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German Pages 72 Year 2013
Der Traum der Vernunft und seine Monster Goyas Perspektiven auf das 19. Jahrhundert
Von
Birgit Aschmann
A Duncker & Humblot · Berlin
BIRGIT ASCHMANN Der Traum der Vernunft und seine Monster
Lectiones Inaugurales Band 6
Der Traum der Vernunft und seine Monster Goyas Perspektiven auf das 19. Jahrhundert
Von
Birgit Aschmann
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Abbildungen im Text © Bildarchiv Foto Marburg Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2194-3257 ISBN 978-3-428-14105-0 (Print) ISBN 978-3-428-54105-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84105-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Im September 2010 erhielt ich den Ruf an die Humboldt-Universität zu Berlin, wo ich seit dem Sommersemester 2011 den Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts innehabe. Es sind fraglos für jeden Privatdozenten (und jede Privatdozentin) unvergessliche Momente, wenn jenes Schreiben im Briefkasten liegt, welches einen aus langen Jahren der beruflichen Ungewissheit erlöst. Doch am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität lehren zu dürfen, bedeutet mehr als materielle Existenzsicherung. Vor allem die Kombination aus inhaltlichen Herausforderungen und zwischenmenschlichen Begegnungen macht diesen Arbeitsplatz so besonders. Gerade Letzteres ist alles andere als selbstverständlich, und so möchte ich den Moment der Veröffentlichung meiner Antrittsvorlesung zum Anlass nehmen, all jenen zu danken, die zu dieser wunderbaren Atmosphäre beitragen. An erster Stelle möchte ich dabei die – ehemaligen und aktuellen – Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an meinem Lehrstuhl erwähnen: Kerstin Brudnachowski, Alexa Geisthövel, Anna Karla, Philipp Müller, Christoph Nübel, Britt Schlünz und Susanne Schmidt. Die Zusammenarbeit mit ihnen war bzw. ist ebenso effizient wie heiter und inspirierend! Sodann gilt mein Dank meinen Kolleginnen und Kollegen, die mich allesamt sehr herzlich aufgenom-
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Vorwort
men haben und mich in zahlreichen Gesprächen in und außerhalb unserer Büros immer wieder spüren lassen, wie intellektuell anregend und menschlich angenehm dieses Kollegium ist. Einen ganz analogen Eindruck vermitteln im Übrigen die zahlreichen, überaus netten Flurgespräche mit den Mitarbeitern anderer Lehrstühle. Last but not least möchte ich „meinen“ Studentinnen und Studenten danken, mit denen zu arbeiten und zu diskutieren wirklich Spaß macht – zumal (aber nicht nur dann) wenn sie sich von meiner Begeisterung für die Geschichte Spaniens anstecken lassen. Dieser persönlichen Vorliebe ist auch die Auswahl des Themas für die am 16. Mai 2012 gehaltene Antrittsvorlesung geschuldet, die vor allem vermitteln sollte, wie reizvoll und lohnenswert es ist, sich mit Spanien im 19. Jahrhundert auseinanderzusetzen. Dass dieser Vortrag durch die jetzige Publikation auch einem breiteren Publikum zugänglich wird, verdanke ich der Initiative und Hartnäckigkeit von Andreas Beck vom Verlag Duncker und Humblot. Hoffentlich hat er recht mit seiner Vermutung, dass die Thematik von allgemeinem Interesse sei . . . Birgit Aschmann
Inhalt Der Traum der Vernunft und seine Monster. Goyas Perspektive auf das 19. Jahrhundert . . . . . . . . .
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Zur Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Traum der Vernunft und seine Monster Goyas Perspektiven auf das 19. Jahrhundert „Abschied vom 19. Jahrhundert“ lautete der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahr 2006, in dem Paul Nolte eine Erklärung dafür suchte, warum Studierende und Lehrende sich mehr und mehr vom 19. Jahrhundert abwenden.1 Offensichtlich breitet sich die Ansicht aus, dass das 19. Jahrhundert an Erklärungskraft für die Gegenwart eingebüßt habe. Ursächlich für diese Entwicklung dürfte die Erosion gleich zweier Meisternarrative sein, nämlich erstens jenes des deutschen Sonderwegs, welcher die Ursprünge der deutschen Katastrophen des 20. Jahrhunderts in den sozialen Deformationen des 19. Jahrhunderts – vor allem denen des deutschen Bürgertums – verortet hatte, und zweitens jenes der Modernisierungstheorien, denen zufolge sich die Gesellschaften Europas seit dem 19. Jahrhundert – wenn auch zeitversetzt – auf einem einheitlichen Fortschrittsweg befanden, der über Prozesse der Alphabetisierung, Industrialisierung, Urba1 Paul Nolte: Abschied vom 19. Jahrhundert oder Auf der Suche nach einer anderen Moderne, in: Jürgen Osterhammel/Dieter Langewiesche/Paul Nolte (Hg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte [Sonderheft 22: Geschichte und Gesellschaft], Göttingen 2006, S. 103–132.
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nisierung usf. in das gelobte Land der Moderne führte. Es ist vor allem dieses positive Verständnis der Moderne selbst, das umso stärker in Zweifel gezogen wurde, je mehr die Monstrositäten des 20. Jahrhundert nicht als Abweichung, sondern als Ausdruck der Moderne diskutiert wurden. Erforderlich ist damit ein neues Konzept der Moderne, eines, welches das Disparate, Widersprüchliche integriert.2 So bleibt einerseits unstrittig, dass es tatsächlich in den letzten zwei Jahrhunderten einen beschleunigten Wandel gegeben hat, der mit dem gängigen Fortschrittsmodell gefasst werden kann. Dass gerade das 19. Jahrhundert hier eine Schlüsselepoche war, geht aus den Werken von Christopher Bayly und Jürgen Osterhammel hervor, die in diesem Säkulum die „Verwandlung der Welt“ bzw. die „Geburt der Moderne“ verorten.3 Zugleich aber, und das ist in diesen beiden Opera magna nur begrenzt eingelöst worden, muss ein solches Konzept der Moderne nicht nur das Fortschrittsnarrativ, sondern auch die gegenläufigen Elemente des Destruktiven, des Ambivalenten, des Dunklen, des Niedergangs integrieren, die ebenfalls in dieser Zeit eine neue Qualität gewinnen.4 Um diesen Ambivalenzen 2 So schon thematisiert bei Zygmunt Baumann: Modernity and Ambivalence, Ithaca 1991. 3 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Gobalgeschichte 1780–1914, Frankfurt/New York 2006 (die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel „The Birth of the Modern World, 1780–1914. Global Connections and Comparisons“). 4 Als ein Beleg (unter vielen) für die aktuellen Tendenzen, diesem Aspekt stärker gerecht zu werden, vgl. den
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auf die Spur zu kommen, möchte ich im Folgenden Phänomenen und einer Region nachgehen, die bei der globalgeschichtlichen Perspektive weitgehend – und ich meine: zu Unrecht – in Osterhammels totem Winkel geblieben sind. Dazu gehören unter anderem die Bildende Kunst, Emotionen und Körperlichkeit und dazu gehört Spanien. Während das Fehlen der inhaltlichen Aspekte von den Rezensenten durchaus bemängelt worden ist, stört sich offenbar niemand an der (relativen) Vernachlässigung Spaniens. Womöglich ist das dem Nachwirken jener langlebigen Exotisierung Spaniens bzw. der im 19. Jahrhundert gängigen, aber nach wie vor nicht ganz überwundenen Überzeugung geschuldet, wonach Europa an den Pyrenäen ende und die Iberische Halbinsel vom europäischen Fortschritt abgekoppelt sei.5 „Gegen Ende des achtzehnten JahrBericht in der Süddeutschen Zeitung: „Revision der Moderne“, 20.3.2012, S. 11. 5 So die ersten Worte im Vorwort, vgl. Peer Schmidt (Hg.): Kleine Geschichte Spaniens, Stuttgart 2002, S. 9– 15. Wie lange das Narrativ vom abgeschotteten, rückwärtsgewandten Spanien fortdauerte, ergibt sich schon aus den Bemühungen Peer Schmidts im Vorwort seiner Geschichte Spaniens, als allererstes gegen das im 19. Jahrhundert so verbreitete Diktum „Europa hört an den Pyrenäen auf!“ anzuschreiben. Den Beweis für die enge Verflechtung Spaniens mit dem restlichen Europa tritt er unmittelbar mit dem Hinweis auf Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts an, was diesem Zeitabschnitt eine umso prominentere Position verleiht, als der Sammelband die Geschichte Spaniens seit der Antike behandelt. Den Einband des Buches ziert im Übrigen ein Bild von Goya. Das ist repräsentativ für den Verbreitungsgrad seiner Werke sowie seine allgemeine Wertschätzung. Ebenso repräsentativ für historische Studien aber ist der erwähnte Sammelband insofern, als Goya im weiteren Werk nur noch zweimal und das höchst beiläufig erwähnt wird.
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hunderts“, so lauten die ersten zwei Sätze von Lion Feuchtwangers Roman „Goya“, „war fast überall in Westeuropa das Mittelalter ausgetilgt. Auf der Iberischen Halbinsel (. . .) dauerte es fort.“6 Im Folgenden geht es hingegen um die Skizzierung eines alternativen Bildes, das gerade die Einbindung Spaniens in gesamteuropäische Zusammenhänge und nicht zuletzt den spanischen Beitrag zur – ambivalent verstandenen – Moderne hervorhebt. Den Ausgangspunkt bildet der spanische Maler Francisco de Goya, dessen Verhältnis zur „Moderne“ eingangs kurz umrissen wird, bevor in einem zweiten Teil Vita und Werk im Zusammenhang mit der spanischen Geschichte kontextualisiert und schließlich drittens zwei der diversen Forschungsperspektiven, die sich aus den Themen Goyas ergeben, vorgestellt werden. Schon allein die Lebensdaten Goyas verweisen auf den Reiz, sich mit seiner Vita auseinanderzusetzen, lebte er doch von 1746 bis 1828, das heißt genau in jener Sattelzeit, in der sich der Umbruch vom Ancien Régime zur Moderne vollzog. So gibt es gute Gründe, das lange 19. Jahrhundert in den 1770er Jahren beginnen zu lassen, was genau die Jahre sind, in denen Goya erstmals öffentlich in Erscheinung trat. Seinen Beitrag zum Epochenumbruch hatten die Kuratoren der Berliner Ausstellung von 2005 gleich im Titel bestimmt: „Goya – Prophet der Moderne“.7 Dahinter
6 Lion Feuchtwanger: Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1977, S. 5. 7 Peter-Klaus Schuster/Wilfried Seipel (Hg.): Goya. Prophet der Moderne, Katalog der gleichnamigen Ausstel-
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verbarg sich die Ansicht, wonach Goya mit seinen Themen, Mitteln und Methoden den Beginn der europäischen Moderne markiere, als deren zentrales „Emblem“ immer wieder das Capricho 43: „El sueño de la razón produce monstruos“ angeführt wird (vgl. Abb. 1).8 Die Vieldeutigkeit des Bildes bot Steilvorlagen für diverse Interpretationsansätze. So gibt es eine Monographie, die sich auf rund 600 Seiten mit der Interpretation nur dieser einen Radierung auseinandersetzt.9 Entscheidend für ihre anhaltende Faszination ist dabei jene Deutung, die darin eine frühe Darstellung der Dialektik der Aufklärung zu erkennen meint. Dementsprechend hat Goya nicht nur der Vernunft als dem zentralen Projekt der Aufklärung, sondern auch dem mit ihr untrennbar verbundenen „Anderen der Vernunft“ ein Denkmal gesetzt – hier dargestellt als „monstruos“, also Monster, Ungeheuer, die den Träumenden im Dunkeln bedrängen. Im Aufklärungsdiskurs wurde um die Bestimmung dessen gerungen, was Vernunft war und was gerade nicht. Zu diesem „Anderen der Vernunft“ zählten – Hartmut und Gernot Böhme zufolge – das „Irrationale“, das „Irreale“, das „Unschickliche“, die Natur, der Körper, die Phantalung der Alten Nationalgalerie Berlin (13.7–3.10.2005), Köln 2005. 8 Siehe Werner Hofmann: Notizen zu Goyas Capricho 43, in: ders.: Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München 1973, S. 90 ff.; Peter-Klaus Schuster: Unausdeutbar – Goyas Capricho 43 als Sinnbild der Moderne, in: ders./Seipel, Goya, S. 33–41. 9 Helmut C. Jacobs: Der Schlaf der Vernunft. Goyas Capricho 43 in Bildkunst, Literatur und Musik, Basel 2006.
