Der Römerbrief: Rechenschaft eines Reformators [1 ed.] 9783666510137, 9783525510131


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German Pages [560] Year 2016

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Der Römerbrief: Rechenschaft eines Reformators [1 ed.]
 9783666510137, 9783525510131

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Gerd Theißen / Petra von Gemünden

Der Römerbrief Rechenschaft eines Reformators

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen und 20 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-51013-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen

Ulrich Luz gewidmet

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung. Eine forschungsgeschichtliche Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.1 Luthers Verständnis der Rechtfertigungslehre . . . . . . . . . . . . 27 1.2 Erlösung als Verwandlung: Die erste „Entlutheranisierung“ des Paulus in der liberalen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.3 Erlösung als existenzielle Erneuerung: Die Erneuerung der Rechtfertigungslehre in der Existenzialtheologie . . . . . . . . 34 1.4 Erlösung als universales Heil: Die zweite Entlutheranisierung in der New Perspective on Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.5 Paulus – Reformator des Judentums? Eine neue reformatorische ­ Paulusdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Der Gedankengang des Römerbriefs. Eine textimmanente Lektüre . . 59 2.1 Briefrahmen (1,1–17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.2 Systematischer Teil (1,18–11,36). Das Heil des Menschen . . . . . 62 2.2.1 Heil durch Werke: Die Offenbarung des Zorns Gottes über alle Menschen (1,18–3,20) . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.2.2 Heil durch Glauben: Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes für alle Glaubenden (3,21–5,21) . . . . . . . . . . . . 64 2.2.3 Heil durch Verwandlung: Die Erneuerung des Menschen (6,1–8,39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.2.4 Heil durch Erwählung: Die Rettung Israels und aller Völker (­ 9,1–11,36) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.3 Paränetischer Teil (12,1–15,13). Das Handeln des erneuerten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.3.1 Die allgemeine Paränese: Gemeinde- und Staatsparänese (­ 12,1–13,14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.3.2 Die konkrete Paränese: Der Streit von Starken und Schwachen (14,1–15,13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.4 Briefrahmen (15,14–16,23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.4.1 Reisepläne des Paulus (15,14–33) . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.4.2 Das Schlusskapitel (16,1–23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

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Inhalt

3. Konflikte im Imperium und im Christentum. Eine historische Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.1 Die Gemeinde in Rom: Attraktivität und Vertreibung von Juden . . 90 3.2 Die Situation des Paulus: Überwundene Konflikte in Kleinasien und Korinth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.2.1 Der Konflikt in Galatien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.2.2 Der Konflikt in Korinth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.2.3 Die Krise in Ephesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.3 Die Reisepläne des Paulus: Ephesus und Jerusalem, Rom und Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.3.1 Ephesus als Zwischenstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.3.2 Jerusalem als Ziel der Kollektenreise . . . . . . . . . . . . . . 110 3.3.3 Rom als Zentrum des Imperiums und Zwischenstation . . . 117 3.3.4 Spanien als Missionsgebiet und Reiseziel . . . . . . . . . . . 123 3.4 Die Intention des Römerbriefs: Pragmatische Absichten und theologische Rechenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.4.1 Die missionarische Absicht des Römerbriefs . . . . . . . . . 125 3.4.2 Die pastorale Absicht des Römerbriefs . . . . . . . . . . . . . 126 3.4.3 Die (kirchen-)politische Absicht des Römerbriefs . . . . . . 128 3.4.4 Die literarische Absicht des Römerbriefs . . . . . . . . . . . 128 4. Theologische Bilder im Römerbrief. Eine bildsemantische Lektüre . . 135 4.1 Politische Bilder: König, Richter, Priester . . . . . . . . . . . . . . 137 4.1.1 Herrschaftsmetaphorik im Römerbrief . . . . . . . . . . . . 138 4.1.2 Richtermetaphorik im Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.1.3 Priestermetaphorik im Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.1.4 Die Bildfolge: Vom König zum Priester . . . . . . . . . . . . 159 4.2 Familiäre Bilder: Sklave, Frau, Sohn (Röm 6–8) . . . . . . . . . . . 160 4.2.1 Der Herrenwechsel des Sklaven (6,12–23) . . . . . . . . . . . 160 4.2.2 Die neue Ehe der Frau (7,1–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4.2.3 Die Adoption des Sohnes (Röm 8) . . . . . . . . . . . . . . . 186 4.2.4 Die Bildfolge: Vom Sterben mit Christus zu den Geburtswehen der Kinder Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4.3 Berufsbilder: Töpfer und Gärtner (Röm 9–11) . . . . . . . . . . . . 204 4.3.1 Der Töpfer und seine Gefäße (Röm 9,19–23) . . . . . . . . . 204 4.3.2 Der Gärtner und sein Ölbaum (Röm 11,[16b]17–24) . . . . 209 4.3.3 Die Bildfolge: Vom Töpfer zum Gärtner . . . . . . . . . . . . 216 4.4 Die Polyphonie der Bilder im paränetischen Teil (Röm 12–15) . . 217 4.5 Die Bildfolge: Veränderungen der Bilder von Gott und Mensch ­ innerhalb des Römerbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Inhalt

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5. Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien. Eine theologische Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5.1 Heil durch Tun des Gesetzes: Individuelle Sünde und Gleichheit aller Sünder (Röm 1,18–3,20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 5.1.1 Die Gnade der Umkehr: Das Heilsverständnis der Gesetzesfrömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 5.1.2 Die Ursünde als Vertauschung von Schöpfer und Geschöpf . . 230 5.1.3 Konkrete Übertretungen: Sexuelle und aggressive Sünden . . 232 5.1.4 Gesetzesstolz als verfehlte Orientierung am Gesetz . . . . . . 234 5.1.5 Die Christologie im Rahmen der Gerichtspredigt (Röm 2,16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 5.2 Heil durch Rechtfertigung ohne Gesetz: Die Überwindung der Sünde und universales Heil (Röm 3,21–5,21) . . . . . . . . . . 240 5.2.1 Die inkongruente Gnade: Die Rechtfertigung des Gottlosen 240 5.2.2 Sünde als Beziehungsstörung: Gottlosigkeit und Feindschaft 241 5.2.3 Konkrete Sünde als Gesetzesbruch . . . . . . . . . . . . . . . 244 5.2.4 Sünde als Gesetzesangst und Gesetzesstolz . . . . . . . . . . 245 5.2.5 Christus als Sühne (Röm 3,25) . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 5.3 Heil durch Verwandlung und Befreiung vom Gesetz: Die Überwindung des inneren Gebotskonflikts (Röm 6,1–8,39) . . 255 5.3.1 Effektive Gnade: Christus und Christusmystik als Gnadengeschenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5.3.2 Sünde als gestörtes Verhältnis zu Gott . . . . . . . . . . . . . 257 5.3.3 Sünde als unmoralische Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 5.3.4 Sünde als Gesetzesmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 5.3.5 Die Christusmystik des Paulus (Röm 6,1–11; 8,31–39) . . . . 267 5.4 Heil durch Erwählung vor jedem Gesetz: Die Überwindung sozialer Abgrenzung (Röm 9,1–11,36) . . . . . . . . . . . . . . . . 271 5.4.1 Gnade als paradoxes Erwählen und Erbarmen Gottes . . . . 271 5.4.2 Sünde als Beziehungsstörung und Leid . . . . . . . . . . . . 273 5.4.3 Sünde als unmoralische Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 5.4.4 Sünde als Gesetzillusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 5.4.5 Christus als Skandalon (Röm 9,33) . . . . . . . . . . . . . . . 279 5.5 Die Folgen des Heils: Die Paränese des Römerbriefs (Röm 12,1–15,13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 5.6 Die Pluralität der Heilskonzepte und die Einheit der Heilsgewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 6. Die Universalisierung des Heils für alle Menschen. Eine sozialgeschichtliche Lektüre des Römerbriefs . . . . . . . . . . . . 297 6.1 Die soziale Dynamik christlicher Gemeinden und die Entstehung einer trans-ethnischen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

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Inhalt

6.1.1 Urbanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 6.1.2 Universalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.1.3 Aufstiegsdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 6.1.4 Spiritualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 6.2 Die Universalisierung ethnischer Traditionen . . . . . . . . . . . . 305 6.2.1 Die Universalisierung der Abstammung . . . . . . . . . . . . 306 6.2.2 Der Traum von der Öffnung des Tempels . . . . . . . . . . . 311 6.2.3 Die Universalisierung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . 326 6.2.4 Die Universalisierung der Geschichte . . . . . . . . . . . . . 336 6.3 Die lokale Verwirklichung universaler Gottesverehrung: Toleranz ­ zwischen „Starken und Schwachen“ in Rom (Röm 14,1–15,13) . . 339 6.3.1 Die Gruppenbezeichnung „Starke und Schwache“ . . . . . . 340 6.3.2 Vergleich der Konflikte in Korinth und Rom . . . . . . . . . 342 6.3.3 Die Generalisierung des Fleischverbots unter den Schwachen in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 6.3.4 Die Argumentation des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 7. Die Transformation des ganzen Menschen. Eine psychologische Lektüre des Römerbriefs . . . . . . . . . . . . . . 357 7.1 Risikobereitschaft und Furcht des Paulus. Eine prospektive Lektüre des Römerbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 7.1.1 Die persönliche Situation des Paulus . . . . . . . . . . . . . . 361 7.1.2 Hinweise zur Furcht des Paulus im Römerbrief . . . . . . . . 366 7.2 Die Entwicklung des Paulus. Eine retrospektive Lektüre des Römerbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 7.2.1 Heil aufgrund von Werken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 7.2.2 Heil aufgrund von Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 7.2.3 Heil aufgrund von Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . 396 7.2.4 Heil durch Erwählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 7.2.5 Zusammenfassung: Die Entwicklung des Paulus . . . . . . . 412 7.3 Der Zwiespalt des Menschen. Eine introspektive Lektüre des Römerbriefs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 7.3.1 Der Zorn über eine sündige Menschheit: Paulus in Röm 1,18–3,20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 7.3.2 Die Rechtfertigung des Gottlosen: Paulus in Röm 3,21–5,21 423 7.3.3 Die Verwandlung des Menschen: Paulus in Röm 6,1–8,39 . . 425 7.3.4 Erwählung und Verwerfung Israels: Paulus in Röm 9–11 . . 438 8. Der Römerbrief – Rechenschaft eines scheiternden Reformators . . . . 442 8.1 Die Vision des Paulus: Reform und Öffnung des Judentums . . . . 444 8.1.1 Die Reform des Gesetzes: Paulus und das Ethos des Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

Inhalt

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8.1.2 Die Reform des Jerusalemer Kultes . . . . . . . . . . . . . . . 450 8.1.3 Die Reform der Grunderzählung des Judentums . . . . . . . 452 8.2 Die Anfechtungen des Paulus: Pessimismus und Universalismus . . 455 8.2.1 Anthropologischer Pessimismus als Begründung des Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 8.2.2 Der Universalismus des Paulus als Ursache kognitiver ­ Dissonanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 8.2.3 Die Öffnung für andere als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . 467 8.3 Die Bewältigung der Anfechtungen: Der Glaube . . . . . . . . . . 471 8.3.1 Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Forum Gottes und dem Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 8.3.2 Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Leben und Leiden Christi und der Christen . . . . . . . . . . . . . 474 8.3.3 Der psychomythische Parallelismus zwischen der Funktion Christi im Gericht und der Gewissheit des Menschen . . . . 475 8.3.4 Der psychomythische Parallelismus zwischen der Sühne als ­ Überwindung des sozialen und des individuellen Konflikts 476 8.3.5 Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Wandel des Gottesbilds und des Menschenbilds im Römerbrief . . . 486 9. Eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 10. Liste der Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 11. Liste der Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 12. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 13. Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 14. Sach- und Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555

Vorwort

Beim Gedenken an die Reformation steht Martin Luther im Zentrum. Doch Luther verdankt viele seiner Erkenntnisse Paulus. Paulus wollte den jüdischen Glauben erneuern. Im 16. Jahrhundert schlug ein Funke von ihm in eine ganz andere Zeit und motivierte einen Mönch dazu, das Christentum grundlegend zu erneuern. Paulus hatte so wenig die Absicht, eine neue Religion zu gründen, wie Luther eine neue Kirche gründen wollte. Beide handelten als Reformer, nicht als Religions- oder Kirchengründer. Unser Buch vertritt die These: Paulus war ein Reformator des Judentums, wurde aber gegen seinen Willen zum Architekten des Christentums. Wir verdanken den Reformatoren die Rechtfertigungslehre in ihrer neuzeitlichen Zuspitzung als Botschaft von der unbedingten Annahme des Menschen aufgrund des Glaubens an Jesus Christus. Die Reformation brachte sie durch drei particula exclusiva auf die Formel: Rechtfertigung geschieht allein durch Glauben, aufgrund von Gnade, ohne Gesetz, sola fide, sola gratia, sine lege. Alle Menschen sind auf Rechtfertigung angewiesen. Diese Botschaft wirkt heute nach in der Überzeugung vom unantastbaren Wert eines jeden Menschen  – unabhängig von dessen Fehlverhalten, so dass auch Fehlverhalten seine Ebenbildlichkeit nicht zerstören kann. Das ist die leicht zugängliche Seite der reformatorischen Botschaft. Schwerer zugänglich ist deren Begründung im stellvertretenden Sterben und Auferstehen Jesu. Aber sie lässt sich davon nicht lösen. Deshalb gehört zu den particula exclusiva als vierte Bestimmung das solus Christus. Die Reformatoren hatten mit der Begründung des Heils im Leben und Sterben Christi keine Probleme. Heute protestiert freilich moderne Mentalität gegen den Gedanken des stellvertretenden Todes. Nach unserem Menschenbild kann Schuld nicht übertragen werden, nur Schulden. Nach unserem Gottesbild braucht Gott nicht den Tod eines Menschen, um vergeben zu können. Dieses Problem ist nur ein Teil  einer allgemeineren Verstehensproblematik. Die Reformatoren verstanden bei Paulus vieles wörtlich, was moderne Menschen zunehmend als interpretationsbedürftige Bilder verstehen: Weltende und Gericht, Freispruch und Verdammung, Präexistenz Jesu und Sühnetod, Auferstehung und Himmelfahrt, Heilsvermittlung durch Taufe und Abendmahl – all das war für sie Realität. Wir erkennen heute: Hier drückt sich Glaube vor allem in religiösen Bildern und Symbolen aus. Menschen deuten mit ihrer Hilfe die Wirklichkeit. Daher gehen wir in diesem Buch von einer bildsemantischen Auslegung des Römerbriefs aus, die seine Theologie unter Rekurs auf eine faszinierende Bilderwelt entziffert. Eine zweite Schwierigkeit bei der Rezeption der reformatorischen Theologie ist nicht bei Paulus, sondern bei Luther zu suchen. Der Funke der paulinischen

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Vorwort

Theologie hat bei Luther nur halb gezündet. Er brachte die Rechtfertigungslehre zum Leuchten, wie sie im Galater- und Römerbrief entfaltet wird, aber nicht die in Röm 9–11 enthaltene Zuwendung des Paulus zum Judentum. Luther schrieb in seiner Jugend den beeindruckenden Traktat, „Dass Jesus Christus ein geborner Jüde sei“ (1523),1 in dem er das Gespräch mit dem Judentum suchte. Im Alter entwickelte er sich jedoch zum antijüdischen Hassprediger. Bei Paulus verlief die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Er verurteilte in seinem ältesten Brief, dem 1. Thessalonicherbrief, Juden mit kaum zu überbietender Schärfe (1Thess 2,16). Im Römerbrief vertrat er dagegen die Überzeugung, dass ganz Israel zum Heil komme (11,26). Bei Luther entwickelte sich eine projüdische zu einer judenfeindlichen Haltung, bei Paulus eine antijüdische Kritik zu einer positiven Haltung. Die unbedingte Zuwendung Gottes zu den Juden ist für Paulus der Testfall dafür, dass Gott sich allen Menschen zuwendet: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (11,32). Wir plädieren nicht dafür, Luther gegen Paulus auszutauschen und alles um Paulus kreisen zu lassen. Beide waren eingebettet in ihre sozialen Kontexte und artikulierten sich in unterschiedlichen Formen. Paulus vertrat seine Lehre im Gespräch mit anderen Christen in Briefen. Er selbst hat die Form des Gemeinde­briefs aus dem Freundschaftsbrief entwickelt. Luther vertrat seine Lehre in Dispu­ta­ tionen. Zusammen mit einer neuen Generation von Professoren hat er die scholastische Gelehrtendisputation zu einer neuen Form der argumentativen Aus­ einandersetzung in Universität und Gesellschaft entwickelt. Mit ihr verbreitete sich die Reformation. Manche Städte führten sie ein, nachdem in einer öffentlichen Disputation die neue Lehre diskutiert worden war. Die Konzentration unserer Sicht der Reformation auf die Person M. Luthers ist irreführend. Eine ganze Gesellschaft führte einen Grundlagendiskurs über Glauben und Leben. Neben Luther standen nicht nur Melanchthon, Zwingli, Bucer und Calvin, sondern viele Theologen, Prediger und Lehrer, manchmal auch Frauen wie die bayerische Publizistin Argula von Grumbach oder die Heidelberger Dichterin Olympia Morata. Ebenso standen neben Paulus viele namentlich bekannte und namenlose Christen, und auch hier sind es Männer und Frauen. Schließlich sei eine dritte Schwierigkeit genannt. Die wissenschaftliche Paulus­ auslegung widersprach in den letzten vierzig Jahren deutlich der reformatorischen Paulusauslegung. Letztere sah in der Rechtfertigung des Einzelnen vor Gott das Zentrum der paulinischen Botschaft. R. Bultmann hatte diese Auslegung existenzphilosophisch erneuert. Die nach ihm folgende Generation entdeckte jedoch, dass es Paulus weniger um die Existenz- und Gewissensprobleme des einzelnen Menschen ging als um das soziale Problem, wie man die christliche Gemeinde für alle Völker öffnen könne. Eine Zeit lang herrschte in der Paulusexegese die Stimmung: Je weniger reformatorisch Paulus gedeutet wird, desto näher sei man beim histo­ 1 Luther, WA 11, 314–336.

Vorwort

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rischen Paulus. Die Botschaft der sogenannten New Perspective on Paul war: „Paul was no Luther before Luther“.2 Luther habe Paulus sogar missverstanden und seine Probleme in ihn hineingelesen. Wir möchten diese neue „soziale“ Paulusauslegung in manchen Punkten noch konsequenter durchführen, aber auch zeigen, dass sie mit der theologischen Deutung in der Tradition Luthers und Bultmanns verbunden werden muss, wenn man Paulus verstehen will. Wir wählen dafür neben dem bildsemantischen Ausgangspunkt zwei weitere methodische Ansätze. Mit einer historisch-psychologischen Auslegung wollen wir die individuelle Dimension der paulinischen Theologie aufdecken, mit einer sozialgeschichtlichen Auslegung ihre soziale Dimension. Beide Ansätze scheinen in Spannung zueinander zu stehen, wie die Wirkungsgeschichte des Paulus zeigt. Sein Universalismus findet heute positive Resonanz. Unter sozialgeschichtlichem Aspekt erscheint Paulus als Vorläufer der Globalisierung und der Entstehung einer gemeinsamen Welt. Er träumte von einer neuen Menschheit – über alle sozialen, kulturellen und ethnischen Grenzen hinweg. Historische Psychologie zeigt dagegen, dass Paulus eine verschärfte Sensibilität für den Konflikt des Menschen mit sich selbst in seinem Inneren hat. Über den natürlichen Menschen urteilt er pessimistisch. Sein Pessimismus wird heute mehrheitlich abgelehnt. Sein Sündenbewusstsein gilt oft sogar als Gift, mit dem er die europäische Kultur infiziert hat, auch wenn solch eine Pauluskritik, wie sie F. Nietzsche im 19. Jahrhundert vertrat, leiser geworden ist. Unsere These ist, dass man das eine ohne das andere nicht haben kann. Der Sündenpessimismus des Paulus ist Grundlage für seinen Universalismus, wie auch sein Universalismus seine kritische Sicht des Menschen verschärft. Unser Buch hat eine längere Vorgeschichte. Im Jahr 1983 veröffentlichte G. Theißen das Buch „Psychologische Aspekte paulinischer Theologie“, das auch einige Texte des Römerbriefs auslegt. Soll die psychologische Auslegung in der Exegese auf Dauer Platz finden, muss sie an einer Ganzschrift erprobt werden und in eine sozialgeschichtliche Auslegung eingebettet sein. Im Jahr 1996 hielt P. v. Gemünden ihre Antrittsvorlesung in Genf über die Parallelität zwischen Gottesbild und Menschenbild im Römerbrief, einem Grundgedanken dieses Buches: „Image de Dieu – image de l’être humain dans l’Épître aux Romains“. 1999 veröffentlichten wir einen gemeinsamen Aufsatz zur Bildersprache des Römerbriefs: „Metaphorische Logik im Römerbrief. Beobachtungen zu dessen Bildsemantik und Aufbau“. Uns war klar: Eine psychologische und sozialgeschichtliche Auslegung muss die Bildlichkeit der Texte auswerten. Bei der Arbeit an diesem Aufsatz entstand der Plan eines gemeinsamen Buches. Zunächst sollte es vor allem eine psychologische Auslegung des Römerbriefs sein. Ein vorläufiger Entwurf dazu war schon vor einigen Jahren fertig. Dann aber beschlossen wir, die Texte bewusst im Lichte einer hermeneutischen Polyphonie auszulegen, bei dem keine Fragestellung dominiert, sondern alle methodischen Ansätze dem Ziel dienen, die Botschaft des

2 So Räisänen, Law, 21987, 231.

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Vorwort

Textes zu erhellen. Im Sommersemester 2014 begannen wir während einer Vertretung von G. Theißen in Augsburg aus Anlass eines Forschungssemesters mit der endgültigen Niederschrift der Kapitel. Alle Teile des Buches werden von uns beiden verantwortet. P. v. Gemünden hat vor allem das Kapitel „Theologische Bilder im Römerbrief “ (Kapitel 4.2–4) und „Die Furcht des Paulus: Eine prospektive Lektüre des Römerbriefs“ (Kapitel 7.1) beigetragen, G. Theißen hat die Vorlagen für die anderen Kapitel geschrieben. Wir durchlaufen immer wieder unter verschiedenen Aspekten den ganzen Römerbrief. Jede dieser Ganzlektüren soll möglichst in sich verständlich sein. Dafür nehmen wir einige Wiederholungen in Kauf. Wir danken allen, die bei der Herstellung des Manuskripts mitgeholfen haben, vor allem Sabine Fartash, die alle Kapitel kritisch mitgelesen und die Texte forma­ tiert hat, sowie Tobias Eber und Lena Hübner für das Lesen von Korrekturen, EvaMaria Isber und Lena Hübner für Durchsicht und Transkription des Griechischen, ferner Jörg Persch vom Vandenhoeck&Ruprecht Verlag für die Publikation des­ Buches sowie Christoph Spill und Moritz Reissing für die sachkundige Betreuung des Manuskripts. Der Verlag hat viel Geduld mit diesem Buchprojekt gezeigt. Es wurde schon in den neunziger Jahren mit Arndt Ruprecht ­besprochen. Wir widmen dieses Buch Ulrich Luz in Dankbarkeit. Bei ihm verbinden sich theologisches und soziales Engagement, Gelehrsamkeit, Fairness und Menschlichkeit in vorbildlicher Weise. Pfingsten 2016 Gerd Theißen Petra von Gemünden Heidelberg Augsburg

