. 23 f; Streinz, in: Europäisches Verwalt\Ulgsrecht, S. 241 (242) m.w.N.; ders., in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 4; SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 97; Jamrath, S. 74 m.w.N.; Fischer, Europarecht, S. 117 bzw. S. 119 ff.; Jarass, Chundfragen, S. 98; Scheuing, in: Innovation Wld Flexibilität des Verwa1tWlgshandelns, S. 289 (295 f) m.w.N. 191 "Unmittelbar anwendbar" ist das Gemeinschaftsrecht, wenn es entweder "unmittelbar gilt" oder "unmittelbar wirksam" ist. Siehe dazu im einzelnen Wlten im 4. Teil Wlter C. n. 2. a). 192 Vgl. dazu Fischer, Europarecht, S. 119. 193 Vgl. dazu im einzelnen Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 4; SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 97.

c. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

77

bar", und es bedarf daher einer mitgliedstaatlichen Ausführungsvorschrift zu seinem Vollzug. 194 Insoweit wird nicht das Gemeinschaftsrecht, sondern die "Ausführungsnorm " vollzogen. 195 Dies ist vor allen Dingen bei Richtlinien der Fal1. 196 Das umgesetzte mitgliedstaatliche Recht ist in diesen Fällen im übrigen bei seiner Anwendung auch "richtlinienkonform" auszulegen. 197 Unabhängig davon, ob Gemeinschaftsrecht "unmittelbar", "mittelbar" oder im Rahmen einer Mischform 198 vollzogen wird, sind alle Akte des mitgliedstaatlichen ("indirekten") Vollzugs den mitgliedstaatlichen Organen und nicht etwa der Gemeinschaft zuzurechnen. 199 Dies hat insbesondere Auswirkungen auf den gegen diese Akte wahrzunehmenden Rechtsschutz.

3. Zum gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug von Gemeinschaftsrecht

Der "gemeinschaftsunmittelbare Vollzug von Gemeinschaftsrecht"200 ("direkter" Vollzug) stellt den Ausnahmefall dar. 201 Er kommt nach Maßgabe des "Prinzips der begrenzten Ermächtigung" (Art. 4 Abs. I Satz 2 EGV) nur dann zur Anwendung, wenn das primäre Gemeinschaftsrecht es ausdrücklich vorsiehf02 ; es ist aber ausreichend, wenn die Gemeinschaft zum Erlaß von Rechtsvorschriften für die gemeinschaftsunmittelbare Vollziehung in einem bestimmten Sachgebiet ermächtigt wird. 203 Das bedeutet, daß die Gemeinschaft das von 194

Vgl. Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd.

vrr, § 182 Rn. 4 m.w.N.

195 Vgl. Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (242) m.w.N. 196 Vgl. dazu auch Fischer, Europarecht, S. 112 bzw. S. 121. 19"7 Vgl. an dieser Stelle nur die Ausfiihnmgen von Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (295) m.w.N. Siehe ausführlich zur Pflicht der Mitgliedstaaten zur "richtlinienkonformen Auslegung" unten im 4. Teil unter C. 11. 2 d) dd). 198 Vgl. nur Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (295 f) m.w.N. 199 Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. vrr, § 182 Rn. 5 m.w.N. 200 Vgl. zur Terminologie Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 96. Grundlegend zum gemeinschaftsunrnittelbaren Vollzug von Gemeinschaftsrecht Bieber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 85 ff. 201 Vgl. nur Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 25; Kössinger, S. 19; Oppermann, Europarecht, Rn. 543. 201 Vgl. Kössinger, S. 16 bzw. 18; Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. vrr, § 182 Rn. 4 jeweils m.w.N. Siehe dazu auch die zahlreichen Nachweise bei Bieber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 85 (96 f). 203 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 543; SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 96; Jamrath, S. 72 f m.w.N.; Streinz, Europarecht, Rn. 464. Grundlegend zum "Prinzip der begrenzten Ermächtigung" Kraußer, S. 20 ff. m.w.N. Vgl. zum "Prinzip der begrenzten

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2. Teil: Chundbegrüfe

ihr gesetzte Recht nur insoweit selbst vollziehen kann, als behördliche Stellen auf Gemeinschaftsebene errichtet wurden und ihnen zulässigerweise der Vollzug von Gemeinschaftsrecht zugewiesen werden konnte. 204 Der "direkte" Vollzug von Gemeinschaftsrecht kommt unter anderem auf den Gebieten der "internen" Eigenverwaltung der Gemeinsch~05 sowie der "externen" Durchsetzung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften (Art. 85 ff. EGV)206, der gemeinschaftlichen Handelspoliti~07 und der gemeinschaftlichen Sozialpoliti~o8 zur Anwendung. Auch wenn die Gemeinschaft für den Vollzug von Gemeinschaftsrecht zuständig ist, so bleibt sie dennoch im Regelfall auf die Mitwirkung von mitgliedstaatlichen Behörden angewiesen. 209 Eine mitgliedstaatliche Verpflichtung zur Unterstützung besteht jedoch nur dann, wenn spezielle Vorschriften die generelle Unterstützungspflicht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EGV konkretisieren. 2IO Die Ursachen für den Ausnahmecharakter des "direkten" Vollzugs von Gemeinschaftsrechts bestehen darin, daß der vertraglichen Schaffung einer flächendeckenden Gemeinschaftsverwaltung zur Gewährleistung eines einheitlichen verläßlichen Vollzugs sowohl große praktische Hindernisse, d.h. finanzielle und technische Probleme, aber auch politische Widerstände von seiten Ennächtigtmg" auch Bieber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 85 (89 f); Streinz, Europarecht, Rn. 436 f Siehe aber jetzt auch die neu geschaffene Nonn des Art. E EUV, wonach die Organe der Gemeinschaft "ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinne der Verträge zur Gtiindung der Europäischen Gemeinschaften sowie der nachfolgenden Verträge und Akte zu deren Änderung oder Ergänzung" ausüben. 204 So Oppermann, Europarecht, Rn. 543. 205 Siehe dazu die zahlreichen Nachweise bei Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 25 ff; Bieber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 85 (110 ff); Streinz, Europarecht, Rn. 465; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 97. 206 Vgl. dazu Bieber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 85 (96 f); Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (925); SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 97; Streinz, Europarecht, Rn. 466. Siehe dazu auch die umfangreichen Ausfiilirungen unten im 4. Teil unter B. VI. 3. 207 Vgl. Bieber, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 85 (97); Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 97. 208 Dies betrifft insbesondere die Verwaltung der Sozialfonds (Art. 124 EGV). Vgl. dazu Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 97; Streinz, Europarecht, Rn. 466. 209 Vgl. Weber, Rechtsfragen, S. 52 f; Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 4; Engel, DV 1992, S. 437 (446); Zuleeg, VVDStRL Bd. 53 (1994), S. 154 (158) jeweils m.w.N. 210 So Streinz, Europarecht, Rn. 469 m.w.N. Vgl. zu den Mitwirkungspflichten der Mitgliedstaaten beim gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug auch schon die Ausfiilirungen von Conrad, S. 41 ff

c. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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der Mitgliedstaaten entgegenstehen. So sind die Mitgliedstaaten kaum bereit, irgendwelche Verwaltungskompetenzen aus der Hand zu geben. Dennoch verfügt die bestehende Struktur, wonach der mitgliedstaatliehe Vollzug von Gemeinschaftsrecht den Regelfall darstellt, unter dem Gesichtspunkt der "bürgernahen Verwaltung" durchaus über wünschenswerte Seiten. 21I

ll. Die gemeinschaftsrechdichen Anforderungen an den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht ("effet utile") und die auftretenden Verstöße der Mitgliedstaaten gegen ihre Vollzugspflichten 1. Einleitung

Die Abhängigkeit eines effektiven212 und einheitlichen mitgliedstaatlichen Vollzugs des Gemeinschaftsrechts von den mit dem Vollzug betrauten mitgliedstaatlichen Organen sowie von jenem dem Vollzug dienenden mitgliedstaatlichen Recht wird in vielerlei Hinsicht deutlich. An dieser Stelle sei nur auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH zu den beim mitgliedstaatlichen Vollzug von europäischem Gemeinschaftsrecht eingetretenen Mängeln hingewiesen (unter 3.). Diese Mängel sind jedoch nur dann als solche zu identifizieren, wenn man die der Rechtsprechung des EuGH zugrunde liegenden Ausgangsprämissen für die für den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht aufgestellten Anforderungen beachtet. Zunächst soll deshalb auf den aus dem Völkerrecht stammenden und insbesondere für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts vom EuGH herangezogenen Grundsatz des "effet utile" eingegangen werden (unter 2).

211 So auch Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 4 m.w.N. Siehe auch schon oben im 1. Teil wter B. ill. 212 Wenn im Rahmen dieser Abhandlwg die Notwendigkeit eines "effektiven" oder "effIZienten" Vollzugs von Gemeinschaftsrecht herausgestellt wird, so ist damit ein besonderer auf einer völker- bzw. gemeinschaftsrechtlichen Gnmdlage beruhender Begriff der "Effektivität" gemeint. Dieser ist insoweit abzugrenzen von dem von der Literatur im Zusammenhang mit dem insbesondere im deutschen Verwaltwtgsrecht verwendeten Begriff der "Verwaltwtgseffizienz". Vgl. dazu nur Wahl, VVDStRL Bd. 41 (1982), S. 151 ff; Pietzcker, VVDStRL Bd. 41 (1982), S.193 ff. Vgl. auch Leisner, S. 31 ff. bzw. 38 ff. Vgl. dazu die Rezension von Häberle, AöR 98 (1973), S. 625 ff.

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2. Teil: Grrundbegrdfe

2. Die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten ("effet utile") a) Zur Bedeutung der Auslegungsmaxime des "effet utile" im Gemeinschaftsrecht Der EuGH greift sowohl für "Abrundungen" der Gemeinschaftskompetenzen als auch bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht auf den Gedanken des "effet utile"213 zurück. 214 Dabei setzt sich der EuGH zum Teil erheblicher Kritik aus. 215 So wird ihm vorgeworfen, daß er entgegen dem "Prinzip der begrenzten 213 Zunächst sei hier angemerkt, daß sich der Begrdf "effet utile" nur äußerst selten in der deutschen Übersetzung von Urteilen des EuGH fmdet. Gelegentlich findet sich die direkte deutsche Übersetzung "nützliche Wirkung". Siehe nur EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1970, Rs. 9170 (Grad/Finanzamt Traunstein), Slg. 1970, S. 825 (Rn. 5). Am häufigsten findet sich die Bezeichnung der "praktischen Wirksamkeit" in den Urteilen des EuGH, aber auch den Schlußanträgen der Generalanwälte. Siehe hier nur EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 48175 (Royer), Sig. 1976, S. 497 (Rn. 69173); EuGH, Urteil vom 30. November 1976, Rs. 21176 (Handelskwekerij G. J. Bier B. V.lMines de Potasse d'Alsace S. A), Slg. 1976, S. 1735 (Rn. 20/23); EuGH, Urteil vom 1. Februar 1977, Rs. 51176 (Verbond van Nederlandse OndernemingenJInspecteur der Invoerrechten en Accijnzen), Slg. 1977, S. 113 (Rn. 20/29); EuGH, Urteil vom 16. November 1977, Rs. 13177 (GB-lNNO-BMlATAB), Sig. 1977, S. 2115 (Rn. 30/35); EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. 106177 (Staatliche FinanzverwaltunglS.p.A. Simmenthal), Slg. 1978, S. 629 (Rn. 19/20); EuGH, Urteil vom 19. Januar 1982, Rs. 8/81 (BeckerlFinanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, S. 53 (Rn. 23); EuGH, Urteil vom 9. Juli 1987, verb. Rs. 281, 283-285, 287/85 (Deutschland o.a.lKommission), Slg. 1987, S. 3203 (Rn. 28); 0. v.m. Zu der Bezeichnung "volle Wirksamkeit" siehe EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1976, Rs. 12176 (Industrie Tessili Italiana Comol Dunlop AG), Slg. 1976, S. 1473 (Rn. 11); EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. 106177 (Staatliche FinanzverwaltunglS.p.A Simmenthal), Slg. 1978, S. 629 (Rn. 21123); EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89 (The QueenlSecretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd o.a.), Slg. 1990 I, S. 2433 (Rn. 20); EuGH, Urteil vom 19. November 1991, verb. Rs. C-6 0. 9/90 (Francovich o.a./ltalien), Slg. 1991 I, S. 5357 (Rn. 33) o.v.m. Siehe schließlich zu dem Ausdruck "praktischer Nutzen" EuGH, Urteil vom 12. Juli 1973, Rs. 70/72 (KommissionlDeutschland), Slg. 1973, S. 813 (Rn. 13). Siehe auch die weiteren Nachweise bei R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 72 ff.; Pernice, in: Grabitzl Hilf, Kommentar zur EU, EL 8 (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 27; Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1492 ff.). Die hier genannten Bezeichnungen geben sinngemäß wieder, was nach Ansicht des EuGH unter der Figur des "effet utile" zu verstehen ist. Zum Teil finden sich in den Entscheidungen des EuGH aber auch lediglich bloße Umschreibungen oder Verweise auf seine frühere Rechtsprechung, wenn diese gefestigt ist. 214 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 441. Vgl. aber auch Bredimas, S. 77, zu der Entwicklung der Art und Weise der Verwendung des "effet utile" durch den EuGH im Laufe der Zeit. 215 Siehe nur die Nachweise bei Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1491 f).

c. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

81

Ermächtigung" (Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EGV)216 der Gemeinschaft richterrechtlich neue Kompetenzen verschaffe. 217 Weit bedeutender aber erscheint die Anwendung des "effet utile" als eine in Verbindung mit der mitgliedstaatlichen Vertragserfüllungspflicht aus Art. 5 EGV stehende Art "Optimierungsgebot"218, nach dem sämtliche Organe der Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, daß ein gemeinschaftsrechtswidriger Zustand gar nicht erst eintritt oder nicht fortbesteht. 219 Gerade auf diesen letzten Aspekt wird nachfolgend noch einzugehen sein?20

b) Der Grundsatz der "Effektivität" im Völkerrecht Der Begriff der "Effektivität" wird im Völkerrecht zunächst nicht als Auslegungsregel aufgefaße21 Konkret formuliert wird unter der "Effektivität" des Völkerrechts dessen regelmäßige Wirksamkeit verstanden. 222 Damit wird auf das im Völkerrecht in besondere Weise bestehende Spannungsverhältnis von Recht und Wirklichkeit angespielt. 223 Da es sich beim Völkerrecht nicht um eine Rechtsordnung handelt, der eine eigene Hoheitsgewalt zur Durchsetzung verhelfen könnte224 , sondern um eine solche, deren Geltungsanspruch allein auf die ihm zukommende Normativität beschränkt ist, hängt seine Wirksamkeit bzw. seine "Effektivität" wesentlich von der Wirklichkeit und daher im besonderen vom Verhalten bzw. von den Interessen der Staaten ab. Somit ist der Hauptgrund für die Wirksamkeit von völkerrechtlichen Normen deren Wirklichkeitsnähe. 225 In diesem Spannungsfeld ist nach dem Grundsatz der "Effektivität" dem Völkerrecht soviel Wirksamkeit zu verschaffen wie möglich. 226 In 2\6

Siehe dazu bereits oben unter I. 3.

Vgl. nur Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931). Siehe ferner BVerlGE 89, S. 155 (210). Vgl. dazu nur Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1502 ff) m.w.N. 2\8 Zum BegriffSchmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931). 2\9 Vgl. dazuSchmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931); Jarass, Grundfragen, S. 6 ff m.w.N. Vgl. auch Stotz, in: Aktuelle Entwicklungen in der EG, S. 21 (36) m.w.N. 220 Siehe insbesondere unten unter d). 22\ R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 63. 222 So Verdross/Simma, Völkerrecht, § 68. 223 Dazu R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 63. 114 R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 63; Heintschel v. Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 9. 115 Verdross/Simma, Völkerrecht, § 68. 217

226 Dazu R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 63 m.w.N. Ähnlich auch Heintschel v. Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 3 Rn. 13.

6 Püh.

82

2.

Teil:~dbegrüfe

Anbetracht der dieser Feststellung zugrunde liegenden Faktizitäten werden die Grenzen des Grundsatzes der "Effektivität" sichtbar; so kann die "Effektivität" völkerrechtlicher Normen nur in dem Rahmen zur Geltung kommen, den das Völkerrecht selbst abgesteckt hat. 227 Die Auslegungsregel des "effet utile" stellt lediglich eine Ableitung des Grundsatzes der "Effektivität" dar. Sie fand zwar keinen unmittelbaren Eingang in den Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (WVRKY28, hat sich aber völkergewohnheitsrechtlich verfestigt,229 Nach ihr ist ein Vertrag so auszulegen, daß sein Gestaltungsziel und sein Regelungszweck bestmöglich erreicht werden und der bezweckte Nutzeffekt ("effet utile") eintritt; es darf jedoch keine Auslegung gegen den Wortlaut und den Sinn eines Vertrages stattfinden,z30 Grenze der Auslegung nach dem "effet utile" einer Vertragsnorm ist der in ihr manifestierte Wille der Vertragsparteien, der insofern wesentlich gewichtiger ist als im innerstaatlichen Recht. Dieser weist die heute herrschende objektive Auslegung im Völkerrecht (Art. 31 WVRKY31 in ihre Schranken. 232 An dieser Stelle muß jedoch auch auf den völkerrechtlichen Grundsatz "in dubio mitius" hingewiesen werden; dieser besagt, daß bei der Auslegung insbesondere von Kompetenznormen internationaler Organisationen Einschränkungen der Souveränität der Mitgliedstaaten im Zweifel restriktiv auszulegen sind. 233 Der souveränitätsfreundliche Grundsatz "in dubio mitius" steht jedoch in keinem unüberwindbaren Gegensatz zur Auslegungsregel des "effet utile". Denn die einer internationalen Organisation beitretenden Mitgliedstaaten unterwerfen sich freiwillig dem Recht der betreffenVgl. dazu im einzelnen Verdross/Simma, Völkerrecht, § 70. Abgedruckt, in: Sartorius II Wlter Nr. 320. 229 Vgl. Gloria, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 11 Rn. 16. Nach R. Böhm, KompetenzauslegWlg, S. 67 bzw. S. 69, Verdross/Simma, Völkerrecht, § 780, Wld Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 350, entspricht die auf Ulpian ("actus est interpretandus potius ut valeat quam ut pereat") zwiickgehende "ut magis"-Maxime ("ut res magis valeat quam pereat") der AuslegWlgsregel des "effet utile". Die AuslegWlg von Normen "auf Effektivität" fmdet sich im übrigen auch im Staatsrecht. Vgl. dazu nur Leisner, S. 11 f m.w.N. Vgl. ferner zum Kriterium der "FWlktionsfiihigkeit" als Richtschnur verfassWlgsrechtlicher AuslegWlg Lerche, BayVBI. 1991, S. 517 f[ 230 Vgl. Gloria, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 11 Rn. 16 m.w.N. Vgl. ferner R. Böhm, KompetenzauslegWlg, S. 69 bzw. S. 71 m.w.N.; Verdross/Simma, Völkerrecht, § 780. 231 Vgl. nur Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 249; Oppermann, Europarecht, Rn. 577. 232 Vgl. zur BedeutWlg des Willens der Vertragsparteien fiir die AuslegWlg Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 351. 233 Vgl. dazu Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 342; von Danwitz, JZ 1994, S. 335 (339) m.w.N. 227

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C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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den Organisation und wollen deren Vertragswerk als Ganzes verwirklichen. 234 Sie willigen somit schließlich auch in die notwendigen Souveränitätsbeschränkungen ein. 235

c) Die Ausprägung des Grundsatzes des "effet utile" im Gemeinschaftsrecht aufder Grundlage der Rechtsprechung des EuGH aa) Die Grundlagen der Auslegungsmaxime des "effet utile" in der Rechtsprechung des EuGH Die Auslegungsmaxime236 des "effet utile" bewirkt nach der Rechtsprechung des EuGH im Gemeinschaftsrecht, daß die Vertragskompetenzen im EGV so auszulegen sind, daß die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften sich "ergiebig" und mit "größter Nutzwirkung" entfalten, damit die Befugnisse der Gemeinschaft voll ausgeschöpft werden können. 237 Anders gewendet bedeutet dies, daß diejenige Auslegung vorzuziehen ist, welche die Verwirklichung der Vertragsziele am besten fördert. 238 Über die ursprüngliche Bedeutung der völkerrechtlichen Auslegungsregel des "effet utile" geht ihre Anwendung im Gemeinschaftsrecht weit hinaus, weil sie nicht nur wie im Völkerrecht bemüht ist, zu vermeiden, daß eine Norm jeglichen Sinn oder jegliche Wirksamkeit verliert, sondern sogar anstrebt, einer Vertragsnorm die Fülle ihrer Wirkungen zu geben. 239 Die Auslegung unter Beachtung des "effet utile" bemüht sich dabei um die Benennung von objektiven Gesichtspunkten, die es ermöglichen, einer Norm des Gemeinschaftsrechts die vom Normgeber objektiv "gewollte" Wirksamkeit zu verleihen?40 Eine solche, am Nutzen orientierte Auslegung kann sich im 234 So auch Seidl-HohenveldernILoibl, Das Recht der Internationalen Organisationen, Rn. 1609. 235 Vgl. auch VerdrosslSimma, Völkerrecht, § 780 m.w.N. 236 Vgl. zum BegriffOppermann, Europarecht, Rn. 439. 237 Ständige Rechtsprechung seit EuGH, Urteil vom 15. Juli 1960, Rs. 20/59 (Italien!Hohe Behörde), Slg. 1960, S. 681 (708 ff). Vgl. dazu Oppermann, Europarecht, Rn. 441 bzw. Rn. 583. Siehe aber auch schon EuGH, Urteil vom 29. November 1956, Rs. 8/55 (Federation Charbonniere de Belgique!Hohe Behörde), Slg. 1955/56, S. 197 (312 ff). Vgl. R. Böhm, Kompetenzauslegtmg, S. 84; Meyer, JURA 1994, S. 455 (457) jeweils m.w.N. 238 R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 84 m.w.N. 239 Zutreffend Lecourt, S. 240; R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 85. Vgl. auch Bredimas, S. 77 f 240 Vgl. auch Streil, in: BBPS, Die EU, S. 247. Für die Auslegung des Primärrechts

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2. Teil: Chundbegrdfe

Gemeinschaftsrecht nur an den Vertragszielen und an der Wahrung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsorgane orientieren,z41 Daher besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Grundsatz des "effet utile" und der teleologischen Auslegungsmethode?42 Dem "effet utile" kommt nach der Rechtsprechung des EuGH offensichtlich die Bedeutung zu, der teleologischen Auslegungsmethode den Vorrang gegenüber den übrigen Auslegungsmethoden zu geben. 243 Es bestehen jedoch ebenfalls Bezugspunkte zur systematischen Auslegungsmethode244.245 So hat die Auslegung einer Vertragsnorm die Normensystematik des Vertragswerkes, in das sie eingebunden ist, zu berücksichtigen, um die "praktische Wirksamkeit" einer Norm zu entfalten und um darüber hinaus dem Geist des Vertrages in einen angemessenen Weise gerecht zu werden. 246 Im übrigen sollen schlichtweg Widersprüche zwischen einzelnen Artikeln des Vertrages vermieden werden. 247 Insofern ist der Grundsatz des "effet utile" unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts als spielt der Wille des Vertragsgebers allerdings keine große Rolle. Da die Materialien zu den Römischen Verträgen bewußt nicht veröffentlicht wurden, lassen sich kaum FeststellWlgen zu den ursprünglichen Motiven der Vertragsparteien treffen. Vgl. dazu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 4 EGV Rn. 53 m.w.N. AA \Dld die "objektiv-teleologische" Auslegwtgsmethode des EuGH kritisierend Hillgruber, in: Auf dem Weg zur europäischen Staatlichkeit, S. 31 (39). 241 Vgl. R. Böhm, Kompetenzauslegwtg, S. 85; Schwarze, EuR 1983, S. 1 (31); Pernice, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 27; Meyer, JURA 1994, S. 455 (457). 242 Vgl. Pernice, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 27; Meyer, JURA 1994, S. 455 (457). Kahl, S. 219 m.w.N., sieht im Chundsatz des "effet utile" eine Ausprägwtg der teleologischen Auslegwtg. 243 Vgl. auch R. Böhm, Kompetenzauslegwtg, S. 84 m.w.N. Vgl. ferner Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1495) m.w.N. Nach Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 259, kommt der teleologischen Auslegwtgsmethode deshalb der Vorrang zu, weil die Vertragsschöpfer die Mittel des Vertrages so zweckrational festgelegt haben, daß die Vertragsziele automatisch erreicht werden. 244 Vgl. zur systematischen Auslegwtg Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (102 f) m.w.N.; Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 253 f; Oppermann, Europarecht, Rn. 581; Meyer, JURA 1994, S. 455 (456). 245 Nach Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 164 Rn. 15 m.w.N., greift der EuGH in der Regel auf die "systematisch-teleologische Auslegwtg" zutiick. So auch schon Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 820. 246 Vgl. dazu auch Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (104), der in den Ergebnissen der systematischen Auslegwtg gleichsam eine inhaltliche BeschränkWlg der teleologischen Auslegwtg sieht. Vgl. auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 4 EGV Rn. 56. Siehe schließlich die Nachweise bei Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1493). 247 Meyer, JURA 1994, S. 455 (456).

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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eine in besonderer Weise ausgeprägte Auslegungsregee48 anzusehen, nach der die teleologische Auslegungsmethode grundsätzlich vorrangig anzuwenden ist, wobei jedoch auch Aspekte der systematischen Auslegungsmethode zu berücksichtigen sind. Von der völkerrechtlichen Auslegungsregel des "effet utile" unterscheidet sie sich vor allen Dingen hinsichtlich der dynamischen Weite der mit ihr zu erzielenden Ergebnisse der Auslegung. 249

bb) Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten (1) Der Grundsatz der "imp/ied powers"

Abzugrenzen ist der Grundsatz des "effet utile" zunächst vom völkerrechtlichen Grundsatz der "implied powers't25o. Unter dem Grundsatz der "implied powers"251 versteht man eine Interpretationsregel, nach der, falls ein völkerrechtlicher Vertrag keine konkrete Regelung zu Lösung eines bestimmten Problems beinhaltet, aus dem Gesamtwerk des Vertrages eine Berechtigung zur Ausfüllung der entstandenen Regelungslücke abgeleitet werden darf, wenn die Erreichung des Vertragszwecks ansonsten nicht möglich wäre. 2S2 Eine solche Ausfüllung sei deshalb zulässig, weil die Vertragsparteien, hätten sie die Lücke bei Vertragsschluß erkannt, sie selbst ausgefüllt haben würden. Mit der Akzeptierung der Aufgaben und Zwecke einer internationalen Organisation haben die Parteien nämlich gleichzeitig auch die Mittel zur Aufgabenerfüllung bzw. Zweckerreichung akzeptiert; andernfalls würden sie sich eben in Widerspruch zu Ziel und Zweck eines Vertrages setzen. 2S3 Nach Nicolaysen spricht die Theorie von den "implied powers" deshalb nur eine Selbstverständlichkeit aus 254 Streng genommen handelt es sich bei dem Grundsatz der "implied powers" dogmatisch nicht mehr um einen Fall der Rechtsauslegung, sondern um 248 Vgl. auch Blanke, ZG 1995, S. 193 (220), der von einer "Interpretationsdirektive" spricht. 249 Vgl. auch Schwarze, EuR 1983, S. 1 (32) m.w.N. 250 Grundlegend Nicolaysen, EuR 1966, S. 129 ff. 251 Oppermann, Europarecht, Rn. 439: der "Gedanke inhärenter Zuständigkeiten" der Gemeinschaft. Mit Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1502), ist weiter zu unterscheiden zwischen den inhärenten Zuständigkeiten der Gemeinschaft (Verbandskompetenz) und denen der Organe (Organkompetenz). 252 Vgl. dazu auch Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6 Rn. 9; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 354; Kraußer, S. 59; Grabitz/Hilf, in: dieselben, Kommentar zur EU, EL 5 (September 1992), Art. 189 EWGV Rn. 6. 251 Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6 Rn. 10. 254 Nicolaysen, EuR 1966, S. 129 (134 bzw. 136) m.w.N.

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2. Teil: Chundbegrdfe

eine Rechtslückenfüllung und damit um einen Fall der richterlichen Rechtsfortbildung. Eine Auslegung ist nämlich aus dem Grunde nicht möglich, weil sich in einem so gelagerten Fall überhaupt kein konkreter Bezugspunkt im Text finden läßt. 255 Auch der EuGH hat häufig auf den Grundsatz der "implied powers" zurückgegriffen. 256 In der Literatur ist jedoch umstritten, ob er neben der Generalermächtigung des Art. 235 EGV überhaupt noch Anwendung finden kann oder ob er nicht durch diese sogar verdrängt wird. 257 Allerdings spricht bereits die Formulierung des Art. 235 EGV gegen einen Anwendungsausschluß des Grundsatzes der "implied powers". Geht nämlich Art. 235 EGV davon aus, daß die Gemeinschaft noch nicht über bestimmte Befugnisse verfügt, um ihre Ziele im Rahmen des Gemeinsamen Marktes zu erreichen, so verlangt der Grundsatz der "implied powers" gerade das Bestehen einer ausdrücklichen Zuständigkeitsnorm, die für die Ableitung stillschweigender Zuständigkeiten "ausgelegt" wird. 258 Gerade aus der zwingenden Anknüpfung an eine bestehende Zuständigkeit der Gemeinschaft ist eine zu weite Kompetenzzuweisung an die Gemeinschaft durch die Rechtsprechung des EuGH zu den "implied powers" auch nicht zu befürchten. 259

255 So auch Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (105). Nach Ansicht von Nicolaysen, EuR 1966, S. 129 (131) m.w.N., stellt die Lehre von den "implied powers" im Ergebnis jedoch nichts anderes dar als "die Anwend\Dlg von Auslegungsmethoden auf ausdtiickliches Recht". 256 Siehe EuGH, Urteil vom 29. November 1956, Rs. 8/55 (Federation Charbonniere de Belgique/Hohe Behörde), Slg. 1955/56, S. 197 (312); EuGH, Urteil vom 15. Juli 1960, Rs. 20/59 (ItalienlHohe Behörde), Slg. 1960, S. 681 (708); EuGH, Urteil vom 31. März 1971, Rs. 22170 (KommissionlRat), Slg. 1971, S. 263 (274 ff) u.v.m. Siehe aber auch die weiteren Nachweise bei Schwarze, Europäisches Verwalt\Dlgsrecht, Bd. I, S. 46 f; Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 6 Rn. 11; Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1502 ff). 257 Vgl. dazu Nicolaysen, EuR 1966, S. 129 (130 ff) m.w.N.; Grabitz, in: Grabitz/ Hilf, Kommentar zur EU, EL 5 (September 1992), Art. 189 EWGV Rn. 7. Vgl. zum Verhältnis des Art. 235 EGV \Dld dem Chundsatz der "implied powers" aber auch Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1503). 258 Vgl. Grabitz, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 5 (September 1992), Art. 189 EWGV Rn. 7. Vgl. ferner Nicolaysen, EuR 1966, S. 129 (132 f bzw. 135 f); H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 436; Klösters, S. 13 f jeweils m.w.N. Vgl. aber auch Oppermann, Europarecht, Rn. 440 m.w.N. 259 Konsequent Grabitz, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 5 (September 1992), Art. 189 EWGV Rn. 8 f m.w.N. Vgl. ferner Kraußer, S. 60. So im Ergebnis offensichtlich auch Oppermann, Europarecht, Rn. 443.

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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Festzuhalten ist, daß sowohl die Anwendung des Grundsatzes des "effet utile" als auch die der "implied powers" ihrer Natur nach in einem engen Zusammenhang mit der teleologischen Auslegung stehen?60 Beiden ist gemeinsam, daß ihre Anwendung aufgrund bereits bestehender Kompetenzen261 nur die bestmögliche Erreichung der Ziele und Zwecke des EGV anstrebt. 262 Insgesamt spielt der Grundsatz der "implied powers" aber eine nur untergeordnete Bedeutung. 263 Der Grund liegt nicht zuletzt im häufigen Gebrauch des Art. 235 EGV zur Schließung der im Vertrag erkannten Lücken?64

(2) Die dynamische Auslegung Die sogenannte dynamische Auslegung kann als Auslegung unter stetiger Neubetrachtung der Vertragsziele verbunden mit der ständigen Berücksichtigung des sukzessiv fortschreitenden Integrationsprozesses definiert werden?65 Daß die Rechtsprechung des EuGH sich den neuen Entwicklungen im Bereich der Gemeinschaft nicht verschließen darf, dürfte unbestritten sein. 266 Die Finalstruktur des Gemeinschaftsrechts und der stetig voranschreitende Integrations260 Vgl. dazu nur R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 194 ff m.w.N. Nach R. Böhm, a.a.O., S. 194, ist ein Unterschied lediglich in der Herkunft zu sehen; während der Effektivitätsgnmdsatz dem Völkerrecht entstammt, so sei die EntstehlDlg der Lehre von den "implied powers" im VerfasslDlgsrecht der USA anzusiedeln. Auch Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (107), erkennt zwischen beiden Figuren einen engen Zusammenhang. 0Jr permann, Europarecht, Rn. 442, sieht im "effet utile"-Gedankenjedoch eine instrumentale Auslegungsmaxime, mittels deren die "implied powers" zu maximaler AuswirklDlg gebracht werden. 261 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die hier ansetzende Kritik von Borchardt, in: GS fiir Grabitz, S. 29 (32 f), an der EntscheidlDlg des BVerfG vom 12. Oktober 1993 zum EUV. 262 Vgl. R. Böhm, Kompetenzauslegung, S. 194. 263 So schon H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 437. Von großer Bedeut\Dlg waren jedoch die EntscheidlDlgen des EuGH, wonach der Gemeinschaft quasi als Kehrseite bestehender Binnenkompetenzen auch entsprechende Außenkompetenzen zustehen. Siehe nur EuGH, Urteil vom 31. März 1971, Rs. 22/70 (KommissionlRat), Slg. 1971, S. 263 (274 ff); EuGH, Urteil vom 14. Juli 1976, verb. Rs. 3, 4 u. 6/76 (Kramer u.a.), Slg. 1976, S. 1279 (Rn. 15 ff). Vgl. dazu Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1502 f). Vgl. auch Hillgruber, in: Auf dem Weg zur europäischen Staatlichkeit, S. 31 (32). 264 Oppermann, Europarecht, Rn. 440; Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1503) m.w.N. 265 Vgl. dazu auch Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (106) m.w.N.; H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 131; Bleckmann, NJW 1982, S. 1171 (l180 f); Schwarze, EuR 1983, S. 1 (32f). 266 Meyer, JURA 1994, S. 455 (457) m.w.N.

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2. Teil:Cßundbegrilfe

prozeß durch das Recht sind ein Strukturprinzip der Gemeinschaft. 267 Insofern beinhaltet auch der Rechtsprechungsauftrag an den EuGH ein "dynamisches" Element. 268 Fraglich ist aber, ob es nach dieser Feststellung dem EuGH erlaubt ist, im Rahmen einer "dynamischen" Auslegungsmethode die Einzelbestimmungen des Vertrages stets weiter auszulegen und so die Souveränität der Mitgliedstaaten zunehmend einzuschränken. 269 Es ist dabei zu beachten, daß der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bisher entweder durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Vertragsänderungen oder durch die Gemeinschaft selbst anhand des Erlasses von entsprechendem Sekundärrecht auf der Grundlage der Art. 100, 100a und 235 EGV erweitert wurde und wird. Die Rechtsprechung des EuGH auf der Grundlage des "effet utile" oder der "implied powers" hat hier lediglich einen ergänzenden Charakter, zumal sie ihren Ausgangspunkt in bereits bestehenden Gemeinschaftskompetenzen hat. Der EuGH hat im übrigen die durch das "Prinzip der begrenzten Ermächtigung"270 zugunsten der rnitgliedstaatlichen Souveränität aufgestellten Grenzen bei seiner Rechtsprechung zu beachten271 , ganz zu schweigen von den Grenzen jeder Auslegung272 . Bei einer abschließenden Bewertung des Anwendungsbereiches der dynamischen Auslegung hat man folgendes zu berücksichtigen. Zunächst ist festzustellen, daß dem Gemeinschaftsrecht ein dynamisches Element als Strukturprinzip eigen ist und der EuGH dem aus diesem Prinzip resultierenden Fortschritt der Integration im Rahmen seiner Rechtsprechung ohnehin Rechnung zu tragen hat. Ferner stellt der EuGH unter Verwendung des Grundsatzes des "effet utile" sicher, daß die "praktische Wirksamkeit" von gemeinschaftsrechtlichen Normen zur Geltung kommt. Die Bestimmung der "praktischen Wirk267 Siehe insbesondere den Wortlaut von Art. A EUV sowie Art. 2 EGV Siehe aber auch den Wortlaut der Präambel zum EGV ("im festen Willen, die Cßundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen"). Siehe ferner zum Beispiel die Auflistung "dynamischer Elemente des EWG-Vertrages" bei Kraußer, S. 35 1f. Vgl. zur Finalstruktur des Gemeinschaftsrechts Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931) m.w.N. H. P. Ipsen, in: Der Europäische Gerichtshof, S. 29 (50 f), bezeichnet insoweit sehr plastisch den EGV als "WandelverfasslUlg". Vgl. schon ders., EuR 1987, S. 195 (201 f). Vgl. dazu auch Stein, in: FS für Universität Heidelberg, S. 619 (619 f); Oppermann, Europarecht, Rn. 582. 268 Stein, in: FS für Universität Heidelberg, S. 619 (621). Vgl. auch Pernice, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 9. 269 Vgl. dazu auch Meyer, JURA 1994, S. 455 (457). 270 Siehe dazu oben lUlter I. 3. 271 Vgl. dazu Meyer, JURA 1994, S. 455 (457). m Das sind Wortlaut, Ziele lUld Geist eines Vertrages.

c. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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samkeit" einer Norm erfährt dabei im Ergebnis aber nur durch die Berücksichtigung des aktuellen Standes des Integrationsprozesses einen wirklichen Sinn. Ein eigenständiger Anwendungsbereich für eine dynamische Auslegung neben der Auslegungsmaxime des "effet utile" muß somit bestritten werden, weil letztere unter den oben aufgezeichneten Umständen selbst über ein dynamisches Element verfügt.273 Die dynamische A~slegung stellt insofern lediglich eine Beschreibung der anband der Auslegung; nach dem Grundsatz des "effet utile" erreichten Ergebnisse dar.

cc) Kritische Würdigung des Grundsatzes des "effet utile" (1) Zur abschließenden Definition des Grundsatzes des "effet

utile" und seiner Bedeutung für die Gemeinschaft

Der Grundsatz des "effet utile" soll nun, nachdem er noch einmal abschließend definiert worden ist, einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Wie bereits aufgezeigt wurde, handelte es sich bei ihm um eine teleologische Auslegungsmaxime274 , die am ehesten den klassischen teleologischen und systematischen Auslegungsmethoden zugeordnet werden kann, ohne daß es sich beim "effet utile" selbst um eine Auslegungsmethode handelt. 27S Nach dieser Maxime sollen die Vertragsziele in idealer Weise verwirklicht werden, was im Regelfall nur unter Heranziehung der teleologischen und systematischen Auslegungsmethode gelingen kann. An der Bedeutung der Auslegung nach dem Grundsatz des "effet utile" durch den EuGH für das Fortkommen der Gemeinschaft wird im allgemeinen keine Kritik geübt. Das gilt insbesondere für die Rechtsinstitute, die der EuGH anhand des Grundsatzes des "effet utile" entwickelt hat. Bei diesen handelt es sich unter anderem um den "Vorrang des Gemeinschaftsrechts"276, um die "unmittelbare Wirkung" des primären Gemeinschaftsrechts277 und um die "unmit273 Vgl. Kahl, S. 219 m.w.N. So wohl auch Meyer, JURA 1994, S. 455 (457). Kraußer, S. 44, setzt "dynamische" Wld "teleologische" Auslegoogsmethode gleich. Vgl. aber auch Stein, in: FS für Universität Heidelberg, S. 619 (621) m.w.N.; R. Böhm, Kompetenzauslegoog, S. 103. 274 Vgl. auch Streil, in: BBPS, Die EU, S. 247. 275 Auch von Danwitz, JZ 1994, S. 335 (338), bezeichnet den "effet utile" lediglich als allgemeinen Auslegoogsgrundsatz. 276 Siehe dazu nur die Nachweise bei Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1498 f). Siehe dazu aber im einzelnen Wlten im 4. Teil Wlter C. ll. 3. 277 Siehe dazu nur die Nachweise bei Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1499 f).

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2.

Teil:~dbegndfe

telbare Wirkung" von Richtlinien und staatengerichteten Entscheidungen278 ?79 Auch zu einer vermeintlichen Ausweitung von Gemeinschaftskompetenzen im Hinblick auf die Norm des Art. 128 EWGV (a.F.) hat der EuGH auf den Grundsatz des "effet utile" zurückgegriffen. 280 Die Gemeinschaft erließ zahlreiche bildungspolitische Förderprogramme auf der Grundlage des Art. 128 EWGV (a.F.), während er solche zuvor sowohl auf Art. 128 EWGV (a.F.) als auch Art. 235 EWGV gestützt hatte. 281 Da jedoch in diesen Fällen grundsätzlich unbestritten war, daß die Gemeinschaft in jedem Fall über die entsprechende Kompetenz zur Verabschiedung solcher Programme verfugf82, soll auf die dahingehende Kritik am EuGH nicht eingegangen werden.

(2) Der Vorwurf der fehlenden Berücksichtigung des Willens der Mitgliedstaaten

Vorwürfe gegen die Rechtsprechung des EuGH werden an der konkreten Anwendung des Grundsatz des "effet utile" geübt. So wird vorgebracht, daß der Wille der Mitgliedstaaten bei der Rechtsfortbildung283 des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH nicht in angemessener Weise Berücksichtigung findet ("in dubio mitius"). Es wird insoweit darauf verwiesen, daß die Befugnis des Gerichtshofs zur Rechtsfortbildung durch die Kompetenz des Rates aus Art. 235 EGV und damit durch den Vertrag selbst beschränkt werde. 284 Zunächst ist aber festzuhalten, daß die ursprünglichen Motive der Vertragsgeber bewußt Siehe dazu aber im einzelnen die umfangreichen Ausfiihnmgen lUlten im 4. Teil lUlter C. 11. 2. b). 278 Siehe dazu nur die Nachweise bei Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1496 f). Siehe dazu aber im einzelnen lUlten im 4. Teil lUlter C. 11. 2. c). 279 Siehe aber auch die systematische DarstelllUlg dieser lUld weiterer Fallgruppen bei Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1496 ff). 280 Siehe nur EuGH, Urteil vom 30. Mai 1989, Rs. 242/87 (KommissionlRat), Slg. 1989, S. 1425 (Rn. 11). Siehe dazu die DarstelllUlg der einschlägigen EntscheidlUlgen des EuGH bei Classen, EuR 1990, S. 10 ff. m.w.N. Vgl. auch Schoch, JZ 1995, S. 109 (113 f) m.w.N. 281 Vgl. dazu Classen, EuR 1990, S. 10 (10 f) m.w.N. 282 So auch Stotz, in: Aktuelle EntwickllUlgen in der EG, S. 21 (38 f). Kritisch Classen, EuR 1990, S. 10 (18 f), der jedoch zugleich einräumt, daß die Gemeinschaft auf Art. 235 EWGV hätte zurückgreifen können. Vgl. aber die ablehnende HaltWlg von Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1504 f). m.w.N. 283 Vgl. zum Begndfnur Dänzer-Vanotti, RIW 1992, S. 733 (734) m.w.N. Vgl. auch die grWldlegenden Ausfiihnmgen über die RechtsfortbildlUlg im Gemeinschaftsrecht bei von Dietze, S. 145 ff. m.w.N. 284 Vgl. dazu von Danwitz, JZ 1994, S. 335 (341) m.w.N.

c. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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nicht bekanntgemacht wurden. 285 Dem EuGH verbleibt insofern nur die Möglichkeit, anband des Textes, der Systematik des Gemeinschaftsrechts und der Ziele der Gemeinschaft einen "objektivierten" Willen der Vertragsparteien zu ermitteln. Diese Möglichkeiten nimmt der EuGH sehr wohl wahr. 286 Problematisch ist hingegen eine weniger unmittelbar juristische Fragestellung. Für die Mitgliedstaaten überraschende und unerwartete und mit Nachteilen für sie verbundene Auslegungsergebnisse des EuGH bergen die rechtssoziologische Gefahr, daß diese sich brüskiert fühlen und deshalb dem EuGH und damit auch der Gemeinschaftsrechtsordnung den Gehorsam verweigern könnten. 287 Der die Gemeinschaft "prädominierend konstituierende politische Wille der Mitgliedstaaten" ist nämlich nicht einklagbar. 288 Schließlich werden die rechtsfortbildenden Entscheidungen des EuGH auch erst mit der Akzeptierung durch die Mitgliedstaaten "gültiger" Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. 289 Darüber hinaus sollte beachtet werden, daß sich durch einen die Gemeinschaft dominant vorantreibenden EuGH die Gefahr von nicht mehr mit dem Vertrag zu vereinbarenden Verschiebungen im institutionellen Gefüge der Gemeinschaft ergeben kann. 290 Außerdem nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß dem EuGH immer häufiger die heiklen, aber notwendigen Entscheidungen überlassen werden?91 Schließlich kann es im Extremfall dazu kommen, daß der Rat keine Norm mehr verabschiedet, gegenüber der die Mitgliedstaaten Vorbehalte haben, weil sie befürchten müssen, gegenüber dem EuGH jeden Entschei-

Siehe auch oben unter aa). Siehe oben unter aa). 287 Erst jüngst hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum EUV eindringlich davor gewarnt, daß seine Auslegung keiner Vertragserweiterung gleichkommen dilife, denn durch eine solche Auslegung werde keine Bindungswirkung für die Bundesrepublik Deutschland entfaltet. Siehe BVerfGE 89, S. 155 (210). Vgl. aber auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 ff.; ders., in: FS für Universität Heidelberg, S. 619 (621 bzw. 639) m.w.N. 288 Ähnlich auch Kaiser, EuR 1966, S. 4 (19). 289 Von Danwitz, JZ 1994, S. 335 (340) m.w.N. Vgl. auch Everling, EuR 1994, S. 127 (130 f) m.w.N. 290 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 497. So auch von Danwitz, JZ 1994, S. 335 (340), der daraufhinweist, daß sich die Gnmdlagen und Grenzen der dem EuGH zustehenden Befugnisse zur Rechtsfortbildung nur im Rahmen des institutionellen Systems der Gemeinschaften bestimmen lassen. Vgl. auch die Begründung von Dänzer-Vanotti, RIW 1992, S. 733 (735 f) m.w.N., weshalb Recht - soweit irgend möglich - vom Gemeinschaftsnormgeber gesetzt werden muß. 291 Vgl. zu den Gefahren einer solchen Entwicklung Pernice, in: GrabitziHi/f, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 41. 285 286

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2.

Teil:~dbegrdfe

dungsspielraum ZU verlieren. Gerade dieser Risiken sollte sich der EuGH bei der Rechtsfortbildung bewußt werden.

(3) Das Begründungsdejizit in der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH

Ein weiterer Kritikpunkt an der im Zusammenhang mit der Anwendung des Grundsatzes des "effet utile" stehenden Rechtsprechung des EuGH ist das häufig bemängelte Begründungsdefizit seiner Entscheidungen. 292 Gerade die maßgeblichen Entscheidungen des EuGH würden zum Teil lediglich unter Berufung auf den Grundsatz des "effet utile" gerechtfertigt. Gerade die Urteile des EuGH müßten juristisch gut vertretbar sein, um eine nachträgliche Konsensfahigkeit des Urteil herzustellen. 293 Dazu aber seien eben ausführliche Urteilsbegründungen notwendig. Andernfalls bestände die Gefahr, daß sich die Auslegung des EuGH anband des Grundsatzes vom "effet utile" von jeder Schranke der Auslegung völlig ablöst und deshalb die Akzeptanz seiner Urteile beeinträchtigt wird. 294 Im Hinblick auf solche Vorwürfe ist zunächst festzustellen, daß ihnen möglicherweise die Erwartung der Übernahme der Begründungspraxis deutscher Gerichte295 durch den EuGH zugrunde liegt. In jedem Fall halten sie einer differenzierten Betrachtung nicht immer stand?96 Insbesondere die Begründungen zum "Vorrang des Gemeinschaftsrechts" bzw. zur "unmittelbaren Wirkung von Bestimmungen des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts" wissen, zumal in angemessenem Umfang abgefaßt, durchaus zu überzeugen. 297 Dies verdeutlicht, daß die Kritiker der Rechtsprechung des EuGH weniger auf die Be292 Vgl. nur von Danwitz, JZ 1994, S. 335 (338) m.w.N.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 106 f; Streinz, Europarecht, Rn. 501; ders., in: FS fiir Everling, S. 1491 (1507 f) m.w.N. Siehe ferner die Nachweise bei Everling, EuR 1994, S. 127 (127 ff). 293 Vgl. Bleckmann, in: GS fiir Constantinesco, S. 61 (81). 294 Von Danwitz, JZ 1994, S. 335 (339), spricht insofern von den Gefahren, die dadurch eintreten, daß der "effet utile" einer BestimmWlg zu Lasten anderer verabsolutiert wird. Von Danwitz, a.a.O., S. 340, zeigt im übrigen auf, in welchen Fällen mitgliedstaatliche VerfassWlgsgerichte dem EuGH (zumindest vorübergehend) die Gefolgschaft verweigert haben. Vgl. zur BedeutWlg der Akzeptanz fiir die BefolgWlg des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten nur Ukrow, S. 226 ff m.w.N. Siehe dazu aber auch Wlten im 3. Teil Wlter B. m. 3. 295 Vgl. zur Urteilspraxis deutscher Gerichte nur Everling, EuR 1994, S. 127 (134 f) m.w.N. 296 So auch Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1508) m.w.N. 297 So Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1508). Vgl. aber auch die allgemeinen Ausfiihnmgen bei Everling, EuR 1994, S. 127 (130) m.w.N.

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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gründung seiner Entscheidungen abstellen, sondern vielmehr seine Berechtigung zur Rechtsfortbildung selbst in Zweifel ziehen?98 An dieser kann aber nicht zuletzt auch angesichts der weiten und langjährigen grundsätzlichen Zustimmung zur diesbezüglichen Rechtsprechung des EuGH kein Zweifel bestehen. 299 Nicht übersehen werden darfferner, daß der EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung französischen Vorbildern folge OO , weshalb ihm die Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nicht geläufig ist. 301 Der EuGH könnte jedoch durch ausführlichere Begründungen deutlicher machen, wann er lediglich auslegt bzw. wann er im Rahmen der Rechtsfortbildung Rechtslücken schließt. 302 Im zweiten Fall dürfte der Begründungsaufwand wesentlich höher sein. Gerade auf diese Art und Weise würde sich der EuGH einer in der Regel wirksamen Selbstkontrolle unterziehen und die Nachvollziehbarkeit seiner Entscheidungen erhöhen. 303 Schließlich könnte dadurch das häufig vom EuGH als Berechtigung für seine Rechtsfortbildung vorgebrachte Argument, er dürfe nicht das Recht verweigern304, nicht mehr in Frage gestellt werden. Dies ist 298 Vgl. auch Schlemmer-SchultelVkrow, EuR 1992, S. 82 (90 f) m.w.N. Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1508 f). 299 Vgl. allgemein Borchardt, in: GS fiir Grabitz, S. 29 (30) m.w.N. Siehe ferner die Nachweise bei Nettesheim, in: GrabitzlHilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 4 EGV Rn. 46; Ukrow, Richterliche RechtsfortbildlUlg durch den EuGH, S. 96 ff. Vgl. aber auch die Ausfiihnmgen bei Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1508 f)m.w.N. 300 Vgl. zu den Gründen Everling, EuR 1994, S. 127 (132). 301 Vgl. dazu Dänzer-Vanotti, RlW 1992, S. 733 (734); Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 105 jeweils m.w.N. Vgl. aber auch Borchardt, in: GS fiir Grabitz, S. 29 (37), der außerdem zwischen Rechtsschöpfimg lUld RechtsfortbildlUlg durch den EuGH lUlterscheidet. 302 Die diesbezüglichen rechtsdogmatischen Undeutlichkeiten in den Urteilen des EuGH kritisiert auch Stein, in: FS fiir Universität Heidelberg, S. 619 (633). Vgl. zur BedeutlUlg dieser UnterscheidlUlg auch Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 105. 303 Vgl. dazu Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 107. In manchen Urteilen hat der EuGH selbst erkannt, daß zwar Anlaß zu einer richterrechtlichen RechtsfortbildlUlg bestand, daß er hiervon aber lUlter Hinweis auf den "derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts" Abstand nahm. Siehe nur EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 45/76 (Comet BVlProduktshap voor Siergewassen), Slg. 1976, S. 2043 (2053). Siehe dazu die Nachweise bei Stein, in: FS fiir Universität Heidelberg, S. 619 (634). Ukrow, S. 175, macht sogar die Zulässigkeit der RechtsfortbildlUlg durch den EuGH von der ErmöglichlUlg einer Richtigkeitskontrolle anhand grundsätzlich rational überprüfbarer Kriterien abhängig. Vgl. auch Dänzer-Vanotti, RlW 1992, S. 733 (734 bzw. 737 f). 304 Vgl. zum gemeinschaftlichen "Rechtsverweigertmgsverbot" Ukrow, S. 128 ff. m.w.N. Dänzer-Vanotti, RlW 1992, S. 733 (736) spricht insoweit von einer "GesetzgeblUlgs-Notkompetenz" .

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2. Teil: Grrundbegrüfe

deshalb so bedeutend, weil gerade Vorlageverfahren nach Art. 177 EGV, die regelmäßig einen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch eines Gemeinschaftsbürgers zum Gegenstand hatten, dem EuGH bisher den häufigsten Anlaß zur Rechtsfortbildung boten. 305

(4) Zusammenfassung Die Rechtsprechung des EuGH anband der Auslegungsmaxime des "effet utile" ist insgesamt zu begrüßen. Der EuGH hat gerade aufgrund der Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung auch solche objektiven Rechtszwecke, die in die Gemeinschaftsrechtsordnung Eingang - und sei es nur im Wege der Auslegung - gefunden haben, zu berücksichtigen. 306 Insoweit ist seine Rechtsprechung zur "vollen Wirkung des Gemeinschaftsrechts"307, die jüngst auch zur Begründung eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs bei Verstößen der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht geführt hae 08 , konsequent. 309 Nur zu häufig wird übersehen, daß der EuGH der "Rechtsgleichheit" in der Gemeinschaft aus guten Gründen wie zum Beispiel der Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen hohes Gewicht beimißt. 310 Dennoch darf das rechtssoziologische Problem der Akzeptierung von Urteilen durch die Mitgliedstaaten nicht übersehen werden. 311 Ausführliche Urteilsbegründungen würden einen Weg darstellen, wie das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtsprechung des EuGH gestärkt werden könnte. Schließlich 305 Vgl. dazu Stein, in: FS fiir Universität Heidelberg, S. 619 (626 f, 630 bzw. 635). Vgl. aber auch Larenz, Methodenlehre, S. 401 f, zum Umgang des Richters mit sog. "RechtsvelWeigerungslücken". Kritisch zur Rechtsfortbildung in den Fällen der Vorlage nach Art. 111 EGV Dänzer-Vanotti, RlW 1992, S. 133 (136). 306 Vgl. Detterbeck, VA 1994, S. 159 (183) m.w.N. Siehe auch BVerfGE 15, S. 223 (240 ff). 307 Vgl. dazu an dieser Stelle nur Schlemmer-SchultelUkrow, EuR 1992, S. 82 (84) m.w.N. 308 Siehe EuGH, Urteil vom 19. November 1991, verb. Rs. C-6 u. 9/90 (Francovich u.a./ltalien), Slg. 1991 I, S. 5351 ff Jetzt EuGH, Urteil vom 5. März 1996, verb. Rs. C-46 u. 48/93 (Brasserie du pecheur SAIDeutschland bzw. The Queen/Secretary of Sta- . te for Transport, ex parte: Factortame Ltd u.a.), abgedruckt, in: Tätigkeiten des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Nr. 1/1996, S. 3 ff 309 Vgl. auch Schwarze, in: FS fiir Bömer, S. 389 (400); Borchardt, in: GS fiir Grabitz, S. 29 (36); Nettesheim, in: GS fiir Grabitz, S. 441 (451)jeweils m.w.N. 310 So auch Nettesheim, in: GS fiir Grabitz, S. 441 (450 f). 311 Vgl. dazu auch Ukrow, S. 116; Borchardt, in: GS fiir Grabitz, S. 29 (39 f).

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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wird die Gemeinschaft nur durch die Autorität des Rechts zusammengehalten. Diese Autorität aber kann der EuGH durch die Überzeugungskraft seiner Urteile unter Zuhilfenahme von ausführlichen Begründungen sichern. 312 Gleichsam als die Autorität des Rechts sichernde Maßnahmen könnte der EuGH die völkerrechtlichen Grenzen der "effet utile" - Rechtsprechung zugunsten der Mitgliedstaaten, wie es in der einen oder anderen Entscheidung bereits geschehen ist313 , häufiger betonen. Gerade in der letzten Zeit scheint der EuGH ohnehin in einigen Bereichen seine auf den "effet utile" gestützte Rechtsprechung zurückzunehmen. 314 Schließlich könnte der EuGH sich häufiger des Instruments der Appellentscheidung bedienen. 315 Der EuGH könnte, fühlt er sich zur Rechtsfortbildung berufen, häufiger Verweise auf das Recht der Mitgliedstaaten machen. 316 Ohnehin gilt für einen Marktteilnehmer grundsätzlich das Recht des jeweiligen Mitgliedstaates, soweit dem Gemeinschaftsrecht keine einschlägige Regelung zu entnehmen ist. 317 Schließlich ist auch die Struktur der Gemeinschaft eine "gemischte".318 So bestehen mitgliedstaatliche Organe (Rat) neben integrierten (Kommission); der Rechtsschutz wird gemeinsam von den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH wahrgenommen; der Vollzug von Gemeinschaftsrecht obliegt, wie bereits ausgeführt, sogar überwiegend den Mitgliedstaaten. 319

312 Vgl. Everling, EuR 1994, S. 127 (143). Vgl. auch Nettesheim, in: GS fiir Grabitz, S. 447 (466 f). 313 Siehe nur EuGH, Urteil vom 26. April 1972, Rs. 92/11 (Interfood GmbHIHauptzollamt Hamburg-Ericus, Slg. 1972, S. 231 (Rn. 5); EuGH, Urteil vom 15. Juni 1978, Rs. 149/17 (Defrenne/Societe anonyme beige de navigation aerienne Sabena), Sig. 1978, S. 1365 (Rn. 19/23). 314 Dies gilt besonders fiir die Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln auf die mitgliedstaatliche Wirtschaftspolitik. Siehe dazu die Nachweise bei Blanke, ZG 1995, S. 193 (219 f). 315 So Stein, in: FS fiir Universität Heidelberg, S. 619 (632 bzw. 634). 316 Vgl. Stein, in: FS fiir Universität Heidelberg, S. 619 (635). 317 Vgl. dazu von Danwitz, JZ 1994, S. 335 (341). Siehe auch die Nachweise auf Ur-

teile des EuGH, in denen dieser darauf hinweist, daß es "beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts" Sache der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sei, die fraglichen Probleme zu lösen, bei Borchardt, in: GS fiir Grabitz, S. 29 (41 f). 318 Siehe dazu auch oben im 1. Teil unter B. m. 319 Vgl. dazu Stein, in: FS fiir Universität Heidelberg, S. 619 (636). Stein selbst räumt allerdings ein, daß es Belange gibt, in denen eine Zurückverweisung auf das mitgliedstaatliche Recht nicht möglich ist. Hier sei nur auf den Rechtsstatus der Gemeinschaftsbediensteten verwiesen. Siehe dazu EuGH, Urteil vom 12. Juli 1957, verb. Rs. 7/56 u. 3-7/57 (Algera u.a./Gemeinsame Versammlung), Slg. 1957, S. 83 f[

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2. Teil: Chundbegrüfe

d) Zu den konkreten gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht nach der Rechtsprechung des EuGH ("effet utile'~ aa) Die Herleitung der gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht und ihre Bestimmungsfaktoren Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Vollzug von Gemeinschaftsrecht ergibt sich aus Art. 5 EGV. 320 Weil der gemeinschaftsrechtliche Begriff der "Mitgliedstaaten" ein umfassender, nicht nach Hoheitsträgern oder Staatsfunktionen zu unterscheidender ist, obliegt der Vollzug allen Staatsgewalten. 321 Für den Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten gelten zunächst zwei Prinzipien. 322 Dabei handelt es sich zunächst um das "Prinzip der institutionellen Eigenständigkeit". 323 Danach legen die Mitgliedstaaten grundsätzlich in ihren Rechtsordnungen völlig autonom fest, welche staatlichen Stellen Gemeinschaftsrecht zu vollziehen haben. 324 Hinsichtlich der Art und Weise des Vollzugs insbesondere durch mitgliedstaatliche Behörden und Gerichte gilt, daß sich dieser einschließlich seiner gerichtlichen Kontrolle grundsätzlich nach dem mitgliedstaatlichen Verfahrens- und Prozeßrecht richtet. 325 Doch haben die Mitgliedstaaten dabei zwei Schranken zu beachten. So darf die Anwendung des mitgliedstaatlichen Rechts zum einen nicht dazu führen, daß die Verwirklichung einer Regelung des Gemeinschaftsrechts "praktisch unmöglich" gemacht wird, sondern die "volle Wirksamkeit" ("effet utile") der gemeinschaftsrechtlichen Norm müsse sich entfalten können ("Effizienzge-

320 Siehe nur EuGH, Urteil vom 21. September 1983, verb. Rs. 205-215/82 (Deutsche Milchkontor GmbH u.a./Deutschland), Slg. 1983, S. 2633 (Rn. 17). Vgl. dazu Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. vrr, § 182 Rn. 10; Fischer, Europarecht, S. 111; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994) Art. 5 EGV Rn. 34 ff.; Jarass, Chundfragen, S. 6 f jeweils m.w.N. Siehe aber auch schon oben unter I. 2. 321 Vgl. Jamrath, S. 99 f. m.w.N. Vgl. auch Jarass, Chundfragen, S. 8 f Siehe schon oben unter I. 2. 322 Vgl. dazu auch Oppermann, Europarecht, Rn. 547 ff. 323 Vgl. hier dazu nur Kössinger, S. 17. Siehe unten unter bb) (2). 324 Siehe dazu nur EuGH, Urteil vom 11. Februar 1971, Rs. 39170 (Norddeutsches Vieh- und Fleischkontor GmbHlHauptzoUamt Hamburg-St. Annen), Slg. 1971, S. 49 (Rn. 4 f). Vgl. aber auch Weber, Rechtsfragen, S. 10 f; Kössinger, S. 17 jeweils m.w.N. 325 Vgl. dazu auch Streinz, in: FS fiir Everling, S. 1491 (1500) m.w.N.

c. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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bot"326); zum anderen muß das mitgliedstaatliche Recht im Vergleich zu den Verfahren, in denen über gleichartige mitgliedstaatliche Fälle entschieden wird., ohne Diskriminierung angewendet werden ("Diskriminierungsverbot"327).328 Im Lauf der Zeit hat die Gemeinschaft in vielfältiger Weise Einfluß auf den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht Einfluß genommen. Im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen soll ein Überblick über die einschlägige Rechtsprechung des EuGH im Vordergrund stehen. Dieser hat unter Heranziehung des Grundsatzes des "effet utile" aus Art. 5 EGV zahlreiche konkrete Handlungs- und Unterlassungspflichten abgeleitet, um zu gewährleisten, daß das Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten - sei es im Bereich des normativen, des administrativen oder des Vollzugs durch Gerichte - effektiv und ordnungsgemäß vollzogen wird. 329

bb) Der konkrete Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die Art und Weise des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht (1) Der gemeinschaftsrechtliche Einfluß auf den

normativen Vollzug von Gemeinschaftsrecht

- Die Umsetzung von Richtlinien Im Vordergrund der gemeinschaftsrechtlichen Einflußnahme auf die mitgliedstaatliche Rechtsetzung steht die Art und Weise der Wahrnehmung der 326 Gnmdlegend mit zahlreichen Verweisen auf die Rechtsprech\Dlg des EuGH Streinz, in: Europäisches VerwaltlDlgsrecht, S. 241 (270 ff.); ders., in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 26; RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 973 f Vgl. aber auch Jarass, Gnmdfragen, S. 8 m.w.N. 327 Gnmdlegend \Dld mit zahlreichen Verweisen auf die Rechtsprech\Dlg des EuGH Streinz, in: Europäisches VerwaltlDlgsrecht, S. 241 (267 ff.); RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 975 ff. 328 Siehe nur EuGH, Urteil vom 21. September 1983, verb. Rs. 205-215/82 (Deutsche Milchkontor GmbH u.a./Deutschland), Slg. 1983, S. 2633 (Rn. 21ff.). Vgl. dazu Streinz, in: Europäisches VerwaltlDlgsrecht, S. 241 (264 f bzw. 267 ff.); ders., in: FS fiir Everling, S. 1491 (1501); ders., Europarecht, Rn. 482 ff.; RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 963 ff.; Jarass, Gnmdfragen, S. 8 jeweils m.w.N. Vgl. zur Abgrenzung des vom EuGH in Rahmen seiner Rechtsprech\Dlg entwickelten "DiskriminieT\Dlgsverbotes" gegenüber dem in Art. 6 Abs. 1 EGV geregelten nur Streinz, in: Europäisches VerwaltlDlgsrecht, S. 241 (263). 329 Siehe nur die AuflistlDlg konkreter Pflichten bei Fischer, Europarecht, S. llO. Vgl. aber auch Jarass, Gnmdfragen, S. 6ff. m.w.N.

7 Püh.

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2. Teil: Chundbegrüfe

Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien (Art. 189 Abs. 3 EGV).330 Diese Umsetzungspflicht wurde durch den EuGH in vielerlei Weise näher konkretisiert. 33l So hat die Umsetzung fristgerecht und in der Weise zu erfolgen, daß die "praktische Wirksamkeit" der Richtlinie gesichert ist. 332 Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf innerstaatliche Umstände berufen, um die nicht fristgerechte Umsetzung einer Richtlinie zu rechtfertigen. 333 Obwohl Art. 189 Abs. 3 EGV den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel bei der Umsetzung von Richtlinien überläßt, hat der EuGH für die Umsetzung einen Rechtsnormvorbehalt aufgestellt. 334 So reicht die Verwendung von Verwaltungsvorschriften335 oder das Bestehen "schlichter Verwaltungspraktiken"336 aus Gründen der Rechtssicherheit zur Umsetzung nicht aus. 337 Für den Fall, daß eine Richtlinie nicht fristgerecht oder in anderer Weise nicht gemeinschaftsrechtskonform umgesetzt wird, hat der EuGH unter Heranziehung des "effet utile" für Richtlinienbestimmungen, die bestimmte Anforde330 Vgl. dazu im einzelnen Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 11 ff.; GelIermann, S. 21 ff.; Jarass, Chundfragen, S. 52 ff. jeweils m.w.N. 33l In diesem Abschnitt kann nicht auf alle einschlägigen Einzelheiten in der Recht-

sprechung des EuGH eingegangen werden. Vgl. nur zu den vom EuGH aufgestellten inhaltlichen Anforderungen an die Umsetzung von Richtlinien Jarass, Chundfragen, S. 54 ff. m.w.N. 332 Siehe nur EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 48/75 (Royer), Slg. 1976, S. 497 (Rn. 69/73). Siehe aber auch die weiteren Nachweise bei GelIermann, S. 22. 333 Vgl. dazu nur Jarass, Chundfragen, S. 52 f; Pernice, EuR 1994, S. 325 (329 f) jeweils m.w.N. Siehe aber auch die weiteren Nachweise fiir vom EuGH nicht zugelassene Rechtfertigungsgründe mit innerstaatlichem Bezug, bei Henke, S. 231 ff. 334 Vgl. dazu Weber, Rechtsfragen, S. 13 f; Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 15; ders., Europarecht, Rn. 391; Jarass, Chundfragen, S. 53 f jeweils m.w.N. 335 Siehe nur EuGH, Urteil vom 30. Mai 1991, Rs' C-361188 (KommissionlDeutschland), Slg. 1991 I, S. 2567 (Rn. 15 ff.); EuGH, Urteil vom 30. Mai 1991, Rs. C-59/89 (KommissionlDeutschland), Slg. 1991 I, S. 2607 (Rn. 18 ff.). Vgl. auch Guttenberg, JuS 1993, S. 1006 (1011) m.w.N.; Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (300 f) m.w.N.; Streinz, Europarecht, Rn. 391. AA offensichtlich Kössinger, S. 22. AA zumindest fiir normenkonkretisierende Verwaltungsvorschriften GelIermann, S. 70. Vgl. jetzt auch die deutliche Stellungnahme von Zuleeg, VVDStRL Bd. 53 (1994), S. 154 (191 f) m.w.N.: "Wer Verwaltungsvorschriften 'rechtsschützende Bedeutung' beimißt, muß sich der Verschleierung der Rechtslage bezichtigen lassen." 336 Siehe nur EuGH, Urteil vom 25. Mai 1982, Rs. 96/81 (KommissionlNiederlande), Slg. 1982, S. 1791 (Rn. 12). Vgl. dazu nur Pernice, EuR 1994, S. 325 (330 ff.) m.w.N. 337 Vgl. dazu im einzelnen Weber, Rechtsfragen, S. 13 f m.w.N. Vgl. auch GorniglJriie, JZ 1993, S. 934 (938) m.w.N.