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Abb. 1: El sueño de la razón produce monstruos (Der Traum/Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer)
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sie, die Gefühle.10 Das deckt sich mit dem, was zeitgenössischen Lexika zufolge in der spanischen Kultur des späten 18. Jahrhunderts unter „monstruos“ verstanden wurde, die – gemäß der etymologischen Ableitung von „monstrum“ (Wahrzeichen) bzw. „monstrare“ (zeigen) – auf etwas Unnatürliches, Regelwidriges, aus der Ordnung Gefallenes jenseits der Rationalität verweisen, nicht zuletzt auf „verderbte Leidenschaften“.11 Diese Monster wurden in den Aufklärungsdiskursen zumeist verdrängt. Goyas Radierungen jedoch illustrieren, dass die Verdrängung dieses „Anderen“ nicht zu seinem Verschwinden führt. Bei ihm tritt neben das affirmative Modernebewusstsein immer stärker das Bewusstsein von deren Schattenseiten, wenn 10 Das „Andere der Vernunft“ war „von der Vernunft her gesehen – (. . .) das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische (. . .), inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle – oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können.“ Hartmut und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1985, S. 13. 11 Die Rede ist u. a. von „pasiones viciosas“. Der erste Erklärungsansatz definiert „Monstruo“ als „todo aquello que es contra el órden común de la naturaleza“, vgl. Esteban de Terreros y Pando: Diccionario castellano con las voces de ciencias y artes y sus correspondientes en las tres lenguas francesa, latina é italiana, Madrid 1787, Bd. 2, S. 612–613. Dabei ergibt sich eine erstaunliche Übereinstimmung mit der Begriffsbestimmung von Heinz-Gerhard Friese, der den „Monstern“ in seiner 2011 erschienenen Kulturgeschichte zur „Ästhetik der Nacht“ ein längeres Kapitel widmet. Vgl. Heinz-Gerhard Friese: Die Ästhetik der Nacht. Eine Kulturgeschichte, Hamburg 2011. Hier zu den Kapiteln „Monster“ (S. 443–579) und „Monster im Spiegel der Nacht“ (S. 580–719).
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nicht gar die Annahme vom Scheitern dieses Projekts. Diese konträren Deutungshorizonte sind nicht allein aus einer rein geistesgeschichtlichen Genese zu erklären, sondern dürften ihren entscheidenden Ursprung in den soziopolitischen Kontexten der spanischen Geschichte haben. Tatsächlich war Goya Zeitzeuge politischer Extremerfahrungen, wechselten bzw. koexistierten doch verschiedene politische Systeme innerhalb Spaniens in einer Geschwindigkeit, die in Europa ihresgleichen sucht. Dabei interessiert Goya hier als Brennpunkt, bei welchem diese unterschiedlichen Entwicklungen exemplarisch zusammenlaufen, insoweit als sie erstens auf seine Vita Einfluss nahmen und sich zweitens in seinen Werken spiegelten, wodurch sozial-, geistes-, kunst- und politikgeschichtliche Aspekte zusammengeknüpft werden können. Schließlich gilt Goya nicht nur als „philosophischer Maler“12, sondern auch als erster politischer Maler der Geschichte13. Bezüglich Goyas Vita – und damit sind wir bei Teil 2 – ist erklärungsbedürftig, wie aus einem Handwerkersohn mit rudimentärer Schulbildung eine kulturelle Größe werden konnte, die mit Goethe verglichen wurde.14 Sein Leben und Werk lässt sich mit
12 Als Philosoph wurde Goya schon in der ersten französischsprachigen Studie von 1867 bezeichnet, vgl. Charles Yriarte: Goya, Paris 1867. 13 Soubeyroux bezeichnet Goya als „un peintre politique, sans doute le premier peintre politique de l’histoire“; Jacques Soubeyroux: Goya politique, Paris 2011, S. 11. 14 So hält ihn Todorov für „un des penseurs les plus profonds, pas moins que son contemporain Goethe“, vgl.
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Pierre Bourdieu als Entwicklung erst mit dem Feld und dann gegen das Feld beschreiben.15 Seine Sozialisation und Karriere verliefen innerhalb des Systems des Ancien Régime, dessen Regelwerk er im Interesse des individuellen Fortkommens akzeptierte, bis er auf dem Höhepunkt seiner Karriere schließlich eine soziale und ökonomische Unabhängigkeit erreicht hatte, die ihm die Freiheit gestattete, seine Autonomie auch gegen „das Feld“ einzufordern.16 Francisco de Goya stammte aus einer in Zaragoza lebenden, von Armut bedrohten Handwerkerfamilie.17 Der offenbar von den Eltern für den Sohn gewünschte Tzvetan Todorov: Goya. Á l’ombre des lumières, Paris 2011, S. 9. 15 Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt a. M. 2002, S. 11. 16 Als Indiz für sein Drängen auf freie Entfaltung gilt nicht nur seine kunsttheoretische Positionierung, wonach es keine Regeln in der Kunst gebe, sondern v. a. die Auseinandersetzung um seine Entwürfe für eine Kuppel der Basilika del Pilar in Zaragoza, unmittelbar nachdem er 1780 zum Akademiemitglied ernannt worden war. Hier zeigte sich, wie eng sein Spielraum in Anbetracht des vorherrschenden ästhetischen Geschmacks seiner Auftraggeber und bedingt durch sein noch geringes Renommée in Madrid vorerst war. Im Kern handelte es sich einerseits um die Austragung eines Konkurrenzkampfes zwischen Goya und seinem Schwager Bayeu und andererseits um divergierende Kunstauffassungen. Vgl. dazu Edith Helman: Identität und Stil bei Goya, in: Hofmann/Helman/ Warnke: Goya – „Alle werden fallen“, Frankfurt a. M. 1981, S. 93–113, S. 105 ff. 17 Zur Vita vgl. grundsätzlich Pierre Gassier/Juliet Wilson: Francisco de Goya. Leben und Werk, Fribourg/ Schweiz 1971; zur Sozialisation vgl. u. a. Soubeyroux, Goya, S. 26 f. Die prekäre finanzielle Lage der Familie geht aus der Biographie von Jutta Held kaum hervor, vgl.
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soziale Aufstieg schien ausschließlich in jenem künstlerischen Bereich der Maler möglich, die sich innerhalb der neuen, mit Hilfe königlicher Protektion entstandenen Institution „Akademie“ aus dem strikten Reglement der Zunftgesetze emanzipieren konnten.18 So kam der erst 13jährige Francisco zur Lehre in die Werkstatt von José Luzán, einem angesehenen Professor der Kunstakademie in Zaragoza.19 Dieser vermittelte ihm einerseits die Grundlagen seines Metiers und andererseits Kontakte zu jener Schicht adeliger und bürgerlicher Intellektueller, die sich sozioökonomischen Reformen ebenso wie einer Förderung der Kunst verschrieben hatten und aus denen sich das soziale Netzwerk Goyas innerhalb seiner Heimatstadt rekrutierte.20 Wer aber was werden wollte, musste nach Madrid. Nach vierjähriger Ausbildung bemühte Jutta Held: Francisco de Goya mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 7 f. 18 Zur Entwicklung europäischer Kunstakademien vgl. u. a. Ute Frevert: Der Künstler, in: dies./Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1999, S. 292–323, S. 295 f. 19 Vgl. u. a. Held, Goya, S. 8. 20 Federführend waren die zahlreichen in Spanien, wie auch in anderen europäischen Ländern, gegründeten Sociedades Económicas de Amigos del País (SEAP), die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegründet und dem wirtschaftlichen und künstlerischen Fortschritt des Landes verschrieben hatten. Vgl. Robert Jones Shafer: The Economic Societies in the Spanish World (1763– 1821), Syracuse 1958. Einige Schulfreunde Goyas, darunter Martín Zapater, sowie seine frühen Förderer aus Zaragoza gehörten zu den führenden Mitgliedern der aragonesischen Sociedad. Diese war nicht zuletzt an der Gründung der Kunstakademie in Zaragoza beteiligt, vgl. Soubeyroux, Goya, S. 38–41.
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sich Goya um das Wohlwollen der Direktoren an der dortigen Königlichen Akademie der Schönen Künste, doch vorerst fanden seine Werke, die er im Rahmen von Wettbewerben einreichte, keinen Zuspruch. Es entsprach seinem durchaus modernen Denken in Karrierestrategien, dass er sich nun auf die Reise nach Italien begab, über deren Einflüsse man erst seit 1993 näher informiert ist, als das Skizzenheft entdeckt wurde, welches Goya während dieser Zeit angefertigt hat.21 Dieses gibt auch Auskunft über seine zweijährige Tätigkeit in Zaragoza nach der Rückkehr aus Italien. Jetzt trat Goya erstmals als eigenständiger Unternehmer seiner Künste auf, indem er im Auftrag des Klerus für die Hauptkirchen seiner Heimatstadt Fresken anfertigte.22 Diese Zeit markiert die erste seiner Schaffensperioden, deren Weg Werner Hofmann auf folgenden Nenner brachte: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“.23 „Himmel“ steht für die sakralen Bilder im Auftrag der Kirche, deren Vertreter allerdings einige Jahre später Ziel seiner dezidiert antiklerikalen Polemik werden sollten, aber ohne deren Aufträge Goya ebenso wenig seinen Weg hätte gehen können wie ohne jene der Aristokraten, deren privilegierte Stellung und deren Habitus in den sozialsatirisch angelegten Caprichos ebenfalls kritisiert wurden. Nicht ganz ohne strategische Hintergedanken will die 1773 geschlossene Ehe erscheinen, schließlich war der Bruder der Braut seit zehn Jahren als Maler am 21
Siehe Soubeyroux, Goya, S. 41 ff. Vgl. u. a. Held, Goya, S. 11; Soubeyroux, Goya, S. 42 f. 23 Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, München 2003. 22
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spanischen Hof tätig. Er ließ den neuen Schwager nicht nur bei sich wohnen, sondern vermittelte ihm eine Anstellung bei der königlichen Teppichmanufaktur, wo Goya zehn lange Jahre damit beschäftigt war, typisch spanische Genre-Bilder als Vorlagen für die Wandteppiche der königlichen Paläste zu entwerfen (vgl. Abb. 2).24 Dies war Teil des Aspektes „Welt“ in dem von Hofmann angesprochenen Dreisprung, der aber Goya schon wegen der rein dekorativen Zweckbestimmung seiner Tätigkeit nicht lange befriedigte. Weiterhin strebte er nach einer Aufnahme bei der Akademie der Künste, was ihm erst 1780 mit einem Bild gelang, welches in Auswahl und Gestaltung verrät, wie sehr er bereit war, sich aus strategischen Gründen dem vorherrschenden klassizistischen Geschmack anzudienen.25 Die jetzige Aufnahme in der Akademie stellte sich tatsächlich als entscheidendes Scharnier in seiner Karriere heraus, wurde er doch bald nicht nur Direktor an der Akademie, sondern auch Maler am königlichen Hof. 1799 hatte er mit 53 Jahren den Gipfel der Karriereleiter erreicht, als er zum Ersten Hofmaler ernannt wurde. Zeitgleich hatte er sich Ansehen unter den spanischen Hocharistokraten erwerben können, die bereit waren, für Porträts und andere Auftragswerke stattliche Summen Geldes auf den Tisch
24 Vgl. Jutta Held: Die Genrebilder der Madrider Teppichmanufaktur und die Anfänge Goyas, Berlin 1971; Janis A. Tomlinson: Francisco Goya. The Tapestry Cartoons and Early Career at the Court of Madrid, Cambridge 1989. 25 Siehe Soubeyroux, Goya, S. 53 f.