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Die Botschaft des Paulus ist in seinem jüdischen Glauben verwurzelt. Paulus wurde geprägt durch den Glauben an den einen und einzigen Gott, der den Menschen mit seiner ganzen Existenz fordert und der Gott aller Menschen ist. Stellvertretend für alle Menschen hat JHWH Israel erwählt und mit ihm eine Geschichte begonnen, in der sich die Welt verändern wird. Zu ihm bekennen sich Juden zweimal am Tag im Schema Israel: „Höre Israel. Der Herr unser Gott ist ein Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,4). Dieser Glaube an den einen Gott stößt an zwei Grenzen. Einerseits widerspricht ihm der menschliche Wille. Kein Mensch kann sein Leben ganz und gar auf Gott ausrichten. Gott aber fordert das ganze Leben. Andererseits widerspricht ihm die Begrenzung des Glaubens auf ein einziges Volk. Gott aber will der Gott aller Menschen sein. Beide Grenzen werden als so bedrückend erlebt, dass die Sehnsucht nach einer neuen Welt entsteht, in der sie überwunden sind. Schon das Alte Testament kennt die Sehnsucht, beide Grenzen zu überwinden. Der Mensch möchte ein neuer Mensch werden. Er betet: „Schaffe in mir Gott ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist“ (Ps 51,12). Propheten verheißen ein „neues Herz“ (Ez 36,26), einen neuen Bund, in dem Gott den Menschen seine Gebote ins Herz legt, so dass keiner den anderen belehren muss (Jer 31,31–34). Diese Sehnsucht nach Verwandlung des Menschen ist für Paulus erfüllt, wenn Menschen durch den Glauben an Christus verwandelt werden und Gottes Geist in ihnen wohnt. In Röm 8 sieht er die ganze Schöpfung in Geburtswehen liegen, damit dieser neue Mensch geboren wird. Die Geburt dieses neuen Menschen ist das Ziel der Geschichte Gottes mit dem Menschen. Ebenso kennt das Alte Testament die Sehnsucht danach, die Beschränkung des Glaubens auf Israel zu überwinden. Abraham wird verheißen: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (Gen 12,3). Propheten verbreiten die Vision, dass alle Völker zum Zion strömen und in einem Frieden leben, der durch Gottes Rechtsordnung möglich wird (Mi 4,1–5; Jes 2,1–5). Paulus begründet in Röm 15,9–12 mit der Schrift seine universale Hoffnung. Aus dem Pentateuch zitiert er die Aufforderung „Freut euch, ihr Völker, mit seinem Volk!“ (Dtn 32,43LXX), aus den „Schriften“ die Aufforderung: „Lobet den Herrn, alle Heiden“ (Ps 117,1), aus den Propheten die Weissagung eines jüdischen Weltherrschers, „auf den die Völker hoffen werden“ (Jes 11,10LXX). Für Paulus werden diese beiden Ziele des monotheistischen Glaubens durch den Glauben an Jesus Christus verwirklicht. Dieser Glaube hat die Kraft, Menschen so zu verwandeln, dass sie Gottes Willen entsprechen. Er ist allen ­Menschen

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zugänglich, Juden und Nicht-Juden. Die Botschaft des Paulus zielt daher auf die Verwandlung des ganzen Menschen und auf die Öffnung Israels für alle Menschen durch den Glauben. Sie zielt damit sowohl auf die Überwindung des individuellen Konflikts zwischen Gott und Mensch als auch auf die Überwindung des sozialen Konflikts zwischen Israel und den Völkern. Denn Israel ist Stellvertreter aller Menschen und gerät in einen Identitätskonflikt mit sich selbst, wenn es sich von den Völkern nur abgrenzt. Ebenso verliert jeder einzelne Mensch seine Übereinstimmung mit sich selbst, wenn er Gottes Willen widerspricht. Die Geschichte Gottes mit Israel und allen Menschen findet ihren Höhepunkt in diesen beiden Veränderungen, in der Universalisierung des Glaubens und der Transformation des ganzen Menschen. Beides sind so tiefgehende Veränderungen, dass man sie nur als Erneuerung der Schöpfung verstehen kann, als eine eschatologische Weltenwende. Die These des Buches ist, dass beide, der individuelle Gebotskonflikt und der soziale Identitätskonflikt, untrennbar miteinander verbunden sind. Der Gebotskonflikt lässt erkennen, dass alle Menschen Sünder sind und durchbricht damit alle sozialen Schranken. Er begründet die Universalität der Gnade. Umgekehrt gilt: Wer sich allen Menschen in allen Kulturen öffnet, vertieft den Konflikt mit sich selbst, weil der Mensch in seinem Inneren neben einer Faszination durch das Fremde gleichzeitig einen Widerwillen gegen alles Fremde hat. Fremdheit wirkt zutiefst ambivalent – bis hin zu einer Zerrissenheit zwischen Attraktion und Aggression. Wer von der Wende zwischen der alten Welt und einer neuen Welt für Menschen aus allen Völkern erfasst wird, spürt umso intensiver die innere Spannung zwischen altem und neuem Menschen. Die Forschungsgeschichte in Kapitel 1 zeigt, dass die Paulusauslegung zwischen beiden Ansätzen oszilliert: zwischen einer Orientierung an der individuell verstandenen Rechtfertigungslehre und einer an der sozialen Beziehung zwischen Israel und den Völkern orientierten Auslegung, wobei die Hoffnung auf kosmische Erneuerung der ganzen Welt als ein dritter Ansatz beide umgreift. Der Römerbrief zeigt schon in seinem Aufbau, den wir in Kapitel 2 darstellen werden, dass individuelle Gebots- und soziale Identitätskonflikte zusammenhängen. Röm 1,18–5,21 beschwört zuerst das universale Unheil, das alle Menschen ohne Unterschied bedroht, weil sie Sünder sind (1,18–3,20), danach das universale Heil, das allen Menschen angeboten wird, weil der Glaube allen zugänglich ist (1,16 f; 3,21–5,21). Die beiden Aspekte der Erlösung werden dann jeweils für sich in den beiden folgenden Teilen des Römerbriefs zum Thema. Paulus wirft in 6,1–8,39 zunächst das Problem auf: Wenn allen Menschen das Heil angeboten wird, warum sollen sie sich dann noch um das Gute bemühen? Er beantwortet diese Frage mit dem Gedanken einer Verwandlung des g­ anzen Menschen durch ein Sterben mit Christus, so dass der erneuerte Mensch gar nicht anders kann, als Gottes Willen entsprechen zu wollen. Die Notwendigkeit der Verwandlung vertieft das Sündenbewusstsein. Der erneuerte Mensch muss er-

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kennen: Sofern er der alte Mensch war und noch ist, tut er nicht, was er eigentlich will. Er tut das, was er hasst (7,14–25). In 9,1–11,36 wirft Paulus das zweite Problem auf: Wenn durch Glauben der Mensch gerettet wird, was geschieht mit denen, die nicht glauben? Das wird am Beispiel des ungläubigen Israel als härtestem Fall diskutiert. Zugrunde liegt folgende Logik: Wenn ganz Israel trotz seines Unglaubens zum Heil kommt, um wieviel mehr werden alle anderen Menschen gerettet. Das Sündenbewusstsein wird hier (über Röm 6–8 hinaus) noch einmal vertieft. Der Mensch widersetzt sich der Universalisierung des Heils in einem falschen „Eifer“ für Gott – sogar dann, wenn er selbst Träger dieser universalen Verheißung ist (10,2). Wenn man diese beiden Probleme aufeinander bezieht, stößt man auf eine Aporie. Je radikaler die Verwandlung des Menschen zum Heil gedacht wird, desto kleiner wird der Kreis der Menschen, die dahin gelangen. Die Intensität des Heils geht auf Kosten seiner Universalität. Je mehr Paulus aber eine Universalität des Heils in Aussicht stellt, desto weicher muss er die Kriterien für diejenigen formulieren, die zum Heil gelangen. Die Extension des Heils geht auf Kosten seiner Intensität. Solche Aporien begegnen immer wieder in der Theologie des Paulus. Paulus löst dieses Dilemma durch eine radikalisierte Erwählungslehre. Gott hat die Freiheit, auch die zu erwählen, die ihn verwerfen. Nur so setzt er sich universal durch, so dass am Ende gilt: „Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge“ (11,36). Methodisch vertiefen wir die traditionelle Exegese durch eine bildsemantische, psychologische und sozialgeschichtliche Lektüre des Römerbriefs. Diese drei Ansätze hängen zusammen: Bildsemantik lässt sich nicht ohne Sozialgeschichte treiben, wenn etwa die Metaphern der Sklaverei oder des Richters untersucht werden. Eine psychologische Exegese lässt sich nur in einem historischen und sozialgeschichtlichen Rahmen methodisch kontrolliert durchführen. Andere Ansätze greifen wir nur gelegentlich auf: Die theologischen Konzepte des Römerbriefs lassen sich diskursanalytisch in ihre Zeit einordnen, das ließe sich an vielen Stellen weiter vertiefen. Bei der historischen Lektüre führen wir Ansätze der so genannten „antiimperialen“ Paulusdeutung weiter, ohne Paulus zum Widerstandskämpfer zu machen. Auf jeden Fall vertreten wir eine Pluralität von Zugangsweisen, immer in Fortschreibung der bewährten traditionellen Methoden.1 Wir beginnen nach einer Darstellung des Gedankengangs des Römerbriefs mit einer historischen Lektüre (Kapitel 3). In ihr behandeln wir die Einleitungsfragen und stellen sie in den Zusammenhang der Konflikte des Paulus. Es sind Konflikte zwischen Juden, Christen und dem Römischen Reich. Paulus musste seine Missionsarbeit angesichts von politischem Gegenwind durchführen. Sie widersprach der Religionspolitik des Kaisers Claudius, die auf die Erhaltung des status quo abzielte. Paulus wollte aber das Judentum in wesentlichen Punkten verändern; er

1 Vgl. Theissen, Polyphones Verstehen.

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stellte Identitätszeichen wie die Beschneidung in Frage. Der Staat legte um des religiösen und sozialen Friedens willen jedoch Wert darauf, dass alles beim Alten blieb. Auch der Römerbrief zeigt Spuren dieses Konflikts – selbst in seiner Staatsparänese (13,1–7), die auf den ersten Blick wie eine Mahnung zur totalen Anpassung an den römischen Staat wirkt. Wir werden versuchen zu zeigen, dass Paulus den römischen Staat auch in dieser Staatsparänese kritisch beurteilt hat. Der Römerbrief bringt Theologie durch Bilder zum Ausdruck. Bilder dringen tiefer in die Leserinnen und Leser als Gedanken ein und wirken unbewusst in ihnen weiter. Sie bringen Motive und Faktoren zum Ausdruck, die im Rücken menschlicher Intentionen wirksam sind und manchmal erst von einer psychologischen und sozialgeschichtlichen Auslegung aufgedeckt werden. Daher folgt auf die historische Lektüre des Römerbriefs eine bildsemantische Lektüre (Kapitel 4).2 Wir gehen von der Prämisse aus, dass Bilder Gedanken inspirieren, Gedanken aber auch Bilder umformen, rechnen also mit einer Wechselwirkung zwischen beiden. Dabei zeigt sich: Bildfolgen haben eine eigene Dynamik, Bilder wirken auf nachfolgende Bilder und werfen retrospektiv Licht auf vorangegangene Bilder. Die „Bildsyntagmatik“ ist für das Verstehen von Bildern wichtig. Wenn sich Gott im Römerbrief vom König und Richter zum Priester (1,1–3,26) oder vom Töpfer zum Gärtner verwandelt (9,19–11,24), sagt das mehr über Gott als viele abstrakte Feststellungen. Ebenso wichtig sind sachliche Beziehungen zwischen Bildern, „paradigmatische Bildfelder“, die aus Oppositionen zwischen verwandten und entgegengesetzten Bildern bestehen. Die Bilder von Sklave, Frau und Sohn (6,1–8,39) gehören als Bildfeld familiärer Rollen zusammen. Sie, wie auch die Berufsrollen des Töpfers und des Gärtners in 9,1–11,36, sind dem antiken Haus (Oikos) zuzuordnen. Alle Rollen im Oikos unterscheiden sich von den öffentlichen Bildern des Königs, Richters und Priesters (1,1–3,31), ebenso aber von typologischen Entsprechungen zwischen Abraham und Adam auf der einen, Christen und Christus auf der anderen Seite (4,1–5,21). Bilder sind ein Tor zur Lebenswirklichkeit der Menschen, auch wenn sie diese Wirklichkeit in transformierter Gestalt aufnehmen. Alle Bilder beleuchten eine große Wende. Wenn Gott zuerst in öffentlichen Rollen erscheint, sich am Ende aber vom Töpfer zum Gärtner wandelt, verändert sich das Gottesverständnis. Die Bildsemantik führt so ins Zentrum einer theologischen Lektüre. Geleitet von Bildfeldern und Bildfolgen lassen sich theologisch vier Heilskonzepte im Römerbrief erkennen (Kapitel 5). Das Heil wird entweder durch Werke, durch Rechtfertigung, durch Verwandlung oder Erwählung erlangt. Wenn Paulus die Gesetzesfrömmigkeit in 1,18–3,20 darstellt und ihr Scheitern beschwört, steht 2 Zur Metaphern- und Bildfeldanalyse vgl. v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 4–49. Theissen, Soteriologische Symbolik, ist ein erster Versuch, die gesamte paulinische Theologie als Bilderwelt zu deuten. Eine bildsemantische Analyse des Römerbriefs ist: Theissen/v. Gemünden, Metaphorische Logik, überarbeitet in v. Gemünden, Affekt und Glaube, 248–276.

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er in einem Diskurs mit dem Judentum, das mit anderen in der Verwirklichung des Guten konkurrierte. In seiner Rechtfertigungslehre (3,21–5,21) steht er im Dialog mit seinem früheren Pharisäertum und dessen Radikalisierung im „Zelos-Ideal“. In seiner Verwandlungslehre (6,1–8,39) ist ein Austausch mit antiker Erlösungs- und Verwandlungssehnsucht spürbar, in seiner Erwählungslehre (9,1–11,36) eine Auseinandersetzung mit einem elitären Prädestinationsglauben, wie ihn die Essener vertraten. Jedes Heilskonzept ist bei Paulus vom Scheitern bedroht und setzt deshalb ein weiteres Konzept frei. Alle Konzepte haben gemeinsam, dass sie Unheil und Heil kontrastieren. Das Unheil wird differenziert beschrieben. Auch das Gesetz ist in dieses Unheil und in Sünde verstrickt. Wir vertreten daher die These, dass sich bei Paulus auch eine grundsätzliche Gesetzeskritik findet und knüpfen damit an die reformatorische und existenzialtheologische Deutung des Paulus an. Wichtig ist uns dabei, dass Sünde neben menschlicher Schuld immer auch Leid umfasst, das aus eigener oder fremder Schuld folgt. Denn Paulus hat nicht nur die Schuld der Täter vor Augen, sondern auch das Leid der Opfer. Sünde und Erlösung haben daher bei ihm immer auch eine soziale Dimension.3 Nach der theologischen Analyse der Heilskonzepte soll die sozialgeschichtliche Exegese erhellen, wie Paulus im Römerbrief den Konflikt zwischen Juden und Heiden lösen will (Kapitel 6).4 Paulus ist ein Pionier der Universalisierung. Er steht für den Aufbruch der Menschen aus partikularen Traditionen, aber auch dafür, dass man sich in Treue zu diesen Traditionen für alle Völker öffnen kann. Er sieht in seinen Gemeinden die Erfüllung der universalen Verheißungen des Judentums. Er strebte einen gemeinsamen Gottesdienst von Juden und Heiden an. Vorhut dafür sollen die christlichen Gemeinden sein, in denen Juden und Heiden Gott preisen (15,8–13). Die Sozialgeschichte kann konkretisieren, auf welche Hindernisse dieser Universalismus zur Zeit des Kaisers Claudius stieß.5 Wir vertreten in diesem Zusammenhang die These, dass Paulus von einer Reform des Tempels träumte. Dieser „Traum“ zeigt, dass Paulus bis zuletzt an das damalige Judentum gebunden blieb. Paulus wollte es reformieren. Wie alle Reformen wird sein Reformwille vor allem an der sichtbaren Seite der Religion greifbar und angreifbar, an den Riten und dem rituellen Zentrum des Judentums. Bei Änderungen in der sichtbaren Religion ging es Paulus um deren Öffnung für alle Menschen, bei der unsichtbaren Innenseite der Religion dagegen um die Verwandlung des ganzen Menschen. Durch historisch-psychologische Exegese wollen wir dann in Kapitel 7 diese Innenseite der Religion erhellen, die den ganzen Menschen, sein Denken, Fühlen 3 Vgl. Solon, Erlösung. Die Frage nach der Überwindung von Leid ist bei D. Solon von befreiungstheologischen Gedanken inspiriert. 4 Zur sozialgeschichtlichen Exegese: Hochschild, Sozialgeschichtliche Exegese. 5 Vgl. Alvarez Cineira, Religionspolitik.

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und Handeln umfasst.6 Paulus zeigt sich im Römerbrief auch als ein Pionier der Selbsterkenntnis des Menschen – neben manchen Philosophen und Dichtern in der Antike. Sein transformatives Menschenbild7 ist von der Sehnsucht des Menschen bestimmt, ein anderer zu werden, seine introspektive Klarheit konfrontiert ihn damit, dass der Mensch nicht der ist, der er sein will. Höhepunkt seiner introspektiven Selbstanalyse ist 7,7–25. Wir wollen in diesem Zusammenhang zeigen, dass die vier Heilskonzepte, Heil durch Werke, Glauben, Verwandlung und Erwählung, der theologischen Entwicklung des Paulus entsprechen. Sie sind ihm in seinem Leben wahrscheinlich nacheinander wichtig geworden. Wir verfolgen seine Entwicklung in einer retrospektiven Lektüre des Römerbriefs. Dabei kontextualisieren wir diese Heilskonzepte, indem wir immer wieder fragen, inwiefern Paulus dabei an allgemeinen Diskursen teilnahm.8 Die Diskursanalyse gibt Themen, Topoi und Ideen einen gesellschaftlichen „Sitz im Leben“. Dabei geht es nicht nur um intertextuelle Beziehungen zu anderen Texten mit gleicher Thematik, sondern um die soziale Dynamik in diesen Diskursen, um Definitionsmacht und Diskursteilnahme, sowie um die Frage, welche Gruppen ihre Konzepte und Kriterien durchsetzen. Der Römerbrief ist aber nicht nur ein Spiegel von Gedanken, die damals viele Menschen bewegten, sondern vor allem ein ganz persönliches Bekenntnis des Paulus, in dem er Rechenschaft darüber ablegt, wie er das Judentum reformieren will. Im Nachhinein sehen wir, dass er ein scheiternder Reformator war. Schon im Römerbrief gibt es Anzeichen für dieses Scheitern. Denn Paulus ist sich nicht nur der Bedrohung seines Lebens bewußt, er fürchtet auch um sein Lebenswerk. Eine prospektive Lektüre des Römerbriefs zeigt, wie im Laufe des Römerbriefes diese Furcht des Paulus immer deutlicher zum Ausdruck kommt. 6 Zur psychologischen Exegese vgl. Leiner, Psychologie und Exegese; ders., Neutestamentliche Exegese. Ein „konfessorischer Antipsychologismus“ führt oft dazu, dass psychologische Exegese unter anderem Etikett getrieben wird – früher als Existenzialanalyse, heute als „historische Anthropologie“ und „Mentalitätsgeschichte“. Charakteristisch ist, dass der Artikel zur Methodik psychologischer Exegese von v. Gemünden, Methodische Überlegungen = v. Gemünden, Affekt und Glaube, 13–33, als ein methodisches Einleitungskapitel in einem Band zur historischen Anthropologie dienen konnte: Janowski/Liess (Hg.), Mensch. Ein Versuch einer neutestamentlichen Psychologie stellt Theissen, Erleben und Verhalten dar. „Historische Psychologie“ will Erleben und Verhalten in ihrer geschichtlichen Eigenart erkennen. Sie ist keine applikative Lektüre für den heutigen Leser. Jede leserorientierte psychologische Lektüre ist u. E. historisch fundierter, wenn sie zunächst nach dem fragt, was antike Menschen gedacht, gefühlt und gewollt haben. 7 Vgl. Theissen, Menschenbild. 8 Der zentrale Gedanke der Diskursanalyse ist nach Foucault die Steuerung der Gedanken durch gesellschaftliche Macht, nämlich „dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwer und bedrohliche Materialität zu umgehen“ (Foucault, Ordnung, 10 f). Zur Anwendung auf das Neue Testament vgl. Neumann, Diskurs. Eine Analyse des Römerbriefs als Niederschlag eines Dialogs mit verschiedenen jüdischen Strömungen findet sich in Theissen, Letter.

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Die soziale Dynamik der Universalisierung und die psychologische Dynamik innerer Konflikte führen im Römerbrief zu Spannungen, die man in theologischer Sprache „Anfechtungen“ nennt. Sie beleuchten ein Problem, das bei Universalisierungsbewegungen immer wiederkehrt. Wenn wir uns für andere Menschen öffnen, geraten wir in Konflikte mit uns selbst – auch mit jenem inneren Widerstand, der in jedem Menschen gegen das Fremde vorhanden ist und der im Widerspruch zu jener Faszination steht, die gerade von Fremdem ausgeht. Diese Spannungen besprechen wir im zusammenfassenden und auswertenden Kapitel 8. Unsere Auslegung basiert auf einer Kombination von bildsemantischen, sozialgeschichtlichen und psychologischen Ansätzen, die wir für eine theologische Exegese fruchtbar machen wollen. Uns ist dabei bewusst: Psychologische Exegese und Sozialgeschichte stießen am Anfang oft auf Misstrauen in der Theologie. Dass sie sich mit einer theologischen Auslegung vereinbaren lassen, zeigt jedoch die Religionshermeneutik P. Ricœurs. Deren Grundgedanke ist, dass religiöse Symbole und Bilder zu denken geben. Sie sind entstanden aus menschlichen Wünschen und Ansprüchen. Deswegen zeigen sie Spuren einer „Ökonomie“ der Macht, der Angst und des Wunsches. Das ist ihre Archäologie, die wir durch Rückgang auf psychische und soziale Faktoren manchmal aufdecken können. Zugleich aber weisen sie in ihrer Teleologie nach vorne. Sie motivieren dazu, weiter zu denken. Sie lassen eine Transzendenz aufleuchten, die sich in Bildern erschließt,9 können aber nie voll und ganz in rationale Gedanken verwandelt werden. Menschliche Endlichkeit und Schuld verhindern die Verwandlung religiöser Bilder in unmittelbar einleuchtende Gedanken. Daher haben die „Symbole des Bösen“ bei P. Ricœur eine Schlüsselstellung für das Verstehen religiöser Texte.10 Paulus könnte dem zustimmen. In 1,18–32 bietet er eine psychologische Deutung des Sündenfalls in einer beeindruckenden „Entmythologisierung“ der biblischen Tradition. Die Menschen hatten die Chance, Gott zu erkennen, aber weil sie ihn nicht als Gott verehrten, verdunkelte sich ihr Herz und ihre ­Gotteserkenntnis. Wenn wir in diesem Buch die reformatorische Deutung der Rechtfertigungslehre und die New Perspective on Paul zusammenführen, so geschieht das in Übereinstimmung mit einer breiten Tendenz in der gegenwärtigen Paulus­exe­ gese. Um deren Situation transparent zu machen, stellen wir im folgenden Kapitel in einem Durchgang durch die Forschungsgeschichte die wichtigsten Positionen ausführlicher dar.11

9 Zur Hermeneutik P. Ricoeurs vgl. Luz, Hermeneutik, 372–381. Sie wurde in Deutschland sehr einseitig in der Bibelhermeneutik rezipiert. Vgl. Theissen, Verschwinden. 10 Vgl. Ricoeur, Symbolique. 11 Einen umfassenden Überblick über die neuere Paulusforschung geben Westerholm, Perspectives; Barclay, Gift, 79–182. Kurze Überblicke geben: Strecker, Paulus; Gerber, ­Blicke; Schliesser, Paulustheologien; Gathercole, Deutsche Erwiderungen.