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

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rungen erfüllen, seine Rechtsprechung zur "unmittelbaren Wirkung" begründet. 338 Die "praktische Wirksamkeit" einer Richtlinienbestimmung wäre nämlich in erheblicher Weise abgeschwächt, wenn es in den Händen eines Mitgliedstaates läge, durch sein gemeinschaftsrechtswidriges Verzögern der Umsetzung in eigenmächtiger Art und Weise darüber zu entscheiden, wann die Rechtswirkungen einer Richtlinie eintreten. 339 In dem Fall, daß Bestimmungen einer nicht gemeinschaftsrechtskonform umgesetzten Richtlinie keine "unmittelbare Wirkung" haben, besteht jedoch für einen betroffenen privaten Marktteilnehmer die Möglichkeit, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen gegen den säumigen Mitgliedstaat einen gemeinschaftsrechtlich begründeten 5taatshaftungsanspruch geltend zu machen. 340 Auch auf diese Art wird durch den EuGH die "volle Wirksamkeit" von Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts gewährleistet. 341 Auf den letzten Aspekt wird später noch ausführlich einzugehen sein. 342

- Zum Vollzug von Verordnungen Im Hinblick auf die legislative Ergänzung von Verordnungen (Art. 189 Abs. 2 EGV) hat der EuGH den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 1 EGV verschiedene Auflagen gemacht. 343 50 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, ergänzende mitgliedstaatliehe Rechtsvorschriften zu erlassen, wenn eine Verordnung die Modalitäten ihrer Anwendung nicht vollständig regelt und der effektive Vollzug vom Erlaß entsprechender Vorschriften abhängt. 344 Dabei 338 Siehe nur EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1970, Rs. 9/70 (GradlFinanzamt Traunstein), Slg. 1970, S. 825 (Rn. 5); EuGH, Urteil vom 4. Dezember 1974, Rs. 41/74 (van DuynIHome Office), Slg. 1974, S. 1337 (Rn. 12). Vgl. dazu hier lediglich Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 14; Sacksofsky, in: Auf dem Weg zu einer Europäischen Staatlichkeit, S. 91 (94 f bzw. 100 ff) jeweils m.w.N. Siehe aber ausführlich unten im 4. Teil unter C. II. 2. c). 339 Siehe auch EuGH, Urteil vom 19. Januar 1982, Rs. 8/81 (BeckerlFinanzamt Münster-Innenstadt), Slg. 1982, S. 53 (Rn. 23 f). 340 Siehe nur EuGH, Urteil vom 19. November 1991, verb. Rs. C-6 u. 9/90 (Francovich u.a./ltalien), Slg. 1991 I, S. 5357 (Rn. 31 ff). Siehe dazu aber ausführlich unten im 4. Teil unter C. m. 341 Vgl. dazu nur von Bogdandy, in: GrabitzlHilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 37 m.w.N. 342 Siehe unten im 4. Teil unter C. m. 343 Vgl. dazu von Bogdandy, in: GrabitzlHilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 38 m.w.N. 344 Siehe nur EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. 30/70 (ScheerlEinfuhr- und VorratssteIle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, S. 1197 (1208).

100

2. Teil: Chundbegrüfe

dürfen sie jedoch keinerlei Maßnahmen ergreifen, die eine Änderung der Tragweite einer Verordnung oder eine Ergänzung ihrer Vorschriften zum Gegenstand haben. 345 Wenn eine Verordnung keine Ergänzung erfordert, so ist die rein deklaratorische Transformation einer Verordnung in innerstaatliches Recht unzulässig. 346

(2) Der gemeinschaflsrechtliche Einfluß aufden mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug von Gemeinschaflsrecht - Zum Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die Organisationsstruktur der mitgliedstaatlichen Verwaltungen Wie bereits angeführt wurde 347 , bedarf das Gemeinschaftsrecht zum Teil wegen seiner Konstruktion, zum Teil aber auch, weil die Gemeinschaft nicht über einen umfassenden eigenen Verwaltungsunterbau verfügt, des Vollzugs durch mitgliedstaatliche Organe. 348 Zwar gilt hier hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Verwaltungsorganisationsstruktur der "Grundsatz der institutionellen Autonomie,,349 der Mitgliedstaaten, jedoch werden durch die Gemeinschaftsrechtsordnung in diesem Zusammenhang zum Teil bestimmte Anforderungen an die Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten gestellt. 350 Grundsätzlich haben die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EGV für einen geordneten Verwaltungsvollzug zu sorgen. 351 Die Mitgliedstaaten sind daher gehalten, ihre Verwaltung so zu organisieren, daß ein effektiver Vollzug des Gemeinschaftsrechts gewährleistet wird. 352 Dies kann auch die Errichtung neuer

vrr, § 182 Rn. 18. Siehe nur EuGH, Urteil vom 10. Oktober 1973, Rs. 34173 (F.lli Variola S.p.A./Amministrazione italiana delle Finanze), Slg. 1973, S. 981 (Rn. 9 f). Siehe ferner die weiterführenden Angaben bei Weber, Rechtsfragen, S. 11 f; Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. vrr, § 182 Rn. 18 m.w.N. Vgl. aber auch Jarass, Chundfragen, S. 64 m.w.N. 347 Siehe oben unter I. 2.a). 348 Vgl. auch Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. vrr, § 182 Rn. 1. 349 Vgl. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (54); Pache, S. 80 ff. bzw. S. 122 m.w.N. Vgl. aber auch Klösters, S. 12 f m.w.N. Siehe ferner schon oben unter aa). 350 Vgl. dazu auch Pache, S. 82 ff. m.w.N. 351 Vgl. Weber, Rechtsfragen, S. 46; Gorniglfrüe, JZ 1993, S. 934 (938); Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (303 f)jeweils m.w.N. 352 Siehe EuGH, Urteil vom 2. Februar 1982, Rs. 68/81 (KommissionlBelgien), Slg. 1982, S. 153 (Rn. 4 f). Vgl. dazu auch Weber, Rechtsfragen, S. 46; Fischer, Europarecht, S. 117. Siehe auch zur aus Art. 5 EGV abgeleiteten Pflicht der Mitgliedstaaten, "ein System von Verwaltungskontrollen und Kontrollen an Ort und Stelle zu schaffen, 345

346

Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd.

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

101

Behörden bedeuten. 353 Nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 2 EGV darf die Verwaltungsorganisation eines Mitgliedstaates in keinem Fall so gestaltet sein, daß insbesondere der Genuß der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten behindert oder gefährdet wird. 354 Vereinzelt beeinflußt auch sekundäres Gemeinschaftsrecht die Struktur der rnitgliedstaatlichen Verwaltungsorganisation355 , dazu bedarf es jedoch jeweils einer Ermächtigungsgrundlage im Vertrag.356

- Zu den gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen auf das rnitgliedstaatliche Verwaltungsverfahrensrecht Einflüsse des Gemeinschaftsrechts auf das rnitgliedstaatliche Verwaltungsverfahrensrecht bestehen nur ausnahmsweise, und dies in zweierlei Hinsicht. 357 Zum einen wird in besonders stark "vergemeinschafteten" Rechtsbereichen 358 aufgrund entsprechender Ermächtigungen im Gründungsvertrag das Verwaltungsverfahren beim rnitgliedstaatlichen Vollzug durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geregelt. 359 Zum anderen hat der EuGH gemeinschaftsrechtliche das die ordmmgsgemäße ErfüUung der materiellen und formeUen Voraussetzungen" des im konkreten Fall einschlägigen Gemeinschaftsrechts sicherstellt, EuGH, Urteil vom 12. Juni 1990, Rs. C-8/88 (DeutschlandlKommission), Slg. 1990, S. 2321 (Rn. 20). Vgl. dazu nur Engel, DV 1992, S. 437 (456) m.w.N. m Vgl. Klein, Der Staat 1994, S. 39 (41) m.w.N. Grundlegend auch Schwarze, in: Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (148 ff.) m.w.N. 354 VgI. dazu auch Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 20; ders., Europarecht, Rn. 474 f jeweils m.w.N. 355 Siehe jüngst die Verpflichtung aus Art. 5 Abs. 2 der "Richtlinie 92/59/EWG des Rates vom 29. Juni 1992 über die aUgemeine Produktsicherheit", ABI. 1992, L 228, S. 24 (27 f). Siehe aber auch die Beispiele bei Weber, Rechtsfragen, S. 46 f, bei Engel, DV 1992, S. 437 (456), bei Pache, S. 88 ff., bei Fischer, Europarecht, S. 117 f, und bei Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (319 f). Siehe aber auch unten im 4. Teil unter B. IV. 4. 356 So Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 20; ders., Europarecht, Rn. 473. 357 VgI. Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (297 f) m.w.N. VgI. dazu auch Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 48 ff. m.w.N.; derselbe, in: Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (154 ff.) m.w.N. 358 Hier sind insbesondere das Zollrecht und das Agrarrecht zu nennen. Vgl. dazu auch Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (263 f). Siehe ferner dazu nur unten im Teil 4 unter B. IV. 4. 359 VgI. dazu Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (245 bzw. 263 f) m.w.N.; ders., Europarecht, Rn. 479; Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (321 ff.) m.w.N.

102

2. Teil: Gnmdbegriffe

Grundregeln zur Anwendung des mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts im Hinblick auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht aufgestelle60 Das bedeutet, daß sich der verwaltungsmäßige Vollzug von Gemeinschaftsrecht einschließlich seiner gerichtlichen Kontrolle nach dem mitgliedstaatlichem Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozeßrecht richtet, soweit das Gemeinschaftsrecht bzw. die vom EuGH aufgestellten allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze für den Vollzug von Gemeinschaftsrecht keine eigenen Regelungen enthalten. 361 Wird der Mitgliedstaat anhand seines eigenen Rechts beim Vollzug tätig, hat er die Schranken des "Effizienzgebots" und des "Diskriminierungsverbotes" zu beachten, die sich aus dem Erfordernis der einheitlichen und gleichmäßigen Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten ergeben. 362 Diese Grundsätze gelten im Ergebnis sowohl für den "unmittelbaren" als auch für den "mittelbaren" mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug von Gemeinschaftsrecht. 363 Anhand ihrer Aufstellung wird deutlich, daß der EuGH Unterschiede in den mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechten hinnimmt und es den zur Rechtsetzung berufenen Gemeinschaftsorganen überläßt, die Unterschiede durch Verabschiedung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung zu beseitigen. 364 Wenn ein Mitgliedstaat beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht auf Schwierigkeiten stößt, so gebietet es seine Verpflichtung aus Art. 5 Abs. 1 EGV, daß er dieses der Kommission unterbreitet. Beide haben dann ebenfalls gemäß Art. 5 Abs. 1 EGV nach Treu und Glauben zusammenzuarbeiten und nach einer Lösung zu suchen, welche die Schwierigkeiten unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts beseitigen hilft. 365 Es handelt sich bei der Pflicht zur loyalen Zu-

360 Gnmdlegend EuGH, Urteil vom 21. September 1983, verb. Rs. 205-215/82 (Deutsche Milchkontor GmbH u.a.lDeutschland), Slg. 1983, S. 2633 ff 361 Vgl. Weber, Rechtsfragen, S. 55; Pache, S. 122 m.w.N.; Fischer, Europarecht, S. lU; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 959. Siehe aber auch unten im 4. Teil unter B. IV. 4. 362 Vgl. hier nur Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 24 ff; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 964; Jarass, Gnmdfragen, S. 99 f; Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des VerwaltungshandeIns, S. 289 (307 ff) jeweils m.w.N. Siehe dazu aber die Nachweise oben unter aa). 363 Vgl. Streinz, in: FS für Everling, S. 1491 (1501) m.w.N. 364 Vgl. Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 965; Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des VerwaltungshandeIns, S. 289 (305 ff) m.w.N.; Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 23; ders., Europarecht, Rn. 485. 365 Siehe nur EuGH, Urteil vom 10. Juli 1990, Rs. C-217/88 (KommissionlDeutschland); Slg. 1990 I, S. 2879 (Rn. 33). Vgl. dazu auch Jarass, Gnmdfragen, S. 99.

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

103

sammenarbeit aus Art. 5 Abs. 1 EGV insofern auch um eine auf Gegenseitigkeit. 366

(3) Der gemeinschaflsrechtliche Einfluß aufden Vollzug von Gemeinschaflsrecht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte Der gemeinschaftsrechtliche Einfluß auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte hält sich in dem bereits oben aufgezeigten Rahmen. 367 Danach gilt grundsätzlich der "Grundsatz der mitgliedstaatlichen Autonomie" in Fragen der Gerichtsorganisation und Verfahrensmodalitäten. 368 Jedoch haben die mitgliedstaatlichen Gerichte nach dem "Effizienzgebot" die Interessen jener durch eine etwaige Verletzung von gemeinschaftsrechtlichen Normen bzw. von durch das Gemeinschaftsrecht begründeten subjektiven Rechten begünstigten Marktteilnehmern zu wahren, indem sie diesen einen unmittelbaren und sofortigen Rechtsschutz gewähren. 369 Nach dem "Diskriminierungsverbot" darf dabei die dem mitgliedstaatlichen Recht obliegende Ausgestaltung eines gemeinschaftsrechtlich geforderten Rechtsschutzes nicht ungünstiger sein als für rein innerstaatliche Fälle. 370 Der private Marktteilnehmer darf bei Klagen aus gemeinschaftsrechtswidrigem Vollzug somit nicht schlechter gestellt werden als bei gleichartigen Klagen des innerstaatlichen Rechts. 371 Auch hier wird deutlich, daß der EuGH bislang geneigt war, gewisse Besonderheiten der mitgliedstaatlichen Prozeßrechtsordnungen hinzunehmen. 372 Fischer, Europarecht, S. 111. Vgl. dazu auch Rengeling, DVBI. 1986, S. 306 (308). 368 Vgl. dazu RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 985. Vgl. ferner Weber, Rechtsfragen, S. 57. 369 Siehe nur EuGH, Urteil vom 19. Dezember 1968, Rs. 13/68 (Firma Salgoil/Außenhandelsministerium von Italien), Slg. 1968, S. 679 (693). Vgl. dazu auch Jarass, Grundfragen, S. 100 m.w.N. Vgl. ferner Engel, DV 1992, S. 437 (458 f) m.w.N. 370 Siehe nur EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 33/76 (Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AGlLandwirtschaftskarnmer für das Saarland), Slg. 1976, S. 1989 (Rn. 5); EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 45/76 (Comet BVlProduktschap voor Siergewassen), Slg. 1976, S. 2043 (Rn. 11118). Vgl. dazu Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (268); RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 986 m.w.N. 371 Siehe nur EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79 (Arnministrazione delle Finanze dello StatolDenkavit italiana Srl), Slg. 1980, S. 1205 (Rn. 25). Vgl. auch Weber, Rechtsfragen, S. 57 f m.w.N. 372 So RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 986 m.w.N. 366

367

104

2. Teil: Ctlundbegrilfe

In jüngeren Entscheidungen hat der EuGH im Hinblick auf einen effizienteren Vollzug von Gemeinschaftsrecht und in gewisser Abkehr von der gerade aufgezeigten Linie die modifizierte Handhabung von rnitgliedstaatlichen Vorschriften des vorläufigen Rechtsschutzes verlangt.373 So ist unter bestimmten Voraussetzungen die sofortige Vollziehung von Verwaltungsakten, die zum Vollzug von Gemeinschaftsrecht ergehen, anzuordnen. 374 Jedoch kann es die "volle Wirksamkeit" des Gemeinschaftsrechts auch erfordern, daß ein mit einem nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befaßtes Gericht durch eine Vorschrift des mitgliedstaatlichen Rechts nicht daran gehindert werden darf, "einstweilige Anordnungen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen ... m In einer neuesten Entscheidung hat der EuGH es nun als zulässig bezeichnet, daß mitgliedstaatliche Gerichte in entsprechender Anwendung des Art. 186 EGV eine Verordnung nach Art. 189 Abs. 2 EGV, an deren Gültigkeit Zweifel bestehen, durch eine "positive" Anordnung bis zum Ergehen einer im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EGV gleichzeitig beantragten Entscheidung des EuGH vorläufig unangewendet lassen. 376 Einen wichtigen Bestandteil der Vollzugspflichten der mitgliedstaatlichen Gerichte stellt schließlich die gemeinschaftsrechtskonforme Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 EGV, dessen Zweck in der Wahrung eines einheitlichen gemeinschaftsweiten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht besteht, dar. 377 373 Vgl. Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 987; Scheuing, in: Innovation Wld Flexibilität des VeIWaltWlgshandelns, S. 289 (324 ff.) m.w.N.; Schwarze, in: Das VeIWaltWlgsrecht Wlter europäischem Einfluß, S. 123 (186 ff.) m.w.N. Siehe aber auch die Nachweise bei Jarass, Ctlundfragen, S. 100. Siehe ferner die allgemeinen Ausfiihnmgen Wlten im 4. Teil Wlter C. 11. 4. c) dd). 374 Siehe EuGH, Urteil vom 10. Juli 1990, Rs. C-217/88 (KommissionlDeutschland); Slg. 1990 I, S. 2879 (Rn. 25); EuGH, Urteil vom 21. Februar 1991, verb. C-143/88 lL C-92/89 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen AGlHauptzollamt Itzehoe bzw. Zuckerfabrik Soest GmbHIHauptzollamt Paderborn), Slg. 1991 I, S. 415 (Rn. 29 ff.). Vgl. dazu auch Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (933) m.w.N. Kritisch Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 989; Scheuing, in: Innovation Wld Flexibilität des VerwaltWlgshandelns, S. 289 (325 f)jeweils m.w.N. m Siehe EuGH, Urteil vom 19. JWli 1990, Rs. C-213/89 (The Queen!Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ud lLa.), Slg. 1990 I, S. 2433 (Rn. 21). 376 Siehe EuGH, Urteil vom 9. November 1995, Rs. C-465/93 (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH u.a./BWldesamt fiir ErnährWlg Wld Forstwirtschaft), abgedruckt, in: Tätigkeiten Nr. 30/1995, S. 5 ff. Siehe auch ausfiihrlieh Wlten im 4. Teil Wlter C. 11. 4 c) dd).

m

Vgl. dazu hier nur Weber, Rechtsfragen, S. 80 ff.; Streinz, in: Handbuch des

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

105

cc) Zusammenfassung Der mitgliedstaatliche Vollzug von Gemeinschaftsrecht erfolgt grundsätzlich im Rahmen der mitgliedstaatlichen Organisationsstruktur und auf der Grundlage des mitgliedstaatlichen Vollzugsrechts. Primäres, sekundäres Gemeinschaftsrecht und vom EuGH entwickelte allgemeine Rechtsgrundsätze können jedoch diese mitgliedstaatliche Vollzugsstruktur überlagern. 378 Solange keine normativen Vorgaben für den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht bestehen, haben die zuständigen mitgliedstaatlichen Stellen das "Effizienzgebot" sowie das "Diskriminierungsverbot" zu beachten. Darüber hinaus bestehen für jenen den verschiedenen mitgliedstaatlichen Staatsgewalten obliegenden Vollzug von Gemeinschaftsrecht spezifische gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, die in der Regel ebenso wie das "Effizienzgebot" und das "Diskriminierungsverbot" vom EuGH aus Art. 5 EGV abgeleitet worden sind.

e) Zwischenergebnis Die Auslegungsmaxime des "effet utile" unterscheidet sich erheblich von ihrem völkerrechtlichen Gegenstück. Sie weist teleologische und systematische Merkmale auf und verfügt über ein dynamisches Element. Der EuGH bedient sich ihrer in der Regel bei der Konkretisierung von mitgliedstaatlichen Vollzugspflichten. So hat er unter anderem mehrere Rechtsinstitute entwickelt, welche die "volle Wirksamkeit" von Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, die zu ihrer Verwirklichung eines mitgliedstaatlichen Vollzugsaktes bedürfen, gewährleisten. Dies ist deshalb von um so größerer Bedeutung, weil der Vollzug von Gemeinschaftsrecht in erster Linie den Mitgliedstaaten obliegt.

3. Zu den Verstößen der Mitgliedstaaten gegen ihre Vollzugspflichten An dieser Stelle kann nur ein grober Überblick über die Verstöße der Mitgliedstaaten gegen ihre Vollzugspflichten gegeben werden. 379 Viele Arten von Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 69 f m.w.N. Siehe dazu auch lUlten im 4. Teil lUlter C. 11. 4. c) cc) (1). 378 Vgl. dazu auch Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (926 f) m.w.N., der die hier angesprochenen normativen Vorgaben generell als "GemeinschaftsverwaltWlgsrecht" bezeichnet. 379 Siehe aber die ausfiihrlichen Überblicke in KOM (94) 500 endg., Anhang I bis V, ABI. 1994, C 154, S. 1 (57 ff), bzw. jetzt in KOM (95) 500 endg., Anhang I bis V, ABI. 1995, C 254, S. 1 (56 ff).

106

2. Teil: Chundbegrdfe

Verstößen ergeben sich dabei bereits aus den insbesondere durch den EuGH aufgestellten Anforderungen an den mitgliedstaatlichen Vollzug. Die begangenen Verletzungen von Vollzugspflichten erstrecken sich dabei auf alle am Vollzug beteiligten mitgliedstaatlichen Staatsgewalten. Im Bereich der Legislative fallt besonders die zunehmende Häufigkeit von nicht oder zu spät erfolgter Umsetzung von Richtlinien 380 ins Gewicht. 381 Darüber hinaus wird sehr oft bereits die in Richtlinien vorgesehene mitgliedstaatliche Mitteilung an die Kommission über den Zeitpunkt und die Art und Weise der Umsetzung einer Richtlinie nicht erteilt. 382 Im Bereich der Exekutive ist auf die häufige Vornahme von diskriminierenden Verwaltungsmaßnahmen gegenüber EG-Ausländern hinzuweisen. 383 Im Bereich der Rechtsprechung ist schließlich die Nichtbeachtung des "Vorrangs des Gemeinschaftsrechts"384 zu

380 Die nicht fristgerechte UmsetZWlg von Richtlinien bewog den EuGH zur BegriindWlg seiner RechtsprechWlg zur "WlIDittelbaren Wirkung" von Richtlinien. Diese ist ständige RechtsprechWlg seit EuGH, Urteil vom 4. Dezember 1974, Rs. 41/74 (van Duyn/Home Office), Slg. 1974, S. 1337 (Rn. 12). Vgl. dazu auch Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 82 m.w.N. Siehe dazu aber bereits oben Wlter 2. d) bb) (1). Siehe zu den möglichen Folgen Wlten im 4. Teil Wlter C. ll. 2. c). Siehe schließlich die Nachweise über EntscheidWlgen des EuGH in Fällen nicht fristgerechter UmsetZWlg von Richtlinien bei Henke, S. 205 f 381 Vgl. dazu Hauschild, in: Europäische Integration Wld nationalstaatliche VerwaltWlg, S. 155 (162 ff) m.w.N. Siehe ferner exemplarisch die Nachweise über die VerurteilWlgen der BWldesrepublik Deutschland durch den EuGH wegen Verstößen gegen ihre UmsetZWlgspflichten im Hinblick auf Richtlinien mit einem umweltrechtlichen RegelWlgsgegenstand bei GelIermann, S. 117 ff Siehe jetzt aber auch die 19. "ErkläfWlg zur AnwendWlg des Gemeinschaftsrechts" in der Schlußakte des EUV, abgedruckt, in: Sartorius II Wlter Nr. 152c, S. 1 (5). 382 Vgl. dazu Wld zu den generellen mitgliedstaatlichen Informationspflichten im Bereich des Umweltrechts Henke, S. 201 ff m.w.N. Vgl. zu Art des Vorgehens der Kommission in diesen Fällen Krämer, in: Dicke Luft in Europa, S. 201 (206 f). Siehe ferner für den Bereich der gemeinschaftlichen Sozialpolitik nur die DarstellWlg des MitteilWlgsverhaltens der Mitgliedstaaten über die UmsetZWlg der einschlägigen Richtlinien zum 31. Dezember 1993 "Europäische Sozialpolitik. Ein zukunftsweisender Weg für die Union. Weißbuch", KOM (94) 333 endg. vom 27. Juli 1994, S. 69 ff 383 An dieser Stelle seien nur die der sog. "Cassis de Dijon"-RechtsprechWlg des EuGH zugrWlde liegenden Sachverhalte erwähnt. Siehe dazu Wlter anderem EuGH, Urteil vom 20. Februar 1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AGIBWldesmonopolverwaltWlg für Branntwein), Slg. 1979, S. 649 ff Vgl. dazu nur Streinz, Europarecht, Rn. 687 ff m.w.N. Vgl. aber auch Hauschild, in: Europäische Integration Wld nationalstaatliche VerwaltWlg, S. 155 (165 ff) m.w.N. 384 Der Chundsatz des "Vorrangs des Gemeinschaftsrechts" stellt ständige RechtsprechWlg des EuGH dar. Siehe nur EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. 6/64 (Costa/ E.N.E.L.), Slg. 1964, S. 1251 (1269 ff).

C. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht

107

nennen. 385 Als eine bedenkliche Entwicklung muß auch die ständig abnehmende Bereitschaft der Mitgliedstaaten angesehen werden, Urteilen des EuGH, die wegen Verstoßes gegen Vollzugspflichten ergangen sind, umgehend Folge zu leisten. 386 Eine gravierende Steigerung der dargestellten Zustände stellt schließlich die zunehmende Zahl der erneuten Verurteilung von Mitgliedstaaten dar, die einen im einem ersten Verfahren gerügten Verstoß gegen ihre Vollzugspflichten nicht abgestellt haben. 387 An dieser Stelle soll und kann keine abschließende Aufzählung der erkannten Verstöße stattfinden. Es kam hier nur darauf an, die Vielschichtigkeit der Bereiche aufzuzeigen, in denen Effizienzverluste beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht entstehen können. Dennoch ist in Anbetracht der Kontrolleffizienz der Gemeinschaftsorgane388 zu befürchten, daß die Zahl der Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht noch wesentlich höher ist. 389 Die Zahl der stetig zunehmenden Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV390 kann insoweit auch nur ein Indiz darstellen.

4. Ergebnis Auch wenn der EuGH durch seine sich zunehmend ausdehnende Rechtsprechung zu den Anforderungen an den mitgliedstaatIichen Vollzug einen wertvollen Dienst für die Integration leistet, so muß doch festgestellt werden, daß die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, Gemeinschaftsrecht im Sinne der Gemeinschaft zu vollziehen, abnimmt. Dies kann mit dem Umfang der auf die Mit385 VgI. dazu nur Henke, S. 225 m.w.N. VgI. aber auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (66 ff) m.w.N., zu den "eklatantesten Fälle(n) der Mißachtung der Autorität des Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte". 386 VgI. dazu auch Karl, RlW 1991, S. 745 (746); Siedentopf, Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 55 f jeweils m.w.N. 387 Siehe nur die Nachweise in KOM (94) 500 endg., Anhang V, ABI. 1994, C 154, S. 1 (169 ff). VgI. dazu auch Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 171 EGV Rn. 19 f und 22. A.A. zur der hier vorgenommenen Wertung der Zustandsbeschreibung offensichtlich Piris, ELR 1994, S. 449 (459) m.w.N. 388 Siehe dazu in einzelnen im 3. Teil unter B. 11. 3. b). 389 VgI. dazu Broha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (309) m.w.N. Siehe auch den entsprechenden Verweis bei Weiden/eid, Europäische Defizite, europäische Perspektiven, S. 60, auf den Bericht der von der Kommission eingesetzten Studiengruppe unter der Leitung von Padoa-Schioppa ("Padoa-Schioppa-Bericht"). 390 Siehe dazu nur die Nachweise bei Gündisch, Rechtsschutz, S. 68 ff Siehe zum Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV auch unten im 4. Teil unter B. ill.

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2. Teil: Chundbegrüfe

gliedstaaten zukommenden "Massen" an gemeinschaftsrechtlichen Normen zusammenhängen sowie mit den technischen Problemen ihrer fehlerfreien Einfügung in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. 391 Sie kann aber auch begründet sein durch die abnehmende Bereitschaft der Mitgliedstaaten, Abstriche an der eigenen Souveränität hinzunehmen. Insoweit ist als Ergebnis festzuhalten, daß die integrationsfreundliche Rechtsprechung des EuGH, auch wenn sie mehr Rücksichten auf die Souveränität der Mitgliedstaaten nehmen würde, keinesfalls einen Garant dafür darstellt, daß das Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten effizient vollzogen wird. Eine stetig zunehmende Disparität zwischen Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit gefährdet aber einen komplexer werdenden Integrationsprozeß.

D. Die Notwendigkeit eines effektiven Vollzugs von Gemeinschaftsrecht für die Herstellung und die Verwaltung des Binnenmarktes und die daraus zu ziehenden Schlüsse Es sollte nun zumindest im Überblick deutlich geworden sein, welche Anforderungen insbesondere aufgrund der Rechtsprechung des EuGH an den effektiven mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht zu stellen sind. Auch ist noch einmal festzuhalten, daß nur die einheitliche Durchführung von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten geeignet ist, Wettbewerbsnachteile zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden 392 und so die dringend notwendige Glaubhaftigkeit in das gemeinsame Bemühen um die Erreichung der Ziele der Europäischen Integration herzustellen. Nur auf diesem Wege wird es der Gemeinschaft ermöglicht, weitere erforderliche Einschnitte in die Souveränität der Mitgliedstaaten vorzunehmen. Wie schon ausgeführt, symbolisiert das Binnenmarktprojekt den erreichten quantitativen und qualitativen Stand des Europäischen Integrationsprozesses. 393 Deshalb ist es für dessen Zukunft von solch eminenter Bedeutung, in welcher Weise das auf die Herstellung und Verwaltung des Binnenmarktes gerichtete Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten tatsächlich vollzogen wird. Die Tatsache, daß die Mitgliedstaaten ihren diesbezüglichen Vollzugspflichten jedoch nicht immer in der notwendigen Weise nachkommen, eröffnet entspre391 Vgl. dazu Schwarze/Becker/Pollak, S. 57 ff. m.w.N. Vgl. ebenso Pernice, NVwZ 1990, S. 414 (423); Siedentop/, Die UmsetZWlg des Gemeinschaftsrechts, S. 20 f m.w.N. 392 Vgl. nur Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. vrr, § 182 Rn. 4 m.w.N. 393 Siehe schon oben im l. Teil unter B. I.

D. Die Notwendigkeit eines effektiven Vollzugs

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chende Handlungspflichten. Daher ist zunächst zu überlegen, ob es neue und andere Wege gibt, auf das Vollzugsverhalten der Mitgliedstaaten Einfluß zu nehmen. 394 Daneben müssen die im Hinblick auf die Vollzugskontrolle bestehenden Instrumente und Mechanismen genau untersucht und dann gegebenenfalls verbessert bzw. ausgebaut werden. Gerade was diesen Aspekt betrifft, ist mit Ehlermann festzuhalten, daß Überlegungen zur wirksamen Kontrolle der Durchführung von Gemeinschaftsrecht besonders durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen zugleich einen Beitrag zur Herstellung und zur Verwaltung des Binnenmarktes darstellen. 395

394 Vgl. auch Pemice, NVwZ 1990, S. 414 (423): "Neue Wege fiir die effektive DurchsetZlUlg des Gemeinschaftsrechts sind zu suchen. " 395 Vgl. zu diesem Gedanken auch Ehlermann, in: FS fiir Pescatore, S. 205 (206) m.w.N.

Dritter Teil

"Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht A. Überblick über die dem mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht zugrunde liegenden "DefIZite" I. Zum Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung Die Rechtsprechung des EuGH zu den im Hinblick auf den effizienten Vollzug von Gemeinschaftsrecht begangenen Vertragsverletzungen, welche sich die Mitgliedstaaten zurechnen lassen müssen, ist Legion. 1 Es stellt sich daher die Frage, wie und warum es zu dieser relativen Häufigkeit an Fällen kommt bzw. auf welchen insbesondere strukturellen Gründen ("Defiziten") die zahlreichen mitgliedstaatlichen Vertragsverletzungen beruhen. Wenn nachfolgend also auf die dem mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht zugrunde liegenden "Defizite" "abgestellt" wird, so ist darunter nicht zu verstehen, daß hier untersucht werden soll, inwieweit ein mitgliedstaatlicher Vollzugsakt von einer nach dem Grundsatz des "effet utile" ausgerichteten vollkommenen Wirkung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten abweicht. 2 Das Interesse der Untersuchung gilt vielmehr den die mitgliedstaatlichen Abweichungen "begünstigenden" strukturellen Faktoren. Die einschlägigen Entscheidungen des EuGH werden zwar insoweit gleichsam als Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt, der eigentliche Untersuchungsgegenstand ergibt sich aus ihnen jedoch nur mittelbar. Die hier interessierenden "Defizite" des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht, welche die zahlreichen Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten möglicherweise veranlassen, könnten sich sowohl aus den Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts als solchem bzw. der GemeinSiehe oben im 2. Teil lUlter C. 11. 3. So aber wird ein Vollzugsdeftzit in der Literatur in der Regel defmiert. Vgl. nur Pemice, DV 1989, S. 1 (38 f); Streinz, in: Europäisches VelWaltlDlgsrecht, S. 241 (289); Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (332); Nettesheim, JURA 1994, S. 337 (342); Sacksofsky, in: Auf dem Weg zu einer europäischen Staatlichkeit, S. 91 (91) jeweils m.w.N. 2

A. Überblick

III

schaftsrechtsordnung insgesamt als auch aus der Struktur der Gemeinschaft, an die wiederum die Struktur des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht angelehnt ist, ergeben. Diesen Überlegungen gilt der Inhalt der nachfolgenden Untersuchung.

ll. Zum konkreten Inhalt der nachfolgenden Untersuchung Bei der Erörterung der strukturellen "Defizite" des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten soll nachfolgend eine Unterscheidung zwischen "materiellrechtlichen" (unter B. 1.), "verfahrensrechtlichen" (unter B. 11.) und "Defiziten", "die die Legitimation des Gemeinschaftsrechts betreffen" (unter B. 111. Exkurs), vorgenommen werden. Bei den "materiellrechtlichen" "Defiziten" handelt es sich um solche, die im (Gemeinschafts-)"Recht" als solchem begründet sind und die sich sowohl aus der Art und Weise seines Zustandekommens ergeben können als auch speziell unter Heranziehung hermeneutischer Aspekte schlichtweg aus der (Rechts-)Sprache. Zu den "materiellrechtlichen" "Defiziten werden hier aber auch solche gezählt, die sich aus der im Laufe der Zeit zwar im Umfang erheblich angewachsenen, jedoch sich nicht durchgehend homogen entwickelnden Gemeinschaftsrechtsordnung insgesamt ergeben können. "Die "verfahrensrechtlichen" "Defizite" hingegen rühren aus der Struktur der Gemeinschaft her. Sie ergeben sich zwangsläufig dadurch, daß das Gemeinschaftsrecht im Hinblick auf seine Setzung und seine Durchführung im Regelfall die Unterscheidung zwischen der Gemeinschaftsebene als Normgeber und jener der Mitgliedstaaten als Vollziehende kennt. 3 Weiter verstärkt werden sie in diesem Rahmen durch das Streben der Mitgliedstaaten, Einschnitte in ihre Souveränität nur in möglichst begrenztem Ausmaß zuzulassen. 4 Als Ergänzung der Darstellung dieser eher "technischen" "Defizite" soll im Rahmen eines Exkurses auf die Frage eingegangen werden, ob das Gemeinschaftsrecht auf einer ausreichenden demokratischen Legitimation fußt. Möglicherweise besteht in diesem Zusammenhang ein "Defizit" des Gemeinschaftsrechts, "das seine Legitimation betrifft", welches in der Literatur auch als "demokratisches Defizit" bezeichnet wird5 . Falls ein solches "Defizit" bestehen sollte, könnte es Mitgliedstaaten möglicherweise sogar untersagt sein, ihren aus dem Gemeinschaftsrecht herrührenden Vollzugspflichten nachzukommen. Schließlich sollen die rechtlichen Grenzen der vom Gemeinschaftsrecht geforderten Effizienz beim mitgliedstaatlichen Vollzug aufgezeigt werden (unter 3 4

5

Siehe dazu schon oben im 1. TeillUlter B. III. bzw. im 2. TeillUlter C. I. 2. Siehe dazu auch die weiterfiihrende DarstelllUlg lUlten lUlter B. 11. Siehe dazu die zahlreichen Nachweise lUlten lUlter III. l.

112

3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

c.). Diese bestehen in sogenannten die Souveränität der Mitgliedstaaten scho-

nenden Notstands- und Schutzklauseln, aber auch in rechtsstaatlieh geforderten Verfahrensgarantien und Menschenrechten. Insoweit sind auch Überlegungen anzustellen für eine Definition eines gleichsam "idealen" Vollzugs von Gemeinschaftsrecht. 6

B. Die "DefIzite" im einzelnen I. Die "materiellrechtlichen" "Defizite" oder die sprachliche Unvollkommenheit, die "Unvollständigkeit" und die "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts - Die strukturellen "Defizite" des (Gemeinschafts-)" Rechts" 1. Die sprachliche Unvollkommenheit des Gemeinschaftsrechts

a) EjJizienzverluste durch das Erfordernis der Auslegung

Damit Normen überhaupt ein Anspruch auf Verbindlichkeit eingeräumt werden kann, müssen sie klar und eindeutig sein. 7 Diese Forderung leitet sich in der Gemeinschaftsrechtsordnung insbesondere für Normen, die belastende Wirkung für Individuen beinhalten, nicht zuletzt aus dem ungeschriebenen Rechtsgrundsatz der Rechtssicherheit ab, wonach Rechtsakte so eindeutig und klar sein müssen, daß ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar ist. 8 "Unklarheit geht zu Lasten der Gemeinschaft. ,,9 Es ist jedoch mehr als fraglich, ob sprachlich Formuliertes eine solche Forderung überhaupt erfüllen kann. IO Ein Grund für die Infragestellung einer solchen Annahme ist sicherlich zunächst Siehe schon oben im l. Teil IUlter B. II. Vgl. Braselmann, EuR 1992, S. 55 (55). 8 Siehe nur EuGH, Urteil vom 9. Juli 1981, Rs. 169/80 (ZollverwaltlUlg/Societe anonyme Gondrand Freres IUld Societe anonyme Garancini), Sig. 1981, S. 1931 (Rn. 17). Vgl. dazu Pernice, in: GrabitziHi/f, Kommentar zur EU, EL 8 (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 92. Vgl. zum RechtsgTlUldsatz der Rechtssicherheit im Gemeinschaftsrecht auch Schwarze, Europäisches VerwaltlUlgsrecht, Bd. II, S. 843 ff. bzw. S. 911 ff.; Rengeling, in: Europäisches VerwaltlUlgsrecht, S. 29 (49 f)jeweils m.w.N. Tomuschat, in: FS fiir Kutscher, S. 461 (479), schließlich weist zutreffend daraufhin, daß sowohl die Rechtssicherheit als auch die Rechtsklarheit zu jenem Bestand an GrIUldwerten gehören, aus denen heraus sich jede öffentliche Gewalt legitimieren muß. 9 R. Wägenbaur, EuZW 1993, S. 713. 10 So Braselmann, EuR 1992, S. 55 (55). Vgl. dazu auch Achterberg, Allgemeines VerwaltlUlgsrecht, § 18 Rn. 39. 6

7

B. Die "Defizite" im einzelnen

113

die gesetzestechnische Notwendigkeit, daß Recht sprachlich abstrakt gehalten sein muß, um möglichst eine Vielz.ahl an Sachverhalten, die für sich gesehen jeweils einmalig sind, erfassen und regeln zu können. 11 Normen bzw. die sie beinhaltenden rechtlichen Begriffe sind somit - wie Recht schlechthin -, um auf einen konkreten Sachverhalt angewendet werden zu können, "auszulegen"12, da sie, weil aus sprachlichen Bestandteilen bestehend, unter hermeneutischen Aspekten unvollkommen sind. 13 Dies gilt unabhängig von der Tatsache, daß auch die Rechtstexte der Gemeinschaft zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe beinhalten, die wiederum für sich ebenfalls auslegungsfahig bzw. -bedürftig sind. 14 Nach der hier vertretenen Auffassung ist jedoch jedes in einer Rechtsnorm verwendete Wort in seinem Sinngehalt letztlich mehrdeutig und damit unbestimmt. 15 Demnach kann ein Normbefehl niemals zur Anwendung gelangen, ohne daß nicht vorher eine Auslegung der entsprechenden Norm stattgefunden hätte. Unter "Auslegung" eines Rechtstextes wird mit Larenz verstanden, daß sich der Rechtsanwender für diejenige unter mehreren möglichen Deutungen aufgrund von Überlegungen entscheidet, die gerade die getroffene Deutung als die hier "zutreffende" erscheinen läßt. 16 Recht bzw. rechtliche Begriffe und eben auch das Gemeinschaftsrecht lassen, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, stets mehrere Deutungen zu, so daß eine Auslegung unentbehrlich ist. 11 Vgl. dazu auch Kirchhof, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 18 Rn. 25 f m.w.N. Vgl. ferner Larenz, Methodenlehre, S. 211 f 12 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 211. Vgl. insgesamt zur Auslegung von Normen ders., a.a.O., S. 312 ff.; Esser, Vorverständnis lDld Methodenwahl, S. 116 ff. jeweils m. w.N. 13 Siehe die Defmition von Hermeneutik bei Larenz, Methodenlehre, S. 245. Vgl. auch Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 20 f m.w.N. 14 Vgl. dazu nur Bleckmann, in: FS fiir Kutscher, S. 25 ff. Vgl. zu den besonderen Schwierigkeiten der Mitgliedstaaten bei der Auslegung lDlbestimmter "RegellDlgen" Hansmann, NVwZ 1995, S. 320 (323 f) m.w.N. Vgl. jetzt auch zur VerwendlDlg lDlbestimmter Rechtsbegriffe im neuesten gemeinschaftsrechtlichen Lebensmittelrecht Berg, in: Novel Food, S. 111 ff. 15 So auch Achterberg, Allgemeines Verwalt\Dlgsrecht, § 18 Rn. 39: die ErmittllDlg eines bestimmten Begriffsinhalts ist daher immer das Ergebnis einer vorrangigen Interpretation, auch wenn die Notwendigkeit der interpretativen SinngeblDlg dem jeweiligen Rechtsanwender nicht bewußt ist, weil ein Rechtsbegriff häufig gebraucht oder durch RechtsprechlDlg oder Rechtslehre bereits eine eingehende Erörter\Dlg erfahren hat. Vgl. ferner Larenz, Methodenlehre, S. 201 f m.V.a. Wittgenstein. Vgl. auch ders., a.a.O., S. 206 f, zwn sog. "hermeneutischen Zirkel". Vgl. dazu ebenfalls Esser, Vorverständnis lDld Methodenwahl, S. 137. Sehr anschaulich dazu Seiffert, Hermeneutik, S. 49 f bzw. S. 211 f Vgl. schließlich auch Metallinos, S. 121. 16 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 204.

8 Püh,

114

3. Teil: "DefIZite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Durch das Erfordernis der Auslegung können aber Effizienzverluste im Hinblick auf die mit einer Norm beabsichtigte Regelungswirkung entstehen. Dieser Effekt wird in einem solchen Fall in besonderer Weise durch das Gefüge von Gemeinschaft - als Normgeber von Gemeinschaftsrecht - und den Mitgliedstaaten - als Vollziehende von Gemeinschaftsrecht - begünstigt.17 Denn die zur Rechtsanwendung berufenen mitgliedstaatlichen Organe werden dazu neigen, im Zweifel eine Norm sowohl im Rahmen des "unmittelbaren" als auch des "mittelbaren" mitgliedstaatlichen Vollzugs 18 nach eigenem Gutdünken auszulegen, und können so die Verwirklichung des in dieser Norm enthaltenen Regelungszwecks des Gemeinschaftsnormgebers gefährden oder möglicherweise sogar verhindern. Ein solches Verhalten der mitgliedstaatlichen Vollzugsorgane braucht dabei gar nicht einmal nur auf dem Streben nach Wahrung der "nationalen" Interessen beruhen, es kann seine Ursache auch schlicht in einem rechtlichen Vorverständnis haben, das sich von dem des Gemeinschaftsnormgebers unterscheidet. 19

b) Das Problem der Verbindlichkeit des EGV in allen "authentischen" Vertragssprachen (Art. 248 EGV) Der mitgliedstaatliehe Vollzug von Gemeinschaftsrecht wird erheblich erschwert durch die politische Entscheidung, daß der EGV im Gegensatz zum EGKSV, der in der französischen Sprache abgeschlossen wurde (Art. 100 EGKSV), nicht nur eine "authentische" sprachliche Fassung hat, sondern deren mehrere 20 Im Jahre 1957 wurde der damalige EWGv nach seinem Art. 248 21 in deutscher, französischer, italienischer und holländischer Sprache ("authentische "Vertragssprachen22 ) abgefaßt und war im Wortlaut jeder dieser vier "authentischen" Vertrags sprachen gleichermaßen verbindlich (Art. 248 Abs. 1 1. Siehe dazu schon oben im 1. TeillUlter B. ill. Siehe zu dieser UnterscheidlUlg oben im 2. TeillUlter C. I. 2. 19 Vgl. nur Hansmann, NVwZ 1995, S. 320 (323 f) m.w.N. Vgl. gnmdlegend zum Verhältnis von AuslegWlg lUld Vorvers1ändnis Esser, Vorverständnis lUld Methodenwahl, S. 13 6 ff. 20 Vgl. SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 32 f Vgl. auch die gnmdlegenden Ausfiihrungen über die Hintergründe einer solchen RegellUlg Hilf, Die AuslegWlg mehrsprachiger Verträge, S. 70 ff. m.w.N. 21 Jetzt: Art. 248 EGV 17

18

22 Vgl. R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 248 Rn. 1; Streinz, Europarecht, Rn. 236: "Die authentische Sprache ist die, in deren FasslUlg die GründlUlgsverträge verbindlich sind."

B. Die "Defizite" im einzelnen

115

Halbsatz EWGV 3).24 Die Regelung wurde grundsätzlich in den jeweiligen Beitrittsakten auf die Amtssprachen der später beitretenden Mitgliedstaaten erweitert. 25 Schließlich findet sich eine solche Sprachenregelung für die EEA in dessen Art. 34 und für den EUV in dessen Art. S?6 Die durch die verschiedenen "authentischen" Vertragssprachen eintretenden Textdivergenzen sind im Bereich des primären Gemeinschaftsrechts keine Seltenheit. 27 Das Problem der Verbindlichkeit des primären Gemeinschaftsrechts in allen authentischen" Sprachen besteht in vergleichbarer Weise ebenfalls für das sekundäre Gemeinschaftsrecht. 28 Von den "authentischen" Vertragssprachen gemäß Art. 248 EGV, welche für die Auslegung des primären Gemeinschaftsrechts maßgeblich sind, sind die von den Gemeinschaftsorganen zu verwendenden Amtssprachen (Art. 217 EGV) zu unterscheiden. 29 Nach Maßgabe des Art. 211 EGV hat der Rat die Sprachenfrage in der Verordnung Nr. 1 aus dem Jahre 195830 geregelt. Nach Art. 1 dieser Verordnung (i.d.g.F.) sind alle "authentischen" Sprachen bis auf Gälisch auch Amtssprachen der Gemeinschaft. 3l Gemäß ihrem Art. 4 (i.d.g.F.) ist das sekundäre Gemeinschaftsrecht in allen Amtssprachen gleichermaßen verbindlich. 32 Auch im Bereich des sekundären Gemeinschaftsrechts ergeben sich zahlreiche Textdivergenzen zwischen den unterschiedlichen sprachlichen Fassungen von Normen. 33 Jetzt: Art. 248 Abs. 1 1. Halbsatz EGV. VgI. H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 134. 25 Vgl. dazu R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 248 Rn. 1; Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 248 Rn. 1; Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 248 EGV Rn. 2; Streinz, Europarecht, Rn. 236 jeweils m.w.N. 26 Streinz, Europarecht, Rn. 236. 27 Siehe die Beispiele fiir solche Textdivergenzen im primären Gemeinschaftsrecht bei Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 248 EGV Rn. 6. 28 Streinz, Europarecht, Rn. 240. 29 R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 217 Rn. 1; SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 33. 30 Siehe die "Verordmmg Nr. 1 zur Regehmg der Sprachenfrage fiir die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" vom 15. April 1958, ABI. 1958, S. 385 f[ Diese Verordmmg wurde häufig geändert bzw. durch die jeweiligen Beitrittsakten ergänzt. Siehe dazu nur die Nachweise bei Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 217 EGV Rn. 3. 3l Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 217 EGV Rn. 3; Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 217 Rn. 1. 32 VgI. auch Streinz, Europarecht, Rn. 240. 33 Siehe dazu die Vielzahl an vor dem EuGH anhängigen Rechtssachen, bei denen sich der EuGH mit Textdivergenzen im sekundären Gemeinschaftsrecht zu beschäftigen hatte. Siehe nur den Überblick einschlägiger EuGH-Entscheidungen bei Braselmann, 23

24

116

3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaat lichen Vollzug

Fraglich ist nun, wie angesichts der gleichberechtigten Geltung der unterschiedlichen Gemeinschaftssprachen zu verfahren ist, wenn sich bei der Anwendung von primärem oder sekundärem Gemeinschaftsrecht Textdivergenzen ergeben. 34 Der EuGH geht diese sprachlichen Divergenzprobleme anband von teleologischen Auslegungserwägungen an. 35 So ist einem strittigen Begriff diejenige Bedeutung zugrunde zu legen, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrages die unterschiedlichen Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt (Art. 33 Abs. 4 WVRK).36 Dieses Vorgehen des EuGH läßt zwar auf den ersten Augenschein hin gewisse praktische Zweifel an der intendierten Gleichrangigkeit aller sprachlichen Fassungen aufkommen 3\ es ermöglicht aber, daß keine Sprache bevorzugt wird und ein an den Vertragszielen orientiertes und damit von allen Vertragsstaaten "objektiv" "gewolltes" Auslegungsergebnis erreicht wird. 38 Im übrigen verbietet die Notwendigkeit der Wahrung der "Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts" eine nach Maßgabe der verschiedenen Sprachen differenzierende Auslegung. 39

EuR 1992, S. 55 (59 ff), bzw. bei Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 248 EGV Rn. 7. 34 Vgl. dazu auch H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 134 m. w.N. 35 Vgl. Braselmann, EuR 1992, S. 55 (59 bzw. 70 ff) jeweils m.w.N. Vgl. auch R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 248 Rn. 4, Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 248 Rn. 3, bzw. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 248 EGVRn.7. 36 R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 248 Rn. 4 m.w.N.; Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 217 EGV Rn. 7, bzw. ders., a.a.O., 8. EL (Mai 1995), Art. 248 EGV Rn. 7; Streinz, Europarecht, Rn. 237. 37 Vgl. auch die sehr kritischen Anmerkungen zur Gleichrangigkeit der Sprachen bei Braselmann, EuR 1992, S. 55 (58 f). 38 Vgl. auch Weber, in: GTE, EWGV, Art. 248 Rn. 14 m.w.N.; Streinz, Europarecht, Rn. 241. Nach Magiera, in: FS fiir Morsey, S. 211 (220) m.w.N., sind die Mitgliedstaaten insoweit nicht mehr "Herren" der Gründungsverträge. 39 Vgl. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 248 EGV Rn. 6; Streinz, Europarecht, Rn. 241 jeweils m.w.N. Siehe auch EuGH, Urteil vom 12. Juli 1979, Rs. 9/79 (Koschniske/Raad van Arbeid), Slg. 1979, S. 2717 (Rn. 6). Vgl. dazu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 4 EGV Rn. 51. An dieser Stelle soll auch noch Erwähnung finden, daß die Entscheidungen des EuGH aufgrund der Notwendigkeit ihrer Übersetzung im Falle einer jeden Sprache jeweils mit leicht unterschiedlichen Entscheidungsinhalten ergehen. Vgl. dazu nur Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 4EGVRn. 52.

B. Die "Defizite" im einzelnen

117

c) Weitere Mängel

Die sprachliche Unvollkommenheit des Gemeinschaftsrechts wird durch die Art und Weise der Gesetzgebungstechnik der Gemeinschaft weiter begünstigt.40 Hierfür sind sowohl eher "materielle" Gründe wie die Kompliziertheit einer zu regelnden Materie, unterschiedliche Denkstile und Verwaltungstraditionen, aber auch die Frage nach der Korrektheit von Übersetzungen zu nennen. 41 Daneben stehen jedoch noch eher "formelle" Faktoren wie die Vielfalt der schon bestehenden Regelungen42 bzw. die Besonderheiten des der Gemeinschaftsrechtsetzung zugrunde liegenden gemeinschaftlichen Beschlußverfahrens, das die Mitwirkung mehrerer Organe und daher eine Vielzahl von Redaktoren vorsieht. 43 Der informelle Einfluß von Interessengruppen und rnitgliedstaatlichen Parlamenten kann an dieser Stelle nur erahnt werden. 44 Das Beschlußverfahren wird darüber hinaus häufig von politischen Komprornissen45 bzw. von "bloßen" Interessengegensätze überbrückenden Formeln46 bestimmt4\ die auch für geschulte Sprachjuristen eine absolute und unüberwindbare Grenze ihrer Arbeit darstellen. 48 Die auf diesen Gründen beruhende Unbestimmtheit von Gemeinschaftsnormen bereitet den mitgliedstaatlichen Vollzugsstellen große Schwierigkeiten, zumal sie kaum vorherzusehen vermögen, wie der EuGH, der letztlich über die zutreffende Art und Weise des Vollzugs entscheidet, die betreffenden Normen auslegt.49 Inwieweit sich im Hinblick auf die Klarheit der Gemeinschaftsnormen generelle Reformen und Verbesserungen einstellen, bleibt abzuwarten. Vereinzelte Ansätze werden jedoch schon sichtbar 50 40 Vgl. dazu nw- R. Wägenbaur, EuZW 1993, S. 713. 41 Vgl. Tomuschat, in: FS fiir Kutscher, S. 461 (463) m.w.N. 42 Siehe dazu auch unten unter 3. 43 Vgl. zur Gemeinschaftsrechtsetzung Siedentopf, Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 10 ff 44 Vgl. dazu auch Siedentopf, Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 10 f Vgl. zum "Lobbyistengewerbe" in Brüssel nw- Lütkehus, EU-Magazin Heft 9/1995, S. 8 ff; Platzer, Ew-opäische Zeitung Nr. 9/1995, S. 4. 45 Vgl. den "Sutherland-Bericht", S. 39. Vgl. speziell fiir den Bereich der gemeinschaftlichen Umweltpolitik Demmke, DV 1994, S. 49 (61 ff) m.w.N. 46 Vgl. Ehlermann, in: FS fiir Carstens, S. 81 (89). 47 Vgl. CooperiChild, EuZW 1994, S. 577; Hansmann, NVwZ 1995, S. 320 (321 f) m.w.N. 48 Vgl. R. Wägenbaur, EuZW 1993, S. 713. 49 Vgl. auch Hansmann, NVwZ 1995, S. 320 (321). 50 Siehe zum Beispiel die auf die Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Ew-opäischen Rates (Edinbw-gh, 11. und 12. Dezember 1992) zurückgehende "Entschließung des Rates von 8. Juni 1993 über die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen

118

3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

d) Zusammenfassung und Überlegungen zu möglichen Lösungsansätzen

Bei der hermeneutischen Bedingtheit des Rechts handelt es sich um ein strukturelles, dem Wesen des Rechts immanentes "Defizit", das eventuell hinsichtlich seiner Auswirkungen gemildert, nicht aber behoben werden kann. Recht ist stets auf die Interpretation des Rechtsanwenders angewiesen, bevor dieser es überhaupt anwenden kann. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht erfährt dabei sowohl durch das Gefüge von der Gemeinschaft als dem Normgeber und den Mitgliedstaaten als den Vollziehenden als auch durch weitere gemeinschaftliche Besonderheiten51 zusätzliche Effizienzverluste hinsichtlich der von der Gemeinschaft mit seinem Recht angestrebten Regelungszwecke. An der mehrsprachigen Verbindlichkeit von Primär- und Sekundärrecht ist bereits aus politischen Gründen kaum etwas zu ändern. Ferner wird die Begründung neuen Gemeinschaftsrechts angesichts der gestiegenen Anzahl an Mitgliedstaaten zweifelsohne auch in der Zukunft von politischen Kompromissen geprägt sein, die sich wie schon bisher nicht gerade günstig auf die klare sprachliche Fassung des Gemeinschaftsrechts auswirken werden. Auch die Forderung nach einer "gemeinschaftskonformen Auslegung"52 bzw. ihre Befolgung durch die mitgliedstaatlichen Rechtsanwender vermag die aufgezeigten strukturellen "Defizite" des Rechts nicht zu beseitigen. Denkbar ist jedoch, daß sich der Rückgriff auf bestimmte Verfahrensregelungen als geeignet erweist, die hier aufgezeigten hermeneutischen "Defizite" von Recht zumindest im Ergebnis abzuschwächen. Möglicherweise könnte so sichergestellt werden, daß das Gemeinschaftsrecht einheitlich und im Sinne des Gemeinschaftsnormgebers Rechtsvorschriften", ABI. 1993, C 166, S. 1. Nach dieser EntschließlUlg soll anhand von zehn Leitlinien auf die größere Verständlichkeit des Gemeinschaftsrechts Einfluß genommen werden. So sollen Rechtsakte lUlter anderem "klar, einfach, kurz lUld lUlzweideutig abgefaßt sein" (1. Leitlinie); es "soUte fiir einen bestimmten Gedanken stets derselbe Begriff verwendet werden" (3. Leitlinie); in den Rechtstexten sollten Wünsche lUld politische Erklänmgen vennieden werden (7. Leitlinie); schließlich sollen Unstimmigkeiten mit bestehenden Rechtsvorschriften ebenso vermieden werden "wie Wlfiötige WiederhollUlgen bestehender Rechtsakte. Jede Ändenmg, Verlängenmg oder AutheblUlg eines Rechtsaktes sollte klar zum Ausdruck kommen." (8. Leitlinie). Vgl. dazu R. Wägenbaur, EuZW 1993, S. 713; Piris, ELR 1994, S. 447 (474). Siehe aber auch die von Rat, Europäischem Parlament lUld Kommission abgegebene "Interinstitutionelle Erklänmg über Demokratie, Transparenz und Subsidiarität" vom 25. Oktober 1993, BullEG Nr. 10/1993, S. 124 ff. Siehe ferner den von der Kommission vorgelegten "Bericht über die Funktionsweise des Vertrages über die Europäische Union", SEK (95) 731 vom 10. Mai 1995, S. 36. 51 Siehe oben unter b) und c). 52 VgI. dazu Behrens, EuZW 1994, S. 289. Siehe zur "richtlinienkonfonnen Auslegung" lUlten im 4. Teil unter C. 11. 2. d) dd).

B. Die "Defizite" im einzelnen

119

von den Mitgliedstaaten ausgelegt und dann auch vollzogen wird. Es bieten sich insoweit nach dem Vorbild des Art. 177 EGV gestaltete Vorlageverfahren für mitgliedstaatliche Behörden bei der Kommission oder beim EuGH53 an oder die Herausgabe von "Mitteilungen" bzw. "Interpretationshilfen" zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Kommission. 54 Von mancher Seite wird darüber hinaus auch eine konkrete Weisungsbefugnis der Kommission in Betracht gezogen; danach wäre diese berechtigt, den Mitgliedstaaten genau vorzuschreiben, wie das Gemeinschaftsrecht auszulegen und zu vollziehen ist. 55 Diese Ansätze sollen an dieser Stelle aber nicht vertieft werden, weil sie die "materiellrechtlichen" Problemen als solche nicht zu beseitigen wissen und sie, wie bereits ausgeführt, höchstens im Ergebnis abzuschwächen vermögen. Im übrigen wird zum Teil im Rahmen der Lösungsansätze zu den "verfahrensrechtlichen" "Defiziten" noch auf sie einzugehen sein.

2. Die "Unvollständigkeit" des Gemeinschaftsrechts Sowohl das primäre als auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht insbesondere in der Form der Richtlinie ist im Hinblick auf seinen Vollzug grundsätzlich "unvollständig".56 Diese "Unvollständigkeit" kommt besonders deshalb zum Tragen, weil das von den Mitgliedstaaten zu vollziehende Gemeinschaftsrecht

53 Vgl. nm Winter, DVBl. 1991, S. 657 (666), der sogar vorschlägt, sowohl den Mitgliedstaaten als auch ihren Gliedstaaten (Regionen) und Kommunen ein Vorlagerecht entsprechend Art. 177 EGV einzW"äwnen, soweit ihnen Vollzugspflichten obliegen. Vgl. auch Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des VerwaltungshandeIns, S. 289 (319). Siehe dazu aber insgesamt auch die Ausfiihrungen unten im 4. Teil unter C. 11.4. b). 54 Vgl. dazu Tomuschat, in: FS fiir Kutscher, S. 461 (470 ff), Meier, in: FS fiir Steindorff, S. 1303 ff, Mögele, BayVBl. 1993, S. 552 (553); Klösters, S. 38 ff; AdamIWinter, in: Somces and Categories of Emopean Union Law, S. 629 (634 f) jeweils m.w.N. Siehe aber auch die weiterfiihrenden Nachweise unten unter 3. a). 55 Vgl. dazu insgesamt Rengeling, EuR 1974, S. 216 (231 ff); Tomuschat, in: FS fiir Kutscher, S. 461 (471), Schiller, RlW 1985, S. 36 ff, Scherer, EuR 1986, S. 52 (56 f), Mögele, BayVBl. 1993, S. 552 (553); Klösters, S. 27 ff bzw. S. 156 ff jeweils m.w.N. Siehe dazu auch unten unter 11. 3. b) ee). Der Schaffung einer konkreten Weisungsbefugnis fiir die Kommission stehen erhebliche Bedenken entgegen. Siehe dazu im einzelnen die Ausfiihrungen unten im 4. Teil unter B. IV. 3. 56 Vgl. dazu Ehlermann, in: FS fiir Carstens, S. 81 (90); Everling, in: FS fiir Doehring, S. 179 (188) m.w.N.; SchweitzerlHummer, Emoparecht, S. 105; Behrens, EuZW 1994, S. 289.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

zu seiner Durchführung in der Regel S7 noch der Ergänzung durch mitgliedstaatliehe Vollzugsnormen bedarf. 58 Insbesondere das System eines unverfälschten Wettbewerbs (Art. 3 lit. g EGV) erfordert einen einheitlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht. s9 Aufgrund der mitgliedstaatlichen Vollziehung kann es aber dazu kommen, daß die Ergänzung oder Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in den verschiedenen Mitgliedstaaten voneinander abweicht bzw. jeweils für sich gesehen ineffizient ausfällt. 60 Die Gefahr eines ineffizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht wird dabei dadurch ermöglicht, daß die effektive Erreichung der "gemeinschaftsfreundlichen" Zielrichtung von Normen des Gemeinschaftsrecht zumindest zunächst der Einschätzungsprärogative der Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Der beabsichtigte Normzweck kann aber nicht erreicht werden, wenn ein Mitgliedstaat schon nicht die erforderlichen rechtlichen Vollzugsvoraussetzungen schafft. 61 Die "Unvollständigkeit" des Gemeinschaftsrechts begünstigt im übrigen angesichts des die Regel darstellenden mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten in ihrem nicht zu leugnenden Bemühen, ihre mitgliedstaatlichen Souveränitätsvorbehalte sowie ihre partikularen Interessen 57 Vgl. aber auch Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, S. 924 (926 f) m.w.N., zu der umfangreichen BildWlg von "GemeinschaftsverwaltWlgsrecht". Dabei handelt es sich um solches VerwaltWIgsrecht, das von der Gemeinschaft geschaffen wurde Wld die Mitgliedstaaten bindet. 58 So Everling, in: FS für Doehring, S. 179 (188) m.w.N. Vgl. aber auch Siedentopf, Die UmsetZWlg des Gemeinschaftsrechts, S. 7; Streinz, in: Europäisches VerwaltWlgsrecht, S. 241 (243 ff); ders., in: Handbuch des Staatsrechts, Band vrr, § 182 Rn. 3; Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, S. 924 (927 f) jeweils m.w.N. Vgl. zur Rolle des EuGH in diesem Zusammenhang nur Scheuing, in: Innovation Wld Flexibilität des VerwaltWlgshandelns, S. 289 (297). Siehe auch oben im 2. Teil Wlter C. I. 2. 59 Vgl. Streinz, Handbuch des Staatsrechts, Bd. vrr, § 182 Rn. 4 m.w.N. GrWIdlegend zum "GrWIdsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts" Nettesheim, in: GS für Grabitz, S. 447 ff 60 Siehe nur EuGH, Urteil vom 21. September 1989, Rs. 68/88 (Kommission/Griechenland), Slg. 1989, S. 2965 ff In dieser EntscheidWlg hatte der EuGH eine VertragsverletZWlg Griechenlands festgestellt, weil dieser Mitgliedsstaat es versäumt hatte, die Einnahme von FinanzmitteIn der Gemeinschaft aus Zollabschöpfimgen strafrechtlich vor Betrug zu schützen. Siehe dazu jetzt den durch den EUV in das Gemeinschaftsrecht eingeführten Art. 209a EGV. Siehe zu dieser Thematik auch Wlten im 4. Teil Wlter B. IV. 2. b) cc) (3). 61 Vgl. zu möglichen Griinden für das diesbezügliche Fehlverhalten der Mitgliedstaaten Siedentopf, Die UmsetZWlg des Gemeinschaftsrechts, S. 20 f m.w.N. Siehe auch schon oben im 2. Teil Wlter C. ll. 4.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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möglichst zu wahren. 62 Vorrangige Gründe für die Einschnitte hinsichtlich eines effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ergeben sich somit insbesondere aus der gemäß Art. 189 Abs. 3 EGV "gestuften Verbindlichkeit" von Richtlinien63, wonach den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel für ihre Umsetzung überlassen bleibt. 64 Dazu kommt, daß die Mitgliedstaaten weitgehend autonom sowohl die mit dem Vollzug von Gemeinschaftsrecht befaßten Stellen65 als auch, allerdings mit Einschränkungen, das zugehörige Verfahrensrecht 66 festlegen können. Auch die "Unvollständigkeit" des Gemeinschaftsrechts läßt sich aus praktischen und rechtlichen Gründen im Ergebnis nicht beseitigen. Zu seiner Abschwächung wäre jedoch insbesondere für den Bereich des "administrativen Vollzugs"67 die verstärkte Schaffung von "Gemeinschaftsverwaltungsrecht"68 denkbar. 69 Aber auch dabei handelt es sich um einen Lösungsansatz für die Behebung "verfahrensrechtlicher" "Defizite", auf den entsprechend einzugehen sein wird. 70

3. Die "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts a) Gründe for die vermeintliche "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts Dem Gemeinschaftsrecht wird häufig vorgeworfen, daß es sich infolge des Gemenges von der Vielzahl an Rechtsquellen und der durch den EuGH als "unmittelbar anwendbar" erklärten Bestimmungen des Primär- und Sekundär-

Vgl. auch Siedentopf, Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 9. H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 458 f Vgl. dazu auch Siedentopf, Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 9; Streinz, Europarecht, Rn. 384. 64 Vgl. aber Nettesheim, in: GS für Grabitz, S. 447 (450). Vgl. dazu den "Suther62

63

land-Bericht", S. 40. 65 Vgl. dazu nur Oppermann, Europarecht, Rn. 547 m.w.N. Siehe dazu ausfiihrlieh oben im 2. Teil unter C. II. 2. d) aa). 66 Siehe auch dazu oben im 2. Teil unter C. II. 2. d) aa). 67 Siehe dazu oben im 2. Teil unter C. I. 2. bzw. unter II. 2. d) bb) (2). 68 Vgl. zum Begriff Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, S. 924 (926 f) m.w.N. Siehe auch dazu oben im 2. Teil unter C. II. 2. d) ce). 69 Vgl. dazu auch Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (289): "Die Regelungsmöglichkeiten, die das bestehende Gemeinschaftsrecht bietet, sind noch keineswegs ausgeschöpft." 70 Siehe dazu unten im 4. Teil unter B. IV. 4.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaat lichen Vollzug

rechts 7] für den Rechtsanwender in besonderer Weise als "unübersichtlich" und "ungeordnet" darstelle. 72 Insbesondere durch die EEA vom 28. Februar 1986 und den EUV vom 7. Februar 1992, aber auch aufgrund der rechtsfortbildenden Rechtsprechung des EuGH73 ist die Gemeinschaft mit zahlreichen weiteren Kompetenzen ausgestattet worden, die konsequenterweise zu einer verstärkten Normgebung durch die Gemeinschaft geführt haben. Hinzu kommt, daß die bestehenden Normen des Gemeinschaftsrechts "durch einen Wust von immer neuen Vorschriften geändert, angepaßt oder ergänzt werden, ohne daß eine neue vereinheitlichte Fassung erstellt wird. ,,74 Ein weiterer Grund für die vermeintliche Aufblähung der Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft ergibt sich daraus, daß die Kommission den mitgliedstaatlichen Verwaltungen im Hinblick auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht keine bindenden Anweisungen zu erteilen vermag.75 Dies beruht neben der Tatsache, daß die Gemeinschaft grundsätzlich über einen eigenen Verwaltungsunterbau nicht verfügf 6, auf der aus dem "Prinzip der begrenzten Ermächtigung" (Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EGV)77 abzuleitenden strikten Bindung an die Rechtshandlungsformen aus Art. 189 EGV. 78 Aus diesem Grunde ergehen viele Regelungen insbesondere im Agrarund Zollgemeinschaftsrecht in der Rechtsform der Verordnung nach Art. 189 Abs. 2 EGV, die beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland als "bloße" ermessensleitende oder normenkonkretisierende Verwaltungsvorschrift ergehen würden. 79 Die Kommission erläßt zwar auch "Mitteilungen" oder "Interpretationsvermerke", welche die Anwendung des Gemeinschaftsrechts erläutern bzw.