Abb. 2: La gallina ciega (Das Blindekuhspiel)
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zu legen.26 Dies machte ihn, der bis 1784 in vertraulichen Schreiben immer wieder über Geldsorgen geklagt hatte, finanziell unabhängig, so dass er nur zwei Jahre später seinem alten Schulfreund in Zaragoza mit großer Zufriedenheit berichten konnte, dass er es nicht mehr nötig habe, zu antichambrieren.27 Es sind die 140 erhaltenen Briefe an Martín Zapater, aus denen sich zumindest bruchstückhaft die Befindlichkeit des Malers herauslesen lässt.28 Auch das soziale Umfeld lässt sich mit Hilfe dieser Briefe rekonstruieren. Als glücklich für Goya stellte sich das Kunstverständnis der Gräfin von Osuna heraus, die nicht nur zu einer wichtigen Mäzenin wurde, sondern ihn auch über die Einladungen in die von ihr veranstalteten Gesprächszirkel mit den zentralen Vertretern der literarischen und politischen Aufklärung in Spanien bekannt machte.29 Nicht zuletzt über diese Verbindung wurde Goya mit den politischen Debatten der Gegenwart, vor allem aber mit der literarischen Tradition 26
Vgl. ebd., S. 57–63. „(. . .) no quiero acer antecamaras, tengo bastante y no me mato por nada.“ Schreiben vom 25.3.1786 von Goya an Zapater, in: Francisco de Goya: Cartas a Martín Zapater, hrsg. von Mercedes Agueda/Xavier de Salas, Madrid 1982, S. 146. Zur deutschen Übersetzung siehe Briefe an Martín Zapater, übersetzt von Eva Fritz und Otmar Binder, hrsg. von Herwig Zens, Weitra (Österreich) 2005, S. 118. 28 Vgl. August L. Mayer: Goyas Briefe an Martín Zapater, in: Beiträge zur Forschung. Studien und Mitteilungen aus dem Antiquariat 1/II (1913), S. 39–49, S. 39 (Mayer erwähnt 135 Briefe von 1775–1801). 29 Vgl. Frank Irving Heckes: Goya y sus seis „asuntos de brujas“, in: Goya. Revista de Arte 295/296 (2003), S. 197–214, S. 197. 27
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Spaniens vertraut. Von der engen Einbindung Goyas in diese Diskurse zeugen insbesondere die Caprichos, eine 1799 veröffentlichte Sammlung von 80 Drucken, die sich oftmals auf konkrete Vorkommnisse innerhalb der spanischen Gesellschaft bezogen oder mit intermedialen Zitaten aus der spanischen Literatur spielten.30 Diesen intermedialen Verbindungen ist der Politologe Wilhelm Hennis beim Capricho 43 nachgegangen, wobei sich seine Interpretation auf einen Begriff bezieht, der bei einer Vorstudie auf jenem – unspezifischen – Quader eingraviert zu lesen stand, auf welchen sich der Träumende bzw. Schlafende stützt: „Idioma universal“. Es geht um eine Universalsprache, die auch im Zentrum einer Episode von Gullivers Reisen stand, die in der Entstehungszeit der Caprichos ins Spanische übersetzt worden waren.31 30 Seit den Hexenbildern für die Herzogin von Osuna hatte Goya damit begonnen, seine Werke in Serien (Zeichnungen, Druckgraphiken, Gemälden) zusammenzustellen, die ein weitgehend kohärentes Thema betrafen und sich durch einheitliche Technik, Bildträger und Formate kennzeichneten. Die Caprichos bildeten die erste umfangreiche derartige Sammlung. Vgl. Gassier, Goya, S. 10. Zur Intermedialität seiner Werke, die von einer ausgeprägten Auseinandersetzung mit der Aufklärungsliteratur zeugen, vgl. Edith Helman: Trasmundo de Goya, Madrid 1963; ebenso Edith Helman: Goyas „Chinchillas“, in: Werner Hofmann/Edith Helman/Martin Warnke: Goya – „Alle werden fallen“, Frankfurt a. M. 1981, S. 71–92; Susanne Schlünder: Karnevaleske Körperwelten Francisco Goyas. Zur Intermedialität der Caprichos, Tübingen 2002, S. 6. 31 Vgl. Wilhelm Hennis: Die Vernunft Goyas und das Projekt der Moderne. Ein Versuch zum Verständnis des „Traums der Vernunft“, in: ders.: Politikwissenschaftliche Abhandlungen: 2. Politikwissenschaft und politisches Denken, Tübingen 2000, S. 350–373. Der in einer Vorskizze zu Goyas Capricho 43 deutliche Bezug auf das „Idioma
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Führte doch das 3. Buch Gulliver auf eine fliegende Insel, wo er auf eine Spezies traf, die aus gegebenem Anlass kurz erwähnt sei: Er traf auf Professoren, und zwar Professoren am Rande der Vernunft.32 Auf dem Weg, eine Weltsprache zu erfinden, das „Idioma Universal“, hätten die Professoren leider zweierlei verloren: die Fähigkeit, mit dem gewöhnlichen Volk zu kommunizieren, und ihren eigenen Verstand.33 Nicht viel anders war es jener Inselbevölkerung ergangen, von welcher der spanische Barockdichter Quevedo schrieb: „Der Himmel strafte Einwohner und Ansässige mit einer Sucht: fast alle waren Projektemacher.“ 34 Wohlstand und Verstand gingen verloren, weil sich Männer und Frauen, Eltern und Kinder an den Projekten wie am Wein berauschten. „Sie nannten universal“ hat Anlass zu verschiedenen Ursprungsvermutungen gegeben. So sieht Martin Warnke hierin eine Anspielung auf die Taubstummensprache, mit welcher sich Goya infolge seiner Taubheit nach 1792 habe auseinandersetzen müssen, vgl. Martin Warnke: Goyas Gesten, in: Hofmann/Helman/Warnke, Goya, S. 115–178, S. 120 ff. 32 Damit zitiere ich spielerisch den Titel einer Ausstellung im Berliner Kupferstichkabinett, welche gleichfalls mit einem Bild des Capricho 43 warb: „Am Rande der Vernunft. Bilderzyklen der Aufklärungszeit“ (16.3.–29.7. 2012). Gezeigt wurden neben Radierungen Tiepolos und Piranesis einige Caprichos von Goya, darunter Capricho 43. 33 „The Professors appearing in my Judgement wholly out of their Senses; which is a Scene that never fails to make me melancholy“, in: Jonathan Swift: Gulliver’s Travels, hrsg. von Christopher Fox, Boston/New York 1995, S. 177. Zur Suche nach der Universalsprache ebd., S. 176. Das Zitat wird verwendet von Hennis, Vernunft. 34 Francisco de Quevedo: Die Träume. Die Fortuna mit Hirn oder die Stunde aller [Los Sueños. La Fortuna con seso y la hora de todos], Frankfurt a. M. 1966, S. 193.
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einander Projektensöhne wie Hurensöhne, ein Projekt widersprach dem anderen, jeder hieß nur sein eigenes gut.“ 35 Fast ist man geneigt, hier in Goya einen überaus hellsichtigen Propheten der akademischen Sucht nach Drittmittelantragsprojekten zu sehen. Tatsächlich gemeint war eine Kritik an den unentwegt Projekte generierenden „Arbitristas“, einer spezifisch spanischen Gesellschaftsformation von Intellektuellen, deren Nützlichkeit in der spanischen Aufklärung nicht ohne Polemik hinterfragt wurde.36 Allgemein bewegt sich Goya mit seinen Caprichos weitgehend innerhalb des bekannten Rahmens der aufklärerischen Kritik: an der Ständegesellschaft, an der Kirche (v. a. der Inquisition) und am Aberglauben der Bevölkerung. All dies war unter den Intellektuellen Madrids gängig, fand aber kein Massenpublikum. Der Versuch, über den freien Verkauf einen Gewinn mit den Caprichos zu erzielen, scheiterte kläglich. Als Goya vier Tage nach Verkaufsbeginn die Werke zurückzog, möglicherweise um Scherereien mit der Inquisition zu umgehen, waren von rund 300 erst 27 Exemplare verkauft, vier davon an die Herzogin von Osuna.37 Das ist ein erstes Indiz dafür, dass Goyas Produktionen, in denen er seine Autonomie nutzte, um sein eigenes Kunst- und Weltverständnis darzustellen, nicht marktgängig waren. Um die Mitte der 1790er Jahre hatte er begonnen, ganz auf eigene Initiative Werke herzustellen, da – wie er gegenüber einem Freund erklärte – in den Auftragsarbeiten „Lau35 36 37
Ebd., S. 195. Hennis, Vernunft, S. 363–368. Hofmann, Goya, S. 118; Soubeyroux, Goya, S. 62.
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ne und Erfindungsgabe (el capricho y la invención) nicht frei schalten und walten können“.38 Im selben Schreiben verwies er auf seine „gequälte Phantasie“, die von der „Betrachtung meiner Leiden“ abgelenkt werden müsse. Damit kommen zwei Phänomene ins Spiel, die offenbar im Zusammenhang gesehen werden müssen. Mit den Termini „Laune“ und „Einbildungskraft“ geht er ästhetisch und mentalitätsgeschichtlich auf Distanz zu den Diskursen der Aufklärung, und zwar exakt in einer Zeit, die als individuelle Lebenskrise Goyas bezeichnet werden kann. Diese geht ein paar Jahre der kollektiven politischen Krise Spaniens voraus, die wiederum in Rückkoppelungsprozessen die individuellen Unsicherheiten Goyas vermehrte und dieserart zur Radikalisierung von Ansätzen beitrug, die seit seiner persönlichen Lebenskrise erkennbar sind. Letztere wurde verursacht durch eine schwere Erkrankung Goyas Anfang 1793. Zwar erholte er sich nach einigen kritischen Wochen allmählich, ohne aber sein Hörvermögen wiederzuerlangen. Für den Rest seines Lebens blieb Goya taub.39 Die Behinderung beeinträchtigte nicht unmittelbar sein professionelles Schaffen. Aber gleichwohl veränderte sich seine Kunst. Nach dem Verlust vertrauter Kommunikationsformen und einer zwangsläufigen 38 Francisco de Goya in einem Schreiben an seinen Freund Don Bernardo de Iriarte, 4.1.1794, zitiert in: Hofmann, Goya, S. 52. 39 Um welche Erkrankung es sich handelte, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Hirnhautentzündung infolge einer Syphillis wird ebenso diskutiert wie eine Bleiintoxikation, zu letzterer vgl. Klaus Lederbogen: Francisco Goyas Krankheit und Tod, in: Deutsches Ärzteblatt H. 36 (1979), S. 2288–2292.
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Isolation intensivierte Goya die Auseinandersetzung mit sich selbst. Peter Gay hat in seiner Studie zur „Erforschung des Ich“ das 19. Jahrhundert als das „Jahrhundert der Introversion“ 40 bezeichnet, in dem sich die Bürger „mit Leidenschaft, fast bis zur Neurose, ins Selbst vertieft“ 41 hätten. Wie sehr Goya auch in diesem Bereich bereits zur Jahrhundertwende eine zentrale Tendenz des 19. Jahrhunderts verkörperte, verdeutlichen schon seine 26 erhaltenen Selbstporträts.42 Nicht minder aussagekräftig aber sind Werke mit anderen Motiven, in welche er – frei in Launen und Einbildungskraft – mit dem Pinsel seine Welt- und Selbstsicht nach dieser Krise einschrieb. Indem er nun Schiffbrüchige, vor einem Brand Flüchtende oder Insassen von Hospitälern oder Irrenanstalten malte, deren verbindendes Glied die Verzweiflung ist, trat eine gänzlich neue Dimension in seinem Schaffen zu Tage. Die späteren Werke sind umso behutsamer zu interpretieren, als es fortan weniger Texte gibt, die die Deutungsoffenheit eingrenzen: Gab es für die Caprichos neben den Legenden der Bilder auch Kommentare und für den allgemeinen Kontext den Briefwechsel mit Zapater, fällt diese Form der Kontextualisierungshilfe plötzlich weg. Doch schon der Umstand, dass der Briefwechsel mit dem Freund drei Jahre vor dessen Tod unvermittelt abbricht, legt nahe, von tiefgreifenden Veränderungen auszugehen. Dabei 40 Peter Gay: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich. München 1997, S. 11. 41 Ebd., S. 9. 42 Vgl. Soubeyroux, Goya, S. 43.