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Exkurs 1: Vorbemerkungen zur Terminologie Wir folgen in der Regel dem traditionellen Sprachgebrauch. Wir übersetzen Ἰουδαῖοι (Ioudaíoi) mit Juden.12 „Jude“ steht im Römerbrief in Opposition zu „Grieche“ (1,16; 3,9; 10,12), ohne dass ein Bezug zu Judäa oder Griechenland erkennbar wäre. Die Definition eines „Juden“ in 2,17–24 nennt die Bindung an das Gesetz, nicht aber an das Land.13 Dass sich die Bedeutung von Ἰουδαῖοι/Ιoudaíoi in der Antike von „Judäern“ zu „Juden“ entwickelt hat, ist unbestreitbar. Das Neue Testament zeigt zwar Spuren dieses Bedeutungswandels, setzt ihn aber schon voraus.14 Ferner nennen wir Gemeindeglieder Christen. Nach Apg 11,26 wurden sie schon in Antiochien Χριστιανοί/Christianoí genannt, wie Anhänger des Herodes im Judentum Ἡρωδιανοί/Herōdianoí genannt wurden. Der Begriff „Christen“ ist daher kein Anachronismus. Er bezeichnete am Anfang nicht die Angehörigen einer neuen Religion neben dem Judentum. Wir benutzen oft in gleicher Bedeutung den Begriff Christusanhänger. Er bringt deutlicher zum Ausdruck, dass diese Christusanhänger genauso wie die Herodesanhänger zum Judentum gehörten. Gegner des Paulus haben den heidnischen Christusanhängern die Zugehörigkeit zum Judentum bestritten, wenn diese nicht Beschneidung und Speisegebote übernehmen. Paulus wirft diesen Gegenern vor: „Sie wollen euch ausschließen“ (Gal 4,17). Wir sollten ihre polemische Ausgrenzung der damaligen „Christen“ aus dem Judentum nicht übernehmen. Diese Gegner hatten nur darin Recht, dass diese Christusanhänger tatsächlich auf dem Weg waren, eine Religion neben dem Judentum zu bilden. Das war gegen die Intention des Paulus, auch wenn er faktisch dazu beigetragen hat. Wir verzichten schließlich nicht auf den Begriff der Religion.15 Er bezeichnet die Überzeugungs- und Lebenswelt von Gemeinschaften, die sich durch Mythen, Riten und Normen auf eine transzendente Realität beziehen, wobei diese drei Ausdrucksformen in jeder Religion sehr verschieden gestaltet und gewertet werden können. Uns ist bewusst, dass es keine allgemein gültige Definition von Religion gibt, wir meinen aber, dass unsere Definition nicht allzu „extrem“ ist. Sie erhebt nicht den Anspruch, Religion sei ein autonomer Bereich der Kultur. Wir meinen aber, dass schon das antike Judentum auf dem Weg zu dieser „Autonomie“ war, da es das Leben konsequent vom Glauben an den einen und einzigen Gott her formen wollte. Alles in ihm ist eingebettet in das Leben des Volkes.16 Insofern war das antike Judentum eine embedded religion. Dennoch sollte man den Religionsbegriff nicht durch Begriffe wie Ethnizität 12 Für „Judäer“ plädiert mit Nachdruck Esler, Conflict, 63–74. 13 Wo Paulus mit seinen Gedanken in Judäa und Jerusalem weilt wie in Röm 9–11, spricht er nur zweimal von Juden (9,24; 10,12), elfmal dagegen von „Israel“ bzw. „Israeliten“. 14 Cohen, Beginning, datiert diesen Bedeutungswandel ins 1. Jh. v. Chr. Die Übersetzung von Ioudaîoi mit Judäer ist u. E. nur dann zu erwägen, wenn im Kontext ein Bezug zu Judäa sichtbar ist wie in 1Thess 2,14. 15 Die „Dekonstruktion“ des Religionsbegriffs wendet sich gegen einen „Essentialismus“, der das zeitlose Wesen der Religion zu kennen meint. Die Ablehnung dieses Begriffs basiert aber manchmal auf einem ebenso naiven semantischen „Essentialismus“, als sei ein Wort für immer auf seine Bedeutung festgelegt. Aus der zahlreichen Literatur nennen wir nur Weinrich, Religion, 11–24; Bergunder, Was ist Religion. 16 Vgl. Theissen, Religion der ersten Christen, 17–37.

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ersetzen.17 Juden sind gewiss ein Ethnos. Aber man wird diesem Ethnos nur gerecht, wenn man der Religion eine besondere Bedeutung zuschreibt. Denn in ihm war die Hoffnung lebendig, dass sich einst alle Menschen in der Verehrung des einen und einzigen Gottes vereinen werden. Zur ethnischen Identität des Judentums gehört die Hoffnung auf solch eine zukünftige transethnische Identität. Viele im damaligen Judentum deuteten ihre Situation als letzte Zeit vor einer Wende der Welt. Sie erwarteten: In der neuen Welt werden alle traditionellen Kategorien aufgehoben. Die Abkürzungen biblischer Bücher einschließlich der Apokryphen und Pseudepigraphen folgen der RGG4. Den Römerbrief zitieren wir oft nur mit Ziffern, ohne „Röm“ vorwegzuschicken. Die paganen antiken Autoren werden nach DNP abgekürzt, Josephus und Philo sowie die Rabbinica nach Schwertner 3. Auflage, ebenso Reihen und Zeitschriften. Originalsprachliche griechische Zitate sind nach DNP 1,X transkribiert. Wir hoffen so, für Leserinnen und Leser, die nicht Griechisch lesen können, viele Be­ ziehungen im Text bewusst zu machen, die durch Ähnlichkeiten und Gleichklang entstanden sind. Sekundärliteratur wird nur mit Autor und einem Kurztitel angeführt. Letzterer erscheint im Literaturverzeichnis kursiv.

17 Vgl. Esler, Conflict, 41–76, hier das Kapitel: Ethnicity, Ethnic Conflict, and the Ancient Mediterranean World; ders., Judean Ethnic Identity; Guttenberger, Ethnizität; Gelardini, Religion.

1. Kapitel: Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung Eine forschungsgeschichtliche Einführung

Die folgende Skizze der Forschungsgeschichte soll deutlich machen, was wir den vielen Vorgängern jeweils verdanken und wo wir von ihnen abweichen. Dabei geht es nicht nur um die Geschichte exegetischer Hypothesen. Historische Arbeiten zu Paulus sind oft durch die Frage nach christlicher Identität motiviert. Schon Paulus selbst definierte, was Christen und Juden unterscheidet. Protestanten grenzten sich unter Berufung auf ihn von Katholiken ab. Liberale spielten Jesus gegen Paulus aus. Dialektische Theologen erneuerten unter Rückgriff auf ihn ihren christlichen Glauben. Paulus diente entweder der christlichen Identitätsfindung oder der Konstruktion einer negativen religionskritischen Identität: Für Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900) war er Inbegriff von „Sklavenmoral“ und Lebensfeindlichkeit.1

1.1 Luthers Verständnis der Rechtfertigungslehre Jede Paulusinterpretation muss sich mit der reformatorischen Sicht des Paulus auseinandersetzen. Ausgangspunkt der reformatorischen Bewegung war die Frage Martin Luthers (1483–1546): „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“2 Die Antwort lautete: durch Gottes Freispruch im Gericht sola gratia, sola fide, sine lege. Der Mensch wird durch Gottes Urteil ein Gerechter, obwohl er ein Sünder ist. Er ist simul iustus et peccator. Sein Verhältnis zu Gott wird dabei juridisch gedeutet. Gott ist der Richter, der den Sünder freispricht und ihm seine Gerechtigkeit schenkt. Gewissheit dafür geben der Glaube an den stellvertretenden Tod Christi, 1 Vgl. Havemann, Art. Paulus, 287 f; ders., Der Apostel der Rache. 2 Schmidt, Pietismus, 9, zeigt, dass diese Formel pietistisch gefärbt ist, aber in Luthers monastischer Zeit einen „Sitz im Leben“ hat: Bei der Aufnahme in den Augustinereremitenorden wurde der Postulant gefragt: „Quid petis?“ („Wonach verlangst du?“) und er antwortete: „Misericordiam dei et vestram“ (Ich verlange nach „Gottes und Eurem Erbarmen“). Luther selbst charakterisiert zweimal seine Mönchszeit als Suche nach dem gnädigen Gott. So in der Predigt von der Taufe: „Sondern jmer gedacht: O wenn wiltu ein mal from werden und gnug thun, das du einen gnedigen Gott kriegest?“ (WA 37,661,24), ferner in seiner Auslegung des 14. und 15. Kapitels des Johannesevangeliums: „Da lieffen wir alle winckel aus durch ­Cloester, Kirchen, walfarten &c. das wir moechten Gottes friede oder einen gnedigen Gott erlangen“ (WA 45, 626,34 f). Wir danken Volker Leppin für diese Hinweise.

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Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung 

der den Menschen von Sünden befreit, und der Glaube an seine Auferstehung. Der freigesprochene Mensch hat teil an dessen Gerechtigkeit. In seiner Vorrede zu seinen lateinischen Werken hat Luther 1545 den Durchbruch zu seiner reformatorischen Erkenntnis als ein neues Verständnis von Röm 1,17 beschrieben. Bis dahin hatte er die Gerechtigkeit Gottes, die sich im Evangelium offenbart, als eine formale Gerechtigkeit verstanden, die den Sünder straft und den Gerechten belohnt. Dann fährt er fort: Ich aber liebte den gerechten und die Sünder strafenden Gott nicht, ja ich hasste ihn; denn ich fühlte mich, so sehr ich auch immer als untadeliger Mönch lebte, vor Gott als Sünder mit einem ganz und gar ruhelosen Gewissen und konnte das Vertrauen nicht aufbringen, er sei durch meine Genugtuung versöhnt. So zürnte ich Gott, wenn nicht in geheimer Lästerung, so doch mindestens mit gewaltigem Murren, indem ich sagte: Nicht genug damit, dass die elenden und ewig verlorenen Sünder infolge der Erbsünde mit Unheil aller Art durch das Gesetz der Zehn Gebote bedrückt werden – nein Gott will [auch noch] durch das Evangelium auf den alten Schmerz einen neuen Schmerz häufen und auch durch das Evangelium uns seine Gerechtigkeit und seinen Zorn drohend entgegenhalten! So raste ich mit wütendem und verstörtem Gewissen, und doch schlug ich mich an jener Stelle rücksichtslos mit Paulus herum, da ich glühend danach lechzte, zu wissen, was St. Paulus wolle. So lange bis ich endlich unter Gottes Erbarmen, Tage und Nächte lang nachdenkend, meine Aufmerksamkeit auf den [inneren] Zusammenhang der Worte richtete, nämlich „Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben“, – da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen zu lernen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben, und ich fing an zu verstehen, dass dies die Meinung ist, es werde durchs Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben. Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Darauf durchlief ich die Heilige Schrift, wie’s das Gedächtnis mit sich brachte, und sammelte auch in anderen Ausdrücken die entsprechende Übereinstimmung, wie zum Beispiel ‚Werk Gottes‘, d. h.: das Werk, das Gott in uns schafft; ‚Kraft Gottes‘, durch welche er uns kräftig macht; ‚Weisheit Gottes‘, durch welche er uns weise macht; ‚Stärke Gottes‘, ‚Heil Gottes‘, ‚Ehre Gottes‘. So groß vorher mein Hass war, womit ich das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, so groß war jetzt die Liebe, mit der ich es als allersüßestes Wort rühmte, so ist mir diese Stelle des Paulus wahrhaftig zu einer Pforte des Paradieses geworden.3

Diese retrospektive Selbstdarstellung konzentriert eine über längere Zeit hinweg entstandene Erkenntnis auf einen einzigen Augenblick – auch wenn Luther selbst in einer Tischrede 1532 seine Erkenntnis gelegentlich auf ein einmaliges Turm 3 Vorrede zu Band 1 der Opera latina von 1545, WA 54, 179–187, dort 185. Die oben wiedergegebene Übersetzung nach Fausel, Luther, 56 f.

Luthers Verständnis der Rechtfertigungslehre

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erlebnis zurückgeführt hat.4 Wahrscheinlich ist seine Erkenntnis aber Stück für Stück entstanden. Der Mönch Luther deutete in der Tradition spätmittelalterlicher Mystik das Gewissen als innere Höllenfahrt, die umschlägt in die Seligkeit einer Übereinstimmung mit Gottes Willen, wenn der Mensch Gottes vernichtendem Urteil zustimmt.5 In dieser Tradition war Gerechtigkeit Gottes die neutrale Eigenschaft des Richters. Dieses Gottesbild muss Groll gegen Gott schaffen. Gott gibt dem Menschen Gebote, die ihn vernichten. Dabei war weniger die Erfüllung der Gebote Luthers Problem – er war ein vorbildlicher Mönch –, sondern seine Unfähigkeit, einen solchen Gott zu lieben. Es muss in Luther irgendwann ein Durchbruch geschehen sein, bei dem die Zustimmung zum vernichtenden Willen Gottes durch die Gewissheit einer unbedingten Bejahung durch Gott ersetzt wurde. Das Ergebnis war die reformatorische Erkenntnis: Gerechtigkeit Gottes ist die parteiische Gerechtigkeit Gottes für den Sünder. Mit dieser Überzeugung hob Luther das auf Angst basierende Buß- und Kontrollsystem der Kirche aus den Angeln. Seine Reformation entwickelte ab 1525 freilich eine Eigendynamik und verselbständigte sich ihm gegenüber.6 Er erscheint uns heute als ein Mensch mit zwei Seiten:7 als ein introvertierter Mönch mit Gewissenskonflikten auf der einen, als extrovertierter Kirchenpolitiker auf der anderen Seite. Der introvertierte Mönch gelangte zu einer Heilsgewissheit, mit der er die Kirche verwandelte. Der Kirchenpolitiker nutzte neue Instrumente wie Disputation, Buchdruck und Flugblätter zur Durchsetzung seiner Ideen. Als Kirchenpolitiker hatte er problematische Seiten. Die Idee vom allgemeinen Priestertum der Laien wertete die Gemeinde auf, führte aber auch dazu, die Kirche an die Territorialfürsten auszuliefern; diese sollten als Laien Verantwortung in ihr übernehmen. Im Bauernkrieg zeigte er zunächst Verständnis für die Forderungen der Bauern, schlug sich aber am Ende auf die Seite der Fürsten. Um Juden warb er in seiner Frühzeit, als er aber 1545 den Durchbruch seiner refor 4 TR 3,3232c, nach Fausel, Luther, 55. Die Deutungen des reformatorischen Durchbruchs schwanken zwischen einer Frühdatierung ca. 1515 und einer Spätdatierung 1518/19, Wahrscheinlicher hat Luther retrospektiv einen längeren Prozess jeweils auf einen Punkt konzentriert, vgl. Leppin, Martin Luther, 2006, 107–117. Wir wissen aus der allgemeinen Bekehrungsforschung, dass Bekehrungen in einem längeren Prozess erfolgen, dass die Bekehrungserzählung aber meist einen Punkt zur entscheidenden Wende erklärt. Brandt/Fournier (Hg.), Conversion. Das ist nicht nur retrospektive Umdeutung. Es gibt das Heureka-Erlebnis. Erst im Nachhinein stellt man fest, dass viele Puzzleteile schon vorher da waren. 5 Vgl. Luthers Römerbriefvorlesung 1515/16 (Luther, WA 56). Scholie zu Röm 9,3 nach ders., Vorlesung, 217; vgl. Fausel, Luther, 63. 6 Leppin, Luther, 107–123, unterscheidet zwei Phasen seines Lebens. Die Zeit nach dem Kulminationsjahr 1525 fasst er unter der Überschrift zusammen: „Der Reformator am Rande der Reformation“. 7 Kaufmann, Luther, sieht dagegen den Reformator als einen Menschen mit zwei Seiten, die immer schon gleichzeitig vorhanden waren.

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matorischen Erkenntnis beschrieb, hatte er schon seine antijüdischen Hassschriften (zwischen 1538 und 1543) verfasst. Seine Polemik gegen Papst und Papisten wirkt auf uns abstoßend. Luther selbst veranschaulicht, was es heißt, simul iustus et peccator zu sein. In Ausfällen gegen Bauern, Papisten und Juden war er ein Sünder, im Vertrauen auf Gottes Gnade ein Gerechter. Aber er hat bewirkt, was keiner vor ihm bewirkt hat: eine Reform der Kirche und in diesem Zusammenhang die Emanzipation des Einzelnen von der Kirche, ein persönliches Verstehen von Bibel und Glauben, die Aufwertung der weltlichen Berufe.8 Er hat mit seinen Ideen gewirkt, selbst wenn sie oft kompromittiert wurden – mit der Trennung von Person und Werk, der Idee des allgemeinen Priestertums, der Unterscheidung von zwei Reichen, der Freiheit des Glaubens und der Warnung vor Gewalt in Glaubensfragen. Nicht Gewalt, sondern allein das Wort (non vi sed verbo) soll in der Kirche herrschen. Vor allem aber hat Luther einen die ganze Gesellschaft umfassenden Diskurs über Grundfragen von Glauben und Leben eingeleitet, der bis heute nicht verstummt ist. Er war dabei von Paulus inspiriert, auch wenn er bei Paulus oft neue Akzente setzte.9 Paulus war in jedem Fall sein großes Vorbild, wenn er seiner Zeit und seiner Kirche widersprach.10 Der öffentliche Luther war in der Reformation nur einer unter vielen Theologen, Prädikanten, Lehrern und Politikern. Der von ihm provozierte öffentliche Diskurs hatte eine Eigendynamik. Insofern schlug die Entwicklung der Reformation bald eine Richtung ein, die Luther von sich selbst entfremdet hat. Dennoch setzten sich Grundzüge seiner theologischen Gedanken durch. Wir fassen sie im Folgenden in zehn Punkten zusammen:11 8 Vgl. Oberdorfer, Reformation. 9 Stolle, Luther und Paulus, bes. 415–438, hat die Bezugnahme Luthers auf Paulus umfassend untersucht – unterschieden nach seinen Entwicklungsphasen als Mönch und Professor vor und nach dem Wartburgaufenthalt. Wenn Luther bei Paulus die Gerechtigkeit Gottes im Gericht, Umkehr und Sündenvergebung betont, deutet er Paulus im Lichte vorpaulinischer frühjüdischer Theologie. Der durchgehende Dualismus von Gott und Satan ist neu gegenüber Paulus. Das Gesetz ist für Luther universal mit der Schöpfung allen Menschen gegeben, seine Bindung an Israel spielt nicht die Rolle, die es bei Paulus hat. Während Paulus den Menschen im Übergang von alter zur neuen Welt „diachronisch“ sieht, deutet Luther ihn synchronisch als simul iustus et peccator und das Leben als ständige Buße und Umkehr. Vor allem das Kreuz hat bei Luther einen unterschiedlichen Stellenwert: Es deutet die Existenz des Christen in der Gegenwart, bei Paulus dagegen sind sehr viel mehr Kreuz und Auferstehung als Verwandlung zu einem neuen Leben von Bedeutung. Das Ergebnis ist ernüchternd: „Ein Diskurs, der Luthers Paulinismus mit Paulus selbst neu ins Gespräch bringt, führt notwendig zu einer Destruktion des lutherischen Sinnganzen“ (S. 438). 10 Stolle, Luther und Paulus, 79–104, über „Luthers Selbstverständnis als ein Paulus sei­ ner Zeit“. 11 Westerholm, Perspectives, 88–97, fasst das „lutherische Paulusbild“ in sieben Thesen zusammen. Wir fügen u. a. das solus Christus und das sola scriptura hinzu. Volker Leppin danken wir für Beratung und Hinweise.

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(1) Der Mensch ist Gottes Ebenbild, seine Ebenbildlichkeit ist aber durch Sünde so nachhaltig zerstört, dass seine Gotteserkenntnis unvollkommen, sein Handeln verwerflich und seine Verurteilung durch Gott gerecht ist. (2) Grund des Heils ist Christus (solus Christus). Sein Tod und seine Auferstehung geschehen stellvertretend für alle Menschen. Das Sterben mit dem Gekreuzigten befreit sie von ihren Sünden, das Leben in Christus gibt ihnen Anteil an der Gerechtigkeit des Auferstandenen. Es sichert ihnen das positive Urteil Gottes zu. Der Mensch wird im Glauben mit Christus eins, so dass auch Gott ihn in seinem Urteil mit Christus identifizieren kann. (3) Das Evangelium ist die Botschaft, dass Menschen allein durch Gnade (sola gratia) gerechtfertigt werden. Ihre Rechtfertigung ist so real wie alles, was Gott durch sein Wort schafft. Der Christ ist zugleich Gerechter und Sünder (simul iustus et peccator): faktisch (in re) ist er ein Sünder, in Gottes Urteil (coram Deo) aber schon jetzt und in Hoffnung auf den Freispruch im Jüngsten Gericht in spe ein Gerechter. Jeden Tag vollzieht er neu eine Umkehr vom Sünder zum Gerechten. (4) Aneignung und Verwirklichung des Heils geschehen allein durch Glauben (sola fide), nicht durch Werke. Zwischen Person und Werk ist zu unterscheiden. Gott verwirft die schlechten Taten des Menschen, spricht aber seiner Person unbedingten Wert zu. Der Mensch ist mehr als seine Werke und Taten. (5) Das Wort Gottes vermittelt Heil als forderndes Gesetz und freisprechendes Evangelium. Es ist als Gesetz und Evangelium in der Schrift für jeden verständlich. Allein die Schrift (sola scriptura)  ist Grundlage für die Verkündigung des Evangeliums. Ihre Klarheit, die claritas scripturae, wird durch das innere Wort als verbum internum des Heiligen Geistes bewirkt, das zum äußeren Wort als verbum externum hinzutritt. Das Verhältnis zwischen verbum internum und externum ist in der Reformation freilich umstritten. (6) Gute Werke dienen nicht dem eigenen Heil, sondern dem Nächsten. Sie werden um ihrer selbst und dem Nächsten zuliebe getan, nicht aber, um vor Gott im Gericht zu bestehen. Der Heilige Geist motiviert dazu, die Gebote Gottes zu erfüllen. Die Heiligung des Lebens ist Folge der Rechtfertigung. (7) Das Gesetz regelt im usus politicus das Zusammenleben aller Menschen, macht im usus elenchticus Sünde und Angewiesenheit auf Gnade bewusst, und gibt im (umstrittenen) tertius usus legis den erneuerten Christen Orientierung. (8) Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Reich der Welt mit der Notwendigkeit, Zwang zugunsten anderer Menschen verantwortlich auszuüben und zu begrenzen, und dem Reich Gottes, das frei ist von jedem Zwang. Die beiden Reiche sind „zwei Regimente Gottes“, in denen ein und derselbe Gott in verschiedener Weise regiert. (9) Die Riten des alttestamentlichen Gesetzes verweisen symbolisch auf Christus und das Heil. Die neutestamentlichen Riten verheißen als Sakrament kein Heil zusätzlich zum Wort, sondern vermitteln als sichtbares Wort (verbum

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visibile) Gewissheit des Heils. Christus ist in Wort und Sakrament (freilich in einer zwischen den Reformatoren umstrittenen Weise) präsent. (10) Die Kirche wird durch das Wort geschaffen; sie ist creatura verbi. Die Schrift ist ihr vorgeordnet. An ihr müssen kirchliche Tradition und Autorität gemessen werden. Gegen deren Überbewertung wendet sich das sola scriptura. Kirche ist überall, wo das Evangelium durch Wort und Sakrament verkündigt wird. In ihr gilt das allgemeine Priestertum, das alle Christen gleich stellt, auch wenn die Konsequenzen daraus unter den Protestanten umstritten sind. Über viele Fragen herrscht Dissens unter Protestanten, z. B. darüber, ob und wie die Sünde im Leben der Glaubenden weiter wirksam ist, ob die Gnade unwiderstehlich wirkt, ob es eine Prädestination zum Heil gibt, wie Christus in den Sakramenten präsent ist, wie das „innere Wort“ sich zum äußeren Wort verhält, wie sich die Gleichheit aller Christen in der Kirche realisiert. Aber es bleiben die oben genannten Grundzüge des Protestantismus, die fast alle auf Paulus zurückgehen. Die neuere Paulusexegese hat sich freilich z. T. entschieden gegen dieses reformatorische Bild der paulinischen Theologie gewandt. Sie hat Luther für ein angeblich verzerrtes Paulusbild verantwortlich gemacht. Wenn Luther Paulus missverstanden haben sollte, stünde er freilich in einer langen Tradition des Missverstehens, die bis zu Augustinus zurückgeht.12 Luther blieb auch nicht der Letzte in dieser Tradition. Ihm folgten Johannes Calvin (1509–64), John ­Wesley (1703–91) und der Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884–1976). Als sich 1999 die katholische Kirche und der lutherische Weltbund über die Rechtfertigungslehre verständigten, legten sie das traditionelle protestantische Verständnis der Rechtfertigung zugrunde, nicht die Ergebnisse der modernen „entlutheranisierenden“ Paulusexegese.13

1.2 Erlösung als Verwandlung: Die erste „Entlutheranisierung“ des Paulus in der liberalen Theologie14 Die Loslösung der Paulusinterpretation von Martin Luther begann mit dem Tübinger Neutestamentler Ferdinand Christian Baur (1792–1860). Paulus ist für Baur der Vertreter eines Universalismus, der in Konflikten die Universalität der neuen Religion durchsetzte. Seine Gegner seien als Anhänger des Petrus partikularistisch 12 Zu dieser großen Tradition vgl. ebd., 3–87. 13 Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ aus dem Jahr 1999 zeigt sich unberührt von der New Perspective on Paul. Hätte deren Kritik an der „lutherischen“ Paulus­ exegese Recht, wäre diese ökumenische Erklärung auf Sand gebaut. 14 Den Begriff „Entlutheranisierung“ prägte Schoeps, Paulus, 206 f, für die Paulusdeutung seit W. Wrede. Watson, Judaism, 10–18, hat Recht, wenn er die „Entlutheranisierung“ de facto schon mit F.Chr. Baur beginnen lässt.