Siehe dazu Wlten im 4. Teil Wlter C. ll. 2. n Vgl. nur Tomuschat, in: FS für Kutscher, S. 461 (461 tI). Vgl. auch den "Sutherland-Bericht", S. 37. 73 Siehe dazu nur oben im 2. Teil Wlter C. ll. 2. c) bb) (1). 74 "Sutherland-Bericht", S. 37. 75 Vgl. nur Tomuschat, in: FS für Kutscher, S. 461 (470) m.w.N., der daraufhinweist, daß es eben keine Gemeinschaftsaufsicht gibt, die zum Beispiel mit der nach Art. 84 GG in der BWldesrepublik Deutschland bestehenden BWldesaufsicht vergleichbar wäre. Vgl. auch Bruha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (307) m.w.N. Siehe zu dem hier angesprochenen Problemkreis im übrigen auch Wlten Wlter ll. 3. b) ee). 76 Siehe dazu bereits oben im 2. Teil Wlter C. I. 2. 77 Vgl. dazu nur Schwarze, Europäisches VerwaltWlgsrecht, Bd. I, S. 238 m.w.N.; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 4 Rn. 15. Siehe aber auch die Nachweise oben im 2. Teil Wlter C. I. 3. 78 Vgl. dazu Mögele, BayVBI. 1993, S. 552 (553); Klösters, S. 35 tI jeweils m.w.N. 79 Vgl. dazu Rengeling, EuR 1974, S. 216 (233); Tomuschat, in: FS für Kutscher, S. 461 (470 f) m.w.N.; Bruha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (307); Mögele, BayVBI. 1993, S. 552 (553). Vgl. aber auch H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 220. 7\

B. Die "Defizite" im einzelnen

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erleichtern sollen, diese sind jedoch aus den genannten Gründen rechtlich nicht verbindlich. 80 Durch die stetig wachsende Kodifizierung von Gemeinschaftsrecht, aber auch und in nicht unwesentlichem Maße durch die Rechtsprechung des EuGH einerseits zur Begründung der "unmittelbaren Anwendbarkeit" von bestimmten Normen des Primär- und Sekundärrechts, andererseits zur Pflicht der Mitgliedstaaten zur "richtlinienkonformen" Auslegung von mitgliedstaatlichem Recht81 entsteht im Laufe der Zeit eine zunehmende Fülle von Bestimmungen, welche die mitgliedstaatlichen Verwaltungen neben dem ohnehin bestehenden mitgliedstaatlichen Recht zwingend zu beachten haben. 82 Der Eindruck der "Ungeordnetheit" wird dabei insbesondere durch die Rechtsprechung des EuGH zur "unmittelbaren Anwendbarkeit" von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen verschärft. Nach Scheuing bestehen sogar "anarchische Züge" im Hinblick darauf, was im Vergleich zur Vergangenheit gerade den mitgliedstaatlichen Verwaltungen im Bereich der Rechtsanwendung aufgrund den mit der "unmittelbaren Wirkung" von Richtlinien bzw. mit der Pflicht zur "richdinienkonformen" Auslegung zusammenhängenden behördlichen Prüfungs- und Nichtanwendungspflichten gegenüber mitgliedstaatlichem Recht abverlangt wird. 83 Zumindest dem Argument von der Nichtvorhersehbarkeit der Rechtsprechung des EuGH zur "unmittelbaren Wirkung" von Richtlinienbestimmungen ist jedoch entgegenzuhalten, daß es nicht die Gemeinschaft, sondern regelmäßig die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber selbst sind, die diese schwierige Situa80 Siehe EuGH, Urteil vom 18. Juni 1970, Rs. 74/69 (Hauptzollamt Bremer FreihafenlWaren-Import-Gesellschaft Krohn & Co.), Slg. 1970, S. 451 (Rn. 9). Aus neuerer Zeit siehe EuGH, Urteil vom 9. Oktober 1990, Rs. C-366/88 (FrankreichIKommission), Slg. 1990 I, S. 3571 (Rn. 25); EuGH, Urteil vom 13. November 1991, Rs. C-303/90 (FrankreichIKommission), Slg. 1991 I, S. 5315 (Rn. 35). Vgl. dazu auch Tomuschat, in: FS fiir Kutscher, S. 461 (470); Scherer, EuR 1986, S. 52 (56 f); Mögele, BayVBI. 1993, S. 552 (553); Klösters, S. 38 ff.; AdamIWinter, in: Sources and Categories of European Union Law, S. 629 (641 f) jeweils m.w.N. Insbesondere Scherer, a.a.O., S. 72 ff., und Klösters, a.a.O., S. 40 m.w.N., verweisen aber auf eine faktisch verbindliche Wirkung in Bereichen, in denen die Einhaltung der Mitteilungen fiir die Mitgliedstaaten mit vorteilhaften fmanziellen Konsequenzen verbunden ist. Siehe dazu auch unten im 4. Teil unter B. IV. 1. b) dd). 81 Siehe hier nur EuGH, Urteil vom 10. April 1984, Rs. 14/83 (von Colson und Kamann/Nordrhein-Westfalen), Slg. 1984, S. 1891 (Rn. 26). Siehe aber unten im 4. Teil unter C. ll. 2. d) dd). 82 Vgl. zu den daraus resultierenden Problemen fiir die mitgliedstaatlichen Rechtsanwender Jarass, NJW 1991, S. 2665 (2665 f); Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (932 f); Mögele, BayVBI. 1993, S. 552 (553) jeweils m.w.N. 83 Vgl. dazu auch Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des VerwaltungshandeIns, S. 289 (319).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

tion für ihre Verwaltungen wiederholt durch die nicht fristgerechte bzw. die ineffiziente Umsetzung von Richtlinien heraufbeschworen haben. 84

b) Die "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts und das Rechtsstaatsprinzip in der Gemeinschaft

Aufgrund der "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts85 könnten die mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden vermehrt dazu neigen, sich nach eigenem "Belieben" die ihnen genehme Rechtsgrundlage zur Vornahme eines Rechtsaktes auszusuchen ("Gefahr der selektiven Gesetzmäßigkeit").86 Auch eine ministerielle Empfehlung an die eigenen Verwaltungsbehörden, wie im Falle einer nicht umgesetzten Richtlinie diese "unmittelbar anzuwenden" ist, mag zwar den Bedürfnissen der Verwaltungspraxis genügen, stellt aber keine grundsätzliche Lösung des aufgeworfenen Problems dar. 87 Die dargestellte Situation steht im krassen Gegensatz zu den Grundsätzen des "Vorbehalts der Norm" 88 und der "Normbindung der Verwaltung" 89 der mitgliedstaatlichen 84 Vgl. jetzt aber zu der vom EuGH für die BegriindWlg eines individuellen Schadensersatzanspruchs gegen einen Mitgliedstaat aufgestellten VoraussetZWlg des "hinreichend qualifizierten Verstoßes" des Mitgliedstaates gegen das Gemeinschaftsrecht EuGH, Urteil vom 5. März 1996, verb. C-46 u. 48/93 (Brasserie du pecheur SN Deutschland bzw. The QueenlSecretary ofState for Transport, ex parte: Factortame Ud u.a.), abgedruckt, in: Tätigkeiten Nr. 7/1996, S. 3 (5 f). Danach ist bei der Frage nach der Haftung eines Mitgliedstaat gegenüber einem Individuum wegen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht Wlter anderem auch "daß Maß an Klarheit Wld Genauigkeit der verletzten Vorschrift" zu beachten. Allerdings lagen dieser Rechtssache Verstöße gegen das primäre Gemeinschaftsrecht zugrunde. 8S Vgl. dazu auch die anschaulichen Beispiele bei Pagenkopf, NVwZ 1993, S. 216 (217 ff). 86 Vgl. dazu Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (932 f). Dieser gelangt vor dem aufgezeigten Hintergrwtd zu der Frage, ob ein weiterer Ausbau der "unmittelbaren WirkWlg" von RichtlinienbestimmWlgen noch vertragsgemäß bzw. von der mitgliedstaatlichen Ratifizierung gedeckt ist. 87 Vgl. Pagenkopf, NVwZ 1993, S. 216 (217 f); Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (932). 88 Siehe zum Prinzip des "Vorbehalts der Norm" im Gemeinschaftsrecht EuGH, Urteil vom 21. September 1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst AGlKommission), Slg. 1989, S. 2859 (Rn. 19). Vgl. zu den Besonderheiten im Gemeinschaftsrecht Schwarze, Europäisches VerwaltWlgsrecht, Bd. I., S. 238 ff Vgl. aber auch Zuleeg, in: Europäische Einigwtg Wld Europäisches Strafrecht, S. 41 (47) m.w.N. Vgl. schließlich Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (32): "Vorbehalt der Spezialermächtigwtg". 89 Siehe zum Grundsatz der "NormbindWlg der VerwaltWlg" im Gemeinschaftsrecht EuGH, Urteil vom 21. September 1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst AGlKommission), Slg. 1989, S. 2859 (Rn. 19).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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Verfassungen, welche aber auch zumindest grundsätzlich dem gemeinschaftlichen Rechtsstaatsprinzip90 zu entnehmen sind. Gerade jene Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips stehen mit der Forderung nach der Übersichtlichkeit des Gemeinschaftsrechts in einem engen, sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang. Andernfalls würde der generelle rechtsstaatliche Grundsatz, wonach jeder Eingriff der öffentlichen Gewalt in die Sphäre eines Bürgers einer Rechtsgrundlage bedarf und durch die gesetzlich vorgesehenen Gründe auch gerechtfertigt sein muß, quasi aufgehoben. 91 Eine vergleichbare Situation kann sich ebenfalls auf der Ebene der Gemeinschaft ergeben, wobei hier das in erster Linie die Souveränität der Mitgliedstaaten schützende "Prinzip der begrenzten Ermächtigung"92 betroffen iSt. 93 Gemeint sind die sogenannten "Rechtsgrundlagenstreite".94 Mit der diesen Streitfrulen zugrunde liegenden Problematik, die durch die Verabschiedung der EEA als auch des EUV noch verschärft wurde95 , hat es folgende Bewandtnis. 96 Zunächst gilt es zu beachten, daß sowohl durch die EEA als auch den EUV für bestimmte Fälle der Setzung von Sekundärrecht neue qualifizierte Arten der Beteiligung des Europäischen Parlaments am Rechtsetzungsverfahren einge90 VgL zum gemeinschaftlichen Rechtsstaatsprinzip sowie zu den durch den EuGH entwickelten rechtsstaatlichen Garantien im VetWaltungsverfahren Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 282 ff.; Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (24 ff.); SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 198 f; GilsdorflBooß, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 43 EGV Rn. 19 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 369 ff. jeweils m. w.N. Der EuGH hat die Geltung des Rechtsstaatsprinzips im Gemeinschaftsrecht ausdrücklich anerkannt. Siehe nur EuGH, Urteil vom 13. Februar 1979, Rs. 101178 (GranarialHoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten), Slg. 1979, S. 623 (Rn. 5). Nach Grabitz, in: GlE, EWGV, Art. 1 Rn. 47 m.w.N., sollte in diesem Kontext jedoch der Begriff "Rechtsprinzip" verwendet werden, um auf diese Art und Weise zu verdeutlichen, daß es sich bei der Gemeinschaft nicht um einen (Bundes-) Staat handelt. Vgl. schon Zuleeg, in: FS für Carstens, S. 289 (299) m.w.N. Vgl. auch SchereriZuleeg, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 197 (200);· Scholz, in: FS für Steindorff, S. 1413 (1415 f). 91 Siehe auch EuGH, Urteil vom 21. September 1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst AGlKommission, Slg. 1989, S. 2859 (Rn. 19). Vgl. dazu Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (26) m.w.N. 92 Siehe dazu oben unter a). 93 Vgl. dazu Kraußer, S. 27 f; HSVE, S. 194. 94 Vgl. insgesamt Scheuing, in: FS für Börner, S. 377 ff. mit vielen VetWeisen auf die diesbezügliche Rechtsprechung des EuGH. Vgl. auch Kraußer, S. 47 f; Röttinger, EuZW 1993, S. 117 ff. m.w.N. Siehe im übrigen auch die Nachweise auf einschlägige EuGH-Entscheidungen bei HSVE, S. 194 ff. 95 Vgl. dazu HSVE, S. 194. 96 Vgl. dazu nur HSVE, S. 194.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

führt worden sind. 97 Zusätzlich wurden zum Teil neue Regelungen über die Anforderungen an die Art der Mehrheitsentscheidung im Rat geschaffen. Beabsichtigt die Gemeinschaft nun, einen Rechtsakt zu erlassen, und konkurrieren zwei Kompetenzgrundlagen scheinbar miteinander, so hat das Ergreifen einer dieser Kompetenzgrundlagen möglicherweise gravierende verfahrensrechtliche Konsequenzen für die einzelnen Gemeinschaftsorgane. Insbesondere die Beteiligung des Europäischen Parlaments kann sich qualitativ erheblich reduzieren. 98 Darüber hinaus können je nach gewählter Rechtsgrundlage unterschiedliche Mehrheiten im Rat erforderlich sein. 99 Schließlich kann die Wahl einer Rechtsgrundlage auch für die Möglichkeit abweichender mitgliedstaatlicher Sonderregelungen bedeutsam sein. 10o Aufgrund der genannten Unterschiede kann ein Rechtsakt somit nicht auf beide Normen abgestützt werden. 101 Die auftretenden Unklarheiten können in der Regel jeweils nur durch eine Entscheidung des EuGH beseitigt werden. 102

c) Zusammenfassung und Lösungsansätze Bei der hier aufgezeigten Problematik handelt es sich um eine "technische", welche auf der relativ unübersichtlichen Struktur der Gemeinschaftsrechtsordnung als solcher beruht. Insofern ist das dem Recht aus hermeneutischer Sicht immanente Wesen nur mittelbar betroffen. In jedem Fall kann die "Ungeordnetheit" des Gemeinschaftsrechts wesentlich dazu beitragen, daß sein Vollzug nicht zu der von der Gemeinschaft im konkreten Fall beabsichtigten Wirkung führt, weil der Vollziehende einfach große Schwierigkeiten haben kann bei der 97 Durch die EEA wurde das "Verfahren der Zusammenarbeit mit dem Parlament" gemäß Art. 149 EWGV (jetzt: Art. 189c EGV) eingeführt, durch den aN das "Verfahren der MitentscheidWlg" gemäß Art. 189b EGV. Vgl. dazu nur den Überblick bei He/meier, in: Lenz, EG-Vertrag, VorbemerkWlg zu Art. 189b - 189c Rn. 1 ff. 98 Anschaulich aus jüngster Zeit: EuGH, Urteil vom 26. März 1996, Rs. C-271194 (Europäisches ParlamentJRat), abgedruckt, in: Tätigkeiten Nr. 10/1996, S. 9 ff. Vgl. im übrigen nur Rötfinger, EuZW 1993, S. 117 (117) m.w.N. 99 Siehe dazu nur EuGH, Urteil vom 11. JWli 1991, Rs. C-300/89 (KommissionlRat), Slg. 1991 I, S. 2867 (2896 ff.). Zum Verständnis ist zu ergänzen, daß der alte Art. 130s Abs. 1 EWGV einen einstimmigen Beschluß des Rates erforderte. 100 Vgl. zum Beispiel zu den Wlterschiedlichen AnfordefWlgen von Art. 100a Abs. 4 bzw. Art. l30t EGV Jarass, EuZW 1991, S. 530 (532 f); Middeke, DVBI. 1993, S. 769 (770). 101 Middeke, DVBI. 1993, S. 769 (770) m.w.N. 102 Vgl. aber zum Beispiel die Kritik von Jarass, EuZW 1991, S. 530 (531) an EuGH, Urteil vom 11. JWli 1991, Rs. C-300/89 (KommissionlRat), Slg. 1991 I, S. 2867 (2896 ff.).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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Auswahl der einschlägigen Vollzugsnorm. Mögliche Verstöße gegen das dem Gemeinschaftsrecht immanente Rechtsstaatsprinzip wiegen zwar schwer, stehen aber nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der vorliegenden Abhandlung. Sie verdeutlichen jedoch die weitere Dimension der aus der "Ungeordnetheit" herrührenden Fragwürdigkeiten. Es sollte hier jedoch deutlich geworden sein, daß die nicht zu unterschätzende Gefahr besteht, daß das Gemeinschaftsrecht durch die Normenflut bzw. durch seine Unübersichtlichkeit Abstriche in seiner Funktion als Steuerungsinstrument hinnehmen muß und daher hinsichtlich seiner einheitlichen Wirksamkeit (weiter) eingeschränkt wird. 103 Ein sinnvoller Lösungsansatz für die Beseitigung der Zersplitterung des Gemeinschaftsrechts besteht in der sog. "deklaratorischen Kodifizierung".I04 Danach werden von der Kommission informelle Texte erstellt, bei denen die verschiedenen aufeinanderfolgen den Änderungen in den ursprünglichen Rechtstext eingefügt werden. Erstrebenswert ist jedoch die systematische "konstitutive Kodifizierung", wonach nicht nur deklaratorische Rechtstexte geschaffen werden, sondern neue Rechtsakte, die den ursprünglichen Text des früheren Rechtsaktes mit allen späteren Änderungen zum Gegenstand haben. lOS So könnten die im Laufe der Zeit durch die Änderungen entstandenen Widersprüche innerhalb eines Rechtstextes beseitigt werden. 106 Darüber hinaus hatte die Kommission im September 1994 eine Gruppe hochkarätiger Sachverständiger unter Leitung des Deutschen Molitor beauftragt, die Möglichkeiten der Vereinfachung des Gemeinschaftsrechts, aber auch der einzelstaatlichen Vorschriften in bestimmten Rechtsbereichen zu überprüfen, um so einer Überreglementierung vorzubeugen. In ihrem Bericht vom 21. Juni VgI. dazu auch Holtschneider, S. 19 m.w.N. VgI. dazu den "Sutherland-Bericht", S. 38. VgI. auch mit einem Beispiel für eine "deklaratorische Kodifizierung" Phi[jpp, EuZW 1993, S. 329. 105 VgI. dazu den "Sutherland-Bericht", S. 38 m.w.N. Vgl. auch hier Wlter Verweis auf entsprechende Aktivitiiten der Gemeinschaft Phi[jpp, EuZW 1993, S. 329. Siehe dazu ZWlächst die "Folgernaßnahmen zum Sutherland-Bericht. Legislative Konsolidierung zur VerstiirkWlg der Transparenz des Gemeinschaftsrechts im Binnenmarktbereich. MitteilWlg der Kommission", KOM (93) 361 endg. vom 16. Dezember 1993. Vgl. außerdem die "Interinstitutionelle VereinbafWlg vom 20. Dezember 1994 über ein beschleWligtes Arbeitsverfahren für die amtliche Kodifizierung von Rechtstexten (96/C 102/02)", ABI. 1996, C 102, S. 2 f (berichtigte FassWlg). Siehe aber zum seit dem Treffen des Europäischen Rates von Edinburgh erreichten aktuellen Stand der "konstitutiven Kodifikation" SEK (95) 731 endg., Anlage 12. Siehe ferner KOM (95) 238 endg., S. 24 f 106 VgI. aber zu den dabei bestehenden Schwierigkeiten den "Sutherland-Bericht", S. 39; Phi[jpp, EuZW 1993, S. 329. 103 104

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

1996 hat die Gruppe unter anderem vorgeschlagen, die oben angeführte "Kodifikation" durch die Kommission zu beschleunigen (Vorschlag 1). Ferner gab die Gruppe Hinweise dafür, wie das gemeinschaftliche Rechtssetzungsverfahren transparenter zu gestalten sei (Vorschläge 7 ff.). Schließlich wurde em~ fohlen, daß die Kommission die Gesamtverantwortung für die Vereinfachung der Rechtsvorschriften einem ihrer Mitglieder überträgt und diesem eine zentrale Koordinierungsstelle zur Seite stellt (Vorschlag 18).107 Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die Kommission diese in die richtige Richtung gehenden Vorschläge befolgen wird. lOS Um dem Rechtsanwender die Einhaltung des Gebots der "richtlinienkonformen" Auslegung zu erleichtern, sehen die neueren Richtlinien regelmäßig vor, daß in den rnitgliedstaatlichen Vorschriften, die zur Umsetzung einer Richtlinie ergehen, auf die entsprechende Richtlinie hingewiesen wird. l09 So findet sich bei der Publikation deutscher Umsetzungsvorschriften in einer Fußnote ein Verweis auf die Richtlinie, die umgesetzt werden soll. Jedoch ist diese Erleichterung nur von begrenzter Reichweite, da sie lediglich die Auslegung entsprechend umgesetzter Richtlinien betreffen kann. Ansonsten ist festzustellen, daß insbesondere im Hinblick auf die Beseitigung der durch die "unmittelbare Wirkung" von Richtlinien und Entscheidungen eintretenden Unübersichtlichkeit des Gemeinschaftsrechts der einzige diese abstellende Lösungsweg nur darin bestehen kann, daß die Mitgliedstaaten ihren gemeinschaftsrechtlichen Pflichten in vertragskonformer Weise nachkommen und Richtlinien und Entscheidungen rechtzeitig und effektiv vollziehen.

107 Siehe dazu im einzelnen "Bericht der unabhängigen Experten für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Zusammenfassung und Vorschläge", KOM (95) 288 endg. vom 21. Juni 1995, S. 4 ff. Vgl. auch Schulte-Braucks, EuZW 1995, S. 621. 108 Vgl. dazu auch die "Bemerkungen der Kommission zum Bericht der Gruppe der unabhängigen Sachverständigen für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften", SEK (95) 2121 endg. vom 29. November 1995. Siehe zu den jüngsten konkreten Ansätzen der Kommission ("Simpler Legislation for the Interna I Market") nun "Vereinfachung der Rechtsvorschriften im Binnenmarkt (SLlM): Ein Pilotprojekt. (Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament.)", KOM (96) 204 endg. vom 8. Mai 1996. Demnach soU ein Expertenteam, welches sich aus einem Kommissionsvertreter und aus Vertretern der nationalen Verwaltungen sowie der von den entsprechenden Rechtsvorschriften Betroffenen zusammensetzt, bis zum Ende November 1996 konkrete Vorschläge für die Rechtsvereinfachung in vier ausgewählten Bereichen vorlegen. 109 Vgl. Jarass, Grundfragen, S. 63 m.w.N.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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4. Zwischen betrachtung im Hinblick auf die gewählte ThemensteIlung Neben der Darstellung der "materiellrechtlichen" "Defizite" des Gemeinschaftsrechts wurden bereits teilweise auch diverse Lösungs- bzw. Reformansätze aufgezeigt. Hier sind insbesondere die Maßnahmen von Rat und Kommission zur Verbesserung der Verständlichkeit des sekundären Gemeinschaftsrechts bzw. zur Beseitigung von Widersprüchen zwischen Normen durch Ansätze zu einer Konsolidierung des Gemeinschaftsrechts hervorzuheben. Im Rahmen dieser Abhandlung liegt der Schwerpunkt jedoch auf den "verfahrensrechtlichen" "Defiziten" bzw. entsprechenden Lösungsansätzen. Daher soll es mit der hier vorangehenden Darstellung sein Bewenden haben. Es sollte aber deutlich geworden sein, welchen Einflüssen der Vollzug von Gemeinschaftsrecht zumindest mittelbar unterliegt.

ll. Die "verfahrensrechtlichen" oder die auf der Struktur der Gemeinschaft beruhenden "Defizite" des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht 1. Zur Bedingtheit der "verfahrensrechtlichen" "Def"lZite" durch die Struktur der Gemeinschaft

Wenn die Mitgliedstaaten beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht Vertragsverletzungen begehen, so kann dies auf die "Defizite"110 zurückzuführen sein, die hier als "verfahrensrechtliche" bezeichnet werden. Die "verfahrensrechtlichen" "Defizite" beruhen ihrerseits auf der Struktur der Gemeinschaft. Das heißt, sie ergeben sich zwangsläufig aus dem durch die Mitgliedstaaten im EGV geschaffenen Verhältnis von Gemeinschaft als dem Normgeber und den Mitgliedstaaten als den in der Regel Gemeinschaftsrecht Vollziehenden. lll Dieses Verhältnis wird im EGV näher ausgestaltet. Es geschieht im "positiven" Sinne, indem bestimmte Regelungen zum Beispiel zur Art und Weise der Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs durch die Kommission (Art. 155 UAbs. 1 EGV) eingeführt wurden ll2 , aber auch im "negativen" Sinne, indem bewußt 110 Vgl. zum Begriff der "venahrensrechtlichen Defizite" aber auch Scherer, EuR 1986, S. 52 (54 ff). Scherer bezeichnet damit allerdings lediglich solche Probleme, die aufgnmd der nur eingeschränkten gemeinschaftsrechtlichen Einflußnahme auf den "administrativen" mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht entstehen. III Siehe dazu oben im 1. TeillDlter B. III. bzw. im 2. Teil unter C. I. 2. 112 Vgl. an dieser Stelle dazu nur Klösters, S. 86 f; Jarass, Gnmdfragen, S. 106 ff jeweils m.w.N. Siehe aber IDlten IDlter 3.

9 Pühs

130

3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

beispielsweise irgendeine Form von physischem Zwang im Verhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten keinen Eingang in den EGV gefunden hat113 . Insoweit beruhen die vermeintlichen "verfahrensrechtlichen" "Defizite" obendrein auf den politischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten. Jedoch könnte man auch anders formulieren und diese "Defizite" dem fehlenden politischen Willen der Mitgliedstaaten zuschreiben, die Gemeinschaft mit allen notwendigen Kompetenzen, die für die Gewährleistung eines effektiven und einheitlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht erforderlich wären, auszustatten. Auf letzteres soll an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden.

2. "Das Nebeneinander der verschiedenen mitgliedstaatlichen und der gemeineuropäischen Dogmatik des Verwaltungsgeschehens" oder das Fehlen eines gemeinschaftlichen allgemeinen Verwaltungsrechts Neben den "materiellrechtlichen" Schwächen, denen Recht schlechthin und das Gemeinschaftsrecht im besonderen unterliegt, wird ein "Defizit" des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht dadurch begründet, daß das zu vollziehende Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten auf sowohl unterschiedlich strukturierte Verwaltungsorganisationen als auch unterschiedlich strukturierte Verwaltungstraditionen und -rechtsordnungen trifft. 114 Da solche Unterschiede den einheitlichen Vollzug des ausschließlich final- bzw. ergebnisorientierten ll5 , d.h. auf Errichtung und Funktionieren des Gemeinsamen bzw. des Binnenmarktes abzielenden Gemeinschaftsrechts unmittelbar tangieren, handelt es sich insoweit zugleich um ein "verfahrensrechtliches" "Defizit" im Sinne dieser Ausarbeitung. Zur Veranschaulichung sei auch auf die bekannte Aussage von Bachof aus dem Jahre 1971 verwiesen; dieser konnte sich nicht vorstellen, "daß auf lange Sicht eine deutsche, eine französische, eine italienische usw. und überdies eine gemeineuropäische Dogmatik des Verwaltungsge-

113 Vgl. dazu Ehlermann, in: FS für Carstens, S. 81 (83) m.w.N. Siehe dazu aber auch lUlten im 4. Teil lUlter B. IV. 2. b) cc) (4). 114 Vgl. dazu auch Tomuschat, in: FS für Kutscher, S. 461 (463). Siehe zur relativ begrenzten gemeinschaftlichen Einflußnahme auf das mitgliedstaatliche VerwaltlUlgsorganisations- bzw. -verfahrensrecht schon die Ausfiihnmgen oben im 2. Teil lUlter C. 1I. 2. d) (2). 115 Vgl. dazu Müller-Graff, in: Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, A 1., Rn. 58 f m.w.N.; Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (19 f); Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931); Rengeling, VVDStRL Bd. 53 (1994), S. 202 (222 f); Schoch, JZ 1995, S. 109 (115 bzw. 117) m.w.N. Siehe aber zu den rechtlichen Grenzen der Ergebnisorientief\Ulg des Gemeinschaftsrechts lUlten lUlter C.

B. Die "Defizite" im einzelnen

131

schehens unvermittelt nebeneinander bestehen könnten" .116 Allein aufgrund dieses Umstandes kann es beim verwaltungsmäßigen Vollzug von Gemeinschaftsrecht in und durch die Mitgliedsstaaten ganz unabhängig von einem mitgliedstaatlichen vertragswidrigen Vollzugsverhalten zu völlig unterschiedlichen Vollzugsergebnissen kommen. 117 Begünstigt werden die hier angedeuteten Abweichungen von den Forderungen nach einem gemeinschaftsweit einheitlichen Vollzug durch den Einsatz des Instruments der Richtlinie (Art. 189 Abs. 3 EGV). Gerade die Richtlinie wurde nämlich in der Absicht geschaffen, um den mitgliedstaatlichen Besonderheiten nicht zuletzt im Bereich der Verwaltung Rechnung zu tragen. 118 Festzustellen bleibt, daß fünfundzwanzig Jahre nach der Aussage von Bachof zumindest im Bereich des von den Kompetenzen der Gemeinschaft erfaßten besonderen Verwaltungs rechts der Mitgliedstaaten große Teile "in Brüssel" verabschiedet worden sind. ll9 Doch hat die Gemeinschaft auch auf das mitgliedstaatliche allgemeine Verwaltungsrecht einen nicht unbeträchtlichen Einfluß genommen. 120 Ferner fällt es den Mitgliedstaaten natürlich immer schwerer, sich den faktischen Anpassungszwängen zu entziehen 121 und in jedem Fall eine eigenständige Verwaltungsrechtsdogmatik aufrechtzuerhalten. Der Argumentations- und der Arbeitsaufwand der mitgliedstaatlichen Verwaltungen für die unterschiedliche Behandlung von Fällen, je nachdem, ob ein Gemein116 Bachof, VVDStRL Bd. 30 (1971), S. 193 (236). Vgl. dazu auch Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (950). 117 Vgl. zur Kritik an der Dominanz des mitgliedstaatlichen allgemeinen Verwaltungsrechts beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht auch Scherer, EuR 1986, S. 52 (56); differenzierend Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (287 f) m.w.N. Sie-he auch EuGH, Urteil vom 21. September 1983, verb. Rs. 205-215/82 (Deutsche Milchkontor GmbH u.a./Deutschland), Slg. 1983, S. 2633 (Rn. 17). In der hier genannten Passage der Entscheidung des EuGH spiegelt sich ebenfalls die Sorge um die Ge-fahren eines nicht einheitlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten wider. 118 Vgl. zur Rechtsnatur und den mit dem Instrument der Richtlinie verbundenen Eigenheiten nur Grabitz, in: Grabitz/HilJ, Kommentar zur EU, EL 5 (September 1992), Art. 189 EWGV Rn. 51 ff. m.w.N. Vgl. zu den mit der Richtlinie verbundenen hier einschlägigen Problemen auch Schäfer, DÖV 1991, S. 261 (265) m.w.N. 119 Siehe nur die zahlreichen Nachweise bei Schoch, JZ 1995, S. 109 (109 ff.). 120 Siehe die zahlreichen Nachweise bei Schoch, JZ 1995, S. 109 (lU ff.). Vgl. ferner Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (930); Nettesheim, JURA 1994, S. 337 (342 f) jeweils m.w.N. Vgl. schließlich auch Streinz, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (289 ff.) m.w.N., zu den noch vorhandenen "Kompetenzreserven fur gemeinschaftliche Regelungen des allgemeinen Verwaltungsrechts". 12\ Vgl. Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (936).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

schaftsrechtsbezug mit entsprechenden normativen Auswirkungen vorliegt oder nicht, nehmen nämlich ständig zu.

3. Die Ausgestaltung der Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Kommission ("zentrale" Kontrolle) a) Die Bestandteile und das Wesen der ''zentralen'' Kontrolle Unter "zentraler" Kontrolle soll in diesem Kontext die Art und Weise verstanden werden, wie die Gemeinschaft den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten überprüft. Es liegt dabei insoweit ein "verfahrensrechtliches" "Defizit" vor, weil hier davon ausgegangen wird, daß sich die Art der Vornahme der gemeinschaftlichen Vollzugskontrolle in einer noch darzustellenden Weise auf das Vollzugsverhalten der Mitgliedstaaten auswirkt. 122 Gemäß Art. 155 UAbs. 1 EGV obliegt es der Kommission als "Hüterin der Verträge"123, "für die Anwendung dieses Vertrages sowie der von den Organen auf Grund dieses Vertrags getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen".124 Konkret besteht ihre Aufgabe darin, die Aufsicht über die Anwendung des gesamten Gemeinschaftsrechts 125 gegenüber anderen Gemeinschaftsorganen, den Mitgliedstaaten und den an das Gemeinschaftsrecht gebundenen privaten Marktteilnehmern auszuüben. 126 Im Rahmen der hier vorliegenden Abhandlung wird der Schwerpunkt allerdings auf die Aufsicht über den verwaltungsmäßigen Vollzug von Gemeinschaftsrecht als auch über die Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten gesetzt. Die Aufsicht über den mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug von Gemeinschaftsrecht obliegt aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zunächst grundsätzlich letzteren. 127 Jedoch nimmt die Vgl. dazu nur Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (205 bzw. 206 ff) m.w.N. Vgl. nur Siedentopf, Die UmsetZ\Dlg des Gemeinschaftsrechts, S. 28; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 155 Rn. 6; Breier, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 155 Rn. 3. 124 Vgl. dazu ausführlich Hummer, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 2 (November 1988), Art. 155 EWGV Rn. 5 ff m.w.N. Vgl. ferner schon Conrad, S. 179 f bzw. S. 184 ff 125 Hummer, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 2 (November 1988), Art. 155 EWGV Rn. 5. Die Formulienmg "dieses Vertrags" in Art. 155 UAbs. 1 EGV ist insoweit zu eng. 126 Vgl. nur Breier, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 155 Rn. 3 m.w.N. 127 VgI. Weber, Rechtsfragen, S. 64. Vgl. ders., a.a.O., S. 67 ff für die Situation in der Bundesrepublik Deutschland 122

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B. Die "Defizite" im einzelnen

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Kommission gleichsam darüberstehend die "zentrale" Kontrolle über den mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug in der Form der "Rechtsaufsicht"128 wahr. Diese erstreckt sich ihrem Inhalt nach (lediglich) auf die Überprüfung der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten. 129 Keinesfalls ist die Kommission berechtigt, das Verwaltungsvollzugsverhalten der Mitgliedstaaten einer Zweckmäßigkeitskontrolle zu unterwerfen ("Sach-" oder "Fachaufsicht").13o Die Beschränkung der Aufsichtsrechte der Kommission liegt darin begründet, daß die Mitgliedstaaten ihre Vollzugsaufgaben nicht als untere Ebene einer hierarchisch geordneten gemeinschaftlichen Gesamtorganisation erfüllen, sondern weiterhin als unabhängige Verwaltungsträger fungieren, die bzw. deren Organe insoweit lediglich dem Recht unterworfen sind. 131 Im Rahmen der Kontrolle der ausreichenden Umsetzung von Richtlinien in mitgliedstaatliches Recht beschränkt sich die Kommission in der Regel auf eine inhaltliche Prüfung der Texte der entsprechenden von den Mitgliedstaaten vorgenommenen Rechtsakte. 132 Die einzige Möglichkeit der Kommission, den vertragsgemäßen Vollzug von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten sicherzustellen, ist das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV. 133 Um dieses Aufsichtsmittel effizient wahrnehmen zu können, ist sie auf einschlägige Informationen angewiesen. 134 So bedient sich die Kommission zunächst der im Gemeinschaftsrecht geregelten Berichts- und Übermittlungspflichten der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus kann die Kommission gern. Art. 213 EGV im Rahmen und nach Maßgabe des Rates gegenüber Einzelpersonen und Unternehmen alle erforderlichen Auskünfte einholen bzw. Nachprüfungen vornehmen, soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben dient bzw. dafür notwendig ist. 135 Eine entsprechende auf die Vgl. zum Begriff H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 22l. So auch Hummer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 2 (November 1988), Art. 155 EWGV Rn. 7 m.w.N.; Klösters, S. 86. 130 Vgl. Klösters, S. 86 f m.w.N. 128 129

III In

Klösters, S. 86 f Vgl. nur Klösters, S. 45 f m.w.N. Siehe zu dem Prüfimgsvorgang im einzelnen

nur die "Mitteilung der Kommission an den Rat: 'Die optimale Gestaltung des Binnenmarkts': Strategisches Programm", KOM (93) 632 endg. vom 22. Dezember 1993, S. 11 f m.w.N. Vgl. aber auch Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 56 m.w.N. 133 Klösters, S. 87 m.w.N. Siehe zum Vertragsverletzungsvetfahren nach Art. 169 EGV die Ausfiihrungen unten im 4. Teil unter B. m. 134 Siehe aber zu den Informationsdefiziten der Kommission unten unter bb). l3S Vgl. dazu im einzelnen R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 213 Rn. 1 ff.; Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 213 Rn. 1 ff.; Hummer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 213 EGV Rn. 1 ff.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Mitgliedstaaten bezogene und nach Maßgabe des Art. 213 EGV durch den Rat erlassene Ermächtigung existiert allerdings (noch) nicht. 136 Mitwirkungspflichten der Mitgliedstaaten, die auch Auskunftspflichten einschließen, ergeben sich, wenn nicht aus speziellen Vertragsartikeln 137 oder sekundärrechtlichen Verpflichtungen138, so aber aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EGV. 139 Darüber hinaus kann die Kommission aber auch verstärkt auf Hinweise aus der Bevölkerung zurückgreifen. Im Rahmen von eigens dafür vorgesehenen Beschwerdeverfahren erlangt sie zum Teil wichtige Hinweise über die konkrete Durchführung von Gemeinschaftsrecht in den bzw. durch die Mitgliedstaaten. 140

b) Die Mängel der "zentralen" Kontrolle im Hinblick auf einen effizienten Vollzug von Gemeinschaftsrecht aa) Einleitung In der jüngeren Vergangenheit wurde regelmäßig heftige Kritik an der Leistungsfahigkeit der von der Kommission wahrgenommenen "zentralen" Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht geübt. 141 Es gilt hier jedoch, diese Kritik für Lösungsansätze fruchtbar zu machen. Allein das Beklagen der zahlreichen von den Mitgliedstaaten beim Vollzug und der Anwendung des Gemeinschaftsrechts begangenen Vertragsverletzungen reicht nicht aus, um zu sachgerechten Reformvorschlägen zu gelangen. Es soll daher eine Darstellung unterschiedlicher Aspekte der "zentralen" Kontrolle erfolgen, welche die mitgliedstaatlichen Verstöße gegen deren Vollzugspflichten möglicherweise begünstigen. 136 R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 213 Rn. 7; Hummer, in: Grabitz/Hiif, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 213 EGV Rn. 15. 137 Siehe nur die Nachweise bei Hummer, in: Grabitz/Hiif, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 213 EGV Rn. 3. 138 Vgl. dazu Jarass, Gnmdfragen, S. 108 m.w.N. Siehe aber auch für Beispiele aus dem Bereich des gemeinschaftlichen Umweltrechts die Nachweise bei Pernice, DV 1989, S. 1 (39 f). 139 Vgl. dazu insgesamt R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 213 Rn. 8 ff.; Klösters, S. 37 bzw. S. 87; Hummer, in: Grabitz/Hiif, Kommentar zur EU, EL 2 (November 1988), Art. 155 EWGV Rn. 13 bzw. Art. 213 EWGV Rn. 3 ff. jeweils m.w.N. 140 Vgl. an dieser Stelle nur Krämer, in: Dicke Luft in Europa, S. 201 (211 1f); Jarass, Gnmdfragen, S. 107 m.w.N. Siehe aber auch lDlten im 4. Teil unter C. IV. 4. b) bzw.5. 141 Siehe nur die diesbezüglichen Nachweise bei Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (206), bei Siedentopf, Die UmsetZWlg des Gemeinschaftsrechts, S. 281f, bzw. bei Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (332) m.w.N.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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bb) Die zu große Distanz zwischen der Kommission und der das Gemeinschaftsrecht vollziehenden mitgliedstaatlichen Ebene und das daraus resultierende Informationsdefizit Das Gemeinschaftsrecht wird im Regelfall von den unteren Verwaltungsbehörden bzw. Gerichten einer unteren Instanz eines Mitgliedstaates vollzogen. Von dieser Vollzugsebene ist die Kommission sehr weit entfernt. 142 Zwar verfügt sie, wie bereits ausgeführt wurde, über zahlreiche Aufsichtsbefugnisse, sie ist dennoch im Ergebnis von der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrealität fast völlig abgeschnitten. 143 Die Kommission hat ihre Ansprechpartner grundsätzlich in den mitgliedstaatlichen Ministerialverwaltungen. Doch selbst in einem Staat mit einer Zentralverwaltung wie Frankreich haben die zentralstaatlichen Ministerialverwaltungen Informationslücken im Hinblick auf die Verwaltungspraxis der Außendienste auf der Ebene der Departements. 144 Man kann insoweit nur erahnen, um wieviel gravierender die Informationsdefizite der mitgliedstaatlichen Ministerialverwaltungen in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland sein müssen. Denn hier verfügen die Gliedstaaten sogar verfassungsrechtlich über die maßgeblichen Verwaltungsvollzugskompetenzen, was den verwaltungsmäßigen Vollzug von Gemeinschaftsrecht schließlich unmittelbar betrifft. 145 Die aufgezeigten Umstände lassen die Informationsdefizite der vom Grundsatz her mit weitreichenden Aufsichtsbefugnissen ausgestatteten Kommission hinsichtlich des mitgliedstaatlichen Vollzugsverhaltens deutlich hervortreten. 146 Diese Tatsache ist um so bedauerlicher, als es zu beachten gilt, daß häufig genug Gemeinschaftsrecht deshalb nicht vertragsgemäß vollzogen wird, weil (untergeordnete) Verwaltungsbehörden oder Gerichte unbewußt die ge142 Vgl. auch Hauschild, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, S. 155 (168). 143 So auch Siedentopf, Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 28. 144 Vgl. Hauschild, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, S. 155 (168); Siedentopf, Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 28 f m.w.N. 145 Siehe die Art. 83 ff. GG. Vgl. dazu nur Fischer, Europarecht, S. 118. Vgl. aber auch die Einschätzung der zunehmenden Bedeutung der Bundesländer für den Fall der weiteren Verlagerung von Sachkompetenzen auf die Gemeinschaft von Pemice, DVBI. 1993, S. 909 (921) m.w.N. A.A. offensichtlich Weber, Rechtsfragen, S. 48 m.w.N. Vgl. die grundlegenden Ausführungen über den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch den Bund bzw. die Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland von StreinzIPechstein, in: National Administrative Procedures for the Preparation and Implementation of Community Decisions, S. 133 ff. 146 Vgl. insbesondere zum Bereich der mitgliedstaatlichen Umsetzung von Richtlinien Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (140).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

meinschaftsrechtlichen Vollzugsanforderungen nicht beachten. Dies geschieht insbesondere dann, wenn die Mitgliedstaaten ihrerseits gemeinschaftsrechtliche Vorgaben nur in ungenügender Weise durchsetzen. 147

cc) Das Kapazitätsdefizit der Kommission Sowohl durch die EEA als auch durch den EUV hat die Gemeinschaft zahlreiche neue Kompetenzen erhalten, die allein für sich gesehen zu einer verstärkten Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft geführt haben. Hier sei lediglich auf den Bereich der gemeinschaftlichen Umweltpolitik verwiesen. Entsprechend quantitativ gewachsen sind auch die Kontrollaufgaben der Kommission. 148 Diesbezüglich aber weist die Gemeinschaft, namentlich die Kommission, ein ihr Personal betreffendes Kapazitätsdefizit l49 auf, das bedenkliche Folgen im Hinblick auf die Umfang und Qualität der Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht nach sich zieht. 15O Es steht zu befürchten, daß die Zahl der Vertragsverletzungen weiter zunimmt. 151 Mit einer zunehmenden Zahl an Verstößen und der daraus resultierenden personellen Überlastung geht aber zwangsläufig auch eine erheblich verringerte Kontrolleffizienz einher. 152 Angesichts der begrenzten personellen Ressourcen bei der Kommission, aber auch bei den für die innerstaatliche Kontrolle des Gemeinschaftsrechtsvollzugs zuständigen Stellen in den Mitgliedstaaten wird der Vorwurf verständlich, daß sich die in Art. 155 UAbs. 1 EGV vorgesehene Anwendungskontrolle von Gemeinschaftsrecht immer stärker auf eine bloße Umsetzungskontrolle reduziert und nur in Ausnahmefällen dem tatsächlichen Vollzug einer Gemeinschaftsmaßnahme nachgegangen werden Siehe auch die Nachweise bei Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (332). Vgl. hierzu das anschauliche Beispiel bei Schäfer, DÖV 1991, S. 261 (263). 149 Vgl. zum Begriff Schäfer, DÖV 1991, S. 261 (262). 150 Vgl. Ehlermann, in: LA fiir Pescatore, S. 205 (210 ff); Henke, S. 227 f; Nettesheim, JURA 1994, S. 337 (342) jeweils m.w.N. Pernice, DV 1989, S. 1 (41), und Hauschild, in: Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, S. 155 (169), fiihren die fortschreitende Überlastung der Kommission (auch) auf ihr Bestreben nach systematischer Verfolgung aller Vertragsverletzungen durch die Mitgliedstaaten zurück. Vgl. auch Siedentopf, Die Umsetzung von Gemeinschaftsrecht, S. 29. 151 Vgl. zur bisherigen Entwicklung nur Karpenstein, in: GrabitzlHilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 171 EGV Rn. 20 m.w.N. Insbesondere Pernice, NVwZ 1990, S. 414 (423), weist zutreffend daraufhin, daß die "Vollzugsdefizite" im Umweltbereich bei der steigenden Zahl der Vorschriften angesichts der Leistungsfähigkeit der derzeitigen Kontrollmechanismen wachsen werden. 152 Vgl. Weidenfeld, Europäische Defizite, europäische Perspektiven, S. 60. 147

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B. Die "Defizite" im einzelnen

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kann. 153 Somit ist auch zu erklären, weshalb von der Kommission lediglich die Umsetzung einer Richtlinie in das mitgliedstaatliche Recht auf ihre textliche Übereinstimmung hin überprüft wird l54 , während sich die tatsächliche Durchführung von Gemeinschaftsrecht, insbesondere dem unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrecht, aber weitgehend ihrer Kontrolle entzieht. 155

dd) Die Nachträglichkeit und Schwerfälligkeit der "zentralen" Kontrolle Bei der "zentralen" Kontrolle handelt es sich um eine Form der nachträglichen Kontrolle, da die Kommission mit den ihr eingeräumten Kontrollbefugnissen erst dann auf Vertragsverletzungen aufmerksam werden kann, wenn diese bereits eingetreten sind. 156 Die "zentrale" Kontrolle ist daher schon aus diesem Grunde genausowenig wie das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV geeignet, für eine tägliche Respektierung zum Beispiel der für den Binnenmarkt unerläßlichen Regeln über öffentliche Ausschreibungen durch Zehntausende von mitgliedstaatlichen Behörden zu sorgen. 157 Der Kommission ist eine unmittelbare Einflußnahme auf die Mitgliedstaaten durch eine prävenSiedentopf, Die UmsetZlDlg des Gemeinschaftsrechts, S. 29 f m.w.N. Siehe aber "Verstärkung der Effizienz des Binnenmarktes. Arbeitsdokument der Kommission. Für ein strategisches Programm zur Verwaltung Wld WeiterentwicklWlg des Binnenmarktes. MitteilWlg der Kommission an den Rat Wld das Europäische Parlament", KOM (93) 256 endg. vom 2. JWli 1993, S. 11 ff 155 So Klösters, S. 46. Vgl. auch Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (212 f). Siehe aber ferner schon oben Wlter 3. a). Siehe jedoch auch zur Ansicht der Kommission KOM (93) 256 endg., S. 11 ff; auf die dort genannten Ansätze wird noch einzugehen sein. 156 Vgl. nur Klösters, S. 45. Eine Art von präventiver Kontrolle findet sich jedoch im Bereich der technischen Normen Wld Vorschriften. Gemäß Art. 2 Abs. 1 Wld Art. 8 Abs. 1 der "Richtlinie des Rates vom 28. März 1983 über ein Infomiationsverfahren auf dem Gebiet der Normen Wld technischen Vorschriften (83/189/EWG)", ABl. 1983, L 109, S. 8 (9 bzw. 11) (i.d.g.F. der "Richtlinie 94/IO/EG des Europäischen Parlaments Wld des Rates vom 23. März 1994 zur zweiten wesentlichen ÄndefWlg der Richtlinie 83/189/EWG über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen Wld technischen Vorschriften", ABl. 1994, L 100, S. 30 ff), sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bereits die Entwürfe von Normen Wld technischen Vorschriften der Kommission zu übermitteln. Vgl. dazu bzw. zur ErweitefWlg des AnwendWlgsbereichs der Richtlinie Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 58 m.w.N. Siehe jetzt auch den von der Generaldirektion m der Kommission herausgegebenen Bericht vom 28. Februar 1996 "Einzelstaatliche Produktvorschriften mit Auswirkungen auf den Binnenmarkt. GfWld zur Sorge. ErfahfWlgsbericht über die AnwendWlg der Richtlinie 83/189/EWG 1992 1994.". 157 Vgl. Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (209) m.w.N. 153

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

tive Steuerung des Verwaltungsvollzugs verwehrt. 158 Somit bietet die "zentrale" Kontrolle keinerlei Handhabe für die Behandlung der Tausende von Bagatell:tallen an nur geringfügigen Vertragsverletzungen. 159 Bei diesem Sachstand können die Mitgliedstaaten bei der Nichterfüllung ihrer Pflichten immer noch die Hoffnung haben, "daß Brüssel nichts merken werde" .160 Selbst wenn die Gemeinschaft aber doch aufmerksam werden sollte, so werden dennoch aufgrund des Zeitverzögerungseffektes die Mitgliedstaaten begünstigt, die gegen die Verträge verstoßen haben. 161

ee) Fehlende Weisungsbefugnis der Kommission im Hinblick auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten In einem engen Zusammenhang mit der Struktur der Gemeinschaft sowie der "zentralen" Kontrolle des Vollzugs und der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Kommission steht das nachfolgende "Defizit", das aufgrund seine exponierten Bedeutung hier zumindest kurz separat behandelt werden soll. Es handelt sich dabei um die fehlende Weisungsbefugnis der Kommission in Form von verwaltungsrechtlichen Anweisungen im Hinblick auf den verwaltungsmäßigen Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten. 162 Es wurde dazu bereits ausgeführt, daß die Kommission nicht berechtigt ist, das Vollzugsverhalten der Mitgliedstaaten anband von verwaltungsrechtlichen Anweisungen einer Zweckmäßigkeitskontrolle zu unterwerfen ("Sach- oder

158 Klösters, S. 45. Vgl. auch Jarass, Gnmdfragen, S. 106 f Siehe zur fehlenden Möglichkeit der Kommission, Mitgliedstaaten Weisungen für den Verwaltungsvollzug von Gemeinschaftsrecht erteilen zu können, auch unten unter ee). 159 Pernice, DV 1989, S. 1 (41) m.w.N., fragt sogar, ob es wirklich injedern einzelnen Fall eines vertragswidrigen Verhaltens der Mitgliedstaaten "des schweren Geschützes des Art. 169" EGV bedarf Vgl. auch ders., NVwZ 1990, S. 414 (423) m.w.N. 160 Vgl. Bruha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (309) m.w.N. Vgl. aber auch Klösters, S. 45 f m.w.N. Bruha/Kindermann, a.a.O., weisen im übrigen daraufhin, daß die Gefahr, daß "Brüssei nichts merken werde", insbesondere dann gegeben ist, wenn zunächst gemeinschaftsrechtskonform umgesetztes mitgliedstaatliches Recht in emem mitgliedstaatlichen Alleingang nachträglich wieder geändert wird. 161 So auch Weidenfeld, Europäische Defizite, europäische Perspektiven, S. 60 m.w.N. Vgl. auch Pernice, NVwZ 1990, S. 414 (423) m.w.N., der sehr anschaulich beschreibt, wie die nicht (rechtzeitige) Umsetzung bestimmter umweltrechtlicher Richtlinien eine massive Subventionierung mitgliedstaatlicher Unternehmen darstellen kann. 162 Vgl. Weber, Rechtsfragen, S. 66 f m.w.N.; Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. Vll, § 182 Rn. 21 m.w.N.; Jarass, Gnmdfragen, S. 106 f Siehe dazu auch schon oben unter I. l. d) bzw. I. 3. a).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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"Fachaufsicht").163 Auch kann sie den Mitgliedstaaten keine verbindlichen Interpretationshilfen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts erteilen. l64 Da die Gemeinschaft, wie ebenfalls schon ausgeführt, sich bei der Reglementierung des den Vollzug und die Anwendung von Gemeinschaftsrecht betreffenden mitgliedstaatlichen Verwaltungsverfahrensrechts zurückhäle 65 , könnte ein Weisungsrecht der Kommission ein sehr wichtiges Mittel sein, um einen einheitlichen Vollzug und eine einheitliche Anwendung von Gemeinschaftsrecht zu erreichen. 166 Ein spezifisches Weisungsrecht könnte nämlich möglicherweise nicht nur ein adäquates Mittel der Direktion spezieller mitgliedstaatlicher Verwaltungshandlungen sein, es könnte darüber hinaus auch zu einem Mittel der präventiven Einflußnahme werden. 167

ff) Die fehlende Durchsetzbarkeit eines gemeinschaftsrechtskonformen Verhaltens bei einer festgestellten Vertragsverletzung Stellt die Kommission ein vertragswidriges Vollzugsverhalten eines Mitgliedstaates fest, so leitet sie regelmäßig ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV vor dem EuGH ein 168 Auf diese Art und Weise wird auch der EuGH in die Kontrolle des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten mit einbezogen. 169 Ebenso wie die "zentrale" Kontrolle weist das Verfahren nach Art. 169 EGV und damit das vermeintlich "schärfste" Instrument der "zentralen" Kontrolle Schwächen auf. 170 Beiden ist gemein, daß sie sehr schwerfällig und aufwendig sind, denn sie eignen sich kaum für die Über163 Vgl. zu den Gründen Klösters, S. 86 f. m.w.N. Siehe oben wtter 3. b). 164 Siehe dazu oben wtter I. 1. d) bzw. wtter I. 3. a). 165 Vgl. dazu auch Scherer, EuR 1986, S. 52 (55); Streinz, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 182 Rn. 23 f[ jeweils m.w.N. Siehe auch oben im 2. Teil wtter C. 11 2. d) bb )(2). 166 So schon Rengeling, EuR 1974, S. 216 (231). Vgl. auch SchÜler, RIW 1985, S. 36 (36) m.w.N. 167 Vgl. Klösters, S. 98. 168 Siehe zum Vertragsverletzungsvetfahren nach Art. 169 EGV auch die Ausfiihnmgen oben wtter a) bzw. wtten im 4. Teil wtter B. III. 169 Dies kann aber auch auf dem Weg des Vorabentscheidwtgsvetfahrens nach Art. 177 EGV geschehen. Vgl. zum diesbezüglichen Verhältnis zwischen Art. 169 EGV wtd Art. 177 EGV nur Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (139). Siehe zum Vetfahren nach Art. 177 EGV wtten im 4. Teil wtter C. 11. 4. c) cc). 170 A.A. wohl Siedentopf, Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 28. Vgl. auch GelIermann, S. 121, nach dessen Ansicht das Vertragsverletzungsvetfahren eine beachtliche Rolle bei der Durchsetzung des richtliniengestützten europäischen Umweltrechts spielt.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

prüfung von administrativen Einzelentscheidungen. Auch entstehen in einem föderativen Staat wie der Bundesrepublik Deutschland Reibungsverluste dadurch, daß sich eine Klage nur gegen den Mitgliedstaat, nicht aber gegen dessen Gliedstaaten oder sogar Kommunen richten kann. So hat der Zentralstaat nämlich unter Umständen erst auf seine Gliedstaaten einzuwirken, damit diese ein Urteil des EuGH befolgen. 171 Bei einem eine Vertragsverletzung feststellenden Urteil handelt es sich "lediglich" um ein "Feststellungsurteil" (Art. 171 Abs. I EGV), weshalb es dem EuGH verwehrt ist, dem betroffenen Mitgliedstaat eine konkrete Maßnahme zur Urteilsbefolgung vorzuschreiben. 172 Zudem verfügt die Gemeinschaft über keine Kompetenz zur zwangsweisen Durchsetzung von EuGH-Entscheidungen gegen Mitgliedstaaten. 173 Nicht zuletzt deshalb vergehen mitunter bis zu zehn Jahre nach Verkündung des den Vertragsverstoß feststellenden Urteils, bevor ein Mitgliedstaat einen Verstoß abstellt,174 Auch kommt es in jüngster Zeit wiederholt zu Verurteilungen wegen Nichtbefolgung eines EuGH-Urteils. 175 Nach der Rechtsprechung des EuGH könnten sich die Gemeinschaft oder die übrigen Mitgliedstaaten zur Vornahme einer Kompensationsmaßnahme auch nicht auf den völkerrechtlichen Rechtfertigungsgrund des "tu quoque"-Einwands berufen, da der EGV insoweit mit den Klagemöglichkeiten die spezielleren Regelungen enthält,176 Im übrigen gäbe es keine Möglichkeiten, gegen einen Mitgliedsstaat vorzugehen, der sich weigerte, eine Entscheidung des EuGH zu befolgen. Es ist auch fraglich, ob die durch den EUV eingeführte Regelung in Art. 171 Abs. 2 UAbs. 3 EGV daran etwas zu ändern vermag.177 Nach Art. 171 Abs. 2 UAbs. 3 EGV kann der EuGH die Zahlung eines Pauschalbetrages oder

Vgl. dazu auch Mögele, BayVBl. 1993, S. 552 (553) m.w.N. Vgl. nur Gaster, S. 49 f m.w.N. 173 Vgl. Ortlepp, S. 130 m.w.N. Siehe unten im 4. Teil unter B. m. 3. bzw. N. 2. a) cc) (3). 174 Vgl. dazu Gaster, S. 55 f; Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (332); Karpensfein, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 171 EGV Rn. 20 bzw. 22 jeweils m.w.N. 175 Siehe auch die Nachweise bei Ortlepp, S. 23 f; Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (332). 176 Siehe EuGH, Urteil vom 26. Februar 1976, Rs. 52/75 (Kommissionlltalien), Slg. 1976, S. 277 (Rn. 11/13). Vgl. dazu auch Streinz, Europarecht, Rn. 114 bzw. 389. Sie-he auch die Regelung des Art. 219 EGV Siehe dazu insbesondere unten im 4. Teil unter IV. 2. b) bb). 177 Vgl. nur Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 118 m.w.N. Siehe dazu unten im 4. Teil unter B. m. 3. 171

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B. Die "Defizite" im einzelnen

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Zwangsgeldes verhängen, wenn ein Mitgliedstaat die Maßnahme, die sich aus einem (ersten) Urteil des EuGH ergibt, nicht innerhalb einer ihm von der Kommission zuvor festgesetzten Frist getroffen hat und die Kommission deshalb den EuGH anruft (Art. 171 Abs. 2 UAbs. 2 EGV).

gg) Zusammenfassung der Mängel der "zentralen" Kontrolle Im Rahmen der "zentralen" Kontrolle des Vollzugs und der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Kommission ist zunächst zu beachten, daß die Mitgliedstaaten bzw. ihre Behörden als unabhängige, nur dem Recht unterworfene Vollziehende fungieren. Die eigentliche Wahrnehmung der "zentralen" Kontrolle durch die Kommission wird durch verschiedene strukturelle Mängel beeinträchtigt. So leidet die Kommission nicht zuletzt aufgrund der Distanz vom effektiven Vollzugsgeschehen unter einem Informationsdefizit. In Anbetracht der fehlenden Informationen über den mitgliedstaatlichen Vollzug als auch des ständig steigenden Bestandes an Gemeinschaftsrecht werden die begrenzten personellen Ressourcen der Kommission überfordert, und der Prozeß einer zunehmenden Kontrollineffizienz nimmt zu. Die von der Kommission wahrgenommene "zentrale" Kontrolle ist darüber hinaus zu schwerfällig und setzt erst nachträglich ein. So können in der Regel Vertragsverletzungen weder verhindert noch die alltägliche Respektierung des Gemeinschaftsrechts durch Tausende von mitgliedstaatlichen Vollzugsstellen gewährleistet werden. Außerdem ist es der Kommission nicht möglich, flexibel anhand von verwaltungsrechtlichen Weisungen auf die mitgliedstaatlichen Behörden Einfluß zu nehmen. Stellt die Kommission schließlich einen Verstoß eines Mitgliedstaates gegen dessen Vollzugspflichten fest und kommt es zu einer Verurteilung wegen der Vertragsverletzung durch den EuGH im Rahmen des Verfahrens nach Art. 169 EGV, so kann die Gemeinschaft das entsprechende Urteile gegen den Willen des betroffenen Mitgliedstaates nicht durchsetzen.

c) Schlußbetrachtung Die Betrachtung der Mängel der "zentralen" Kontrolle dürfte verdeutlicht haben, daß es der Kommission immer schwerer fällt, einen einheitlichen Vollzug sowie eine einheitliche Anwendung von Gemeinschaftsrecht zu gewährleisten. Die Schaffung des Binnenmarktes sowie seine Verwaltung erfordern den Erlaß zahlreicher Normen. Dazu gehört aber auch, dafür Sorge zu tragen, daß die von der Gemeinschaft beschlossenen Normen von den Mitgliedstaaten tatsäch-

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

lich befolgt werden. 178 Auf die Bedeutung eines effektiven und einheitlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht für die Herstellung des Binnenmarktes sowie auf dessen Bedeutung als solcher und für die Europäische Integration ist an dieser Stelle nicht mehr einzugehen. 179 Die strukturellen Grenzen der "zentralen" Kontrolle lassen das Bestreben der Kommission, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, aber immer mehr zu einem hoffnungslosen Unternehmen geraten. 180 Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Suche nach neuen Wegen zu einer existentiellen Herausforderung für die Zukunft der Gemeinschaft.