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ist nicht auszuschließen, dass Zapaters Neffe, dem die Hinterlassenschaft anvertraut worden war, diejenigen Briefe hat verschwinden lassen, die seinen eigenen vehementen Beteuerungen widersprochen hätten, wonach Goya vollkommen unpolitisch gewesen und der Kirche treu geblieben sei.43 Diese Auffassung dürfte jedenfalls nach näherer Sicht der Dinge schwer aufrechtzuerhalten sein, auch wenn es unmöglich ist, das genaue Ausmaß der Distanzierung Goyas vom politischen Regime und der Kirche zu bestimmen. Brisant wurden diese Fragen erst durch den politischen Umsturz des Jahres 1808, dessen Folgen Goyas individuelles Krisenempfinden zusätzlich verschärften. Der allgemeine Zäsurcharakter dieser Zeit mag daran ermessen werden, dass sie als „Urknall“ in der spanischen Geschichte bezeichnet wurde.44 Auslöser war der Staatsstreich des späteren Ferdinand VII., der sich im März 1808 gegen seinen Vater, Karl IV., erhob.45 43 Der Neffe reagierte damit auf die Veröffentlichung von Yriarte, in welcher Goya als „liberal“ und „ungläubig“ dargestellt wurde, vgl. Francisco Zapater y Gómez: Goya. Noticias biográficas, Zaragoza 1868. Zur Vermutung, Francisco Zapater habe einen Großteil der Briefe vernichtet, siehe Soubeyroux, Goya, S. 12. 44 Vgl. Hans-Otto Kleinmann: Zwischen Ancien Régime und Liberalismus (1808–1874), in: Peer Schmidt (Hg.): Kleine Geschichte Spaniens, Stuttgart 2002, S. 253–328, S. 259. 45 Zur Vorgeschichte des Unabhängigkeitskriegs vgl. u. a. Charles Esdaile: War and politics in Spain 1808– 1814, in: The Historical Journal 31,2 (1988), S. 295–317; zu Ferdinand VII. siehe die Beiträge in Rafael Sánchez Mantero (Hg.): Fernando VII. su reinado y su imagen; Dossier in Ayer 41 (2001), S. 11–162; Emilio La Parra López: El mito del rey deseado, in: Christian Demange u. a. (Hg.): Sombras de Mayo. Mitos y memorias de la
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An die Macht kam Ferdinand dennoch vorerst nicht, weil Napoleon Vater und Sohn zum Verzicht nötigte und stattdessen den eigenen Bruder Josef, nunmehr José I., als König in Spanien einsetzte. Doch noch vor dessen Ankunft erhoben sich Teile der Madrider Bevölkerung am 2. Mai 1808 gegen die französischen Besatzungstruppen, womit sie das Fanal für eine landesweite Bewegung gaben, die in den sechsjährigen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich mündete, der im gesamten von Napoleon beherrschten Europa mit allergrößter Spannung verfolgt wurde.46 Nachdem 1805 Österreich, 1806/7 Preußen und Russland geschlagen bzw. in einen Friedensvertrag genötigt worden waren, ging jetzt 1808 der nationale Widerstand gegen Napoleon von Spanien aus. In der europaweiten Historiographie des 19. Jahrhunderts waren die Befreiungskämpfe Sternstunden des nationalen Kollektivs und Bewährungsproben für individuelles Heldentum. Entsprechend tauchte auch in der GoyaForschung die bis auf den heutigen Tag immer wieder aufblitzende Frage nach dessen Patriotismus auf. Dieser schien mit Verweis auf die Historienbilder zum „2. Mai 1808“ und zum „3. Mai 1808“ hinreichend belegt. Berühmt ist insbesondere das Bild vom 3. Mai, Guerra de la Independencia en España 1808–1908, Madrid 2007, S. 221–236. 46 Zum Unabhängigkeitskrieg vgl. u. a. Charles Esdaile: Fighting Napoleon. Guerrillas, Bandits and Adventurers in Spain, 1808–1814, New Haven/London 2004; Ronald Fraser: La maldita Guerra de España. Historia social de la guerra de la Independencia, 1808–1814, Barcelona 2006, bzw. auf Englisch: Napoleon’s Cursed War. Spanish Popular Resistance in the Peninsular War, 1808– 1814, London/New York 2008.
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auf welchem die Aufständischen vom Vortag durch französische Soldaten exekutiert werden, die in ihrer Anonymität für das Kollektiv der Feinde stehen (vgl. Abb. 3). Hervorgehoben ist ein Spanier, der in der Ikonographie der Christusfigur, akzentuiert durch Stigmata an den Händen, den Tod erwartet. Aus dem Bild wurde – wenn auch viel später – eine nationale Ikone.47 Doch lässt die Genese der Bilder weniger auf Goyas Patriotismus als vielmehr auf seinen Pragmatismus rückschließen. Bot sich Goya doch erst 1814 an, die Bilder zu malen, als erstens der Krieg entschieden und zweitens ein Beleg für sein antifranzösisches Engagement höchst opportun war, da sich soeben eine „Reinigungskommission“ daran gemacht hatte, den Staatsapparat von allen unlauteren Elementen der Kollaboration zu reinigen.48 Tatsächlich gibt es genug Indizien dafür, dass Goya sich lange Zeit durchaus pragmatisch den jeweiligen Machtverhältnissen angepasst hat. Symptomatisch dafür ist Goyas „Allegorie der Stadt Madrid“, deren Fokus ein Medaillon bildet, in dem heute die Inschrift „Dos de Mayo“ („Zweiter Mai“) zu lesen ist.49 Ursprünglich aber enthielt es ein Porträt von José I., um welches die Stadt den „besten Künstler, dessen man habhaft werden könne“, gebeten 47 Zur Entwicklung des 2. Mai zum nationalen Mythos vgl. Christian Demange: El Dos de Mayo. Mito y fiesta nacional (1808–1958), Madrid 2004. Zu Goyas Bildnissen siehe v. a. ebd., S. 107 ff. 48 Siehe Gérard Dufour: Goya durante la guerra de la independencia, Madrid 2008, S. 213. 49 Zur wechselvollen Geschichte der „Allegorie der Stadt Madrid“ vgl. u. a. Hofmann, Goya, S. 182 f.
Abb. 3: Los fusiliamientos del Príncipe Pío, o El tres de Mayo de 1808 (Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808)
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hatte. Als aber José 1812 angesichts der vorrückenden Truppen Wellingtons Madrid verlassen musste, wurde sein Bild schnell mit dem Schriftzug „Constitución“ übermalt, was eiligst wieder entfernt wurde, nachdem José noch einmal hatte zurückkehren können. Nach dessen definitivem Rückzug erschien 1813 erneut das Wort „Constitución“ innerhalb des Medaillons, bevor dies 1814 einem Porträt Ferdinands VII. weichen musste.50 Ungerührt führte Goya die Aufträge aus bzw. veranlasste ihre Ausführung. Zudem ließ er sich von José mit dem neuen spanischen Orden dekorieren und war bereit, an der Auswahl spanischer Kunstwerke mitzuwirken, die für Napoleons großes Museumsprojekt außer Landes gebracht werden sollten.51 Viel spricht dafür, und das unterscheidet ihn dann doch erheblich von zentralen Strömungen im 19. Jahrhundert, dass das nationale Differenzkriterium für seine Identitätsbildung nicht entscheidend war. „Francisco de Goya. Pintor y Aragonés“, schrieb er unter das Selbstporträt aus dem Jahr 1815.52 Auch in seinen berühmten Kriegsradierungen, den „Desastres de la guerra“, ist nichts von der manichäischen Sichtweise erkennbar, die den national gesonnenen Intellektuellen der Befreiungskriegsära so oft eigen war. Die Appelle eines Heinrich von Kleist oder Ernst Moritz Arndt, die Franzosen nach Kräften totzuschlagen, lassen sich aus Goyas Schöpfungen nicht 50 Vgl. u. a. Dufour, Goya, S. 96; Hofmann, Goya, S. 182 f. 1843 wurde Ferdinand erneut durch das Wort „Constitución“ ersetzt, bis 1872 endgültig die Entscheidung für die Worte „Dos de Mayo“ fiel. 51 Vgl. Dufour, Goya, S. 102 f. 52 Vgl. Soubeyroux, Goya, S. 37.
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herauslesen. Keineswegs werden den „guten“ Spaniern die „bösen“ Franzosen entgegengesetzt. Goya hatte schon deshalb wenig Anlass zu einer solchen Simplifizierung der Dinge, als die Politiker, Beamten und Intellektuellen aus seinem Madrider Freundeskreis sich teils dem spanischen Unabhängigkeitskampf, teils dem französischen König angeschlossen hatten.53 Außerdem überboten sich die kriegführenden Parteien wechselseitig in der Forcierung von Reformprojekten. Auf die von den Franzosen oktroyierte Verfassung von Bayonne, die den Spaniern erstmals eine Konstitution in Aussicht stellte und die Inquisition beseitigte, hatten die spanischen Liberalen mit der Ausarbeitung der Verfassung von Cádiz reagiert, die insofern eine sehr viel demokratischere Alternative war, als sie erstmals das Konzept der Volkssouveränität verhieß und die Rechte des Königs rigoros beschnitt.54 Die Vorstellungen der Verfassungsväter 53 Die Freunde Leandro Fernández de Moratín, Juan Antonio Melón und Juan Meléndez Valdés hatten sich für eine Kooperation mit José I. entschieden, vgl. Dufour, Goya, S. 99; Jovellanos hingegen entschied sich – wie Floridablanca – zur Mitarbeit in der Junta Central, welche den Kampf gegen das französische Heer organisierte, vgl. Soubeyroux, Goya, S. 108; Dufour, Goya, S. 99. 54 Zur Verfassung von Bayonne vgl. u. a. José Fernando Merino Merchán: Regímenes históricos españoles, 2. Auflage Madrid 2008, S. 35–50. Zur spanischen Verfassungsgeschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. allgemein Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann: Spanien, in: Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800, hrsg. von Peter Brandt/Martin Kirsch/Arthur Schlegelmilch, Bonn 2006, S. 641–639. Zur Volkssouveränität als Zentrum der Verfassung von 1812 vgl. Antonio Fernández
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von Cádiz und jener von José I., der sich als roi philosophe verstand, waren jedenfalls einander sehr viel näher als die spanischen Liberalen ihrem absolutistischen König Ferdinand VII., in dessen Namen sie die Franzosen bekämpften. Insofern ist es plausibel, dass Goya nicht eindeutig Partei bezog. Seine Kriegsbilder zeigen die Opfer beider Seiten. Dass Goya als Medium der 82 Darstellungen nicht etwa Zeichnungen im persönlichen Skizzenheft, sondern Metallplatten wählte, deren Drucke einen hohen Verbreitungsgrad gewährleisten könnten, lässt auf eine sozialkritische Absicht schließen.55 An eine Veröffentlichung aber war bis 1820 umso weniger zu denken, als Goya in dem letzten Drittel der Sammlung erneut Absolutismus und Klerikalismus anprangerte, die nach der Vertreibung der Franzosen 1814 mit Ferdinand VII. zurückgekehrt waren. Die Verfassung von Cadiz wurde für nichtig erklärt und wer sich dem Projekt verschrieben hatte, zur Rechenschaft genötigt. Goya selbst überstand zwar anstandslos seinen rund einjährigen „proceso de depuración“, den „Reinigungsprozess“, was wohl nur dem Umstand geschuldet war, García (Hg.): La constitución de Cádiz (1812) y discurso preliminar a la constitución, Madrid 2002, S. 34–38; zu den neuen Einschränkungen der Vorrechte des Monarchen siehe unter Título IV (del Rey) die Artikel 172 und 173, hier abgedruckt S. 129–131. Zur Vorgeschichte der Entwicklung von Konzepten der Volkssouveränität in Spanien sowie deren stark katholischer Ausrichtung in der Verfassung von Cádiz vgl. José María Portillo Valdés: Revolución de nación. Orígenes de la cultura constitucional en España 1780–1812, Madrid 2000. 55 Vgl. Soubeyroux, Goya, S. 91. Was hier auf die Caprichos bezogen wird, gilt nicht minder in Bezug auf die Kriegsradierungen.