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denkende Judenchristen gewesen. Der Römerbrief wende sich gegen judenchristlichen Partikularismus, die Auseinandersetzung mit Israel in Röm 9–11 sei daher der Höhepunkt des Briefes.15 Baur nimmt eine entscheidende Einsicht der New Perspective on Paul vorweg. Für Paulus ist die Überwindung sozialer Schranken genauso wichtig wie die Überwindung individueller Sünde. Jedoch sieht die New Perspective das Judentum weit positiver als Baur. Es macht einen Unterschied, ob Paulus das Judentum überwindet oder seine Werte für alle Menschen öffnet. Der zweite Schritt dieser Entlutheranisierung des Paulus problematisierte die Überwindung individueller Sünden durch Freispruch des Sünders. Luther dachte hier (nach protestantischer Tradition) in forensischen Kategorien. Hermann­ Lüdemann (1842–1933) entdeckte dagegen bei Paulus zwei Erlösungslehren,16 eine ethisch-juridische Erlösungslehre, nach der Menschen gerecht gesprochen werden, und eine naturhafte, nach der Menschen durch die Taufe verwandelt werden. Die ethisch-juridische Erlösungslehre entspreche der jüdischen Herkunft des Paulus, die naturhafte seiner Anpassung an den Hellenismus. Dass der Mensch effektiv verwandelt werde, sei ihm sachlich ebenso wichtig wie die Zuversicht, dass er im Gericht freigesprochen wird. Wilhelm Wrede (1859–1906) kehrte diese Entwicklung um.17 Die naturhafte Erlösungslehre sei die ursprüngliche Position des Paulus, die juridische Rechtfertigungslehre eine sekundäre Kampflehre, die Paulus in Reaktion auf judaistische Gegenmissionare entwickelt habe. Sie stamme nicht aus seiner Bekehrungserfahrung, sondern aus den sozialen Konflikten im frühen Urchristentum.18 Sie sei als „Kampflehre“ auch nicht das Herz der paulinischen Theologie. Das sei die naturhafte Verwandlungslehre. Mit ihr rückt Paulus in die Nähe katholischer Auffassungen, die sagt, dass durch Taufe und Abendmahl Menschen effektiv verwandelt werden.19 Wenn die juridische Erlösungslehre sekundär, die Verwandlungslehre primär ist, fällt es schwer, letztere aus nicht-jüdischen Quellen abzuleiten – es sei denn, man nimmt an, Paulus hätte sie schon in seiner Jugend in Tarsos aus hellenistischen Mysterienreligionen in sich aufgesogen.20 Albert Schweitzer (1875–1965) fand eine überzeugendere Lösung.21 Auch für ihn war die Rechtfertigungslehre 15 Baur, Zweck, 59–178. 16 Lüdemann, Anthropologie. Ähnlich Pfleiderer, Paulinismus. Otto Pfleiderer (1839– 1908) war der letzte Vertreter der Tübinger Schule, gleichzeitig ein Begründer der Religionsgeschichtlichen Schule. 17 Wrede, Paulus. 18 Diese Position, nach der die Überzeugung von einem neuen Sein in Christus sekundär durch die Rechtfertigungslehre ergänzt wurde, vertreten viele Exegeten in der Gegenwart, z. B. E. P. Sanders, H. Räisänen, G. Strecker, U. Schnelle. 19 Vgl. Bousset, Kyrios Christos, 104–154, bes. 138–140, wo er die Kreuzes- und Sakramentsmystik des Paulus auf Einfluss der Mysterienreligionen zurückführt. 20 So Reitzenstein, Mysterienreligionen, dort 417–425. 21 Schweitzer, Mystik.

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Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung 

ein „Nebenkrater“ der paulinischen Theologie, aber er unterschied neben der juridischen und mystischen noch eine dritte, eschatologische Erlösungslehre. Erst der Glaube an die Verwandlung der Welt habe den Glauben an die Wandlung des Menschen möglich gemacht. Dieser Glaube an die Verwandlung der Welt aber sei ein Erbe der jüdischen Apokalyptik. Die Christusmystik sei daher keine Übernahme hellenistischer Ideen, sondern erkläre sich aus jüdisch-apokalyptischen Traditionen heraus, vor allem als Verarbeitung der Parusieverzögerung. Je mehr sich das nahe Ende der Welt hinauszögerte, desto mehr erfuhr der einzelne in einer „eschatologischen Mystik“ schon hier und jetzt eine Verwandlung. Auch wenn W. Wrede und A. Schweitzer zusammen mit anderen Vertretern der „religionsgeschichtlichen Schule“ bewusst die Fremdheit der neutestamentlichen Gedankenwelt herausarbeiteten, ist ihr Paulusbild zeitbedingt. Es ist der Paulus der Lebensphilosophie, die das religiöse Erleben ins Zentrum stellte und Mystik als dessen Vollendung betrachtete.22 Ihre Paulusdeutung machte ihn für moderne Menschen insofern zugänglicher, als sie den Sühnetod Christi an den Rand rückte. Wichtiger war die Christusmystik des Seins in Christus und des Sterbens mit Christus, die den Christen aus einer vergehenden Welt herausreißt und sein Leben verwandelt. In unserer Auslegung knüpfen wir an die Entdeckung mehrerer „Heilskonzeptionen“ bei Paulus an. Wir unterscheiden freilich noch mehr Heilskonzepte bei Paulus, neben der Gesetzesfrömmigkeit eine Rechtfertigungs-, eine Verwandlungs- und eine Erwählungslehre. Wir betonen die Widersprüche und Spannungen zwischen ihnen. Erwählung setzt eine unendliche Distanz zwischen Gott und Geschöpf voraus und steht in Spannung zur Christusmystik der Verwandlungslehre. Dieses Transzendenzbewusstsein drohte in der „liberalen“ Paulusauslegung verloren zu gehen.

1.3 Erlösung als existenzielle Erneuerung: Die Erneuerung der Rechtfertigungslehre in der Existenzialtheologie Die dialektische Theologie erneuerte das Bewusstsein einer Distanz zwischen Gott und Mensch. Rudolf Bultmann (1884–1976) übernahm dabei Ergebnisse der „liberalen“ religionsgeschichtlichen Schule, indem er die reformatorische „Rechtfertigungslehre“ durch eine existenzial gedeutete „Verwandlungslehre“ modernisierte. Er begründete die Rechtfertigung in einer existenziellen Verwandlung mit Christus, nicht durch das Sterben Christi für uns. Durch Mitsterben mit Christus gelangt der Mensch in ein neues Leben, das er ausschließlich Gott verdankt. Er hat sein altes Leben hinter sich gelassen und ist dadurch „gerechtfertigt“. Zentrale Aus 22 So etwa bei Deissmann, Paulus.

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sagen sind: „Wer gestorben ist, ist gerechtfertigt von der Sünde“ (6,7), denn er „ist der Sünde ein für allemal gestorben“ (6,10). Damit konnte Bultmann den „Sühnegedanken“ existenzial deuten, d. h. nicht als objektives Geschehen, sondern als subjektive Verwandlung der Existenz. Wir knüpfen daran an, halten aber gegen Bultmann fest, dass Paulus die Heilsbedeutung des Todes Jesu mit verschiedenen Bildern zum Ausdruck gebracht hat, die neben der Vorstellung der Verwandlung mit Christus ihr Eigengewicht haben. Der Tod Jesu gilt auch als Sühne, Ärgernis23 und Versöhnung.24 Da Paulus mit dem Sühnegedanken in 3,25 die Wende vom Unheil zum Heil einleitet, muss er ihm sehr wichtig gewesen sein. Es stellt sich daher die Aufgabe, seine Bedeutung im Römerbrief zu verstehen und ihn für die Gegenwart so zu deuten, dass er die menschliche Existenz erhellen kann.25 Bultmann hat nicht nur die Sühne, sondern auch die Sünde existenzial gedeutet. Abwendung von der Sünde ist Abkehr von einer Existenz, die nicht nur durch Gesetzesübertretungen gezeichnet ist, sondern durch den Willen, das Gesetz erfüllen zu wollen. Nicht nur Unmoral, sondern auch Moralismus wird als Entfremdung von Gott erkannt. Die zentrale Sünde ist, sich durch Erfüllung des Gesetzes wahres Leben „eigenmächtig“ verschaffen zu wollen. Damit wurde Bultmann der Problematisierung aller Moral in der Neuzeit gerecht. Die Aufgabe besteht in der Neuzeit ja nicht nur darin, anerkannte Normen zu realisieren, sondern angesichts der Erschütterung aller Normen eine Moral zu entwerfen. Der moderne Mensch ist hier zu eigenmächtigem Handeln „verurteilt“. Er muss Normen Anerkennung verschaffen. Paulus musste in seiner Zeit keine neue Moral entwerfen. Aber er kritisierte nicht nur ein normatives Versagen angesichts eines unumstrittenen Gesetzes, sondern auch eine verfehlte existenzielle Orientierung am Gesetz. Ja, er kritisierte das Gesetz selbst. Bultmann hat neben der Vorstellung der „Sühne“ und dem Konzept der „Sünde“ auch das Judentum existenzial gedeutet. Es verkörpert für ihn die Möglichkeit des Menschen, die Erfüllung seines Lebens auf eigene „Werke“ zu bauen. Er nimmt es im Lichte des protestantischen Gegensatzes von Gesetz und Evangelium wahr. Zum sündigen Verhalten „nach dem Fleisch“ gehöre „auch die eifrige Erfüllung des Gesetzes, sofern der Mensch dadurch aus eigener Kraft die Gerechtigkeit vor Gott zu erringen meint“.26 Bultmanns Aussagen treffen nur Teile des Judentums.27 Bultmann fand „Werkgerechtigkeit“ freilich nicht nur inner 23 Theissen, Kreuz. 24 Breytenbach, Versöhnung. 25 Gese, Sühne, ist der erste, der den Sühnegedanken als hermeneutisches Problem ernst genommen und in ihm einen theologischen Sinn gefunden hat. 26 Bultmann, Theologie, 240. 27 So mit Recht W. Stegemann, Verhältnis. Stegemann kritisiert R. Bultmann, weil er sich in der NS-Zeit nur für Juden in der Kirche eingesetzt habe. Aber am 2. Mai 1933 protestierte Bultmann in einer Kollegerklärung generell gegen die Diffamierung Andersdenkender und sagte: „Ich muß als Christ das Unrecht beklagen, das gerade auch den deutschen Juden durch

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halb, sondern auch außerhalb des Judentums: „Der Hochmut, der im jüdischen Bereich als der Eifer der Gesetzeserfüllung und der Stolz auf die Leistungen wie auf die israelitischen Ehrentitel zur Entfaltung kommt, erscheint in der hellenistischen Welt als das Weisheitsstreben und als der Stolz auf Erkenntnis und pneumatische Begabung“.28 Die Alternative von Gesetz und Evangelium gehört für Bultmann also zum Menschsein und ist in allen Kulturen und Religionen als Möglichkeit vorhanden – auch im Christentum. Schließlich rückte Bultmann juridische Kategorien wieder ins Zentrum der paulinischen Theologie. Das Scheitern der alten Existenz begreift er als Gericht Gottes, die Rechtfertigung als Freispruch durch Gottes Wort. Reformatorische Begriffe wie „Wort Gottes“, „Gericht“, „Rechtfertigung“ und „Glauben“ wurden wieder Schlüsselbegriffe der Auslegung. Jedoch trat eine, wie wir gesehen haben, für die Reformatoren zentrale Lehre in den Hintergrund: der Sühnetod Jesu für die Sünden der Menschen. Diese Vorstellung ist für Bultmann ein Mythos.29 Er widerspreche der Einheit der Person, die nur für sich selbst eintreten und nicht die Stelle eines anderen übernehmen könne. Bultmann leugnete exegetisch freilich nicht, dass der Sühnetod Jesu für Paulus wichtig war, aber interpretierte ihn hermeneutisch in ein existenzielles Sterben mit Christus um.30 Der Existenzialismus war eine Antwort auf die Krisen Europas in zwei Weltkriegen und totalitären Diktaturen. Im Existenzialismus behauptete der Mensch die Freiheit seiner bedrohten Existenz. Bultmann stand während der NS-Herrschaft vorbildlich dafür ein. Sein Entwurf eines Christuskerygmas, das den Menschen in der Welt aus dieser Welt befreit, ist auch eine Antwort auf die Krisenzeit, in der er lebte. Gegen den gegenwärtigen exegetischen Trend knüpfen wir in diesem Buch positiv an Bultmann an, auch wenn wir sein Bild vom Judentum nicht teilen und die „Christusmystik“ bei Paulus für zentral halten. Letztere dient einem Anliegen, für das gerade die dialektische Theologie Verständnis hat: Wie solche Diffamierungen angetan wird“ (Bultmann, Aufgabe der Theologie, 172–180, dort 179). R. Bultmann veröffentlichte diese Erklärung 1933 unter dem Titel „Die Aufgabe der Theologie in der gegenwärtigen Situation“ in: Theologische Blätter 12 (1933) 161–166. Auch wenn innerhalb der New Perspective ein existenzialer Antijudaismus bei Bultmann aus heutiger Sicht mit einem gewissen Recht kritisiert wird, kann man seine Haltung im NS-Staat nur bewundern. 28 Bultmann, Theologie, 241. 29 Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 19: Der moderne Mensch kann „die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch den Tod Christi nicht verstehen. Wie kann meine Schuld durch den Tod eines Schuldlosen (wenn man von einem solchen überhaupt reden darf) gesühnt werden? Welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff? Soll die Anschauung vom sündentilgenden Tode Christi aus der Opfervorstellung verstanden werden: welch primitive Mythologie, daß ein Mensch gewordenes Gottwesen durch sein Blut die Sünden der Menschen sühnt“. 30 Dass das Sterben und Auferstehen einer Gottheit wirksames Urbild einer menschlichen Verwandlung sein kann, basiert freilich auch auf einer mythischen Denkkategorie, der Analogiekausalität: Was einander ähnlich ist, wirke aufeinander ein.

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kann der Mensch Gott entsprechen? Paulus sagt, er entspreche ihm durch Verwandlung seines Wesens in der „Christusmystik“. Deren Perhorreszierung durch die dialektische Theologie hinderte Bultmann daran, Erkenntnisse der liberalen Exegese an dieser Stelle positiv aufzugreifen.31

1.4 Erlösung als universales Heil: Die zweite Entlutheranisierung in der New Perspective on Paul Nach der Renaissance einer reformatorischen Paulusdeutung bei R. Bultmann kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer zweiten Entlutheranisierung. Sie unterschied sich von der ersten durch eine Revision unseres Bildes vom Judentum. Diese Revision begann in der alttestamentlichen Wissenschaft. Gegen die Kritik der „Deutschen Christen“ am Alten Testament hatten Gerhard von Rad (1901–1971) und Martin Noth (1902–1968) gezeigt, dass im Alten Testament der Bund Gottes konstitutiv ist, während das Gesetz nur eine regulative Bedeutung innerhalb dieses Bundes hat, damit Menschen in ihm bleiben. Der Indikativ gehe dem Imperativ voran.32 Damit deuteten sie den Glauben I­ sraels als Gnadenreligion und entdeckten die Grundstruktur des „Bundesnomismus“.33 Ihre Grenze lag darin, dass sie das nachexilische Judentum scharf vom Alten Israel unterschieden. Nach dem Exil sei das Gesetz aus einer regulativen zu einer absoluten Größe geworden und habe nicht mehr die Beziehungen innerhalb des Bundes reguliert, sondern sei zur Bedingung des Bundes geworden. Damit seien das gesetzliche Judentum und seine Werkgerechtigkeit entstanden. Das wird heute anders gesehen. Die Grundstruktur des alttestamentlichen Glaubens blieb auch in nachexilischer Zeit erhalten. Die Texte, aus denen die beiden Alttestamentler ihre neue Sicht Israels erarbeitet hatten, wurden in ihrer Endgestalt ja erst in nachexilischer Zeit geformt.34 Immer wieder finden wir daher in nachalttestamentlichen Texten inhaltlich die Grundzüge des „Bundesnomismus“. Mit diesem neuen Bild vom Judentum als Hintergrund kam es in der neutestamentlichen Exegese zu drei

31 Vgl. Theissen, Paulus und die Mystik. 32 v. Rad, Theologie Bd 1, 102–105; Noth, Gesetze. 33 Sanders, Paul and Palestinian Judaism (1977), hat den Begriff „Bundesnomismus“ geprägt (covenantal nomism). Er beruft sich freilich nicht auf die Arbeiten der oben genannten Alttestamentler. Sein Konzept des Bundesnomismus entdeckt die von ihnen dargestellte „Gnadenreligion“ auch im nachexilischen Judentum. 34 Jedoch sollte man anerkennen: Gesetzeserfüllung war zwar nie die Bedingung dafür, in den Bund hineinzukommen, aber wurde zur Bedingung dafür, die Gaben des Bundes zu erlangen. Das Gesetz wurde gegeben, bevor Israel ins Land kam. Es war die Zulassungsbedingung für das Land (Lev 26). Bei Gesetzesbruch musste Israel das Land verlassen. Die Erfahrungen von Exil und Rückkehr haben sich tief ins Bewusstsein der Juden eingeprägt und im Pentateuch Spuren hinterlassen.

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Revisionen und Erneuerungen in der ­neutestamentlichen Wissenschaft. Sie betrafen eben jene drei Erlösungslehren, die Albert Schweitzer unterschieden hatte, also die juridische, mystische und apokalyptische Erlösungslehre oder anders ausgedrückt: Rechtfertigung, Christusmystik und ­Eschatologie.

a) Die Revision und Erneuerung der Rechtfertigungslehre Den Anstoß zur Revision und Erneuerung der Rechtfertigungslehre gab der schwedische Neutestamentler Krister Stendahl (1921–2008). Er sah in der Deutung der Rechtfertigung als individueller Sündenvergebung eine Projektion des „introspective conscience of the West“ (1963).35 Die entscheidende Frage sei für Paulus nicht: Wie vergibt mir Gott meine Schuld? sondern: Wie kann die Gemeinde Heiden in die Gemeinde aufnehmen? Stendahl korrigierte so die existenzialistische Paulusauslegung und deren Individualismus durch eine neue „soziale“ Deutung. Vor ihm war eine soziale Deutung schon in der ersten Entlutheranisierung des Paulus vertreten worden: Die Rechtfertigungslehre galt als Kampflehre, mit der sich Paulus von seinen judaistischen Gegnern abgrenzte. Sie war damit Ausdruck eines sozialen Konflikts und hatte eine negative Funktion. Stendahl betonte dagegen ihre positive Funktion. Sie diente dazu, das Judentum zu öffnen. Dadurch erhielt das Judentum eine sehr viel positivere Bedeutung. Die Rechtfertigungslehre ermöglichte es Heiden, Zugang zu Israel und seiner Geschichte zu finden. Der individuelle Gebotskonflikt wurde geleugnet. Paulus hätte ein robustes Gewissen gehabt. Stendahl sah jedoch, dass Paulus auch ein persönliches Problem in seiner Theologie bearbeitete, weniger seine Schuld als seine „Schwäche“. Als schwacher Charismatiker habe er sich immer wieder verteidigen müssen. Unsere Auslegung knüpft an diese Paulusauslegung an. Paulus will, dass eine Menschheit dem einen Gott entspricht. Aber wir widersprechen Stendahls Interpretation in einem Punkt: Wir halten Paulus für einen Vorläufer des „introspective conscience of the West“. Wir deuten den Römerbrief psychologisch als sein persönliches Bekenntnis und arbeiten die Angst des Paulus vor seiner Jerusalemreise aus dem Römerbrief heraus. Wir verstehen den Römerbrief als Niederschlag seiner theologischen Entwicklung und seiner inneren Konflikte. Damit greifen wir die existenziale Auslegung Bultmanns auf. Wenn wir unsere Auslegung „psychologisch“ nennen, so verzichten wir auf den Anspruch der „existenzialen“ Auslegung, als

35 Stendahl, Apostle Paul (1963). Stendahl lehrte in Harvard und war 1984–1988 Bischof von Stockholm. Anregungen verdankte er dem dänischen Neutestamentler J. Munck, Paulus (1954). Munck wollte das Tübinger Geschichtsbild eines Konflikts zwischen Juden- und Heidenchristen widerlegen. Sie hätten sich nur dadurch unterschieden, dass für Petrus die Israel­ mission Voraussetzung für das Heil der Heiden war, für Paulus dagegen die Heidenmission Voraussetzung für die Rettung Israels. Wir teilen mit Munck (S. 280) die Überzeugung, dass Paulus bis zuletzt in Jerusalem das Zentrum der Heilsgeschichte sah.