4. Einschränkungen des effektiven und einheitlichen mitgliedstaatlichen Vollzugs aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Ermächtigung a) Einleitung

Im nachfolgenden Abschnitt soll ein "Defizit" behandelt werden, das vorrangig auf dem Streben der Mitgliedstaaten beruht, Einschnitte in ihre Souveränität nur so weit wie nötig zuzulassen. Es handelt sich dabei um die Berechtigung der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage von gemeinschaftsrechtlichen Ausschermöglichkeiten in bestimmten Rechtsbereichen Ausnahmen von einem effektiven und einheitlichen Vollzug gemeinschaftsrechtskonform durchzusetzen. Die nachfolgende Darstellung soll sich dabei auf den Gesundheitsschutz und hier speziell auf den Bereich des Lebensmittelrechts beschränken.

b) Zu den zulässigen Beschränkungen des freien Warenverkehrs

Die Normen des EGV, die einen freien Verkehr von Waren bzw. ein Verbot mengenmäßiger Beschränkungen herstellen wollen, können eine Einschränkung durch die in der "Cassis de Dijon"-Entscheidung des EuGH aufgestellten Ausnahmetatbestände ("Cassis-Formel"181) bzw. durch die in Art. 36 EGV auf-

Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (206). Siehe dazu oben im 2. Teil Wlter B. ill. bzw. Wlter D. 180 Vgl. auch Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (332) m.w.N. 181 Die "Cassis de Dijon"-RechtsprechWlg wurde eingeleitet durch EuGH, Urteil vom 20. Februar 1979, Rs. 120/78 (REWE-Zentral-AGIBWldesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, S. 649 (Rn. 8). Vgl. dazu Matthies, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 5 (September 1992), Art. 30 EWGV Rn. 18 f[ m.w.N. 178

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B. Die "Defizite" im einzelnen

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geführten Rechtfertigungsgründe erfahren l82 . Nach dem EuGH handelt es sich bei den Ausnahmetatbeständen der "Cassis-Formel" rechtsdogmatisch um immanente Schranken des Verbots der Vornahme von mengenmäßigen Beschränkungen bzw. von Maßnahmen gleicher Wirkung. 183 Bei der "Cassis-Formel" handelt es sich um eine "offene" Formel, so daß die bisher vom EuGH aufgestellten Rechtfertigungsgründe durchaus noch eine Erweiterung erfahren können. l84 Einem Mitgliedstaat kann die Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs im übrigen auch unter Berufung auf die Ausscherklausel des Art. IOOa Abs. 4 EGV unter den dort genannten Voraussetzungen möglich sein. 18s Nachfolgend soll allerdings lediglich exemplarisch der Schutz der Gesundheit (Art. 36 Satz I EGV) als Rechtfertigungsgrund für Einfuhrbeschränkungen näher betrachtet werden. 186 Es ist zuzugeben, daß diese Einschränkung des Handelsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten einem strengen Verhältnismäßigkeitsvorbehalt unterliegt. So haben die Mitgliedstaaten unter anderem für die Zulassung bestimmter Lebensmittelzusatzstoffe ein leicht zugängliches und hinreichend schnell durchführbares Verfahren bereitzustellen, das einem Importeur erlaubt, die Zulassung der betreffenden Zusatz stoffe zu beantragen. 187 Dennoch stellen die in Art. 36 EGV normierten Rechtfertigungsgründe dem Grunde nach eine eklatante und wettbewerbsverzerrende Behinderung des freien Handelsverkehrs mit Lebensmitteln dar. 188 Solange sich ein Mitgliedstaat also auf diese Rechtfertigungsgründe berufen kann, sind die Bedingungen des Warenverkehrs von denen eines wahren Binnenmarktes noch weit entfernt. 189 Zunächst kommt es zu einer Diskriminierung der Anbieter aus solchen Mitgliedstaaten, die weniger strenge lebensmittel rechtliche Anforderungen an ihre Produkte stellen als der Mitgliedstaat, der sich zur Verhinderung von Einfuh182 Vgl. dazuSchweitzer/Hummer, Europarecht, S. 257 ff.; Matthies, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 5 (September 1992), Art. 36 EWGV Rn. 12 ff. 183 Vgl. Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 259; Streinz, Europarecht, Rn. 688. 184 Vgl. zu den bisher vom EuGH genannten Rechtfertigungsgriinden nur Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 259 m.w.N. Vgl. zum "offenen" Charakter der "CassisFormel" nur Streinz, Europarecht, Rn. 688 m.w.N. 185 Siehe zu Art. 100a Abs. 4 EGV schon oben im 2. Teil unter B. 11. 2. b) dd). 186 Das Enordemis des Gesundheitsschutzes wird neuerdings vom EuGH "nur" noch im Rahmen des Art. 36 EGV geprüft. Vgl. dazu Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 259 m.w.N.; Streinz, Europarecht, Rn. 688. 187 Siehe EuGH, Urteil vom 6. Mai 1986, Rs. 304/84 (Ministere publiclMuller u.a.), Slg. 1986, S. 1511 (Rn. 23). Vgl. dazu Matthies, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 5 (September 1992), Art. 36 EWGV Rn. 16 m.w.N. 188 Vgl. auch Wilmowsky, JURA 1992, S. 337 (343); Lenz, EuGRZ 1993, S. 57 (59). 189 Lenz, EuGRZ 1993, S. 57 (59).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaat lichen VoUzug

ren zulässigerweise auf einen gemeinschaftsrechtskonformen Rechtfertigungstatbestand beruft. Es kommt dadurch zu einer Verfälschung des Wettbewerbs, die (binnen-)marktwirtschaftlichen Verhältnissen kaum gerecht wird. Wird nämlich Unternehmen aus Mitgliedstaaten mit geringeren Anforderung der Zutritt zu einem Markt in einem anderen Mitgliedstaat verwehrt, so wird gleichzeitig den Unternehmen des Mitgliedstaates mit den strengeren Anforderungen untersagt, sich den grundsätzlich weniger kostenintensiven Produktionsmethoden des ausländischen Konkurrenten anzupassen. 190 Dadurch wiederum müssen diese auf den Märkten der übrigen Mitgliedstaaten aufgrund der nachteiligen Kostensituation Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen. 191

c) Das konkrete "Defizit" des Vollzugs von Gemeinschaflsrecht

Das konkrete "Defizit" des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht besteht in der aufgezeigten Konstellation darin, daß die Mitgliedstaaten zulässigerweise berechtigt sind, die Wirkung des auf die Herstellung und Verwaltung des Binnenmarktes gerichteten Gemeinschaftsrechts einzuschränken.

d)Ausblick

Möglicherweise können die hier gleichzeitig Wettbewerbsunterschiede und Einschränkung eines einheitlichen und effektiven mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht begründenden Umstände durch eine gemeinschaftsweite Harmonisierung der lebensmittelrechtlichen Kontrollvorschriften auf dem höchsten von einem Mitgliedstaat geforderten Niveau beseitigt werden. l92 Auf diese Überlegungen wird noch einzugehen sein. 193

190 Vgl. Everling, in: Mehr Marktrecht - weniger Einzelgesetze, S. 41 (45), der so allerdings im Hinblick auf die sog. "Inländerdiskriminienmg" argumentiert. Vgl. auch die weiterführenden Ausfiilirungen von Gaerner, in: Deutsches und Europäisches Lebensmittelrecht, S. 207 (207 f). 191 Vgl. auch mit einem Beispiel aus dem Umweltbereich Wi!mowsky, JURA 1992, S. 337 (343). 192 Vgl. auch Everling, in: Mehr Marktrecht - weniger Einzelgesetze, S. 41 (45 f bzw. S. 49); Wi!mowsky, JURA 1992, S. 337 (343). An dieser Stelle sei schon angemerkt, daß eine Harmonisienmg nicht immer möglich ist. Siehe dazu das anschauliche Beispiel aus Großbritannien bei Brnnner, in: Die Subsidiarität Europas, S. 9 (11 f). Siehe dazu auch unten unter C. IV. 4. 193 Siehe dazu gnmdlegend unten im 4. Teil unter B. V.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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5. Zusammenfassung Den Schwerpunkt der "verfahrensrechtlichen" "Defizite" des rnitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht bildet aufgrund ihrer strukturellen Grenzen die "zentrale" Kontrolle des Vollzugs und der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Kommission. Daneben steht als "Defizit" das Nichtvorhandensein eines systematisch gefaßten gemeinschaftlichen allgemeinen Verwaltungsrechts. So können die jeweiligen Eigenheiten der rnitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsordnungen in zum Teil nicht unerheblicher Weise zu den Reibungsverlusten beim rnitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht beitragen, zumal die Kommission auch über kein Weisungsrecht verfügt, um einen effektiven und einheitlichen Vollzug zu erreichen. Schließlich führt die "systernimmanente" Möglichkeit der Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu erreichen, zu Einschnitten bei einem effektiven und einheitlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts.

m. Exkurs: Das "demokratische Defizit" als Problem der Legitimation der Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft 1. Das "demokratische Def'lzit" als "Def'lZit" des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht

Ein von seiner Art her völlig anderes "Defizit" soll im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen nun einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden. Gerade in neuerer Zeit wird der von der Gemeinschaft in der Form des Rechts ausgeübten Hoheitsgewalt unter dem Schlagwort vom "demokratischen Defizit"194 eine nicht (mehr) ausreichende demokratische Legitimation unterstellt. 195 194 Vgl. zu diesem Begriff aus der großen Vielzahl der einschlägigen Literatur an dieser Stelle nur Ress, in: GS fiir Geck, S. 625 (628 ff); Seeler, EuR 1990, S. 99 (99 ff); Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (39); Pemice, DV 1993, S. 449 (451); Schönberger, Hauptsache Europa, S. 99 ff; Streinz, in: Lebensmittelstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 219 (219); RandelzhoJer, in: Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 39 (39 f); Weber-Panariello, S. 17 jeweils m.w.N. 195 Vgl. nur Häberle, EuGRZ 1992, S. 429 (432): "Das Demokratiedefizit bleibt das Skandalon der EG (auch nach Maastricht)." Sehr plastisch Möschel, in: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, S. 21 (34) mit Verweis auf Conradi: "Wer in der EG etwas zu sagen hat, ist nicht vom Volk gewählt, und wer vom Volk gewählt ist, hat nichts zu sagen." 10 Püh.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Wäre ein solcher Vorwurf zutreffend, dann bestände ein "Defizit" im Hinblick auf den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht in der Weise, daß die Mitgliedstaaten den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen für einen effektiven und einheitlichen Vollzug berechtigterweise nicht mehr nachkommen dürften. 196 Davon, daß der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft jedoch jede demokratische Legitimation fehlt, kann nicht ausgegangen werden. 197 Dennoch würden sich bereits Zweifel an der demokratischen Legitimation auf die "Akzeptanz" des Gemeinschaftsrechts in der Weise auswirken, daß sein uneingeschränkter Vollzug durch die Mitgliedstaaten zumindest beeinträchtigt wäre, weil die Mitgliedstaaten sich zur Rechtfertigung für Verstöße gegen ihre Vollzugspflichten stets auf das vermeintliche "demokratische Defizit" stützen könnten (und müßten). Insoweit bestände ein normatives "Defizit", das im Ergebnis nicht nur die grundsätzlich aus Art. 5 EGV resultierenden mitgliedstaatlichen Vollzugspflichten l98 in Frage stellt, sondern sogar die Existenz der Gemeinschaft selbst. Untersucht werden soll zunächst einmal, weshalb der Gemeinschaft überhaupt vorgeworfen wird, daß im Hinblick auf die Ausübung ihrer Hoheitsgewalt ein "demokratisches Defizit" besteht (unter 2.). Es folgen dann Ausführungen über den Zusammenhang von "Akzeptanz und Recht" sowie der" Akzeptanz" von Recht als konstitutivem Element seines Geltungsanspruchs (unter 3.). Anschließend soll erörtert werden, welche Stellung dem Europäischen Parlament als dem einzigen durch die Gemeinschaftsbürger unmittelbar legitimierten Gemeinschaftsorgan bei der gemeinschaftlichen Rechtsetzung zukommt (unter 4.). Hieran schließen sich Überlegungen an, ob bzw. inwieweit sinnvoll erweise Maßnahmen entweder auf der Ebene der Gemeinschaft oder auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu seiner Beseitigung ergriffen werden sollten (unter 5.).

196 Vgl. auch Seeler, EuR 1990, S. 109 (118 f) m.w.N.: "Möglicherweise kann EGRecht, das ohne rechts staatliche Legitimation zustande gekommen ist ... , mit Mängeln behaftet und daher nichtig sein." 197 Dies dürfte allgemein auch unbestritten sein. Vgl. dazu statt vieler anderer nur Everling, Integration 1994, S. 165 (169) bzw. Kluth, S. 87 ff., insbesondere S. 97 jeweils m.w.N. Kritisch in dieser Hinsicht jedoch Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 96; Glaessner, in: Gesamteuropa, S. 667 (676 fund 682). 198 Siehe dazu insbesondere die Ausfiihnmgen oben im 2. Teil unter C. 1. 2. bzw. 11. 2. d) aa).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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2. Der Inhalt des "demokratischen DefIZits" a) Die Europäische Gemeinschaft und das Demokratieprinzip

aa) Die Unterwerfung der Gemeinschaft unter das Demokratieprinzip Das Demokratieprinzip als Form der Ausgestaltung der Volkssouveränität verlangt eine effektive und ununterbrochene Legitimationskette (U. Scheuner), die vom Volk eines Staates ausgehend bis hin zu dem Hoheitsakt reicht, der von einem mit staatlichen Aufgaben betrauten Hoheitsträger vorgenommen wird. 199 Ein so verstandenes Demokratieprinzip gehört zu den Verfassungstraditionen aller Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. 20o Es erscheint daher auch nur konsequent, für die Hoheitsgewalt der Gemeinschaft, über die sie unbestritten verfügt und die sie in der Form des Rechts über die Mitgliedstaaten und über die privaten Marktteilnehmer ausübt, ebenso zu fordern, daß diese vom Volk bzw. unter Beachtung der Besonderheiten der Gemeinschaft systemadäquat von den Völkern der Mitgliedstaaten auszugehen habe. 201 Dies bräuchte jedoch eingedenk der Besonderheiten der Gemeinschaft nicht unbedingt ausschließlich durch unmittelbare parlamentarische Vermittlung zu geschehen. 202

199 Vgl. dazu auch Böckenförde, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 22 Rn. 11; Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 83 m.w.N. Vgl. auch die gnmdlegenden Ausfiihnmgen bei Kluth, S. 30 ff. m.w.N. 200 Vgl. Ress, in: GS fiir Geck, S. 625 (629 bzw. 641 f); Everling, in: Die Entwickhmg der EG, S. 12 (20); Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 83; Kluth, S. 33 f 201 So auch Everling, in: Die Entwickhmg der EG, S. 12 (20); Hrbek, in: GS fiir Grabitz, S. 171 (173). Vgl. ferner Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (241). Siehe dazu außerdem die Nachweise fiir während der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechts lehrer im Jahre 1964 gehaltene Beiträge bei Streinz, DVBl. 1990, S. 949 (950 f). Seeler, EuR 1990, S. 99 (115), fordert zusätzlich die Legitimation des von den Exekutivorganen der Gemeinschaft gesetzten Rechts durch das Europäische Parlament. Vgl. auch von SimsoniSchwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 12, zum Begriff des "Volkes, auf das es in Verfassungsfragen ankommt". Es muß hier eindeutig herausgestellt werden, daß sich im Völkerrecht kein Gebot fmdet, aufgnmd dessen die Gemeinschaft demokratisch strukturiert sein müßte. Vgl. dazu nur Randelzhofer, in: Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 39 (40 f). In diesem Sinne aber auch Möschel, in: Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, S. 21 (34) m.w.N. 202 Vgl. auch Klein, EuR 1987, S. 97 (101), der hier insoweit in Frage stellt, daß das Europäische Parlament der Gemeinschaft die demokratische Legitimation zu vermitteln habe.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Es gilt festzuhalten, daß Macht und ihre staatliche oder im Falle der Gemeinschaft quasi-staatliche Ausübung stets der Legitimation bedarf.203 Als einzige Legitimationsquelle kommt in freiheitlichen Staaten das Volk in Betracht. 204 Somit muß, ohne hier bereits eine nähere Begründung dafür zu liefern, grundsätzlich auch für die Belange der Gemeinschaft gelten, daß nur das von einem durch die Völker der Mitgliedstaaten demokratisch legitimierten Normgeber erlassene Recht auch zur Legitimation von Macht tauglich ist. 205

bb) Die Verankerung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht Nachdem aufgezeigt worden ist, daß auch die Gemeinschaft einem "Demokratieprinzip" verpflichtet ist, ohne bisher auf die Art und Weise der näheren Ausgestaltung der aus ihm resultierenden Verpflichtungen eingegangen zu sein, soll zunächst seine Verankerung in der Gemeinschaftsrechtsordnung aufgezeigt werden. Das "Demokratieprinzip" in der Gemeinschaft hat zwei Wurzeln. Das sind zunächst die textlichen Ansätze insbesondere im primären Gemeinschaftsrecht, zum anderen aber die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung entwickelten diesbezüglichen allgemeinen Rechtsgrundsätze. 206 Im primären Gemeinschaftsrecht finden sich Demokratiebezüge insbesondere in den jeweiligen Präambeln der GfÜndungsverträge bzw. in denen der die GfÜndungsverträge abändernden Verträge. 207 Außerdem wird die EU in Art. F Vgl. Klein, EuR 1987, S. 97 (99). Klein, EuR 1987, S. 97 (99). 205 Vgl. Klein, EuR 1987, S. 97 (100) m.w.N. Vgl. aber auch RandelzhoJer, in: Der StaatenverblUld der Europäischen Union, S. 39 (46) m.w.N. 206 Vgl. auch Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1070) m.w.N. 207 Siehe u.a. den der EEA vorangestellten dritten (" ... entschlossen, gemeinsam fiir die Demokratie einzutreten ... tt) sowie fiinften Erwägungsgrund (tt... sowie ganz besonders fiir die Grundsätze der Demokratie lUld die Wahrung des Rechts lUld der Menschenrechte, denen sie sich verpflichtet fiih1en, einzutreten, ... tt). Siehe in der Präambel des EUV den dritten (ttIn Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie lUld der Achttmg der Menschenrechte lUld Grundfreiheiten der Rechtsstaatlichkeit,tt) lUld fiinften Erwägungsgrund (ttIn dem WlUlsch, Demokratie lUld Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken, damit diese in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen Aufgaben in einem einheitlichen institutionellen Rahmen besser wahrZWlehmen,tt). Vgl. dazu Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1070 f); Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (213); Kluth, S. 67 ff. m.w.N.; Häberle, in: Der europäische VerfasslUlgsraum, S. 361 (392). Siehe ferner die am 8. April 1978 in Kopenhagen abgegebene (lUlverbindliche) ttErkläflUlg zur Demokratie" des Europäischen Rats, BullEG Nr. 3/1978, S. 5 f Vgl. dazu SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 202 f; Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (212 f) jeweils m.w.N. 203

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B. Die "Defizite" im einzelnen

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Abs. 1 EUV verpflichtet, "die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen", zu achten. 208 Auch die durch die EEA vorgenommene Umbenennung der Versammlung in Europäisches Parlament sowie dessen seit 1979 stattfindende unmittelbare Wahl bekunden eindeutig den Bezug zum Demokratieprinzip.209 Die Rechte des Europäischen Parlaments wurden im Bereich der Beteiligung an der Rechtsetzung zuletzt durch den EUV durch die Einführung des "Verfahrens der Mitentscheidung" (Art. 189b EGV) erweitert?IO Insgesamt sind die Ansätze für eine Verpflichtung der Gemeinschaft zur Demokratisierung im positiven Gemeinschaftsrecht bis in die jüngste Vergangenheit jedoch noch recht unbestimmt und rudimentär. 2I1 Schließlich hat aber der EuGH in ständiger Rechtsprechung das Demokratieprinzip, das zur gemeinsamen Verfassungstradition aller Mitgliedstaaten gehört, als (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsatz für das Gemeinschaftsrecht fruchtbar gemache 12 So spiegelt nach seiner Aussage insbesondere die Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Rechtsetzung zum Beispiel in der Form der Anhörung, "wenn auch in beschränktem Umfang, ein grundlegendes demokratisches Prinzip wider, nach dem die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt beteiligt sind". 213 208 Vgl. auch Streinz, Europarecht, Rn. 78, der in der in Art. F EUV zugnmde gelegten demokratischen Regienmgsform eine Mindestanfordenmg sieht, der neu aufzunehmende Mitgliedstaaten zu entsprechen haben. 209 Vgl. dazu Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 90 m.w.N.; Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1070); R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 137 Rn. 6 m.w.N.; Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (213) m.w.N.; Kluth, S. 69 f 1m übrigen hat der EuGH die RechtssteIlung des Parlaments ständig weiter ausgebaut. Siehe dazu nur die Verweise auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH bei Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1070 f). 210 Vgl. zu den Gründen, weshalb dem Europäischen Parlament in den Römischen Verträgen eine nur untergeordnete Rolle im Rahmen der Europäischen Integration zugedacht worden war, Schänberger, Hauptsache Europa, S. 16 ff m.w.N. 211 So auch Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (213). Vgl. ferner RandelzhoJer, in: Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 39 (43) m.w.N. 212 Siehe nur EuGH, Urteil vom 29. Oktober 1980, Rs. 138/79 (SA Roquette FrereslRat), Slg. 1980, S. 3333 (Rn. 33); EuGH, Urteil vom 29. Oktober 1980, Rs. 139/79 (Maizena GmbHlRat), Slg. 1980, S. 3393 (Rn. 34). Vgl. dazu auch Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (214). Skeptisch RandelzhoJer, in: Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 39 (44 f) m.w.N. 213 Siehe dazu EuGH, Urteil vom 29. Oktober 1980, Rs. 138/79 (SA Roquette FrereslRat), Slg. 1980, S. 3333 (Rn. 33); EuGH, Urteil vom 29. Oktober 1980, Rs. 139/79 (MaizenalRat), Slg. 1980, S. 3393 (Rn. 34); EuGH, Urteil vom 11. Juni 1991, Rs. C-300/89 (KommissionlRat), Slg. 1991 I, S. 2867 (Rn. 20); EuGH, Urteil vom 5. Juli 1995, Rs. C-21/94 (Europäisches Parlament/Rat), in Auszügen abgedruckt, in: EuZW 1995, S. 767 (Rn. 17). Vgl. dazu auch Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1070); Schwar-

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaat lichen Vollzug

Für die Verankerung des Demokratieprinzips im Gemeinschaftsrecht könnte man schließlich anführen, daß - wenn man auch eine diesbezügliche unmittelbare Bindung der Gemeinschaft ablehnf 14 - alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft der sog. Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)215, welcher ein ausgeprägtes Demokratieverständnis zugrunde liegfl6, beigetreten sind und sich hieraus zumindest eine mittelbare Bindung der Gemeinschaft an die EMRK und den in ihr verankerten demokratischen Grundsätzen ableiten läßt. 217 Aber dies wie auch die genannten Bezüge lassen insgesamt kein im Gemeinschaftsrecht verankertes übergeordnetes Demokratieprinzip mit einem hinlänglich bestimmten Inhalt erkennen. 218 b) Inhalt und Ursachen des "demokratischen Defizits" der Gemeinschaft

aa) Zu Inhalt und Ursachen des "demokratischen Defizits" Wer der Gemeinschaft vorhält, sie verfüge über ein "demokratisches Defizit", geht von der Prämisse aus, daß es nicht mehr ausreichend ist, daß "nur" die Mitgliedstaaten bzw. deren Regierungen und Parlamente der Gemeinschaft die ihr fehlende demokratische Legitimation gleichsam "vermitteln". Zumindest entspricht letzteres weitgehend den ursprünglichen Verhältnissen. 219 Auf der Grundlage der genannten Annahme bestimmt sich nun der konkrete Inhalt der ze, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 9 (14 ff); Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (214); Klösters, S. 105 jeweils m.w.N. Siehe auch die Ausfiihnmgen zu den sog. "Rechtsgrundlagenstreiten" oben unter I. 3. b). 214 Sehr strittig. Vgl. nur Weiß, Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 77 ff 215 Die vom Europarat am 4. November 1950 verabschiedete "Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" findet sich abgedruckt, in: Sartorius II unter Nr. 130. 216 Vgl. auch Ress, in: GS für Geck, S. 625 (640 f) m.w.N. m Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (214) m.w.N. Vgl. auch Beutler, in: GTE, EWGV, Grundrechtsschutz, Rn. 48 f Vgl. zur Frage des Bestehens einer mittelbaren Bindung der EG an die EMRK auch jüngst Weiß, Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 117 m.w.N. 218 So zutreffend auch RandelzhoJer, in: Der Staatenverbund der Europäischen Union, S. 39 (46). 219 Vgl. nur Klein, EuR 1987, S. 97 (101) m.w.N., der dafür den Terminus der "Mosaiklegitimation" prägt; ders., in: Rechtsvereinheitlichung durch Gesetz, S. 117 (129); Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, S. 38; Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1072 f); Pernice, DV 1993, S. 449 (452 f). Nach WeidenJeld, Europa '96, S. 33, wird auch künftig ein erheblicher Teil der "Legitimationslast" von den Mitgliedstaaten getragen werden müssen.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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diesbezüglichen Vorbehalte. Zunächst wird in diesem Kontext in besonderem Maße die zunehmende Entparlamentarisierung des politischen Prozesses in den Mitgliedstaaten genannt, die nicht durch einen entsprechenden Zuwachs auf der Gemeinschaftsebene kompensiert werde. 220 Damit einhergehend beinhaltet der Vorwurf eines sogar wachsenden "demokratischen Defizits" die fehlende "materielle" Rechtsetzungskompetenz des Europäischen Parlaments gegenüber Rat und Kommission. 221 Hinzu kommt die mangelnde Transparenz des Entscheidungsverfahrens im Rat, die auch trotz einschlägiger Beschlüsse des Europäischen Rates beim Gipfeltreffen in Edinburgh am 1l. und 12. Dezember 1992222 im Ergebnis bisher nicht hergestellt worden ist. 223 Schließlich werden die Verletzung des Grundsatzes der "Gleichheit der Wahl" als Bedingung der Demokratie und die daraus resultierende im Hinblick auf die proportionale Repräsentation der Bevölkerungen der Mitgliedstaaten uneinheitliche Zusammensetzung des Europäischen Parlaments gemäß Art. 138 Abs. 1 und 2 EGV (i.d.g.F.) bemängele24 Zu den in der Literatur genannten Ursachen für ein vorhandenes und sogar wachsendes "demokratisches Defizit" wird vorrangig auf die nachfolgend genannten Aspekte hingewiesen. Während sich in der Vergangenheit die in die Form des Rechts gefaßten Anweisungen der Gemeinschaft aufgrund ihres Charakters als Wirtschaftsgemeinscha:ft225 nahezu ausschließlich mit wirtschaftlichem Bezug an die Mitgliedstaaten richteten, so ist nicht zuletzt durch die stetige Schaffung zusätzlicher Kompetenzen226 in den letzten zwanzig Jahren ein 220 So Steinberger, WDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (39 f) m.w.N.; Schönberger, Hauptsache Europa, S. 99 f; Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (227); Piris, ELR 1994, S. 449 (462). Vgl. auch Seeler, EuR 1990, S. 99 (105 bzw. 107) m.w.N.; Weber-Panariello, S. 17 f 221 Vgl. Frowein, EuR 1983, S. 301 (305); Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (59); Steinberger, WDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (39) jeweils m.w.N. 222 Siehe BullEG Nr. 12/1992, S. 7 (10). 223 Vgl. Schönberger, Hauptsache Europa, S. 100 f Vgl. dazu auch Seeler, EuR 1990, S. 99 (103); Pernice, DV 1993, S. 449 (467) m.w.N. Fordenmgen, für das Verfahren im Rat entweder "generelle" oder zumindest "Parlamentsöffentlichkeit" einzufiihren, ablehnend Steinberger, WDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (45). Siehe zu den bisher erreichten diesbezüglichen "Fortschritten" im Rat SEK (95) 731 endg., S. 34. 224 Vgl. Erben'ch, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (223 f) m.w.N. Vgl. auch BVerlGE 89, S. 155 (186). Siehe ferner die Nachweise bei Pernice, DV 1993, S. 449 (481 f). 225 Siehe auch die Ausfiihnmgen zum "finalen" Charakter des Gemeinschaftsrechts oben im 1. TeillDlter B. ll. bzw. hier im 3. TeillDlter B. ll. 2. 226 Vgl. zur Vielfältigkeit der KompetenzzuweislDlg an die Gemeinschaft nur Weiden/eid, Europa '96, S. 14 f

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Wandel eingetreten. Sehr bald schon nach der Gründung der Gemeinschaft hatte sich gezeigt, daß die Errichtung des Gemeinsamen Marktes auf Dauer nicht ohne die zusätzliche Zuweisung politischer Kompetenzen an die Gemeinschaft möglich sein würde. 227 Konsequenterweise betätigt sich die Gemeinschaft nun immer stärker in den allgemeinen Politikfeldem. 228 Daraus folgt aber auch, daß ihre in der Form des Rechts ergehenden Handlungsanweisungen immer häufiger auch die privaten Marktteilnehmer unmittelbar betreffen. 229 Für letzteres spricht nicht zuletzt das Indiz der im Laufe der Zeit immer häufiger anzutreffenden Menschenrechtsrechtsprechung des EuGH aus Anlaß der auftretenden Rechtsstreite mit Gemeinschaftsrechtsbezug. 23o Diese gleichsam duale Entwicklung im Hinblick sowohl auf die Ausweitung ihrer Rechtsordnung und den enormen Umfang der durch sie mittlerweile beeinflußten mitgliedstaatlichen Rechtsetzung;31 als auch jene die privaten Marktteilnehmer unmittelbar betreffende Betätigung der Gemeinschaft hat eine nicht unerhebliche Bedeutung für die demokratische Legitimation der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft. 232 Ging man zunächst davon aus, auf eine Eigenlegitimierung der Gemeinschaft verzichten zu können, weil auf der einen Seite "die Einigung EuroVgl. dazu Seeler, EuR 1990, S. 99 (110 f.). 228 Vgl. dazu insbesondereSeeler, EuR 1990, S. 99 (105). 229 Vgl. dazu auch Schwarze, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 9 (15); Chwolik-Lanfermann, S. 38 m.w.N. Vgl. auch Streinz, in: Lebensmittelstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 219 (220), der darauf hinweist, daß die Frage nach der demokratischen Legitimation der Gemeinschaft von grundlegender Bedeutung fiir die Möglichkeit der Übertragung von Sanktionskompetenzen auf diese ist. Siehe dazu auch unten im 4. Teil unter B. IV. 2. b) cc) (2) und (3). 230 Vgl. Schwarze, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 9 (15 f.) m.w.N. Siehe im Hinblick auf den durch den EuGH kontinuierlich verbesserten Grundrechtsschutz auch BVerlGE 73, S. 339 (387). 231 Ausgehend von der häufig zitierten Aussage des vormaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors (. .. , daß in zehn Jahren 80 % des Wirtschafts- und gegebenenfalls des Steuer- und Sozialrechts Gemeinschaftsrecht sein würden. "), die aus dessen Rede im Europäischen Parlament vom 4. Juli 1988 stammt, erscheint es nicht unwahrscheinlich, daß in naher Zukunft bis zu 80 % aller wirtschaftlich relevanten Rechtsakte entweder direkt "in Brüssel" erlassen oder aber zumindest durch Rechtsakte der (Je.. meinschaft maßgeblich vorherbestimmt werden. Siehe dazu BullEG Nr. 7/8/1988, S. 124. Insgesamt soll schon heute jedes zweite deutsche Gesetz auf einen Akt der (Je.. meinschaft zurückgehen. Vgl. dazu Rabe, NJW 1993, S. I (I) unter Berufung auf den deutschen EG-Kommissar M. Bangemann. Vgl. auch Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (207 f.); Schoch, JZ 1995, S. 109 (109) jeweils m.w.N. Das BVerlG hat diese Zahlen ebenfalls übernommen. Siehe BVerlGE 89, S. 155 (172 f.). 232 Vgl. dazu auch Klein, in: Rechtsvereinheitlichung durch Gesetz, S. 117 (129); von Simson/Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 51; Weidenfeld, Europa '96, S. 32; Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (208) m.w.N. 227

B. Die "Defizite" im einzelnen

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pas als Vollzug eines aus den Katastrophen der ersten Hälfte des Jahrhunderts entspringenden moralischen Imperativs begriffen" wurde233 und es sich auf der anderen Seite bei den von der Gemeinschafts erlassenen Rechtsakten eher um "Wissensakte" als um "Willensakte" handelte ("Legitimierung durch Sachverstand"234), so sind diese Prämissen aus der Anfangszeit der Gemeinschaft angesichts der im Laufe der Zeit enorm ausgedehnten Rechtsetzungsbefugnisse mit den schon genannten Auswirkungen nach allgemeiner Meinung kaum noch aufrechtzuerhalten. 235

bb) Eigene Stellungnahme Die Notwendigkeit der Verankerung weiterer demokratischer Strukturen in der Gemeinschaft ist eng mit dem erreichten Fortschritt des Integrationsprozesses verbunden. 236 Es soll daher schon hier im Grundsatz festgehalten werden, daß in dem Maße, in welchem die Gemeinschaft vermehrt supranationale He>heitsgewalt ausübt, diese auch durch die Statuierung demokratischer Prinzipien auf der Ebene der Gemeinschaft legitimiert sein muß. 237 Der EuGH scheint sich der Einsicht in diese Notwendigkeit ebenfalls nicht zu verschließen, indem er sich im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments auf den "Grundsatz der Demokratie" berufen hat. 238 Insoweit 233 Kielmansegg, in: Reform der Europäischen Union, S. 229 (229). Vgl. auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (61), der ausführt, daß in der Anfangsjahren der Gemeinschaft die Überzeugung von der "Richtigkeit" des Europagedankens ausgereicht hat, "um dem Gemeinschaftsrecht Befolgung und damit Autorität zu sichern." 234 Vgl. dazu auch Klein, EuR 1987, S. 97 (101). 235 Vgl. dazu Everling, in: Die Entwicklung der EG, S. 12 (20). Vgl. aber auch Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (958); Hrbek, in: GS für Grabitz, S. 171 (173 f) jeweils m.w.N. 236 So auch Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (207) m.w.N. Vgl. ferner Pernice, DV 1993, S. 449 (475) m.w.N.; H. P. Ipsen, EuR 1994, S. 1 (5). 237 Vgl. Klösters, S. 105. 238 Siehe nur EuGH, Urteil vom 11. Juni 1991, Rs. C-300/89 (KomrnissionlRat), Slg. 1991 I, S. 2867 (Rn. 20). Siehe ferner die Nachweise oben unter a) bb). Siehe jedoch auch EuGH, Zwischenurteil vom 22. Mai 1990, Rs. C-70/88 (Europäisches ParlamentIRat), Slg. 1990 I, S. 2041 (Rn. 22 ff). Der EuGH hatte hier unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung dem Europäischen Parlament im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 173 Abs. 1 EWGV (a.F.) erstmals die Aktivlegitimation zuerkannt. Allerdings hat er sich in diesem Fall nicht auf den "Grundsatz der Demokratie" berufen, sondern auf die "Aufrechterhaltung und Wahrung des von den Verträgen zur Griindung der Europäischen Gemeinschaften festgelegten institutionellen Gleichgewichts". Siehe jetzt aber auch den durch den EUV eingeführten Art. 173 Abs. 3 EGY. Siehe dazu nur EuGH, Urteil vom 7. März 1996, Rs. C-360/93 (Europäisches Parla-

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

wird der Neigung des Rates, mitgliedstaatliche Politikbereiche zu "europäisieren", was für sich gesehen im Hinblick auf die effiziente Lösung von Problemen grundsätzlich geboten isf39, und damit den mitgliedstaatlichen parlamentarischen Einfluß zu mindern, unter Umständen eine aus dem sich aus der Struktur der Gemeinschaftsrechtsordnung ergebenden Demokratiedefizit fließende Grenze gesetzt. 240 In welcher Art und Weise hier konkrete demokratische Sicherungen einzurichten sind, soll Gegenstand der nachfolgenden Abschnitte sein?41 In diesem Abschnitt soll es "lediglich" um die konkrete Begründung der Notwendigkeit demokratischer Sicherungen auf Gemeinschaftsebene gehen. Aufgrund der Besonderheiten der Gemeinschaft und ihrer Rechtsordnung ist es den im Gemeinschaftsorgan Rat versammelten Regierungen der Mitgliedstaaten möglich, in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft über entsprechende Kompetenzen verfügt, mitgliedstaatliche Parlamente einfach "auszuspielen", weil Normen in den Mitgliedstaaten sogar gegen den erklärten Widerstand eines mitgliedstaatlichen Parlaments über die Gemeinschaftsebene wirksam werden können?42 Vor dem Hintergrund dieser Tatsache ist festzustellen, daß die Tätigkeit des Rates bzw. seiner Mitglieder zunehmend der parlamentarischen Kontrolle in den Mitgliedstaaten entgleitet,243 Unabhängig von der Rolle, die das Europäische Parlament in diesem Kontext spielen kann bzw. soll, ist eine solche Entwicklung aber nicht hinzunehmen. Die Gründe dafür liegen in den verfassungsrechtlichen Demokratiegeboten der Mitgliedstaaten?44 Dies wird deutlich sowohl anhand der dem "demokratischen Defizit" zugeschriebenen Inhalte als auch angesichts des textlichen Befundes im Gemeinschaftsrecht. Hinzu kommt, daß es kein völkerrechtliches Gebot gibt, nach dem sich die Gemeinschaft eine demokratische Struktur geben müßte. 245 In Anbetracht der verfassungsrechtlichen Demokratiegebote der Mitgliedstaaten muß vom Grundsatz her gelten, daß die Gemeinschaft - vereinfacht formentlRat), in Auszügen abgedruckt, in: Tätigkeiten Nr. 7/1996, S. 15 (16). Vgl. dazu insgesamt Sfreinz, Europarecht, Rn. 323 m.w.N. Klösfers, S. 106, legt diese EntscheidWlg als Andeutung der "Notwendigkeit einer verstärkten AkzentuierWlg des Demokratieprinzips in den gemeinschaftlichen RechtsbeziehWlgen" aus. 239 Siehe dazu bereits oben im l. Teil Wlter AI. bzw. im 2. Teil Wlter B. m. 240 Vgl. auch Seeler, EuR 1990, S. 99 (105). 241 Siehe insbesondere Wlten Wlter 5. 242 Vgl. dazu auch von der Groeben, Legitimationsprobleme der Europäischen Gemeinschaft, S. 129. 243 Vgl. dazu Klein, EuR 1987, S. 97 (101); Klösfers, S. 110 f jeweils m.w.N. 244 Vgl. dazu auch Ress, in: GS fiir Geck, S. 625 (629). 245 Vgl. dazu nur RandelzhoJer, in: Der StaatenverbWld der Europäischen Union, S. 39 (41); Rupp, ebenda, S. 59 (59).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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muliert - ihr Handeln dann zu legitimieren hat, wenn sie in bestimmte "geschützte" Bereiche eingreift. Es kann insoweit zwischen der Ebene der Mitgliedstaaten und jener der privaten Marktteilnehmer unterschieden werden. Im Hinblick auf die Mitgliedstaaten ist der "geschützte" Bereich jener der Souveränität. Unter Souveränität im Sinne des Völkerrechts wird an dieser Stelle der Rechtsstatus verstanden, der die Existenz, die territoriale Integrität und die Handlungsfreiheit eines Staates nach außen und seine Gestaltungsfreiheit nach innen in den Grenzen des Völkerrechts anerkennt und schützt. 246 Im Hinblick auf den Gemeinschaftsbürger aber ist es der durch die Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie in der EMRK verankert sind241 , geschützte individuelle Freiheitsbereich. Zuständig für die Vornahme von Maßnahmen, welche die vertragliche Beschränkung der Souveränität eines Staates betreffen, ist in erster Linie die Exekutive eines Mitgliedstaates unter eventueller Beteiligung der Legislative. Menschenrechtsbeschränkungen auf normativer Ebene vornehmen oder anhand einer Ermächtigungsgrundlage zulassen kann jedoch nach heutigem Verfassungsverständnis im Regelfall nur ein Parlament. Nachdem die Mitgliedstaaten durch die Unterzeichnung der Römischen Verträge sowie der weiteren vertragsändernden oder -ergänzenden Verträge grundsätzlich unter Beteiligung ihrer Parlamente in die Einschränkung der Ausübung ihrer Souveränitätsrechte eingewilligt haben248 , gilt es nun zu überlegen, inwieweit diese Einwilligung der Mitgliedstaaten auch Eingriffe der Gemeinschaft in die Freiheitssphäre der privaten Marktteilnehmer legitimiert. Grundsätzlich muß wohl angenommen werden, daß die Vertragsnormen, die besagte Eingriffe zulassen bzw. die Schaffung von menschenrechtsrelevantem Sekundärrecht ermöglichen, aufgrund der mitgliedstaatlichen Ratifizierung eine ausreichende parlamentarische Legitimation erfahren haben. Dieser Ausgangspunkt führt im Ergebnis jedoch zu der Frage, wer gerade die konkreten menschenrechtsrelevanten Entscheidungen der Regierungsvertreter im Rat als maßgeblichem rechtsetzenden Organ schon bei ihrer Entstehung kontrollieren bzw. so im Einzelfall demokratisch legitimieren soll.249 Grundsätzlich ist zwar anhand des primären Gemeinschaftsrechts inklusive seiner Änderungen und Erweiterungen das gemeinschaftliche Integrationsprogramm und damit anhand der sich daraus ergebenden mitgliedstaatlichen Rechte und Pflichten die mitgliedstaatliche Souve246 Vgl. Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (17 f.) m.w.N. Vgl. auch Verdross/Simma, Völkerrecht, §§ 35 ff. m.w.N. Siehe aber auch \Dlten im 5. Teil \Dlter B. I. 241 Siehe zu EMRK schon oben \Dlter a) bb). 248 So auch Weidenfeld, Europa '96, S. 15. 249 An dieser Stelle sei nur auf Schäfer, DÖV 1991, S. 261 (266), verwiesen, der die mitgliedstaatlichen Parlamente als unfähig ansieht, ihre Regier\Dlgen auf Gemeinschaftsebene zu kontrollieren.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

ränitätsbeschränkung voraussehbar umschrieben250 , gleiches läßt sich jedoch nicht für die Vorhersehbarkeit der Reichweite der von der Gemeinschaft verabschiedeten menschenrechtsrelevanten Rechtsakten im Einzelfall sagen. Dies gilt um so mehr, als gerichtlicher Schutz als ein vermeintliches Korrelativ von den privaten Marktteilnehmer grundsätzlich erst nach der Vornahme einer auf den entsprechenden Rechtsakten beruhenden Einzelmaßnahme erlangt werden

kann. Gerade die letzte Fragestellung führt zu weiteren Überlegungen. So wird hier davon ausgegangen, daß aufgrund neuerer vertragsrechtlicher Entwicklungen in der Gemeinschaft die mittelbare Legitimation der Regierungsvertreter im Rat und deren Kontrolle durch ihre mitgliedstaatlichen Parlamente mit zunehmender Dauer nicht mehr den mitgliedstaatlichen Demokratieanforderungen genügen?5\ Insbesondere durch die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung im Rat im Rahmen des Art. 100a Abs. 4 Satz 1 i.Y.m. Abs. 1 EGV ist eine effektive Kontrolle des Regierungsvertreters durch sein staatliches Parlament ohnehin nicht mehr möglich, denn mit der Überstimmung des Regierungsvertreters im Rat kann die mittelbare demokratische Legitimation als unwirksam angesehen werden. 2S2 Selbst für den Fall, daß ein Parlament dem Regierungsvertreter eine Weisung erteilen könnte, müßte es ihn, um eine effektive Wirkung zu erreichen, zugleich zwingen, sich gegen eine möglicherweise entgegen dem Wortlaut der Weisung lautende Entscheidung des Rates auf die Luxemburger Vereinbarung253 zu berufen?54 Die Verpflichtung zu einem solchen Verhalten würde zunächst aber die Existenz der Gemeinschaft selbst in Frage stellen und zudem bedeuten, daß jeder Staat jenseits des Einstimmigkeitsprinzips "integrationsunfähig" wäre. 2SS Möglicherweise finden sich aber Wege, wie diese Probleme sinnvoller durch noch aufzuzeigende Reformen auf der Ebene der Gemeinschaft oder der der Mitgliedstaaten gelöst werden können. 256

250 Siehe auch BVerfGE 89, S. 155 (187 f bzw. 191). 25\ Vgl. dazu nur Everling, in: Die Entwicklung der EG, S. 12 (20). 252 Vgl. aber auch die Nennung weiterer Aspekte bei Klösters, S. 110 f m.w.N. 253 Siehe dazu schon oben im 1. Teil unter A I. 254 Vgl. auch Streinz, Bundesvetfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 48 f m.w.N., zur Pflicht des Vertreters der Bundesrepublik Deutschland im Rat, "sich zur Verhinderung materiell venassungswidrigen Gemeinschaftsrechts auf die Luxemburger Vereinbarung zu berufen". 255 So H. P. Ipsen, EuR 1994, S. 1 (6) mit Verweis auf BVerfGE 89, S. 155 (183). Vgl. auch Saalfrank, S. 76 m.w.N. 256 Siehe dazu oben unter 5.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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c) Zusammenfassung

Der Vorwurf eines in der Gemeinschaftsrechtsordnung angelegten "demokratischen Defizits" rührt aus der zunehmenden Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Gemeinschaft her. Die in erster Linie vom Rat wahrgenommene Ausübung in Form der die Mitgliedstaaten verpflichtenden Rechtsetzung war bisher jedoch zumindest zum größten Teil den mitgliedstaatlichen Parlamenten vorbehalten. 257 Verbunden mit der Kritik an der Tatsache des aus den genannten Umständen resultierenden stetigen Verlustes an parlamentarischer Kontrolle auf der mitgliedstaatlichen Ebene, der auf Gemeinschaftsebene nach Ansicht großer Teile der Literatur (bisher) nicht ausreichend kompensiert wurde, erfordert nach der hier vertretenen Meinung insbesondere die Befugnis der Gemeinschaft zu einer menschenrechtsrelevanten Normgebung eine (verstärkte) "demokratische Legitimation". Insgesamt liegt dem "Vorwurf', es bestehe im Hinblick auf die Gemeinschaft ein "demokratisches Defizit", ein originär mitgliedstaatliches Problem zugrunde. Um aber die Gemeinschaft insbesondere im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur effektiven Lösung von drängenden gemeinschaftsweiten Problem zu erhalten, haben sich die Mitgliedstaaten und natürlich die Gemeinschaft selbst den aus den Mitgliedstaaten herrührenden Problemen zu stellen. Beide Seiten haben daher unter Beachtung der Eigenheiten der Gemeinschaft für ausreichende demokratische Mechanismen zu sorgen. Im Hinblick auf die Gemeinschaft finden sich Ansätze dafür sowohl im Primärrecht als auch in der Rechtsprechung des EuGH.

3. "Akzeptanz und Recht" und der Bezug zur Gemeinschaft a) Einleitung

Es ist hinreichend erwiesen, daß die "Legalität" des Rechts als solche seine Befolgung nicht allein verbürgt.m Ähnlich verhält es sich mit der Annahme, richtig gewählte Sanktionen würden sich zur Durchsetzung eines jeden Rechts eignen. 259 Überlegungen zur Durchsetzbarkeit von Gemeinschaftsrecht - wie auch von Recht im allgemeinen260 - müssen daher bei den Quellen freiwilliger Vgl. nur Piris, ELR 1994, S. 449 (462). Vgl. aber im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1071) m.w.N. 259 Vgl. dazu Bruha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (310) m.w.N.; Czybulka, DV 1993, S. 27 (29). 260 Gnmdlegend zur Frage der Geltung von Recht mit gegensätzlichen Positionen 257

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Loyalität ansetzen?61 Dies gilt besonders für die Frage nach den Gründen für die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, Gemeinschaftsrecht zu befolgen, denn die Gemeinschaft ist auf die freiwillige Befolgung ihrer Rechtsbefehle angewiesen, weil sie über keine eigenen Zwangsmittel zur Durchsetzung ihres Rechts verfügt. 262 Jedoch richtet sich das Gemeinschaftsrecht mehr oder weniger unmittelbar auch an die privaten Marktteilnehmer, so daß ebenfalls auf deren Bereitschaft, Gemeinschaftsrecht zu befolgen, eingegangen werden S011. 263 Die nachfolgenden Ausführungen sollen sich auf den Begriff der "Akzeptanz" konzentrieren. 264 "Akzeptanz" ist grundsätzlich dann gegeben, wenn eine Entscheidung für richtig, überzeugend und gerecht gehalten wird; in abgeschwächter Form besteht "Akzeptanz", wenn eine Entscheidung zwar nicht für richtig gehalten wird, sie jedoch dennoch aus dem Grunde respektiert wird, weil die Zuständigkeit und Autorität desjenigen, der die vermeintlich falsche Entscheidung gefällt hat, oder weil das Verfahren, nach dem eine Entscheidung herbeigeführt wird, anerkannt wird 265 Die "Akzeptanz" eines Beschlusses läßt sich auf unterschiedliche Parameter zurückführen, die nicht abschließend bestimmbar sind. 266 An dieser Stelle sollen lediglich die "Verständlichkeit einer Entscheidung" und die "Transparenz eines Entscheidungsverfahrens" angeführt werden. 267 Wenn die "Akzeptanz" von Recht das Ergebnis eines sehr komplexen und langwierigen Prozesses darstellt und ihre Faktoren im einzelnen nicht bestimmbar sind, so kann dennoch festgestellt werden, daß ein Problem mit der "Akzeptanz" des Gemeinschaftsrechts aus den oben genannten

Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, und jüngst Habermas, Faktizität und Geltung. 261 So auch für die sog. "informierte Gesellschaft" Czybulka, DV 1993, S. 27 (29). Vgl. außerdem Herzog, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, S. 127 (l28 f). 262 So auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (54 f). Vgl. auch Ukrow, S. 226 f Siehe zu den Schwächen der "zentralen Kontrolle" schon oben unter II. 3. b) 11). Siehe aber auch schon die Ausfiihrungen oben im 2. Teil unter C. II. 2. c) cc) (2), (3) und (4). 263 Vgl. dazu auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (53 f). 264 Vgl. auch Schoch, JZ 1995, S. 109 (119) m.w.N. 265 Vgl. Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (56 f); Benda, Akzeptanz, S. 4. Vgl. im Hinblick auf den EuGH und Gerichte im allgemeinen auch Everling, EuR 1994, S. 127 (130). 266 Siehe auch den Überblick bei Würtenberger, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, S. 533 (543 ff) m.w.N. 267 Siehe auch die Aufzählung bei Bruha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (310 f) m.w.N. Vgl. ferner Czybulka, DV 1993, S. 27 (29).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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Gründen nicht nur dessen Befolgung, sondern auch die Gemeinschaft selbst in Frage stellt. 268

b) Das Problem der ''Akzeptanz'' und die Mitgliedstaaten

Die Mitgliedstaaten selbst haben durch die Ratifizierung der Gründungsverträge bzw. deren späteren Änderungen und Erweiterungen in die Beschränkung ihrer Souveränität eingewilligt. Akzeptanzprobleme bestehen für diese aber insbesondere dann, wenn die Gemeinschaft sich aufgrund einer angeblich "überdehnten" Anwendung bzw. Auslegung der der Gemeinschaft vertraglich zugestandenen Kompetenzen Handlungsmöglichkeiten verschafft, die für die Mitgliedstaaten bei Vertragsschluß kaum vorhersehbar und von ihnen wohl auch nicht gewollt waren. 269 Dies betrifft sowohl bestimmte Sachgebiete betreffende Kompetenzerweiterungen270 als auch die Rechtsfortbildung des EuGH im Hinblick zum Beispiel auf die gemeinschaftsrechtlich veranlaßte Berechtigung der privaten Marktteilnehmer, Mitgliedstaaten, die ihre Vollzugspflichten verletzen, auf der Grundlage des mitgliedstaatlichen Staatshaftungsrechts zur Verantwortung ziehen zu können271 . Den Mitgliedstaaten muß jedoch in jedem Fall entgegengehalten werden, daß sie der Begründung eines Integrationsverbandes zugestimmt haben, wodurch sich die stetige Verdichtung und auch Erweiterung ihrer rechtlichen Verpflichtungen als zwangsläufige Konsequenz ergibt. Darüber hinaus wurde auch die Verabschiedung des überwiegenden Teiles des sekundären Gemeinschaftsrechts von den Vertretern der Mitgliedstaaten im Rat gemeinsam gebilligt, zumindest aber haben diese der Übertragung von entsprechenden Delegationsbefugnissen auf die Kommission zugestimmt. Trotz der hier vorgetragenen Argumente kann dennoch die Tatsache nicht geleugnet werden, daß sich Akzeptanzprobleme bei den Mitgliedstaaten zumindest dann einstellen, wenn diese das Gefühl haben, daß elementare staatliche Belange be268 Vgl. dazu Thorn, EA 1984, S. 229 (231); Brnha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (310 f) m.w.N. Vgl. auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (53) m.w.N. 269 Vgl. auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (62) m.w.N. 270 Siehe nur EuGH, Urteil vom 31. März 1971, Rs. 22/70 (KommissionlRat), Slg. 1971, S. 263 ff. Der EuGH hat im übrigen erst einmal einen gemeinschaftlichen Rechtsakt wegen Überschreitung ihrer Kompetenzen für nichtig erklärt. Siehe dazu EuGH, Urteil vom 9. Juli 1987, verb. Rs. 281, 283-285, 287/85 (Deutschland u.a.l Kommission), Slg. 1987, S. 3203 (Rn. 32 ff.). Vgl. dazu auch Ukrow, S. 229. 271 Siehe nur EuGH, Urteil vom 19. November 1991, C-6 u. 9/90 (Francovich u.a.l Italien), Slg. 1991 I, S. 5357 ff. Siehe dazu auch die Ausfiihnmgen lUlten im 4. Teil lUlterC. ill.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

troffen seien. 272 Dies geschieht eben, wenn die Rechtsordnung der Gemeinschaft einen Verlauf nimmt, der von den Mitgliedstaaten nicht einmal in Ansätzen vorhergesehen worden ist. Insoweit verkehrt sich eine durchaus integrationsfreundliche "Überdehnung" der zur Verfügung stehenden Kompetenzen der Gemeinschaft leicht in ihr Gegenteil. 273 Aber auch hier kann im Ergebnis nur angeführt werden, daß gerade für die Mitgliedstaaten die Einsicht in die Tatsache, daß die Lösung existentieller mitgliedstaatlicher Probleme die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft voraussetzt, zur Akzeptanz führen muß. Nichtsdestoweniger erfordert die Notwendigkeit eines Konsenses zwischen den Mitgliedstaaten für den Fortbestand der Gemeinschaft in der bisher erreichten Form entsprechende "Gegenleistungen" der Gemeinschaft. 274 Es sei dazu hier nur auf die Rechtsprechung des EuGH zum "europäischen" Menschenrechtsschutz verwiesen. 27S Als Indiz für die Bestätigung der Aussage, das der nötige Konsens derzeit besteht, soll an dieser Stelle "lediglich" die dem "Integrationsprogramm" im Grundsatz zustimmende Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte angeführt werden. 276

c) Das Problem der "Akzeptanz", die Gemeinschaftsbürger und das "demokratische Defizit" Es gibt genügend Beispiele, bei denen Gemeinschaftsbürger aufgrund von Zweifeln an der Richtigkeit des Gemeinschaftsrechts dieses nicht befolgt haben. 277 Hinsichtlich der "Akzeptanz" des Gemeinschaftsrechts durch die Gemeinschaftsbürger ergeben sich jedoch völlig andere Aspekte, die hier einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen. Zunächst hat man zu beachten, daß es im Regelfalf 78 die Mitgliedstaaten selbst sind, die ihren Bürgern gegenüber die gemeinschaftlichen Normbefehle unter Einbeziehung sämtlicher 272 Eine durch den EIN ausgelöste "Akzeptanzkrise" wird diagnostiziert von Hilf, VVDStRL Bd. 53 (1994), S. 7 (9 f). Vgl. auch Schoch, JZ 1995, S. 109 (119). 273 Ähnlich auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (62); Ukrow, S. 227 jeweils m.w.N. 274 Vgl. auch Schoch, JZ 1995, S. 109 (119). 275 Vgl. Schwarze, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 9 (21). Siehe dazu aber auch \Dlten \Dlter C. Ill. Vgl. insgesamt von Simson/Schwarze, Europäische Integration \Dld Gnmdgesetz, S. 13 m.w.N. 276 Zuletzt BVerfGE 89, S. 155 (188 bzw. 191 f) Siehe aber auch die Nachweise oben im 2. Teil \Dlter C. 11. 2. c) cc) (3). 277 Vgl. dazu nur Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (70 f) m.w.N. 278 Der "gemeinschaftslDlmittelbare" Vollzug von Gemeinschaftsrecht stellt den Ausnahmefall dar. Siehe dazu bereits oben im 2. Teil \Dlter C. I. 3.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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Staatsgewalten vermitteln?79 Es besteht daher zwischen den Gemeinschaftsbürgern und der Gemeinschaft grundsätzlich kein direkter Kontakt. Allein aufgrund dieses Umstandes fragt es sich, in welchem Verhältnis und wie die Gemeinschaft bzw. die Mitgliedstaaten die "Akzeptanz" für die Gemeinschaft und ihre Rechtsordnung unter den Bürgern sorgen können bzw. angesichts des "demokratischen Defizits" zu sorgen haben. Die Gemeinschaft kann ihrerseits über die ihr Handeln bestimmenden Sachzwänge aufklären. Doch sind die finanziellen und personellen Mittel der Gemeinschaft begrenzt. Auch wird der Informationsprozeß angesichts der mangelnden Transparenz280 und der Kompliziertheit des gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahrens, welche es dem Gemeinschaftsbürger nahezu unmöglich machen, nachzuvollziehen, wie eine Gemeinschaftsnorm entstanden ist, nicht unerheblich erschwert. Als sehr effizient erweist sich jedoch das Bestreben aller Gemeinschaftsorgane, verstärkt subjektive Rechte für die Gemeinschaftsbürger zu schaffen, um so die "Akzeptanz" des Gemeinschaftsrechts bei den Gemeinschaftsbürgern zu erhöhen. 281 Den Mitgliedstaaten nun stehen ebenfalls mehrere die "Akzeptanz" bei den Bürgern steigernde Möglichkeiten zur Verfügung. Neben dem allgemeinen Mittel der Aufklärung können sie Sorge dafür tragen, daß die von der Gemeinschaft geschaffenen subjektiven Rechte zunächst bekanntgemacht werden und dann auch tatsächlich durchgesetzt werden können. Angesichts der anstehenden Vertragsrevisionskonferenz nach Art. N Abs. 2 EW82 könnten die Mitgliedstaaten ihre Bürger neben der Aufklärung und Information über die Europäische Integration auch in "effektiver" Weise an der Vorbereitung konkreter Vorschläge zur Reform von Gemeinschaft und EU im Rahmen einer öffentlich geführten Diskussion beteiligen. Im Hinblick auf die Verbindung von "Akzeptanz" und "Demokratie" ist folgendes anzuführen. Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist die Annahme, daß ein Bürger einem repräsentativen mitgliedstaatlichen Parlament vertraut, welches Recht setzt und die Maßnahmen der Exekutive kontrolliert. Jedoch verlieren die rnitgliedstaatlichen Parlamente aus den bereits genannten Gründen zunehmend die Möglichkeit der selbstbestimmten Gesetzgebung und der effektiven Kontrolle der rnitgliedstaatlichen Exekutiven im Hinblick auf deSiehe dazu oben im 2. Teil nur mter C. I. 2. Vgl. Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1071); Klösters, S. llO f m.w.N. 281 Vgl. dazu nur Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (217). Siehe aber auch die Ausfiihnmgen mten im 4. Teil mter C. TI., Ill. md IV. 282 Siehe dazu schon oben im 1. Teil mter A. TI. 279 280

11 Püh.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

ren Verhalten bei der Rechtsetzung durch die Gemeinschaft. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Gemeinschaftsrechtsetzung für den Bürger wird daher ein Problem der "Akzeptanz" offenbar. Dies gilt besonders dort, wo der Bürger aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Normen Menschenrechtseingriffe hinzunehmen hat?83 An dieser Stelle müssen neue Wege der die "Akzeptanz" der Bürger fordernden Beteiligung ansetzen. Dies gilt in besonderer Weise für die Staaten, die aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Volksabstimmungen kennen. Diesbezügliche Ansätze können, ohne hier bereits eine konkrete Entscheidung zu fällen284 , sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch der Gemeinschaft ansetzen. Dabei gilt, daß die Kompetenz zur weiteren Ausgestaltung des europäischen Integrationsprozesses weiterhin den Mitgliedstaaten zusteht ("Herren der Verträge"285). Die Wahlen der mitgliedstaatlichen Parlamente durch die Bürger erscheinen insoweit als ausreichend für die Herstellung der "Akzeptanz" der mit dieser Zielrichtung gefällten Entscheidungen der dazu berufenen mitgliedstaatlichen Organe. Um jedoch die "Akzeptanz" der Entscheidungen, die in der Gemeinschaft gefällt werden, sicherzustellen, verbleibt lediglich der Weg der unmittelbaren Wahl des mit "wirklichen" Kompetenzen ausgestatteten Europäischen Parlaments. Dadurch, daß auf diese Weise unter Berücksichtigung der Eigenheiten der Gemeinschaft die demokratische Kontrolle der Gemeinschaftsgewalt auf den Kreis der durch sie Betroffenen bezogen wird, wird sowohl den Forderungen nach "Akzeptanz" als auch denen nach Einhaltung von demokratischen Prinzipien entsprochen. 286

d) Zusammenfassung

Die Bedeutung der "Akzeptanz" der Gemeinschaft und ihrer Rechtsordnung ist angesichts der zunehmenden Gemeinschaftskompetenzen ernst zu nehmen. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Gemeinschaftsbürger. Die Tatsache, daß die mitgliedstaatlichen Parlamente und damit die einzelnen Bürger der Mitgliedstaaten287 in stetig zunehmender Weise ihren Einfluß auf die RechtsetVgl. dazu auch Bruha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (311). Siehe dazu Wlten Wlter 5. 285 Vgl. dazu nur Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (955) m.w.N. 286 Vgl. dazuPernice, DV 1993, S. 449 (478) m.w.N. 281 Vgl. Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1072). Zuleeg, a.a.O., zeigt ein Bild der Demokratie auf, das von der SelbstbestimmWlg der Person geprägt ist. Siehe auch BVerlGE 44, S. 125 (144): Weil der Staat "der freien Selbstbestimmung aller Wlter Gewährleisttmg von Frieden Wld OrdnWlg einen institutionellen Rahmen verbürgt, kommt dem Staat Hoheitsgewalt ... zu ... " 283

284

B. Die "Defizite" im einzelnen

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zung der Gemeinschaft verlieren, die ihrerseits jedoch immer stärker allgemeine politische Bereiche als auch die Freiheitssphäre der Individuen berührt, läßt allein aus Gründen der "Akzeptanz" einen Handlungsbedarf entstehen. 288 Dieser verlangt nach einer Beteiligung der Bürger an den europäischen Entscheidungsprozessen. Eine solche Einbeziehung des Bürgers setzt zur ihrer Wirksamkeit aber voraus, daß sie effektiv ist und der Bürger zu erkennen vermag, welchen konkreten Einfluß er durch sein Handeln nehmen kar:t. Darauf wird aber noch einzugehen sein. 289

4. Das "demokratische DeilZit" als Strukturmerkmal der Gemeinschaft bzw. die Stellung des Europäischen Parlaments im Gefüge der Gemeinschaft

a) Einleitung Das in den bisherigen Ausführungen festgestellte "demokratische Defizit" der Gemeinschaft hat seinen Ursprung in den verfassungsrechtlichen Demokratiegeboten der Mitgliedstaaten. Es reicht jedoch nicht aus, daß zu seiner Behebung lediglich auf der Ebene der Mitgliedstaaten angesetzt wird, sondern auch die Gemeinschaft als solche ist in diesbezügliche Überlegungen mit einzubeziehen. Bevor jedoch konkrete Maßnahmen ins Auge gefaßt werden, soll zunächst sowohl ein Blick auf das gemeinschaftliche Rechtsetzungsverfahren als auch auf das sog. "institutionelle Gleichgewicht" zwischen den Organen der Gemeinschaft geworfen werden. Dabei ist insbesondere zu erkunden, welche Stellung dem Europäischen Parlament als dem einzigen durch die Gemeinschaftsbürger unmittelbar legitimierten Gemeinschaftsorgan zukommt.

b) Die Rechtsetzung durch die Gemeinschaft unter besonderer Beachtung der Rolle des Europäischen Parlaments aa) Die Rechtsnatur der Gemeinschaft und ihre Berechtigung zur Rechtsetzung Vorab gilt es festzuhalten, daß es sich bei der Gemeinschaft um keinen Staat, aber um mehr als nur die klassische Form internationaler Staatenkooperationen handelt. 290 Sie ist eine supranationale Integrationsgemeinschaft und damit kei288 289 290

Vgl. dazu auch Luhmann, Legitimation durch VeIfahren, S. 32 f bzw. S. 87. Siehe unten unter 5. So zutreffend Seeler, EuR 1990, S. 99 (100).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaat lichen Vollzug

ne finale Form einer Organisation, sondern ein in einem Entwicklungsprozeß befindlicher Integrationsverbund ihrer Mitgliedstaaten. 291 Insgesamt verfügt sie sowohl über völkerrechtliche Strukturen als auch über solche, die traditionell nur bei Staaten zu finden sind. 292 Sie übt eine eigene hoheitliche Gewalt in den Bereichen aus, die ihr von den Mitgliedstaaten übertragen worden sind?93 Zu diesem Zweck verfügt sie in ebendiesen Bereichen über Legislativbefugnisse. Ihre Rechtsakte sind für die Mitgliedstaaten bindend, sobald das Rechtsetzungsverfahren der Gemeinschaft abgeschlossen ist, ohne daß es noch einer Zustimmung durch die mitgliedstaatlichen Parlamente bedürfte. 294 Aufgrund ihrer Kompetenzen ist die Gemeinschaft imstande, in einem für völkerrechtliche Organisationen quantitativ einmaligen Umfang unmittelbar auf die Gemeinschaftsbürger zuzugreifen. 295

bb) Überblick über das Entscheidungs- und Rechtsetzungsverfahren der Gemeinschaft Im Hinblick auf die Entscheidungsstrukturen der Gemeinschaft hielt man sich im wesentlichen an die klassischen völkerrechtlichen Vorbilder?96 So stellt der Rat (Art. 145 fI. EGV) das eigentliche Entscheidungs- bzw. Rechtsetzungsorgan mit geringfügigen Exekutivbefugnissen dar. 297 Das Europäische Parlament (Art. 137 fI. EGV) verfügt in erster Linie über beratende und Kontrollfunktionen. Im Rahmen des Entscheidungs- und Rechtsetzungsverfahrens hat es je nach Sachgebiet mehr oder weniger Beteiligungsrechte?98 Die Kommissi291 Seeler, EuR 1990, S. 99 (113). Vgl. auch H. P. lpsen, EuR 1987, S. 195 (201 f), der insoweit von der "Wande1vetfassung" der Gemeinschaft spricht. Vgl. zur Notwendigkeit einer "Wandelvetfassung" für die Gemeinschaft auch Läufer, Integration 1994, S. 204 (209 f). Siehe schließlich den 11. Erwägungsgrund der Präambel des EUV ("Entschlossen, den Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, ... , weiterzuführen, ... "). 292 Vgl. dazu Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (240) m.w.N. 293 Vgl. Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (240) m.w.N. Vgl. aber auch Seeler, EuR 1990, S. 99 (115), der zwischen jener der Gemeinschaft übertragenen Hoheitsgewalt und der ihr aufgrund ihrer Supranationalität originär erwachsenen Hoheitsgewalt unterscheidet. 294 Vgl. Seeler, EuR 1990, S. 99 (100). 295 Vgl. dazu im einzelnen Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (240) m.w.N. 296 Vgl. Seeler, EuR 1990, S. 99 (100). 297 Vgl. Seeler, EuR 1990, S. 99 (103); SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 231. Vgl. auch Ohler, ZG 1995, S. 223 (229). 298 Siehe dazu im einzelnen unten unter cc).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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on (Art. 155 ff. EGV) ist die eigentliche Exekutive der Gemeinschaft, hat aber auch Legislativbefugnisse. 299 Sie besitzt das Monopol der Rechtsetzungsinitiative ("Motor der Integration")300 und vollzieht gegebenenfalls GemeinschaftsrecheO! bzw. kontrolliert seinen Vollzug durch die Mitgliedstaaten302 . Die Setzung von Gemeinschaftsrecht steht zwar nach dem EGV nur dem Rat zu, jedoch kann der Rat nach Maßgabe der Art. 145 UAbs. 3 EGV und Art. 155 UAbs. 4 EGV den Erlaß von Rechtsnormen auf die Kommission delegieren. 303 Somit kann die Rechtsetzung in der Gemeinschaft als "Exekutiv-Rechtsetzung mit Parlamentsteilhabe" beschrieben werden. 304 Der EuGH (Art. 164 ff. EGV) schließlich dient zugleich als Kontroll- und Streitentscheidungsorgan. Daneben existieren mit dem Wirtschafts- und Sozialausschuß (Art. 4 Abs. 2 EGV i. Y.m. Art. 193 ff. EGV) und dem Ausschuß der Regionen (Art. 4 Abs. 2 EGV i. Y.m. Art. 198a ff. EGV) zwei beratende Nebenorgane ohne Organcharakter. 305 Schließlich gibt es noch zahlreiche der Unterstützung der Gemeinschaftsorgane dienende Hilfsorgane, die aber für die hier vorgenommene Untersuchung ohne Belang sind. 306

299 Vgl. SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 231; Kluth, S. 71 ff.; Ohler, ZG 1995, S. 223 (229).

300 Vgl. dazu Siedentopf, Die UmsetZWlg des Gemeinschaftsrechts, S. 10 ff.; von Simson/Schwarze, Europäische Integration lUld Grtmdgesetz, S. 53; H. P. Ipsen, in: FS für Lerche, S. 425 (432); Streinz, Europarecht, Rn. 292 f