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dass den Kommissionsmitgliedern das Ausmaß von Goyas Kooperationsbereitschaft mit José nicht bekannt war, so dass er wieder zu Ehren als Erster Hofmaler kam.56 Aber sein Anpassungsvermögen an die wechselnden politischen Systeme geriet nunmehr offenbar an eine Grenze. Sein sozialer Rückzug wurde 1819 manifest erstens mit dem Erwerb der sogenannten Quinta del Sordo, eines Landhauses außerhalb des Stadtzentrums, und zweitens mit der Ausgestaltung von dessen Innenwänden, die einen ästhetischen, politischen und religiösen Bruch mit den gesellschaftlichen Normen seiner Gegenwartsgesellschaft dokumentieren. In großen Formaten malte er seine „Pinturas negras“ direkt auf die Wände: Kunstwerke, die Zeugnis ablegen von seinem allgemeinen, durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung zugespitzten Skeptizismus. Nur kurz flackerte 1820 ein gewisser Optimismus auf, als nach einem Aufstand die erneute Proklamation der Verfassung von Cádiz erzwungen werden konnte.57 Doch als die innergesellschaftlichen Spannungen nicht zuletzt durch eine Spaltung der Liberalen eskalierten, veränderten sich
56 Die Kommission war im Mai 1814 eingesetzt worden und sprach Goya im April 1815 von den Vorwürfen der Kollaboration frei, vgl. Dufour, Goya, S. 228–241. Hier bestätigten die Zeugen: „(. . .) se ha conducido el D. F. Goya con mucho patriotismo a favor de la Justa Causa, que defendía la Nación“ und „fue mirado y estimado por los buenos Españoles como amante de la Nación“, zitiert ebd., S. 233. 57 Zum Trienio liberal (1820–1823) vgl. Alberto Gil Novales: El Trienio liberal, 2. Aufl., Madrid 1989; Miguel Artola Gallego: La España de Fernando VII., 3. Aufl., Madrid 1983, S. 671–841.
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seine Bilder. Aus einer Figur, die ursprünglich ein Tänzer hätte werden sollen, wurde Saturn, der seine Kinder frisst (vgl. Abb. 4).58 Nachdem französische Truppen einmarschiert, der Absolutismus ein zweites Mal wieder hergestellt und ein noch rigoroseres Repressionssystem installiert worden waren, was zu regelrechten Hexenjagden auf Liberale führte, sah auch Goya keine Perspektive mehr für sich und verließ – wie unzählige andere – das Land.59 Es blieb allerdings ein Rest an Anpassung und Pragmatismus, insoweit er mit der Ausreise wartete, bis ihm vom König regulär eine Badekur in Frankreich genehmigt worden war. Er lebte in den folgenden fünf Jahren – ohne dass ihm die Pension entzogen worden wäre – in Bordeaux, wo er 1828 starb.60 Die von Goya immer wieder aufgegriffenen Themen – und damit sind wir bei Punkt 3: Forschungstrends und -perspektiven für das 19. Jahrhundert – bieten Beispiele für beide möglichen Narrative der Moderne: für das optimistische Aufstiegsnarrativ und jenes, das nicht nur die Beharrungskräfte des Düsteren, Irrationalen, sondern gar dessen dialektische Intensivierung im Zeichen fortschreitender Aufklärung betont. Zum Fortschrittsnarrativ gehören Zeichnun-
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Vgl. Soubeyroux, Goya, S. 141 f. Zu den nunmehr beginnenden „zehn unheilvollen Jahren“ vgl. Jean-Philippe Luis: La década ominosa (1823–1833), una etapa desconocida en la construcción de la España contemporánea, in: Sánchez Mantero, Fernando VII., S. 85–118. 60 Siehe u. a. Held, Goya, S. 127–130. 59
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Abb. 4: Saturno devorando a un hijo (Saturn frisst seine Kinder)
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gen, welche im Zusammenhang mit der zwischenzeitlichen Erfolgsgeschichte des spanischen Liberalismus entstanden. „Lux ex tenebris“ benannte Goya das um 1820 entstandene Blatt Nr. 117 in dem sogenannten „Tagebuch-Album“61, in dem eine Frau im Strahlenkranz das Dunkel erhellt und den Menschen im Halbschatten ein kleines Büchlein darbringt. Die Frauenfigur ist aus anderen Darstellungen als Wahrheit, Freiheit oder Gerechtigkeit bekannt; der Text in ihrer Hand verweist wohl auf die Verfassung von Cádiz, auf welche Goya – wie alle anderen Madrilenen – nach der Vertreibung der Franzosen aus der Stadt einen öffentlichen Eid abgelegt hatte.62 Nach allem, was wir wissen, dürfte Goya dies gern getan haben, entsprach die liberale Gesetzgebung doch seinen in den Caprichos zum Ausdruck gekommenen Grundüberzeugungen von rechtlicher Gleichheit, religiöser Aufgeklärtheit und grundsätzlicher Meinungsfreiheit. Deren massive Einschränkung und die erbarmungslose Verfolgung seiner Gesinnungsgenossen nach der Rückkehr Ferdinands VII. klagte er in der Skizze „Por liberal?“ (vgl. Abb. 5) an (was übersetzt werden könnte mit: „Verhaftet wegen liberaler Gesinnung?“), um schließlich 1820 nach der erneuten Proklamation der Verfassung von Cádiz die neue Freiheit zu feiern.63 Noch einmal träumte er jetzt, 1820, den Traum 61 Den Entstehungszeitraum der Zeichnung C 117 datiert Gassier auf 1820–1824. Aus dem politischen Kontext heraus erscheint v. a. das Jahr 1820 plausibel. 62 Vgl. Dufour, Goya, S. 254. 63 Vgl. u. a. Jens Späth: Der Krieg der Federn. Pressefreiheit und Zensur in Spanien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Gabriele B. Clemens (Hg.): Zensur im
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Abb. 5: Por liberal? (Weil sie eine Liberale ist?)
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der Aufklärung und hielt ihn in einer Zeichnung fest, auf der zu sehen ist, wie die Vernunft, „die göttliche Vernunft“ (Divina razón) für Gerechtigkeit sorgt und mit kräftigen Schlägen die Nachtvögel des Absolutismus vertreibt. Dabei war Goyas Euphorie nur eine Stimme in dem kräftigen Chor der europäischen Liberalen, die – weit über die Pyrenäen hinaus – die spanische Entwicklung überaus bewundernd verfolgten, so wie komplementär dazu die Konservativen besorgt waren. Letztere hatten mit Sorge die „lebhafte Freude“ registriert, die in Süddeutschland „selbst in den höhern Klassen“ geäußert worden sein sollte. Ein Vertreter der sächsischen Regierung fürchtete nun eine „Fortpflanzung so gefährlicher Beyspiele“.64 Auch in Preußen wurde befürchtet, dass die „Pest der Doktrinen“ die Pyrenäen mit Leichtigkeit überwinden und Europa erneut in revolutionäre und kriegerische Unruhen stürzen könne.65 Wie berechtigt die Sorge war, ergab sich nur zu Vormärz: Pressefreiheit und Informationskontrolle in Europa, Ostfildern 2013, S. 197–218. 64 Schreiben des sächsischen Kabinettsministers für innere und äußere Angelegenheiten, Detlev von Einsiedel, in den Schreiben vom 18.4.1820 und 28.7.1820 an die sächsische Gesandtschaft in Wien, zitiert in: Judith Matzke: Das Spanienbild in Sachsen zur Zeit des „Trienio liberal“. Eine Studie zur Rezeption der spanischen Revolution 1820–1823, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 72 (2001/2002), S. 119–147, S. 126. 65 „Quelle déplorable (. . .) nouvelle!“, hatte der damalige Geschäftsführer der politischen Abteilung im preußischen Außenministerium, Johann Peter Friedrich Ancillon, den Beginn des trienio liberal in Spanien kommentiert, „Elle menace de réouvrir pour l’Europe, le cycle funeste des révolutions et des guerres qui venait à peine
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bald, als in einem einmaligen Vorgang in der Geschichte gleich mehrere Staaten, nämlich Portugal, die beiden Sizilien und Sardinien-Piemont, kurzerhand die spanische Verfassung von Cádiz übernahmen.66 Diese aber galt als „das democratischste Werk (. . .) das wohl je (. . .) entworfen worden ist“ 67, was der sächsische Gesandte keineswegs positiv meinte. Schließlich wurde paradoxerweise gerade ihre internationale Akzeptanz der liberalen Verfassung Spaniens im Jahr 1820 zum Verhängnis: Ihre Ausbreitung in Südeuropa war den Mitgliedern der Heiligen Allianz ein solches Ärgernis, dass der Bitte Ferdinands VII. an seine absolutistischen Mitmonarchen, das konstitutionelle System mit militärischen Mitteln zu zerschlagen, letztlich entsprochen wurde.68 So war der Verd’être fermé! (. . .) Aujourd’hui il faut espérer et dire qu’il y a encore des Pyrénées mais on ne sauroit le dire avec confiance, car la peste des doctrines passe les monts et les mers.“ Schreiben von Ancillon, 25.3.1820; zitiert in: Ulrike Schmieder: Preußen und der Kongreß von Verona – Eine Studie zur Politik der Heiligen Allianz in der spanischen Frage, Diss (masch). Leipzig 1992, Dokumentenanhang, S. 1. 66 Zu diesen Entwicklungen siehe jetzt Jens Späth: Revolution in Europa 1820–1823. Verfassung und Verfassungskultur in den Königreichen Spanien, beider Sizilien und Sardinien-Piemont, Köln 2012. 67 So der sächsische Gesandte in Madrid, Karl von Friesen, in einem Brief an seinen Vater vom 11.3.1820; zitiert in Matzke, Spanienbild, S. 130. 68 Auf einer der für die Heilige Allianz einberufenen Konferenzen, dem Troppauer Kongress vom 20.10.–20.12. 1820, wurde auf Veranlassung Metternichs zunächst die allgemeine Sorge angesichts der südwesteuropäischen Entwicklungen und sodann das Recht zum Einschreiten formuliert. Im April 1822 bat Ferdinand VII. die Heilige Allianz offiziell um Hilfe, nachdem im Vorjahr die öster-
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fassung von Cádiz zwar durch die Intervention der Heiligen Allianz, bzw. das militärische Eingreifen französisch-spanischer Truppen, keine dauerhafte machtpolitische Erfolgsgeschichte beschieden, gleichwohl ist sie hinreichendes Indiz dafür, dass die Geschichte des neuzeitlichen Spanien nicht in dem alleinigen Narrativ der Rückständigkeit aufgeht. Vielmehr kamen zeitgenössische Beobachter zu dem Schluss, dass die spanischen den süddeutschen Liberalen weit voraus waren. Es ließe sich vom „Beginn des europäischen Konstitutionalismus“ sprechen – so der Titel einer Tagung, die im März 2012 am Berliner Cervantes-Institut des 200. Geburtstags der Verfassung von Cádiz gedachte und die neuesten verfassungsgeschichtlichen Erkenntnisse zusammentrug.69 Diese aktuellen Forschungen, die um eine neue Standortbe-
reichischen Truppen bereits dem absolutistischen König von Neapel zur Wiedererlangung seiner Macht verholfen hatten. Während der Konferenz von Verona Ende 1822 konnte keine einheitliche Interventionspolitik vereinbart werden, so dass Frankreich schließlich eigenmächtig beschloss, mit rund 60.000 Soldaten, unterstützt durch 35.000 spanische Freiwillige, im Frühjahr 1823 in Spanien einzumarschieren. Schon im Herbst 1823 konnte Ferdinand VII. in seine königlichen Rechte erneut eingesetzt werden. Als Überblick siehe Michael Erbe: Revolutionäre Erschütterung und erneutes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785–1830 [Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen Bd. 5], Paderborn 2004, S. 364–371. Zur Entscheidungsfindung beim Kongress von Verona siehe Schmieder, Preußen und der Kongress von Verona, S. 111–132. 69 „Die spanische Verfassung von 1812 – Der Beginn des europäischen Konstitutionalismus“, 22.–23.3.2012, veranstaltet von der FU Berlin und dem Instituto Cervantes, Berlin.