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„Fundamentalontologie“ den Zugang zum Sein freizulegen. Jedoch schließen wir nicht aus, dass psychologische Einsichten „existenzial“ vertieft werden können. Aber hatte Bultmann den inneren Konflikt des Menschen überhaupt richtig gesehen, als er ihn „fundamentalontologisch“ als Widerspruch des Menschen zu sich selbst deutete, gerade wenn er sein eigentliches Dasein, sein Heil, verwirklichen will? Eben das bestritt Ulrich Wilckens im Jahr 1974. Er lehnte die These Bultmanns ab, dass für Paulus die Sünde im Willen bestehe, durch Gesetzeserfüllung zum Heil zu gelangen.36 Die entscheidende Frage sei nicht: Wie wird der Mensch von der Verführung zur Gesetzlichkeit befreit? sondern: Wie kann er das Gesetz erfüllen? Dessen Geltung habe für Paulus nie zur Debatte gestanden. Durch diese positive Wertung des Gesetzes wurde der Gegensatz zum Judentum in der traditionellen protestantischen Auslegung entschärft. Wilckens fand Unterstützung bei Heikki Räisänen, der 1979 zeigte, dass das Wort „Begehren“ bei Paulus niemals das Verlangen bezeichnet, das Gesetz zu erfüllen.37 Die existenziale Deutung der Sünde als Streben, das Gesetz zu erfüllen, schien damit widerlegt. Aber nun wurde eine der tiefsten Einsichten des Paulus undeutlich, die in der Reformation neu entdeckt wurde, nämlich die Erkenntnis der Schattenseiten des Gesetzes, das als Buchstabe tötet und als Geist lebendig macht (2Kor 3,6). Paulus hat das Gesetz sehr grundsätzlich problematisiert. Diese grundsätzliche Gesetzeskritik war freilich eine so neue Einsicht, dass Paulus immer wieder darum ringen musste, sie zum Ausdruck zu bringen. Er tat es nicht mit der Sprache des „Begehrens“, er sprach vom Sich-Rühmen und Eifern. Er kämpfte mit unzulänglichen sprachlichen Mitteln, um sagen zu können, dass auch Gesetz und Gesetzeseifer auf die Seite des Bösen gehören können. Die universalistische Linie der Paulusdeutung fand eine reife Gestalt in den Arbeiten des britischen Neutestamentlers James D. G. Dunn, der für die neue Paulusdeutung den Begriff New Perspective prägte.38 Dunn betrachtet Judentum und Christentum als Gnadenreligionen. Kritik am Judentum beziehe sich bei Paulus nur darauf, dass Juden die Gnade exklusiv auf Israel beschränken wollten. Die Auseinandersetzung um das Gesetz im Galaterbrief sei daher im Kern eine Auseinandersetzung um soziale Abgrenzung. Speisegebote und Beschneidung seien „identity marker“ des Judentums gewesen und dienten als „boundary marker“ gegenüber den Heiden. Entscheidend sei nicht die Frage: Wie erfüllt der Mensch das Gesetz? sondern: Missbraucht er es zur sozialen Abgrenzung von 36 Wilckens, Paulus (1974). Wilckens war nach seinem Wirken als Neutestamentler 1981 bis 1991 Bischof in der evangelisch-lutherischen nordelbischen Kirche. 37 Räisänen, Gebrauch, zeigt, dass „Begehren“ im Judentum immer als ein Verstoß gegen das Gesetz gesehen wird. 38 Dunn, New Perspective on Paul; ders., Jesus, Paul and the Law; ders., New Perspective on Paul, Revised edition. Aus der Einleitung seines Römerbriefkommentars hat W. Stegemann eine Zusammenfassung seiner Gedanken übersetzt: Dunn, Paulus-Perspektive (1996) = Dunn, I, LXIII–LXXII.

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anderen? Dunn sieht diese Gefahr in vier Funktionen des Gesetzes:39 Es überführe alle Menschen der Sünde, trenne Israel von den Völkern, reguliere sein Leben im Bund und werde durch die Sünde in Dienst genommen. Es werde in allen Funktionen separatistisch missbraucht, erstens, wenn Israel die anderen als „Sünder aus den Heiden“ abwertet (Gal 1,15), zweitens, wenn Israel sich des Gesetzes als eines Privilegs rühmt, drittens, wenn Israel meint, durch Erfüllung des Gesetzes anderen Völkern überlegen zu sein, viertens, wenn es im Gesetzeseifer gegen die vorgeht, die sich für andere Völker öffnen. Dagegen setze Paulus sein Programm: Er wollte den Bundesnomismus des Judentums auf alle Völker ausweiten. Unsere Auslegung greift diese Erkenntnisse auf. An drei Punkten setzen wir andere Akzente: (1) Schon im Judentum gab es Ansätze zu einer universalistischen Gesetzesdeutung. Für Philo ist das jüdische Gesetz das Naturgesetz schlechthin. Jüdische Weisheitstraditionen deuten es als universale Fundamentalethik. Das Gesetz hatte im Judentum nicht nur eine separatistische Funktion. Sofern es separatistisch eingesetzt wurde, geschah das nicht nur gegenüber anderen Völkern, sondern oft noch intensiver in Israel selbst, wenn verschiedene Gruppen um die wahre Gesetzeserfüllung wetteiferten.40 (2) Man kann die separatistische Funktion des Gesetzes nicht mit dessen rituellen Vorschriften und Ritualen identifizieren und die universalistische Funktion mit seinen ethischen Geboten. Juden grenzten sich auch ethisch durch ihr Sexualethos von der Umwelt ab. Umgekehrt konnte Philo den jüdischen Kult universalisierend deuten.41 Wir wollen zeigen, dass auch Paulus eine Universalisierung des Kultes anstrebte. (3) Paulus kennt eine universale Dimension des Gesetzes.42 Seine Forderung ist allen Menschen ins Herz geschrieben. Soweit er solch ein universales Gesetz als Last kritisiert, kann er unmöglich seine separatistische Funktion kritisieren, denn es richtet hier keine Schranken zwischen den Menschen auf, 39 Dunn, Theology of Paul. Vgl. die Analyse seiner Paulusdeutung bei Bendik, Paulus in neuer Sicht? 128–148, bes. 134–136. 40 Holtz, Gott, 506–565. 41 Ebd., 403–451, zur Universalisierung von Kultgesetz, Beschneidung, Tempel und Tempelwallfahrt, Hohepriester, Priesterdienst des jüdischen Volkes, Tempelopfern und Festen bei Philo. 42 Damit führen wir Ansätze in der gegenwärtigen Exegese weiter. Stephen Westerholm (2003) hat die Universalität der Sünde betont. Die individuelle Rechtfertigung des Sünders ist für ihn der Schlüssel zum Universalismus des Paulus. Da alle Menschen Sünder sind, werden alle sozialen Grenzen durch dieses Sündenbewusstsein unterlaufen (Westerholm, Perspectives, 352–445); Gudrun Holtz (2007) hat die Universalität des Gesetzes herausgearbeitet. Schon im Judentum finden wir die universalistischen Tendenzen, die Paulus fortführt. Wenn aber das Gesetz eine universale Dimension hat, dient es nicht nur dazu, Menschen zu trennen, sondern verbindet sie (Holtz, Gott, 506–565).

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sondern konfrontiert alle in gleicher Weise mit derselben Forderung. Wenn Paulus dieses universale Gesetz kritisiert, so kann er nur seine individuelle Funktion meinen, weil seine Forderung jeden Menschen in Konflikt mit sich selbst bringt. Anzuerkennen ist: Dunn legte eine in sich stimmige Interpretation der Theologie des Paulus vor. Er revidierte die traditionelle Deutung der Rechtfertigungsbotschaft, indem er sie universalistisch deutete. Bei Paulus kommt für ihn das erste Anliegen des jüdischen Monotheismus zum Durchbruch: Gott will ein Gott aller Menschen sein. Seine Paulusdeutung ist auch deshalb sehr ausgewogen, weil er die soziale Deutung der Rechtfertigung nicht gegen ihre individuelle Deutung ausspielt.43

Exkurs 2: Ist die antiimperiale Paulusdeutung eine Alternative zur New Perspective?44 Während für die New Perspective bei Paulus das Verhältnis zum Judentum im Zentrum steht, tritt in der antiimperialen Paulusdeutung an seine Stelle das Verhältnis zum Imperium Romanum.45 Paulus formuliere explizit oder implizit eine Kampfansage an Rom.46 Die indirekte Kritik werde als hidden transcript formuliert, als ein verborgener Subtext seiner Schriften.47 Politisch ohnmächtige Gruppen kritisieren so die Herrschenden in verdeckter Weise – auch dadurch, dass sie in ihren symbolischen Welten eine Gegenwelt zur herrschenden Macht entwerfen. Auch wenn Paulus u. E. kein politischer Widerstandskämpfer war, steht seine Theologie in Spannung zum Imperium durch seinen Anspruch auf religiöse Autonomie: Alles im Leben und Glauben soll durch den einen und einzigen Gott bestimmt sein. Das ist schon in sich eine „oppositionelle Autonomie“.48 Sie zeigt sich in verdeckter Polemik gegen das Imperium: Die Botschaft vom „Kreuz“ 43 Dunn, WBC 38A, 403–412, deutet z. B. Röm 7,14–25 auf den inneren Konflikt im christlichen Leben. 44 Einen Überblick über die antiimperiale Paulusdeutung gibt Strecker, Taktiken, 116–121. Er unterscheidet drei Positionen: Paulus kritisiert entweder explizit das Imperium Romanum, kritisiert es implizit durch innere Distanzierung von ihm, oder er sei neutral und bejahe es sogar. 45 Schon Deissmann, Licht vom Osten, 290, erkannte: Zwischen Christentum und Imperium besteht ein „polemischer Parallelismus“. 46 Wengst, Pax Romana; Georgi, Gott auf den Kopf stellen, 194, nennt den Römerbrief ein „Gegenangebot“ gegen das Imperium Romanum. Taubes, Politische Theologie, 23.27.38, spricht sogar von einer „Kampfansage“. In der angelsächsischen Forschung wurde dieser Ansatz systematisch weiter entwickelt: Horsley (Hg.), Paul and Empire; ders. (Hg.), Paul and­ Politics; Elliott, Liberating Paul; ders., The Arrogance of Nations; Harrison, Authorities, bes. ­201–323. ders., Romans. 47 Zur kritischen Würdigung dieses Konzepts vgl. Heilig, Criticism. 48 Mit dem Begriff „oppositionelle Autonomie“ fassen wir die Gedanken von Adorno, Ästhetische Theorie, 334–387, zusammen, wenn er etwa schreibt: „Gesellschaftlich an der Kunst ist ihre immanente Bewegung gegen die Gesellschaft, nicht ihre manifeste Stellungnahme“ (S. 336). Ähnliches gilt u. E. auch für die Religion.

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widerspricht dem Ehrenkodex und den Maßstäben der Gesellschaft.49 Sie zeigt sich in verdeckter Anpassung: Im Römerbrief fehlt im Unterschied zu 1/2Kor, Gal und Phil außer in Röm 6,6 ein Hinweis auf das Kreuz. Wollte Paulus in diesem Brief bewusst auf Provokation verzichten? Dennoch hat die antiimperiale Paulusdeutung etwas Richtiges gesehen, ja man kann noch über sie hinausgehen. Denn Paulus steht nicht nur in einem indirekten, sondern auch in einem direkten Konflikt mit der Politik des Imperiums. Seine rituellen Reformen widersprachen der Religionspolitik des Claudius, die darauf zielte, jede Unruhe durch Abweichen von religiösen Traditionen zu unterbinden.50 Insgesamt übernehmen wir also das Anliegen der antiimperialen Paulusauslegung, sehen darin aber keine Alternative zur New Perspective. Denn die Spannungen zum römischen Reich haben ihren Grund im Verhältnis der Christusanhänger zum Judentum. Sie sind darin begründet, dass sie von den Traditionen des Judentums abwichen.

b) Revision und Erneuerung der mystischen Erlösungslehre Während in der Paulusdeutug von Dunn das universale Anliegen des Monotheismus im Mittelpunkt steht, ist es bei dem amerikanischen Neutestamentler Ed ­Parish Sanders dessen zweites Anliegen, die Verwandlung des Menschen. Er stellt wie A. Schweitzer die Christusmystik ins Zentrum, unterscheidet sich aber von ihm durch eine Revision des Bildes vom Judentum. Er bestimmt dessen Grundstruktur als Bundesnomismus (covenantal nomism). In diesem Bund gehe die Gnade der Forderung voraus.51 Das Gesetz begründe nicht das Verhältnis zu Gott, ermögliche aber den Israeliten, im Bund zu bleiben. Paulus vertrete eine andere Religionsstruktur. Zentrum seiner Theologie sei das neue Sein in Christus, wie es sich ihm durch seine Begegnung mit Christus erschlossen habe. Dieses Sein in Christus sei „Partizipationseschatologie“. Die Christen partizipierten an der Verwandlung der ganzen Welt, indem sie in ein „neues Sein in Christus“ verwandelt würden. Die entscheidende Frage sei daher nicht: Wie wird der Mensch kontrafaktisch gerecht gesprochen, sondern: Wie wird er faktisch gerecht? Weil das Judentum eine Gnadenreligion sei, bezweifelt Sanders, dass das Judentum vor­ Paulus unter dem Gesetz gelitten habe.52 Auch Paulus habe kein Problem mit dem 49 Der Römerbriefkommentar von Jewett, Hermeneia, bes. 46–59, macht den Widerspruch des Paulus zum shame and honor Denken der Antike zum Schlüsselpunkt seiner Auslegung. 50 Alvarez, Religionspolitik. 51 Das Konzept des Bundesnomismus knüpft sachlich an die „Föderaltheologie“ der reformierten Theologie an. Johannes Cocceius (1603–1669) deutete die Geschichte Gottes mit den Menschen als eine Folge von Bünden, den ursprünglichen Bund mit Adam und allen Menschen, den Bund mit Noah, Abraham, Mose und den Bund in Christus. Vgl. Goeters, Art. Föderaltheologie. Dass ein Bundesnomismus schon im Alten Testament durch die großen Alttestamentler Martin Noth und Gerhard von Rad entdeckt wurde, sei noch einmal betont. 52 Röm 7,7–25 wurde früher meist auf einen inneren Gesetzeskonflikt des vorchristlichen Paulus gedeutet. Seit Kümmel, Römer 7, wird diese biographische Deutung abgelehnt. Die wichtigsten Argumente gegen sie sind bei Kümmel: Der Widerspruch zum ungebrochenen Gesetzesstolz des vorchristlichen Paulus in Phil 3,6, die unbiographische Aussage in Röm 7,9 von einem

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Gesetz gehabt. Die entscheidende Frage sei nicht: Welches Problem im Judentum hat Paulus mit seiner Rechtfertigungslehre gelöst, sondern: Wie hat er retrospektiv das Judentum konstruiert, um seine Botschaft als Lösung seiner Probleme anzubieten? Paulus denke nicht „from plight to solution“, sondern „from solution to plight“. Weil sich Paulus durch die Christusoffenbarung ein neuer Weg des Heils erschlossen habe, musste er die Offenbarung Gottes im Gesetz negativ darstellen und behaupten, vor Christus habe das Gesetz nur eine negative Funktion gehabt. Gott habe es gegeben, damit es in die Verdammnis führe. Beim Eintritt in die Gemeinde habe es gar keine Funktion, es bewirke nicht den Glauben. Dagegen habe es für den Menschen in Christus erneut eine positive Funktion in der Paränese. Die Gesetzeslehre des Paulus sei insgesamt also widersprüchlich. Sie sei auch nicht der eigentliche Grund für die Abgrenzung des Christentums vom Judentum bei Paulus. Das Christentum sei nämlich kein Gegenentwurf zum Judentum und seinem Gesetz, es sei nur strukturell anders. Im Judentum stehe der Bund mit Gott im Zentrum, im Christentum das neue Sein in Christus. Paulus habe das Judentum aber als Negativfolie zum Christentum verzerrt dargestellt. Drei Korrekturen an diesen grundlegenden Erkenntnissen sind u. E. nötig: Die erste Korrektur betrifft den Kontrast von zwei Religionsstrukturen. Christentum und Judentum lassen sich nicht auf zwei religiöse Grundstrukturen reduzieren. Wenn man Judentum und Urchristentum in ihrer Mannigfaltigkeit vergleicht, muss man feststellen: Es gab keine Gruppe im Judentum, die nicht von der Barmherzigkeit und Gnade Gottes überzeugt war, einige stellten das Gesetz mehr ins Zentrum, andere Gottes Gnade und Erwählung.53 Gottes Gnade wurde dabei in verschiedener Weise „gesteigert“: Betont wurde entweder ihr Übermaß, ihre Dominanz in Gottes Willen, ihre Priorität vor allem menschlichen Handeln, ihr Widerspruch zum Wert des Empfängers, ihre Wirksamkeit und ihre Unabhängigkeit von den Erwartungen einer Wiedervergeltung.54 So wie das Judentum in vielen Varianten auftrat, die man nicht unter der Kategorie eines einheitlichen Bundesnomismus fassen kann, so auch das Christentum. Es ist nicht überall durch ein neues Sein in Christus bestimmt. Matthäusevangelium, Jakobusbrief und Didache vertreten eine „Werkgerechtigkeit“,55 Paulus und Ignatius von Antiochien dagegen eine Erlösungslehre durch Verwandlung des Menschen. Leben ohne Gesetz, die auf das Leben eines Juden in seiner Kindheit nicht passt, und die generelle Möglichkeit eines rhetorisch-fiktiven „Ichs“, bei dem sich der Autor selbst nicht einschließt. All das ist richtig, aber mit all diesen Beobachtungen lässt sich eine psychologische Deutung durchaus vereinen. Vgl. Theissen, Psychologische Aspekte, 181–268; ders., Gesetz und Ich. 53 Carson/O’Brien/Seifrid, Justification 1; dies., Justification 2. 54 Barclay, Gift, 66–78, unterscheidet sechs perfections (Steigerungen und Vollendungen) der Gnade, auf die wir noch zu sprechen kommen (s. u.). Viele theologische Konflikte seien verdeckte Konflikte zwischen verschiedenen Gnadenverständnissen, bei denen eine Leugnung der Gnade Gottes unterstellt wurde, obwohl nur ein bestimmtes Gnadenverständnis abgelehnt wird. 55 Garleff, Identität.

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Paulus kann zudem in ein und demselben Brief die Gnade Gottes in verschiedener Weise „steigern“. Er spiegelt mit seinen Gedanken die Mannigfaltigkeit jüdischer und christlicher Strömungen. Wir deuten seine Christusmystik nicht als eine „neue Religionsstruktur“, die im Wesentlichen unjüdisch sei, sondern verstehen sie als Folge des jüdischen Monotheismus in einem breiten Spektrum von Möglichkeiten: Der eine und einzige Gott will, dass sich der Mensch ihm mit seinem ganzen Sein zuwendet. Das führte schon im Alten Testament und Judentum zur Sehnsucht nach Verwandlung des Menschen. Bei Paulus geht diese Sehnsucht in Christus in Erfüllung. Daraus ergibt sich die zweite Korrektur. Es gab im Judentum Probleme, die Paulus nicht nur retrospektiv konstruiert, sondern entdeckt hat. Seine Theologie ist Antwort auf tatsächliche Probleme des damaligen Judentums. Es gab damals im Judentum eine innere Spannung, weil Israel unter einer Fremdherrschaft litt, aber eigentlich zum Licht unter den Völkern bestimmt war.56 Richtig ist zwar, dass das Judentum nicht unter dem Gesetz litt, sondern auf das Gesetz stolz war. Umso mehr müssen wir aber auf die versteckten gesetzeskritischen Stimmen in der damaligen jüdischen Literatur hören.57 Diese verdeckte Gesetzeskritik reicht aus, um für das damalige Judentum eine latente Unruhe zu postulieren, die bei Paulus ans Tageslicht kommt. Seine Bekehrung muss aus seiner Geschichte im Judentum heraus gedeutet werden. Paulus hat das Judentum sachlich richtig dargestellt, auch wenn er sein eigenes Judentum vorschnell verallgemeinert hat. Er hatte sich (vorübergehend) einer Strömung angeschlossen, die sich aktiv um das Heil Israels bemühte. Er hat das ganze Judentum durch die Brille „seines“ Judentums gesehen. Jedoch war er nicht blind für die Mannigfaltigkeit innerhalb des Judentums. Er hat u. E. im Römerbrief mit verschiedenen Strömungen und Gedanken im Judentum einen Dialog geführt und ihre Aporien wahrgenommen.58 Eine dritte Korrektur betrifft die Bedeutung der Gebotserfüllung: Richtig ist, dass die Erfüllung des Gesetzes keine Bedingung für den Bund ist. In den Bund hineinzukommen (das coming in), ist reine Gnade. Die Gebote dienen dazu, in ihm zu bleiben (also: das staying in zu ermöglichen). Aber dieser Bundesnomismus kennt Gebotserfüllung als Bedingung des eschatologischen Heils. Nicht der Eintritt in den Bund, wohl aber das Erlangen seiner Heilsgüter sind an die Erfüllung der Gebote gebunden. Israel kommt nur in das gelobte Land, wenn es die Gebote hält und in ihm für Gerechtigkeit sorgt. Wenn es sie nicht hält, wird es wieder aus dem Land vertrieben. Da die Heilsgüter bald nicht nur irdische Güter (wie das „gelobte Land“), sondern eschatologische Heilsgüter waren, wuchs die Bedeutung der Gebotserfüllung. Friedrich Avemarie hat gezeigt (1996), dass die Tora nach wie vor im rabbinischen Judentum der Weg zum Leben ist. S­ anders unter 56 So Thielman, Plight; Wright, Climax. 57 Pollmann, Motive. 58 Theissen, Letter to the Romans.

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schätze „die Bedeutung der Taten eines Menschen für sein endzeitliches Heil“.59 Avemarie zeigt anschaulich, dass die Rabbinen das eschatologische Gericht nicht nur pädagogisch beschwören, um zu gutem Verhalten zu mahnen, sondern um die Alternative von Heil oder Unheil vor Augen zu stellen. Zwischen der Unbedingtheit des Bundes und der Bedingtheit des eschatologischen Heils bleibt daher u. E. eine unlösbare Spannung. Auf diese Aporie antwortet Paulus mit seiner Verkündigung eines unbedingten Heilswillens Gottes. Sanders hat die Paulusforschung grundlegend verändert, indem er die Christusmystik des „Seins in Christus“ (wieder) in den Mittelpunkt seiner Theologie stellte. Aber damit begründet Paulus anders, als Sanders meinte, keine „unjüdische Religion“. Bei Paulus kommt vielmehr in unserer Auslegung nur das zweite Grundanliegen des jüdischen Monotheismus zum Durchbruch: Der Mensch muss sich verwandeln, um dem einen und einzigen Gott zu entsprechen. Die von Paulus erkannte Unbedingtheit der Bundeszusage steht dabei in Spannung zur Bedingtheit der Heilszusage. Paulus und andere Juden ringen nach wie vor um die Frage: Wie gelangen Menschen in die zukünftige Welt des Heils? Solange das Heil innerweltlich gedacht und an das irdische Volk Israel als kollektive Größe gebunden war, konnte diese Spannung bewältigt werden. Innerweltliche Güter konnte Israel wieder erlangen. Es konnte aus seinem Land exiliert werden, aber auch aus dem Exil zurückkehren. Als aber das Heil immer mehr individuell und eschatologisch gedacht wurde, entstand daraus ein unlösbares Problem. Eine Verurteilung im eschatologischen Gericht ist nicht mehr revidierbar. Die Apokalyptik, d. h. die Erwartung einer neuen Welt mit endgültigem Gericht musste hier unlösbare Probleme aufwerfen. Oder kommt die Paulusdeutung hier nur deshalb in Schwierigkeiten, weil sie irrtümlich meint, Paulus vertrete seine Erlösungslehre auch für Juden? Gilt das, was er als Apostel der Heiden sagt, vielleicht nur für Heiden?