3O! Siehe zum "gemeinschaftsunmittelbaren" Vollzug von Gemeinschaftsrecht schon oben im 2. TeillUlter C. I. 3. 302 Siehe dazu insbesondere oben lUlter B. ll. 3. a) 303 Vgl. Klösters, S. 113 f Siehe aber auch den in der Praxis große Bedeuttmg zukommenden lUld als sog. "Komitologie-Beschluß" bekannt gewordenen "Beschluß des Rates vom 13. Juli 1987 zur Festlegtmg der Modalitäten für die AusüblUlg der der Kommission übertragenen Durchfiihnmgsbefugnisse (87/373fEWG)", ABI. 1987, L 197, S. 33 ff Vgl. Breier, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 145 Rn. 4; Streinz, Europarecht, Rn. 453 ff. m.w.N. Eine Klage des Europäischen Parlaments gegen den "KomitologieBeschluß" wurde vom EuGH bereits als lUlZUlässig abgewiesen. Siehe dazu EuGH, Urteil vom 27. September 1988, Rs. 302/87 (Europäisches ParlamentIRat), Sig. 1988, S. 5615 (Rn. 11 ff.). 304 So H. P. Ipsen, in: FS für Lerche, S. 425 (425). 305 Vgl. dazu nur Streinz, Europarecht, Rn. 337 ff. Siehe zum Ausschuß der Regionen auch lUlten lUlter C. IV. 2. 306 Hilfsorgane können einerseits durch das Primärrecht selbst vorgesehen sein oder andererseits aufgrtmd einer seklUldärrechtIichen Grtmdlage geschaffen werden. Unter bestimmten Umständen werden sie sogar völlig ohne jede ausdrückliche Rechtsgrtmdlage eingerichtet. Vgl. dazu im einzelnen insbesondere Streinz, Europarecht, Rn. 343 ff m.w.N.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

cc) Die Bedeutung des "institutionellen Gleichgewichts" für das gemeinschaftliche Entscheidungs- und Rechtsetzungsverfahren unter besonderer Beachtung der Rolle des Europäischen Parlaments Die Gemeinschaft kennt zwar keine Gewaltenteilung im Sinne eines freiheitlichen Verfassungsstaates307 , jedoch ist ihr im Rahmen ihres Entscheidungsund Rechtsetzungsverfahrens ein sog. "institutionelles Gleichgewicht" zwischen den Organen eigen. 308 Es handelt sich hierbei nicht um ein "Gleichgewicht" im Sinne des Wortes, denn den einzelnen Organen kommt im Rahmen des gemeinschaftlichen Entscheidungs- und Rechtsetzungssystem durchaus unterschiedliches Gewicht ZU. 309 Ferner dienen die mit dem Begriff des "institutionellen Gleichgewichts" verbundenen Hemmungen und Verschränkungen der Gemeinschaftsgewalt zwischen den Gemeinschaftsorganen nicht dem Wohl der Gemeinschaftsbürger, sondern "lediglich" der Sicherung der funktionsgerechten Erfüllung der Gemeinschaftskompetenzen. 3 !O Es fällt die Besonderheit der Gemeinschaft im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten auf, wonach vom Grundsatz her die Rechtsetzung ausschließlich vom Rat im Zusammenspiel mit der Kommission und damit von Organen wahrgenommen wird3!!, die eher mit der Exekutive der Mitgliedstaaten vergleichbar sind als mit einer unmittelbar demokratisch legitimierten mitgliedstaatlichen 3ü7 So auch von SimsonlSchwarze, Europäische Integration und Gnmdgesetz, S. 13. Vgl. ferner Ress, in: GS fiir Geck, S. 625 (625); Seeler, EuR 1990, S. 99 (116 f); MaurerlJopp, Integration 1996, S. 25 (26). AA offensichtlich Hahn, S. 175. 3ü8 Siehe dazu EuGH, Urteil vom 13. Juni 1958, Rs. 9/56 (Meroni & Co./Hohe Behörde), Slg. 1958, S. 9 (44): " ... , daß das fiir den organisatorischen Aufbau kennzeichnende Gleichgewicht der Gewalten eine grundlegende Garantie darstellt, ... ); EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. 25/70 (Einfuhr- und VorratssteIle fiir Getreide und FuttermitteVKöster, Berodt & Co.), Slg. 1970, S. 1161 (Rn. 9); EuGH, Urteil vom 29. Oktober 1980, Rs. 138/79 (SA Roquette FrereslRat), Slg. 1980, S. 3333 (Rn. 33). Vgl. ferner Hummer, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 2 (November 1988), vor Art. 155 EWGV Rn. 14 m.w.N.; SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 231 ff; Ohler, ZG 1995, S. 223 (225). vgl. schließlich die grundsätzlichen Ausfiihrungen bei Bemhardt, S. 106 ff m.w.N. 3ü9 Vgl. Lenz, in: ders., EG-Vertrag, Art. 4 Rn. 3. Lenz, in: ders., EG-Vertrag, Art. 4 Rn. 4 m.w.N., weist insofern zutreffend daraufhin, daß man statt von einem "institutionellen Gleichgewicht" richtiger von der "vom Vertrag, insbesondere Art. 4 Abs. 1 gewollten institutionellen Stellung der Organe" sprechen sollte. 310 So SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 23l. vgl. ders., a.a.O., S. 232 ff m.w.N., zu denkbaren Änderungsmöglichkeiten des "institutionellen Gleichgewichts". vgl. ferner Klösters, S. 101 f m.w.N. vgl. aber auch Dänzer-Vanofti, RIW 1992, S. 733 (735); H. P. Ipsen, EuR 1987, S. 195 (198 f). 311 Vgl. SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 75 ff Vgl. aber auch schon Frowein, EuR 1983, S. 301 (305 ff) m.w.N.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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Legislative ("Exekutiv-Rechtsetzung mit Parlamentsteilhabe"312).3\3 Dabei gilt es zu beachten, daß die Rechtsetzungstätigkeit des Rates im Grundsatz "lediglich" darin besteht, den Vorschlägen der Kommission, der ja das Initiativrnonopol zusteht, rechtliche Verbindlichkeit zu verschaffen. 314 Dennoch sollte der Einfluß des Rates und damit der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaftsrechtsetzung keinesfalls unterschätzt werden, denn ohne die innere Zustimmung der Mitgliedstaaten würde das Gemeinschaftsrecht erheblich an Autorität verlieren. 315 Es ist der Kommission daher auch gleichsam untersagt, im Rahmen der ihr zustehenden Exekutivbefugnisse in bestehende Rechtspositionen der Gemeinschaftsbürger oder der Mitgliedstaaten einzugreifen oder überhaupt neue Rechte zu schaffen. Diese Feststellung beruht aber nicht etwa darauf, daß ein Vorbehaltsbereich einer demokratisch legitimierten Legislativfunktion bestände, sondern auf dem vertraglich abgesicherten Mitspracherecht der Mitgliedstaaten bei der gemeinschaftlichen Rechtsetzung als Ausfluß ihrer äußeren Souveränitäe 16 Im Hinblick auf das eigentliche Entscheidungs- und Rechtsetzungsverfahren sind je nach Ermächtigungsgrundlage andere Organe in zum Teil völlig unterschiedlicher Weise zu beteiligen. Hier soll jedoch nur die Rolle des Europäischen Parlaments betrachtet werden. Dessen Beteiligungsrechte wurden durch die EEN 17 und durch den EUV318 zumindest in Teilbereichen erheblich erweitert. 319 Insbesondere durch die Einführung des "Verfahrens der Mitentscheidung" (Art. 189b EGV) wird das Parlament faktisch zum echten Mitrechtsetzer20 , das dort, wo das Verfahren nach Maßgabe des EGV zur Anwendung geSiehe dazu oben unter bb). Vgl. Frowein, EuR 1983, S. 301 (305); Streinz, in: Lebensmittelstrafrecht und VelWaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 219 (222) m.w.N.; Ohler, ZG 1995, S. 223 (229). Kritisch dazu Ress, in: GS für Geck, S. 625 (625). 314 So von Sims on/Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 13 m.w.N. 315 Vgl. von Simson/Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 13 m.w.N. 316 Vgl. Klösters, S. lU f m.w.N. 317 Siehe die Einführung des "Verfahrens der Zusammenarbeit" gemäß Art. 149 EWGV Jetzt: Art. 189a und 189c EGV Vgl. zu den leichten Änderungen im Wortlaut nur Hetmeier, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 189a Rn. 1. 318 Siehe das "Verfahrens der Mitentscheidung" gemäß Art. 189b EGV 319 Vgl. dazu nur von Simson/Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 52 ff.; Pernice, DV 1993, S. 449 (469); Streinz, in: Lebensmittelstrafrecht und VelWaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 219 (219) jeweils m. w. N. 320 Vgl. nur Streinz, in: Lebensmittelstrafrecht und VelWaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 219 (222): "Mitgesetzgeber". 312

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaat lichen Vollzug

langt, ein Vetorecht gegen Rechtsakte geltend machen kann und hier im Gegensatz zum "Verfahren der Zusammenarbeit" (Art. 189c EGV) nicht (mehr) durch einstimmigen Beschluß des Rates überstimmt werden kann. 321 Jedoch wird anband der durch den EUV in den EGV eingeführten Anwendungsfä1le des Verfahrens nach Art. 189b EGyJ22 nicht erkennbar, nach welcher Systematik dem Parlament im einen Fall die erweiterten Kompetenzen zugestanden werden und in einem anderen nicht. 323 Insbesondere die Tatsache, daß Art. 43 Abs. 2 UAbs. 3 EGV den Beschluß der auf ihn gestützten Maßnahmen weiterhin "lediglich" von der Anhörung des Europäischen Parlaments abhängig macht, ist angesichts der weitreichenden und besonders menschenrechtsrelevanten gemeinschaftlichen Rechtsetzung in diesem Bereich aus systematischen, aber auch rechtsstaatlichen Gründen nicht nachzuvollziehen. 324 Allein dieser Umstand belegt die "bloße" politische Komponente des Ausbaus der Rechte des Parlaments. Nicht unerheblich wurde die Rechtsstellung des Parlaments aber auch durch die Rechtsprechung des EuGH erweitert. Dies betrifft die zunächst 321 Vgl. Streinz, in: Lebensmittelstrafrecht lUld VeIWaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 219 (222) m.w.N.; Ohler, ZG 1995, S. 223 (228). Vgl. aber auch Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (33) m.w.N., zum ohnehin schon bestehenden faktischen Einfluß des Europäischen Parlaments auf die RechtsetZlUlg der Gemeinschaft. Insbesondere im Hinblick auf die noch zu verabschiedende "Novel Food"-VerordnlUlg hat das Parlament energisch von seinen Rechten nach Art. 189b EGV Gebrauch gemacht. Vgl. dazu im einzelnen nur Streinz, ZLR 1995, S. 720 ff.; ders., ZLR 1996, S. 123 (123 ff.). Skeptisch im Hinblick auf die VerstärklUlg des Demokratieprinzips durch die Einführung des in Art. 189b EGV geregelten Verfahrens jedoch Klösters, S. 108 m.w.N. 322 Das "Verfahren der MitentscheidlUlg" ist insbesondere im Rahmen des Art. 100a EGV im Hinblick auf noch ausstehende Maßnahmen für das Binnenmarktprojekt anzuwenden. Weitere AnwendlUlgsfäUe [roden sich in den Art. 128 Abs. 5, Art. 129a Abs. 2, Art. 129d Abs. 1 lUld Art. l30i Abs. 1 EGV Vgl. dazu, aber auch zu weiteren AnwendlUlgsfiillen Pernice, DV 1993, S. 449 (469) m.w.N.; Hetmeier, in: Lenz, EG-Vertrag, VorbemerklUlgen zu Art. 189b - 189c, Rn. 4 f; Kluth, S. 72 f Siehe auch den einschlägigen Überblick in SEK (95) 731 endg., S. 18 f bzw. in den dazugehörigen Anlagen 4lUld 8. 323 Vgl. auch Streinz, in: Lebensmittelstrafrecht lUld VeIWaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 219 (222) m.w.N. Siehe jetzt die Reformvorschläge der Mitgliedstaaten zur Ausweitung des MitentscheidlUlgsverfahrens nach Art. 189b EGV bei Maurer/Jopp, Integration 1996, S. 25 (28). Diese Vorschläge lassen jedoch auch keine wirkliche Systematik erkennen. MaureriJopp, Integration 1996, S. 25 (34), selbst schlagen vor, "das MitentscheidlUlgsverfabren bei AusdehnlUlg qualifizierter MehrheitsentscheidlUlgen im Rat zu generalisieren. " 324 Vgl. auch Appel, in: Lebensmittelstrafrecht lUld VeIWaltlUlgssanktionen in der Europäischen Union, S. 165 (190); Streinz, in: Lebensmittelstrafrecht lUld VeIWaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 219 (222 bzw. 225) m.w.N. Siehe dazu aber auch schon die Ausfiihrungen oben im 4. TeillUlter B. IV. 2. b) cc) (2).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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nicht bestehende und auch vom EuGH ursprünglich verneinte Aktivlegitimation des Parlaments325 , welche erst durch den EUV in Art. 173 Abs. 3 EGV verankert worden ist, aber auch sein Recht, den Rat zur Wahrnehmung seiner Gesetzgebungspflichten anzuhalten. 326 Hinzu kommt schließlich die auf den EUV zurückgehende Neuerung, wonach die Kommission als Kollegium hinsichtlich ihrer Ernennung einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments unterliegt (Art. 158 Abs. 2 UAbs. 3 EGV).327

c) Zusammenfassung

Die Gemeinschaft kennt keine Gewaltenteilung im Sinne eines freiheitlichdemokratisch verfaßten Staates. Das Entscheidungs- und Rechtsetzungsverfahren wird von den auf dem "institutionellen Gleichgewicht" basierenden Hemmungen und Verschränkungen bestimmt. Daß diese auf ein gemeinschaftliches Demokratiegebot zurückzuführen sind, ist nicht erkennbar. Die Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments wurden zwar durch die EEA und den EUV erweitert, dies geschah jedoch nach rein "politischen" Erwägungen. Auch der EuGH, der das "Demokratiegebot" für die Gemeinschaft fruchtbar gemacht hat, kann die im Vertrag geregelten Handlungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments "lediglich" zur effektiven Anwendung bringen. Es ist ihm jedoch untersagt, die im Vertrag gesteckten Grenzen der Handlungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments auch unter Berufung auf ein gemeinschaftliches Demokratiegebot zu überschreiten. 328

325 Siehe EuGH, Zwischenurteil vom 22. Mai 1990, Rs. C-70/88 (Europäisches ParlamentlRat), Slg. 1990 I, S. 2041 ff. Siehe auch schon oben die Ausfiihnmgen lUlter 2. a) bb) bzw. b) bb). 326 Siehe nur EuGH, Urteil vom 22. Mai 1985, Rs. 13/83 (Europäisches ParlamentlRat), Slg. 1985, S. 1513 ff. 327 Siehe auch die in Art. 144 EGV geregelte Möglichkeit des Europäischen Parlaments, einen Mißtrauensantrag gegen die Kommission zu stellen; siehe außerdem sein in Art. 140 Abs. 3 EGV verankertes Fragerecht an die Kommission. Vgl. dazu Ohler, ZG 1995, S. 223 (230). GrWldlegend zum Ausbau der RechtssteUlUlg des Europäischen Parlaments durch den EUV Boest, EuR 1992, S. 182 ff.; Piris, ELR 1994, S. 449 (464 ff.) m.w.N. 328 Siehe EuGH, Urteil vom 27. Oktober 1992, Rs. C-240/90 (DeutschlandlKommission), in Auszügen abgedruckt, in: DVBl. 1993, S. 712 ff.; EuGH, Urteil vom 30. März 1995, C-65/93 (Europäisches ParlamentlRat), abgedruckt, in: Tätigkeiten Nr. 9/1995, S. 9 ff. Vgl. auch Seeler, EuR 1990, S. 99 (118).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

5. Überlegungen zum Ausgleich des "demokratischen De....zits"

a) Einleitung Unter Bezugnahme auf die bisherigen Ausführungen329 dürfte deutlich geworden sein, daß es hier nicht darum gehen kann, das aus den Mitgliedstaaten bekannte parlamentarische System in dieser Form auf die Gemeinschaft zu übertragen. 330 Ein solcher Versuch würde sich aufgrund der strukturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft als völlig untauglich erweisen. 331 Es geht vielmehr darum zu überlegen, wie man bei der Betrachtung von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten im Hinblick auf die demokratische Legitimation des Gemeinschaftsrechts zu.Ergebnissen gelangt, welche in effektiver Weise auf die Völker der Mitgliedstaaten zurückzuführen und damit Ausdruck eines demokratischen Willensbildungsprozesses sind. Es muß also darum gehen, die mitgliedstaatlichen verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für die parlamentarische Demokratie in einer den Besonderheiten der Gemeinschaft angepaßten Weise zu verwirklichen. 332 Dabei lassen sich die entstandenen Defizite parlamentarischer Demokratie, welche mit den verfassungsrechtlichen Demokratiegeboten in den Mitgliedstaaten nur schwer zu vereinbaren sind, aufgrund der dem Integrationsprozeß eigenen Dynamik nur sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch der der Gemeinschaft ausgleichen. 333

b) Ausgleich aufder mitgliedstaatlichen Ebene Es gilt hier insbesondere, den Vorwurf, der politische Prozeß in den Mitgliedstaaten würde auf Betreiben der Regierungen durch die Übertragung von immer mehr Kompetenzen auf die Gemeinschaft entparlamentarisiere34 , ernst Siehe insbesondere oben Wlter 2. So auch Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (211) m.w.N.; Läufer, Integration 1994, S. 204 (209). 331 Erben·ch, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (211). Es bestehen ja sogar zwischen den mitgliedstaatlichen VerfassWlgen erhebliche Unterschiede hinsichtlich der StellWlg der jeweiligen Parlamente. Vgl. nur Frowein, EuR 1983, S. 301 (306) m.w.N., der bezweifelt, daß der sog. Parlamentsvorbehalt von der Tradition der europäischen Staaten als umfaßt angesehen werden kann. 332 Vgl. auch Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (211) m.w.N. 333 Vgl. dazu auch Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (228 f). Siehe ferner schon oben Wlter 2. b) bb). 334 Siehe oben Wlter 2. b) aa). 329 330

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zu nehmen. Dem ist jedoch zunächst entgegenzuhalten, daß die unmittelbar gewählten mitgliedstaatlichen Parlamente, wenn nicht in manchen Mitgliedstaaten sogar das Volk selbst, zumindest sowohl den Gründungsverträgen als auch den vertragsändernden und -ergänzenden Verträgen in der Vergangenheit zugestimmt haben. Dennoch bleibt die Gefahr der jeweiligen Aushöhlung der Demokratiegebote der jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungen bestehen, weil zunehmend mehr substantielle Entscheidungen auf Gemeinschaftsebene gefällt werden. 335 Die jeweils verfassungsrechtlich gebotene Einhaltung des Demokratiegebots in den Mitgliedstaaten verlangt aufgrund dieser Entwicklung je nach Mitgliedsstaat eine mehr oder weniger dringende bzw. intensive Lösung. 336 Es gilt weiterhin der Grundsatz, daß die im Rat versammelten Mitglieder der Regierung bei der Rechtsetzung in ihrem individuellen Abstimmungsverhalten nach Maßgabe der jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassung von ihrem Parlament her demokratisch legitimiert und kontrolliert sind. 337 Lösungsansätze müssen auf der mitgliedstaatlichen Ebene daher insbesondere bei der parlamentarischen Kontrolle ansetzen. 338 Jedoch kann es hier aufgrund der jeweils verfassungsrechtlich unterschiedlich ausgestalteten Stellung der mitgliedstaatlichen Parlamente keine einheitliche Lösung geben. 339 Erstrebenswert ist auf jeSiehe oben unter 2. b) aa). Vgl. dazu nur Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (250 f) m.w.N. So ähnelt nach Classen, a.a.O., S. 251, zum Beispiel das VeIfassungsgefiige Frankreichs ohnehin schon dem der inneren Struktur der Gemeinschaft, so daß veIfassungsrechtliche Anpassungsprozesse dort nicht als dringlich empfimden werden. Vgl. auch H. P. Ipsen, in: FS für Lerche, S. 425 (426). Im übrigen wirftH. P. Ipsen, a.a.O., S. 431, den Vorhaltungen gegen die vermeintlich demokratisch "deflzitäre" Exekutiv-Rechtsetzung in der Gemeinschaft vor, sie würden an der "Einseitigkeit gerade deutscher Kritik" leiden. D? Vgl. Pernice, DV 1993, S. 449 (466); Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (253). Vgl. auch Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (41), nach dessen Ansicht die Regierungsvertreter ein erhebliches Maß an parlamentarischer Repräsentativität in den Rat einbringen. Vgl. aber auch Klösters, S. 1l0. 338 Vgl. auch Frowein, EuR - Beiheft 1 - 1992, S. 63 (74). Vgl. diesbezüglich zu den im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Mängeln Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (253) m.w.N. Auch nach Ansicht von Schwarze, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 9 (22) m.w.N., ist die Neufassung von Art. 23 GG wenig geglückt und verschiebt die Gewichte auf europapolitischem Gebiet zu sehr zu Lasten des Bundestages als des eigentlich verantwortlichen Akteurs. Siehe zu Art. 23 GG n.F. auch unten unter C. III. 1. Vgl. schließlich die grundlegende rechtsvergleichende Monographie über die Beteiligung nationaler Parlamente an der innerstaatlichen Willensbildung in Angelegenheiten der Europäischen Union von Weber-Panariello, S. 1 ff. 339 Vgl. zur Regelung der Beteiligung des Deutschen Bundestages an den Tätigkeiten der Bundesregierung auf der Ebene der Gemeinschaft nur Pernice, DV 1993, S. 449 (466 f) m.w.N. In der Bundesrepublik Deutschland geschieht dies konkret im Rahmen 335

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

den Fall eine stetige Konsultation der mitgliedstaatlichen Parlamente im Verlaufe des gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahrens, zumal durch die Rückkopplung auf lange Sicht auch die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts erleichtert werden würde. 340 Die entsprechende Initiative sollte von den jeweiligen Regierungen ausgehen. 341 Aber das obliegt, wie schon ausgesagt, der rechtlichen Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten. 342 Die parlamentarische Kontrolle des Regierungsvertreters wird aus Sicht des jeweiligen Mitgliedstaates aber mehr und mehr aufgelöst. Dieser Auflösungsprozeß wird besonders davon beeinflußt, wie häufig im Rat Mehrheitsentscheidungen geiallt werden. 343 Auch wird er dadurch geiordert, daß die Rechenschaftslegung der Regierungsvertreter gegenüber ihren Parlamenten nahezu unmöglich gemacht wird, weil die tatsächliche Willensbildung im Rat unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet und sich der Regierungsvertreter nie an seinem tatsächlichen Handeln im Rat messen zu lassen braucht. 344 An dieser

des Art. 23 GG i.Y.m. dem "Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschen Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union" vom 12. März 1993 (BGBI. 1993 I, S. 311 f). Vgl. dazu auch Weber-Panariello, S. 224 ff bzw. S. 268 ff m.w.N. In keinem Fall kann der Rat als ein kollegiales Organ der mitgliedstaatlichen parlamentarischen Kontrolle unterliegen, denn eine solche Kontrolle wäre an derzeit immerhin fiinfzehn verschiedenen Verfassungen zu messen. Vgl. dazu Sleinberger, WDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (42); Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (229). Vgl. zur Frage nach der Zulässigkeit eines parlamentarischen Weisungsrechts an den Regierungsvertreter im Rat sowohl nach mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht als auch nach Gemeinschaftsrecht Sleinberger, WDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (41 f) m.w.N. 340 So Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (254) mit Verweis auf britische und dänische Beispiele. Vgl. auch Piris, ELR 1994, S. 449 (462). 341 Pernice, DV 1993, S. 449 (468 bzw. 484 f), hat unter Bezugnahme auf den Vorschlag einer Delegation des Deutschen Bundestages angeregt, die Kommission möge doch bei der Erarbeitung ihrer Rechtsetzungsvorschläge fiir die "Vorformulierung des gemeinsamen europäischen öffentlichen Interesses" auch die Stellungnahmen der sachlich zuständigen Parlamentsausschüsse anfordern. Gegen eine solche Verfahrensweise, die rechtlich keinerlei Bindungswirkung mit sich brächte, ist im Prinzip nichts einzuwenden. Es würde sich lediglich möglicherweise mit steigender Mitgliederzahl der Gemeinschaft das Rechtsetzungsverfahren (noch mehr) in die Länge ziehen. Läufer, Integration 1994, S. 204 (209), erkennt im "Verbund der Parlamente" (mitgliedstaatliche Parlamente und Europäisches Parlament) einen Weg, daß "demokratische Defizit" auszugleichen. 342 Vgl. dazu auch die Ergebnisse der Untersuchung von Weber-Panariello, S. 306 ff 343 Siehe schon oben unter 2. b) bb). 344 Vgl. auch Klöslers, S. 110 f m.w.N. Vgl. ferner Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (961); Saalfrank, S. 90 ff m.w.N.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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Stelle aber enden die Möglichkeiten, das "demokratische Defizit" der Gemeinschaft auf mitgliedstaatlicher Ebene kompensieren zu können. 345

c) Ausgleich aufder Ebene der Gemeinschaft

aa) Einleitung Es sollen nun Überlegungen angestellt werden, wie Regelungen auf der Ebene der Gemeinschaft dazu beitragen können, das vorhandene "demokratische Defizit" abbauen zu helfen. Aufgrund des nahezu allen Verfassungen der Mitgliedstaaten inhärenten Gedankens der "Legitimation durch Repräsentation" durch die mitgliedstaatlichen Parlamente bzw. direkt gewählten Staatspräsidenten soll hier das unmittelbar gewählte Europäische Parlament im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. 346 Grundsätzlich ist dabei zu beachten, daß die in den mitgliedstaatlichen Verfassungen enthaltenen Prinzipien nur in einer den Eigenheiten der Gemeinschaft angepaßten Form Eingang finden können. 347

bb) Strukturell neue Kompetenzen für das Europäische Parlament? Eng verbunden mit der Forderung nach dem Übergang von Gesetzgebungskompetenz auf das Europäische Parlament ist die Forderung, das Parlament habe aus allgemeinen, gleichen und freien Wahlen hervorzugehen. 348 Diese Forderungen sollen kurz unter Berücksichtigung des "status quo" beleuchtet werden. Derzeit ist das Europäische Parlament eine Versammlung "aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" (Art. 137 1. Halbsatz EGV).349 Die vertretenen Völker sind aufgrund der gemeinschaftsrechtlich festgelegten Anzahl an Abgeordneten für jeden Mitgliedstaat nicht gleichmäßig repräsentiert. 35o Insbesondere aus diesem formellen Grund wird durch das Europäische Parlament kein europäisches Volk vertreten. Der 345 Vgl. auch Pernice, DV 1993, S. 449 (468). 346 Vgl. ZW" Repräsentationsfimktion des Europäischen Parlaments nur Ohler, ZG

1995, S. 223 (225 f). 347 Vgl. auch H. P. Ipsen, EuR 1994, S. 1 (6), ZW" Gestaltungsfreiheit der Gemeinschaft ZW" "Realisierung demokratischer Legitimation ohne seine Verletzung". 348 Vgl. ZW" Problemstellung insgesamt nur Klein, EuR 1987, S. 97 ff, bzw. H. P. Ipsen, in: FS für Lerche, S. 425 (434 ff). 349 Vgl. dazu auch Klein, EuR 1987, S. 97 (102 ff). 350 Vgl. auch Ohler, ZG 1995, S. 223 (225) m.w.N.

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3. Teil: "Defizite" beim. mitgliedstaatlichen Vollzug

EUV als völkerrechtlicher Vertrag kann nicht und will daher nicht ein europäisches Volk schaffen. 351 Auch hat das Parlament keine Allzuständigkeit, denn es übt gemäß Art. 137 2. Halbsatz EGV nur "die Befugnisse aus, die ihm nach dem Vertrag zustehen." Die Hauptforderung nach einer allzuständigen Gesetzgebungskompetenz des Parlaments geht insoweit zwangsläufig einher mit der Kritik an der ungleichen Repräsentation der Bürger in der Gemeinschaft, was sowohl auf der nicht proportionalen Sitzverteilung als auch auf dem in den Mitgliedstaaten nicht einheitlichen Wahlrecht zum Europäischen Parlament beruht. 352 Darüber hinaus gibt es aufgrund der Eigenheiten des Europäischen Parlaments keine wirkliche Mehrheit. 353 Es besteht vielmehr ein Zwang zu Allparteienkonstellationen, weil das Parlament in seiner Gesamtheit aufgrund der ihm eigenen Dynamik sich nicht der die Integration fördernden Maßnahmen von Kommission und Rat in den Weg stellen kann. 354 Voraussetzung für einen umfassenden Kompetenzkatalog für das Europäische Parlament wäre seine allgemeine, gleiche und freie Wahl. Dies würde jedoch das Bestehen eines europäischen Wahl- bzw. Staatsvolkes bedingen. Von einem solchen kann aber noch nicht einmal in Ansätzen die Rede sein. 355 Genausowenig ist als ein konstituierendes Element des Demokratieprinzips 356 derzeit eine "europäische" öffentliche Meinung ersichtlich, die unmittelbar auf die Gemeinschaftspolitik Einfluß nähme. 357 Die öffentliche Meinung, von deren Bestehen man nur im Hinblick auf die Mitgliedstaaten ausgehen kann, wird 351 So auch Pernice, DV 1993, S. 449 (477), mit genauerer BegriindWlg. Vgl. ferner Saalfrank, S. 112; Schmitt Glaeser, Europa ist Wlser Schicksal, S. 4 (4 f.); Oefer, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (683 f.). 352 Vgl. Ohler, ZG 1995, S. 223 (226) m.w.N. Vgl. zur Wahlrechtsgleicbheit als Bedingwtg der Demokratie Pernice, DV 1993, S. 449 (481 f.). Vgl. schließlich die Kritik an der mangelnden Realisierwtg des "Prinzips der Gleichheit der Wahl" in der Gemeinschaft bei ErlJerich, in: Deutschland im. Binnenmarkt, S. 207 (223 f.) m.w.N. 353 Vgl. auch Frowein, EuR 1995, S. 315 (323 f.). 354 Vgl. auch Frowein, EuR - Beiheft 1 - 1992, S. 63 (72) m.w.N.; ders., EuR 1995, S. 315 (324); Hrbek, in: GS für Grabitz, S. 171 (182); Wesseis, in: GS für Grabitz, S. 879 (891). 355 So die ganz herrschende Meimmg. Vgl. nur Bruha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (298); Pernice, DV 1993, S. 449 (477) m.w.N.; ErlJerich, in: Deutschland im. Binnenmarkt, S. 207 (225) m.w.N. 356 So ErlJerich, in: Deutschland im. Binnenmarkt, S. 207 (224) m.w.N. 357 Vgl. dazu im. einzelnen von Briinneck, EuR 1989, S. 249 (251 f. bzw. 257). Vgl. ferner Klein, EuR 1987, S. 97 (104); H. P. Ipsen, Die europäische Integration, S. 45 (57); Frowein, EuR - Beiheft 1 - 1992, S. 63 (73); Pernice, DV 1993, S. 449 (479 ff). C/assen, AöR 119 (1994), S. 238 (257 bzw. 259) m.w.N., hingegen weist daraufhin, daß sich nur dort eine "demokratische Infrastruktur" entwickeln könne, wo bereits institutionell gewisse Strukturen vorhanden sind.

B. Die "Defizite" im einzelnen

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entsprechend weiterhin nach Maßgabe des Gedankens des "responsible government" den mitgliedstaatlichen Regierungen gegenüber artikuliert und fragt lediglich danach, ob die jeweilige Politik der Gemeinschaft dem eigenen Staat nützt oder schadet. 358 Auch der Gedanke der Wahlrechtsgleichheit als wesentlicher Bestandteil des Demokratiegebots soll hier angesprochen werden. Die Wahlrechtsgleichheit würde entgegen dem derzeitigen Rechtszustand359 voraussetzen, daß völlige Gleichheit der Stimmen vorläge. In einem solchen Fall würden insbesondere die Abgeordneten der kleineren Mitgliedstaaten möglicherweise völlig aus dem Europäischen Parlament verschwinden, wollte man dessen Größe in überschaubaren Dimensionen halten. Eine Repräsentation im Rat oder in einer eventuell einzurichtenden "zweiten Kammer" würde diesen Mangel an demokratischer Repräsentation der kleineren Mitgliedstaaten aber, ungeachtet des politischen Widerstandes der betroffenen Mitgliedstaaten, nicht kompensieren. 36o Eingedenk der mitgliedstaatlichen Struktur der Gemeinschaft kommt hier in besonderem Maße zum Tragen, daß es eben noch kein "europäisches Volk" gibt, welches die Dominanz der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung der Gemeinschaft abzulösen in der Lage wäre. 361 Es bedarf daher im Augenblick noch keiner strikten Handhabung des Gleichheitssatzes bei der Wahl zum Europäischen Parlament, weil das Parlament eben nicht das demokratische Leitungsorgan der Gemeinschaft darstellt, sondern derzeit auch nach der Verabschiedung des EUV auf eine zwar erweiterte, aber "nur" "negative demokratische Kompetenz "362 beschränkt ist. 363 Solange die Gemeinschaft oder Union als zwischenstaatliche Einrichtung konstituiert ist, darf dem Rat die Kontrolle über die Rechtsetzung auch nicht in der Weise genommen werden, indem das Parlament ein "positives" Letztentscheidungsrecht im Rahmen des gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahren erhält. 364 Eine solche Veränderung des 358 Vgl. Pernice, DV 1993, S. 449 (480 f). Vgl. auch von Brünneck, EuR 1989, S. 249 (252). 359 Siehe Art. 2 "Beschluß md Akt zur Einfiihnmg allgemeiner tmmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlmg vom 20. September 1976" hinsichtlich der Zahl der in jedem Mitgliedstaat zu wählenden Abgeordneten, abgedruckt in der aktuellen Fassmg, in: Sartorius 11 mter Nr. 266. Vgl. auch jene die Ungleichheit der abgegebenen Stimmen dokumentierenden Zahlenangaben bei Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (223). 360 So auchPernice, DV 1993, S. 449 (482) m.w.N. 361 Vgl. auch Brnha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (298). AA aber Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (23) m.w.N. AA auch Kluth, S. 66 m.w.N. 362 Vgl. zu diesem Begriff nur Huber, Staatswissenschaft md Staatspraxis 1992, S. 349 (358 bzw. 371 f); Pernice, DV 1993, S. 449 (481 bzw. 483). 363 Ähnlich auch Huber, Staatswissenschaft md Staatspraxis 1992, S. 349 (372). 364 Vgl. nur Pernice, DV 1993, S. 449 (483).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

"institutionellen Gleichgewichts" ist ebenfalls auch politisch nicht gewollt und würde den erklärten Widerstand der Mitgliedstaaten hervorrufen. Durch die Einführung eines solchen Letztentscheidungsrechts, das schließlich ein erhebliches "Mehr" als das jetzt im Rahmen des "Verfahrens der Mitentscheidung" gemäß Art. 189b EGV bestehende "negative" Letztentscheidungsrecht darstellen würde, übertrüge man im übrigen in systeminkonformer Weise Hoheitsgewalt auf das Parlament. 365 Ähnlich verhielte es sich auch mit der Realisierung der Forderung nach Mitentscheidung über künftige Änderungen und Ergänzungen der bestehenden Gründungsverträge. 366 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß der Zuweisung einer umfassenden materiellen Gesetzgebungskompetenz an das Europäische Parlament zumindest auf absehbare Zeit aufgrund seiner "Impotenz" zur "Legitimation durch Repräsentation"367 eine Absage erteilt werden muß. Eine solche Zuweisung käme im Ergebnis der schrittweisen Überführung der Gemeinschaft vom Status einer zwischenstaatlichen Einrichtung in den eines europäischen Bundesstaates gleich. 368 Eine solche Umwandlung ist zunächst politisch überhaupt nicht gewollt und aus den genannten Gründen derzeit auch nicht sinnvoll. 369 Im übrigen kann das aufgrund der möglicherweise fehlenden parlamentarischen Kontrolle bestehende "demokratische Defizit" im Hinblick auf Rechtsakte der Gemeinschaft, die Menschenrechte betreffen, auch mit weniger einschneidenden Mitteln gelöst werden.

cc) Der systemverbundene Ansatz zum Ausbau und zur Erweiterung der Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments Die hier präferierten Vorschläge erstrecken sich auf den systemverbundenen Ausbau schon bestehender Kompetenzen des Europäischen Parlaments oder 365 Vgl. dazu auch Ohler, ZG 1995, S. 223 (233 f). 366 Vgl. zu dieser Fordenmg Läufer, 22 Fragen zu Europa, S. 138. Derzeit ist das Parlament nach Art. N Abs. 1 UAbs. 2 EUV im Vorfeld einer Vertragsrevisionskonferenz lediglich vom Rat anzuhören. 367 So H. P. Ipsen, Die europäische Integration, S. 45 (58). Vgl. ferner Klein, EuR 1987, S. 97 (102 ff) m.w.N. 368 So auch Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Gnmdgesetz?, S. 38; EriJerich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (226). Vgl. dazu ferner H. P. Ipsen, in: FS fiir Lerche, S. 425 (435). 369 Vgl. dazu auch von der Groeben, Legitimationsprobleme der Europäischen Gemeinschaft, S. 120 f.; Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (960 f.); Everling, in: Die Entwicklung der EG, S. 12 (21); EriJerich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (226); Oeter, ZaöRV 55 (1995), S. 659 (701).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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auf die Erweiterung um solche Kompetenzen, die das institutionelle Gleichgewicht nicht aufheben oder wesentlich umgestalten. Dabei sollen aber auch Aspekte der politischen Durchsetzbarkeit Berücksichtigung finden. Zunächst würde sich ein allgemeines Initiativrecht des Europäischen Parlaments anbieten. 37o Ein solches Recht dürfte natürlich nur im Rahmen der Gemeinschaftskompetenzen wahrgenommen werden. 371 Sofern die Kommission oder wie bisher im Falle einer Vorlage durch die Kommission der Rat nicht grundsätzlich verpflichtet wäre, aufgrund der Initiative des Parlaments ein Rechtsetzungsverfahren einzuleiten, käme dies keiner rechtlichen Durchbrechung des "institutionellen Gleichgewichtes" gleich. 372 Fraglich ist jedoch, ob der politische Wille bei den Mitgliedstaaten vorhanden ist, dem Parlament ein solches Recht einzuräumen. Auf Dauer müßte sich der Rat im Bewußtsein des "demokratischen Defizits" nämlich immer wieder ernsthaft mit den Vorlagen des Parlaments auseinandersetzen. Dies würde im Ergebnis aber zu einem erheblichen Einfluß des Parlaments auf das gemeinschaftliche Rechtsetzungsverfahren fuhren. Genau dies kann aber aufgrund der oben aufgezeigten, der Stellung des Parlaments anhaftenden strukturellen Schwächen, gerade was seine tatsächliche Repräsentationsfahigkeit betrifft, nicht angezeigt sein. Keinesfalls ist im übrigen das durch den EUV in Art. 138b Abs. 2 EGV eingefuhrte Aufforderungsrecht mit einem Initiativrecht zu vergleichen, da die Kommission hinsichtlich des Inhalts ihrer Vorschläge frei bleibt. 373 Die Rechtsstellung des Parlaments könnte ferner in der Weise erweitert werden, indem es weitere Kreationsrechte hinsichtlich anderer Organe der Gemeinschaft erhält. 374 Dies würde zudem nach sich ziehen, daß sich die durch 370 Ein solches besteht nach herrschender Ansicht mit Ausnahme der spezifischen Norm des Art. 138 Abs. 3 UAbs. 1 EGV nicht. Siehe dazu die Nachweise bei Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991) S. 9 (33). AA wohl Classen, AöR 119 (1994), S. 238 (252). Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (44) m.w.N., erwägt ein Initiativrecht des Parlaments für Gnmdsatzakte. 371 Vgl. Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (961); Erberich, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (229). 372 So auch Ohler, ZG 1995, s. 223 (333). Vgl. Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991) s. 9 (33), zur schon bestehenden Praxis des Parlaments, das ihm nicht zugestandene Initiativrecht durch an die Kommission gerichtete sog. "Initiativberichte" zu überbrücken. Vgl. dazu ferner Klein, EuR 1987, s. 97 (107); Hrbek, in: GS für Grabitz, S. 171 (181); Wesseis, in: GS für Grabitz, S. 879 (890 f). 373 Vgl. auch Pemice, DV 1993, S. 449 (469) m.w.N.; Erben·ch, in: Deutschland im Binnenmarkt, S. 207 (220); Piris, ELR 1994, S. 449 (467). AA Hrbek, in: GS für Grabitz, S. 171 (181). 374 Vgl. im einzelnen Steinberger, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (46); Ohler, ZG 1995, S. 223 (234 f).

12 Pühs

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3. Teil: "Defizite" beim. mitgliedstaatlichen Vollzug

das Parlament kreierten Organe auch entsprechend vor dem Parlament zu verantworten hätten. 375 Im Hinblick auf die Kommission besteht sowohl ein abgeschwächtes Kreationsrecht in Art. 158 Abs. 2 EGV376 als auch die Möglichkeit, nach Maßgabe des Art. 144 EGV durch die Einbringung eines Mißtrauensvotums die Kommission "en bloc" zum Rücktritt zu zwingen. 377 Ein Kontrollrecht gegenüber der Kommission wird dem Parlament im übrigen in Art. 140 Abs. 3 EGVeingeräumt. Von dem dort geregelten Fragerecht macht das Parlament regen Gebrauch. 378 Solche Rechte scheiden im Hinblick auf den Rat per se aus, weil der sich aus den nach ihren Verfassungen bestimmten Regierungsmitgliedern der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Jedoch hat sich der Rat aufgrund einer Selbstverpflichtung zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen bereit erklärt. 379 Schließlich könnte das "Verfahren der Mitentscheidung" nach Art. 189b EGV auf alle oder zumindest weitere Kompetenzbereiche der Gemeinschaft ausgedehnt werden (Art. 189b Abs. 8 EGV).380 Ein solche Ausdehnung würde dem weiteren Abbau des demokratischen Defizits in besonderer Weise entsprechen. Für die Rechtsetzungskompetenzen, die der Gemeinschaft obliegen und die den Erlaß von menschenrechtsrelevanten Normen erlauben, sollte sie ein "Muß" darstellen. 381 Auch ist eine Erweiterung des Verfahrens auf die Fälle, in denen im Rat "nur" mit Mehrheit entschieden wird, als äußerst sinnvoll hinsichtlich der Legitimation solcher Beschlüsse anzusehen. 382 Dennoch darf nicht übersehen werden, daß es sich zum einen bei diesem Beteiligungsverfahren um ein sehr kompliziertes handelt und daß zum anderen die Mitgliedstaaten bei besonders sensiblen Bereichen wie dem des Art. 235 EGV hinsichtlich seiner Erstreckung zögern werden. 383 375 So auch Ohler, ZG 1995, S. 223 (235). Vgl. zu den schon jetzt gegenüber dem Parlament bestehenden diversen Berichtspflichten anderer GemeinschaftssteIlen Pernice, DV 1993, S. 449 (470). 376 Vgl. dazu auch Pernice, DV 1993, S. 449 (470 f bzw. 484) jeweils m.w.N. Vgl. ferner Hrbek, in: GS fiir Grabitz, S. 171 (183 f), der anband der Ernennung des derzeit amtierenden Kommissionspräsidenten J. Santer aufzeigt, welchen Einfluß das Parlament auf die Benennung des Präsidentschaftskandidaten in der Zukunft nehmen kann. 377 Vgl. dazu Erberich, in: Deutschland im. Binnenmarkt, S. 207 (220 f). 378 Vgl. dazu Erben'ch, in: Deutschland im. Binnenmarkt, S. 207 (221) m.w.N. 379 Vgl. Erberich, in: Deutschland im. Binnenmarkt, S. 207 (221). 380 So auch Pernice, DV 1993, S. 449 (471). 381 Siehe auch bereits die Ausfiihrungen zu Art. 43 EGV oben unter 4. b) cc). 382 Vgl. Pernice, DV 1993, S. 449 (468 f) m.w.N. Vgl. ferner Maurer/Jopp, Integration 1996, S. 25 (34). 383 So auch Ohler, ZG 1995, S. 223 (234).

B. Die "Defizite" im einzelnen

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dd)Zusarrunenfassung Ein Ausgleich des "demokratischen Defizits" auf Gemeinschaftsebene kann nur in Entsprechung der Eigenheiten der Gemeinschaft vorgenommen werden. Aufgrund ihrer strukturellen Besonderheiten als zwischenstaatlicher Einrichtung stehen einem nur unter radikaler Veränderung dieser Strukturen möglichen Ausbau der Rechtsstellung des Europäischen Parlaments erhebliche Hindernisse entgegen. Der Ausbau bzw. die Erweiterung der Rechtsstellung des Parlamentes können nur in Übereinstimmung mit dem Verlauf des Integrationsprozesses in systemverbundener Weise stattfinden. Jeder anderen Lösung steht der politische Wille der Mitgliedstaaten entgegen. Gerade im Hinblick auf das dargestellte Ergebnis ist festzuhalten, daß bereits durch den EUV das bestehende "demokratische Defizit" in nicht unerheblichem Maße anband von kleinen Schritten abgebaut worden ist. 384

d) Behebung des "demokratischen Defizits" unter Beachtung der Struktur der Gemeinschaft durch einen systemverbundenen Ausgleich sowohl auf mitgliedstaatlicher als auch aufgemeinschaftlicher Ebene Es ist dargestellt worden, daß der Ausgleich des festgestellten "demokratischen Defizits" vor dem Hintergrund eines fortschreitenden Integrationsprozesses weder all eine auf der Ebene der Mitgliedstaaten noch auf der der Gemeinschaft erreicht werden kann. 385 Die hier aufgezeigte Mischform der Legitimation gemeinschaftlich ausgeübter Hoheitsgewalt sowohl durch die mitgliedstaatlichen Parlamente als auch durch das Europäische Parlament ist eine fur die supranationale Gemeinschaft typische Erscheinungsform demokratischer Organisation. 386 Auch nach der Ratifizierung des EUV verbleibt es bei der Notwendigkeit der "Parallelität" von durch die Regierungen der Mitgliedstaaten "vermittelter" und der unmittelbaren Legitimation durch das Europäische Parlament,387 Mit der Zunahme an Regelungen auf europäischer Ebene und der damit einhergehenden Beschränkung der Handlungsfreiheit der mitgliedstaatlichen Parlamente ist mit Pernice, wie aber auch schon aufgezeigt wurde, eine zunehmende Kompensation zu fordern, die zum einen in der Stärkung der par384 So auch Pernice, DV 1993, S. 449 (454 bzw. 471). 385 Vgl. dazu auch Everling, in: Die Entwickhmg der EG, S. 12 (22); Frowein, EuR Beiheft 1 - 1992, S. 63 (74) m.w.N. Siehe auch schon oben die Ausfiihnmgen etwa Wl-

ter 2. b) aa) bzw. Wlter bb ). 386 Seeler, EuR 1990, S. 99 (115). 38'1 So auch Pernice, DV 1993, S. 449 (466).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaat lichen Vollzug

lamentarischen Kontrolle der an den Ratsentscheidungen beteiligten Regierungsvertreter durch die mitgliedstaatlichen Parlamente und zum anderen in der Stärkung der parlamentarischen Kontrolle der Ratsbeschlüsse durch das Europäische Parlament besteht. 388 Während die Stärkung der durch die mitgliedstaatlichen Parlamente wahrgenommenen Kontrolle ihrer Regierungsvertreter im Rat in erster Linie durch die Mitgliedstaaten selbst jeweils nach ihren verfassungsrechtlichen Vorgaben vorgenommen werden muß, so ist für die Gemeinschaft zunächst festzustellen, daß zumindest bis zum EUV der Rat als Gemeinschaftsorgan keiner wirklichen parlamentarisch-politischen Kontrolle durch das Europäische Parlament unterlag und seine Legislativgewalt auch nicht durch die Mitentscheidung eines anderen Organs gehemmt wurde. 389 In Anbetracht der Struktur der Gemeinschaft und des "institutionellen Gleichgewichts" zwischen den Gemeinschaftsorganen wäre es angebracht, wenn das durch den EUV in den Vertrag eingeführte Rechtsetzungsverfahren nach Art. 189b EGV systematisch auf bestimmte "qualitativ" bedeutende Bereiche erstreckt würde. 390 Wie bereits aufgezeigt wurde, ist dabei zunächst an die Fälle zu denken, in denen im Rat Mehrheitsentscheidungen gefällt werden. Daneben muß es aber auch dort Anwendung finden, wo die Gemeinschaft über Kompetenzen im Hinblick auf den Erlaß von Rechtsakten verfügt, welche geeignet sind, in Menschenrechte einzugreifen. Es ist dabei völlig ausreichend, daß das Parlament im Hinblick auf den Umfang seines Mitentscheidungsrechts lediglich über eine "negative demokratische Kompetenz" verfügt, denn genau dies entspricht der Struktur der dem völkerrechtlichen "Grundsatz der Staatengleichheit" verpflichteten Gemeinschaft. 391 Eine Begleiterscheinung der Anwendung des "Verfahrens der Mitentscheidung" gemäß Art. 189b EGV in genau diesen Fällen bestände im übrigen auch darin, daß ein Bürger erkennen kann, welchen konkreten Einfuß er durch die Abgabe seiner Stimme bei der Wahl des Europäischen Parlaments auf die gemeinschaftliche Rechtsetzung zu nehmen vermag. 392

Pernice, DV 1993, S. 449 (483). Vgl. auch Klösters, S. 105 m.w.N. Seeler, EuR 1990, S. 99 (104). Vgl. ders., a.a.O., zu den nur sehr begrenzten Möglichkeiten des Europäischen Parlaments, eine Form der Kontrolle gegenüber dem Rat auszuüben. 390 Siehe zu den derzeitigen AnwendWlgsfäl1en dieses Verfahrens die Nachweise oben Wlter 4. b) cc). 391 Vgl. dazu auch H. P. Ipsen, in: FS für Lerche, S. 425 (435) m.w.N. 392 Siehe dazu bereits oben Wlter 3. d). 388 389

B. Die "Defizite" im einzelnen

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6. Zusammenfassung und Ausblick Der Vorwurf, die von der Gemeinschaft ausgeübte Hoheitsgewalt leide an einem "demokratisches Defizit", ist in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß es keinen völkerrechtlichen Grundsatz gibt, wonach sich die Gemeinschaft demokratischen Prinzipien unterwerfen müßte. 393 Auch das Gemeinschaftsrecht selbst enthält trotz zahlreicher entsprechender rechtlicher Hinweise kein übergeordnetes allgemeines Demokratieprinzip, von dem her sich der Vorwurf eines "demokratischen Defizits" begründen ließe. 394 Ein "demokratisches Defizit" besteht angesichts des Integrationsprozesses zwar, jedoch rührt es aus den verfassungsrechtlichen Demokratiegeboten der Mitgliedstaaten395 her. 396 Aus deren Sicht ist der zunehmende Schwund der Bedeutung der mitgliedstaatlichen Parlamente zu rügen. Aufgrund der dem Integrationsprozeß eigenen Dynamik verlieren die Mitgliedstaaten nämlich in zunehmendem Maße die Möglichkeit, das aufgezeigte Defizit der "Entparlamentarisierung" auf mitgliedstaatlicher Ebene zu beseitigen. Allein deshalb ist die Gemeinschaft in entsprechende Überlegungen mit einzubeziehen. Andernfalls müßte der Integrationsprozeß allein aufgrund der verfassungsrechtlichen Demokratiegebote auf dem derzeitigen "status quo" eingefroren werden. Damit wäre aber aus den bereits mehrfach genannten Gründen niemandem gedient. Die Gemeinschaft ihrerseits hat, um ihre Funktionsfähigkeit zu sichern, darauf zu achten, daß das von ihr gesetzte Recht sowohl bei den Mitgliedstaaten als auch den privaten Marktteilnehmern über eine ausreichende "Akzeptanz" verfügt. Dies ist besonders in Anbetracht von der Gemeinschaft nicht zustehenden Zwangsmitteln von großer Bedeutung, um die Befolgung des Gemeinschaftsrechts zu erreichen. 397 Aufgrund der in allen Mitgliedstaaten vorgenommenen Ratifizierung der Gemeinschaftsverträge besteht vom Grundsatz her derzeit kein "demokratisches 393 So auch RandelzhoJer, in: Der StaatenverblUld der Europäischen Union, S. 39 (40 f.). Vgl. auch schon Friauf, DVBl. 1964, S. 781 (781). 394 So zutreffend auch RandelzhoJer, in: Der StaatenverblUld der Europäischen Union, S. 39 (46). 395 Siehe auch die gnmdlegenden Ausfiihnmgen zum Zusammenhang von Menschenwürde lUld Demokratie im VetfasslUlgsstaat bei Häberle, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 20 Rn. 6111: m.w.N. 396 Anschaulich in diesem Zusammenhang Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG n.F., der freilich nicht die Gemeinschaft, sondern nur den deutschen Gesetzgeber bei der ÜbertragWIg von Hoheitsrechten auf die EU bindet. Siehe zu Art. 23 GG n.F. auch lUlten unter C. III. 1. 397 Siehe zu Parallelität von Maßnahmen zur ErlangWIg von Akzeptanz lUld EinhaltWIg demokratischer Prinzipien bereits die Ausfiihnmgen oben lUlter 3. c).

1&2

3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Defizit" der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft. 398 Die Gemeinschaftsgewalt selbst ist in zweierlei Weise demokratisch legitimiert: Dies geschieht zunächst mittelbar aufgrund der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften oder sogar der Völker selbst zu den Gründungs- und Erweiterungs- bzw. Änderungsverträgen und durch die Mitwirkung der demokratisch berufenen und verantwortlichen Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat und darüber hinaus durch die unmittelbare Wahl des Europäischen Parlaments, dessen Rechtsstellung allerdings mit fortschreitendem Integrationsprozeß einen ständigen Ausbau erfahren muß. 399 Da dieser Ausbau sowohl im Rahmen der EEA als auch des EUV stattgefunden hat, besteht insofern auch kein "die Legitimation des Gemeinschaftsrechtes betreffendes" "Vollzugsdefizit" . Die Mitgliedstaaten sind also nicht berechtigt, sich zur Rechtfertigung von Verletzungen ihrer Vollzugspflichten auf ein "demokratisches Defizit" zu berufen. Jedoch läßt sich dies angesichts der dem Integrationsprozeß eigenen Dynamik nur für eine bestimmte Dauer vorhersagen. Wie sich den bisherigen Ausführungen entnehmen läßt, ist die "Legitimationslast" noch auf absehbare Zeit überwiegend von den Mitgliedstaaten zu tragen. 400 Die demokratische Legitimation der gemeinschaftlichen Hoheitsgewalt kann weiterhin nur zu einem geringen Teil auf das Europäische Parlament zurückgeführt werden, selbst wenn seine Verfahrensrechte im Bereich der gemeinschaftlichen Rechtsetzung weiter ausgedehnt werden. 40' Die Forderung nach einer stärken Parlamentarisierung der Gemeinschaft in der hier aufgezeigten Weise bedeutet daher auch nicht, daß man sich zugleich vom Zweckcharakter der Gemeinschaft löst und sich auf den Weg zu einem europäischen Bundesstaat begibt. 402 Die an dieser Stelle angestrebte Art der verstärkten Parlamentarisierung der Gemeinschaft (in Verbindung mit einer verstärkten Beteiligung der mitgliedstaatlichen Parlamente) dient lediglich der notwendigen Legitimation von immer häufiger in die Menschenrechte der Gemeinschaftsbürger eingreifendem Gemeinschaftsrecht. Im übrigen gilt es zu beachten, daß die 398 Vgl. nur Jacque, EuR - Beiheft 1 - 1992, S. 79 (&1); RandelzhoJer, in: Der Staatenverbwtd der Europäischen Union, S. 39 (54); Klösters, S. 109 m.w.N. Siehe aber die rechtspolitischen Forderwtgen oben wtter 5. d). Das "Verfahren der Mitentscheidwtg" (Art. 1&9b EGV) ist aufgrwtd der mitgliedstaatlichen Demokratiegebote bei der Vertragsrevisionskonferenz (Art. N Abs. 2 EUV) auf die aufgezeigten Bereiche auszudehnen. Siehe aber auch die wtter 3. c) angeführten Gründe der "Akzeptanz". 399 Vgl. dazu Everling, Integration 1994, S. 165 (169) m.w.N. 400 So WeidenJeld, Europa '96, S. 33. Vgl. auch Frowein, EuR - Beiheft 1 - 1992, S. 63 (74). 401 Vgl. auch Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1072). 402 So aber offensichtlich Schönberger, Hauptsache Europa, S. 106.

C. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs

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Forderung nach einer materiellen Gesetzgebungskompetenz für das Europäische Parlament auf dem Vorbild des auf Gewaltenteilung basierenden Verfassungsstaat beruht. 403 Solche Vorstellungen sind im Hinblick auf die Gemeinschaft weder sachgerecht noch auf absehbare Zeit politisch durchsetzbar. 404 Zwar mag einiges dafür sprechen, daß die Gemeinschaft einen Stand erreicht hat, der ihrem gesellschaftlichen Integrationsgrad vorauseilt. Weitere Schritte wollen dennoch sehr sorgfältig überlegt sein. 405 Sie müssen aber auf jeden Fall dem Demokratiegebot in angemessener Weise Rechnung tragen.

IV. Zwischenergebnis und zum weiteren Vorgehen Es wurden mit den "materiell-", "verfahrensrechtlichen" und den "die Legitimation des Gemeinschaftsrechts betreffenden" "Defiziten" drei unterschiedliche Arten von "Defiziten" dargestellt, die geeignet sind, Einfluß auf den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht zu nehmen. Während für die "materiellrechtlichen" "Defizite" sowie das "demokratische Defizit", insofern es erforderlich erschien, bereits Lösungsansätze dargestellt wurden, soll sich der 4. Teil auf die Darstellung von Lösungsansätzen für die Eindämmung und Behebung von auf den "verfahrensrechtlichen" "Defiziten" beruhenden Mängeln beim mitgliedstaatlichen Vollzug beschränken. Dieser kann jedoch aus noch darzustellenden Gründen nicht "grenzenlos" sein. Daher ist nachfolgend auf "die rechtlichen Grenzen" eines effizienten Vollzugs einzugehen.

c. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs I. Einfiihrung in die ProblemsteUung 1. Die Finalstruktur des Gemeinschaftsrechts im Gegensatz zu den Bindungen des Verwaltungsrechts der Mitgliedstaaten

Dem Gemeinschaftsrecht eigen ist seine Finalstruktur. 406 Diese beruht darauf, daß die Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft, da diese die Errichtung 403

Vgl. Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1073).

404 Vgl. dazu auch Klein, EuR 1987, S. 97 (109 ff) m.w.N.; H. P. lpsen, Die europäische Integration, S. 45 (57 f.); Zuleeg, JZ 1993, S. 1069 (1073). 405 Vgl. Everling, in: Die Entwickhmg der EG, S. 12 (23). 406 Vgl. dazu Steinberger, in: VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (19 f.); Müller-Grafl, in: Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, A. 1., Rn. 58 f. m.w.N.; Engel, DV 1992, S.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

des Gemeinsamen Marktes bzw. des Binnenmarktes anstrebt, funktionsgerichtete und funktionsbegrenzte sind. 407 Sie knüpfen daher grundsätzlich nicht an bestimmte Sachmaterien an, sondern haben einen rein funktionellen Bezug. 408 Zu beachten gilt dabei, daß die funktionell bezogenen Gemeinschaftskompetenzen nicht die Trennschärfe aufweisen, die der Anknüpfung von Kompetenzen an Sachbereiche im Verfassungsstaat - zumindest typischerweise409 - eigen ist. 410 Hiermit läßt sich auch die Dynamik des Integrationsprozesses erklären, weshalb es kaum noch Sachbereiche mitgliedstaatlicher Kompetenz gibt, die nicht einen Bezug zum gemeinschaftlichen Marktgeschehen aufweisen. 411 Die hier vorgenommene Charakterisierung der Gemeinschaftskompetenzen entspricht im übrigen auch der GTÜndungsidee der Gemeinschaft als Zweckverband. 412 Das mit der aufgezeigten Zielrichtung und Intensität erlassene Gemeinschaftsrecht trifft in den Mitgliedstaaten auf ein Verwaltungsrecht, das ständig bemüht ist, einen Ausgleich zu schaffen zwischen den Zielen der mitgliedstaatlichen Exekutive und dem Freiheitsbereich der Bürger. 413 Letzterer findet sich durch die Menschenrechte konkretisiert in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verankert. Vom Grundsatz her obliegt den Mitgliedstaaten somit insbesondere beim Verwaltungsvollzug im Gegensatz zur Gemeinschaft die Beachtung zweier gleichrangiger Ziele: auf der einen Seite das der Funktionsfahigkeit ihres Handeins und auf der anderen Seite das des Freiheitsschutzes ihrer Bürger nach Maßgabe der in den mitgliedstaatlichen Verfassungen verankerten Men437 (471); Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931); Schoch, JZ 1995, S. 109 (1l5 bzw. 117) m.w.N. Siehe auch oben im 1. Teil lUlter B. II. bzw. im 3. Teil lUlter B. II. 2. 407 Steinberger, in: VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (19); Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931). Siehe zu den Gemeinsamkeiten lUld Unterschieden zwischen dem Gemeinsamen Markt lUld dem Binnenmarkt oben im 2. Teil lUlter B. I. 3. 408 Vgl. Steinberger, in: VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (19 f); Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931); Schoch, JZ 1995, S. 109 (1l5)jeweils m.w.N. 409 Vgl. zu einem atypischen Beispiel Steinberger, in: VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (20) m.w.N. 410 So Steinberger, in: VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (20); Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931); Schoch, JZ 1995, S. 109 (1l5) mit sehr anschaulichen Beispielen aus der RechtsprechlUlg des EuGH. 411 Vgl. auch Steinberger, in: VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 9 (20); Schoch, JZ 1995, S. 109 (1l5). 412 Vgl. dazu im einzelnen H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 196 ff 413 Vgl. dazu Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931); Schoch, JZ 1995, S. 109 (1l5). Vgl. auch ders., a.a.O., S. 117 f m.w.N., zur "strukturellen Eindimensionalität" des Gemeinschaftsrechts.

C. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs

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schenrechte. 414 Die Ausrichtung der Gemeinschaft nach Maßgabe ihrer funktionellen Kompetenzen führt zu einer Asymmetrie zwischen den Strukturen einer supranationalen Staatengemeinschaft und denjenigen des Verfassungsstaates. 415 Dem dadurch entstehenden Zielkonflikt zwischen der Durchsetzung des Marktrechts auf der einen Seite und der Schaffung eines rechtsstaatlich gebotenen Ausgleichs haben sich sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Gemeinschaft zu stellen.

2. Die rechtlichen Grenzen des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht Insbesondere aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit, aber natürlich auch aus Gründen der Akzeptanz sind dem "finalen" Befolgungsanspruch des Gemeinschaftsrechts bzw. seinem von Aspekten der Effektivität bestimmten Vollzug rechtliche Grenzen gesetzt. 416 Andernfalls würde der natürlichen Ausdehnungstendenz des funktionalen Ansatzes möglicherweise der menschenrechtlich gebotene Schutz der Freiheitssphäre der Gemeinschaftsbürger anheimfallen. 417 Rechtliche Grenzen finden sich bereits im Gemeinschaftsrecht selbst. 418 Dabei lassen sich zwei Arten unterscheiden. Zunächst bestehen solche rechtliche Grenzen, deren Anwendung dem Schutz der Souveränität der Mitgliedstaaten dient, zum anderen solche, deren Einhaltung die Aushöhlung der elementaren Freiheitsbereiche der privaten Marktteilnehmer verhindert. Zur ersten Gruppe zählen die im Gemeinschaftsrecht überall anzufindenden "Schutznormen", und zwar beispielsweise in Form von "Notstands-" oder "Schutzklauseln" (unter 11.). Zu den anderen rechtlichen Grenzen zählen die vom EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung in der Form der dem Gemeinschaftsrecht zugrunde lie-

4\4 Vgl. auch Schoch, JZ 1995, S. 109 (115) m.w.N., zu den statisch angelegten Kompetenzvorschriften des deutschen Rechts, welche auf Transparenz Wld MäßigWlg der Hoheitsgewalt abzielen. 415 Vgl. Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931); Schoch, JZ 1995, S. 109 (117) m.w.N. 416 Vgl. auch Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931). 417 Vgl. Scheuing, in: Innovation Wld Flexibilität des VerwaltWlgshandelns, S. 289 (326): "denn auch das Gemeinschaftsrecht kann legitimerweise nicht Effektivität um jeden Preis, sondern nur rechtsstaatlieh gebWldene Effektivität verlangen." 418 Schilling, Der Staat 1994, S. 555 (555), spricht in einem vergleichbaren Kontext von den "Binnengrenzen" des Gemeinschaftsrechts.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

genden (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsätze entwickelten Menschenrechte und allgemeinen Verfahrensgrundsätze (unter III.). Nach dem Verfassungsverständnis einiger rnitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte gebieten aber nicht nur die auf Gemeinschaftsebene aufgestellten rechtlichen Grenzen dem Vollzug des Gemeinschaftsrechts Einhalt, sondern auch die in den mitgliedstaatlichen Verfassungen geregelten Menschenrechte und Strukturprinzipien (unter IV.).

11. "Schutznormen" im Gemeinschaftsrecht 1. Zu den Gründen für die Vereinbarung von "Schutznormen"

und zu ihrem Auftreten im Gemeinschaftsrecht

Die meisten völkerrechtlichen Verträge, die einen wirtschaftlichen Regelungsgegenstand haben, enthalten sog. "Schutznormen".419 Der maßgebliche Grund für deren Vereinbarung besteht im Schutz der staatlichen Souveränität. 420 Jedoch können nicht nur die einzelnen Mitgliedstaaten einer internationalen Organisation ein Interesse an der Verankerung von "Schutznormen" in den entsprechenden Vertragswerken haben, sondern auch internationale Organisationen selbst. Denn unter Rückgriff auf "Schutznormen" werden Konfliktpotentiale im Verhältnis zwischen einer Organisation und ihren Mitgliedstaaten in ihren Auswirkungen eingedämmt oder Konflikte selbst sogar schon am Entstehen gehindert. 421 In der Weise können Gefährdungen für die Existenz einer Organisation oder einer auf wirtschaftlichem Gebiet angestrebten Integration auf Dauer vermieden werden. 422 Grundsätzlich dienen "Schutznormen" in völkerrechtlichen Verträgen den Mitgliedstaaten als Instrument, mit dessen Hilfe sie sich in wirtschaftlichen oder auch politischen Notstandssituationen von Vertragspflichten lösen können. 423 Der Erlaß von "Schutznormen" hat jedoch gerade in der Gemeinschaft Bohr, Schutznormen, S. 1. Vgl. auch Nentwich, S. 227: "Öffinmgsklauseln". Vgl. Bohr, Schutznormen, S. 1 bzw. S. 13. 421 Vgl. im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht auch H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 239. 422 Vgl. Bohr, Schutznormen, S. 11. Vgl. auch SchweitzerlHummer, Europarecht, S. 149; Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 43 f. 423 Vgl. Bohr, Schutznormen, S. 1 bzw. S. 11. Vgl. auch Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 91 f. Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 40, spricht von einer "Reduktion" der den Mitgliedstaaten obliegenden gemeinschaftsrechtlichen Pflichten. 419

420

c. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs

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aufgrund ihrer "finalen" Ausrichtung auf die Herstellung des Gemeinsamen bzw. Binnenmarktes eine besondere Brisanz. Die Einräumung von rnitgliedstaatlichen Freiräumen ermöglicht nämlich eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Erreichung dieses integrationspolitischen Ziels. 424 Deshalb ist ein Abweichen von den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der "Schutznormen" nur nach Zustimmung der Gemeinschaft zulässig. 425 Im Gemeinschaftsrecht lassen sich "Schutznormen" in unterschiedliche Fallgruppen wie z. B. sog. "Schutzklauseln" oder sog. "Notstandsklauseln" einteilen. 426 Eine Abgrenzung dieser Klauseln ist im Einzelfall sehr schwierig. 427 Hier soll in der Weise unterschieden werden, daß unter einer "Schutzklausel" eine Norm zu verstehen ist, die in Notstandssituationen eine Suspendierung weiterhin bestehender Vertragspflichten ermöglicht. 428 Dahingegen beinhaltet eine "Notstandsklauseln" eine von vornherein bestehende Einschränkung von rnitgliedstaatlichen Verpflichtungen im Sinne einer "immanenten" Lösung eines "Dauerkonflikts".429 Während "Notstandsklauseln" nahezu ausnahmslos im primären Gemeinschaftsrecht anzutreffen sind, finden sich "Schutzklauseln" hingegen sowohl im Primär- als auch im Sekundärrecht. 430 Daneben bestehen schließlich noch ungeschriebene "Schutznormen" im Gemeinschaftsrecht.