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stimmung des spanischen Beitrags innerhalb der europäischen und globalen Verfassungsgeschichte ringen, werden allerdings auch nicht umhin kommen, die Ursachen des Scheiterns bzw. die mangelnde innerspanische Akzeptanz eines letztlich utopischen Projektes neu zu erklären. Am Ende blieb es ein Traum der Vernunft, von liberalen Minderheiten geträumt. Ob Goya selbst ungeachtet der zwischenzeitlich eindeutig „liberalen“ Tendenzen seiner Bildinhalte als „Liberaler“ bezeichnet werden kann, ist dabei keineswegs so einfach zu beantworten.70 Schließlich sind der Pessimismus seiner späteren Bilderwerke und die stete, immer massivere Wiederkehr seiner Monster mit dem gängigen Fortschrittsoptimismus des politischen Liberalismus schwer zu vereinbaren. Auf der philosophischen Ebene ist der Ansatz insoweit jedoch schlüssig, als nach Kierkegaard, der 1844 eine zentrale Studie zur Angst vorlegte, die Freiheit die Vor70 Eine etwas zu einfache Gleichsetzung von Goya und Liberalismus zieht sich durch Jörg Traeger: Goya. Die Kunst der Freiheit, München 2000. Die Wahrnehmung als „Liberaler“ ist fester Bestandteil der Rezeptionsgeschichte Goyas, dazu vgl. Nigel Glendinning: Goya and his critics, New Haven/London 1977, S. 183 ff. Wie sehr die Interpretation von Werk und Vita Goyas gelenkt sein konnte von den ideologischen Vorannahmen seiner Rezipienten, zeigte nicht zuletzt die marxistische Deutung von Francis Klingender in seiner Studie „Realism and Fantasy in the Art of Goya“, in: The Modern Quarterly (Jan. 1938); siehe auch Glendinning, Goya, S. 188 ff. Diese Tradition, welcher zufolge Goya ein Vorreiter der Befreiung der Arbeiterklasse war, wurde fortgesetzt bis zur Interpretation von Konrad Wolf in dessen Verfilmung des Goya-Romans von Feuchtwanger. Vgl. Wolfgang Jacobsen/Rolf Aurich: Der Sonnensucher Konrad Wolf. Biographie, Berlin 2005, S. 345–354.
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aussetzung dafür bildet, Angst zu haben.71 Angst aber ist in der Tat ein Schlüsselphänomen in den Werken Goyas und führt uns zur zweiten Forschungsperspektive für das 19. Jahrhundert, die repräsentativ für das „Andere der Vernunft“ stehen soll. Jean Delumeau hat in seinem Standardwerk über die „Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts“ festgestellt, dass es in der Frühen Neuzeit einen Zuwachs und im 17. Jahrhundert einen Höhepunkt an Angstempfindungen gegeben habe, bevor es schließlich im 18. Jahrhundert zu einer „Gesundung der westlichen Kultur“ gekommen sei, im Rahmen derer sich die herrschende Kultur „entspannt“ habe.72 Das Licht der Aufklärung habe böse Dämonen und Hexenzauber als Einbildung entlarvt. Tatsächlich aber verschwand die Furcht nicht aus der Welt, sondern verwandelte sich – gemäß der Konzeption Kierkegaards – aus einer gegenstandsbezogenen Furcht in die eher objektlose, in das Innere des Selbst verlagerte Angst.73 So problematisch diese Differenzierung auch ist, bleibt doch richtig, dass sich in der 71 Vgl. u. a.: „Die Möglichkeit der Freiheit verkündet sich in der Angst“, in: Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst, hrsg. von Hans Rochol, Hamburg 1984, S. 79. 72 Jean Delumeau: La peur en Occident (XIVe–XVIIIe siècle). Une cité assiégée, Paris 1978, bzw. ders.: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985; Zitate hier nach Andreas Bähr: Die Furcht der Frühen Neuzeit. Paradigmen, Hintergründe und Perspektiven einer Kontroverse, in: Historische Anthropologie 16 (2008), Heft 2, S. 291–309, S. 292 f. 73 Die Zunahme von Angst als dialektische Folge der Aufklärung betont auch Begemann, vgl. Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu
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Wende zum 19. Jahrhundert etwas Signifikantes mit der Angst ereignet. Dieses scheint umso bedeutsamer, als einige Frühe-Neuzeit-Historiker – darunter Rebekka Habermas, Otto Ulbricht und Andreas Bähr – die Sichtweise von der angstbesetzten Vormoderne relativieren, schließlich habe das religiöse Instrumentarium hinreichend Linderungsmittel bereitgestellt.74 Es ist nicht zuletzt der Verlust dieser Linderungsmittel als Folge des modernen Säkularisierungsprozesses, welcher der Angst eine neue Qualität verleiht. Goya kann als Kronzeuge dieses Veränderungsprozesses aufgerufen werden, insoweit seine Werke beide Formen, die – heuristisch gesprochen – vormoderne Furcht und die moderne Angst, thematisieren. In seinem Zyklus von sechs Hexenbildern für die Herzogin von Osuna von 1797–98 zitiert Goya bekannte Theaterstücke, in denen die Angst vor Hexenkunst karikiert wird.75 So thematisiert das Bild „Vuelo de brujas“ (Flug der Hexen) die Instrumentalisierung des Hexenglaubens zu dem Zweck, moralisches Fehlverhalten zu verdecken: Um unentdeckt aus dem Gemach der Liebhaberin zu entkommen, gibt der Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987, S. 311 f. 74 Vgl. Rebekka Habermas: Ängste und Rituale des Schutzes in der frühen Neuzeit, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 21 (1992), H. 2, S. 77–81; Otto Ulbricht: Angst und Angstbewältigung in den Zeiten der Pest, 1500–1720, in: Petra Feuerstein-Herz (Hg.): Gotts verhengnis und seine straffe. Zur Geschichte der Seuchen in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2005, S. 101–112, v. a. siehe S. 4; Bähr, Furcht, S. 305–7. 75 Heckes, Goya y sus seis „asuntos de brujas“, S. 197– 214.
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unter der Decke versteckte Galan vor, ein Geist zu sein. Der zutiefst abergläubische Zeuge Don Lucas wirft sich zu Tode erschrocken hin, und während er versucht, sämtliche Sinneswahrnehmungen abzublocken, zeigt der obere Bildbereich, welche Imaginationen in seinem Inneren aufsteigen: Hexen entführen ihn durch die Lüfte und saugen derweil die Kraft aus seinem Körper. Die Angst, die den Phantasierenden völlig absorbiert, führt also dazu, dass der Missetäter unentdeckt entkommen kann. So ist Goyas Gemälde Teil des Aufklärungsdiskurses, der die Angst des Aberglaubens bannen möchte, indem er die angstbesetzten Vorstellungen als Resultat von Betrug, wenn nicht gar als interessengeleitetes Herrschaftsinstrument demaskiert. So auch in dem Capricho „Que viene el Coco“ (vgl. Abb. 6). Mit angstverzerrten Gesichtern drücken sich zwei Kinder, die vor dem „Kinderschreck“ fliehen wollen, in den Arm ihrer Mutter. Dass die Gesichtsausdrücke Fenster zu den Gefühlen der Individuen sind, war im 19. Jahrhundert unbestritten. Zugleich hatte es über die Art, wie Emotionen darzustellen und deren Darstellungen zu lesen waren, eine internationale Verständigung gegeben: So wurden die „Ideen zu einer Mimik“, die 1785/1786 von Johann Jacob Engel in Berlin publiziert und wenige Jahre darauf ins Französische übersetzt worden waren, in Spanien intensiv wahrgenommen.76 Die Überlegun76 Johann Jacob Engel: Ideen zu einer Mimik (2 Bde), Berlin 1785/86. Die französische Übersetzung erschien 1787. Zu damaligen Methoden, aus Gesichtern Gefühle zu dechiffrieren, vgl. Anne Schmidt: Gefühle zeigen, Gefühle denken, in: Ute Frevert u. a.: Gefühlswissen. Eine
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Abb. 6: Que viene el Coco (Da kommt der schwarze Mann)
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gen bezüglich der Darstellungsmöglichkeiten von Freude, Furcht oder Schrecken flossen in eine spanische Abhandlung „über den Ursprung und die Natur der Gefühle“ ein, die erschien, als Goya an den Radierungen arbeitete.77 Goya jedenfalls entwickelte eine Meisterschaft in der Einschreibung von Angst in die Gesichtszüge seiner Figuren.78 Der Gesichtsausdruck der Mutter, wohlweislich im Dunkeln, weicht dabei eklatant von dem ihrer Kinder ab, signalisiert er doch eher Freude als Furcht. Der erhaltene Kommentar Goyas zu diesem Bild weist darauf hin, dass Mütter gern vom Kinderschreck reden, wenn sie sich ungestört mit einem Liebhaber treffen wollen. (Die Kinder laufen weg, kommen garantiert so schnell nicht wieder und man hat seine Ruhe.) Dementsprechend ist es lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. 2011, S. 65–91. 77 Fermín Eduardo Zeglirscosac: Ensayo sobre el origen y naturaleza de las pasiones, Madrid 1800. Hinter dem Anagramm verbarg sich Francisco Rodríguez de Ledesma y Vayrado. So wie Engels Publikation 34 Kupferstiche enthielt, die seine Ausführungen veranschaulichen sollten, bot dieser Beitrag seinerseits 52 Bilder, „las quales demuestran los gestos y actitudes naturales de las principales pasiones que se describen“. Die Titelseite verriet zugleich, welchen Rezipientengruppen die Publikation nutzen wolle: „Obra util para los que siguen profesión cómica, y para los que se apliquen al estudio de las bellas Artes de la pintura, escultura y grabado.“ 78 Zum physischen Ausdruck von Angst vgl. Guillaume-Benjamin Duchenne: The Mechanism of Human Facial Expression, 1862 erstmals publiziert unter dem Titel: Mécanisme de la physionomie humaine: ou, Analyse électro-physiologique de l’expression des passions applicable à la practique des arts plastique. Siehe dazu u. a. Joanna Bourke: Fear. A Cultural History. London 2005, S. 11–15.
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hier die Mutter, die die Kinder nicht etwa beruhigt, sondern die Ängste schürt, von denen sie profitiert. Dabei liegt nahe anzunehmen, dass Goya mit der Kritik an der Instrumentalisierung von Ängsten nicht allein den innerfamiliären Erziehungsbereich, sondern auch politische und religiöse Institutionen meinte, welche Ängste als Disziplinierungsmittel nutzten. Wird Angst hier – ganz im Sinne von Delumeau – als etwas thematisiert, was abgestellt und überwunden werden kann, wenn nur erst die Vernunft herrscht, wird in den späteren Werken immer mehr eine Angst dargestellt, der so leicht nicht mehr beizukommen ist. Es ist nicht mehr die Angst vor Geistern und Hexen, die Goya beschäftigt. „Ich fürchte“, so vertraute Goya seinem Freund Martín Zapater an, „weder Hexen, Geister, Gespenster, großmäulige Riesen, Taugenichtse, Bösewichte noch irgendeine Sorte Körper – außer den Menschen“.79 Die Berechtigung dieser Furcht bestätigte sich vor allem im spanischen Unabhängigkeitskrieg. In seinen Desastres de la guerra rekapituliert und dokumen79 Leicht abweichend übersetzt von Eva Fritz und Otmar Binder: „Also jetzt fürchte ich keine Hexen, Kobolde, Gespenster, Riesen, Blutsauger, räuberisches Gesindel etc. . . . Ich fürchte auch keinerlei Körper, mit Ausnahme der menschlichen (. . .).“ Der Brief (Nr. 128) an Martín Zapater lässt sich nicht eindeutig datieren; hier wird angegeben: 2. Jahreshälfte 1787 oder 1792; vgl. Goya, Briefe, S. 181. Der spanische Originaltext lautet: „Yo confieso que me aturdi al principio, pero aora? Ya, ya, ya ni temo a Brujas, duendes, fantasmas, balentones Gigantes, follones, maladrines etc. ni ninguna clase de cuerpos temo sino a los humanos“; siehe Brief Nr. 123 [sin fechar 1792], in: Francisco de Goya: Cartas a Martín Zapater, hrsg. von Mercedes Agueda/Xavier de Salas, Madrid 1982, S. 210.