Exkurs 3: Die Paulusauslegung des New View: Wandte sich Paulus nur an Heidenchristen? Eine manchmal „radikale Paulusexegese“ genannte Richtung vertritt die Ansicht, Paulus wende sich mit seiner Verkündigung einer Erlösung in Christus ausschließlich an Heidenchristen. Juden und Judenchristen gelangten durch Gesetzesgehorsam zum Heil, nur für Heiden sei der Glaube an Christus der Weg zum Heil.60 Dafür wird vor allem der Römerbrief in Anspruch genommen. In ihm wendet sich Paulus in der Regel explizit nur an römische Heidenchristen. Aber hat sein Evangelium deshalb nur sie im Blick? 59 Avemarie, Tora, 40. 60 Gager, Reinventing Paul; Stowers, Rereading. Wedderburn, Paulusperspektive, 56–62, stellt die wichtigsten Argumente gegen den „Niew View on Paul“ zusammen: Paulus könne niemals sagen, dass kein Gesetz gegeben wurde, das Leben bringt (Gal 3,21), wenn das Gesetz für Juden und Judenchristen nach wie vor der Weg zum Heil wäre. In seine Feststellung, Christus

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Gerade im Römerbrief lässt Paulus keinen Zweifel daran, dass sein Evangelium allen Menschen gilt, Juden „zuerst“, und dann auch Heiden (1,16). Beide sind in gleicher Weise Sünder (3,9), beide in gleicher Weise auf Glauben angewiesen (3,21–31), beide Kinder Abrahams (4,1–25). Wenn Paulus Heiden(-christen) direkt anspricht, sind Juden mitgemeint. In 11,13 f formuliert er diese indirekte Adressierung seiner Botschaft an alle Menschen sogar explizit als Prinzip seiner Mission: Er sei Apostel für alle Heiden, indirekt aber dadurch auch der Apostel für die Juden, die er durch den Glauben der Heiden zum Glauben reizt. Zu dieser indirekten Adressierung an Juden kommt, dass er sich einmal direkt an Heiden- und Judenchristen wendet: Er mahnt Starke und Schwache dazu, sich gegenseitig anzunehmen (andere Auslegungen sind u. E. gezwungen). Berechtigt an der radikalen Perspektive des New View ist, dass die Verwandlungslehre des Paulus wahrscheinlich Erfahrungen in der Heidenmission verarbeitet: Heiden müssen sich von ihrem bisherigen Leben radikal trennen, wenn sie Christen werden. Juden können sehr viel mehr ihren Weg fortsetzen. Aber auch wenn der Entstehungskontext der Verwandlungslehre die Heidenmission des Paulus war, so ist ihr Geltungskontext universal: Alle Menschen müssen in Christus eine neue Kreatur werden, Juden und Heiden. Paulus könnte nicht am Beispiel des Mose in 2Kor 3,16–18 die Verwandlung der Christen veranschaulichen, wenn er den Verwandlungsgedanken nur auf Heidenchristen beschränken würde. Juden teilen in gleicher Weise Unheil und Heil mit allen Menschen. Nur darin hat die radikale Perspektive des New View Recht, dass Paulus die Kontinuität mit Israel betont. Israel hat einen Auftrag für die ganze Welt und Paulus nimmt eben diesen Auftrag in seinem Apostolat wahr.61 Sein Auftrag ist nach seinem Selbstverständnis nicht, eine Antithese zu Israels Glauben zu formulieren, sondern Israels Sendung zu erfüllen. Ziel ist eine Gottesverehrung aller Menschen. Aber nach Paulus soll sich nicht nur das Heidenchristentum verändern, um im Judentum Platz zu finden, sondern ebenso das Judentum, damit es Heidenchristen aufnehmen kann.­ Paulus ist überzeugt, dass Israel sich auf diese Weise selbst treu bleibt. Paulus will das Judentum also weder auflösen noch ablösen, aber er will es reformieren und öffnen. Unverkennbar ist dabei: Er kennt auch für Juden keinen Heilsweg am erhöhten Christus vorbei, wohl aber einen Weg zum Heil, der von der Kirche unabhängig ist und allein in Gottes Hand steht. Ganz Israel wird bei der Parusie gerettet (11,26 f). Entscheidend ist also die apokalyptische Erwartung einer neuen Welt. habe „uns“ vom Fluch des Gesetzes befreit, schließe er sich und alle Judenchristen mit ein (Gal 3,13). Auch wäre sein Ringen um das Heil der Juden in Röm 9–11 ganz unverständlich, wenn sie auf dem Weg des Gesetzes zum Heil gelangen könnten. Auch sein Verhalten spreche gegen einen gesonderten Heilsweg für Juden und Judenchristen. Er selbst verhielte sich als Judenchrist gesetzestreu und gesetzesfrei (1Kor 9,19–23). Er akzeptierte im antiochenischen Konflikt nicht, dass sich Judenchristen aus Toratreue von der Gemeinschaft zurückziehen und damit einen Sonderweg gingen. Er habe in Synagogen um alle Juden geworben und nicht nur um die heidnischen Sympathisanten der Synagoge. Er habe vor seiner Bekehrung judenchristliche Gemeinden verfolgt, weil sie ein zu liberales Gesetzesverständnis vertraten. Die „radikale Paulusauslegung“ oder der „New View on Paul“ verdient Sympathie, aber keine Zustimmung. 61 Windsor, Vocation, 248–254. Ebenso Wengst, Völker, 446: „Paulus, der Jude, wurde – als Jude! – zum Apostel der Völker“. Unsere Auslegung stimmt dem zu – mit einer kleinen Änderung: Paulus wurde als Reformator des Judentums zum Apostel der Völker. Er mutet NichtJuden ebenso wie Juden eine Änderung ihres Lebens und ihrer Einstellungen zu.

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c) Revision und Erneuerung der eschatologischen Erlösungslehre Damit kommen wir zur Erneuerung der apokalyptischen Auslegung des Paulus. Sie begann mit Ernst Käsemann. 1961 vertrat er die These, die Gerechtigkeit Gottes sei primär Macht und sekundär Gabe.62 Entscheidend sei nicht die Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? sondern: Wie setzt sich Gottes Macht in der Welt im Rahmen eines kosmischen Wandels durch? Er korrigierte mit seiner apokalyptischen Auslegung des Paulus zwei Tendenzen der existenzialen Auslegung: ihren Anthropozentrismus und ihren Individualismus. Einerseits setzte er dem existenzialen „Anthropozentrismus“ eine theozentrische Theologie entgegen. Nicht der Mensch bewirkt durch seine „Entscheidung“ die Erlösung, sondern Gott entscheidet über den Menschen. Das sola gratia der Reformation wurde dadurch nachdrücklich erneuert. Andererseits korrigierte er den Individualismus der existenzialen Auslegung: Paulus proklamiere eine Veränderung der Welt, nicht des Individuums. Nicht der existenzielle Gebotskonflikt sei bei Paulus das Zentrum, sondern der kosmische Konflikt zwischen alter und neuer Welt. Christen lebten als „Partisanen“ einer neuen Welt mitten in der alten Welt.63 Glauben sei Teilnahme an einer sich verändernden Welt. Damit korrigierte Käsemann einen vormodernen protestantischen Konservativismus, der sich gegen alle soziale Änderungen innerlich mobilisierte. Unsere Auslegung knüpft an seine Auslegung an. Im Zentrum steht im Römerbrief eine theozentrische Botschaft. Die Frage ist: Wie werden Mensch und Welt dem einen und einzigen Gott gerecht? Wir meinen allerdings, dass solch ein kosmischer Konflikt bei Paulus auch in individuellen Konflikten erscheint. Paulus deutet die Verwirklichung der neuen Welt in 6,1–8,39 als Geburt des neuen Menschen. Existenzielle Konflikte gehören zu den Geburtswehen der neuen Welt und lassen sich daher auch psychologisch deuten, auch wenn sie für Paulus Niederschlag umfassender kosmischer und apokalyptischer Konflikte sind.64 Das besondere Merkmal apokalyptischer Auslegungen des Paulus ist der Bruch zwischen der alten und der neuen Welt. Einerseits ist die alte Welt wirklich unerlöst. Paulus stellt sie nicht nachträglich als unerlöst dar, um seine neue Botschaft als Lösung von Problemen anzubieten. Das Judentum litt in der alten Welt tatsächlich unter der Fremdherrschaft und musste sich die Frage stellen, was es verkehrt gemacht hatte. Andererseits wurde durch eine eschatologische Lösung dieser Probleme die entscheidende Wende zum Heil exklusiv Gott 62 Käsemann, Gottesgerechtigkeit. 63 Die apokalyptische Paulusauslegung wurde weitergeführt bei Beker, Paul the Apostle. 64 Der apokalyptische Rahmen paulinischer Theologie lässt sich heute allenfalls im Rahmen eines evolutionären Denkens interpretieren. Vgl. Theissen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht. Dazu als Zwischenbilanz Theissen, Biblischer Glaube und Evolution.

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zugeschrieben. Nur Gott kann seine Schöpfung erneuern.65 Das Heil wurde zur reinen Gnade.66 Eine reife Gestalt erhielt diese apokalyptische Deutung der paulinischen Theo­ logie in den Arbeiten von N. T. Wright, eines dritten Vertreters der New Perspective.67 Nach Wright formen drei Grundideen die Theologie des Paulus: Monotheismus, Erwählung und Eschatologie. Es seien traditionelle jüdische Ideen, denn es gehe darum, dass der eine Gott sich ein Volk erwählt und eine neue Welt herbeiführt. Es seien aber gleichzeitig neue Ideen, insofern sie durch Offenbarung des einen Gottes in Christus und durch seinen Geist bestimmt sind. Unsere Auslegung teilt Wrights Anliegen, die paulinische Theologie aus den Problemen und Aporien des jüdischen Monotheismus zu deuten. Das Verständnis des paulinischen Monotheismus ist freilich umstritten. Wir finden auf der einen Seite die Position, Paulus radikalisiere den jüdischen Monotheismus;68 die unendliche Differenz des einen und einzigen Gottes zu allen Menschen hebe radikal die Differenz zwischen allen Menschen, Juden und Heiden, auf. Auf der anderen Seite finden wir die Position einer „christologischen Neubestimmung“ des Gottesbildes bei Paulus, „das sich von dem jüdischer Schriftsteller […] signifikant unterscheidet“.69 Nur durch Christus nehme der transzendente Gott eine Beziehung zum Menschen für sein Heil auf.70 Den Römerbrief kann man für beide Positionen heranziehen. Paulus bleibt in 4,1–25 im Rahmen des alttestamentlichen Gottesbildes und zeigt seine Universalität auf. Aber in 8,31–39 zieht Christus als Fürsprecher in den Gerichtssaal Gottes ein und nimmt zur Rechten Gottes auf der Richterbank Platz.71 Gerade hier wird die christologische Modifikation des Gottesbildes erkennbar. Sie wurde nötig, weil der jüdisch-alttestamentliche Monotheismus nicht nur auf eine uni-

65 Martyn, Theological Issues, betont mit Recht: Wenn Gott selbst in der neuen Welt dieser alten Welt ein Ende macht, ist das dadurch geschaffene Heil exklusiv Gottes Tat. 66 E. Stegemann, Römerbrief, betont innerhalb solch einer apokalyptischen Deutung des Paulus gleichzeitig die soziale Dimension: Weil die Sünde alle Menschen in der alten Welt­ zusammenschließe, entstehe in der jetzt beginnenden neuen Welt eine neue Menschheit aus Juden und Nichtjuden. 67 Wright, Paul, 2,609–618. 68 Flebbe, Solus Deus, 446, meint, dass „die paulinische Rede von Gott als konsequentes und radikales Ernstnehmen des traditionellen Gottesbildes […] zu beschreiben ist“. Flebbe stützt seine theozentrische Deutung des paulinischen Gottesbildes auf den Römerbrief. Er kann seine These nur vertreten, weil er 8,31–39 nicht behandelt. 69 Klumbies, Rede, 245. 70 Beide Positionen sind vereinbar: Schon bei der Aufnahme des jüdischen Monotheismus verschmelzen in der Formel vom „einzigen Gott“ (heis theós) das alttestamentliche Bekenntnis (Dtn 6,4) und hellenistische Formeln; deswegen kann der „eine Gott“ neben den „einen Kyrios“ treten (1Kor 8,6). Die Formel heis theós hat in der griechischen Tradition inklusive Bedeutung, so Staudt, Gott, 236–260.312–321. 71 v. Gemünden, Gottesbild, 209–212.

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versale Menschheit zielt, sondern auf einen verwandelten Menschen. Am Ende wird Gott ohnehin alles in allem sein (1Kor 15,28). Paulus ist „unterwegs zur Einzigkeit und Einheit Gottes“.72 In der apokalyptischen Auslegung des Paulus verbinden sich zwei Motive, die in Spannung zueinander stehen: einerseits eine Verwandlungsdynamik, die nicht nur einzelne Menschen, sondern die ganze Welt erfasst, andererseits eine Radikalität der Gnade, die jede menschliche Mitwirkung ausschießt. Die Spannung entsteht, wenn man die Verwandlung der Welt im Lichte eines Synergismus deutet, wenn man also sagt, dass der Mensch am Weg von der alten Welt in die neue Welt durch sein Handeln beteiligt sei. Vor allem im Lichte modernen Selbstverständnisses wurde dieses aktivistische Moment oft betont. Wenn das Heil dagegen darin besteht, dass Gott eine neue Welt aus dem Nichts erschafft, dann ist das exklusiv Gottes Tat. Kein Mensch kann aus dem Nichts schaffen. Dieses Motiv wird in der Theologiegeschichte immer wieder als Monergismus polemisch gegen alle Formen einer synergistischen Beteiligung des Menschen vertreten. Hier brachte John M. G. Barclay in einem Buch über „Paul and Gift“ (2015) Klarheit.73 Der Gnadenbegriff umfasst nach ihm mehrere inhaltliche Komponenten, die im Judentum und Christentum in verschiedener Weise zugespitzt werden. Es gibt danach sechs „perfections of grace“: (1) Superabundance meint, dass die Gnade Gottes in unerschöpflicher Fülle vorhanden ist. (2) Singularity meint die Exklusivität, mit der die Gnade das Handeln Gottes bestimmt und neben sich kein verurteilendes Handeln kennt. (3) Priority weist darauf, dass sie allem menschlichen Handeln zeitlich vorhergeht bis hin zur vorzeitlichen Prädestination. (4) Incongruence weist auf ihren Widerspruch zum Wert der Empfänger. Sie wird gerade denen zuteil, die ihrer nicht würdig sind. (5) Efficacy meint ihre Wirksamkeit im Handeln des Menschen: Sie verwandelt den Menschen so, dass er Gott entspricht. (6) Non-circularity bezeichnet die Unabhängigkeit der Gabe von jeder Gegengabe. Charakteristisch für Paulus ist nach Barclay eine ganz bestimmte Weise, Gnade zur Vollendung zu bringen: durch ihre Inkongruenz. Während sonst in der Antike eine Gabe denen gegeben wird, die ihrer würdig sind, gilt die Gnade Gottes denen, die sie nicht verdienen.74 Diese Gnadenvorstellung findet sich schon in 72 Schrage, Einheit. Luz, Geschichtsverständnis, 397, spricht mit Recht von der „theozentrischen Struktur“ der paulinischen Eschatologie (vgl. ebd., 352). 73 Barclay, Gift, 66–78.183–188. 74 Auch Zeller, Charis, 198, sieht in der Inkongruenz der Gnade das Besondere des­ Gnadenverständnisses bei Paulus. Paulus konzipiere „Gratuität weit radikaler als Philon, der –

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Texten des Judentums (in Qumran), aber wird von Paulus in innovativer Weise für die Heidenmission aktiviert: Gottes Gnade gilt allen Menschen unabhängig von dem Wert, den ihnen die Tora zuschreibt. Sie gilt daher in gleicher Weise für Juden und Heiden, Sklaven und Freie, Männer und Frauen. Die soziale Universalität des Evangeliums wird so direkt mit der Frage nach der Gnade Gottes verbunden. Die Überwindung des Sozialkonflikts zwischen dem erwählten Volk und den Völkern wird im Bewusstsein eines Moralkonflikts in jedem Menschen begründet, der durch den Widerspruch zwischen Gottes Gebot und seinem Verhalten die Inkongruenz der Gnade erfährt. Die Erfahrung der individuellen Sündhaftigkeit aller Menschen durchbricht die sozialen Grenzen zwischen allen Menschen. Solch eine Zusammenschau von Sozial- und Moralkonflikt ist auch das Anliegen unseres Buches. Wir unterschieden uns darin nur wenig von Barclay: So gibt es u. E. noch mehr Steigerungen der Gnade als die von ihm aufgezählten. Zu ihnen gehört auch die „Macht der Gnade“, mit der sie sich gegen andere Mächte durchsetzt, ferner ihre Universalität, durch die sie niemanden ausschließt, schließlich die aufschiebende Gnade, die einen richtenden Gott voraussetzt, der vor seinem Gericht dem Menschen noch eine Chance zur Umkehr gibt. Auch meinen wir, dass Paulus keinen einheitlichen Gnadenbegriff hat. Er setzt im Römerbrief in jedem seiner Heilskonzepte verschiedene Akzente. Dabei strandet er immer wieder in Widersprüchen und Aporien. Entscheidend für uns ist: Die apokalyptische Deutung des Paulus greift beide Anliegen auf, die sich aus dem Monotheismus ergeben: Gott will ein Gott a­ ller Menschen und ein Gott des ganzen Menschen sein. Zu diesem Zweck muss die ganze Welt eine Transformation erfahren, die nicht nur soziale Beziehungen verändert und das Leben einzelner Menschen existenziell erfasst, sondern kosmisch die Welt erneuert. Wir finden somit drei Neuansätze in der New Perspective, um die paulinische Theologie neu zu deuten: sozial als Schritt zur Universalisierung, individuell als Christusmystik, kosmisch als Einbruch einer neuen Welt.

d) Bleibende Aporien Angesichts dieser verschiedenen Ansätze auch in der New Perspective könnte man daran zweifeln, ob Paulus überhaupt eine kohärente Theologie entwickelt hat. Der finnische Neutestamentler Heikki Räisänen, der vierte führende Vervon der Wohltätigkeitsethik bestimmt  – immer noch die Konvenienz der Gnadenmitteilung (an die Würdigen) mitbedenkt“. Für Philo ist die Schöpfung das große Geschenk Gottes, für Paulus dagegen die Erlösung in Christus. Bei Philo hat Gott den Menschen zu Werken geschaffen. Bei Paulus tritt dagegen das Handeln Gottes in Gegensatz zu den „Werken“ des Menschen.

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treter der New Perspective, kritisierte eben diese Voraussetzung, Paulus habe eine stimmige Theologie entwickelt.75 Die Suche nach einer widerspruchsfreien Theologie des Paulus sei nicht Paulusexegese, sondern Pauluskult.76 Bei Paulus sei das Gesetz einmal Juden gegeben, dann auch Heiden. Oft sei es eine Einheit, dann aber zerfalle es in ethische und rituelle Gebote. Es habe zeitlos Geltung, dann aber habe es mitten in der Geschichte schon ein Ende. Manchmal gelte es als erfüllbar, manchmal als unerfüllbar. Meist stamme es von Gott, wird aber auch auf Engel zurückgeführt (Gal 3,19). Räisänen deutete alle diese Widersprüche als Ausdruck einer neuen Bewegung, die sich durch Berufung auf die Tradition legitimieren musste. Was Paulus sagt, sei der Sache nach neu, könne sich aber in einer traditionalistischen Kultur nur dadurch legitimieren, dass er das Neue als Erfüllung des Alten darstellt. Das führe zu unüberwindbaren Widersprüchen. Wir bauen auf Räisänen auf. Räisänen hat im Römerbrief nicht nur einzelne Widersprüche aufgedeckt, sondern auch widersprüchliche Heilskonzepte. Gott schaffe Heil entweder durch seine Erwählung vor aller Zeit oder durch den Bund mit den Vätern in der Zeit oder durch Christus am Ende der Zeit.77 Wir unterscheiden über Räisänen hinaus sogar vier Heilskonzepte, da auch das jüdische Heilskonzept einer Gerechtigkeit aus Werken für Paulus nach wie vor eine Möglichkeit ist, mag es auch faktisch widerlegt sein. Die vier Heilskonzepte sind demnach: Heil durch Werke, durch Rechtfertigung, durch Verwandlung und durch Erwählung. Dabei interpretieren wir die Aussagen des Paulus über das Gesetz jeweils im Rahmen eines dieser Heilskonzepte. Widersprüchliche Aussagen über das Gesetz erhalten oft einen Sinn, wenn man diesen Rahmen berücksichtigt. Sollen z. B. Werke das Heil bringen, hat das Gesetz zweifellos eine positive Funktion. Ist das Heil ausschließlich in der Erwählung begründet, hat es eine negative Funktion, denn es bewirkt die Illusion, man könne das Heil durch eigene Taten erlangen. Solche Widersprüche bleiben bei Paulus bestehen, seine Theologie endet in Aporien. Diese Widersprüche deuten wir wie Räisänen historisch und psychologisch, aber auch sachlich: Das Scheitern von Gedanken ergibt sich nicht nur aus der historischen Situation des Paulus, scheiternde Gedanken sind auch eine Chiffrenschrift, in denen das göttliche Geheimnis aufleuchtet (Karl Jaspers).78 Sie sind sachlich bedingt und gehören zu jeder Religion.

75 Räisänen, Law (1983); Dazu: van Spanje, Inconsistency. 76 Räisänen, Law, 15, spricht vom „theological cult of the apostle“, der seine logischen Widersprüche leugnet. 77 Räisänen, Römer 9–11, 2934. 78 Jaspers, Glaube, 391: Wenn endliches Denken „denken soll, was über allen Gegensätzen ist, dann scheitert es an den Gegensätzen. Aber durch dieses methodisch vollzogene Scheitern wird die Transzendenz getroffen“.

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Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung 

Die New Perspective hat die Paulusauslegung der letzten 40 Jahre bestimmt. Sie ist keine Einheit. Aber es gibt einige immer wiederkehrende Grundannahmen, die man in folgenden Thesen zusammenfassen kann:79 (1) Das Judentum ist durch die Grundstruktur des Bundesnomismus geprägt, die ihn als eine Gnadenreligion ausweist. (2) Das Judentum vertritt keine Werkgerechtigkeit. Sofern Paulus das Judentum als werkgerecht darstellt, ist sein Bild von ihm verzerrt. (3) Das Gesetz war kein Problem, sondern wurde nachträglich zum Problem gemacht, als mit dem christlichen Glauben eine Alternative dazu geschaffen worden war. (4) Paulus wurde in Damaskus zum Apostel Christi berufen; die Gesetzeskritik ist sekundär erst zwei Jahrzehnte später in Konflikten mit seinen Gegnern entstanden. (5) Zentrales Anliegen ist nicht die Rechtfertigung des individuellen Sünders, sondern die universale Öffnung der Gemeinde für Menschen aus allen Völkern. (6) Paulus kennt Sünde nur als Gesetzesbruch und nicht als fehlgeleiteten Willen, das Gesetz (in einer nomistischen Fehlhaltung) erfüllen zu wollen. (7) Sachlich steht in der paulinischen Theologie nicht die juridische Rechtfertigungslehre im Mittelpunkt, sondern das neue Sein in Christus. (8) Erlösung ist der Einbruch einer neuen Welt. Im Rahmen der Eschatologie einer Verwandlung der Welt findet die Verwandlung des Menschen statt. Unsere Auslegung will die reformatorische, existenztheologische Deutung mit dieser New Perspective zusammenführen (wie Barclay), aber auch innerhalb der New Perspective verschiedene Ansätze aufgreifen, die den Akzent auf die Universalisierung (Dunn), das neue Sein in Christus (Sanders) oder den Einbruch der neuen Welt (Wright) legen. Wir meinen, dass eine Synthese nur möglich ist, wenn man (mit Räisänen) die innere Widersprüchlichkeit der Theologie des Paulus akzeptiert und als sinnvoll zu deuten versucht. Alle Paulusdeutungen sind Ausdruck ihrer Zeit. Die liberale Paulusdeutung machte den Mystiker Paulus lebensphilosophisch attraktiv. Die dialektische Theologie deutete ihn in einer Krisenzeit als Gerichtsprediger. Die New Perspective wurde in einer sich globalisierenden Welt entwickelt:80 Die großen Sünden der Neuzeit sind Ethnozentrismus, Nationalismus und Antisemitismus. Sofern die Botschaft des Paulus ethnischen Partikularismus überwinden will, entspricht sie unseren Werten. Natürlich fragen wir uns, ob nicht auch unsere Paulusauslegung zeitbedingt ist. Wir erleben heute oft beides zugleich, eine humane Öffnung für 79 Vgl. Theissen, New Perspective. Westerholm, Perspectives, 249–258, fasst die New Perspective durch eine instruktive Zusammenstellung von Zitaten zusammen. 80 Barclay, Multiculturalism.