2. "Schutzklauseln "

Nach allgemeiner Ansicht sind "Schutzklauseln" die wichtigste Form von "Schutznormen".431 "Schutzklauseln" knüpfen sowohl an das Vorliegen wirtVgl. aber H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 244. Bohr, Schutmormen, S. 1 f m.w.N. Vgl. dazu auch H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 246. 426 Siehe aber auch den Überblick an Schutmormen im internationalen Wirtschaftsrecht bei Bohr, Schutmormen, S. 2, S. 12 ff bzw. die Übersicht aufS. 30. 427 Nach Ansicht von SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 149, ist eine befriedigende Systematisienmg von Schutmormen im Gemeinschaftsrecht nicht möglich. Ähnlich auch Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 92; Bohr, Schutmormen, S. 2. Vgl. ferner Gilsdoif, in: GlE, EWGV, Vorbemerkung zu den Art. 223 bis 225, Rn. 4 m.w.N. 428 Ähnlich auch Beck, S. 58 m.w.N., allerdings beschränkt auf Situationen, in denen wirtschaftliche Schwierigkeiten bestehen. 429 Vgl. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2053; Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 92jeweils m.w.N. 430 Siehe auch die Nachweise bei SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 149 f Siehe speziell die Nachweise auf "Schutzklauseln" in Richtlinien bei Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 40 ff 431 So Bohr, Schutmormen, S. 21 m.w.N. 424

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

schaftlicher Schwierigkeiten in einem Wirtschaftszweig oder -gebiet eines Mitgliedstaates432 als auch an generelle Notstandssituationen an. Die Anwendung von "Schutzklauseln" im Gemeinschaftsrecht ermöglicht die nachträgliche Suspendierung von ohne Berücksichtigung von Ausnahmesituationen festgelegten vertraglichen Pflichten, für die grundsätzlich die Ermächtigung bzw. Genehmigung der Gemeinschaft erforderlich ist. Typisch für "Schutzklauseln" sind die Übergangsregelungen zur Anpassung an den Gemeinsamen Markt, wie sie sich in dem nach Ablauf der Übergangszeit nicht mehr anwendbaren Art. 226 EGV433 , aber mit einem dem Art. 226 EGV vergleichbaren Inhalt auch in den Beitrittsverträgen für beitretende Staaten finden. 434 Ferner können gemäß Art. IOOa Abs. 5 EGV nach Maßgabe des Art. IOOa Abs. I EGV erlassene Harmonisierungsmaßnahmen mit einer "Schutzklausel" versehen werden, "die die Mitgliedstaaten ermächtigt, aus einem oder mehreren der in Art. 36 genannten nicht-wirtschaftlichen Gründen vorläufige Maßnahmen zu treffen, die einem gemeinschaftlichen Kontrollverfahren unterliegen. ,,435 Grundsätzlich hat ein Gemeinschaftsorgan der Anwendung zuzustimmen und ebenfalls zu kontrollieren, obwohl es einem Mitgliedstaat in bestimmten Fällen436 auch möglich sein kann, vorsorglich entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. 437

3. "Notstandsklauseln "

"Notstandsklauseln" stellen eine von vornherein bestehende Einschränkung mitgliedstaatlicher Vertragsverpflichtungen dar und greifen so gleichsam bei der "immanenten" Lösung eines "Dauerkonflikts" ein. 438 Sie erlauben die Sus432 Vgl. dazu Bohr, Schutznormen, S. 21 m.w.N. Siehe auch die Nachweise bei SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 302. 433 Vgl. dazu nur Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2077. 434 Vgl. dazu Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 92 f m.w.N.; Röttinger, in: Lenz, EGVertrag, Art. 226 Rn. 1; Beck, S. 59 m.w.N. 435 Vgl. dazu SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 347 f; Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 44 f Siehe jetzt z. B. die in Art. 12 der (noch zu verabschiedenden) "Novel Food"-Verordnung verankerte Schutzklausel. Vgl. dazu nur Streinz, ZLR 1996, S. 123 (134). Siehe dazu aber auch schon die Ausfiihnmgen oben im 2. Teil unter B. 11. 2. b) dd). 436 Siehe dazu nur die Nachweise bei Bohr, Schutznormen, S. 28. 437 Bohr, Schutznormen, S. 21, S. 23 bzw. S. 27 f m.w.N. Vgl. auch Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 93; SchweitzeriHummer, Europarecht, S. 149. 438 Vgl. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2053 m.w.N.; Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 92. Eine große Zahl der hier als "Notstandsklauseln" erfaßten Normen wird

C. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs

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pendierung von Vertragspflichten, ohne daß eine Ermächtigung bzw. Genehmigung der Gemeinschaft erforderlich wäre. Sie unterliegen jedoch in der Regel der nachträglichen Mißbrauchskontrolle durch den EuGH. 439 So beinhaltet Art. 223 EGV eine allgemeine Einschränkung der vertraglichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten für den Fall, daß eine Beeinträchtigung ihrer Sicherheitsinteressen eintritt. 440 Art. 224 EGV erlaubt eine Entbindung der Mitgliedstaaten von Vertragspflichten im Rahmen von deren Sicherheit bedrohenden Notstandssituationen und ergänzt diese Bestimmung um eine Konsultationspflicht. 441 Nach Maßgabe von Art. 223 und 224 EGV ergriffene Maßnahmen dürfen jedoch nicht die Wettbewerbsbedingungen im Gemeinsamen Markt verfälschen oder überhaupt mißbräuchlich angewendet werden. 442 Im Mißbrauchsfall kann die Kommission oder ein Mitgliedstaat gemäß Art. 225 Abs. 2 EGV in Abweichung der Art. 169 bzw. 170 EGV unmittelbar den EuGH anrufen. 443 Neben diesen Bestimmungen können die Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Grundfreiheiten einschränken (Art. 36, Art. 48 Abs. 3, Art. 56 Art. 1 und Art. 66 i. Y.m. Art. 56 Abs. 1 EGV). Jedoch sind die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in diesen Normen eng auszulegen und beziehen sich nur auf Auswirkungen, die von den konkreten Waren oder Personen selbst ausgehen444 ; dies gilt im übrigen auch für Art. 100a EGy' 445 Nur durch eine enge und rein gemeinschaftsrechtliche Auslegung kann eine übermäßige Beeinträchtigung des Marktgeschehens verhindert werden. Insoweit ist dem EuGH zu folgen, der in den einzelnen in Art. 36 EGV geregelten Alternativen im Gegensatz zu Art. 226 EGV Tatbestände "nicht-wirtschaftlicher" Art sieht, "die die Verwirklichung der in Art. 30 bis 34 auch als "Souveränitätsvorbehalte" bezeichnet. Vgl. dazu Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 92 m.w.N.; Bohr, Schutznormen, S. 15ff. 439 Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. ISO. 440 Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 93. 441 Vgl. dazu Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 93.; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 224 Rn. lff. Vgl. aber auch Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2078ff. 442 Vgl. zum Mißbrauch Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2081; Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 93. 443 Vgl. dazu Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 93; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 225 Rn. 2 f; Everling, in: Die EntwicklWlg der EG, S. 12 (22). Siehe nur EuGH, Beschluß vom 29. JWli 1994, Rs. C-120/94 R (Kommission/Griechische Republik), Slg. 1994 I, S. 3037ff. 444 Vgl. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2057,2059 Wld 2062 m.w.N. 445 So Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 93.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

aufgestellten Rechtssätze nicht in Frage stellen können".446 Soweit Vorschriften nach Art. 100 f. EGV harmonisiert sind, ist eine Berufung auf Art. 36 EGV ohnehin grundsätzlich ausgeschlossen. 447 Doch ist an dieser Stelle auf die in Art. 100a Abs. 4 EGV geregelte Ermächtigung der Mitgliedstaaten hinzuweisen. Diese ermöglicht es den Mitgliedstaaten, in besonderen Fällen bestimmten Anforderungen entsprechende einzelstaatliche Bestimmungen anzuwenden, obwohl der Rat eine entsprechende Harmonisierungsmaßnahme erlassen hat. 448 Das Erfordernis einer engen und gemeinschafts rechtlichen Auslegung gilt im übrigen auch für Art. 48 Abs. 3 EGV, wobei den Mitgliedstaaten hier nach Ansicht des EuGH "ein Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den Vertrag gesetzten Grenzen zuzubilligen ist".449

4. Ungescbriebene "Scbutz-" und "Notstandsklauseln" Verschiedentlich wird die Ansicht vertreten, es gäbe neben den ausdrücklich im EGV verankerten "Schutz-" und "Notstandsklauseln" oder in Analogie zu ihnen weitere ungeschriebene "Schutznormen".45o Zur Begründung könnte der ungeschriebene Grundsatz des Völkerrechts, wonach Staaten in einer die Existenz bedrohenden Notstandssituation von ihren Verpflichtungen befreit sind451 , herangezogen werden. 452 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Existenz von ungeschriebenen "Schutznormen" das abgestufte System vertraglich geregelter Ausnahmetatbestände überflüssig macht bzw. seine Grenzen verwischt und so der gemeinschaftlichen Kontrolle entziehen würde. 4S3 Somit hat 446 Siehe EuGH, Urteil vom 19. Dezember 1961, Rs. 7/61 (KommissionlItalien), Slg. 1961, S. 693 (720). Vgl. dazu auch Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2058. 447 Vgl. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2059 m.w.N. 448 Vgl. dazu im einzelnen Langeheine, EuR 1988, S. 235 (247ff.); Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 347; Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 47 f; Langeheine, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 100a EGV Rn. 56 ff.; Nentwich, S. 228 f; Jarass, Gnmdfragen, S. 38 ff. jeweils m.w.N. Siehe dazu aber auch schon oben im 2. Teil unter B. II. 2. b) dd). 449 Siehe EuGH, Urteil vom 4. Dezember 1974, Rs. 41/74 (van DuynIHome Office), Slg. 1974, S. 1337 (Rn. 18/19). 450 Vgl. für den Bereich des EGKSV Oppermann, EuR 1969, S. 231 (231 f). Vgl. ferner Beutler, in: BBPS, S. 94. 451 Vgl. dazu Verdross/Simma, Völkerrecht, § 598 m.w.N. 452 Vgl. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2084 m.w.N. 453 So auch Beutler, in: BBPS, Die EU, S. 94. Ders., a.a.O., verweist die Regelungen der Art. 103 Abs. 2 EGV und Art. 235 EGV als mögliche Auffangtatbestände für außergewöhnliche Notfälle.

c. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs

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in jedem Fall die vertraglich geregelte "Schutznorm" in den vertraglich geregelten Fällen einem allgemeinen völkerrechtlichen Rechtfertigungsgrund vorzugehen. 454 Fraglich ist jedoch, ob der Rückgriff auf eine allgemeine "Schutznorm" nicht in bestimmten Situationen von der Gemeinschaft geduldet werden muß. Dabei ist an solche Fälle zu denken, die im EGV nicht geregelt sind oder in denen eine Situation zu einer solch massiven Gefährdung führt, die über die vom EGV ins Auge gefaßte weit hinausgeht. 455 In der Praxis dürften solche Fälle aber die absolute Ausnahme darstellen, so daß eine Antwort dahinstehen kann. 456

5. Zusammenfassung Wie zu sehen war, verfügen die Mitgliedstaaten aufgrund von im ganzen primären und sekundären Gemeinschaftsrecht verstreuten "Schutznormen" über zahlreiche Möglichkeiten, von den gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen abzuweichen und nach eigenstaatlichen Interessen zu handeln. Insbesondere anband von Normen wie Art. 224 EGV wird deutlich, daß die Mitgliedstaaten in existentiellen Notlagen autonom und unter Wahrung ihrer Souveränität agieren können. 457 Wenn die Existenz von "Schutzklauseln", die ein mitgliedstaatliches Ausscheren von gemeinschaftsrechtlichen Pflichten zulassen, auch aufgrund der durch sie den Mitgliedstaaten eingeräumten Freiheiten beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht zu Verzerrungen bei der Herstellung des Gemeinsamen bzw. Binnenmarktes führen, so darf man nicht übersehen, daß sie sowohl Voraussetzung für die Begründung der Gemeinschaft waren als auch für die weiteren Fortschritte der Integration sind. 458 Insofern sind daraus resultierende Einschnitte, die besonders beim legislativen und administrativen Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten eintreten können, hinzunehmen. Obwohl die Gemeinschaft in der Regel sehr streng darauf achtet, daß die Mitgliedstaaten sich nicht mißbräuchlich auf "Schutzklauseln" berufen, So Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2087. Vgl. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2087 f[ A.A. Frowein, EuR 1983, S. 301 (314), der einer erweiternden Auslegung zumindest der Art. 224 Wld 225 EGV in einem bestimmten Fall deren analoge AnwendWlg oder der Berufimg auf einen allgemeinen Rechtfertigungsgrwtd den Vorzug gibt. 456 Vgl. aber Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 2090 fI. m.w.N. 457 So auch Everling, in: Die EntwicklWlg der EG, S. 12 (22). Vgl. auch Schmitt, Politische Theologie, S. 11: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." 458 Siehe nur die entsprechenden Nachweise bei Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 43 f 454

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

so wird doch gerade in diesem Bereich deutlich, wer die "Herren der Verträge"459 sind.

ill. Gemeineuropäische rechts staatliche Verfahrensgarantien und Menschenrechte als rechtliche Grenze des Vollzugs

Die GTÜndungsverträge der Europäischen Gemeinschaften enthalten bis heute noch keinen Menschenrechtskatalog. 46o Auch der EuGH hatte sich in den Anfangsjahren des Bestehens der Gemeinschaft nicht bemüht, im Rahmen seiner Rechtsprechung die Abwesenheit verbriefter Menschenrechte auszugleichen. 461 Deren Fehlen in der Gemeinschaftsrechtsordnung wurde im Laufe der Zeit jedoch insbesondere von den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten kritisiert. 462 Maßgeblich für die Erhebung der mahnenden Stimmen war nicht zuletzt die quantitative und qualitative Ausweitung des Gemeinschaftsrechts, zu welcher der EuGH durch seine Rechtsprechung zur "unmittelbaren Anwendbarkeit" und zum "Vorrang des Gemeinschaftsrechts" selbst in erheblichem Maße beigetragen hat. 463 Eine Kollision mit den verfassungsmäßigen Menschenrechten der Mitgliedstaaten mit all ihren Konsequenzen war daher abzusehen.

Vgl. dazu nur Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (955) m.w.N. Vgl. Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 287; Scholz, in: FS für Steindorff, S. 1413 (1416); Duparc, Menschenrechte, S. 11; Schwarze, Neue Justiz Nr. 2/1994, S. 53 (53). Duparc, a.a.O., S. 11 f, fiihrt aus, daß in den funfziger Jahren lediglich die (Staats-)Völker der Mitgliedstaaten im Mittelpunkt der Überlegungen über die GründlDlg der Gemeinschaft standen, nicht aber die Bürger. Dennoch fanden mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer lDld der Selbständigen (Art. 48 bis 58 EGV) lDld dem DiskriminieTlDlgsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 6, 48 Abs. 2 lDld 220 EGV) oder des Geschlechts (Art. 119 EGV) zwei Menschenrechte zumindest in Teilbezügen Eingang in die GründlDlgsverträge. Vgl. dazu auch Chwolik-Lanfermann, S. 41 f[ Vgl. ferner Stotz, in: Aktuelle EntwickllDlgen in der EG, S. 21 (25 f). 461 Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (585) m.w.N. 462 Siehe nur die Nachweise bei Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (585). Vgl. auch Scholz, in: FS für Steindorff, S. 1413 (1423); Duparc, Menschenrechte, S. 12 f; Schwarze, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 9 (15 bzw. 21) m.w.N. 463 Vgl. dazu Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (585); Duparc, Menschenrechte, S. 12. Siehe zur "lDlmittelbaren Anwendbarkeit" des Gemeinschaftsrechts schon oben im 2. Teil lDlter C. ll. 2. c) cc) (1) bzw. lDlten im 4. TeillDlter C. ll. 2. Siehe ferner zum "Vorrang des Gemeinschaftsrechts" oben im 2. Teil lDlter C. ll. 2. c) cc) (1) bzw. lDlten im 4. TeillDlter C. ll. 3. 459

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Vor diesem Hintergrund464 begann der EuGH - gestützt auf Art. 164 EGV465 _ im Rahmen einer langjährigen kontinuierlichen Rechtsprechung466 ausgehend von den Grundfreiheiten, welche zwar keine Menschenrechte im Sinne der klassischen Menschenrechtsdogmatik darstellen, aber durchaus Züge menschenrechtsähnlicher Verbürgungen aufweisen467 , nahezu systematisch468 einen eigenen Menschenrechtskatalog469 sowie zahlreiche rechtsstaatliche Verfahrensgarantien470 zu entwickeln. 471 Er begründete seine Rechtsprechung damit, daß die Beachtung der Menschenrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehöre und er deren Wahrung zu sichern habe. 472 Die Gewährleistung dieser Rechte muß nach Ansicht des EuGH zwar von den "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten" getragen sein, "sie muß sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen. ,,473 Als Rechtserkenntnisquelle für die von der Gemeinschaft zu beachtenden Menschenrechte vermag der EuGH aufgrund der Notwendigkeit eines einheitlichen Vollzugs des Gemeinschaftsrechts nicht die in den mitgliedstaatlichen Verfassungen geschützten Menschenrechte unmittelbar heranziehen. 474 464 Vgl. dazu auch Nettesheim, in: Grabitz/HilJ, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 4 EGV Rn. 28. 465 Vgl. dazu im einzelnen Streinz, BlDldesverfasslDlgsgerichtlicher GrlUldrechtsschutz, S. 380 ff; Schwarze, in: FS für Deringer, S. 160 (161) jeweils m.w.N. Vgl. jetzt auch Cammichau, S. 17 ff 466 Vgl. dazu Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (586 ff); HSVE, S. 342 ff mit zahlreichen Nachweisen. 467 So Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (585); Reich, Schutzpolitik, S. 9 m.w.N. Vgl. auch Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 453 ff, insbesondere Rn. 479; Duparc, Menschenrechte, S. 12. 468 Vgl. aber Schatz, in: FS für Steindorff, S. 1413 (1424 f). 469 GrlUldlegend Rengeling, GrlUldrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft. Siehe auch die Übersichten bei Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 199 ff, bzw. bei Streinz, Europarecht, Rn. 372 ff 470 Siehe die Übersicht bei Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 198 f 471 Erstmalig in EuGH, Urteil vom 12. November 1969, Rs. 29/69 (Stauder/Stadt Ulm), Slg. 1969, S. 419 ff Vgl. auch Duparc, Menschenrechte, S. 13. 472 Siehe nur EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft mbHIEinfuhr- lDld VorratssteIle für Getreide lDld Futtermittel), Slg. 1970, S. 1125 (Rn. 4); EuGH, Urteil vom 14. Mai 1974, Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, S. 491 (Rn. 13). 473 EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft mbHIEinfuhr- lDld VorratssteIle für Getreide lDld Futtermittel), Slg. 1970, S. 1125 (Rn. 4). 474 Vgl. auch Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (586); Everling, in: Die EntwickllDlg der EG, S. 12 (16). Sehr deutlichPernice, in: Grabitz/HilJ, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 43. 13 Püh.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Jedoch kann gleichsam mittelbar anband einer wertenden Rechtsvergleichung der den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen zugrunde liegenden gemeinsamen Wertvorstellungen, insbesondere der in ihnen enthaltenen Menschenrechte, die von der Gemeinschaftsrechtsordnung zu schützende Menschenrechte ermittelt werden. 475 Umstritten ist angesichts der Einzelfallrechtsprechung des EuGH in diesem Bereich, welchen konkreten Standard jene die Gemeinschaft bindenden Menschenrechte im Verhältnis zu den in den mitgliedstaatlichen Verfassungen verankerten haben. 476 Der EuGH kann sicherlich nicht so verstanden werden, daß bei Gegensätzen in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen das "gemeinsame Minimum" übernommen werden muß. 477 Gelegentlich wird vielmehr in der Rechtsprechung des EuGH ein "relativierter Maximalstandard" erkennbar. 478 Danach greift der EuGH zur Definition der Schutzbereiche von gemeinschaftlichen Menschenrechten bisweilen auf die Rechtsordnung zurück, "welche die betreffenden Grundrechte maximal ausformuliert".479 Aber auch diese Einschätzung beschreibt den durch den EuGH zugrunde gelegten Standard nur ungenügend. 480 Die Schranken der Schutzwürdigkeit der ermittelten Menschenrechtsgüter ergeben sich hingegen wegen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts aber unbestritten insbesondere aus der Struktur und den Zielen der Gemeinschaft. 481 Die vom EuGH entwickelten Ge475 Vgl. dazu Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (586). Vgl. aber auch Schweitzer, Staatsrecht m, Rn. 297. Vgl. jetzt aber auch zur Vorgehensweise des EuGH bei der Ermittlung allgemeiner Rechtssätze die differenzierende Darstellung von Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 23 ff. m.w.N. Vgl. schließlich zu Traditionen, welche sämtlichen europäischen Rechtsordnungen zugrunde liegen, Bleckmann, in: FS für Börner S. 29 (S. 33 f) m.w.N. Grundlegend zu den "einzelnen Verfassungsprinzipien, die den verschiedenen nationalen Verfassungsstaaten "gemeinsam" sind", Häberle, EuGRZ 1991, S. 261 ff. 476 Vgl. dazu im einzelnen Pernice, in: GrabitzlHilj, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 42 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 362 ff. jeweils m.w.N. 477 So Bleckmann, in: FS für Börner, S. 29 (30 f). Vgl. ferner NotthojJ, RIW 1995, S. 541 (542). Dagegen spricht auch die vom EuGH häufig verwendete Formulierung: "... so daß in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als rechtens anerkannt werden können, die mit den von den Verfassungen dieser Staaten geschützten Grundrechte unvereinbar sind." Siehe nur EuGH, Urteil vom 13. Juli 1989, Rs. 5/88 (Wachauf/Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft), Sig. 1989, S. 2609 (Rn. 17). 478 So Streinz, Europarecht, Rn. 363; Bleckmann, in: FS für Börner, S. 29 ff. Vgl. aber auch Pernice, in: GrabitzlHilj, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 44 m. W.N. 479 So Bleckmann, in: FS für Börner, S. 29 (31 f). A.A. Pernice, in: GrabitzlHilj, Kommentar zur EU, 8. EL (Mai 1995), Art. 164 EGV Rn. 44 m.w.N. 480 Vgl. dazu nur Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 48 ff. m.w.N. 481 Vgl. Bleckmann, DÖV 1993, S. 837 (839 f). Vgl. dazu aber auch die weiterge-

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meinschaftsmenschenrechte sind schließlich in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen482 als ungeschriebener Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht zu beachten. 483 Neben den mitgliedstaatlichen Verfassungen hat der EuGH zur Begründung seiner Rechtsprechung noch auf die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete EMRK484 Bezug genommen485 , da in ihr die von der Gemeinschaft zu beachtenden Menschenrechte gewährleistet sind, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. 486 Die Bezugnahme stellt allerdings keine förmliche Bindung des EuGH an die dort aufgeführten Menschenrechte dar. Es soll an dieser Stelle schließlich nicht unerwähnt bleiben, daß auch die anderen Organe der Gemeinschaft sich durch zahlreiche (unverbindliche) Erklärungen verpflichtet haben, bei der Ausübung ihrer Befugnisse und bei der Verfolgung der Ziele der Gemeinschaft auf die Menschenrechte zu achten. 487 Die Frage, ob es Bereiche gibt, für die der EuGH keinen eigenen Menschenrechtsschutz entwikkeIn konnte488 , weil er bisher nicht mit entsprechenden Rechtssachen befaßt worden ist, hat wohl nur noch theoretische Bedeutung. henden Ausfiihnmgen bei Stotz, in: Aktuelle Entwickhmgen in der EG, S. 21 (27 f); Schwarze, Neue Justiz Nr. 2/1994, S. 53 (56 f) jeweils m.w.N. 482 VgI. zu den allgemeinen Rechtsgnmdsätzen des Gemeinschaftsrechts Wld zur Art Wld Weise ihrer GewinnWlg durch den EuGH Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 282 ff m.w.N. 483 Vgl. dazu auch die Ausfiihnmgen des Generalanwalt K. Roemer in seinen Schlußanträgen, in: EuGH, Urteil vom 12. November 1969, Rs. 29/69 (Stauder/Stadt UIrn), Slg. 1969, S. 419 (428). 484 Siehe zu EMRK schon oben Wlter B. m. 2. a) bb). 485 Siehe nur EuGH, Urteil vom 13. Dezember 1979, Rs. 44/79 (HauerlRheinlandPfalz), Slg. 1979, S. 3727 (Rn. 15 bzw. 17 ff); EuGH, Urteil vom 10. Juli 1984, Rs. 63/83 (ReginalKirk), Slg. 1984, S. 2689 (Rn. 22). Vgl. dazu Duparc, Menschenrechte, S. 13; Lenz, EuGRZ 1993, S. 585 (587); Streinz, Europarecht, Rn. 360 f 486 Siehe jetzt auch Art. F Abs. 2 EUV, der die durch die RechtsprechWlg des EuGH geprägte Menschenrechtsdogmatik bestätigt. VgI. auch Streinz, Europarecht, Rn. 361; Schwarze, Neue Justiz Nr. 2/1994, S. 53 (53). VgI. dazu aber auch Weiß, Die VerteidigWlgsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 36 ff 487 Siehe zum Beispiel die "Gemeinsame ErkläfWlg des Europäischen Parlaments, des Rates Wld der Kommission" vom 5. April 1977, ABI. 1977, C 103, S. 1. Siehe ferner die "ErkläfWlg der GrWldrechte Wld GrWldfreiheiten" des Europäischen Parlaments vom 12. April 1989, ABI. 1989, C 120, S. 51 ff Siehe aber auch die weiteren Nachweise bei Scholz, in: FS für Steindorff, S. 1413 (1418 ff), bzw. bei Duparc, Menschenrechte, S. 29 ff 488 So noch Pescatore, EuR 1970, 307 ff VgI. auch H. Henrichs, EuGRZ 1989, S. 237 (242).

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Die anhand der Rechtsprechung des EuGH entwickelten Menschenrechte und rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien stellen die rechtlichen Grenzen des rein "finalen" Vollzugs von Gemeinschaftsrecht dar. Sie binden nicht nur die Hoheitsgewalt der Gemeinschaft, sondern auch die der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. 489 Anders formuliert bedeutet dies, daß die Gemeinschaft, um die effektive Durchsetzung ihrer Rechtsordnung sicherzustellen, zur Gewährleistung von "europäischen" Menschenrechten verpflichtet ist. 490 Der EuGH hat somit allein auf der Grundlage der in diesem Abschnitt aufgezeigten Rechtsprechung den Zusammenhalt der (Rechts-)Gemeinschaft491 gestärkt und ihrer Rechtsordnung "zur größtmöglichen Wirksamkeit" verholfen. 492

IV. Die mitgliedstaatlichen Menschenrechte und Verfassungsgrundsätze als Grenze eines effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht 1. Die Problemstellung aus deutscher Sicht Insbesondere vom Bundesverfassungsgericht wird die Ansicht vertreten, daß neben den schon aufgezeigten gemeinschaftlichen Menschenrechten und rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien ebenso die in den mitgliedstaatlichen Verfassungen verankerten Menschenrechte und Verfassungsprinzipien eine rechtliche Grenze des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht darstellen. 493 Dies würde sich dann auf den Vollzug von Gemeinschaftsrecht auswirken, wenn die Rechtsordnung der Gemeinschaft solche nicht kennt oder nicht gebührend berücksichtigt. 489 Siehe nur EuGH, Urteil vom 13. Juli 1989, Rs. 5/88 (Wachauf7Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft), Slg. 1989, S. 2609 (Rn. 19); EuGH, Urteil vom 18. Juni 1991, Rs. C-260/89 (Elliniki Radiophonia Tileorassi AElEtairia Pliroforisis u.a.), Slg. 1991 I, S. 2925 (Rn. 42 ff). Vgl. dazu Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (547). 490 Vgl. Bleckmann, in: FS für Bömer S. 29 (S. 31). 491 Vgl. dazu auch Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 382 m.v.a. Hallstein. 492 Vgl. dazu Zuleeg, NJW 1994, S. 545 (549). Vgl. aber auch die Kritik an der jüngsten Rechtsprechung des EuGH zur menschenrechtlichen PrüCdichte bei Nettesheim, EuZW 1995, S. 106 ff Dieser wirft dem EuGH vor, in zwei neueren Entscheidungen die Kontrolle von gemeinschaftlichen Maßnahmen anband der Gemeinschaftsmenschenrechte sehr weit zurückgenommen zu haben. 493 Siehe BVerfGE 89, S. 155 (174 f bzw. 184). Siehe dazu aber auch unten unter 2.

C. Die rechtlichen Grenzen des VoUzugs

197

In mitgliedstaatlichen Menschenrechten und Verfassungsprinzipien kann deshalb eine Grenze des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht gesehen werden, weil die Mitgliedstaaten an bestimmte in ihren Verfassungen festgelegte Grundentscheidungen gebunden sind. 494 So wurde in der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Verfassungsstreit, der das deutsche Ratifizierungsgesetz zum EUV zum Gegenstand hatte495 , mit Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgetragen, daß die Identität der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnung eine nicht zu übertretende Schranke der Integration sei. 496 Dieses Argument wird gestützt durch die Ansicht, daß die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 24 Abs. 1 GG der Gemeinschaft nicht vorbehaltlos und nicht unter Aufgabe ihres Souveränitätsvorbehaltes beitreten konnte. 497 So entspricht es einer weitverbreiteten Ansicht, daß das weitere Voranschreiten der Integration auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat in der Bundesrepublik Deutschland nur im Wege der Verfassungsgebung ("pouvoir constituant") gesucht werden könne. 498 Die aus dieser Ansicht resultierende Verabschiedung des Art. 23 GG n.F. unter Einbeziehung einer "Struktursicherungsklausel" in seinem erstem Absatz hat zwar klargestellt, daß bei weiteren Übertragungen von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft die Grundwerte des Grundgesetzes verpflichtend zu beachten seien, jedoch nimmt er keine Stellung dazu, ob und inwieweit der EUV selbst bereits den deutschen "Souveränitätspanzer" geöffnet hat oder wann und unter welchen Voraussetzungen dieses überhaupt geschehen kann. 499 Auch in seiner jüngsten Entscheidung zur Vereinbarkeit des Ratifizierungsgesetzes zum EUV hat das Bundesverfassungsgericht an seiner eingangs darge494 Siehe für die BWldesrepublik Deutschland die sog. "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG i.Y.m. Art. 1 Wld Art. 20 GG. Vgl. dazu nur Breuer, NVwZ 1994, S. 417 (419) m.w.N. Vgl. aber Streinz, BWldesveIfassWlgsgerichtliche Kontrolle, S. 28 ff m.w.N., zu den Relativierungsmöglichkeiten der GrwtdgesetzbindWlg in Gemeinschaftsrechtsfiillen durch das BWldesveIfassWlgsgericht. 495 Siehe BVeIfGE 89, S. 155 ff 496 So Herdegen, EuGRZ 1992, S. 589 (592 f) m.w.N. Vgl. auch Streinz, DVBl. 1990, S. 949 (954 f). 497 Siehe auch den Überblick an verschiedenen LösWlgen bei Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 747 ff Vgl. ebenfaUs Streinz, DVBl. 1990, S. 949 (954 f). Vgl. ferner Horn, DVBl. 1995, S. 89 (94). 498 Vgl. H. Henrichs, DÖV 1994, S. 368 (369). Vgl. Huber, Maastricht - ein Staatsstreich?, S. 49, der für alle weiteren, dem ElN nachfolgenden vertraglichen Integrationsschritte die Durchfiihrung eines Volksentscheids als geboten ansieht. Vgl. jedoch Everling, in: FS für Doehring, S. 179 (193) m.w.N. 499 Vgl. zur NeufassWlg des Art. 23 GG Schalz, NJW 1992, S. 2593 (2594 ff); Sommermann, DÖV 1994, S. 596 ff Sehr kritisch Breuer, NVwZ 1994, S. 417 ff

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

stellten Einstellung festgehalten. Es hat sich in dieser Entscheidung in Entsprechung seiner sog. "Solange"-Rechtsprechung ein Letztentscheidungsrecht insbesondere in Grundrechtsfragen vorbehalten. 50o Dabei beschränkt es sich "auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards" , während der mit ihm in einem "Kooperationsverhältnis" verbundene EuGH "den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert". 501

2. Das "Gebot der Rücksichtnahme" Die Forderungen der Mitgliedstaaten auf Beachtung ihrer "Verfassungsprinzipien und elementaren" Interessen502 werden in gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht durch das sog. "Gebot der Rücksichtnahme" fruchtbar gemacht. 503 Das "Gebot der Rücksichtnahme" steht in einem Zusammenhang mit dem "Grundsatz zur loyalen Zusammenarbeit", der aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 5 EGV) hergeleitet wird. 504 Der Tatbestand des Art. 5 EGV und der des "Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit" decken sich mit Ausnahme des Adressaten. 505 Letzterer beruht jedoch auf einer richterlichen Rechtsfortbildung des EuGH, der in dessen Rahmen zahlreiche den Gemeinschaftsorganen obliegende Unterstützungspflichten entwickelt hat. 506 Allerdings finden sich auch im primären Gemeinschaftsrecht selbst Belege für das Vorhandensein gemein500 Im Ergebnis so auch, aber mit anderer Begründung Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 (490). 501 BVeIfGE 89, S. 155 (175). Vgl. dazu nur Tietje, JuS 1994, S. 197 (200 ff.); Schröder, DVBI. 1994, S. 316 (323 f); Horn, DVBI. 1995, S. 89 (89 ff.); Streinz, in: Verfassungsrecht im Wandel, S. 663 ff. jeweils m.w.N. Zynisch Zuck, NJW 1994, S. 978 f m. w.N.: "Das Gerede vom gerichtlichen Kooperationsverhältnis" . 502 Siehe nur BVeIfGE 89, S. 155 (174 f bzw. 184). Das BVeIfG bezieht sich hier allerdings "lediglich" auf die Befugnis zu Mehrheitsentscheidungen. Vgl. dazu auch H. P. Ipsen, EuR 1994, S. 1 (13); von Bogdandy, in: GrabitzlHilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 82 m.w.N. 503 Vgl. auch Epiney, EuR 1994, S. 301 (305). Vgl. femer Kraußer, S. 140 ff.; Classen, Europäisierung, S. 186 f jeweils m.w.N. 504 Vgl. Kraußer, S. 142 ff.; Pernice, DVBI. 1993, S. 909 (916) jeweils m.w.N. 505 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 79. 506 Siehe nur die Nachweise bei von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 80; Jamrath, S. 109. Vgl. aber auch Epiney, EuR 1994, S. 301 (312 f). Siehe dazu auch schon oben im 2. Teil unter C. 11. 2. d) bb) (2). -

C. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs

199

schaftlicher Pflichten gegenüber den Mitgliedstaaten. 507 Der "Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit" erlaubt zugegebenermaßen die Rücksichtnahme der Gemeinschaft in bestimmten Fällen. 50s Für den hier relevanten Zusammenhang kann jetzt im übrigen auf Art. F Abs. 1 EUV verwiesen werden, wonach die EU und damit auch die Gemeinschaft, "die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten" zu achten haben. 509 Das "Gebot der Rücksichtnahme" wird sowohl zur Begründung für die gemeinschaftliche Pflicht der Beachtung von wesentlichen Menschenrechtsgehalten als auch der Respektierung der "föderalen Interessen von Mitgliedstaaten gegenüber der Gemeinschaft"510 herangezogen. 511 Schwierigkeiten bestehen bei der konkreten Definition seines InhaltS. 512 Grundsätzlich soll seine Anwendung sicherstellen, daß von der Gemeinschaft aufgrund der engen Verzahnung der Rechtsordnungen513 keine Eingriffe in tragende Prinzipien vorgenommen werden, die sich als systemwidrig oder gar systemsprengend erweisen. 514 Im Hinblick auf die Menschenrechte ist auf die entsprechenden Aktivitäten der Gemeinschaft schon eingegangen worden. 515 Zwar fließen die in den mitgliedstaatlichen Verfassungen verankerten Menschenrechte nicht unmittelbar in die Rechtsprechung des EuGH ein 516 , doch hat der EuGH schon häufiger auf Siehe nur die Nachweise bei Kraußer, S. 143 f; Jamrath, S. 108. Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar ZW" EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 81 m.w.N. 509 Vgl. dazu auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar ZW" EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 79; Epiney, EuR 1994, S. 301 (307). Art. F EUV unterliegt jedoch gemäß Art. L EUV nicht der Zuständigkeit des EuGH. 510 Pernice, DVBI. 1993, S. 909 (916) m.w.N. Vgl. ferner Epiney, EuR 1994, S. 301 (314 ff m.w.N.). Vgl. ZW" "Landes-Blindheit" des Gemeinschaftsrechts nur H. P. Ipsen, in: FS für Börner, S. 163 (176). In Entsprechung zu H. P. Ipsen warnt Demmke, DV 1994, S. 49 (51), vor einer möglichen "Kommunal-Blindheit" des Gemeinschaftsrechts. Darauf soll hier aber nicht eingegangen werden. 5Il Vgl. aber auch Schmidt-Aßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931 f): "Die Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit umgreift eine Rücksichtnahmepflicht der Gemeinschaftsorgane, die insbesondere dort wirksam wird, wo Einwirkungen auf das nationale Verwaltungsrecht zu Strukturänderungen führen. " 5!2 Vgl. dazu auch Epiney, EuR 1994, S. 301 (318 ff). 513 Vgl. dazu nur Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (955 f). Siehe aber auch schon oben im 1. Teil unter B. I. bzw. im 2. Teil unter C. 514 Vgl. auch Jamrath, S. 109. 515 Siehe oben unter ID. 516 Vgl. aber gerade an dieser Stelle zum Einfluß der deutschen Grundrechts- bzw. Verfassungsrechtsdogmatik auf die Gemeinschaft Schwarze, Neue Justiz Nr. 2/1994, S. 53 (59) unter Würdigung der diesbezüglichen Verdienste von Hesse. 507 508

200

3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

diesbezügliche Eigenheiten einzelner Mitgliedstaaten "Rücksicht" genommen. 517 Gerade ein solches Verhalten in diesem sensiblen Bereich steigert die Akzeptanz seiner Entscheidungen erheblich. 518 Auch im Hinblick auf die Wahrung der "f'Oderalen Interessen" der betroffenen Mitgliedstaaten hat die Gemeinschaft durch die Schaffung des Ausschuß der Regionen (Art. 198a ff. EGV) einen ersten Schritt unternommen. 519 Auf das durch den EUV in Art. 3b Abs. 2 und 3 EGV verankerte "Subsidiaritätsprinzip"520 kann hier nicht direkt verwiesen werden, da dieses unmittelbar "lediglich" das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten betrifft. 521

3. Die Notwendigkeit der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts Letztendlich wäre die Existenz der Gemeinschaft in Frage gestellt, wenn jeder Mitgliedstaat bzw. sein Verfassungsgericht seine eigenen Maßstäbe an das Gemeinschaftsrecht anlegt und danach über dessen Geltung in seinem Hoheits517 Siehe nur EuGH, Urteil vom 21. September 1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst AGlKommission), Slg. 1989, S. 2859 (Rn. 19). Vgl. dazu Everling, in: Mehr Marktrecht - weniger Einzelgesetze, S. 41 (50), Streinz, Europarecht, Rn. 362. Siehe ferner EuGH, Urteil vom 18. Mai 1982, Rs. 155/79 (AM & S Europe LimitedlKommission), Slg. 1982, S. 1575 (Rn. 18 ff). Vgl. dazu Scheuing, in: Innovation lUld Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (343 f); Schwarze, in: FS für Deringer, S. 160 (169 f); Streinz, Europarecht, Rn. 362. Siehe ferner schon die Ausfiihnmgen zum "relativierten Maximalstandard" oben lUlter rn. 518 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 4 EGV Rn. 60. 519 Vgl. Pernice, DVBI. 1993, S. 909 (916) m.w.N. Vgl. zur RechtsstelllUlg des Ausschusses der Regionen Kaufmann-Bühler, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 198a Rn. 2 f bzw. Art. 198c Rn. 1 ff. Vgl. auch element, Staatswissenschaften lUld Staatspraxis 1993, S. 159 ff.; SchelterlWuermeling, S. 100 ff. 520 Die Literatur zum "Subsidiaritätsprinzip" ist lUlüberschaubar. Stellvertretend für alle seien hier nur die nachfolgenden Titel erwähnt: Lecheier, Das Subsidiaritätsprinzip. Strukturprinzip einer europäischen Union, S. 1 ff; Stewing, Subsidiarität lUld Föderalismus in der Europäischen Union, S. 1 ff.; Kahl, AöR 118 (1993), S. 414 ff.; von BogdandylNettesheim, in: Grabitz/ Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 3b EGV Rn. 1 ff.; Häberle, in: Europäische Rechtskultur, S. 75 (91 ff.); Merlen (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, S. 1 ff.; Pieper, Subsidiarität, S. 1 ff.; Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union - Bedeutung lUld WirklUlg für ausgewählte Politikbereiche, S. 1 ff.; Schima, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 1 ff. jeweils m.w.N. 521 Vgl. zur Einschätzung des "Subsidiaritätsprinzips" im Hinblick auf die RechtsstelllUlg der KommlUlen auch lbies, S. 48 f

C. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs

201

gebiet entscheidet. Deshalb können die in mitgliedstaatlichen Verfassungen enthaltenen Prinzipien nur in einer den Eigenheiten der Gemeinschaft angepaßten Form in die Verfassung der Gemeinschaft Eingang finden. 522 Gerade in einem Staat wie der Bundesrepublik Deutschland, in dem "fast jede politische Frage verfassungsrechtlich determiniert ist"523, hätte die Rücksichtnahme auf verfassungsrechtliche Belange vernichtende Folgen für die einheitliche Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts. 524 Für die eigenen Maßstäbe, welche die Gemeinschaft anzulegen hat, spricht aber noch ein weiterer Aspekt, der in der Regel in der einschlägigen Diskussion nicht immer genügend berücksichtigt wird. 525 Die Verletzung des "Gebots der einheitlichen Gemeinschaftsrechtsvollziehung"526 durch einen Mitgliedstaat - gleichgültig in welcher Weise - führt grundsätzlich zur Diskriminierung derjenigen Staatsangehörigen, die der Hoheitsgewalt eines anderen, sich vertragskonform verhaltenden Mitgliedstaates unterworfen sind. 527 Daneben ist mit Nettesheim auch auf das Argument der Zweckrationalität hinzuweisen. Danach befinden die in den Organen der Gemeinschaft vertretenen Mitgliedstaaten im politischen Diskurs über die richtige Entscheidung hinsichtlich eines auf der Ebene der Gemeinschaft zu lösenden Problems. Die einmal in Form des Gemeinschaftsrechts gefällte Entscheidung hat dann aber "ohne Abschwächung und Filterung" in den Mitgliedstaaten zur Anwendung zu gelangen, "um Kosten und Nutzen der Integration im Sinne des ausgehandelten politischen Kompromisses zu verteilen und einen "Betrug" einzelner Mitgliedstaaten ("free-raider"-Problematik) zu verhindern. ,,528 Anhand der genannten Argumente dürfte deutlich geworden sein, daß die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht nur bei einer Verletzung elementarster Verfassungsprinzipien nicht zu befolgen haben. Jede Beeinträchtigung seiner einheitlichen Wirksamkeit durch einen Mitgliedstaat führt nämlich zu einer

522 So auch Everling, in: Die Entwickhmg der EG, S. 12 (16 f). Siehe dazu bereits oben lUlter IIl. 523 Von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 82. 524 Vgl. auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 82. 525 Vgl. auch Nettesheim, in: GS für Grabitz, S. 447 (450 f). 526 Vgl. dazu im einzelnen Klösters, S. 115 ff. m.w.N. 527 Klösters, S. 116. Vgl. zum Verhältnis von Gerechtigkeit lUld Gleichheit auch Nettesheim, in: GS für Grabitz, S. 447 (448 f) m.w.N. 528 Vgl. Nettesheim, in: GS für Grabitz, S. 447 (451) m.w.N.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Benachteiligung von Marktteilnehmern in den anderen Mitgliedstaaten. 529 Eine solche Situation aber verringert die Glaubwürdigkeit des gemeinschaftlichen Anspruchs auf Beachtung ihrer Rechtsordnung und verhindert auf Dauer die Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben. 530

4. Ergebnis Aufgrund der Struktur der Gemeinschaft, wonach die Mitgliedstaaten weiterhin "Herren der Verträge"531 sind, obliegt diesen letztendlich auch die Verantwortung für die Einhaltung ihrer verfassungsrechtlichen Prinzipien. 532 Dafür läßt sich anführen, daß die Gemeinschaft "nur" deshalb der Gefahr eines "demokratischen Defizits" ausgesetzt ist, weil die Mitgliedstaaten aufgrund der Dynamik des gemeinschaftlichen Integrationsprozesses im Laufe der Zeit kaum noch innerstaatlich den aus den jeweiligen verfassungsrechtlichen Demokratiegeboten resultierenden Anforderungen gerecht werden können. 533 Ähnliches läßt sich auf für die Gewährleistung der jeweils verfassungsrechtlich gebotenen Menschenrechtsstandards anführen. Auf diesen Gebieten mußten die Mitgliedstaaten bzw. die Gemeinschaft reagieren und entsprechende gemeinschaftsrechtliche Vorkehrungen treffen. Die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft setzt nämlich eine fortdauernde Integrationsbereitschaft ihrer Mitgliedstaaten voraus. 534 Diese beruht auf der gegenseitigen Loyalität von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten, welche anders als durch die entsprechenden Maßnahmen nicht mehr hätte gewährleistet werden können. An dieser Stelle ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß die Gemeinschaft unbeschadet des Aspektes der "Akzeptanz" zur Beachtung von mitgliedstaatlichen Verfassungsstrukturen nur aufgrund einer entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung angehalten werden kann. 535 529 Vgl. auch die gnmdlegenden Ausfiihnmgen zum Zusammenhang von Diskriminierungsverboten und Gleichbehandlungsgeboten im Gemeinschaftsrecht Zuleeg, in: FS fiir Börner, S. 473 ff. 530 Vgl. auch Classen, Europäisierung, S. 187: "Letztlich aber stößt das geforderte Rücksichtnahmegebot unweigerlich an strukturelle Grenzen. " 531 Vgl. dazu nur Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (955) m.w.N. 532 Vgl. Klein, in: Rechtsvereinheitlichung durch Gesetz, S. 117 (121) m.w.N.: Die Gemeinschaft "ist ein Verband souveräner Staaten, die die Letztverantwortung fiir ihre Bürger nicht aufgegeben haben. " 533 Siehe dazu im einzelnen bereits oben unter B. ill. 2.b) bb) bzw. 6. 534 Vgl. R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 5 Rn. 5. 535 Vgl. auch Epiney, EuR 1994, S. 309 (315).

c. Die rechtlichen Grenzen des Vollzugs

203

Die Gemeinschaft ist zur effektiven Durchsetzung ihrer Rechtsordnung verpflichtet und hat schon deshalb ein Eigeninteresse daran, daß sie keine Forderungen stellt, welche die elementarsten Interessen eines Mitgliedstaates verletzen. 536 Jedoch ist diese Eingriffsschwelle bereits im Interesse der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sehr hoch anzusetzen. Dies dient nicht zuletzt der Vermeidung von Diskriminierungen von privaten Marktteilnehmem, die in Mitgliedstaaten, welche ihren gemeinschaftsrechtlichen Vollzugspflichten nachkommen, leben. Allerdings hat die Gemeinschaft, wie aufgezeigt wurde, der vollständigen Geltung ihrer Rechtsordnung selbst in Form von "Schutznormen" gegenüber den Mitgliedstaaten und in Form von "Verfahrensgarantien" und Menschenrechten" gegenüber den privaten Marktteilnehmem "Schranken" gesetzt. Insbesondere was den Menschenrechtsschutz angeht, braucht die Gemeinschaft den Vergleich mit dem Niveau, das in mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen anzutreffen ist, nicht mehr zu scheuen. 537 Keinesfalls von gleicher Bedeutung für den Zusammenhalt der Gemeinschaft ist aber die Wahrung von "föderalen Interessen" mancher Mitgliedstaaten. Was die aufgrund von gemeinschaftlichen Kompetenzen und Aktivitäten bestehende Möglichkeit an Rückwirkungen auf die föderale Struktur eines Mitgliedstaates betrifft, die ja ohnehin nur eine eng begrenzte Zahl betrifft, ist darauf hinzuweisen, daß die betroffenen Mitgliedstaaten dies in Kauf genommen haben, als sie der Gemeinschaft beitraten und die entsprechenden Verträge ratifizierten. 538 Es bleibt den betroffenen Mitgliedstaaten zur Bewahrung ihrer "föderalen Interessen" aber unbenommen, im Rahmen des politischen Handlungsspektrums entsprechende Rücksichtnahmen im gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahren zu erreichen bzw. durch Veränderungen oder Erweiterungen des EGV herbeizuführen. Ein erster kleiner Erfolg stellt insoweit die Einrichtung des Ausschusses der Regionen (Art. 198a ff. EGV) dar. Durch den Beitritt Österreichs dürfte die Position der betroffenen Staaten im übrigen weiter gestärkt worden sein. Eine Definition eines "idealen" Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten setzt somit an der bestmöglichen Erreichung der Gemeinschaftsziele unter Berücksichtigung des von der Gemeinschaft entwickelten 536 Vgl. auch Epiney, EuR 1994, S. 301 (317 bzw. 319); von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 82. 537 So auch Schwarze, in: FS fur Deringer, S. 160 (171) m.w.N. Vgl. im übrigen dazu die Anmerkung von Rengeling, Gnmdrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 4. 538 Dies muß auch Epiney, EuR 1994, S. 301 (303), eingestehen.

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3. Teil: "Defizite" beim mitgliedstaatlichen Vollzug

Menschenrechtsstandards539 an. Da die Gemeinschaft aber auf die Akzeptanz ihres Rechtes durch die Mitgliedstaaten angewiesen ist, muß diesen die Möglichkeit verbleiben, auf politischem Wege darüber hinausgehende eigene Interessen auf der Ebene der Gemeinschaft bei der Bildung des zu vollziehenden Gemeinschaftsrechts einbringen zu können. Aufgrund der dominierenden Stellung der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung der Gemeinschaft und innerhalb des Rates im Rahmen des gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahren ist diese Möglichkeit sehr wohl vorhanden.

v. Ausblick Eine Pflicht der Gemeinschaft zur Rücksichtnahme auf die verfassungsrechtlichen Belange der einzelnen Mitgliedstaaten besteht grundsätzlich nicht. Dennoch hat die Gemeinschaft ein Eigeninteresse an der Lösung möglicher auftretender Konflikte. 54o Mit Schwarze kann insoweit festgehalten werden, daß besonders die in der Geschichte der Gemeinschaft immer wiederkehrenden Krisen 541 gezeigt haben, daß die Gemeinschaft "im Spannungsfeld von Recht und Politik ein nach wie vor sehr sensibles Gebilde darstellt, dessen Verfassungszustände zwischen Dynamik und Stagnation schwanken. "542 Durch die richterrechtliche Schaffung und Gewährleistung von Menschenrechten zum Schutz der Individuen ist eine maßgebliche rechtliche Grundlage geschaffen, von der aus die Integration weiterbetrieben werden kann. Hierzu bedarf es aber weniger der Verweise der Mitgliedstaaten auf notwendig zu beachtende Belange ihrer Verfassungen als vielmehr des politischen Willens, die anstehenden Probleme gemeinschaftlich lösen zu wollen. Auch der sehr populären Forderung, nach der den Mitgliedstaaten und ihren Rechtsordnungen durch die Gemeinschaft Spielräume zu Wahrung ihrer besonderen Traditionen, Werte und Interessen zu belassen seien543, kann nur entgegengehalten werden, daß es die Mitgliedstaaten selbst sind, die im Rat wesentlich zur Rechtsetzung beitragen und of539 Vgl. hier auch zum Aspekt der "rechtsstaatlich geblUldenen Effektivität" Scheuing, in: Innovation lUld Flexibilität des VerwaltlUlgshandelns, S. 289 (326); SchmidtAßmann, DVBI. 1993, S. 924 (931). 540 So ist auch die Aussage des Generaldirektors (in der Kommission) Dewost zu verstehen, wonach die Gemeinschaftsorgane nachdrückliche Hinweise der Mitgliedstaaten auf entgegenstehendes VetfasslUlgsrecht stets ernst nehmen lUld um eine LÖSlUlg bemüht sind, die das VetfasslUlgsrecht des Mitgliedstaates achtet. Siehe das Zitat, in: BVerlGE 89, S. 155 (202). 541 Siehe dazu nur andeutungsweise die Ausfiihnmgen oben im 1. Teil lUlter A. I. 542 Schwarze, in: Vom Binnenmarkt zur Europäischen Union, S. 9 (23). 543 Vgl. nur Everling, in: Mehr Marktrecht - weniger Einzelgesetze, S. 41 (50).

D. ZusammenfassWlg

205

fensichtlich eben aus Sachzwängen selbst solchen Wünschen scheinbar nicht nachgeben. Gerade anhand dieses vermeintlichen Gegensatzes von Wunsch und Realität wird einmal mehr deutlich, daß sich viele mitgliedstaatliche "Traditionen, Werte und Interessen" tatsächlich nur durch entsprechende Aktivitäten der Gemeinschaft bewahren lassen.

D. Zusammenfassung Der 3. Teil sollte vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH zu den zahlreichen Verletzungen der Mitgliedstaaten gegen ihre Vollzugspflichten verdeutlichen, wo "Defizite" für einen einheitlichen und effektiven mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht liegen und welch unterschiedlicher Natur sie sind. 544 Der Schwerpunkt des nachfolgenden 4. Teils wird insbesondere an den "verfahrensrechtlichen" "Defiziten" ansetzen, wobei sich jedoch auch Rückschlüsse auf die Möglichkeit zur Reduzierung der anderen beiden "Defizite" ergeben werden. Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht unterliegt ferner rechtlichen Grenzen, die eine gemeinschaftliche Ausgestaltung erfahren haben. Diese dienen sowohl dem Schutz der Souveränität der Mitgliedstaaten ("Schutznormen") als auch dem der privaten Marktteilnehmer ("Menschenrechte" und "rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze").

544

Siehe nur oben Wlter A 11.

Vierter Teil

Lösungsansätze A. "Zentrale" und "dezentrale" Ansätze zur Steigerung der EffIZienz des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht - Ein Überblick Nach der Behandlung unterschiedlicher Arten von "Defiziten" des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht und seinen rechtlichen Grenzen im 3. Teil soll nun eine systematische Darstellung denkbarer Lösungsansätze folgen. Letztere zielen darauf ab, einen möglichst einheitlichen und effektiven Vollzug von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Es handelt sich dabei grundsätzlich um solche Ansätze, die entweder bereits in die Gründungsverträge eingegangen waren, oder um solche, die von der Kommission im Zusammenspiel mit dem Rat initiiert bzw. vom EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung entwickelt worden sind. Schon aus Platzgründen kann hier aber keine vollständige Darstellung erfolgen. Da es sich bei der Gemeinschaft um eine "Rechtsgemeinschaft" 1 handelt, können die einzelnen Ziele, die im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses angestrebt werden - welche das im Laufe der Zeit auch immer sein mögen -, "nur" mit den Mitteln des Rechts erreicht werden? Für die nun zu behandelnden Lösungsansätze kann daher im Prinzip nichts anderes gelten. Aber auch der Umstand, daß der Vollzug von Gemeinschaftsrecht in erster Linie den mitgliedstaatlichen "Rechtsanwendungsorganen" obliege, ist bei den hier angestellten Überlegungen zu beachten. Bei den aufzuzeigenden Lösungsansätzen wird zwischen "zentralen" und "dezentralen" unterschieden. Dabei sind "zentrale" Ansätze dadurch gekennzeichnet, daß die Gemeinschaft in bestimmter Weise mit den Mitgliedstaaten 1 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 31 1[; Ehlermann, in: FS für Carstens, S. 81 (81); Schoch, JZ 1995, S. 109 (119) m.w.N. Siehe auch schon oben im l. TeillDlter B. I. 2 Vgl. dazu nur Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 31 1[; Klein, Der Staat 1994, S. 39 (39). Siehe aber auch schon oben im l. TeillDlter B. I. 3 Vgl. Klein, Der Staat 1994, S. 39 (40). Siehe zum "administrativen" Vollzug auch schon oben im 2. TeillDlter C. I. 2.

B. "Zentrale" Ansätze

207

zusammenwirkt oder selbst in bestimmter Weise maßgeblich agiert, um einen einheitlichen und effizienten Vollzug von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten zu erreichen. Das Spektrum reicht hier von der Kooperation der Kommission mit den Mitgliedstaaten bis hin zum Ausbau des "gemeinschaftsunmittelbaren Vollzugs von Gemeinschaftsrecht"4 (unter B.). Im 3. Teil waren insbesondere die Schwächen der "zentralen" Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Kommission - eventuell im Zusammenspiel mit dem EuGH - aufgezeigt worden. 5 Im Rahmen der Darstellung der "dezentralen" Ansätze wird in erster Linie die Funktionsweise der sogenannten "dezentralen" Kontrolle behandelt werden (unter C.). Während die "zentrale" Kontrolle 6 nahezu ausschließlich von der Kommission als einem Gemeinschaftsorgan ausgeübt wird, sollen nach der Konzeption der "dezentralen" Kontrolle die privaten Marktteilnehmer in zunehmendem Maße Kontrollaufgaben wahrnehmen 7, um so eine Disziplinierung der mitgliedstaatIichen Vollzugsorgane "von unten" zu erreichen. Möglicherweise kann auf diese Weise die Kommission als Kontrollinstanz entlastet und zugleich ein einheitlicher und effizienter mitgliedstaatIicher Vollzug von Gemeinschaftsrecht sichergestellt werden.

B. "Zentrale" Ansätze I. Vorbemerkung Bei "zentralen" Ansätzen handelt es sich um gemeinschaftliche Maßnahmen, die mehr oder weniger unmittelbar auf die Erreichung eines effizienteren Vollzugs von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten abzielen. Die nachfolgenden Ausführungen erfahren ihre Gliederung dabei nach dem Aspekt der Intensität der organisatorischen Regelung, mit der die Gemeinschaft ihr Ziel verfolgt. Die Intensität der gewählten Regelung reicht von einer nur geringen Ausprägung bei der Zusammenarbeit der mitgliedstaatIichen Verwaltungen mit der Kommission (unter 11.) über eine gesteigerte Intensität bei der Ergreifung von gegen einen Mitgliedstaat gerichtete unmittelbaren Maßnahmen (unter III.), die gegebenenfalls einen Sanktionscharakter aufweisen (unter IV.), bis Siehe dazu oben im 2. Teil Wlter C. I. 3. Siehe dazu oben im 3. Teil Wlter B. 11. 3. b). 6 Siehe dazu oben im 3. Teil Wlter B. 11. 3. 7 Vgl. zur Konzeption der "dezentralen" Kontrolle des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch Private insbesondere Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 ff 4

5

208

4. Teil: Lös\Dlgsansätze

hin zur völligen Verdichtung der organisatorischen Regelung beim "gemeinschaftsunmittelbaren" Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Gemeinschaft selbst (unter VI.)

11. Die Zusammenarbeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungen und der Kommission bei der Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts für den Binnenmarkt ("Sutherland-Bericht") 1. Einleitung

Die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten und der Kommission existiert seit Gründung der Gemeinschaft. Nicht zuletzt aufgrund der unübersehbaren Fülle an Mitteilungspflichten, welche die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten sowohl primär- als auch sekundärrechtlich auferlegt, besteht ein ständiger Informationsaustausch zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen - grundsätzlich auf dem Weg über die Regierungen - auf der einen Seite und der Kommission auf der anderen. g Die Mitteilungspflichten der Mitgliedstaaten dienen dabei aber nicht zuletzt auch der Kommission zur Erfüllung ihrer Aufgaben gemäß Art. 155 UAbs. 1 EGV, wonach sie auf diese Art und Weise den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht "zentral" kontrolliert. 9 Auch zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten bestehen Kooperationsbzw. Amtshilfepflichten. 1o Deren konkreter Inhalt läßt sich zunächst anband der implizit im Gemeinschaftsrecht enthaltenen Kooperationspflichten (Art. 5 8 Vgl. die Beispiele bei Fischer, Europarecht, S. 128. Vgl. auch die Beispiele bei Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 54 ff. 9 Vgl. Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 56 f., im Hinblick auf die UmsetZ\Dlg von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten. 10 Siehe dazu auch Meier, EuR 1989, S. 237 ff. ("horizontale Amtshilfe"); von Bogdandy, in: Grabitz/HilJ, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 51; Zuleeg, WDStRL Bd. 53 (1994), S. 154 (179 f.)jeweils m.w.N. Die gemeinschaftsrechtlich begründeten Kooperationspflichten dürlen jedoch nicht mit solchen verwechselt werden, die auf einem völkerrechtlichen Vertrag beruhen, der zwar von Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Gemeinschaft, aber ohne rechtlichen Bezug zu ihr abgeschlossen wurde. Um einen solchen Vertrag handelt es sich beispielsweise beim sog. Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985 (inklusive des dazugehörigen Durchfiihnmgsübereinkommens vom 19. Juni 1990), welches eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit der mitgliedstaatlichen Behörden auf dem Gebiet der inneren Sicherheit vorsieht. Vgl. dazu hier nur Fischer, Europarecht, S. 129 m.w.N. Siehe aber auch schon oben im 2. Teil \Dlter B. ll. 3.

B. "Zentrale" Ansätze

209

EGV) präzisieren. 11 So ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, einem anderen Mitgliedstaat die Erfüllung seiner gemeinschaftsrechtlichen Pflichten zu ermöglichen. 12 Ihr Inhalt ergibt sich aber auch aus speziellen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen. 13 Ein Schwerpunkt gemeinschaftsrechtlicher Regelungen findet sich hier zum Beispiel bei der direkten und mittlerweile auch bei der indirekten Besteuerung, nachdem die einschlägigen Grenzkontrollen im Binnenmarkt weggefallen sind. 14 Die nachfolgenden Ausführungen sollen abstrakt aufzeigen, wie sich eine verstärkte Kooperation zwischen der Kommission und mitgliedstaatlichen Behörden auf der einen Seite und mitgliedstaatlichen Behörden aus unterschiedlichen Staaten untereinander auf der anderen Seite auf die Effektuierung des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht auswirkt. Dieser Ab11 Siehe dazu die Nachweise auf die RechtsprechlDlg des EuGH zur BegriindlDlg von MitteillDlgspflichten eines Mitgliedstaates gegenüber anderen Mitgliedstaaten aus Art. 5 EGV bei von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 51. Vgl. auch Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (331 f.). 12 Siehe EuGH, Urteil vom 27. September 1988, Rs. 235/87 (MateuccilCommunaute francaise de Belgique u.a.), Slg. 1988, S. 5589 (Rn. 19). Vgl. dazu auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 5 EGV Rn. 51. 13 Vgl. dazu auch Meier, EuR 1989, S. 237 (238 ff.); Fischer, Europarecht, S. 111 bzw. S. 128 f. Vgl. ferner Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des VelWaltungshandelns, S. 289 (331 ff.) m.w.N. Siehe auch KOM (93) 256 endg., S. 23. 14 Siehe nur die "Richtlinie des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (77/799/EWG)", ABI. 1977, L 336, S. 15 ff. Vgl. dazu Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 178 ff. m.w.N. Siehe aber auch die weiteren Nachweise bei Fischer, Europarecht, S. 129. Die Bestimmungen der Richtlinie 77/799/EWG wurde im übrigen auf die Verbrauchsteuern ausgedehnt; siehe dazu die "Richtlinie des Rates 92/12/EWG vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren", ABI. 1992, L 76, S. 1 ff.; geändert durch die "Richtlinie 94/74/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 zur Änderung der Richtlinie 92/12/EWG über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren, der Richtlinie 92/81/EWG zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Mineralöle und der Richtlinie 92/82/EWG zur Annäherung der Verbrauchsteuersätze für Mineralöl", ABI. 1994, L 365, S. 46 ff. Vgl. zur Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die indirekte Besteuerung Kerwat, DStZ 1993, S. 517 ff. Nachweise über weitere Bereiche sekundärrechtlicher Zusammenarbeitspflichten finden sich bei Scheuing, in: Innovation und Flexibilität des VelWaltungshandelns, S. 289 (332 ff.) m.w.N. Hier sei nur auch auf die Regelung der europäischen Amtshilfe im Bereich des Lebensmittelrechts verwiesen. Siehe dazu die "Richtlinie 93/99/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 über zusätzliche Maßnahmen im Bereich der amtlichen Lebensmittelüberwachung" , ABI. 1993, L 290, S. 14 ff. Siehe dazu aber ausfiihrlich unten unter V. 2. b).

14 Püh.

210

4. Teil: Lös\Dlgsansätze

schnitt steht darüber hinaus in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Herstellung und Verwaltung des Binnenmarktes15 . So strebt die Kommission an, den Grundsatz der gegenseitigen Unterstützung nach und nach auf alle Aspekte des Binnenmarktes auszudehnen. 16

2. Die Zusammenarbeit der Verwaltungen bei der Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts für den Binnenmarkt a) Der "Sutherland-Bericht"

Im März 1992 hatte die Kommission eine hochrangige Beratergruppe unter der Leitung des ehemaligen Mitgliedes der Kommission, Peter Sutherland, beauftragt, eine Strategie auszuarbeiten, mit der sichergestellt werden kann, daß die mit dem Konzept des Binnenmarktes entstehenden Vorteile nach 1992 in der Praxis realisiert werden können. Das Ergebnis der Arbeiten dieser Beratergruppe ist im "Sutherland-Bericht"17 enthalten. Dieser empfiehlt in seinem Abschnitt IV die Durchsetzung der Regeln des Binnenmarktes im Wege der Partnerschaft von Mitgliedstaaten bzw. ihren Behörden und der Kommission. 18 Hierzu soll nach dem "Sutherland-Bericht" "ein ständiger Rahmen in Form von KontaktsteIlen für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit der Verwaltungen zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission für Fragen der Anwendung der Binnenmarktvorschriften geschaffen werden. "19 Die Ergebnisse und Folgerungen des "Sutherland-Berichts" stießen bei den Gemeinschaftsorganen insbesondere im Hinblick auf die genannten Aspekte durchweg auf überaus p0sitive Resonanz. 2o Siehe dazu nur oben im 2. Teil \Dlter B. n. Siehe dazu nur die "Mitteil\Dlg der Kommission an den Rat \Dld das Europäische Parlament. Über die Entwickl\Dlg der Zusammenarbeit der Verwalt\Dlgen bei der Anwendung \Dld Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts fiir den Binnenmarkt", KOM (94) 29 endg. vom 16. Februar 1994, S. 3 Rn. 12. 11 "Der Binnenmarkt nach 1992. Die Herausfordef\Dlg aufuehmen. Bericht der hochrangigen 'Beratergruppe Binnenmarkt' an die Kommission der Europäischen Gemeinschaft". Siehe auch schon oben im 2. Teil \Dlter B. n. 2. b) ce). 18 Siehe auch die 31. Empfehl\Dlg des "Sutherland-Berichts", S. 68: "Für die Durchsetzung des Binnenmarktrechts ist ein Ansatz erforderlich, der auf Zusammenarbeit abstellt. (00')'" 19 So ein Ausschnitt aus der 32. Empfehl\Dlg des "Sutherland-Berichts", S. 75. 20 Siehe nur die Reaktion des Europäischen Parlamentes \Dlter P\Dlkt 14 in seiner "Entschließ\Dlg zum Siebten Bericht der Kommission an den Rat \Dld das Europäische Parlament über die Durchfiihnmg des Weißbuchs zur Vollend\Dlg des Binnenmarktes (A3-0417/92)", ABI. 1993, C 21, S. 508 (510). 15

16

B. "Zentrale" Ansätze

211

b) Unmittelbare Folgemaßnahmen zum "Sutherland-Bericht" Bereits kurz nach Erscheinen des "Sutherland-Berichts" am 26. Oktober 1992 erschien eine Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament mit dem Titel "Der Binnenmarkt der Gemeinschaft nach 1992. Folgernaßnahmen zum Sutherland-Bericht"21. Mit Hilfe dieser Schrift beabsichtigte die Kommission, die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten zu einer Diskussion darüber zu bewegen, wie die Gemeinschaft in Zukunft einen Raum ohne Binnengrenzen verwalten könne. Auch sollten die Empfehlungen des "Sutherland-Berichts" vorgestellt werden?2 In einer weiteren Mitteilung vom 16. Dezember 199323 wurde dann von der Kommission einer dieser Empfehlungen Rechnung getragen. Es handelte sich dabei um die 33. Empfehlung, in der die Behandlung dringender Fälle im Rahmen der Anwendung des Gemeinschaftsrechts angesprochen wurde. Danach wurde die Kommission aufgefordert, möglichst bald einen Vorschlag zu machen, wie die Befugnisse der Gemeinschaft bei der Behandlung dringlicher und ernster Verbraucherprobleme im Zusammenhang mit Produkten ausgeübt werden könnten. Folglich stellte die Kommission in der Mitteilung vom 16. Dezember 1993 teilweise schon bestehende Warnsysteme und weitere sonstige Gemeinschaftseinrichtungen zur Behandlung solch dringender Fälle zusammen, in denen beispielsweise Konsumprodukte eine ernste und unmittelbare Gefahrdung für die Gesundheit oder Sicherheit der Verbraucher darstellen. Aber auch Arzneimittel und medizinische Geräte wurden in der Mitteilung erfaßt. Diese Regelungen setzen gezielt auf einen raschen Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden aller Mitgliedstaaten und der Kommission. 24 Auf diese Weise soll bei den Mitgliedstaaten das Vertrauen geschaffen 21 22

SEK (92) 2277 endg. vom 2. Dezember 1992. Siehe dazu auch die Einleitlmg der "Mitteihmg der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament \Uld den Wirtschafts- \Uld Sozialausschuß zur Behandl\Ulg dringender Fälle im Rahmen der Anwend\Ulg des Gemeinschaftsrechts. Folgernaßnahmen zum Sutherland-Bericht", KOM (93) 430 endg. vom 16. Dezember 1993, S. 3. 23 "Mitteil\Ulg der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- \Uld Sozialausschuß zur Behandl\Ulg dringender Fälle im Rahmen der Anwend\Ulg des Gemeinschaftsrechts. Folgernaßnahmen zum Sutherland-Bericht", KOM (93) 430 endg. vom 16. Dezember 1993. 24 Siehe nur die "Richtlinie des Rates vom 21. November 1989 betreffend die gegenseitige Unterstützung der Verwalt\Ulgsbehörden der Mitgliedstaaten \Uld die Zusammenarbeit dieser Behörden mit der Kommission, um die ordn\Ulgsgemäße Anwend\Ulg der tierärztlichen \Uld tierzuchtrechtlichen Vorschriften zu gewährleisten (89/608/ EWG)", ABI. 1989, L 351, S. 34 ff. Vgl. Priebe, ZLR 1990, S. 266 (271 f) m.w.N.