Abb. 7: No se puede mirar (Das kann man nicht mitansehen)
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tiert Goya die Vielfältigkeit von Angsterfahrungen, wobei die Ebenen der dargestellten Angst einhergehen mit spezifischen Darstellungsintentionen. Allem voran stellt er die Angst vor der unmittelbaren Gewalteinwirkung dar: Denen, die in nächster Sekunde durch die Salven des Exekutionskomitees oder die Axt in Händen enthemmter Zivilisten das Leben lassen müssen, steht die nackte Angst vor dem Tod im Gesicht (vgl. Abb. 7). Sodann zeigt er das ansteckende Potential der Massenpanik, indem er ziellos fliehende Menschen thematisiert.80 Dabei tritt Goya, und das macht seine Einzigartigkeit ebenso wie seine Faszination für heutige Rezipienten aus, als Anwalt der Kriegsopfer auf: der Vergewaltigten, der ermordeten Zivilisten, der Verhungernden, der verlassenen Kinder. Der Ausnahmecharakter von Goyas Kriegsbildern kann dabei nicht oft genug betont werden. Von „Erhabenheit“ oder „Todesbereitschaft“, welche die Ästhetik des Krieges seit Homer prägten, ist hier nichts geblieben.81 Im diametralen Gegensatz zum patriotischen Heldentum, welches auch die damaligen Zeitungen 80 Dies nicht zuletzt anhand des Bildes „El Coloso“, welches z. T. auch unter dem Titel „El pánico“ firmiert. Zur Interpretation vgl. Frank Irving Heckes: Goya’s Colossi: Images and reflections on Spain’s war of independence, in: Gazette des Beaux-Arts 138 (1996), S. 15–26. Zum angemesseneren Titel („El pánico“) vgl. S. 24. 81 Zu „Erhabenheit, Todesbereitschaft und Grausamkeit“ als jenen Momenten emotionaler Intensität, aus welcher die Kriegsdarstellungen ihre Attraktivität gewannen, vgl. Karl Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie, München/Wien 2004, S. 217.
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nicht müde wurden zu beschwören, hinterfragen Goyas Radierungen einen Krieg, der insgesamt eine Millionen Menschenleben, darunter 500.000 Zivilisten (bei einer Gesamtbevölkerung von 16 Millionen) kosten sollte.82 Seit dem 30jährigen Krieg hatte es in Europa keinen solch zerstörerischen Krieg gegeben wie diesen; für Spanien blieb es der verheerendste: Der Spanische Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts hatte eine deutlich geringere Verlustquote. Dabei hat es 200 Jahre gedauert, bis im Jahr 2008 eine Studie über Augenzeugenberichte vorgelegt wurde, die insofern den Text zu Goyas Bildern liefert, als nunmehr die Kriegserfahrungen auch einfacher Zivilisten, Männer wie Frauen, alter wie junger Menschen, ihre Not und ihre Angst, nachvollziehbar wurden.83 Diese Quellenberichte berühren – ebenso wie schon seit langem Goyas Bilder berühren, die nicht zuletzt wegen ihres Authentizitätsanspruchs wirken. Mit den Bildunterschriften „Yo lo vi“ („Ich habe das gesehen“, vgl. Abb. 8) beteuerte Goya seine Augenzeugenschaft und unterstrich damit die Berechtigung seiner Anklage. Wegen ihrer Authentizität sind seine Radierungen als Kriegsfotografie „avant la lettre“ bezeichnet worden.84 In einer Ausstellung am Berliner CervantesInstitut wurden sie neben Fotografien aus den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts gehängt.85 Aber 82 Charles Esdaile: Peninsular eyewitnesses. The experience of war in Spain and Portugal 1808–1813, Barnsley 2008, S. VIII. 83 Vgl. Esdaile, Eyewitnesses. 84 Vgl. Dufour, Goya, S. 40. 85 Goya. Cronista de todas las guerras: Los Desastres y la fotografía de guerra; hrsg. vom Instituto Cervantes Ber-
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Abb. 8: Yo lo vi (Ich habe das gesehen)
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schon, dass Goya hier als „cronista de todas las guerras“ (Chronist aller Kriege) bezeichnet wird, verweist darauf, dass Goya eben kein Chronist des Unabhängigkeitskriegs sein wollte im Sinne einer detailgetreuen Mimesis. Was er übrigens auch gar nicht sein konnte, schließlich hatte er Madrid während des Krieges kaum verlassen. Die schnell von den Franzosen besetzte Hauptstadt aber war zwar vom Hunger, nicht jedoch von Kampfhandlungen betroffen. Seine Kenntnisse über das Kriegsgeschehen speisten sich also ausschließlich aus seiner Reise nach Zaragoza 1808 und den Berichten anderer.86 Wie wenig er ein rein mimetisches Konzept verfolgte, kommt insbesondere in denjenigen Kompositionen zum Tragen, in denen Goya mehr als nur die Kriegshandlungen kritisiert – und in denen aus dem „politischen“ schließlich der „philosophische Maler“ wird. So thematisiert er u. a. jene unkonkrete Zukunftsangst, die durch die dumpfe Ahnung drohenden Unheils den Menschen zutiefst verunsichern kann (vgl. Abb. 9). Zugleich verweigert er oftmals dem Betrachter den erkennenden Blick auf die Ursache der Angst, was als Indiz für den Verlust traditioneller Erklärungsmuster aufzufassen ist. Wenn aber der auslö-
lin und Calcografía Nacional. Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Madrid/Berlin 2012. Ausstellung im Instituto Cervantes Berlin 13.2.–30.03.2012. 86 Zur Reise nach Zaragoza 1808 vgl. u. a. Held, Goya, S. 92 ff.; Dufour, Goya, S. 54–58. Zur Situation in Madrid, in der Goya zwar die fatalen Auswirkungen des Hungers, aber weniger Kriegshandlungen miterlebte, so dass sich seine Darstellungen auf Berichte stützen mussten, vgl. Dufour, Goya, S. 128–133.
Abb. 9: Tristes presentimientos de lo que ha de acontecer (Trübe Vorahnungen dessen, was sich ereignen wird)
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sende Reiz der Angst nicht erkannt wird, bleibt – gemäß aktueller psychiatrisch-medizinischer Angstforschung – der Weg zu ihrer Bewältigung versperrt.87 So ist es das Fehlen einer „vernünftigen“ Ursache selbst, welche die Angst verändert und dadurch radikalisiert. Damit einher geht die Angst vor dem Sinnverlust. Dass sich die Menschen auf Goyas Kriegsdarstellungen „mit oder ohne Grund“ (vgl. Abb. 10) abmetzeln, muss den Betrachter zutiefst verunsichern, der die Banalität der Motivation mit der Brutalität des Geschehens in keinen „vernünftigen“ Zusammenhang bringen kann. Die Sinnlosigkeit des Mordens, die weder durch die Verheißung einer weltimmanenten noch einer transzendentalen Auferstehung gelindert wird, gipfelt in einem frühen Nihilismus, der an Schopenhauer denken lässt, der sein Hauptwerk mit dem Wort „Nichts“ enden ließ.88 Bei Goya hält ein verwesender Leichnam auf dem Desastre Nr. 69 ein Blatt mit der Aufschrift „Nada“, „Nichts“, aus dem Grab (vgl. Abb. 11). Das sinnlose Massensterben forciert die Befürchtung der Nichtigkeit der individuellen Existenz. Un87 Die aktuelle Unterscheidung zwischen Furcht und Angst in der Psychiatrie basiert auf der Erkennbarkeit eines in Raum und Zeit erkennbaren Stimulus, vgl. Arne Öhman: Fear and Anxiety. Overlaps and Dissociations, in: Michael Lewis/Jeannette M. Haviland-Jones/Lisa Feldman Barrett (Hg.): Handbooks of Emotions, 3. Auflage, New York/London 2008, S. 709–729, S. 710 sowie 712: „(. . .) threat stimuli must be detected wherever they occur in the perceptual field.“ 88 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Werke in zehn Bänden, 2. Bd., Zürich 1977, S. 509.
Abb. 10: Con razón o sin ella (Mit oder ohne Grund)
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Abb. 11: Nada. Ello dirá (Nichts. Das wird er sagen)
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zählige Leiber lässt Goya in seinen Radierungen in Gräbern verschwinden, auf Karren werden die Leichname aus dem Hungerjahr 1812 zu den Friedhöfen gebracht, andere werden, ihrer Kleider oder Zähne beraubt, in Massengräber geworfen. In engem Zusammenhang mit der Angst stellt Goya diese Gewalt dar. Schon in den Caprichos spielte die Gewalt als Herrschaftsform in zwischenmenschlichen Beziehungen eine dominierende Rolle. Doch in den Darstellungen der Kriegsfolgen erhält die Gewalt eine neue Dimension. Die Gräuel der napoleonischen Kriege sind jüngst in einer neuen Studie zum Russlandfeldzug deutlich geworden.89 Doch war es dort vor allem die Natur, der Winter, der die Soldaten physisch wie moralisch degenerieren ließ. Auf der Iberischen Halbinsel fällt es weniger leicht, die Pervertierung der Kriegsführung zu erklären. „Misera humanidad, la culpa es tuya“ – „Elende Menschheit, Du trägst die Schuld“ – steht auf einer von Goyas Radierungen zu lesen.90 So geraten die Kriegsszenen Goyas zu Einblicken in die Abgründe des Menschen an sich, der auch ohne äußeren Grund Böses zu tun bereit ist, und sich gar am Bösen delektiert. Damit kommt eine Lust an der Angst hinzu, nicht zuletzt eine Lust an der Angst und am Leiden anderer. Mit ästhetischen Mitteln seziert Goya einen Sadismus, der mit der funktionalen Überwindung eines Kriegsgegners nichts mehr
89 Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland, München 2012; vgl. auch die Rezension von Gustav Seibt: In der Polarmacht der Bestialität, in: SZ 13.3.2012. 90 Desastre Nr. 74, welches bezeichnenderweise die Legende trägt: „Esto es lo peor!“ (Das ist das Schlimmste!).
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zu tun hatte. Zahlreich sind Darstellungen, in denen die Gegner nicht nur einfach getötet, sondern akribisch zerstückelt werden, so hier in einer Szene, deren historischer Kern auf ein Massaker an den Bewohnern des Dorfes Chinchón zurückführt, wovon Goya durch seinen dort als Kaplan tätigen Bruder unterrichtet war. Gerade aber diese Radierung ist weniger ein historisches Dokument, als vielmehr eine sorgfältige Komposition (vgl. Abb. 12).91 Schließlich zeugt das Bild des zerstückelten, penetrierten – und damit seiner Souveränität gänzlich verlustig gegangenen – Mannes von einem Welt- und Menschenbild, das nicht nur mit dem klassizistischen Ganzheitsideal und der Vorstellung schöner, ebenmäßiger, abgeschlossener Körperlichkeit gebrochen hat.92 Der versehrte Körper galt in der zeitgenössischen Ästhetik als massive Provokation, die in diesem Fall umso mehr irritierte, als Goya den antiken Torso von Belvedere zitiert, wohl eine Herkules-Skulptur, deren Ebenmäßigkeit allenthalben bewundert wurde.93 Das 91 Zu den Desastres als Resultat der „Einbildungskraft“ als „Variationen der Phantasie über die menschliche Grausamkeit“ vgl. Wolfgang Sofsky, Kriegsbilder, in: Kursbuch 147 Gewalt, März 2002, S. 152. 92 Zum gewalttätigen Eindringen in das Körperinnere als dem „schwersten denkbaren Angriff auf das intimste Selbst und die Würde des Menschen“ vgl. Irmtraud Götz von Olenhusen: Sexualisierte Gewalt. Eine historische Spurensuche vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Peter Burschel/Götz Distelrath/Sven Lembke (Hg.): Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter, Köln 2000, S. 217–236, S. 217. 93 Vgl. Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals, Göttingen 2001, S. 9 f. Der Torso galt Wilhelm von Hum-
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Abb. 12: Esto es peor (Das ist schlimmer)
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Provokante an Goyas Darstellung ergibt sich aus dem von Herder mit Blick auf diesen antiken Torso angedeuteten rezeptionsästhetischen Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert, der Kunstwerke nicht mehr visuell, sondern durch die Vorstellung des Fühlens erschloss: „Die fühlende Einbildungskraft“, so Herder, „siehet nichts, was sie vor sich hat; sondern tastet, wie in der Finsternis, und wird begeistert von dem Körper, den sie tastet“.94 Der Körper aber, den Goya präsentiert, begeistert nicht, sondern lässt erschauern. Doch gerade darin liegt eine diabolische Attraktivität, die zugleich abstößt und fasziniert. Herder selbst sprach angesichts der Darstellung deformierter Körper und der Empfindung von „Zerstörung, und Zuckung, und Verzerrung, und Mißbildung, und Unvollkommenheit“ von einem „widrigen Schauer“, der durch seine
boldt zufolge sonst auch in der Verstümmelung noch als „ein Ganzes“, vgl. Bruno Gebhardt (Hg.): Wilhelm von Humboldts politische Denkschriften, Bd. 3, 1815–1834, Berlin 1904, S. 552. 94 Johann Gottfried Herder: Philosophie des Gefühls, in: Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen: Viertes Kritisches Wäldchen, in: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1777–1781, hrsg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1993, S. 247–442, S. 312. Die Passage bezog sich explizit auf den HerkulesTorso, der „in den mächtigen Umrissen seines Leibes die Kraft des Riesenbezwingers“ fühlbar werden lasse, die „große, prächtige Brust, die den Geryon erdrückte, und die starke unwankbare Hüfte, die bis an die Grenzen der Welt“ geschritten sei, vgl. ebd. Diese Unbesiegbarkeit dessen, der als Urvater der spanischen Nationalmythologie gilt, wird durch die Radierung in radikaler Form ad absurdum geführt.