Paulus – Reformator des Judentums?

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die Fremden und ein Wiederaufleben ethnozentrischer Vorurteile. Die Öffnung für andere verschärft die Widersprüche in uns, der „alte Adam“ macht sich abstoßend in populistischen Bewegungen bemerkbar. Wenn wir soziale Öffnung in Zusammenhang mit inneren individuellen Konflikten sehen, entspricht das heute alltäglicher Erfahrung.

1.5 Paulus – Reformator des Judentums? Eine neue reformatorische Paulusdeutung Unser Versuch, alte und neue Paulusauslegungen zusammenzuführen,81 stellt Paulus als Reformator des Judentums dar. Er träumt im Römerbrief von einer Erneuerung des Judentums, das sich so verwandelt, dass seine Gemeinden in ihm Platz haben. Erkenntnisse der neuen Forschung werden dabei aufgenommen. Das Judentum ist eine Gnadenreligion. Es ist kein Bruch mit dem Judentum, wenn Paulus das Heil auf Gnade gründet. Jedoch geben wir den ethischen „Werken“ im Judentum einen weit höheren Rang als die alte und neue Paulusauslegung. Die viel kritisierte „Werkgerechtigkeit“ ist u. E. ein religiöser Humanismus, der die Verehrung Gottes an die Erfüllung ethischer Gebote bindet. Von diesem ethischen Monotheismus führt eine Linie zur Aufklärung, die alle religiösen Traditionen mit Hilfe ethischer Kriterien überprüfen wollte. Schon Paulus bindet den Gottesdienst der ersten Christusanhänger an diese Kriterien (12,1 f). Das Judentum bleibt dennoch eine Gnadenreligion. Denn die Erfüllung der Gebote durch den Menschen ist in ihm nicht die Bedingung dafür, dass Gott an seinem Bund festhält, wohl aber die Bedingung dafür, seine irdischen und eschatologischen Gaben zu empfangen. Ein zentrales Anliegen des Paulus ist die universale Öffnung des Judentums für alle Völker, die uralten jüdischen Erwartungen entspricht (z. B. Jes 2,1–5; Mi 4,1–5). Dieses Anliegen will Paulus durch Erneuerung des Judentums realisieren. Die Erwartung eines Zustroms der Völker verwandelt er wie das hellenistischen Urchristentum vor ihm in eine Mission, die zu den Völkern aktiv hinausgeht. Einen Schritt weiter geht er mit seiner Gesetzeskritik. Er erkennt im Gesetz dunkle Schatten­ seiten, die er mit der Formel vom tötenden Gesetz und lebendig machenden Geist erfasst (2Kor 3,6). Dass vorher nicht existieren konnte, was er nachträglich erkannte, leuchtet nicht ein. Bei Paulus kam eine im Judentum existierende latente Gesetzeskritik zur Sprache.82 Nur so kann man Paulus historisch verstehen. Zu Beginn dieses Überblicks über die Forschungsgeschichte waren wir von Luthers reformatorischer Erkenntnis ausgegangen. Damals schlug Luther aus der 81 Dunn, New Perspective on the New Perspective, 157: „The ‚new perspective‘ does not pretend or think or want to replace all elements of the ‚old perspective‘. It does not regard the ‚new perspective‘ as hostile or antithetical to the ‚old perspective‘“. 82 Pollmann, Motive, 233–238.

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Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung 

Lektüre des Römerbriefs ein Funke entgegen, der die Welt verändert hat. Fragen wir nun am Ende dieses Überblicks, inwiefern es trotz Wellen von Entlutheranisierung eine Verwandtschaft zwischen Reformation und dem Reformator Paulus gibt. Sicher ist: Luther und die Reformatoren dachten differenzierter über die Theologie des Paulus, als es in der neueren Paulusforschung oft dargestellt wird. Das sei an unserer zentralen These gezeigt, dass zwischen einer sozialen und individuellen Dimension in der Rechtfertigungslehre eine enge Beziehung besteht: Die Verwandlung des einzelnen Menschen durch Christusmystik und die soziale Öffnung für alle Menschen gehören zusammen. Bei Luther finden wir nicht nur eine juridische Rechtfertigungslehre, sondern auch eine intensive Reflexion über die Verwandlung des Menschen, bei der er auch mystische Traditionen und Bilder aufgreift. In seiner Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen beschreibt er das Heil mit uralten Bildern der Mystik:83 Die Seele ist die Braut, Jesus ihr Bräutigam. Beide vereinigen sich in Liebe und werden ein Geist und ein Leib. Die Seele bringt unendlich große Schulden in die Ehe, ihr Bräutigam einen noch größeren Schatz. Der Mensch überschreibt seine Schulden auf Christus, Christus überschreibt auf den Menschen seine Gerechtigkeit. Durch diesen „fröhlichen Wechsel“ wird der Mensch frei von Schuld. Auch Luther kannte jene „effektive“ Verwandlung des Menschen, die Paulus in seiner Christusmystik zum Ausdruck bringt.84 Die ihm folgende altlutherische Orthodoxie betonte, dass zur Rechtfertigung die Heiligung treten müsse, und begründete sie in der Christusmystik.85 Wenn im 19. Jh. die Mystik des Paulus neu entdeckt und im 20. Jh. als „Sein in Christus“ gedeutet wurde, wurde nur wiederentdeckt, was die Reformatoren gesehen hatten – nur dass diese mystischen Aussagen jetzt religionsgeschichtlich erklärt und gegen die juridische Rechtfertigungslehre ausgespielt wurden. Sofern man durch Entdeckung der Christusmystik meinte, Paulus zu „entlutheranisieren“, war das eine Selbsttäuschung. Dasselbe gilt für die Entdeckung der sozialen Funktion der Rechtfertigungslehre. Auch sie wurde prinzipiell von den Reformatoren erkannt, jedoch inhaltlich deutlich anders bestimmt. Luther unterschied in seiner Galaterbriefvorlesung von 1531 einen duplex usus des Gesetzes, „erstlich, den bürgerlichen 83 M. Luther, De libertate christiana, § 12 in: WA 7, 25,26–26,12: „Der Glaube gibt nicht nur so viel, dass die Seele dem göttlichen Wort gleich wird, aller Gnaden voll, frei und selig, sondern er vereinigt auch die Seele mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam. Aus dieser Ehe folgt, wie Paulus sagt, dass Christus und die Seele ein Leib werden – so werden auch beider Güter eins, Gelingen und Unglück und alle Dinge. Denn was Christus hat, das ist der gläubigen Seele eigen, was die Seele hat, wird Christi eigen. So hat Christus alle Güter und Seligkeit, die sind der Seele eigen. So hat die Seele alle Untugend und Sünde auf sich, die werden Christi eigen. Hier hebt nun der fröhliche Wechsel und Austausch an“. 84 Eine finnische Auslegung sieht sogar in der deificatio des Menschen das Zentrum der Theologie Luthers, vgl. Mannermaa, Glauben. Zur finnischen Lutherdeutung vgl. Beisser, Vergöttlichung. 85 Nüssel, Glauben; dies., Christus.

Paulus – Reformator des Judentums?

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Übertretungen zu wehren und dann, die geistlichen Übertretungen zu offenbaren und kund zumachen“.86 Im Anschluss daran differenzierten die Reformatoren zwischen einer sozialen Funktion (dem usus politicus oder civilis) und einer individuellen Funktion des Gesetzes (dem usus elenchticus, spiritualis oder theologicus). Umstritten blieb eine dritte Funktion des Gesetzes, der tertius usus legis für Christen, der ihnen Weisungen für ihr Verhalten gibt. Auch wenn wir diese Dimensionen in unserer Paulusauslegung inhaltlich anders bestimmen, können wir an diese Unterscheidungen anknüpfen. Das Gesetz regelt im usus politicus das Zusammenleben aller Menschen. Es verhindert, dass sie sich gegenseitig Schaden zufügen. Es wurde in dieser Funktion mit dem Naturrecht identifiziert. Es begründet also keine Gruppenidentität in Abgrenzung zu anderen Gruppen, sondern verbindet alle Menschen. Das ist der entscheidende Unterschied zu Paulus, für den das Gesetz eine Gabe Gottes an Israel war. Aber auch Paulus kannte Ansätze eines universalen Gesetzesverständnisses, an das die Reformatoren mit Recht anknüpften. Und auch die Reformatoren neigten zu der Auffassung, dass die Erfüllung des Gesetzes im usus politicus wahre und falsche Christen unterscheide. Insofern kennen auch sie eine abgrenzende Funktion des Gesetzes, nur dass die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Christen sozial nicht sichtbar wurde. Nur Gott weiß, wer zu den wahren Christen gehört. Die Bindung des Gesetzes an Israel wird von ihnen kaum reflektiert, und damit fehlt die Grundlage für eine hohe Wertschätzung Israels. Gleichzeitig schrieben die Reformatoren dem Gesetz die individuelle Funktion zu, den Sünder zu überführen. Es zeigt ihm im usus theologicus seu spiritualis, dass er auf Gottes Gnade angewiesen ist. Es ist Grundlage der Selbstkritik des Menschen. Er erkennt in ihm wie in einem Spiegel seine Unvollkommenheit. Dieser individuelle Gebotskonflikt steht für die Reformatoren im Zentrum ihrer Paulusdeutung. Zur Veranschaulichung des usus elenchticus legis wird meist die Biographie Luthers herangezogen.87 Luther habe schwere Gewissenskonflikte als Mönch erlebt, ein tiefes Ungenügen beim Versuch, das Gesetz zu erfüllen. Dabei wird verkannt, dass Luther im Bewusstsein lebte, ein vorbildlicher Mönch zu sein. Er sagte über sich, dass er „als untadeliger Mönch lebte“.88 Sein Problem war nicht, dass er die Gebote nicht erfüllen konnte, sondern dass er trotz eines „vorbildlichen“ Lebens Gott nicht lieben konnte. Gottes Drohung mit dem Gericht war ihm auch dann noch präsent, wenn er erfolgreich seine Gebote erfüllte. Luther fehlte das Bewusstsein einer unbedingten Annahme durch Gott. Er ist freilich in einem 86 Luther, Commentarius in Epistolam ad Galatas, in: WA 40/1, 33–688, zu Gal 3,19: WA 40/1 479 f. 87 Dazu Härle, Paulus und Luther, 221–227. 88 Vgl. den Bericht über seine Entwicklung in der Vorrede zur lateinischen Ausgabe seiner Werke, der am Anfang dieses Kapitels (s. zu Anm. 3) zitiert wurde.

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Punkte Paulus vergleichbar. Auch der war sich dessen bewusst, dass er in seiner vorchristlichen Zeit „untadelig im Blick auf die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit war“ (Phil 3,6). Luther und Paulus unterschieden sich jedoch dadurch, dass Luther das Gesetz individuell als Mönch erfüllen wollte, Paulus dagegen für eine kollektive Heiligkeit seines Volkes eiferte. Luther war sich außerdem seiner inneren Unruhe vor seiner reformatorischen Einsicht bewusst, in Paulus war sie vielleicht unbewusst vorhanden. Sie kann allenfalls erschlossen werden, indem man seinen „Eifer“ als Reaktionsbildung gegen unbewusste Zweifel am Gesetz deutet. Doch das ist umstritten. Entscheidend ist, Luther erlebte sein Problem als Beziehungsstörung gegenüber Gott. Er konnte ihn nicht lieben, sondern musste ihn hassen – obwohl er in der Gebotserfüllung perfekt war. E. P. Sanders macht keinen Unterschied zwischen der Sünde als Beziehungsstörung und als Gebotsübertretung, wenn er schreibt: „Luther war von der Tatsache überwältigt, daß er, wiewohl Christ, sich gleichwohl als ‚Sünder‘ empfand: Er litt unter Schuld. Paulus dagegen litt nicht unter einem Gewissen, das sich schuldig fühlte“.89 Zu den beiden Funktionen des Gesetzes im usus politicus und usus elenchticus kommt (vor allem im reformierten Protestantismus) eine dritte Funktion des Gesetzes: Wenn der Christ durch Gottes Gnade wiedergeboren ist, sagt ihm das Gesetz, wie er seine Dankbarkeit durch sein Tun zum Ausdruck bringen kann. Für Reformierte ist dieser tertius usus legis der eigentliche Gebrauch des Gesetzes, sein usus praecipuus. Für Lutheraner ist der wiedergeborene Mensch dagegen frei vom Gesetz. Da in ihm aber immer auch etwas vom alten Menschen überlebt, braucht der Mensch auch als Wiedergeborener das Gesetz, sofern er Reste des alten Menschen in sich in Schach halten muss. Insofern gibt es auch bei Lutheranern einen usus legis in renatis.90 Lutheraner wollen das Innere des mit Gott versöhnten Menschen jedoch im Prinzip von jedem Zwang, von jeder Herrschaft und Angst frei halten. Sie neigen zu einem „Innerlichkeitsanarchismus“.91 Die Reformatoren sahen auf jeden Fall keinen Widerspruch zwischen der individuellen Funktion des Gesetzes und seiner sozialen Funktion. Sie verbanden beide Funktionen, die in der traditionellen und neuen Sicht auf Paulus in der Exegese jeweils einseitig dominieren. Sie bestimmten den sozialen Gebrauch des Gesetzes jedoch als eine alle Menschen verbindende Ethik, die New Perspective 89 Sanders, Paulus, 64. 90 Diese lutherische Version des tertius usus legis (als Weiterwirkung des usus elenchticus für den alten Adam im wiedergeborenen Christen) wurde im (ersten) Antinomerstreit von Luther 1538 in der Auseinandersetzung mit Johannes Agricola formuliert, vgl. Leppin, Luther, 331–335; Stolle, Nomos, 41–67. 91 Graf/Tanner, Staatsgesinnung, 701: „Die konservative Beschwörung der unverbrüchlichen Geltung überindividueller Ordnungen ist nur das selbstverschriebene Abwehrmittel gegen die anarchischen Potentiale der eigenen Innerlichkeit […]. In theologischer Sprache formuliert: Gerade weil der Lutheraner um das radikale Sündersein des Menschen weiß, ist er auf der Suche nach überindividuellen Ordnungen, die den latenten ‚anarchischen Subjektivismus‘ (Mannheim) einhegen“.

Paulus – Reformator des Judentums?

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betont dagegen seine trennende Funktion. Das Gesetz ist nur Israel gegeben, auch wenn Paulus allen Völkern eine natürliche Gesetzeskenntnis zuspricht.92 Die Rechtfertigungsbotschaft zielt bei den Reformatoren auch nicht darauf, Trennungen zwischen den Menschen aufzuheben. Im Gegenteil, die Neuentdeckung der Rechtfertigungslehre hat – gegen die Absicht der Reformatoren – eine konfessionelle Spaltung des Christentums bewirkt, so wie Paulus zu seiner Zeit mit seiner Rechtfertigungsbotschaft gegen seine Intention die Spaltung des Judentums bewirkt hat. Obwohl er eine Reform des Judentums anstrebte, ist es kein Zufall, dass seine Gedanken als Grundlegung einer Trennung vom Judentum interpretiert werden. Ein Vergleich zwischen den verschiedenen Funktionen des Gesetzes bei Paulus und den Reformatoren kann zeigen, wie differenziert beide über das Gesetz denken (vgl. die folgenden Tabellen). Abgesehen von der trennenden Funktion des Gesetzes bei Paulus haben alle anderen Funktionen Entsprechungen. Tab. 1: Der mehrfache usus legis in der Reformation93 94 Reformatoren

Das Gesetz bewirkt Konflikte:

Das Gesetz bewirkt Übereinstimmung:

Soziale Dimension des Gesetzes (seine interpersonale Funktion)

Das Gesetz Israels ist „der Juden Sachsenspiegel“93. Bei Christen unterscheidet es wahre und falsche Christen.

Das Gesetz bewirkt Übereinstimmung mit anderen im usus politicus. Es wird mit dem Naturrecht ­ identifiziert.

Individuelle ­ Dimension des ­ Gesetzes (seine intrapersonale Funktion)

Das Gesetz ist ein „Sünden­ spiegel“94: Im inneren Konflikt wirkt es als Anklage. Dieser usus elenchticus oder theologicus dominiert bei den Reformatoren.

Das Gesetz bewirkt Übereinstimmung mit sich selbst im usus paraeneticus oder tertius usus legis. Umstritten blieb: Bezieht er sich nur auf Reste des alten Menschen oder auch auf den erneuerten Christen?

92 Stolle, Nomos, 59, sieht hier einen grundlegenden Unterschied zu den Reformatoren, die das Gesetz mit dem Naturrecht identifizieren, während es bei Paulus exklusiv Israel gegeben ist. Aber nach Paulus vernehmen auch Heiden die Forderung des Gesetzes (2,12–16). Sie sind mit dem Guten schlechthin identisch (7,12 f). Das Gesetz ist auch ein „Gesetz der Vernunft“ (7,23). Mit Holtz, Gott, 506–565, ist an der Universalität des Gesetzes festzuhalten, auch wenn Paulus dazu widersprüchliche Aussagen gemacht hat. 93 So Luther, WA 18, 81,14. 94 Die Metapher „Sündenspiegel“ findet sich in Calvin, Institutio Christianae Religionis 2, 7,7 (S. 187): „So ist also das Gesetz einem Spiegel gleich, in dem wir unsere Ohnmacht und aus ihr unsere Ungerechtigkeit, wiederum aus diesen beiden unsere Verdammnis erblicken sollen, so wie uns ein Spiegel die Flecken und Runzeln unseres leiblichen Angesichts vor Augen hält“.

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Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung 

Tab. 2: Der mehrfache usus legis bei Paulus Paulus

Das Gesetz bewirkt Konflikte:

Das Gesetz bewirkt Übereinstimmung:

Soziale Dimension des Gesetzes (seine interpersonale Funktion)

Das Gesetz ist bei Paulus das Privileg Israels, mit dem es sich von anderen Völkern abgrenzt. Es begründet einen Sozialkonflikt ­(2,17–24; 3,27–31).

Der usus politicus ist bei Paulus als lex naturalis belegt (2,12–16). Das ­Gesetz verlangt das Gute schlechthin (7,12.13).

Individuelle ­ Dimension des ­ Gesetzes (seine intrapersonale Funktion)

Sündenbewusstsein ist ein innerer Konflikt mit sich selbst, in dem das Gesetz als Anklage wirkt: Das ist der usus elenchticus, belegt z. B. in 3,19 f; 7,7–25.

Die Erfüllung des Gesetzes als usus paraeneticus oder tertius usus legis ist bei ­ Paulus z. B. in 8,4; 13,8–10 belegt.

Der Überblick über die Forschungsgeschichte zeigt, dass es sich lohnt, eine neue Auslegung unter folgender Frage durchzuführen: War Paulus ein Reformator? Haben Luther und die anderen Reformatoren sich vielleicht deshalb so stark durch Paulus motivieren lassen, weil sie bei Paulus eine „reformatorische“ Motivation gespürt haben? Gab es zwischen der Situation des Paulus und der Luthers trotz aller Unterschiede nicht eine strukturelle Verwandtschaft? Beide nahmen Teile ihrer Tradition so ernst, dass sie mit ihrer ganzen Tradition in Konflikt gerieten.95 Falls Paulus ein Reformator des Judentums war, umschließt das freilich eine herbe Erkenntnis: Er war ein scheiternder Reformator. Seine Vision eines reformierten Judentums mit liberalem Gesetzesverständnis und Öffnung des Kults für alle Völker ging nicht in Erfüllung. Aber war nicht auch die Reformation eine scheiternde Bewegung? Sie führte nicht zur Reform der ganzen Kirche, sondern zu ihrer Spaltung. Und dennoch hat sie mit Erfolg die Geschichte verändert. Auch von Paulus kann man das sagen.

95 Wengst, Völker, 445, diagnostiziert mit Recht, Luther projiziere den Gegensatz zu seiner spätmittelalterlichen katholischen Kirche auf Paulus, „den er gegen das Judentum kämpfen sah wie sich selbst gegen die katholische Kirche“. Doch kämpfte Luther nicht gegen die Kirche, sondern gegen den Papst, ebenso kämpfte Paulus nicht gegen das Judentum, sondern gegen Gegner im Judentum. Luther selbst sah sich in einer Frontstellung „gegen die Papisten, unsere Juden“ (WA 40 I, 336,13 zit. nach ebd., 445).

2. Kapitel: Der Gedankengang des Römerbriefs Eine textimmanente Lektüre

Bevor wir die Entstehungsgeschichte des Römerbriefs historisch erörtern, stellen wir Gedankengang, Gliederung und innere Bezüge des Briefes in einer „textimmanenten Lektüre“ dar. Vorweggeschickt sei eine Gliederung des Briefes.1 Briefrahmen 1,1–17 Verkündigung des Evangeliums als Herrscherproklamation Thema des Briefes: Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (1,16–17) Systematischer Teil 1,18–11,36 1–3 Heil durch Werke (1,18–3,20)

Die Universalität des Zornes Gottes über alle Menschen



Verkündigung als Gerichtsprophetie: Gott als Richter über alle Menschen, Heiden (1,18–32) und Juden (2,1–29)



Zwei Vorwürfe gegen Paulus: Antijudaismus (3,1–6) und Libertinismus (3,8)

Der Zorn Gottes über alle: Keiner ist gerecht (3,9–20) 3–5 Heil durch Glauben (3,21–5,21) Die Universalität der Gerechtigkeit Gottes für alle Menschen

Verkündigung als Priesteramt: Gott als Priester, der Sühne für alle Glaubenden schafft a) Abraham als Stammvater aller Gläubigen (4,1–25) b) Versöhnung und Frieden mit Gott (5,1–11) c) Adam/Christus als Stammväter aller Menschen: Rechtfertigung für alle (5,12–21) Die Herrschaft der Gnade Gottes (5,21)

6–8 Heil durch Verwandlung (6,1–8,39) Zurückweisung des libertinistischen Vorwurfs (3,8) durch die Verwandlung der Christen mit Christus in der Taufe (6,1–11) 1 Zur Strukturanalyse Theobald, Römerbrief, EdF 294, 42–62; Luz, Aufbau; Wolter, EKK 6/1, 68–72.