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4. Teil: LöslDlgsansätze

werden, das für die Liberalisierung des mit Hilfe des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung25 weitgehend realisierten freien innergemeinschaftlichen Warenverkehrs notwendig ist. In jedem Fall erfordert die Effektivität der Warnsysteme eine gesteigerte administrative Zusammenarbeit zwischen den mitgliedstaatlichen Behörden und der Kommission.

c) Das "Strategische Programm" der Kommission zur optimalen Gestaltung des Binnenmarktes

Kurz nach der Mitteilung vom 16. Dezember 1993 folgte die Mitteilung der Kommission an den Rat über das "Strategische Programm" für "Die optimale Gestaltung des Binnenmarkts"26. Diesem Papier waren zahlreiche Debatten und Vorarbeiten in den Gemeinschaftsorganen, aber auch in den Mitgliedstaaten vorangegangen?7 Es enthält einen Gesamtplan für die Maßnahmen, die nach Ansicht der Kommission für die Verwirklichung, die Verwaltung und die künftige Entwicklung des Binnenmarktes erforderlich sind; in fünf Hauptabschnitten werden daher die Vollendung des rechtlichen Rahmens (Abschnitt A.), das allgemeine Binnenmarkt-Management (Abschnitt B.), Fragen der weiteren Ausgestaltung des Binnenmarktes (Abschnitt C.), die externe Dimension des Binnenmarktes (Abschnitt D.) sowie die Überprüfung und die Anpassung des "Strategischen Programms" (Abschnitt E.) behandelt. Im Abschnitt B. führt die Kommission aus, daß ihrer Ansicht nach das "wichtigste Instrument zur Gewährleistung einer wirksamen und einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in der gesamten Gemeinschaft eine angemessene und gut funktionierende Zusammenarbeit der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten untereinander und mit der Kommission" sei. 28 Sie stellt dazu Überlegungen zur Entwicklung eines entsprechenden Unterstützungsprogramms bzw. Maßnahmenkatalogs an. 29

25

Siehe dazu oben im 2. TeillDlter B. 11. 2. c). Es handelt sich dabei um die "MitteillDlg der Kommission an den Rat 'Die Optimale Gestaltung des Binnenmarkts': Strategisches Programm", KOM (93) 632 endg. vom 22. Dezember 1993. 27 Siehe nur das Vorwort zu KOM (93) 632 endg. bzw. Europäische Kommission, Der Binnenmarkt 1993. Zusammenfassung, S. 10. Gnmdlage der Debatten war insbesondere das Arbeitsdolrument der Kommission KOM (93) 256 endg. 28 KOM (93) 632 endg., S. 12. 29 Siehe dazu im einzelnen KOM (93) 632 endg., S. 13 ff. 26

B. "Zentrale" Ansätze

213

d) Die Mitteilung der Kommission über die Entwicklung der Zusammenarbeit der Verwaltungen vom 16. Februar 1994 aa) Zur Einordnung der Mitteilung Mit der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament "Über die Entwicklung der Zusammenarbeit der Verwaltungen bei der Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts für den Binnenmarkt"30 vom 16. Februar 1994, welche im Rahmen des "Strategischen Programms" für den Binnenmarkt erstellt wurde 31 , griff die Kommission weitere Vorschläge des "Sutherland-Berichts" auf und setzte den neuen Weg "für ein effizientes Funktionieren des Binnenmarktes einschließlich eines befriedigendes Grades der Zusammenarbeit der Verwaltungen" fort. 32 Die bereits im "Strategischen Programm" angekündigte Mitteilung vom 16. Februar 1994 ergänzt die vom 16. Dezember 1993 33 . Sie stellt den zweiten Teil der Vorstellungen der Kommission über die Art und Weise der administrativen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und zwischen diesen und der Kommission dar. Ziel der Mitteilung ist es, den damaligen Stand der administrativen Zusammenarbeit der Gemeinschaft im Binnenmarktbereich darzustellen und darüber hinaus Schritte zur Sicherung der Effizienz und der weiteren Entwicklung dieser Zusammenarbeit zu empfehlen. 34 Nach Auffassung der Kommission ergibt sich die "Pflicht zur Zusammenarbeit" aus den Art. 5 und 30 EGV. Darüber hinaus ist sie Gegenstand zahlreicher Entscheidungen des EuGH. Der Bedarf an administrativer Zusammenarbeit sei ferner aufgrund des Fortfaliens der Grenzkontrollen noch gewachsen. 35

bb) Das Konzept der Kommission über die "administrative Zusammenarbeit" (1) Die nach Ansicht der Kommission maßgeblichen

Grundsätze der "administrativen Zusammenarbeit"

In ihrer Mitteilung hat die Kommission für die Entwicklung der "administrativen Zusammenarbeit" zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten unter30

31 32 33 34

35

KOM (94) 29 endg. Siehe KOM (93) 632 endg. Siehe auch KOM (94) 29 endg., S. 1 Rn. 2 m.w.N. Siehe oben Wlter b). KOM (94) 29 endg., S. 1 Rn. 1. Siehe Anhang I zu KOM (94) 29 endg., S. ü bzw. S. vi Rn. 7 bzw. Rn. 12.

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4. Teil: Lösungsansätze

einander und zwischen diesen und der Kommission im Bereich der Anwendung des gemeinschaftlichen Binnenmarktrechts sinngemäß die folgenden Grundsätze vorgeschlagen: 36 es besteht unter Beachtung von Art. 5 EGV eine grundlegende Pflicht der mit der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts betrauten Verwaltungsbehörden zu gegenseitiger Unterstützung; soweit die Unterstützung in einem Austausch von Informationen besteht, sollen die Grundsätze der Vertraulichkeit und der Verhältnismäßigkeit gelten; jeder Mitgliedstaat hat die geeigneten Maßnahmen zu treffen, um eine möglichst effiziente Verbindung innerhalb der eigenen Dienststellen und derjenigen der anderen Mitgliedstaaten sowie der Kommission herzustellen; jeder Mitgliedstaat sollte die Transparenz dieser Maßnahmen sowie seiner Kontrollmechanismen und -modalitäten gewährleisten, indem er insbesondere diese bis Ende 1994 der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten bezüglich bestimmter in der Mitteilung genannter Tätigkeitsbereiche mitteilt. Darüber hinaus beabsichtigt die Kommission, in enger Zusammenarbeit mit den Verwaltungen der Mitgliedstaaten insbesondere in den Bereichen, in denen das Gemeinschaftsrecht nicht bereits detaillierte Regeln für die Anwendung der oben aufgestellten Grundsätze vorsieht, mittels eines "Programms für Gespräche"37 zu prüfen, welche Kooperationssysteme geschaffen oder verstärkt werden könnten, welche Form die Zusammenarbeit haben sollte und welche Unterstützungsmaßnahmen für die Entwicklung und Stärkung dieser Zusammenarbeit zu erwägen wären.

(2) Zum Konzept und zur Intention der Kommission

Die Kommission betont in ihrer Mitteilung "vor allem die Notwendigkeit und den Anwendungsbereich praktischer Maßnahmen zur Sicherung einer wirksamen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und zwischen diesen und der Kommission bei der Durchführung und Durchsetzung Siehe dazu die "Schlußfolgerungen" in KOM (94) 29 endg., S. 8 Rn. 22. Siehe dazu die erläuternden Ausführungen in KOM (94) 29 endg., S. 6 f Rn. 18 ff SiehejÜllgst auch KOM (95) 238 endg., S. 16. 36 37

B. "Zentrale" Ansätze

215

des Binnenmarktprogramms". 38 Die Zusammenarbeit der Verwaltungen in den verschiedenen Bereichen des Binnenmarktrechts weist zum Teil erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Intensität auf. 39 Auch wenn diese Unterschiede zum Teil die ungleichen Bedürfnisse der einzelnen Sektoren nach gemeinschaftlichen Regelungen widerspiegeln, so sollte nach Ansicht der Kommission die administrative Zusammenarbeit im Bereich des Binnenmarktes aufgrund der intensivierten Normensetzungstätigkeit zu seiner Erreichung einer erneuten kritischen Prüfung unterzogen werden. 40 Die Realisierung der Binnenmarktkonzeption erfordert eine stetig zunehmende Zusammenarbeit der Verwaltungen. 41 Die Gründe für diese Entwicklung werden sehr plastisch, wenn man sich nur vor Augen führt, daß eine Behörde in Entsprechung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung verpflichtet ist, einen von ihr erlassenen sogenannten "transnationalen Verwaltungsakt"42 gemeinschaftsweit allen Drittbetroffenen bekanntzugeben. 43 Der "transnationale Verwaltungsakt" als solcher verlangt aber auch nach verwaltungsrechtlicher Bewältigung jenseits der Grenzen seines Ursprungslandes. 44 Damit sind vielfältige Formen der gegenseitigen Information bzw. Kooperation zwischen den Verwaltungen der verschiedenen Mitgliedstaaten verbunden, die zahlreiche Neuerungen im Hinblick auf organisatorische, aber auch verwaltungsrechtliche Belange in den Mitgliedstaaten erfordern. Da die Anwendung und Durchsetzung in erster Linie eine Aufgabe ist, die stets an Ort und Stelle zu erfüllen ist, geht die Kommission bei ihren Überlegungen davon aus, "daß die Gemeinschaftssysteme der administrativen Zusammenarbeit dazu dienen sollten, die Fähigkeit der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit - nach Möglichkeit auf dezentralisierter Ebene - zu entwikkeln".45 Ausgehend von der grundlegenden Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung stellt die Kommission zur Bewältigung der anfallenden Aufgaben einen Rahmen vor, in dem in den binnenmarktrelevanten Bereichen ein völlig transparentes Netz klar identifizierbarer Korrespondenten besteht und die Grundsätze KOM (94) 29 endg., S. 1 Rn. 3. Siehe jetzt auch KOM (95) 238 endg., S. 16. KOM (94) 29 endg., S. 1 Rn. 4. 40 KOM (94) 29 endg., S. 1 Rn. 4. 41 So auch Groß, JZ 1994, S. 596 (605) m.w.N. 42 Gnmdlegend Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 5 f[ Vgl. auch SchmidtAßmann, DVBl. 1993, S. 924 (935 f). 43 Vgl. dazu im einzelnen auch Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 116 f m.w.N. 44 Vgl. Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, S. 924 (934) m.w.N. 45 KOM (94) 29 endg., S. 2 Rn. 7. 38 39

216

4. Teil: Lösungsansätze

der Verhältnismäßigkeit und der Vertraulichkeit Beachtung finden. 46 Die so beschriebenen Kooperationssysteme sollen schließlich da, wo sie wirklich benötigt werden, so einfach wie möglich arbeiten. 47 Das "Gebot der Transparenz"48 würde bewirken, daß die Mitgliedstaaten und die Kommission genau wissen, welche mitgliedstaatlichen Behörden in der Gemeinschaft für was zuständig sind. 49 Als flankierende Maßnahme dient der zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten vorzunehmende Austausch von Beamten, die mit der zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut sind (Programm "Karolus").50 Das Programm "Karolus", Vgl. KOM (94) 29 endg., S. 3 ff. Rn. 11 ff. KOM (94) 29 endg., S. 1 Rn. 6. 48 Vgl. dazu KOM (94) 29 endg., S. 4 Rn. 14 ff. 49 Siehe dazu auch KOM (94) 29 endg., S. 4 Rn. 14. 50 Siehe dazu die "Entscheidung des Rates vom 22. September 1992 über einen Aktionsplan für den zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten vorzunehmenden Austausch nationaler Beamter, die mit der zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut sind (92/481IEWG)", ABI. 1992, L 286, S. 65 ff.; siehe zur Durchführung dieses Rechtsaktes die "Entscheidung der Kommission vom 22. Dezember 1992 zur Festlegung der Durchführungsbestimmungen zu der Entscheidung 92/4811EWG über einen Aktionsplan für den zwischen den VeIWaltungen der Mitgliedstaaten vorzunehmenden Austausch nationaler Beamter, die mit der zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut sind (programm Karolus) (93/10IEWG), ABI. 1993, L 8, S. 17 ff.; geändert durch die "Entscheidung der Kommission vom 16. Dezember 1994 zur Änderung der Entscheidung 93/101EWG zur Festlegung der Durchführungsbestimmungen zu der Entscheidung 92/4811EWG des Rates über einen Aktionsplan für den zwischen den VeIWaltungen der Mitgliedstaaten vorzunehmenden Austausch nationaler Beamter, die mit der zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut sind (Programm Karolus) (94/818IEG), ABI. 1994, L 337, S. 89 f; siehe ferner die "Entscheidung der Kommission vom 21. Dezember 1993 zur Festlegung der vorrangigen Bereiche für den mit der Entscheidung 92/4811EWG des Rates beschlossenen Aktionsplan für den zwischen den VeIWaltungen der Mitgliedstaaten vorzunehmenden Austausch nationaler Beamter, die mit der zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut sind (programm Karolus) (93/698IEG)", ABI. 1993, L 321, S. 31 ff.; siehe schließlich jetzt die "Entscheidung der Kommission vom 10. Februar 1995 zur Festlegung der vorrangigen Bereiche für den mit der Entscheidung 92/4811EWG des Rates beschlossenen Aktionsplan für den zwischen den VeIWaltungen der Mitgliedstaaten vorzunehmenden Austausch nationaler Beamter, die mit der zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlichen Durchführung des Gemeinschaftsrechts betraut sind (Programm Karolus) (95128IEG)", ABI. 1995, L 37, S. 39 f Vgl. dazu auch Anhang I zu KOM (94) 29 endg., S. iv Rn. 9. Vgl. dazu auch jüngst KOM (95) 238 endg., S. 17 f Siehe zum aktuellen Stand "Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament. VeIWaltungszusammenarbeit bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen des Binnenmarkts - Bericht über den Stand der Arbeiten -", KOM (96) 20 endg., S. 57 ff. 46 47

B. "Zentrale" Ansätze

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das neben dem Austausch auch eine Fortbildungskomponente enthält, soll ein einheitliches Vorgehen beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts im Binnenmarktbereich fordern und den Aufbau persönlicher Kontakte zwischen den hiermit befaßten Beamten in den Mitgliedstaaten unterstützen. 51 Man erhoffi: sich auf diese Art und Weise einen Zuwachs an gegenseitigem Vertrauen zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen.

Insoweit sich die Vorstellungen der Kommission realisieren lassen, würde diese somit zwangsläufig genau erfahren, welche mitgliedstaatlichen Behörden jeweils für die Durchsetzung bestimmter Vorschriften des Gemeinschaftsrechts verantwortlich wären. Dieser Umstand würde ihre Kontrolltätigkeit sichtlich erleichtern. Außerdem setzt die Kommission in den Bereichen, "in denen bislang nur wenig Erfahrung in der administrativen Zusammenarbeit vorliegt und in denen die Qualität der Kooperationspraxis verbessert werden könnte", mit zurückhaltenden Formulierungen bewußt auf ein "Programm für Gespräche". 52 Die Kommission beschreitet dabei in der Weise einen ungewöhnlichen Weg, als sie zunächst auf Konsens mit den Mitgliedstaaten bezüglich administrativer Notwendigkeiten für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den gemeinschaftsrechtlich noch nicht (voll) erschlossenen Bereichen setzt, bevor sie unter Umständen auf vereinheitlichende Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zurückgreift. Solche Vorschriften sollen aber auch dann ergehen, wenn ein so bedeutender Fall vorliegt, daß informelle Methoden in Form von Leitlinien oder durch die Schaffung von Arbeitsgruppen von für die Rechtsdurchsetzung zuständigen Beamten als nicht ausreichend erscheinen. 53 Ein den Vorschlägen der Kommission zugrunde liegendes Hauptanliegen ist schließlich in ihrer Furcht begründet, daß die Staaten in bezug auf Produkte und Dienstleistungen in nicht harmonisierten Bereichen zu restriktiven Mitteln greifen. 54 Sie hoffi: daher, daß ein wirksamer Mechanismus zur Erleichterung bilateraler und sonstiger Kontakte zwischen den Verwaltungen auch zur Erzielung einvernehmlicher Lösungen in diesen Bereichen dient. 55

51 Ein vergleichbares Austauschverfahren gibt es mit dem Programm "Matthaeus" auch für den Bereich des Zolls. Vgl. dazu nur Anhang I zu KOM (94) 29 endg., S. iv Rn. 9. 52 KOM (94) 29 endg., S. 6 f Rn. 18 ff. Siehe zum aktuellen Stand KOM (96) 20 endg., S. 4 ff. 53 Vgl. auch KOM (94) 29 endg., S. 7 Rn. 20. 54 Vgl. KOM (94) 29 endg., S. 7 Rn. 21. 55 Vgl. KOM (94) 29 endg., S. 7 Rn. 21.

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4. Teil: Lösungsansätze

3. Bewertung des Konzepts der Kommission unter dem Blickwinkel der Steigerung der Efrtzienz des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht Nachfolgend soll der hier aufgezeigte Weg, welcher von der Kommission zur Herstellung und erfolgreichen Verwaltung des Binnenmarktes beschritten wurde, unter dem Gesichtspunkt der Steigerung der Effizienz des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht einer Bewertung unterzogen werden. Beim Konzept des Ausbaus der administrativen Zusammenarbeit handelt es sich um einen "zentralen" Ansatz. "Trotz" des Aspekts der administrativen Zusammenarbeit insbesondere zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen im Hinblick auf die Erreichung und Verwaltung des Binnenmarktes ändert sich nichts an der Gegebenheit, daß die Kommission weiterhin den Vollzug des Gemeinschaftsrechts bzw. die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an den Vollzug unbeschadet der innerstaatlichen Kontrollorganisation der Mitgliedstaaten als im Prinzip allein zuständige Kontrollinstanz ("Rechtsaufsicht") überwacht. 56 Selbst die verbesserte gegenseitige Kontrollmöglichkeit zwischen den Mitgliedstaaten führt zu keiner anderen Betrachtungsweise. Auch insoweit können festgestellte Verstöße gegen Vollzugspflichten wie bisher "lediglich" zum Beschreiten des Verfahrens nach Art. 169 f. EGV führen. 57 Insgesamt hat die Kommission zutreffend erkannt, daß mit dem Binnenmarkt aus den bereits dargelegten Gründen eine intensivere administrative Zusammenarbeit erforderlich wird. Zur Bewältigung der dadurch entstehenden Vollzugsprobleme kommt ihr zugute, daß sie schon über Erfahrungen mit einer derartigen Art der Zusammenarbeit aus dem Agrar- bzw. Zollbereich verfügt. 58 Sie beschreitet daher auch hinsichtlich der Verwaltung des Binnenmarktes den Weg der verstärkten Konsultation und appelliert an die Freiwilligkeit und die Einsicht der Mitgliedstaaten zum gemeinsamen Handeln. Ferner drängt sie nicht auf die komprornißlose Befolgung gemeinschaftsrechtIicher Anweisungen. Entsprechend kurz fallen deshalb die Ausführungen zu möglichen Maßnahmen bei Verstößen durch die Mitgliedstaaten aus. 59 Überaus begrüßenswert ist ebenfalls das flankierende Vorhaben, im Rahmen des Programms "Karolus" Siehe aber auch schon oben im 3. Teil unter B. 11. 3. a). Siehe dazu im einzelnen unten unter ill. Siehe aber auch schon oben im 2. Teil unter B. 11. 3. b) 11). 58 Vgl. Europäische Kommission, Der Binnenmarkt 1993. Zusammenfassung, S. 10 f Vgl. ferner KOM (94) 333 endg., S. 72 f, zu vergleichbaren Erfahrungen aus dem gemeinschaftlichen Sozialbereich. 59 Vgl. nur die sehr zurückhaltenden Ausführungen zur Frage nach der Anwendung des Art. 171 EGV, in: KOM (93) 632 endg., S. 16. Siehe zur Einschätzung des Art. 171 EGV als Sanktionsnorm auch unten unter ill. 3. bzw. unter IV. 2. b) cc) (4). 56

57

B. "Zentrale" Ansätze

219

durch den Austausch - wenn natürlich auch nur in begrenztem Umfang - der in den Mitgliedstaaten jeweils für den Vollzug von Gemeinschaftsrecht zuständigen Beamten persönliche Kontakte herzustellen. Der Ansatz der Kommission kann möglicherweise auch vor dem Hintergrund der Diskussionen um die Ratifizierung des EUV bzw. der Kritik an ihm im Hinblick auf die den Mitgliedstaaten vermeintlich "nur" verbliebenen Kompetenzen gesehen werden. Die Kommission erkennt sehr deutlich, daß sie nicht so wie der EuGH - unter Umständen sogar gegen den Willen der Mitgliedstaaten - progressive Ansätze zur Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft ergreifen kann, sondern auf Kompromisse und Kooperation angewiesen ist. Insofern ist der Ansatz der Kommission repräsentativ und richtungsweisend für den Weg zu einer administrativen Zusammenarbeit in der Gemeinschaft, welche ihre Grundlage in dem auf Konsens beruhenden Gemeinschaftsrecht60 findet. Der Ausbau der Informationssysteme61 und die Erweiterung des Informationsaustausches würden unabhängig von allen anderen Effekten der administrativen Zusammenarbeit der Kommission ein wesentlich genaueres Bild von der Art und Weise des Vollzugs des Gemeinschaftsrechtes durch die Mitgliedstaaten geben. Insoweit würde der Ansatz der effektiven Vollzugskontrolle dienen. Fraglich ist jedoch, ob die Kommission auch in der Lage wäre, die eingehenden Informationen sinnvoll zu verarbeiten. In jedem Fall vermag sie anhand dieser Informationen beratend auf die Mitgliedstaaten einzuwirken. 62 Auch kann sie einschlägiges Gemeinschaftsrecht dynamisieren und optimieren, wenn sich erweist, daß zum Beispiel die in Richtlinien enthaltenen Regelungen nicht zur adäquaten Problemlösung führen. 63 Spätestens aber dann, wenn die Mit60 Vgl. zur Charakterisienmg des Gemeinschaftsrechts als Konsensualrecht nur Bruha/Kindermann, ZG 1986, S. 293 (300 ff.); Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 67 f jeweils m.w.N. 61 Siehe jüngst den "Beschluß des Rates vom 6. November 1995 betreffend den Gemeinschaftsbeitrag für den InformationsverbWld für den Datenaustausch zwischen VerwaltWlgen in der Gemeinschaft (!DA)", ABI. 1995, L 269, S. 23 ff. Hierin stellt die Kommission für die Jahre 1995 Wld 199660 Mio. ECU zur Verfügung (Art. 3). Damit soll zur Fördenmg der Zusammenarbeit der mitgliedstaatlichen VerwaltWlgen Wld der Gemeinschaftsorgane die ÜbermittlWlg Wld die VerwaltWlg amtlicher Unterlagen erleichtert Wld der Zugang zu Datenbanken verbessert werden. 62 VgI. auch KOM (94) 500 endg., ABI. 1994, C 154 S. I (9) zu den einzelnen Bestandteilen der "VerwaltWlgspartnerschaft" Wld zu den aus diesen resultierenden Einflüssen auf das Vollzugsverhalten der Mitgliedstaaten. 63 Vgl. auch Neßler, Europäisches Richtlinienrecht, S. 57 m.w.N., zu dem durch die Verankenmg von Informationspflichten in Richtlinien bewirkten "Feed-Back-Mechanismus". VgI. ferner Demmke, DV 1994, S. 49 (60 f) m.w.N., zum Einfluß der mitgliedstaatlichen VerwaltWlgen auf den Prozeß der Gemeinschaftsrechtsetzung.

220

4. Teil: Lös\mgsansätze

gliedstaaten nicht bereit sind, gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben Folge zu leisten, zeigt sich einmal mehr, wie sehr die Gemeinschaft hinsichtlich der Erreichung ihrer Ziele von der Kooperationsbereitschaft der Mitgliedstaaten sowie von deren loyaler Unterstützung abhängig ist. 64 Abschließend mag dem hier aufgezeigten Ansatz natürlich entgegenhalten werden, daß er auf den ersten Augenschein hin keine konkreten Anreize bietet, welche die mitgliedstaatlichen Verwaltungen anhalten oder sogar motivieren würden, sich ständig völker- bzw. gemeinschaftsrechtskonform zu verhalten. Dennoch liegt die Hoffnung nahe, daß dieser Weg auf dem schwierigen Feld zwischen den Souveränitätsdünkeln der Mitgliedstaaten und den Erfordernissen einer effektiven Binnenmarktverwaltung doch ein erfolgreicher sein kann.

m. Das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 169 EGV 1. Einleitung

Nach Maßgabe von Art. 155 UAbs. 1 EGV obliegt es der Kommission als "Hüterin der Verträge"65, "für die Anwendung dieses Vertrages sowie der von den Organen aufgrund dieses Vertrages getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen", um das ordnungsgemäße Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten. 66 Das betriffi: natürlich seit 1985 auch in besonderer Weise die Herstellung und Verwaltung des Binnenmarktes. Die Kommission überwacht die Einhaltung des primären und sekundären geschriebenen und ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts sowie die Befolgung der Entscheidungen des EuGH. 67 Zu diesem Zweck wird es der Kommission anhand des in Art. 169 EG~8 geregelten Verfahrens ermöglicht, eine durch einen Mitgliedstaat begangene Vertragsverletzung vom EuGH feststellen zu lassen. 69 64 Vgl. dazu nur Streinz, DVBI. 1990, S. 949 (956 bzw. 963); ders., in: Europäisches VeIWalt\Dlgsrecht, S. 241 (291) jeweils m.w.N. 65 So Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 56; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 155 Rn. 6 bzw. Art. 169 Rn. 1 ("Hüterin der Gemeinschaft"); Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 67. 66 Vgl. dazu Ehlermann, in: LA für Kutscher, S. 135 (136); Ortlepp, S. 63; Gaster, S. 1. Siehe aber auch schon oben im 3. Teil \mtef B. ll. 3. a). 67 Gaster, S. 2; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 67. 68 Siehe auch Art. 141 Abs. 2 EAGV bzw. Art. 88 Abs. 2 EGKSV. Vgl. zur \mterschiedlichen AusgestaltlDlg des VertragsverletZWlgsverfahrens insbesondere im Rahmen des EGKSV nur Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 62 ff. 69 Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 509.

B. "Zentrale" Ansätze

221

Das durch Art. 169 EGV gewährte Verfahren wird als das wichtigste Instrument der Kommission angesehen, um der ihr nach Art. 155 UAbs. 1 EGV zukommenden Kontrollaufgabe gerecht zu werden. 70 Letzteres sei sogar entscheidend für die Wahrung des Gemeinschaftsrechts und verfolge den Zweck, Bestand und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft zu sichern. 71 Festzuhalten ist, daß das Verfahren nach Art. 169 EGV ein Aufsichtsmittel der Gemeinschaft im Rahmen der durch die Kommission ausgeübten "zentralen" Kontrolle des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten darstellt. 72 Ein mit diesem vergleichbares Verfahren findet sich in Art. 170 EGY. Nach Maßgabe des Art. 170 EGV73 steht unter bestimmten Voraussetzungen auch Mitgliedstaaten die Möglichkeit offen, in einem selbständigen Verfahren die Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen anderen Mitgliedstaat vor dem EuGH zu rügen. 74 Dieses Verfahren hat aber keinesfalls die Bedeutung des Verfahrens nach Art. 169 EGy' 75 Bis 1977 hatte die Kommission vom Instrument des Art. 169 EGV nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. 76 Dieses änderte sich nach 1977 unter der Jenkins-Kommission. 77 Die Kommission begann nun, alle ihr bekannt gewordenen Vertragsverletzungen systematisch zu verfolgen, nachdem sie vorher in der Anwendung des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 169 EGV nur eine "ultima ratio" gesehen hatte. 78 Jedoch kam es der Kommission im Ergebnis Vgl. nur Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 1. Ortlepp, S. 11 m.w.N. 72 Siehe dazu bereits oben im 3. Teil Wlter B. 11. 3. a) bzw. b) dd) Wld fI). 73 Siehe auch Art. 142 EAGV bzw. Art. 89 EGKSV. 74 VgI. dazu nur R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 170 Rn. 1 f; RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 44 ff 75 Oppermann, Europarecht, Rn. 628. Vgl. zu den Gründen für die geringe BedeutWlg des Verfahrens nach Art. 170 EGV nur RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 69 m.w.N. 76 Vgl. dazu Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (139 f). Siehe auch die Zahlenangaben bei Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 3; Gündisch, Rechtsschutz, S. 69. 77 Vgl. dazu Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (141 ff) m.w.N. 78 Vgl. dazu Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (141 ff) m.w.N. Siehe insbesondere ders., a.a.O., S. 146 f, zu den zahlenmäßigen Auswirkungen. Siehe ferner die Zahlenangaben bei Ortlepp, S. 14 f Wld S. 19 ff Aktuelle Angaben über die Anzahl der nach Art. 169 EGV eingeleiteten Verfahren finden sich in den seit 1983 von der Kommission verfaßten Wld von ihr veröffentlichten einschlägigen Jahresberichten über die Kontrolle der AnwendWlg des Gerneinschaftsrecht an das Europäische Parlament. Vgl. dazu nur Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (206 f) m.w.N. Siehe somit KOM (94) 500 endg., abgedruckt, in: ABI. 1994, C 154, S. 1 (57 ff). Siehe jüngst KOM (95) 500 endg., abgedruckt, in: ABI. 1995, C 254, S. 1 (56 ff). Siehe schließlich auch Ziffer 70 71

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4. Teil: LöslUlgsansätze

"lediglich" darauf an, die Beseitigung eines Vertragsverstoßes, nicht aber eine Verurteilung des jeweils betroffenen Mitgliedstaates zu erreichen. 79 Nach Ansicht von Ehlermann beruhte dieser Politikwechsel nicht zuletzt auf der "Sorge, das Bestehende, vor allem die Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes, zu bewahren".80 Ferner war die Kommission bemüht, ihr Monopol, Vertragsverletzungen durch die Mitgliedstaaten vor den EuGH zu bringen, nicht zu verlieren. 81 Letztendlich ist das aufgezeigte Verhalten der Kommission auch aus ihrer Befürchtung heraus zu erklären, bei einem weniger entschiedenen Vorgehen die eigene Glaubwürdigkeit zu verlieren und damit den vertragsgemäßen Vollzug des Gemeinschaftsrechts zu gefährden. 82 Somit ergriff die JenkinsKommission das Instrument des Art. 169 EGV auch dort, "wo ihre Vorgängerinnen wegen des Konfliktrisikos unter Umständen untätig geblieben wären. "83

2. Zum Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV im einzelnen a) Zur Funktion und zum Charakter des VertragsverletzungsverJahrens

Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV hat eine objektivrechtliche Funktion, weil es der Kommission als Instrument zur Verfolgung von Vertragsverletzungen durch die Mitgliedstaaten dient und die Mitgliedstaaten zu deren Abstel1ung anhalten sol1. 84 Es hat insoweit auch eine Ordnungs- und zumindest eingeschränkte Erzwingungsfunktion. 85 Daneben hat es eine Klarstel1ungsfunktion, weil der EuGH bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Kommission und betroffenem Mitgliedstaat abschließend darüber entscheidet, ob eine Vertragsverletzung vorliegt. Es kann aber unter Umständen auch eine individualrechtliche Funktion haben, wenn die Kommission nämlich anläßlich von Beschwerden, die von Gemeinschaftsbürgern an sie her10 der "EntschließlUlg zur VerantwOrtlUlg der Mitgliedstaaten fiir die AnwendlUlg lUld Wahnmg des Gemeinschaftsrechts" des Europäischen Parlamentes vom 9. Februar 1983", ABI. 1983 Nr. C 68, S. 32 (33). Vgl. auch Streil, in: BBPS, Die EU, S. 263 m.w.N. 79 Ehlermann, in: LA fiir Pescatore, S. 205 (207). 80 Ehlermann, in: FS fiir Kutscher, S. 135 (141). 81 Vgl. dazu im einzelnen Ehlermann, in: FS fiir Kutscher, S. 135 (142). 82 Vgl. Ehlermann, in: FS fiir Kutscher, S. 135 (140). 83 Ehlermann, in: FS fiir Kutscher, S. 135 (142). 84 Vgl. Gaster, S. 21 m.w.N. 85 Vgl. Gaster, S. 8; Karpenstein, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 18.

B. "Zentrale" Ansätze

223

angetragen werden, ein Vertragsverletzungsverfahren einleitee6 Das Interesse an einem Verfahren nach Art. 169 EGV kann sogar darin bestehen, die Grundlage für eine Haftung eines Mitgliedstaates wegen seiner Vertragsverletzung gegenüber einem Gemeinschaftsbürger zu schaffen. 87 Jedoch haben Individuen keinen Rechtsanspruch auf Durchführung eines Vertragsverletzungsvetfahrens. 88 Die Betroffenen können völlig unabhängig von der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission vor den mitgliedstaatlichen Gerichten ihr Recht suchen. 89 Das Vertragsverletzungsvetfahren besteht aus zwei Abschnitten. Dabei ist dem gerichtlichen Vetfahren nach Art. 169 Abs. 2 EGV ein zwei stufiges außergerichtliches Vorvetfahren 90 vorgeschaltet, welches den Zweck hat, auf außergerichtlichem Wege den betreffenden Mitgliedstaat zur Wiederherstellung des gemeinschaftsrechtskonformen Zustandes zu veranlassen. 91

b) Zum Gegenstand und zum Verlauf des VertragsverletzungsverJahrens aa) Zur Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens Die Kommission kann den Weg des in Art. 169 EGV geregelten Vetfahrens einschlagen, wenn ein Mitgliedstaat nach ihrer Ansicht eine Vertragsverlet86 Vgl. dazu Lenz, NJW 1994, S. 2063 (2066 f); Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 67 jeweils m.w.N. Kritisch Gaster, S. 21 m.w.N. ll7 Siehe auch EuGH, Urteil vom 25. Juli 1991, Rs. C-353/89 (KommissionlNiederlande), Sig. 1991 I, S. 4069 (Rn. 28). Vgl. dazu Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 2 m.w.N. 88 Siehe nur EuGH, Urteil vom 14. Februar 1989, Rs. 247/87 (Star Fruit Company SAlKommission), Sig. 1989, S. 291 (Rn. 11 f). Vgl. dazu Karpenstein, in: Grabitz/ Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 22 f m.w.N. 89 Vgl. dazu im einzelnen Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 24 m.w.N. 90 In der Praxis hat sich jedoch eingebürgert, in Abweichung von Art. 169 Abs. 1 EGV den vertragsbrüchigen Mitgliedstaatformlos auf die Vertragsverletzung hinzuweisen und so ihre Abstellung herbeizuführen. So Gaster, S. 24 ff m.w.N.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 33; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 75 m.w.N.; Gündisch, Rechtsschutz, S. 73; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 15. Diese Vorgehensweise soll nach den Vorstellungen der Kommission auch in Zukunft beibehalten werden. Die Kommission ist sogar bestrebt, sog. "Pakettreffen" häufiger durchzuführen, um so "einvernehmliche Lösungen in Vertragsverletzungsverfahren zu erzielen". Siehe KOM (93) 632 endg., S. 13. Im Ergebnis so auch schon oben unter 11. 3. 91 Vgl. dazu auch Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 74.

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4. Teil: Lösmlgsansätze

zung begangen hat und diese noch gegenwärtig ist. 92 Der Begriff der Vertragsverletzung ist vor dem Hintergrund der Gesamtsystematik des EGV in Verbindung mit der von der Kommission gemäß Art. 155 UAbs. 1 EGV wahrzunehmenden "Gemeinschaftsaufsicht"93 weit zu fassen. 94 Eine solche liegt daher vor, wenn ein Mitgliedstaat eine Norm des gesamten europäischen Gemeinschaftsrechts, soweit es ihn bindet, nicht oder nicht richtig vollzieht; ein Verschulden ist nicht erforderlich. 95 Ein Mitgliedstaat hat sich dabei grundsätzlich alle Handlungen oder Unterlassungen seiner Organe zurechnen zu lassen. 96 Das Handeln Privater ist einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht zurechenbar, es sei denn, eine staatliche Stelle vernachlässigt beispielsweise ihre Überwachungspflichten. 97

bb) Das Vorverfahren gemäß Art. 169 Abs. 1 EGV Voraussetzung für die Anrufung des EuGH gemäß Art. 169 Abs. 2 EGV ist der Abschluß des in Art. 169 Abs. 1 EGV geregelten Vorverfahrens. 98 Das Vorverfahren beginnt in der Regel, wenn die Kommission Kenntnis von einer vermeintlichen Vertragsverletzung erhält. Dies kann sich zum Beispiel ergeben im Zusammenhang mit den mitgliedstaatlichen Mitteilungspflichten bezüglich der Umsetzung von Richtlinien. 99 Entweder bleibt eine Mitteilung eines MitVgl. dazu Gaster, S. 9. AA Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 2. Vgl. zu diesem BegriffConrad, S. 177 ff.; Gaster, S. 8 m.w.N. Siehe auch schon oben im 3. Teil unter B. 3. a). 94 Vgl. Karpenstein, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 12 m.w.N. Siehe auch oben mlter 1. 95 Gaster, S. 2; Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 513 f m.w.N.; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 3; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 73 bzw. Rn. 109 f; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 5 jeweils m.w.N. Vgl. zu den Gründen, weshalb Mitgliedstaaten Vertragsverletzungen begehen, nur Gündisch, Rechtsschutz, S. 68f m.w.N. 96 Gaster, S. 2; Oppermann, Europarecht, Rn. 629; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 4; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 105 ff. 97 Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 510. Vgl. auch die weitergebenden Ausfiihnmgen bei Karpenstein, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994) Art. 169 EGV Rn. 12 m.w.N. 98 Vgl. zum Vorverfahren Ortlepp, S. 67 ff.; Gaster, S. 29 ff.; Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 515 ff. m.w.N.; Oppermann, Europarecht, Rn. 631; R. Geiger, EGVertrag, Art. 169 Rn. 5 ff.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 112 m.w.N. In be-stimmten Fällen sieht der EGV kein Vorverfahren vor. Vgl. nur R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 6; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 96. 99 Vgl. zur konkreten Vorgehensweise der Kommission, was die Kontrolle der Um92

93

B. "Zentrale" Ansätze

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gliedstaates völlig aus lOO , oder die maßgebliche zum Zwecke der Umsetzung geschaffene innerstaatliche Rechtsvorschrift entspricht nicht den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen. Immer häufiger aber wird die Kommission aufgrund eines Hinweises oder einer Beschwerde eines Gemeinschaftsbürgers oder aufgrund von Mitteilungen der anderen Mitgliedstaaten tätig. 101 Insbesondere das von der Kommission auf der Grundlage des Art. 169 EGV eingerichtete "Beschwerdeverfahren"l02 hat sich als äußerst effektives Informationsinstrument erwiesen. lo3 Hernach folgt die Phase der Sachverhaltsaufklärung. 104 Gelangt die Kommission daraufhin zu der Ansicht, daß der Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme abl os , bei der es sich rechtlich um eine unverbindliche Stellungnahme im Sinne des Art. 189 Abs. 5 EGV handelt. l06 Zunächst hat sie jedoch dem Mitgliedstaat gemäß Art. 169 Abs. 1 2. Halbsatz EGV die Gelegenheit zu geben, sich in angemessener Frist zu den von der Kommission gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern. l07 Es handelt sich dabei um die positiv-rechtliche Ausprägung der VersetZWlg einer Richtlinie durch einen Mitgliedstaat betrifft, Krämer, in: Dicke Luft in Europa, S. 201 (203 ff.). Vgl. ferner Gaster, S. 11. Siehe zu den gemeinschaftsrechtlichen Berichts- lUld ÜbermittllUlgspflichten der Gemeinschaft auch oben im 3. Teil lUlter B. II. 3. a). 100 Siehe die Nachweise oben im 2. Teil lUlter C. II. 3. 10\ Vgl. dazu insgesamt Gündisch, Rechtsschutz, S. 72; GeIlermann, S. 121; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 8 ff. jeweils m.w.N. Vgl. zu weiteren Anlässen für die EinleitlUlg eines VertragsverletZWlgsverfahrens gemäß Art. 169 EGV auch Gaster, S. 11. 102 Siehe dazu das von der Kommission veröffentlichte Formblatt für eine "Be-schwerde bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften wegen NichteinhaltlUlg der Rechtsvorschriften der Gemeinschaft", ABI. 1989, C 26, S. 6 f Vgl. dazu nur Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 67 m.w.N. 103 Vgl. Jarass, GrWldfragen, S. 107 f m.w.N.: "Die wichtigste Quelle der Kommission für die BeurteillUlg der AnwendlUlg von Gemeinschaftsrecht....". Vgl. auch Krämer, in: Dicke Luft in Europa, S. 201 (211 ff.), für den Bereich des gemeinschaftlichen Umweltrechts. Vgl. zum Beschwerdeverfahren im einzelnen Gaster, S. 12 ff.; Pernice, DV 1989, S. 1 (40 f) jeweils m.w.N. Siehe dazu aber auch lUlten die Ausfiihnmgen lUlter C. V. \04 Vgl. dazu Gaster, S. 22 ff. 105 Vgl. zu der "mit Griinden versehene StelllUlgnahme" im Sinne des Art. 169 EGV H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 234 f; Gaster, S. 40 ff. m.w.N.; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 82 ff. m.w.N.; Karpenstein, in: Grabitz/Hil[, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 46 ff. 106 Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 18. 107 Vgl. Ortlepp, S. 70 ff. 15 Püh,

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4. Teil: Lös\Dlgsansätze

fahrensgarantie auf Gewährung von "rechtlichem Gehör".108 Die Kommission kommt dieser Pflicht durch ein an die Regierung des betroffenen Mitgliedstaates gerichtetes Mahnschreiben nach; dieses enthält eine Sachverhaltsschilderung, die Darstellung der Unvereinbarkeit eines mitgliedstaatlichen Aktes mit dem Gemeinschaftsrecht sowie eben eine Aufforderung, sich innerhalb einer bestimmten Frist zu den erhobenen Vorwürfen zu äußern. l09 Im Vorverfahren wird auch der Streitgegenstand eines sich möglicherweise anschließenden Verfahrens vor dem EuGH abschließend bestimmt l1O ; eine eventuell nachfolgende Klage der Kommission kann nämlich nur auf die gleichen Grunde und das gleiche Vorbringen gestützt werden wie die das Vorverfahren abschließende Stellungnahme; die Stellungnahme selbst aber darf keine Beanstandungen enthalten, die nicht bereits Gegenstand des Mahnschreibens waren. 111 Treten neue Beanstandungen auf, so hat die Kommission ein weiteres Mahnschreiben zu verfassen. 112 Vorrangiges Ziel des Vorverfahrens ist die Herbeiführung "einer außergerichtlichen Einigung unter möglichster Schonung der Souveränität der Mitgliedstaaten. ,,113 Die gerichtliche Auseinandersetzung kann in der auf Kooperation angelegten Gemeinschaft ohnehin nur eine "ultima ratio" sein. 114 Im Regelfall kommt es auch aufgrund des Vorverfahrens gar nicht erst zur Anrufung des EuGH nach Art. 169 Abs. 2 EGV. 115 108 So Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 76 m.w.N. VgI. auch Gaster, S. 36 m.w.N.; Oppermann, Europarecht, Rn. 631. 109 VgI. zum Mahnschreiben Gaster, S. 30; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 76 ff m.w.N.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 35 ff; Gündisch, Rechtsschutz, S. 73; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 16. 110 VgI. Bfeckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 516 ff m.w.N.; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 5; Streinz, Europarecht, Rn. 507 m.w.N. 111 VgI. Gaster, S. 35; Oppermann, Europarecht, Rn. 633; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 17; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 84 bzw. Rn. 98; Streinz, Europarecht, Rn. 507 jeweils m.w.N. 112 Vgl. Gaster, S. 35. 113 Oppermann, Europarecht, Rn. 631. 114 Streif, in: BBPS, Die EU, S. 263 m.w.N. 115 Siehe dazu die Zahlenangaben in Anhang I \Dld 11, in: KOM (94) 500 endg., ABI. 1994, C 154, S. 1 (57 ff), bzw. in Anhang I \Dld 11, in: KOM (95) 500 endg., abgedruckt, in: ABI. 1995, C 254, S. I (56 ff). Vgl. ferner Gündisch, Rechtsschutz, S. 69 ff m.w.N. VgI. auch Streif, in: BBPS, Die EU, S. 263; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 74. Ortfepp, S. 15, sieht besonders in der geringen Zahl der tatsächlich durch eine EntscheidlUlg EuGH abgeschlossenen Verfahren einen deutlichen Beleg fiir die Effektivität lUld die WirklUlg des Instruments des Art. 169 EGY.

B. "Zentrale" Ansätze

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cc) Die Anrufung des Gerichtshofes gemäß Art. 169 Abs. 2 EGV Kommt der betroffene Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht innerhalb der ihm von der Kommission gesetzten angemessenen Frist nach, so kann die Kommission gemäß Art. 169 Abs. 2 EGV den EuGH anrufen. 116 Ob eine Rechtspflicht der Kommission zur Verfahrenseinleitung besteht, ist zweifelhaft. 117 Schon angesichts des Wortlauts des Art. 169 Abs. 2 EGV ("kann") ergibt sich eindeutig, daß die Kommission bei Bekanntwerden einer Vertragsverletzung durch einen Mitgliedstaat ein Ermessen hinsichtlich der Klageerhebung hat. 118 Es ist jedoch zu fordern, daß dieses Ermessen von der Kommission restriktiv auszulegen ist, damit sie ihrer Kontrollfunktion gerecht werden kann. 119 Das bedeutet aber auch, daß die Kommission nach einem erfolglos verlaufenen Vorverfahren nicht gezwungen sein kann,jede Vertragsverletzung im Rahmen des Art. 169 Abs. 2 EGV vor den EuGH zu bringen. 120 Der Streitgegenstand wird durch den Inhalt der mit Gründen versehenen Stellungnahme bestimmt. 121 Jedoch werden Rügen, die zwar in der Stellungnahme enthalten sind, nicht aber in der Klageschrift, vom EuGH aufgrund des Ermessensspielraumes der Kommission nicht behandelt. 122

Streinz, Europarecht, Rn. 506. Vgl. zum Streitstand Orlfepp, S. 75 f[ m.w.N. 118 Siehe nur EuGH, Urteil vom 14. Februar 1989, Rs. 247/87 (Star Fruit Company SAlKommission), Slg. 1989, S. 291 (Rn. 11 f); EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-87/89 (Societe nationale interprofessionnelle de la tomate u.a.lKommission), Slg. 1990 I, S. 1981 (Rn. 6 f). Vgl. auch H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 235; Orlfepp, S. 75 m.w.N.; Gaster, S. 20 f; Streif, in: BBPS, Die EU, S. 262; RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 88. Im Hinblick auf das Vorverfahren besteht jedoch eine Pflicht zur Einleitung. So auch Orlfepp, S. 77 m.w.N. 119 Streif, in: BBPS, Die EU, S. 263; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 7; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 112; Streinz, Europarecht, Rn. 296. Vgl. auch Gaster, S. 43 f 120 Siehe nur die von R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 7, angeführten Beispiele, bei deren Vorliegen die Kommission von einem Einschreiten absehen kann. Im Ergebnis ähnlich Gündisch, Rechtsschutz, S. 73. Vgl. auch schon H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 235 m.w.N. 121 Siehe EuGH, Urteil vom 7. Februar 1973, Rs. 39/72 (KommissionlItalien), Slg. 1973, S. 101 (Rn. 9); EuGH, Urteil vom 27. Mai 1981, verb. Rs. 142 u. 143/80 (Amministrazione delle Finanze dello StatolEssevi S.p.A. u.a.), Slg. 1981, S. 1413 (Rn. 15); EuGH, Urteil vom 5. Juli 1986, Rs. 103/84 (KommissionlItalien), Slg. 1986, S. 1759 (Rn. 7). Vgl. dazu ebenfalls Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 169 Rn. 21. Siehe aber auch schon oben lUlter bb). 122 So auch RengelinglMiddekelGellermann, Rn. 98 m.w.N. 116

117

228

4. Teil: LösWlgsansätze

In dem Aufsichtsverfahren vor dem EuGH kann sich der gerügte Mitgliedstaat als Rechtfertigungsgrund im übrigen nicht auf innerstaatliches (Verfassungs-)Recht oder auf eine Notstandslage berufen. 123 Da der völkerrechtliche Grundsatz der Gegenseitigkeit im Gemeinschaftsrecht keine Anwendung findet, kann ein Mitgliedstaat zu seinen Gunsten auch nicht vermeintliche Gemeinschaftsrechtsverletzungen durch andere Mitgliedstaaten oder sogar die Kommission selbst ("tu quoque-Einwand") geltend machen. 124

c) Zum Inhalt der das VertragsverletzungsverJahren abschließenden Entscheidung

Ist das Vertragsverletzungsverfahren begründet, so ergeht gemäß Art. 171 Abs. 1 EGV ein Feststellungsurteil. 125 Darin stellt der EuGH die Nichtvereinbarkeit des gerügten mitgliedstaatlichen Aktes mit dem Gemeinschaftsrecht fest. 126 Der EuGH darf aus Kompetenzgründen weder einen rechtswidrigen staatlichen Akt aufheben 127 noch die Verpflichtung des Staates zur Aufhebung eines solchen Aktes feststellen. 128 Eine solche Verpflichtung des verurteilten Mitgliedstaates ergibt sich ohnehin schon unmittelbar aus Art. 171 Abs. 1 EGv. 129 123 Vgl. dazu und zu weiteren vom EuGH nicht anerkannten Exkulpationsmöglichkeiten Orlfepp, S. 103 ff.; Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 514; R. Geiger, EGVertrag, Art. 169 Rn. 21 f; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 111; Karpenstein, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994) Art. 169 EGV Rn. 12; Rengeling/Midde~/Gellermann, Rn. 110 jeweils mit zahlreichen Verweisen auf die Rechtsprechung des EuGH. 124 So der EuGH in ständiger Rechtsprechung. Siehe EuGH, Urteil vom 25. September 1979, Rs. 232/78 (KommissionlFrankreich), Slg. 1979, S. 2729 (Rn. 7 ff); jüngst EuGH, Urteil vom 11. Januar 1990, Rs. C-38/89 (Ministere PubliclBlanguemon), Slg. 1990 I, S. 83 (Rn. 7 f). Vgl. dazu Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (74 f); Karpenstein, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994) Art. 169 EGV Rn. 3; Rengeling/Midde~/Gellermann, Rn. 110 jeweils m.w.N. Siehe auch Art. 219 EGY. Siehe dazu ausfiihrlieh unten unter IV. 2. b) bb). Siehe aber auch schon oben im 3. Teil unter B. 11. 3. b) 11). 125 Vgl. auch Gaster, S. 49 m.w.N.; Streif, in: BBPS, Die EU, S. 265. Siehe dazu auch schon oben im 3. Teil unter B. 11. 3. b) 11). 126 Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 111. 127 Vgl. Haneklaus, DVBl. 1993, S. 129 (131) m.w.N. 128 Gaster, S. 50 m.w.N.; Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 522; Tsikrilws, S. 163 m.w.N.; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 68 bzw. Rn. 111 m.w.N. Siehe die Nachweise für die entgegengesetzte Ansicht bei Tsikrilws, S. 163, Wld Gaster, S. 50. 129 Orlfepp, S. 113 m.w.N.; Tsikrilws, S. 176 f m.w.N.; Oppermann, Europarecht, Rn. 635.

B. "Zentrale" Ansätze

229

Eine weitergehende Befugnis des EuGH würde im übrigen die Art. 171 EGV zugrunde liegenden Kompetenzen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der autonomen Regulierung der Modalitäten bei der Durchführung von Entscheidungen des EuGH verletzen und das Gleichgewicht und das Koordinationsverhältnis zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten stören. 130 Gleichwohl kann die Entscheidung des EuGH sinnvollerweise unverbindliche Möglichkeiten aufzeigen, wie der Mitgliedstaat einen Vertragsverstoß beseitigen kann. l31

3. Die Konsequenzen aus der fehlenden Vollstreckungsmöglichkeit von Entscheidungen des EuGH gegen die Mitgliedstaaten Eine Vollstreckungsmöglichkeit gegen die Mitgliedstaaten oder generelle Zwangsmaßnahmen für die Kommission oder den EuGH sieht der EGV (zumindest im Ergebnis) nicht vor. 132 Falls ein Staat seiner Verpflichtung nicht innerhalb angemessener Frist nachkommt 133 , so stellt dies einen erneuten eigenständigen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dar. Die Kommission hat in einem solchen Fall nur die Möglichkeit, gemäß Art. 169 EGV wiederum eine Aufsichtsklage anzustrengen. l34 Eine solche Klage stützt sich dann auf einen Verstoß gegen Art. 171 Abs. I EGV. 135 Diese Fälle haben sich gerade injüng130 Vgl. Gaster, S. 50; Tsikrikas, S. 166 m.w.N.; Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 522. 131 Vgl. Gaster, S. 50; Tsikrikas, S. 166 ff m.w.N.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 171 EGV Rn. 6. Die StellWlgnahme der Kommission sieht im Gegensatz zum Urteil konkrete vom Mitgliedstaat zu ergreifende Maßnahmen vor; sie ist jedoch rechtlich Wlverbindlich Wld stellt schon deshalb keinen Eingriff in die Souveränität des betroffenen Mitgliedstaates dar. Vgl. dazu Tsikrikas, S. 166. 132 Vgl. H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 235 f; Ehlermann, in: FS für Carstens, S. 81 (83); Ortlepp, S. 129 ff.; Gaster, S. 57 m.w.N.; Oppermann, Europarecht, Rn. 635; Streinz, Europarecht, Rn. 510; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 112 m.w.N.; Gündisch, Rechtsschutz, S. 76. Siehe auch schon oben im 3. Teil Wlter B. 11. 3. b) 11). 133 Vgl. zu den Motiven für die zum Teil mangelhafte Befolgwtg von EntscheidWlgen des EuGH durch Mitgliedstaaten nur Ortlepp, S. 28 ff.; Pernice, DV 1989, S. 1 (38 f) jeweils m.w.N. 134 Vgl. Ehlermann, in: FS für Carstens, S. 81 (83); Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 523; Oppermann, Europarecht, Rn. 635; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 112; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 113; Gündisch, Rechtsschutz, S. 76 jeweils m.w.N. 135 Siehe nur EuGH, Urteil vom 6. November 1985, Rs. 131/84 (KommissionlItalien), Slg. 1985, S. 3531 (Rn. 8). Vgl. dazu Ortlepp, S. 46 f Siehe ferner EuGH, Urteil vom 13. Juli 1972, Rs. 48/71 (KommissionlItalien), Slg. 1972, S. 529 (Rn. 5110. Vgl. dazu Ortlepp, S. 58 f Vgl. auch insgesamt Ortlepp, S. 132 m.w.N.

230

4. Teil: LöslUlgsansätze

ster Zeit häufiger ereignet. 136 Wie die gestiegene Anzahl an erneuten Verurteilungen in derselben Sache belegt, verliert die "Brandmarkung" eines Mitgliedstaates als "Wiederholungstäter" im Hinblick darauf, daß er sich dadurch verpflichtet fühlte, zu einem gemeinschaftsrechtskonformen Verhalten "zurückzukehren", zunehmend an Bedeutung. 137 Aus diesem Grund wurde der Art. 171 Abs. 2 UAbs. 3 EGV eingeführt, wonach der EuGH auf Antrag der Kommission die Zahlung eines Pauschalbetrages oder Zwangsgeldes gegen einen wiederholt gemeinschaftsrechtswidrig handelnden Mitgliedstaat verhängen kann. 138 Das Problem der fehlenden Möglichkeiten zur zwangsweisen Erhebung dieses Zwangsgeldes von einem Mitgliedstaat wurde damit jedoch nicht gelöst.

4. Zur Bewertung des Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 169 EGV als Instrument der Kommission zur Kontrolle und zur Steigerung der Effizienz des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten

a) Einleitung Bei der Bewertung des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 169 EGV sind ganz grob zwei Fragestellungen zu unterscheiden, die sich jedoch gegenseitig bedingen. Zunächst gilt es zu hinterfragen, ob und wie sich das Vertragsverletzungsverfahren im einzelnen überhaupt als Instrument der "zentralen" Kontrolle in bezug auf den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht eignet. Danach ist zu überlegen, ob es sich als Instrument dafür empfiehlt, die Mitgliedstaaten anzuhalten, Gemeinschaftsrecht effizient zu vollziehen.

136 Siehe nur die Nachweise bei Gaster, S. 59 f; Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (332). Vgl. aber auch Oppermann, Europarecht, Rn. 625 m.w.N. Siehe ferner schon oben im 3. Teil lUlter B. 11. 3. b) 11). 137 Gaster, S. 60. Vgl. an dieser Stelle aber auch Gündisch, Rechtsschutz, S. 76, nach dessen Ansicht die Zahl der nicht befolgten Urteile "weniger auf eine geringere Gemeinschaftstreue, als vielmehr auf die gesteigerte RechtsetZ\Ulgstätigkeit der Gemeinschaftsorgane, vor allem was HarmonisieT\Ulgs-Richtlinien anlangt, zurückzuführen sein" dürfte. 138 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 510; Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 1161[; Gündisch, Rechtsschutz, S. 76 f Siehe zu Art. 171 Abs. 2 UAbs. 3 EGV aber auch die Ausfiihnmgen oben im 3. Teil lUlter B. 11. 3. b) 11) bzw. in diesem Teil insbesondere lUlten lUlter IV. 2. b) cc) (4).

B. "Zentrale" Ansätze

231

b) Die Einschätzung des Vertragsverletzungsverfahrens als Instrument der zentralen Kontrolle des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten

aa) Einleitung Auf die Schwächen des Vertragsverletzungsverfahrens als Instrument der "zentralen" Kontrolle des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht ist bereits früher kurz eingegangen worden. 139 Die dort genannten Mängel sollen in die hier vorgenommene Bewertung zum Teil miteinfließen. Grundsätzlich sollen nachfolgend besonders zwei Aspekte hervorgehoben werden. Dabei handelt es sich zunächst um die Möglichkeit, mit Hilfe des in Art. 169 EGV geregelten Verfahrens, alle Vertragsverletzungen erfassen zu können, dann aber auch um seine Fähigkeit, zur Abstellung einer Vertragsverletzung beizutragen.

bb) Die fehlende Fähigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens, alle Vertragsverletzungen zu erfassen Es steht fest, daß sich das Vertragsverletzungsverfahren aus verschiedenen Gründen nicht für die Überprüfung von administrativen Einzelentscheidungen eignet. 140 Darüber hinaus bietet es auch keine Handhabe für die Verfolgung der Tausende von Bagatellfällen an nur geringfügigen Vertragsverletzungen, weil diese entweder gar nicht offenkundig werden oder der Aufwand für ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Hintergrund der eingeschränkten personellen Kapazitäten der zuständigen Kommission 141 viel zu hoch wäre. 142 Es fällt somit auf, daß die Kommission gar nicht über die technischen und personellen Ressourcen verfügt, um den Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten in der Weise zu kontrollieren, daß ihr jeder Verstoß bekannt würde. 143 Dies wird auch dadurch verdeutlicht, daß die Anzahl an Vertragsverstößen, die aufgrund von Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 177 EGV bekannt geworden sind, wesentlich höher liegt als diejenige der Fälle, in denen

Siehe oben im 3. Teil lUlter B. 11. 3. b) lUld c). Vgl. nur Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (208). 141 Siehe dazu oben im 3. Teil lUlter B. 11. 3. b) ce). 142 Vgl. Ehlermann, in: LA für Pescatore, S. 205 (208). Siehe auch oben im 3. Teil lUlter B. 11. 3. b) dd). 143 Siehe dazu auch oben im 3. Teil lUlter B. 11. 3. b) bb) lUld dd). 139

140

232

4. Teil: LÖSWlgsansätze

die Gemeinschaftswidrigkeit durch ein Urteil nach Art. 169 EGV festgestellt wird. 144

cc) Die Fähigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens zur Beseitigung der festgestellten Vertragsverletzungen Bei der Frage nach der Fähigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens, Vertragsverletzungen abzustellen, ist zwischen verschiedenen Fallgruppen zu unterscheiden. Da sind zunächst die Fälle, in denen alleine die Inaussichtstellung der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ausreicht, um einen betroffenen Mitgliedstaat anzuhalten, sich vertragskonform zu verhalten. Hernach ist es denkbar, daß sich ein Mitgliedstaat erst nach der Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens gemeinschaftsrechtskonform verhält. Schließlich sind gerade in letzter Zeit Beispiele bekannt geworden, bei denen ein Mitgliedstaat trotz der Feststellung durch den EuGH, daß eine Vertragsverletzung vorliegt, diese nicht abstellte. 145 Die letzte Fallgruppe steht im übrigen in einem engen Zusammenhang mit der Frage, ob das Verfahren nach Art. 169 EGV in jedem Fall das angemessene Instrument zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts ist. Schließlich ist auch noch auf die fehlende Möglichkeit der Gemeinschaft, den gemeinschaftsrechtskonformen Vollzug von Gemeinschaftsrecht zwangsweise durchzusetzen, einzugehen. 146 Den hier aufgeworfenen Fragen wird das in Art. 169 EGV geregelte Verfahren in bestimmter Weise gerecht. Wie bereits ausgeführt, verfügt die Kommission hinsichtlich der Einleitung des Vorverfahrens gemäß Art. 169 Abs. I EGV über kein Ermessen, ein solches besteht aber in bezug auf die Anrufung des EuGH nach Art. 169 Abs. 2 EGv. 147 Es soll nun insoweit zwischen den "bedenklichen" und den "unbedenklichen" Fällen unterschieden werden. Das Unterscheidungskriterium soll dabei in der Beeinträchtigung der Autorität des Gemeinschaftsrechts liegen. 148 Der Grad einer Beeinträchtigung offenbart sich nach der hier vertretenen Ansicht maßgeblich durch die Art und Weise seiner Befolgung durch die Mitgliedstaaten. Die "unbedenklichen" Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht lassen sich in der Regel bereits im Vorverfahren oder

144

145 146 147

148

Gaster, S. 66. Siehe nur die Nachweise oben Wlter 3. Siehe dazu oben Wlter 3. Siehe dazu oben Wlter 2. b) cc). Vgl. dazu auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (63).

B. "Zentrale" Ansätze

233

sogar bereits in dessen Vorfeld einvernehmlich beseitigen. 149 Verläuft aber das Vorverfahren erfolglos, könnte ein "bedenklicher" Fall gegeben sein. Das ist dann nicht der Fall, wenn eine bloße Meinungsverschiedenheit zwischen Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat über das Bestehen einer Vertragsverletzung vorliegt. Wenn jedoch abzusehen ist, daß ein Mitgliedstaat trotz eines dahingehenden Urteils des EuGH einen Vertragsverstoß nicht abstellen wird, weil dieser beispielsweise auf der Entscheidung eines unabhängigen mitgliedstaatlichen Gerichts beruhe 50 oder auf dem entgegenstehenden Willen des Mitgliedstaates (genauer: seiner Regierung)l5l, so besteht ein "bedenklicher" Fall. 152 Hier aber stößt das Vertragsverletzungsverfahren an seine Grenzen; in einem solchen Fall kann es einen Vertragsverstoß nicht abstellen. 153 Auch eine erneute Verurteilung des Mitgliedstaates in derselben Sache wegen eines Verstoßes gegen Art. 171 Abs. I EGV unterstreicht eher die Hilflosigkeit der Gemeinschaft. 154 Genau diesem Umstand wird die Einräumung eines Ermessens im Rahmen des Art. 169 Abs. 2 EGV gerecht, denn eine häufige Klageerhebung ohne Rücksicht auf die politischen und wirtschaftlichen Umstände in Verbindung \49 Vgl. auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (63) m.w.N., der seIbst auch die nach längerer Zeit nicht vorgenommene Befolgung eines Urteils nicht Wlbedingt als bedenklich einstuft. \50 Die Kommission hat bisher bei vertragswidrigen EntscheidWlgen von mitgliedstaatlichen Gerichten nur Wlter besonderen Umständen ein VertragsverletZlUlgsverfahren gemäß Art. 169 EGVeröffuet. Aufschlußreich dazu auch die Antwort der Kommission vom 22. Dezember 1978 auf die schriftliche Anfrage Nr. 608/78, ABI. 1979, C 28, S. 9 m.w.N. Danach soll das Verfahren nach Art. 169 EGV nur dann zur AnwendWlg kommen, "wenn die NichtanwendWlg des Art. 177 auf offensichtlicher Unkenntnis oder einer bewußten HaltWlg (eines mitgliedstaatlichen Gerichtes) beruht". Vgl. Ehlermann, in: FS fur Kutscher, S. 135 (153) m.w.N. Vgl. ferner ders., in: FS für Carstens, S. 81 (84). Vgl. schließlich auch Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 15 ff m.w.N. \5\ Siehe nur den berühmt gewordenen "Schaffleischfall", in dem Frankreich sich über ein Jahr hinweg weigerte, ein Urteil des EuGH zu befolgen, bis schließlich auf der politischen Ebene eine LÖSWlg gefimden werden konnte. Siehe nur EuGH, Urteil vom 25. September 1979, Rs. 232/78 (KommissionlFrankreich), Slg. 1979, S. 2729 (2736 ff) bzw. EuGH, Beschluß vom 28. März 1980, verb. Rs. 24 u. 97/80 R (KommissionlFrankreich), Slg. 1980, S. 1319 (1329 ff). Vgl. dazu Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (65); Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 139 (149 f) m.w.N.; ders., in: FS für Carstens, S. 81 (84). \52 Vgl. auch die weiteren Beispiele bei Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (63 ff)m.w.N. \53 Vgl. zu den "Grenzen des VertragsverletZlUlgsverfahrens" Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (152 f) m.w.N. \54 Ehlermann, in: FS für Carstens, S. 81 (83).

234

4. Teil: LösWlgsansätze

mit der bewußten, manifesten Weigerung eines Mitgliedstaates, seinen Vertragspflichten nachzukommen, könnte allzu rasch einen Autoritätsverlust des EuGH, ja des Gemeinschaftsrechts selbst herbeiführen. 155 Dies soll in diesem Maße jedoch nicht gelten, solange der EuGH einen Verstoß noch nicht förmlich festgestellt hat. 156 Demgegenüber steht aber auch die Befürchtung, daß der EuGH bzw. das Gemeinschaftsrecht dann einen erheblichen Autoritätsverlust erleiden, wenn die Kommission eklatante und heikle Verstöße ungeahndet läßt. 157 In jedem Fall wird es der Kommission durch die Einräumung des Ermessens im Hinblick auf die Anrufung des EuGH ermöglicht, auf Faktoren Rücksicht zu nehmen, die unabhängig vom konkreten Fall für die Existenz und das Fortkommen der Gemeinschaft wesentlich sind. 158 So wird der Widerstand der Kommission gegen die Verfolgung von Vertragsverletzungen dort größer sein, wo ein hoher Grad an jederzeit abrufbarem Konsens für eine erfolgreiche Politik der Gemeinschaft (zum Beispiel im Bereich einer gemeinsamen Marktordnung) notwendig ist, als anderswo, wo es dessen nicht unbedingt bedarf (zum Beispiel im Bereich der Wahrung der Grundsätze des freien Warenverkehrs).159 Es gilt somit gleichsam als Zwischenergebnis festzuhalten, daß sich das Vertragsverletzungsverfahren als geeignet erweist, die typischen und grundsätzlichen Vertragsverletzungen durch die Mitgliedstaaten abzustellen. Es gibt jedoch bestimmte, aber vereinzelte Konstellationen - mit steigender Tendenz -, in denen seine Anwendung nicht zum Erfolg führt. Im Gemeinschaftsrecht ist keine Möglichkeit einer zwangsweisen Durchsetzung von Urteilen gegen Mitgliedstaaten vorgesehen. 160 Grundsätzlich verweist Art. 187 EGV zwar auf Art. 192 EGV, nach herrschender Ansicht erfaßt diese Verweisung jedoch nicht Art. 192 Abs. 1 EGV, da sie nur das Zwangsvollstreckungsverfahren, nicht aber den Inhalt des Vollstreckungstitels betrifft. 161 ISS Vgl. auch Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (65) m.w.N. Ehlermann, in: FS für Carstens, S. 81 (83 f) m.w.N.; Ortlepp, S. 76. 156 Vgl. Ehlermann, in: FS für Carstens, S. 81 (83). 157 Vgl. Ortlepp, S. 76. Ähnlich offensichtlich auch Gaster, S. 66 m.w.N. 158 Vgl. dazu auch Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (152 f) m.w.N. 159 Vgl. dazu Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (137). 160 So auch Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften I, S. 907; Tsikrikas, S. 177. Siehe auch schon oben im 3. Teil Wlter B. 11 3. b) tl) bzw. in diesem Teil oben Wlter 3. 161 Vgl. R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 187 Rn. 3 bzw. 6.; Grabitz, in: Grabitz/Hil[, Kommentar zur EU, EL 2 (November 1988), Art. 187 EWGV Rn. 2 bzw. 5 m.w.N.; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 187 Rn. 2.

B. "Zentrale" Ansätze

235

Eine Zwangsvollstreckung gegen Mitgliedstaaten ist somit zunächst "nur" davon abhängig, inwieweit eine gerichtliche Entscheidung ihrem Wesen nach einer Vollstreckung überhaupt zugänglich ist. Dies ist bei den im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 f. EGV ergehenden "Feststellungsurteilen" nicht der Fall, weil diese gemäß Art. 171 EGV von den Mitgliedstaaten selber ausgeführt werden müssen. 162 Soweit Urteile gegen Mitgliedstaaten aber vollstreckbar sind, ist das nur nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts eines betroffenen Staates möglich. 163 Präzise formuliert bedeutet dies, daß eine Zwangsvollstreckung niemals ohne die Einwilligung des betroffenen Mitgliedstaates erfolgen kann. l64 Somit appelliert die Gemeinschaftsrechtsordnung im Endergebnis im Hinblick auf den vertragsgemäßen Vollzug des Gemeinschaftsrechts doch "nur" an den allgemeinen Rechtsbefolgungswillen der Mitgliedstaaten. 165 An dieser Stelle sollte jedoch nicht der Verweis darauf fehlen, daß auch staatliche Verfassungsgerichte im Prinzip über keinerlei Zwangsmittel verfiigen. 166 An eine Ermächtigung der Gemeinschaft, Entscheidungen in den und gegen die Mitgliedstaaten gegen deren Willen vollstrecken zu können, zumindest soweit, wie das möglich wäre, ist auf unabsehbare Zukunft nicht zu denken. 167 Wie bereits ausgeführt, entspricht dieser Zustand in jeder Hinsicht der Struktur der Gemeinschaft im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. 168

162 Vgl. Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 187 Rn. 4; Pieper, in: ClausnitzerlPieper/Schol/meier, EG-Recht in der Anwaltskanzlei, S. UO. 163 Vgl. Gündisch, Rechtsschutz, S. 76; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 187 Rn. 8; Spannowsky, JZ 1994, S. 326 (331). 164 AA Tsikrikas, S. 176 f, der bereits die gnmdsätzliche Vollstrecklmgsmöglich-

keit von Urteilen nach Maßgabe des Art. 169 EGV verneint, weil das in Art. 192 (i.Y.m. Art. 187) EGV geregelte VollstreckWlgsvetfahren lediglich der zwangsweisen DurchsetZWlg von auf LeistWlgen gerichteten EntscheidWlgen des EuGH dient, nicht aber der von FeststellWlgsurteilen. AA ist ebenfalls Daig, in: GIB, EWGV, Art. 187 Rn. 3. 165 So Ortlepp, S. 132 f; Tsikrikas, S. 177 jeweils m.w.N. 166 Vgl. Ortlepp, S. 134 f[ bzw. S. 187 jeweils m.w.N., zu den Möglichkeiten der UrteilsdurchsetZWlg des BVerfG bzw. des US-Supreme Court; die sind beide diesbezüglich in jedweder Hinsicht von der jeweiligen Exekutive abhängig. 167 Vgl. Ehlermann, in: FS fiir Carstens, S. 81 (83) m.w.N. GTWldsätzlich kritisch gegenüber der gemeinschaftlichen DurchsetZWlgsmacht Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (74). 168 Siehe nur oben im 3. Teil Wlter B. ll. 1.