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Glieder jage und ihn seine „Zerstörungen innerlich ahnden“ lasse.95 Das von Herder angedeutete Potential führt Goya zu einem vollkommen neuen Extrem. Dabei stehen die Radierungen erstens für einen ästhetischen, zweitens für einen weltanschaulichen Bruch, insofern als sie den Blick auf die inneren Deformationen lenken. Diese liegen nicht zuletzt in der im spanischen Unabhängigkeitskrieg bedrückend deutlich gewordenen Bereitschaft des Menschen zum Bösen. So zeigt Goya in einer anderen Radierung einen Soldaten, der mit dem Gesichtsausdruck höchster Zufriedenheit auf einen vor ihm baumelnden Erhängten blickt – und sich dabei auf einen in dieser Landschaft völlig deplatzierten Quader lehnt, der auffällige Ähnlichkeit mit demjenigen aufweist, auf welchen sich der Träumende im Capricho 43 stützt (vgl. Abb. 13). Eine bewusste Korrespondenz mit dem „Traum der Vernunft“? Der pervertierte Mensch als Personifikation der Monster, die im Krieg die Vernunft verdrängt haben? Aus dem Traum wurden – so der Gewaltforscher Wolfgang Sofsky – „Alpträume von der schwar95 Johann Gottfried Herder: Plastik (1770), in: ders.: Werke, hrsg. von Wolfgang Pross, Bd. 2: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, München/Wien 1987, S. 401–542, S. 444. Vgl. auch Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1986. Wenn der Körper gemäß damaliger Vorstellungen „die sichtbar gewordene Seele selbst“ sei, ist nicht nur die Physis als Opfer des Krieges zu erkennen. Vgl. Wolfgang Kemp: „Die Beredsamkeit des Leibes. Körpersprache als künstlerisches und gesellschaftliches Problem der bürgerlichen Emanzipation“, in: Städel-Jahrbuch, N.F. 5 (1975), S. 111–134, zitiert in Warnke, Goyas Gesten, S. 124.
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Abb. 13: Tampoco (Auch nicht)
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zen Seite des Gattungswesens“.96 „Pinturas negras“ – „schwarze Gemälde“ schuf Goya in seiner letzten Madrider Lebensphase. „Schwarz“ nannte Jürgen Habermas jene bürgerlichen Literaten, die in ihrer Kunst das Projekt der Moderne, die gesellschaftliche Vernunft, preisgeben, und nannte explizit Nietzsche und den Marquis de Sade, der ein Zeitgenosse Goyas war.97 Das womöglich irritierendste Potential von Goyas Bildern liegt tatsächlich darin, dass die unentwegte Darstellung grausamer Szenen mit einer ganz antiaufklärerischen Bedienung der Freude an der Gewalt einhergehen kann. Das würde auf einer letzten Interpretationsstufe bedeuten, dass Goya selbst nicht nur Anwalt der Opfer, sondern zugleich Komplize der Täter ist, indem die unentwegten Gewaltdarstellungen nicht nur als Kritik, sondern auch als Reproduktion des Bösen gelesen werden können. Schließlich wird diese Freude am Bösen mit den Bildern nicht nur kritisiert, sondern auch bedient.98 Es sind diese verstö96 Sofsky: Kriegsbilder 2002, S. 149–160. Hier ist ein rigoroser Bruch mit der Konzeption der Aufklärung zu erkennen, die noch davon ausging, dass bei größtmöglicher „Freiheit der Seele“, die nur im Traum gegeben sei, die Vernunft gelingen könne, vgl. Peter Burschel: Dormir, voilà donc notre félicité. Zu Louis Sébastien Merciers „L’An 2440“, in: Peer Schmidt und Gregor Weber (Hg.): Traum und res publica. Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock, Berlin 2008, S. 373–383, S. 383. 97 Jürgen Habermas: Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1985, S. 130–157, S. 130. 98 Entsprechend stellt Bohrer – ausgehend von der Überlegung, „ob Literatur und Kunst nicht selbst durch
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renden Ambivalenzen, die nicht zuletzt Baudelaire veranlassten, Goya in seinen „Blumen des Bösen“ einen Leuchtturm zu nennen.99 Goyas Gemälden zufolge sind alle diese Phänomene Teile des Monströsen: Es ist der an Leib und Seele versehrte Mensch als Opfer des Krieges, es ist der Mensch, in dessen Abgründen Triebe innewohnen, die er lieber verstecken würde, die aber in Kriegen wie dem Unabhängigkeitskrieg Freiraum zur bösartigen Entfaltung finden, und es ist die Angst selbst, ebenso wie die Lust an ihr, die dem Menschen – nicht nur im Schlaf – zusetzen. Es sind Monster, die – nach der spanischen Definition von 1787 – faszinieren („que se admira“) und die zugleich zutiefst beängs-
ihre spezifischen Formen Anteil an diesem Bösen haben“ – die Frage: „Gibt es das böse Kunstwerk?“, vgl. Bohrer, Imaginationen, S. 15. Im Extrem führten die Grausamkeiten in den Werken Goyas dazu, diesen den Charakter des Antikriegsmahnmals abzusprechen. So meinte Eduard Fuchs darin nur eine sadistische Orientierung zu erkennen: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Goya im allerhöchsten Grade sadistisch veranlagt war, denn diese Radierungen sind ja gerade deshalb so gewaltig, und sie bilden deshalb den Höhepunkt seines graphischen Werkes, weil die Erscheinungswelt, die sie gestalten, bis in die letzte Faser innerlich genießend miterlebt ist.“ Vgl. Eduard Fuchs: Geschichte der erotischen Kunst. Bd. 2: Das individuelle Problem, München 1923, S. 374. Siehe auch Gerlinde Volland: Männermacht und Frauenopfer. Sexualität und Gewalt bei Goya, Berlin 1993, S. 137. 99 Charles Baudelaire: Die Leuchttürme, in: ders.: Blumen des Bösen, Frankfurt a. M./Leipzig 1999, S. 14 f., S. 15. Die Auseinandersetzung Baudelaires mit Goya ist auf das Jahr 1857 zurückzudatieren; der Dichter erkannte noch vor der Veröffentlichung der Desastres die Abgründigkeit von Goyas Produkten, vgl. Hofmann, Goya, S. 78.
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tigen („suele causar pavor“).100 Angst und Monster sind heutzutage wieder im Trend.101 Die aktuelle Historiographie zeugt davon, dass die Angst laut Peter N. Stearns das „vorherrschende Gefühl in der Gegenwart“ sei.102 Zahlreiche Studien zur Angst im 20. Jahrhundert liegen bereits vor.103 Nur was das 19. 100 Terreros y Pando, Diccionario, S. 613. Explizit ist zudem die Rede von einem „monstruo de crueldad“, vgl. ebd. 101 Zur Angst siehe zuletzt den Call for articles: „Wovor wir uns fürchten. Angst in den Medienkulturen des 18.–21. Jahrhunderts“; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/termine/id=19118, abgerufen zuletzt am 19.6.2012. Zur Literatur über Monster vgl. u. a. Marlin C. Bates (Hg.): The Monstrous Identity of Humanity. Monsters and the Monstrous. Proceedings of the Fifth Global Conference, Oxford UK, September 2007; http://www.inter-discipli nary.net/publishing/id-press/ebooks/the-monstrous-identi ty-of-humanity/ abgerufen zuletzt am 19.6.2012; Stephen T. Asma: On monsters: an unnatural history of our worst fears, Oxford 2009 [auf Deutsch: Monster, Mörder und Mutanten: eine Geschichte unserer schönsten Alpträume, Berlin 2011]; Wes Williams: Monsters and their meanings in early modern culture: mighty magic, Oxford 2011; Birgit Stammberger: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011; siehe auch die Beiträge der 2011 erstmals erschienenen interdisziplinären Zeitschrift „Monsters and the Monstrous“. 102 „Fear has become the predominant emotion in contemporary life“, vgl. Peter N. Stearns: Fear and contemporary history: A review essay, in: Journal of Social History 40 (2006), No. 2, S. 477–484, S. 477. 103 Zum aktuellen Forschungsstand vgl. Bettina Hitzer: Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, in: H-SozKult, 23.11.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ forum/2011-11-001. Entgegen den Eingangsbemerkungen, wonach die Angst im „Hinblick auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ „eine besonders herausge-
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Jahrhundert damit zu tun hat, ist – bis auf einige Inseln – nach wie vor ein Forschungsdesiderat, was misslich ist erstens, weil die Angstempfindungen unmittelbar mit historischen Erfahrungen verknüpft sind und daher die Angsterlebnisse des 20. nicht ohne Inrechnungstellung der Erfahrungen aus dem 19. Jahrhundert zu verstehen sind.104 Zweitens aber auch, weil die Kenntnis der Wirkmechanismen von Angst und ihrer Wahrnehmung wichtig sind für das Verständnis des 19. Jahrhundert selbst. Dass Goya und die spanische Geschichte ein geeigneter Anknüpfungspunkt für eine Geschichte der Angst im 19. Jahrhundert sein können, sollte dieser Beitrag gezeigt haben, dessen Ergebnisse sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1. An Goyas Vita und Werkentwicklung lässt sich der Aufstieg eines Künstlers an der Schnittstelle von Ancien Régime und Moderne nachvollziehen. 2. Der Blick auf Spanien lohnt sich, weil hier zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch den spanischen Unabhängigkeitskrieg und seine mentalen, polihobene Rolle“ spiele, bestätigt Hitzers Bericht das eindeutige Übergewicht von Forschungen zum 20. Jahrhundert. Studien zum 19. Jahrhundert beschränken sich auf einzelne Aufsätze, die nach der Rolle von Angst in internationalen Beziehungen fragen, vgl. Patrick Bormann/Thomas Freiberger/Judith Michel (Hg.): Angst in den Internationalen Beziehungen, Göttingen 2010. Aber auch hier beschränken sich die Beiträge auf das späte 19. Jahrhundert. 104 Zu diesem Argument vgl. v. a. Harold James: „Fear arises when deep historical experience suddenly reemerges and becomes alive as a possible version of the past“, ders.: 1929: The New York Stock Market Crash, in: Jan Plamper/Benjamin Lazier (Hg.): Special Forum: Fear Beyond the Disciplines (Representations 110 [2010]), S. 129–143, S. 142.
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tischen und verfassungsgeschichtlichen Folgen Entwicklungen angestoßen werden, die für Europa bedeutsam sind. 3. Der Beitrag Spaniens lässt sich den zwei Narrativen zuordnen, die die Moderne konstituieren. Beispielhaft für den Fortschrittsdiskurs kann die Verfassung von 1812, für das Katastrophennarrativ der Krieg selbst und die von Goya beschworene Angst angeführt werden. Liberalismus und Guerrilla haben nicht nur sprachlich ihren Ursprung in Spanien. Zum Weiterwirken beider Bereiche im 19. Jahrhundert ist noch viel Forschungsarbeit zu leisten, wozu ich auch gern die Studierenden animieren würde, und damit bin ich beim letzten, mir fraglos wichtigsten Aspekt: Angesichts der nach wie vor faszinierenden Potentiale der Geschichte des Säkulums sollte es eines ganz bestimmt nicht geben: einen Abschied vom 19. Jahrhundert.
Zur Autorin Birgit Aschmann, geb. 1967, hat die Fächer Geschichte, Spanisch und Deutsch studiert. 1998 wurde sie mit einer Studie zu den deutsch-spanischen Beziehungen 1945–1963 an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel promoviert. Dort habilitierte sie sich 2006 mit der Arbeit „Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts“. 2010 wurde sie an die Humboldt-Universität zu Berlin auf den Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts berufen.