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4. Teil: LöslUlgsansätze

c) Das Vertragsverletzungsverfahren als lnstrumentfor die Gewährleistung eines effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten

Bei den Überlegungen zur Frage, ob sich das Vertragsverletzungsverfahren als Instrument für die Gewährleistung eines effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten eignet, sind verschiedene Aspekte zu beachten. Zunächst ist festzuhalten, daß es sich beim Vertragsverletzungsverfahren um einen Akt der nachträglichen Kontrolle handelt.!69 Somit hält die Kommission mit dem Instrument des Vertragsverletzungsverfahrens im Prinzip kein direktes präventives Steuerungsmittel des Verwaltungsvollzuges der Mitgliedstaaten in Händen. l7O Insoweit ist "lediglich" zu unterscheiden zwischen den Einwirkungen auf das mitgliedstaatliche Vollzugsverhalten, die allein aufgrund des Existenz des Vertragsverletzungsverfahrens bzw. aufgrund der Möglichkeit, daß die Gemeinschaft von ihm Gebrauch zu machen vermag, bestehen, sowie denen, die auf einem das Vertragsverletzungsverfahren abschließenden eine mitgliedstaatliche Vertragsverletzung feststellenden Urteils des EuGH beruhen. Das Vertragsverletzungsverfahren stellt ein formalisiertes Streitschlichtungsverfahren dar. Es repräsentiert insoweit eine Form von "Streitkultur", indem es rechtliche Verfahrensmodalitäten für den Fall vorgibt, daß sich die Streitparteien nicht "gütlich" über die Auslegung oder die Art und Weise des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht einigen können. Zwar sind die gegen die Mitgliedstaaten gerichteten Entscheidungen des EuGH im Ergebnis nicht vollstreckbar, aber sie beinhalten eine abschließende "gutachterliche" Stellungnahme für den konkreten Einzelfall, an die beide Seiten rechtlich gebunden sind, ohne daß diese befürchten müßten, durch eine gegen sie gerichtete Entscheidung "ihr Gesicht zu verlieren". Letzteres kann aber für einen Mitgliedstaat mit der zunehmenden Häufigkeit von Verurteilungen wegen Verstoßes gegen seine Vollzugspflichten geschehen. Dieses abzuwenden vermag dem Vertragsverletzungsverfahren eine Art Abschreckungsfunktion zu vermitteln, die bewirkt, daß mancher Mitgliedstaat seine Anstrengungen, Gemeinschaftsrecht gemeinschaftsrechtskonform zu vollziehen, erhöht. Doch befindet man sich hier im Bereich der Spekulation. Es ist wahrscheinlicher, daß die Motivation, Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß zu vollziehen, schlichtweg auf dem Rechtsbefolgungswillen der Mitgliedstaaten beruht.!7! Sieht man jedoch darin eine Schwäche des 169 Vgl. auch Klösters, S. 45 bzw. S. 87. Siehe ferner schon oben im 3. Teil lUlter B. II. 3. b) dd). 170 Klösters, S. 45. 171 VgJ. auch Rengeling/Middeke/Gellermann, Rn. 118.

B. "Zentrale" Ansätze

237

in erster Linie der Aufrechterhaltung der objektiven Gemeinschaftsordnung dienenden Vertragsverletzungsverfahrens 172 , so hat man das Wesen dieses auf völkerrechtlichen Grundsätzen beruhenden und die Souveränität der Mitgliedstaaten schonenden Verfahrens zu berücksichtigen, bei dem jeder weitere Verfahrensschritt als "ultima ratio" anzusehen ist. 173 Besonders das Vorverfahren gemäß Art. 169 Abs. 1 EGV dient dazu, dem Mitgliedstaat die Möglichkeit zu geben, eine Vertragsverletzung selbst aus eigenem Antrieb heraus zu beseitigen. Es bleibt festzustellen, daß das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 169 EGV zumindest in den "unbedenklichen" Fällen, wenn man von dem Verzögerungseffekt absieht, sehr wohl ein Instrument für die Gewährleistung eines effizienten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten sein kann. Denn die Mitgliedstaaten werden, wenn eine "gütliche" Einigung im Vorfeld wegen Meinungsverschiedenheiten nicht herbeigeführt werden kann, entweder direkt anhand der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission oder indirekt im Urteil des EuGH abschließend auf Wege hingewiesen, wie sie im Sinne der Gemeinschaft eigene Vertragsverstöße beseitigen. Insoweit ergänzt das Vertragsverletzungsverfahren nicht zuletzt in sinnvoller Art und Weise den Ansatz der Kommission zur "Zusammenarbeit der Verwaltungen". 174

d) Zusammenfassung Generell hat man festzustellen, daß insbesondere die Mängel des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 169 EGV ein erhebliches Gewicht haben, weil es sich eben um das "schärfste" Instrument der von der Kommission wahrgenommenen "zentralen" Kontrolle handelt. Zwar ist es grundsätzlich geeignet, in den festgestellten Fällen für eine Beseitigung des Verstoßes zu sorgen 175 , nicht aber ist es geeignet, all die Bagatellfälle bzw. die unbekannt bleibenden Fälle von Vertragsverletzungen zu verhindern. Auch für die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten bewußt Vertragsverletzungen begehen und diese nicht abstellen, vermag das VertragsverletzungsverfahBleckmann, in: ders., Emoparecht, Rn. 511. Vgl. zu den Gnmdprinzipien des Völkerrechts über die BeziehWlgen zwischen Staaten Wld insbesondere zwn Gnmdsatz von der Pflicht ZW" AchtWlg der Rechtspersönlichkeit anderer Staaten nm Gloria, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 26 Rn. 1 ff. (13 ff.). 174 Siehe dazu oben Wlter 11. m So auch Ortlepp, S. 139 mit Zahlenbeispielen Wld weiteren Nachweisen. 172

173

238

4. Teil: Lösungsansätze

ren nichts auszurichten. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Existenz und die Funktionskraft der Gemeinschaft vom Willen der Mitgliedstaaten abhängen. 176 Gerade dieser Umstand zwingt die Kommission, das Vertragsverletzungsverfahren mit sehr viel Fingerspitzengefuhl zum Nutzen der Gemeinschaft einzusetzen. Diese Ausfuhrungen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Vertragsverletzungsverfahren im "Normfall" trotz der fehlenden Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung von Entscheidungen der Kommission oder des EuGH sehr effektiv ist. 177 Seine Hauptbedeutung hat es in den Fällen, in denen die Mitgliedstaaten auf unbeabsichtigte Vertragsverletzungen aufmerksam gemacht werden oder es Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, ob ein Vertragsverstoß vorliegt und der EuGH dies abschließend gerichtlich klärt. Es wird zudem besonders in den Bereichen seine Bedeutung behalten, in denen aufgrund ihrer komplexen Reglementierung eine vom Individualrechtsschutz losgelöste Gemeinschaftsaufsicht erforderlich ist. 178

IV. Repressive und präventive Einwirkungsmöglichkeiten der ~meinschaft auf die Mitgliedstaaten zur Erreichung eines effektiven Vollzugs von ~meinschaftsrecht 1. Die Vergabe von Gemeinschaftsgeldern als Instrument

zur Durchsetzung eines effektiven Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten

a) Einleitung Grundsätzlich ergibt sich aus dem primären Gemeinschaftsrecht nicht, in welchen Bereichen die Gemeinschaft Ausgaben tätigen darf oder sogar muß. 179 Auch die Ausgabenkompetenz findet sich dort nicht geregelt. Diese läßt sich jedoch aus dem Gesamtzusammenhang des EGV sowie aus jeder durch den EGV erfolgten Zuweisung bestimmter Aufgaben an sie erschließen. 18o Das bedeutet, daß die Gemeinschaft in allen ihr zugewiesenen Politikbereichen befugt ist, ihre Aufgaben durch die Bereitstellung und den Einsatz finanzieller Mittel Stein, in: Die Autorität des Rechts, S. 53 (70) m.w.N.; GelIermann, S. 122. Vgl. Gündisch, Rechtsschutz, S. 76. 178 Vgl. nur für den Agrarbereich Gaster, S. 66. 179 Vgl. dazu im einzelnen Pache, S. 51 m.w.N. 180 Vgl. dazu im einzelnen Magiera, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 199 EGV Rn. 10 m.w.N. 176

m

B. "Zentrale" Ansätze

239

zu erfüllen, insofern die hier getätigten Ausgaben sachdienlich und angemessen sind. 181 Der Umfang des Haushalts der Gemeinschaft wird 1996 86,5 Mrd. ECU betragen nach 80,8 Mrd. ECU im Jahre 1995. 182 Davon sollen für die Gemeinsame Agrarpolitik 40,8 Mrd. ECU (1995: 37,9 Mrd. ECU)183 und für die StrukturfonM 84 29,1 Mrd. ECU (1995: 26, 3 Mrd. ECU) ausgegeben werden. Somit werden im Jahre 1996 wie auch schon im Jahre 1995 nahezu 80 % der Gemeinschaftsausgaben auf Subventionen an die Mitgliedstaaten bzw. an die privaten Marktteilnehmer entfallen. 18s An dieser Stelle soll nun überlegt werden, ob und inwieweit sich die Vergabe von Gemeinschaftsgeldern als Instrument zur Durchsetzung eines effektiven Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten eignet. Es ist der Gemeinschaft gestattet, die Verwendung ihrer finanziellen Mittel insbesondere im Bereich der Fondsverwaltungen durch sekundäres Gemeinschaftsrecht zu regeln. Ein Verstoß gegen solche Regeln kann dazu führen, daß ein Mitgliedstaat oder ein privater Marktteilnehmer l86 finanzielle Konsequenzen hinzunehmen hat. Möglicherweise verfügt die Gemeinschaft durch die berechtigte Verweigerung von finanziellen Mitteln für den Fall, daß ein Mitgliedstaat einen entsprechenden Verstoß gegen das einschlägige Gemeinschaftsrecht begangen hat, über ein wirksames Druckmittel, mit dessen Hilfe sie die betrofVgl. Pache, S. 52 m.w.N. Siehe zum Haushalt 1996 und auch zu den nachfolgenden Ausfiihnmgen EUNachrichten (Europäische KommissionlVertretung in der Bundesrepublik Deutschland) NI. 2/1996, S. 3; siehe im Hinblick auf den Haushalt fur das Jahr 1995 EU-Nachrichten (Europäische KommissionlVertretung in der Bundesrepublik Deutschland) NI. 12/1995, S. 2. 183 Damit lag der Ansatz fur diesen Haushaltsposten im Jahre 1995 erstmals in der Geschichte der Gemeinschaft unter 50 % des Gesamtansatzes fur die Gemeinschaftsausgaben, wobei dieser Trend im Jahre 1996 anhält. Tatsächlich machten die Ausgaben fur die Gemeinsame Agrarpolitik im Jahre 1994 nur 49,4 % (32,97 Mrd. ECU) der Gesamtausgaben der Gemeinschaften (66,8 Mrd. ECU) aus. Siehe Europäische Gemeinschaften, Finanzbericht 1994, S. 18. Es ist jedoch daraufhinzuweisen, daß auch Gelder aus den Struktwionds in die Landwirtschaft ("Agrarstrukturpolitik") fließen. Vgl. dazu Streinz, Europarecht, Rn. 786; Magiera, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 115 (153 ff) m.w.N. 184 Siehe zu den Strukturfonds auch unten unter c). 185 Vgl. zum Anteil der Subventionen im Verhältnis zum Gesamthaushalt der Gemeinschaft in der Vergangenheit auch Magiera, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 199 EGV Rn. 12 m.w.N. 186 Privaten Marktteilnehmern entstehen beispielsweise in den Fällen Verluste, in denen von ihnen geleistete Sicherheiten verfallen. Solche Sicherheiten sollen im Regelfall zur Abdeckung von fmanziellen Risiken der Verwaltung - insbesondere zur Sicherung der Rückzahlung von zu Unrecht ausgezahlten Gemeinschaftsgeldern - dienen. Vgl. dazu ausführlich Pache, S. 254 ff. bzw. S. 261 ff 181

182

240

4. Teil: Lösungsansätze

fenen Mitgliedstaaten zu einem gemeinschaftsrechtskonformen Verhalten anhalten kann. Es würde sich dabei im übrigen "lediglich" um eine von der Gemeinschaft gegen einen Mitgliedstaat ergriffene "Sanktion im weiteren Sinne" handeln, nicht aber um eine "Sanktion im engeren Sinne"187. Denn die schlichte Verweigerung von finanziellen Mitteln wegen eines Verstoßes gegen das die Mittelvergabe reglementierende Gemeinschaftsrecht geht nicht über die Wiederherstellung oder die erstmalige Herstellung eines rechtmäßigen Zustandes hinaus. 188 Nachfolgend soll nun auf verschiedene einschlägige Beispiele der gemeinschaftlichen Fondsverwaltung eingegangen werden. 189

b) Das ''Rechnungsabschlußverfahren'' als Instrument zur Durchsetzung eines effektiven Vol/zugs von Gemeinschaftsrecht

aa) Einleitung Bereits 1962 wurde durch die "Verordnung Nr. 25 über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik" vom 4. April 1962 190 auf der Grundlage der Art. 40 Abs. 4 und 43 EWGyt91 ein einheitlicher Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) zur Finanzierung der Gemein-

187

Siehe zu diesen insbesondere unten unter 2 a).

188 VgI. auch die Auffassung der Kommission, die ihren Niederschlag findet in Art. 4 Abs. I des von ihr vorgelegten "Vorschlag(s) für eine Verordnung (EWG) des Rates über Kontrollen und Sanktionen im Rahmen der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik", KOM (90) 126 endg. vom 8. Mai 1990, S. 6 f. i.Y.m. der "Änderung des Vorschlags für eine Verordnung (EWG) des Rates über Kontrollen und Sanktionen im Rahmen der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik", KOM (91) 378 endg. vom 25. Oktober 1991, S. 4 f. Dazu Pache, S. 293 f. Ähnlich auch Heine, in: Lebensmittelstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der Europäischen Union, S. 23 (24), nach dessen Ansicht man nicht von einer Sanktion sprechen sollte, wenn sich eine Maßnahme darauf beschränkt, "einen Vorteil oder eine Möglichkeit, die das Recht unter bestimmten Voraussetzungen einräwnt, zu entziehen, wenn die Bedingungen nicht eingehalten werden." VgI. aber Ehlermann, in: FS für Kutscher, S. 135 (151); Karpenstein, Die Finanzierung der Agrarpolitik der EG, S. 19; Scheuing, EuR 1985, S. 229 (256); Pache, S. 286; Prieß/Spitzer, EuZW 1994, S. 297 (301). Diese verwenden alle den Begriff der Sanktion unterschiedslos. Siehe zum Begriff der "Sanktion" schließlich auch die Ausfiihrungen unten unter 2. a). 189 Grundlegend dazu auch Jakob, S. 92 ff. 190 ABI. 1962, S. 991 ff., zuletzt geändert durch die "Verordnung (EWG) Nr. 728/70 des Rates vom 21. April 1970 zur Festlegung ergänzender Vorschriften für die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik", ABI. 1970, L 94, S. 9 ff. 191 Jetzt: Art. 40 Abs. 4 und 43 EGY.

B. "Zentrale" Ansätze

241

samen Agrarpolitik (Art. 39 EGVY 92 geschaffen. 193 Der EAGFL ist jedoch kein Fonds im strengen Sinne, weil er weder eine eigene Rechtspersönlichkeit noch ein eigenes Fondsvermögen besitzt. l94 Seit 1970 wird er als unselbständiger Teil des Gemeinschaftshaushaltes geführt. 195 Der EAGFL besteht aus der Abteilung "Garantie", welche die marktpolitischen Ausgaben trägt, und der Abteilung "Ausrichtung", die strukturpolitische Ausgaben finanziert. 196 Die Grundsätze für die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik wurden zunächst global in der Verordnung Nr. 729/70 festgelegtl9\ seit der Reform der Strukturfonds folgt die Finanzierung struktureller Maßnahmen jedoch speziellen Regeln. 198 Somit steht nachfolgend die Abteilung "Garantie" im Mittelpunkt der Darstellung, welche sowohl die Ausfuhrerstattungen als auch die Marktinterventionen der Gemeinschaft, die in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten vorzunehmen bzw. zu gewähren sind, finanziert. 199 Der Vollzug der Agrarfinanzierung aus 192 Vgl. zu den Zielen Wld Inhalten der Gemeinsamen Agrarpolitik Eiden, DVBl. 1988, S. 1087 ff.; ders., in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1582 ff.; Magiera, in: Europäisches VelWaltWlgsrecht, S. 115 (127); Streinz, Europarecht, Rn. 759 ff. 193 Vgl. dazu auch Karpenstein, Die FinanzierWlg der Agrarpolitik der EG, S. 4; Jakob, S. 92; Eiden, DVBl. 1988, S. 1087 (1092) m.w.N.; Oppermann, Europarecht, Rn. 1259 f; Magiera, in: Europäisches VelWaltWlgsrecht, S. 115 (127 f) m.w.N.; Gilsdoifl Priebe, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 98. 194 Vgl. auch Kummer, in: GTE, EWGV, Art. 40 Rn. 53; Magiera, in: Europäisches VelWaltWlgsrecht, S. 115 (128); Streinz, Europarecht, Rn. 785. 195 Siehe auch Art. 1 Abs. 1 Satz 1 der "VerordnWlg (EWG) Nr. 729170 des Rates vom 21. April 1970 über die Finanzienmg der gemeinsamen Agrarpolitik", ABI. 1970, L 94, S. 13 (14). Die VerordnWlg (EWG) Nr. 729170 wurde mehrfach geändert, zuletzt durch die "VerordnWlg (EG) Nr. 1287/95 des Rates vom 22. Mai 1995 zur ÄnderWlg der VerordnWlg (EWG) Nr. 729170 über die FinanzierWlg der Gemeinsamen Agrarpolitik", ABI. 1995, L 125, S. 1 ff. Vgl. dazu Magiera, in: Europäisches VelWaltWlgsrecht, S. 115 (128 bzw. 129 ff.) m.w.N. 196 Siehe Art. 1 Abs. 2 Wld 3 der VerordnWlg (EWG) Nr. 729170, ABI. 1970, L 94, S. 13 (14). Vgl. dazu auch Jakob, S. 92; Kummer, in: GTE, EWGV, Art. 40 Rn. 71; Streinz, Europarecht, Rn. 786. 197 Vgl. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (58); Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1628 ff.; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 40 Rn. 48. 198 Vgl. dazu Magiera, in: Europäisches VelWaltWlgsrecht, S. 115 (153 ff.) m.w.N.; GilsdoiflPriebe, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 98 m.w.N.; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 40 Rn. 48. Siehe zu den Struktwfonds Wlten Wlter c). 199 Siehe Art. 2 Abs. 1 Wld Art. 3 Abs. 1 (" ... nach Gemeinschaftsvorschriften ... ") der VerordnWlg (EWG) Nr. 729170, ABI. 1970, L 94, S. 13 (14). Vgl. dazu Jakob, S. 92; Magiera, in: Europäisches VelWaltungsrecht, S. 115 (128 f) m.w.N.; GilsdoiflPriebe, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 101.

16 Pühs

242

4. Teil: Lösungsansätze

den Mitteln der Abteilung "Garantie" gegenüber den einzelnen Marktteilnehmem erfolgt durch die Mitgliedstaaten, die ohnehin im Ansatz die gesamte gemeinschaftliche Agrarpolitik durchführen. 20o Diese von den Mitgliedstaaten vorgenommen Ausgaben sind nach Ende eines Haushaltsjahres Gegenstand des gemeinschaftlichen "Rechnungsabschlußverfahrens" .201 Die Gemeinsame Agrarpolitik gehört im übrigen nicht zum Bereich des Binnenmarktes202 , so daß hier auch untersucht werden soll, ob sich Mechanismen aus anderen Politikbereichen für die Herstellung oder die Verwaltung des Binnenmarktes eignen.

bb) Die rechtlichen Grundlagen und das Wesen des "Rechnungsabschlußverfahrens" Die rechtlichen Grundlagen des "Rechnungsabschlußverfahrens"203 selbst finden sich in den Art. 2 und 3 sowie in Art. 5 Abs. 2 b) der Verordnung NT. 729170 des Rates vom 21. April 197~04, aber auch in der Verordnung (EG) Nr. 1663/95 der Konunission vom 7. Juli 1995205.206 Während Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung NT. 729170 festlegen, daß den Mitgliedstaaten nur die "nach den Gemeinschaftsvorschriften" erfolgten Erstattungen und In-

200 VgI. dazu Magiera, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 115 (132 f); Gilsdorf, in: GSfiir Grabitz, S. 77 (98 ff)jeweils m.w.N. VgI. auch Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1118) m.w.N. 201 Siehe Art. 5 Abs. 2 b) der Verordnung (EWG) Nr. 729170, ABI. 1970, L 94, S. 13 (15), in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1287/95, ABI. 1995, L 125, S. 1 (3). Siehe auch die "Verordnung (EG) Nr. 1663/95 der Kommission vom 7. Juli 1995 mit Durchführungsbestimmungen zu der Verordnung (EWG) Nr. 729170 des Rates bezüglich des Rechnungsabschlußverfahrens des EAGFL, Abteilung Garantie", ABI. 1995, L 158, S. 6 ff 202 Streinz, Europarecht, Rn. 915. Siehe aber auch schon oben im 2. Teil unter I. 3. 203 Das Rechnungsabschlußverfahren wird in der Literatur zum Teil auch als "Anlastungsverfahren" bezeichnet. VgI. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (52); Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1119). 204 ABI. 1970, L 94, S. 13 (14), in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1287/95, ABI. 1995, L 125, S. 1 (2 f). VgI. dazu auch Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1119); Jakob, S. 93; Pache, S. 283. 205 ABI. 1995, L 158, S. 6 ff 206 Siehe dazu auch Rechnungshof, Sonderbericht (Bemerkungen) über den Rechnungsabschluß des EAGFL, Abteilung Garantie. Das Rechnungsabschlußverfahren und seine Funktionsweise, ABI. 1982, C 313, S. 1 (12). Dieser Bericht wird nachfolgend zitiert als: Rechnungshof, Sonderbericht, ABI. 1982, C 313.

B. "Zentrale" Ansätze

243

terventionen von der Gemeinschaft ersetzt werden207 , wird in Art. 5 Abs. 2 b) der Verordnung Nr. 729/70 sowie in der Verordnung Nr. 1723/72 konkret das "Rechnungsabschlußverfahren" geregelt. Das "Rechnungsabschlußverfahren" soll die Durchführung der Gemeinsamen Agrarpolitik sicherstellen, indem die Mitgliedstaaten, denen die Durchführung der Agrarpolitik nahezu ausschließlich obliegf°8, mit seiner Hilfe angehalten werden, Gemeinschaftsmittel, die zur Finanzierung gemeinschaftsrechtlich vorgesehener Interventionen und Ausfuhrerstattungen vorgesehen sind, nicht entgegen den Vorgaben der Gemeinschaft zu verausgaben. 209 Zu einem gemeinschaftsrechtskonformen Verhalten sind die Mitgliedstaaten im übrigen nach dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 5 Abs. 2 EGV)210 ohnehin bereits verpflichtet. 211 Im "Rechnungsabschlußverfahren" wird somit die Höhe der von den Mitgliedstaaten im Verlaufe eines Jahres für Interventionen zur Regulierung der Agrarmärkte und für Erstattungen bei der Ausfuhr von Agrarprodukten in dritte Länder getätigten Ausgaben überprüft. 212 Der wesentliche Kern des "Rechnungsabschlußverfahrens" besteht nun darin, daß die Kommission als zuständige Gemeinschaftsbehörde festlegt, ob bestimmte Ausgaben vom EAGFL, Abteilung "Garantie", übernommen werden oder ob sie aus noch näher darzustellenden Gründen dem jeweiligen Mitgliedstaat "anzulasten"2I3 sind. 214

Siehe auch oben lUlter aa). Vgl. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (53); Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1118) m.w.N.; Eiden, DVBI. 1988, S. 1087 (1093 f.) m.w.N. 209 VgI. auch Pache, S. 279. 210 Siehe dazu nur oben im 2. Teil lUlter C. I. 2. 211 So auch Pache, S. 279 m.w.N. 212 Pache, S. 279 bzw. S. 283 f. 213 Siehe Art. 8 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz der VerordnlUlg (EWG) Nr. 729170, ABI. 1970, L 94, S. 13 (16). Vgl. dazu auch GilsdorflPriebe, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 116. 214 Die GrWldregeln für die AnwendlUlg des Art. 8 der VerordnlUlg (EWG) Nr. 729170, ABI. 1970, L 94, S. 13 (16), fmden sich zum aktuellen Zeitpunkt in der "VerordnlUlg (EWG) Nr. 595/91 des Rates vom 4. März 1991 betreffend Unregelmäßigkeiten lUld die WiedereinziehlUlg zu Unrecht gezahlter Beträge im Rahmen der FinanziefWlg der gemeinsamen Agrarpolitik sowie die EinrichtlUlg eines einschlägigen Infonnationssystems lUld zur AutheblUlg der VerordnlUlg (EWG) Nr. 283/72", ABI. 1991, L 67, S. 11 f[ Siehe im übrigen auch Art. 1 Nr. 4 der VerordnlUlg (EG) Nr. 1287/95, ABI. 1995, L 125, S. 1 (3). 201

208

244

4. Teil: Lösungsansätze

cc) Zum Modus der Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik bzw. zu den Modalitäten des "Rechnungsabschlußverfahrens" Die Finanzierung der vom EAGFL, Abteilung "Garantie", aufzubringenden Ausfuhrerstattungen und Marktinterventionen erfolgt über mitgliedstaatliche Zahlstellen. 2I5 Diese bestreiten die betreffenden Ausgaben an die Wirtschaftsbeteiligten im eigenen Namen und in eigener Verantwortung, aber für Rechnung der Gemeinschaft. 216 Für die laufende Finanzierung dieser Ausgaben durch die Mitgliedstaaten stellt die Gemeinschaft vorläufig Mittel bereit; die Modalitäten solcher gemeinschaftlichen Vorschußzahlungen haben sich dabei verschiedentlich geändert. 217 Insbesondere die von den mitgliedstaatlichen Zahlstellen vorgenommenen Ausgaben sind nach Ende eines Haushaltsjahres Gegenstand des gemeinschaftlichen "Rechnungsabschlußverfahrens" .z18 Dabei erkennt die Kommission in eigener Verantwortung nach einfacher Anhörung des EAGFLAusschusses219 im Ralunen eines sehr umfangreichen und lediglich teilweise verordnungsrechtlich geregelten Verfahrens220 aber nur solche Ausgaben an, die in Übereinstimmung mit den Gemeinschaftsregelungen vorgenommen worden sind. 221 Liegt eine solche Übereinstimmung nicht vor, so haben die betrof215 Siehe Art. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 729/70, ABl. 1970, L 94, S. 13 (14), in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1287/95, ABl. 1995, L 125, S. 1 (2). Vgl. dazu auch Karpensfein, Die Finanzierung der Agrarpolitik der EG, S. 15; Scherer, EuR 1986, S. 52 (53 f) m.w.N.; Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1119); Kummer, in: GTE, EWGV, Art. 40 Rn. 54 f; GilsdorflPn'ebe, in: Grabifz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 103. 216 GilsdorflPriebe, in: Grabifz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGVRn.104. m Siehe dazu die Nachweise bei Karpensfein, Die Finanzierung der Agrarpolitik der EG, S. 16; Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1119); Pache, S. 282, bzw. bei GilsdorflPn'ebe, in: Grabifz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 103a. 218 Siehe Art. 5 Abs. 2 b) und c) der Verordnung (EWG) Nr. 729/70, ABl. 1970, L 94, S. 13 (14), in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1287/95, ABl. 1995, L 125, S. 1 (3). Siehe aber auch die Verordnung (EG) Nr. 1663/95, ABl. 1995, L 158, S. 6 ff Vgl. dazu Pache, S. 284 f; GilsdorflPriebe, in: Grabifz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 105. 219 Siehe zur Zusammensetzung und zu den Aufgaben des EAGFL-Ausschusses die Art. 7 Abs. 1 bzw. 11 ff der Verordnung (EWG) Nr. 729/70, ABl. 1970, L 94, S. 13 (17). Vgl. dazu auch Magiera, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 115 (132 f). 220 Vgl. dazu nur Scherer, EuR 1986, S. 52 (58 bzw. 60 ff) m.w.N.; Eiden, DVBl. 1988, S. 1087 (1092 f); Pache, S. 284 f m.w.N. Obwohl der Ablauf des "Rechnungsabschlußverfahrens" kaum rechtlich geregelt ist, wird seine Ausgestaltung vom EuGH gebilligt. Vgl. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (61 f) m.w.N.; Pache, S. 285. 221 Vgl. zum Inhalt der diesbezüglichen Prüfung durch die Kommission Scherer, EuR 1986, S. 52 (58) m.w.N. Siehe auch die Grundsätze, von denen sich die Kommission bei der Erstellung des jährlichen "Rechnungsabschlusses" leiten läßt, bei Karpen-

B. "Zentrale" Ansätze

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fenen Mitgliedstaaten die von ihnen getätigten Ausgaben selbst zu tragen. 222 Es kommt dabei nicht auf die Vorwertbarkeit oder ein Verschulden des Mitgliedstaates bzw. seiner Verwaltung an. 223 Im übrigen findet neben der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausgaben auch eine sogenannte "Systemprüfung" statt?24 In ihr wird kontrolliert, ob die von den mitgliedstaatlichen Stellen zur Durchführung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts erlassenen Vorschriften so gestaltet sind, daß die ständige Einhaltung der Vorschriften der Gemeinschaft gewährleistet ist. Ähnlich wie in der Abteilung "Garantie" des EAGFL verhält es sich hinsichtlich der Kontrolltätigkeit der Kommission auch bei den agrarstrukturpolitischen Ausgaben, die von der Gemeinschaft jedoch nur anteilig durch die Abteilung "Ausrichtung" finanziert werden. 225 Im übrigen aber werden in dieser Abteilung in vergleichsweise eher unbedeutendem Umfang Ausgaben getätigt.226 stein, Die Finanzienmg der Agrarpolitik der EG, S. 20 ff Vgl. schließlich zur Behandhmg der verschiedenen Kategorien fehlerbehafteter Ausgaben in diesem Rahmen Mägele, NJW 1987, S. U18 (U21 f). 222 Siehe nur EuGH, Urteil vom 27. Februar 1985, Rs. 55/83 (ltalien/Kommission), Slg. 1985, S. 683 (692 ff). Vgl. dazu Jakob, S. 93; Pache, S. 281. Bei manifesten Verstößen gestattet der EuGH eine "AnlastlUlg" bereits im Rahmen des monatlichen Vorschußverfahrens. Siehe dazu EuGH, Urteil vom 17. Oktober 1991, Rs. 342/89 (DeutschlandlKommission), Slg. 1991 I, S. 5031 (Rn. 16); EuGH, Urteil vom 17. Oktober 1991, Rs. 346/89 (Italien/Kommission), Slg. 1991 I, S. 5057 (Rn. 16). Vgl. auch Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 7. m Siehe nur EuGH, Urteil vom 7. Februar 1979, Rs. 11176 (Niederlande/Kommission), Slg. 1979, S. 245 (Rn. 8 ff); EuGH, Urteil vom 7. Februar 1979, Rs. 18/76 (Deutschland/Kommission), Slg. 1979, S. 343 (Rn. 7 ff). VgI. dazu auch Karpenstein, Die Finanzienmg der Agrarpolitik der EG, S. 17 f.; Scherer, EuR 1986, S. 52 (59 f); Mägele, NJW 1987, S. lU8 (U20); Pache, S. 284; GilsdorflPriebe, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 106 jeweils m.w.N. Kritisch gegenüber der RechtsprechlUlg des EuGHMägele, NJW 1987, S. lU8 (U20 f) m.w.N. Jedoch sieht Art. 8 Abs. 2 der VerordnlUlg (EWG) Nr. 729/70, ABI. 1970, L 94, S. 13 (16), von diesem Gnmdsatz sinngemäß dann eine Ausnahme vor, wenn Umegelmäßigkeiten auf dem Fehlverhalten eines begünstigten Marktteilnehmers beruhen. Vgl. auch Karpenstein, Die Finanzienmg der Agrarpolitik der EG, S. 18, Eiden, DVBI. 1988, S. 1087 (1092) bzw. Magiera, in: Europäisches VerwaltlUlgsrecht, S. U5 (134 f.) m.w.N. Schließlich ist eine Ausnahme von der BelastWlg der Mitgliedstaaten dann zuzulassen, wenn der Verstoß einem Gemeinschaftsorgan zuzurechnen ist. Vgl. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (71 f); GilsdorflPriebe, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. UO m.w.N. Siehe dazu aber lUlten lUlter dd). 224 VgI. dazu Eiden, DVBI. 1988, S. 1087 (1092) m.w.N.; ders., in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1633. 225 VgI. dazu nur Jakob, S. 93; Eiden, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1636. 226 VgI. Mägele, NJW 1987, S. lU8 (UI8); Streinz, Europarecht, Rn. 786jeweils m.w.N.

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4. Teil: LösWlgsansätze

Der Beschluß der Kommission über die Rechtmäßigkeit der von den Mitgliedstaaten vorgenommenen Ausgaben, welcher die Abhaltung von diversen schriftlichen und mündlichen Anhörungen des jeweiligen Mitgliedstaates voraussetzf2\ ergeht in der Rechtsform der Entscheidung im Sinne des Art. 189 Abs. 4 EG\p28, gegen die dem betroffenen Mitgliedstaat die Klagemöglichkeit nach Art. 173 EGV zusteht. 229

dd) Die Durchsetzung des Marktordnungsrechts mit Hilfe des "Rechnungsabschlußverfahrens" Die Durchsetzung des Marktordnungsrechts im Rahmen des "Rechnungsabschlußverfahrens" geschieht auf unterschiedliche Weise in entsprechend unterschiedlichen Fallgruppen. 23o Grundsätzlich gelten für Verstöße eines Mitgliedstaates gegen inhaltliche und verfahrensrechtliche Regeln des Marktordnungsrechts unterschiedliche "Anlastungsstandards" .231 Das Vorgehen der Kommission wurde vom EuGH in der Regel befürwortet, ja sogar in eine bestimmte Richtung gelenkt. 232 Demnach ist die Kommission sogar mangels eines eigenen Beurteilungsspielraums233 gezwungen, einem Mitgliedstaat bei jedem Verfahrensverstoß des Marktordnungsrechts den im Rahmen des betreffenden Verfahrens getätigten Ausgabebetrag "anzulasten".234 Und dort, wo zwischen zulässiDazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (60 ff) m.w.N. Siehe zum Inhalt der EntscheidWlg insbesondere Art. 7 der VerordnWlg (EG) Nr. 1663/95, ABI. 1995, L 158, S. 6 (9). 229 Vgl. dazu auch Scherer, EuR 1986, S. 52 (58) m.w.N.; Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1119); Eiden, DVBI. 1988, S. 1087 (1093) m.w.N.; ders., in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1634; Magiera, in: Europäisches VerwaltWlgsrecht, S. 115 (134); Pache, S.283. 230 VgI. insgesamt Mögele, NJW 1987, 1118 (1121 f); Scherer, EuR 1986, S. 52 (65 ff); GilsdorflPriebe, in: Grabitz/Hi/f, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 106 ff jeweils m.w.N. 231 VgI. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (65 ff) m.w.N. 232 Siehe dazu im einzelnen die Nachweise bei Scherer, EuR 1986, S. 52 (65 ff). 233 Siehe EuGH, Urteil vom 7. Februar 1979, verb. Rs. 15 u. 16/76 (FrankreichIKommission), Slg. 1979, S. 321 (Rn. 28). Vgl. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (71 bzw. 64). Vgl. aber ders., a.a.O., S. 64, zu Fällen, in denen die Kommission quasi zu einer "BilligkeitsentscheidWlg" geZWWlgen war. 234 Siehe nur EuGH, Urteil vom 7. Februar 1979, verb. Rs. 15 u. 16/76 (FrankreichlKommission), Slg. 1979, S. 321 (Rn. 10, 12 - 17); EuGH, Urteil vom 14. Januar 1981, Rs' 819/79 (DeutschlandlKommission), Slg. 1981, S. 21 (Rn. 8); EuGH, Urteil vom 27. Februar 1985, Rs. 55/83 (ltalienJKommission), Slg. 1985, S. 683 (692 ff); EuGH, Urteil vom 17. Oktober 1991, Rs. 346/89 (ItalienJKommission), Slg. 1991 I, S. 5057 (Rn. 12 ff). Vgl. dazu auch Scherer, EuR 1986, S. 52 (68); Weber, Rechtsfragen, 221

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B. "Zentrale" Ansätze

247

gen und unzulässigen Aufwendungen überhaupt keine Trennung möglich war, hat der EuGH sogar die gänzliche Zurückweisung der in Frage stehenden Erstattungsforderungen befürwortet. 235 Im übrigen hat sich der EuGH auch hinsichtlich der Aussetzung des Vollzugs einer die Kostenübernahme ablehnenden Entscheidung der Kommission generell sehr zurückhaltend verhalten. 236 Weil auch eine fehlerhafte Interpretation des Gemeinschaftsrechts zu Lasten der Mitgliedstaaten geht, richten diese in der Praxis häufig Anfragen zur Auslegung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts an die Kommission, um ihr Haftungsrisiko beim Rechnungsabschluß zu verringern. 237 Vor diesem Hintergrund gewinnen die einschlägigen "Mitteilungen" und "Informationsvermerke" der Kommission eine besondere Bedeutung, obwohl sie für die Mitgliedstaaten rechtlich nicht verbindlich sind. 238 Schließlich hat die Kommission keine Zuständigkeit im Hinblick auf die Interpretation des Gemeinschaftsrechts; sie ist vielmehr, will sie rechtsverbindlich vorgehen, an die in Art. 189 EGV vorgesehenen Handlungsformen der Verordnung und der Entscheidung, welche sich für die hier aufgezeigte Fallkonstellation am ehesten eignen würden, gebunden. 239 Dennoch kann ein Mitgliedstaat mit dem Argument der Einhaltung der in diesen Schreiben enthaltenen Anweisungen oder Vorschläge zur Auslegung von Gemeinschaftsrecht einen Entlastungsbeweis für etwaige Verstöße gegen S. 65; Gaster, S. 58 m.w.N.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGV Rn. 7. 235 Siehe EuGH, Urteil vom 7. Februar 1979, verb. Rs. 15 u. 16/76 (Frankreich! Kommission), Slg. 1979, S. 321 (Rn. 29 ff.). Vgl. dazu Ortlepp, S. 148 f m.w.N.; Gaster, S. 58; Karpenstein, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 7 (September 1994), Art. 169 EGVRn. 7. 236 Siehe die Nachweise auf die Rechtsprechung des EuGH bei GiIsdoiflPriebe, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 105. 137 Vgl. dazu Eiden, DVBI. 1988, S. 1087 (1093); Pache, S. 286 f; GiIsdorflPn'ebe, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 110 m.w.N. Siehe zur Bedeutung der "Auslegungsprobleme" auch Rechnungshof, Sonderbericht, ABI. 1982, C 313, S. 1 (17). 238 Scherer, EuR 1986, S. 52 (65 bzw. 72 ff.) m.w.N.; Kummer, in: GTE, EWGV, Art. 40 Rn. 60; GiIsdorflPriebe, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 110. Siehe dazu auch schon oben im 3. Teil unter B. 3. a.). Grundlegend unten unter 3. d). 239 Siehe dazu nur EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 133/79 (Sucrimex S.A und Westzucker GmbHIKommission), Slg. 1980, S. 1299 (Rn. 16 ff.); EuGH, Urteil vom 10. Juni 1982, Rs. 217/81 (Compagnie Interagra S.A.lKommission), Slg. 1982, S. 2233 (Rn. 8). Siehe aber auch die Nachweise oben im 3. Teil unter B. 3. a.). Vgl. dazu insgesamt Karpenstein, Die Finanzierung der Agrarpolitik der EG, S. 19 f; Scherer, EuR 1986, S. 52 (56 f); Pache, S. 287; GiIsdorflPriebe, in: Grabitz/Hilj, EL 6 (März 1994), Kommentar zur EU, Art. 40 EGV Rn. 104 bzw. 110.

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4. Teil: Lös\Dlgsansätze

Formvorschriften führen, so daß der finanziellen "Anlastung" der Mitgliedstaaten in diesen Fällen ein Vertrauenstatbestand im Wege steht. 240 In solchen Fällen ist daher der vermeintliche Verstoß dem Gemeinschaftsorgan "anzulasten"?41 An dieser Stelle ist einzuräumen, daß es sich beim "Rechnungsabschlußverfahren" jedoch nur insofern um ein effektives Instrument zur Durchsetzung des Marktordnungsrechts handelt, als es fahrlässiges oder aus Unkenntnis resultierendes Fehlverhalten sanktioniert. Wirkungslos ist es jedoch gegenüber der vorsätzlichen rechtswidrigen Vergabe von Subventionen durch die Mitgliedstaaten. In diesen Fällen vergeben die Mitgliedstaaten ganz bewußt entgegen dem Gemeinschaftsrecht Gelder und nehmen in Kauf, daß ihnen diese Beträge selbst "angelastet" werden. In einem solchen Fall verbleibt der Kommission "lediglich" die Möglichkeit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 169 EGV. 242

Auch wird die Rechtsdurchsetzung beeinträchtigt durch zahlreiche bürokratisch bedingte Verzögerungen und die daraus resultierenden Folgen?43 Dies hängt zum Beispiel mit den Fristen zusammen, innerhalb deren die Mitgliedstaaten die einschlägigen Unterlagen einzureichen haben, aber auch mit dem ausgedehnten gemeinschaftlichen Anhörungsverfahren. Im übrigen kann die Rechnungsabschlußentscheidung der Kommission aufgrund der an dieser Stelle nur in Stichpunkten begründeten Verzögerungen im Verwaltungsverfahren zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen zwischen Kommission und betroffenem Mitgliedstaat werden, was ihrer "Sanktionswirkung" mehr als abträglich ist. 244 240 So der EuGH in ständiger Rechtsprech\Dlg. Siehe nur EuGH, Urteil vom 25. November 1980, Rs. 820179 (Belgien/Kommission), Slg. 1980, S. 3537 (Rn. 12 f.). Vgl. dazu auch Karpenstein, Die Finanzief\Dlg der Agrarpolitik der EG, S. 19; Eiden, DVBI. 1988, s. 1087 (1093); ders., in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1635; GilsdoiflPriebe, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 110 m.w.N. 241 Siehe nur EuGH, Urteil vom 7. Februar 1979, Rs. 11176 (Niederlande/Kommission), Slg. 1979, S. 245 (Rn. 25); EuGH, Urteil vom 27. Januar 1981, Rs. 1251179 (Italien/Kommission), Slg. 1981, S. 205 (Rn. 19). Vgl. dazu auch Karpenstein, Die Finanzief\Dlg der Agrarpolitik der EG, S. 19; Scherer, EuR 1986, S. 52 (71); Magiera, in: Europäisches VerwaltlDlgsrecht, S. 115 (134); Scheuing, in: Innovation \Dld Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 (334 f.) m.w.N. 242 So Pache, S. 287 f. 243 Dazu im einzelnen Scherer, EuR 1986, S. 52 (62 ff) m.w.N. Üf\Dldlegend zu den Schwächen des "Recbn\Dlgsabschlußvexfahrens" sowie den Gründen dafür Rechnungshof, Sonderbericht, ABI. 1982, C 313, S. 1 (13 ff). 244 So Scherer, EuR 1986, S. 52 (64).

B. "Zentrale" Ansätze

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ee) Die Unterschiede des "Rechnungsabschlußverfahrens" und der Aufsichtsklage nach Art. 169 EGV Von der Aufsichtsklage nach Art. 169 EGV unterscheidet sich das "Rechnungsabschlußverfahren" insbesondere dadurch, daß an seinem Ende mit dem finanziellen Nachteil eine spürbare Wirkung für den Mitgliedstaat steht und nicht nur lediglich ein Feststellungsurteil nach Art. 171 Abs. 1 EGV?4S Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist das "Rechnungsabschlußverfahren" mit seinen möglichen finanziellen Nachteilen für die Mitgliedstaaten bei diesen wesentlich mehr gefürchtet als das Vertragsverletzungsverfahren nach den Art. 169 fI. EGV. 246 Ein weiterer Unterschied ergibt sich daraus, daß die Kommission bei der "Anlastung" grundsätzlich über keinen Beurteilungsspielraum verfügf4\ während es ihr freisteht, von einem Vertragsverletzungsverfahren Abstand zu nehmen, wenn der Mitgliedstaat zum Beispiel eine behauptete Vertragsverletzung beendet. 248

fi) Die Bewertung des "Rechnungsabschlußverfahrens"

Besonders Scherer zeigt auf, daß es sich beim "Rechnungsabschlußverfahren" nicht nur um ein rein buchhalterisches Modell, sondern vielmehr um ein eigenständiges Steuerungsinstrument der Kommission zur Disziplinierung der Mitgliedstaaten im Ausgabenbereich auf dem Agrarsektor handelt, der schließlich eine erhebliche finanzielle Bedeutung für die Gemeinschaft haf49 .2S0 Das 245 Scherer, EuR 1986, S. 52 (60). Vgl. auch Gaster, S. 57 f; Kummer, in: GTE, EWGV, Art. 40 Rn. 58 jeweils m.w.N. 246 So Karpenstein, Die Finanzienmg der Agrarpolitik der EG, S. 19; Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1120); Pache, S. 286. 241 Vgl. dazu Scherer, EuR 1986, S. 52 (71) m.w.N.; GilsdorflPriebe, in: Grabitz/ Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 106 m.w.N. Siehe auch schon oben unter dd). 248 Siehe nur EuGH, Urteil vom 7. Februar 1979, verb. Rs. 15 u. 16/76 (FrankreichIKommission), Slg. 1979, S. 321 (Rn. 27). So auch Scherer, EuR 1986, S. 52 (60) m.w.N. Vgl. ferner Gaster, S. 20 f m.w.N. Siehe zum restriktiv auszulegenden Ermessen der Kommission bei der Anrufimg des EuGH nach Art. 169 Abs. 2 EGV auch die Ausführungen oben unter IlI. 2. b) cc). 249 Siehe nur die den EAGFL, Abteilung "Garantie", betreffenden Nachweise, in: Europäische Gemeinschaften, Finanzbericht 1993, S. 19 ff. Siehe jetzt auch die Nachweise, in: Europäische Gemeinschaften, Finanzbericht 1994, S. 20 ff. Vgl. aber auch Pache, S. 281. 250 Vgl. nur Scherer, EuR 1986, S. 52 (57). Dazu Weber, Rechtsfragen, S. 65. Vgl. ferner Teske, EuR 1992, S. 265 (270); Prieß/Spitzer, EuZW 1994, S. 297 (301).

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4. Teil: LösWlgsansätze

"Rechnungsabschlußverfahren" ermöglicht nämlich die materielle Überprüfung der richtigen Anwendung des Marktordnungsrechts durch die Mitgliedstaaten, welches auch für diese von großer finanzieller Wichtigkeit ist,2s1 Eben aufgrund der umfangreichen Prüfungsbefugnisse der Kommission verbunden mit den für die Mitgliedstaaten möglichen negativen finanziellen Folgen ist die Charakterisierung des "Rechnungsabschlußverfahrens" als Steuerungsinstrument des mitgliedstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht zutreffend und von erheblicher Bedeutung für die Kommission. Bekanntlich verfügt die Gemeinschaft auf dem Sektor der Agrarpolitik wie auch generell nicht über gemeinschaftliche Organisationseinheiten zum Vollzug von (Marktordnungs-) Rechf 52 ; ferner finden sich kaum gemeinschaftsrechtliche Regelungen zur Einflußnahme auf das diesbezügliche mitgliedstaatliehe Verwaltungsverfahren. 253 Aufgrund dieser Gegebenheiten obliegt den Verwaltungen der Mitgliedstaaten die Durchführung der Gemeinsamen Agrarpolitik "in jeder Hinsicht" in fast ausschließlicher Verantwortung?54 Mit Hilfe des "Rechnungsabschlußverfahrens" gelingt es der Kommission aber trotz aller Schwächen, dafür Sorge zu tragen, daß Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten in gemeinschaftsrechtskonformer Weise Anwendung findet. 255 Insoweit kompensiert das "Rechnungsabschlußverfahren" im Rahmen einer rein ergebnisorientierten Betrachtungs251 So GilsdoiflPriebe, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 105. Vgl. aber auch Prieß/Spitzer, EuZW 1994, S. 297 (301). Für 1990 wurden im übrigen im Rahmen des "RecbnWlgsabsch1ußverfahrens" insgesamt 582, 6 Millionen ECU von gemeldeten 25.660 Millionen ECU nicht anerkannt. Siehe dazu den "23. Finanzbericht über den Europäischen AusrichtWlgs- Wld Garantiefonds fiir die Landwirtschaft EAGFL. AbteilWlg Garantie. - Haushaltsjahr 1993 -", KOM (94) 464 endg. vom 31. Oktober 1994, S. 91 ff. 252 Vgl. auch Scherer, EuR 1986, S. 52 (54); Gilsdorf, in: GS fiir Grabitz, S. 77 (98) m.w.N. Siehe dazu auch EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1971, verb. Rs. 51-54/71 (International Fruit Company NY ua./Produktschap voor groenten en fruit), Slg. 1971, 1107 (Rn. 3/4). Siehe zum "gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug" von Gemeinschaftsrecht aber insgesamt oben im 2. Teil unter C. I. 3. 253 Scherer, EuR 1986, S. 52 (54 f) m.w.N., spricht insoweit von einem "verfahrensrechtlichen Defizit". Siehe grundlegend dazu auch die AusfiUmmgen oben im 2. Teil unter C. II. 2. d) bb) (2). 254 Vgl. auch Pache, S. 280: "Die Europäischen Gemeinschaften fmanzieren die gemeinschaftliche Agrarpolitik, die Mitgliedstaaten fiihren sie durch." Siehe dazu schon oben Wlter bb). 255 Scherer, EuR 1986, S. 52 (60). Vgl. ferner Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1120) m.w.N.; Streinz, Europarecht, Rn. 476. Auch nach Ansicht von GilsdoiflPriebe, in: Grabitz/Hilj, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 110a, handelt es sich beim "RecbnWlgsabschlußverfahren" trotz Reformbedarfs "um ein außerordentlich wirkWlgsvolles Instrument der Kontrolle des mitgliedstaat lichen Vollzugs des gemeinschaftlichen Agrarrechts" .

B. "Zentrale" Ansätze

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weise die von Scherer so bezeichneten "organisations-" und "verfahrensrechtlichen Defizite" in diesem Bereich nahezu vollständig. 256 Aus genau diesem Grund verfügt die Gemeinschaft über ein wirksames Instrument, die Mitgliedstaaten nicht zuletzt auch mit Hilfe ihrer "Mitteilungen" und "Informationsvermerke" zur genauesten Anwendung des Gemeinschaftsrechts anzuhalten. 257 Das "Rechnungsabschlußverfahren" dient der Gemeinschaft somit auch dazu, in einem dezentral organisierten und daher störanfaIligen System wie dem der Gemeinsamen Agrarpolitik unmittelbar auf die Einhaltung der vom EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung aufgestellten Anforderung an den mitgliedstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht ("effet utile"258) sowie auf die "Einheitlichkeit" seiner Anwendung quasi bestimmenden Einfluß zu nehmen. 259 Die aufgezeigten Schwächen des "Rechnungsabschlußverfahrens"26o könnten durch eine intensivere Zusammenarbeit der betroffenen mitgliedstaatlichen Stellen mit der Kommission sowie durch die Einführung von mehr präventiven statt repressiven Elementen im Verfahren gemildert werden. 261 Letzteres könnte zum Beispiel durch einen gezielten Einsatz von "Interpretationsvermerken" durch die Kommission stattfinden?62 Zu überlegen ist nun, ob das Grundgerüst des "Rechnungsabschlußverfahrens" auch auf andere Bereiche der Gemeinschaftsrechtsordnung übertragen werden kann, insbesondere auf den des Binnenmarktes. Dies erscheint fraglich, da hier im Regelfall keine finanziellen Mittel fließen, mit deren Hilfe man einen dem Vorbild des "Rechnungsabschlußverfahrens" entsprechenden Anpassungszwang auf die mitgliedstaatlichen Verwaltungen beim Vollzug von entsprechendem Gemeinschaftsrecht ausüben könnte. Übertragbar ist das Modell 256 Scherer, EuR 1986, S. 52 (57). Vgl. jedoch ders., a.a.O., S. 62 ff., zu den "bürokratischen Grenzen der RechtsdurchsetZWlg". 257 VgL Scheuing, EuR 1985, S. 229 (256); Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1124); Jakob, S. 93; Pache, S. 285 ff.; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 40 Rn. 50. VgL auch Mögele, BayVBI. 1993, S. 552 (554), der insoweit im "RechnWlgsabschlußvetfahren" ein "wirksames rechtsaufsichtliches Instrument" sieht. Weber, Rechtsfragen, S. 65 f, spricht sogar davon, daß die Kommission "faktisch zur Rechts- Wld Fachaufsichtsbehörde der nationalen Dienststellen wird". 258 Siehe dazu grundlegend oben im 2. Teil Wlter C. 11. 2. d). 259 VgI. dazu Mögele, NJW 1987, S. 1118 (1120). VgI. auch Karpenstein, Die FinanziefWlg der Agrarpolitik der EG, S. 20. 260 Siehe dazu nur oben Wlter dd). GrWldlegend Rechnungshof, Sonderbericht, ABI. 1982, C 313, S. 1 ff. 261 VgI. dazu nur GilsdorflPriebe, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur EU, EL 6 (März 1994), Art. 40 EGV Rn. 110a. GrWldlegend Rechnungshof, Sonderbericht, ABI. 1982, C 313, S. 1 (22ff.). 262 VgI. Rechnungshof, Sonderbericht, ABI. 1982, C 313, S. 1(23 f).

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4. Teil: Lös\Dlgsansätze

des "Rechnungsabschlußverfahrens" auf die Strukturfonds?63 Im Bereich des Binnenmarktes führt der unterlassene oder gemeinschaftsrechtswidrige Vollzug von Gemeinschaftsrecht nicht zu einem finanziellen Nachteil für den betroffenen Mitgliedstaat, sondern das gemeinschaftsrechtskonforme Verhalten bewirkt in der Regel für einen Mitgliedstaat vielmehr zumindest kurzfristig eher Wettbewerbsnachteile für die Anbieter seiner eigenen Staatsangehörigkeit. Insofern bietet sich das "Rechnungsabschlußverfahren" als solches für die Herstellung und effiziente Verwaltung des Binnenmarktes mangels Anwendbarkeit in diesem Bereich grundsätzlich nicht an.

c) Beschneidung der Vergabe von Mitteln aus einem Strukturfonds an einen Mitgliedstaat bei einem nicht in Einklang mit den Fondsvorschriften stehenden Verhalten

aa) Einleitung Hinsichtlich der Übertragbarkeit der Regeln des "Rechnungsabschlußverfahrens" war schon vorher festgestellt worden, daß sich dessen Anwendung lediglich in solchen Bereichen als praktikabel erweist, in denen die Gemeinschaft den Mitgliedstaaten für bestimmte Zwecke finanzielle Mittel gewährt. 264 Es soll nun jedoch dargestellt werden, welche Möglichkeiten die Gemeinschaft hat, um im Rahmen der Vergabe von finanziellen Mitteln für strukturpolitische Maßnahmen auf einen gemeinschaftsrechtskonformen Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten hinzuwirken. An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, daß der Gemeinschaft zweifelsohne die Kompetenz zusteht, die Modalitäten für die Auszahlung von Mitteln aus ihren Fonds selbst festzulegen. 265

bb) Die Strukturfonds als Instrumente der gemeinschaftlichen Strukturpolitik Es wurde schon angeführt, daß im Jahre 1996 - wie auch schon in den Vorjahren - fast 80 % der Haushaltsmittel der Gemeinschaft auf Subventionen ent263 So Pache, S. 288. Siehe dazu auch nachfolgend \Dlter c). Siehe aber auch schon die Ausfiihrungen zum Rechn\Dlgsabschluß im Bereich des EAGFL, Abteil\Dlg "Ausricht\Dlg" oben \Dlter cc). 264 Siehe dazu oben \Dlter b) fi). 265 Siehe oben \Dlter a).

B. "Zentrale" Ansätze

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fallen werden. 266 Ein wesentlicher Anteil dieser Gelder fließt in die Strukturpolitik der Gemeinschaft?67 Hier werden diese insbesondere im Rahmen der gemeinschaftlichen Strukturfonds268 verausgabt. Die Strukturfonds sind insoweit das privilegierte Instrument der Gemeinschaft zur Herbeiführung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in der Gemeinschaft (Art. 2, 3 lit. j i.V.m. Art. l30a ff. EGV).269 Sie besitzen genausowenig wie der EAGFL, Abteilung "Garantie", eine eigene Rechtspersönlichkeit oder gar eigene Einnahmen und sind ebenfalls "nur" ein unselbständiger Bestandteil des Gemeinschaftshaushalts?70 Globales Ziel der Strukturpolitik der Gemeinschaft ist es, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft zu stärken und den Abstand zwischen den verschiedenen Regionen sowie den Rückstand der am wenigsten entwickelten Gebiete zu verringern (Art. l30a Abs. I EGV).271 Siehe oben Wlter a). Vgl. dazu nur Priebe, in: GS für Grabitz, S. 551 (551). Vgl. zur EntwicklWlg der gemeinschaftlichen Strukturpolitik nur Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 16 f; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. BOa Rn. 1 ff. 268 Bei den Strukturfonds der Gemeinschaft handelt es sich um die drei folgenden: den Europäischen Fonds für Regionale EntwicklWlg (EFRE), welcher die Aufgabe hat, die Unterschiede in der sozialen EntwiCklWlg zwischen den Regionen der Gemeinschaft zu verringern (Art. 130c EGV); den Europäischen Sozialfonds (ESF), der dazu beiträgt, die BeschäftigWIgsmöglichkeiten in der Gemeinschaft zu verbessern (Art. 123 ff. EGV); schließlich den Europäischen AusrichtWlgs- Wld Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), AbteilWlg "AusrichtWlg" (Art. 40 Abs. 4 EGV). Vgl. zur EinteiIWlg der Strukturfonds auch Oppermann, Europarecht, Rn. 129; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. BOb Rn. 4; Europäische Gemeinschaften, Finanzbericht 1993, S. 24 f; Europäische Gemeinschaften, Finanzbericht 1994, S. 23 ff.; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. 130c Rn. 3; Priebe, in: GS für Grabitz, S. 551 (554 ff.). Vgl. gfWldlegend zu den Strukturfonds Magiera, in: Europäisches VerwaltWlgsrecht, S. 115 (135 ff.) m.w.N. Hinzu kommt als vergleichbarer Fonds das Finanzinstrument für die AusrichtWlg der Fischerei (FIAF), mit dem die UmstrukturiefWlg des Sektors Fischerei Wlterstützt wird. Vgl. dazu Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Strukturfonds der Gemeinschaft 1994 - 1999, S. 7. Schließlich ist an dieser Stelle der Vollständigkeit halber auch der Kohäsionsfonds zu nennen, welcher gemäß Art. 130d UAbs. 2 EGV eigentlich bis zum 3l. Dezember 1993 einzurichten gewesen wäre. Dazu aber sogleich. 269 Vgl. dazu auch Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 15 bzw. S. 23; Borchardt, in: Lenz, EG-Vertrag, Art. BOa Rn. I bzw. Art. 130d Rn. 5 ff.; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Strukturfonds der Gemeinschaft 1994 - 1999, S. 7. 270 Magiera, in: Europäisches VerwaltWlgsrecht, S. 115 (157) m.w.N. 271 Vgl. dazu Magiera, in: Europäisches VerwaltWlgsrecht, S. 115 (136); Franzmeyer, in: Ökonomische GrWldlagen, S. 83 (83); Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 376; Priebe, in: GS für Grabitz, S. 551 (552 f). Siehe zu den einzelnen Zielen der gemeinschaftlichen Strukturpolitik Art. 1 bzw. die Art. 8 ff. der "VerordnWlg (EWG) Nr. 2081193 des Rates vom 20. Juli 1993 zur ÄndefWlg der VerordnWlg (EWG) Nr. 266

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4. Teil: LöslDlgsansätze

Ein Schwerpunkt gilt dabei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Ein wesentlicher Aspekt dieser Politik besteht nicht zuletzt auch darin, daß man verhindern möchte, daß qualifizierte Arbeitskräfte aus den weniger entwickelten Gebieten in die Wirtschaftszentren abwandern. Denn die weniger entwikkelten Gebiete sollen auf Dauer nicht wirtschaftlich und technologisch von den weiter entwickelten Gebieten abhängig bleiben. 272 Hinzu kommt, daß eine Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Integration nicht zu erreichen ist, wenn sie den Interessen auch nur eines Mitgliedstaates widerspricht. 273 Gerade für die weniger entwickelten Mitgliedstaaten ist es aber von großem Interesse, daß ihre strukturellen, wirtschaftlichen und technologischen Rückstände mit Hilfe der Gemeinschaft abgebaut werden. 274 Schließlich obliegt es aus den gleichen Gründen gerade der Strukturpolitik, die potentiellen Mitgliedstaaten in Osteuropa wirtschaftlich an die Gemeinschaft heranzuführen. 275 Am 20. Juli 1993 hat der Rat die sechs überarbeiteten Verordnungen über die Strukturfonds der Gemeinschaft für den Zeitraum 1994 - 1999 angenommen. 276 2052/88 über Aufgaben lDld Effizienz der Struktwfonds Wld über die KoordiniefWlg ihrer Interventionen lDltereinander sowie mit denen der Europäischen Investitionsbank lDld der anderen Finanzinstrurnente", ABI. 1993, L 193, S. 5 (7). Gnmdlegend dazu auch "Die Zukunft der Gemeinschaftsinitiativen im Rahmen der Strukturfonds" , KOM (94) 46 endg. vom 16. März 1994. m Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 16. Vgl. zum wesentlichen Inhalt der Politik der Kommission ebenda, S. 23. m Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 16 m.w.N. 274 Die Konsequenz daraus bestand darin, daß es im Rat im Rahmen von "Kompensationsgeschäften" zum Beschluß über die BegründlDlg eines Kohäsionsfonds (Art. 130d EGV) kam. Im Rahmen dieses Kohäsionsfonds sollen Vorhaben in den Bereichen "Umwelt" (Art. BOr bis t EGV) lDld "Transeuropäische Netze" (Art. 129b bis d EGV) auf dem Gebiet der Verkehrs infrastruktur in den bedürftigsten Mitgliedstaaten fmanziell Wlterstützt werden. Siehe dazu jetzt die "VerordnWlg (EG) Nr. 1164/94 des Rates vom 16. Mai 1994 zur ErrichtlUlg des Kohäsionsfonds", ABI. 1994, L 130, S. 1 ff Im Ergebnis werden mit Irland, Griechenland, Portugal Wld Spanien nur die vier im Durchschnitt am wenigsten entwickelten Mitgliedstaaten der Gemeinschaft vom Kohäsionsfonds partizipieren. Siehe auch Art. 2 Abs. 2 S. 2 der VerordnlDlg (EG) Nr. 1164/94, ABI. 1994, L 130, S. 1 (3). Vgl. dazu insgesamt Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 44 ff; Priebe, in: GS für Grabitz, S. 551 (551 f)jeweils m.w.N. Siehe schließlich aber auch den "Jahresbericht. Kohäsions-Finanzinstrurnent 1993/94", KOM (95) 1 endg., S. 1 ff 275 Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 16. 216 Vgl. zur EinleitlUlg der Reform der Struktwfonds durch die EEA Magiera, in: Europäisches VerwaltlUlgsrecht, S. 115 (135 ff); Franzmeyer, in: Ökonomische GfWldlagen, S. 83 (85 f); Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 42 f jeweils m.w.N. Vgl. zu den aktuellen Reformen der Struktwfonds Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Strukturfonds der Gemeinschaft 1994 - 1999, S. 1 ff Vgl. ferner "Fünfter Jahresbericht über die Durchfuhnmg der Struktwfondsreform 1993", KOM (95) 30 endg. vom 20.

B. "Zentrale" Ansätze

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Die Strukturfonds der Gemeinschaft sind für diesen Zeitraum mit einem Etat von mehr als 141 Mrd. ECU ausgestattet worden, was fast ein Drittel des Gemeinschaftshaushalts ausmacht. 277 Die Effizienz dieser Fonds hinsichtlich ihrer Zielerreichung hängt im wesentlichen von der Bereitschaft, den Fähigkeiten und den konkreten Maßnahmen insbesondere der Mitgliedstaaten ab. 278 Neben den Strukturfonds ist es insbesondere die Europäische Investitionsbank (Art. 4b bzw. Art. 198d f. EGV), mit deren Hilfe die Gemeinschaft strukturpolitische Maßnahmen unterstützt. 279

cc) Die Regelung der Rückforderung von aus den Strukturfonds verausgabten Mitteln bei einem festgestellten Fehlverhalten Die Finanzierung aus den Mitteln der Strukturfonds wird durch eine globale Rahmenverordnung280 als auch durch eine "horizontale"281 sowie durch drei März 1995. Jüngst: "Sechster Jahresbericht über die Struktwfonds 1994", KOM (95) 583 endg. vom 14. Dezember 1995. 277 Siehe Art. 12 Abs. 1 der Verordmmg (EWG) Nr. 2081/93, ABI. 1993, L 193, S. 5 (16). VgI. dazu auch Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Struktwfonds der Gemeinschaft 1994 - 1999, S. 7 bzw. S. 16; Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 17; Priebe, in: GS fiir Grabitz, S. 551 (551). Siehe fiir die Vergangenheit die Zahlenangaben Schäfers, Kohäsionspolitik, S. 16 f 278 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Strukturfonds der Gemeinschaft 1994 - 1999, S. 7. Siehe auch UAbs. 2 in der Präambel der Verordnung (EWG) Nr. 2081/93, ABI. 1993, L 193, S. 5 (5). 279 Siehe auch den 4. UAbs. der Präambel der "Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 des Rates vom 24. Juni 1988 über Aufgaben und Effizienz des Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen untereinander sowie mit denen der Europäischen Entwicklungsbank und der anderen vorhandenen Finanzinstrumente", ABI. 1988, L 185, S. 9 (9), unter anderem geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 2081/93, ABI. 1993, L 193, S. 5 ff.; zuletzt geändert durch die "Verordnung (EG) Nr. 3194/94 des Rates vom 19. Dezember 1994 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 über Aufgaben und Effizienz der Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen untereinander sowie mit denen der Europäischen Investitionsbank und der anderen vorhandenen Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 4253/88 zur Durchfiihrung der Verordnung (EWG) Nr. 2052/88", ABI. 1994, L 337, S. 11 f VgI. insgesamt dazu auch Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 376 m.w.N. Vgl. zur Europäischen Investitionsbank nur Oppermann, Europarecht, Rn. 362 ff. Vgl. auch zu weiteren Finanzierungsinstrumenten sowie einer Gesamteinschätzung der gemeinschaftlichen Strukturpolitik Magiera, in: Europäisches Verwaltungsrecht, S. 115 (135 f)m.w.N. 280 Siehe die Verordnung (EWG) Nr. 2052/88, ABI. 1988, L 185, S. 9 ff. 281 Siehe die "Verordnung (EWG) Nr. 4253/88 des Rates vom 19. Dezember 1988 zur Durchfiihrung der Verordnung (EWG) Nr. 2052/88 hinsichtlich der Koordinierung der Interventionen der verschiedenen Struktwfonds einerseits und zwischen diesen und

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4. Teil: Lösungsansätze

spezifische "vertikale" Durchführungsverordnungen282 geregelt. 283 Die Akti