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Der Gedankengang des Römerbriefs

a) Freiheit von Sünde: Der Sklave und sein Herrenwechsel (6,12–23) b) Freiheit vom Gesetz: Die Frau und ihre zweite Ehe (7,1–6.7–25) c) Freiheit von der Vergänglichkeit: Der Sohn und seine Adoption (8,1–30) Der Hymnus auf die Liebe Gottes (8,31–39)

9–11 Heil durch Erwählung (9,1–11,36) Zurückweisung des antijudaistischen Vorwurfs (3,1–6) durch die Privilegien Israels in der Geschichte (9,1–5)

a) Israels Erwählung in der Vergangenheit: Gott der Töpfer (9,6–33) b) Israels Unglaube in der Gegenwart (10,1–21) c) Israels Erlösung in der Zukunft: Gott der Gärtner (11,1–32)

Das Erbarmen Gottes über alle (11,32) Der Hymnus auf die Weisheit und Erkenntnis Gottes (11,33–36) Paränetischer Teil 12,1–15,13

a) Allgemeine Paränese: Liebe und Staatsloyalität (12,1–13,14) b) Spezielle Paränese: Starke und Schwache (14,1–15,6)



Vereinigung aller Menschen im Gottesdienst (15,7–13) Segen durch den Gott der Hoffnung (15,13)

Briefrahmen Reisepläne des Paulus (15,14–33) Segen durch den Gott des Friedens (15,33) Schlusskapitel: Grüße (16,1–23)

2.1 Briefrahmen (1,1–17) Paulus stellt sich im Präskript (1,1–7) als Apostel des Weltherrschers vor, dessen Botschaft allen Völkern gilt, d. h. auch den Römern. Den Inhalt seiner Botschaft beschreibt er mit einer traditionellen Formel als „Evangelium“: Jesus wurde als Nachkomme Davids durch Auferstehung von den Toten zum Sohn Gottes eingesetzt (1,3 f). Mit dieser Formel knüpft Paulus an einen christlichen Konsens an. Indirekt sagt er: Mein Evangelium stimmt mit dem der Gemeinden überein, direkt: Mein Auftrag stammt von Gott. Paulus nimmt Motive der jüdischen Erwartung eines Messias als Weltherrscher auf, betont aber deren Transformation: Sein Auftrag besteht darin, alle Heiden zum „Gehorsam des Glaubens“ zu bringen (1,5), in Rom aber wendet er sich an alle Christen einschließlich der Juden-

Briefrahmen (1,1–17)

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christen (1,7). Er proklamiert ein Gegenbild zum Kaiser als Weltherrscher. Christus (oder das solus Christus der Reformation) ist seine zentrale Botschaft. Im Proömium (1,8–15) wechselt Paulus die Rolle: Er wirbt bescheiden um die ihm unbekannte römische Gemeinde. Er betet, dass er sie besuchen kann. Er will sie nicht zum Glauben bekehren, sondern durch ihren Glauben getröstet werden. Schon oft wollte er sie besuchen, aber nie gelang es ihm. Das dürfe man nicht so deuten, als schäme er sich, in Rom sein Evangelium zu verkündigen. Von seiner Absicht, von Rom aus Spanien zu missionieren (15,24), sagt er noch nichts, es sei denn in versteckter Form, wenn er seine Verpflichtung gegenüber den „Barbaren“ betont; Spanier galten oft als Barbaren.2 Ebenso wenig schreibt er von seinem Plan, vorher Jerusalem zu besuchen. Paulus fasst dann das Thema seines Briefes als ein persönliches Bekenntnis (1,16 f) zusammen: Inhalt seines Evangeliums ist die sich offenbarende „Gerechtigkeit Gottes“, die den Glaubenden gerecht macht, Juden an erster Stelle, dann auch Griechen. Das in 1,3 f zitierte Evangelium war christlicher Allgemeinbesitz, das in 1,16 f präzisierte Evangelium dessen paulinische Variante, die den Glauben ins Zentrum stellt (worauf das sola fide der Reformation beruht). Paulus führt dieses Evangelium mit den Worten der urchristlichen Bekenntnissprache ein: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ (1,16), und deutet damit eine apologetische Intention des Briefes an. Sein Evangelium und seine Person sind umstritten. Sein Brief wird so zu einem Bekenntnis und zu einer Apologie. In 2,16 bezieht sich Paulus noch einmal auf sein Evangelium als Maßstab im Gericht. In 3,21 folgt eine polemische Abgrenzung dieses Evangeliums gegen ein anderes Heilsverständnis: Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes geschieht ohne Gesetz (als Forderung), auch wenn sie im Gesetz (als Schrift) bezeugt wird. Das begründet (in der Reformation) eine Rechtfertigung sine lege und ist bei Paulus der Grund für seine Konflikte mit einer judenchristlichen Gegenmission. Der Wert des Menschen wird unabhängig von Kriterien des Gesetzes definiert. Er wird dem Glauben geschenkt, der allen Menschen zugänglich ist. Diese Rechtfertigungslehre wird durch die Schrift gegen die jüdische Tradition legitimiert – Grund für das sola scriptura der Reformation. Gott erscheint am Anfang des Römerbriefs in drei Rollen: als König, Richter und Priester und erweist sich dabei als Gott aller Menschen (3,29). Er bietet seine Gnade durch Christus als Weltherrscher (1,3), Richter (2,16) und Sühnopfer (3,25) an. Alle Rollen Gottes und seines Messias sind Ausdruck eines transformierten messianischen Universalismus. Eine neue Auslegung liest in 1,16 f nicht nur das Thema, sondern auch die Gliederung des Römerbriefs.3 Wenn Gott seine heilschaffende Gerechtigkeit „[a] aus Glauben [b] für den Glauben“ offenbart, so meine [a] „aus Glauben“ die Treue Gottes 2 Jewett, Hermeneia, 131. 3 Schumacher, Schlüssel.

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Der Gedankengang des Römerbriefs

gegenüber dem Menschen (3,21–31), während [b] „für den Glauben“ die Antwort des mensch­lichen Glaubens auf Gottes Treue bezeichne (4,1–25). Der dann folgende Satz [c]: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ weise auf das neue Leben, das in 5,1–8,39 dargestellt wird. Jedoch ist in der Formel „aus Glauben für Glauben“ ein Subjektwechsel von Gottes Treue zum Glauben des Menschen unwahrscheinlich. In vergleichbaren Wendungen beziehen sich „aus“ und „für“ (ἐκ/ek und εἰς/eis) auf dieselbe Größe: „Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge“ (11,36, vgl. 1Kor 8,6; 2Kor 2,16). Die Wendung „aus Glauben“ meint zudem in den meisten der anderen 21 Fälle bei Paulus eindeutig den Glauben des Menschen.4 Auch folgt Paulus beim Zitieren von Hab 2,4 nicht dem griechischen Text der LXX: „Aber der Gerechte soll aufgrund meiner (= Gottes) Treue leben“, sondern dem hebräischen Text: „Aber der Gerechte soll aufgrund seiner Glaubenstreue leben“.5 Er schließt sich also nicht der LXX an, die den „Glauben“ als Gottes Treue versteht. Für Paulus ist Glauben in der Regel menschlicher Glaube, nicht Gottes Treue.

Eine Pointe des Römerbriefs wird in der Themenangabe sichtbar: Der subjektive Glaube des Menschen ist der Schlüssel zum Heil. Alle objektiven Ereignisse im Himmel und auf Erden bewirken nur dann etwas, wenn sie im Herzen des Menschen Glauben finden (10,5–13). Dieser Glaube ist universal zugänglich, für Juden und Nicht-Juden, begründet dadurch Gemeinden mit offener Sozialstruktur und verwandelt das Leben: Der Gerechte wird aus Glauben leben.

2.2 Systematischer Teil (1,18–11,36) Das Heil des Menschen 2.2.1 Heil durch Werke: Die Offenbarung des Zorns Gottes über alle Menschen (1,18–3,20) Paulus muss nachweisen, dass alle Menschen verloren sind. Nur dann ist seine Botschaft von einer universalen Gnade überzeugend. Er beginnt mit einer prophetischen Gerichtsrede. Gott verwandelt sich in ihr von einem König, der seine Gerechtigkeit parteiisch durch seinen Zorn gegen alle Sünde durchsetzen will (1,18–32), in einen neutralen Richter, der unparteiisch jeden einzelnen Menschen beurteilt (2,11). Dass Heiden Sünder waren, war ohnehin jüdische Über-

4 „Aus Glauben“ begegnet bei Paulus 21 Mal, die Wendung „Glauben Christi“ siebenmal. In den meisten Fällen wie in Gal 3,7–12.22.24 ist eindeutig der Glaube Abrahams und der Christen gemeint. Die Deutung der πίστις Χριστοῦ/pístis Christoú auf die Treue Christi wurde vor allem von Hooker, Πίστις Χριστοῦ, die Deutung von πίστις θεοῦ/pístis theoú auf die Treue Gottes vor allem von Barth in seinem Kommentar zum Römerbrief vertreten. 5 Beide lesen dabei übereinstimmend, dass der Gerechte „aus Glauben leben“ soll. Paulus versteht das eher so, dass der Mensch, „der aufgrund seines Glaubens gerecht ist, leben wird“.

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zeugung: Sie haben den wahren Gott verleugnet und das Geschöpf an seiner Stelle verehrt. Aufgrund dessen hat Gott sie ihrer Sünde ausgeliefert. Sie zerstören ihr Leben durch sexuelles und aggressives Fehlverhalten (1,18–32). Juden aber, die sie verurteilen, sind nicht besser; sie tun genau das, was sie bei anderen verurteilen (2,17–24; vgl. 2,1). Um alle Menschen anklagen zu können, greift Paulus auf ein ursprüngliches religiöses und ethisches Wissen aller Menschen zurück: Alle halten die Wahrheit durch „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit“ auf (1,18). Gottlosigkeit (ἀσέβεια/asébeia)  bedeutet, dass sie nicht den einen Gott, sondern das Geschöpf verehrten (ἐσεβάσθησαν/esebásthēsan 1,25). Ungerechtigkeit (ἀδικία/adikía) bedeutet, dass sie gegenüber ihren Mitmenschen voll Ungerechtigkeit (ἀδικία/adikía) sind (1,29). Paulus setzt hier den in der Antike verbreiteten „Kanon der zwei Tugenden“ voraus.6 Er knüpft ferner an Traditionen einer theologia naturalis an: Alle Menschen haben Erkenntnis Gottes, auch wenn von Gott nur das „Unsichtbare“ sichtbar und nur das offenbar ist, was er selbst offenbart (1,19). Paulus folgt schließlich Traditionen einer lex naturalis, nach der alle Menschen ein Ethos kennen, das in ihr Herz geschrieben ist (2,12–16). Es dient ihm dazu, sie umso schärfer anzuklagen: Gegen besseres Wissen haben sich alle von Gott abgewandt und ihn in falscher Weise verehrt (ἐλάτρευσαν/elátreusan 1,25). Die verfehlte polytheistische Götterverehrung dient wiederum zur Erklärung moralischer Verfehlungen. Paulus geht auf drei Einwände gegen seine universale Gerichtspredigt ein: Haben Juden nicht als Vorzug die Tora (2,12–24), die Beschneidung (2,25–29) und die Verheißungen (3,1)? Nacheinander widerlegt er diese Einwände: Erstens kennen auch Heiden die Tora als ein in ihr Herz geschriebenes Gesetz, das ihr Gewissen bezeugt (2,14). Zweitens können auch sie im Herzen beschnitten sein (2,26– 29). Deswegen kann Paulus einen jüdischen Gesetzeslehrer, der das Gesetz bricht (2,17–24), mit einem Heiden kontrastieren, der durch Erfüllung des Gesetzes ein „Jude im Verborgenen“ ist, auch wenn er nur im „Geiste und nicht dem Buchstaben nach“ beschnitten ist (2,25–29). Das führt zum dritten Einwand: „Was haben dann die Juden für einen Vorzug oder was nützt die Beschneidung?“ (3,1). Seine Antwort ist: Die Verheißungen bleiben ein Vorteil der Juden (3,1–8). Sie basieren auf Gottes Treue, die umso mehr die Untreue der Menschen beleuchtet. Eine Diskussion dieses Problems in 9–11 wird später die andere Seite betonen: Die Untreue der Juden lässt umso mehr Gottes Treue zu ihnen hervortreten! 6 Die beiden Grundtugenden bestanden aus „Frömmigkeit“ gegenüber Gott und „Gerechtigkeit“ unter den Menschen. Sie waren im Judentum bekannt (Arist. 131; Jos. Ant. 18,117; Bell. 7,260) und fassen bei Philo den Dekalog zusammen (Spec. 2,63). Das Doppelgebot der Liebe ist ein Echo des Kanons der beiden Tugenden. Vgl. Dihle, Kanon; Berger, Gesetzesauslegung, 142–176; Theissen, Liebesgebot. Bei der Zusammenstellung der beiden Tugenden variiert deren Zuordnung: Sie bedeuten manchmal fast dasselbe, werden andererseits als Tugenden gegenüber Gott und Mensch differenziert, verhalten sich manchmal wie Ursache und Wirkung; dann wieder gilt die eine Tugend als Steigerung der anderen (Wolter, EKK 6/1, 132).

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Der Gedankengang des Römerbriefs

Danach zitiert Paulus in 3,8 einen Einwand, der als persönlicher Vorwurf gegen ihn erhoben wurde. Paulus fordere, das Böse (τὰ κακά/tá kaká) zu tun, damit das Gute (τὰ ἀγαθά/tá agathá) herauskomme. Über diese Gegner urteilt Paulus aufgebracht: „Deren Verdammnis ist gerecht!“ Erst kurz zuvor hatte er Gott als unparteiischen Richter über jeden Menschen angerufen, der Böses (τὸ κακόν/tó kakón) oder Gutes (τὸ ἀγαθόν/tó agathón) tut (2,9–11). Die volle Wucht dieses Gerichts wird seine Gegner treffen, aber auch ihn selbst, wenn er Gut und Böse vertauscht. Paulus diskutiert die beiden Vorwürfe von 3,1–8 später in umgekehrter Reihenfolge, den ersten Vorwurf in Röm 9–11, den zweiten in Röm 6–9. Daher ist Röm 6–9 als ein in sich geschlossener Teil des Römerbriefs wie Röm 9–11 zu betrachten. So wie er das Evangelium als sein persönliches Bekenntnis entfaltet, wird man diese Teile auch als seine persönliche Apologie lesen. Paulus verteidigt sein Evangelium und seine Person gegen Missdeutungen. Im ersten Teil des Römerbriefs (1,18–3,20) entfaltet Paulus ein Heilskonzept, das durch „Werke des Gesetzes“ Heil verspricht. Im Jüngsten Gericht werden alle Menschen daran gemessen, ob sie gute Taten getan haben oder nicht. Das Fazit wird in 3,9–20 gezogen: Da ist keiner gerecht, auch nicht einer (3,10). Das Gesetz, anstatt ein Privileg der Juden zu sein, deckt nur die Sünde auf. Über alle Menschen braut sich der Zorn Gottes zusammen. Dieser Teil des Briefes endet daher mit einer gewaltigen Coda aus Schriftzitaten (vor allem aus den Psalmen) zum Thema: Keiner ist gerecht (3,10). Damit sind alle Menschen von Vernichtung bedroht. Ein radikaler Neuanfang ist nötig. Das an und für sich positive Heilskonzept eines Heils durch Werke scheitert an seinen unerfüllten Bedingungen.

2.2.2 Heil durch Glauben: Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes für alle Glaubenden (3,21–5,21) Wenn über allen Menschen der Zorn Gottes schwebt, wie ist dann Rettung möglich? Die Antwort des Paulus ist: Durch Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, ohne Gesetz (3,21–31), aber vom Gesetz bezeugt (4,1–25). „Ohne Gesetz“ meint, ohne dass die Erfüllung von Gesetzesforderungen Kriterium für den Wert des Menschen ist, „bezeugt durch Gesetz und Propheten“ meint, dass Weissagungen der Schrift diese Gerechtigkeit angekündigt haben. Dabei greift Paulus in 3,21–5,21 vor allem auf das Gesetz, also den Pentateuch mit Abraham und Adam als typologischen Beispielen zurück, in 9,1–11,36 aber auf die Propheten mit ihren Weissagungen, vor allem auf Jesaja. Die dort bezeugte Gerechtigkeit ist heilschaffende Gerechtigkeit. Sie hat rettende Kraft und wirkt durch Christus als „Gnadengabe“ (χάρις/cháris). 3,21–31 zeigt: Gerechtigkeit Gottes wird ohne Gesetz offenbart. Sie wird dadurch realisiert, dass Gott „Erlösung“ bewirkt, indem er durch Jesu Tod Sühne

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für die Sünden schafft. Paulus benutzt wahrscheinlich eine traditionelle Formel: „Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit“ (3,25). Tritt Christi Tod hier an die Stelle des Tempels, der Sühne für Israel schafft? Oder ist er ein Märtyrer, der sein Leben in der Hoffnung hingibt, dass Gott von seinem Zorn gegen Israel ablässt? Oder meint „Sühne“ ein Weihegeschenk Gottes, das dem Menschen dessen Vergebung zusichert? Wahrscheinlich werden hier Bilder vom Tempelkult, vom Sterben der Märtyrer und allgemeine Sühnevorstellungen verschmolzen. Gott erscheint auf jeden Fall nicht mehr in der Rolle des Herrschers, der sich durchsetzt, auch nicht in der des Richters, der ein neutrales Gericht durchführt, sondern als Priester, der für die Sünden Sühne schafft, um sein eigenes Verdammungsurteil als Richter zu überwinden: Der Zorn Gottes, der über alle Menschen heraufbeschworen wurde, ergeht stellvertretend über Jesus. Diese Vorstellung vom Sühnetod ist heute schwer verständlich, nicht aber ihre Auswirkung: Weil mit dem Sühnetod die Sünden aller Menschen objektiv überwunden sind, ist der Weg des Evangeliums zu den Heiden frei. Gott rechtfertigt alle, wenn sie an Christus glauben. Die einst im Tempel geschaffene Sühne für die Sünden gilt nun nicht mehr ausschließlich für Israel, sondern aufgrund des Glaubens für alle Völker. Damit kommt der Universalismus des Judentums zum Durchbruch. Gott ist nicht nur ein Gott der Juden, sondern auch der Heiden (3,29). Das ist die Antwort auf die Aporie, die der erste Teil aufgerissen hat: Wenn keiner das Gute tut, wie kann dann jemand gerettet werden? Die Antwort ist: Durch Rechtfertigung des Sünders. Da alle Sünder sind, benachteiligt Gott niemanden, wenn er Sünder freispricht. Alle haben aufgrund des „Gesetzes der Werke“ Zorn verdient, ebenso wird allen aufgrund des „Gesetzes des Glaubens“ Heil angeboten (3,27). Das „Gesetz des Glaubens“ ist wahrscheinlich das „Prinzip“, „dass der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird ohne Werke des Gesetzes“ (3,28). Paulus leitet dieses „Prinzip“ aus dem Zuspruch des rechtfertigenden Glaubens an Abraham ab (Gen 15,6 = Röm 4,3). In 4,1–25 wird dieser Schriftbeweis entfaltet: Die universale Gerechtigkeit Gottes ohne Gesetzeserfüllung wird durch das Gesetz selbst bezeugt, nämlich durch Abraham, dem sein Glaube an die Verheißung eines Nachkommen zur Gerechtigkeit angerechnet wurde (Gen 15,6). Abraham glaubte an den, der den Gottlosen (ἀσεβē´/asebē´) gerecht macht (4,5). Er repräsentiert als „Gottloser“ alle, die gegen die erste Grundtugend in 1,18 verstoßen haben. Abraham zeigt, dass sie dennoch durch Glauben gerechtfertigt werden. Da er die Verheißung erhielt, bevor er beschnitten war, ist Abraham nicht nur der Vater der beschnittenen Juden, sondern auch der unbeschnittenen Heiden. Die Verheißung ist sachlich unabhängig vom Gesetz. Abraham lebt als Glaubender noch in einer Zeit ohne Gesetz (4,14 f). Wenn seine Nachkommen im Glauben die Welt „erben“ werden, macht sich in einer Metapher wieder der messianische Universalismus bemerkbar, der für die Erwählten den Besitz der ganzen Welt erhofft (4,13). Der Glaube

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Der Gedankengang des Römerbriefs

Abrahams wird dabei gegen alle jüdischen Traditionen nicht in der Bereitschaft gesehen, den eigenen Sohn in den Tod zu geben, sondern darin, dass er an die Verheißung eines Sohnes glaubte: an dessen Geburt, obwohl er nicht mehr zeugungs- und Sara nicht mehr gebärfähig war. Schon Abraham wurde durch die Verheißung universaler Nachkommenschaft in einen inneren Konflikt gestürzt: Er muss den Glauben an Nachkommenschaft gegen sein fortgeschrittenes Alter durchhalten. Wenn er in dieser Situation an die todüberwindende Macht Gottes glaubt, entspricht sein Glaube dem Glauben der Christen. Sie glauben nicht nur an den heilbringenden Tod Jesu (3,25), sondern an die heilbringende Wirkung seines Todes und seiner Auferweckung (4,25). Zwischen These (3,21–31) und Abrahambeispiel (4,1–25) gibt es eine Spannung: Die These von der nun offenbarten Gerechtigkeit spricht nur vom Tod Jesu als Grund des Heils, das Abrahambeispiel nur von der den Tod überwindenden Macht Gottes. In 4,25 fasst eine Formel beides zusammen: Christus „ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen­ auferweckt“. Während bisher die Heilswirkung des Todes (und der Auferstehung) Jesu mit dem Begriff „Sühne“ (ἱλαστήριον/hilastē´rion) erfasst wurde, d. h. damit, dass eine objektive Sündenlast und Schuld beseitigt wurde, wird sie in 5,1–11 als „Versöhnung“ gedeutet, d. h. als Wiederherstellung einer Beziehung zwischen verfeindeten Menschen. „Versöhnung“ ist ein Bild aus der Diplomatie, „Sühne“ ein Bild aus dem Kult. Bei der Versöhnung können im Prinzip beide Seiten die Initiative ergreifen. Bei der Sühne geht die Initiative vom Menschen aus, der Gottes Zorn beschwichtigen will. Die kultische Bildlichkeit klingt aber in 5,1 f nach: Die gerechtfertigten Menschen haben wie die alttestamentlichen Priester „Zugang“ zu Gott. Die neuen Heilsbegriffe Friede (5,1), Liebe (5,5.8) und Versöhnung (5,10 f) gehen über die juristischen Heilsbegriffe Rechtfertigung und Gerechtigkeit ­hinaus. Die Versöhnungsmetaphorik gibt dem Sühnetod einen neuen Rahmen. Gott schafft selbst die Sühne. Er arbeitet daran, dass Menschen von der Feindschaft gegen ihn ablassen. Das Heil wird nicht nur wie in 4,1–25 extensiv auf andere Völker ausgeweitet, sondern gleichzeitig intensiviert: Es wird als Liebe Gottes in menschliche Herzen wie ein Fluidum „ausgegossen“ – vergleichbar dem Geist Gottes (5,5). Die Intensivierung des Heils durch eine innere Verwandlung des Menschen bekräftigt dessen Universalisierung. Wenn sogar Feinde durch das Heil Gottes verwandelt werden, gilt das erst recht auch für Heiden. Auch jetzt geht Paulus von traditionellen Formeln aus: „Christus ist für uns gestorben“ (5,6.8), erweitert sie aber (wie in 4,25) um die Auferstehung Jesu. In 5,10 verbindet er die Versöhnung mit dem Tod Christi, aber gleichzeitig „umso viel mehr“ auch mit seinem Leben. Universalität und Intensität des Heils werden in einem gewaltigen Ausklang des zweiten Teils des Römerbriefs durch die alttestamentliche Adam-Christus-

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Typologie begründet (5,12–21).7 Entsprechend wurden die Universalität und die Größe des Unheils in 3,10–18 am Ende des ersten Teils durch eine alttestamentliche Zitatenkette untermauert. Das Alte Testament wird in beiden Fällen eingesetzt, um eine Schlussfolgerung zu ziehen. Für die Universalität des Heils gilt: So wie Adam Stammvater der ganzen Menschheit ist, so ist Christus Stammvater einer neuen Menschheit (5,12–21). Durch ihn werden alle Menschen zu „Gerechten“ (5,18 f). Während Abraham im Kanon der zwei Tugenden die Frömmigkeit repräsentiert, stellen Adam und Christus die Gerechtigkeit dar. Während Abraham der Vater vieler Völker ist (4,17.18), wird Christus allen Menschen das Leben bringen (5,18). Der Vergleich zwischen Adam und Christus wird dabei unterbrochen, um die Intensität des Heils zum Ausdruck zu bringen: Die Gnade ist mit dem Unheil nicht vergleichbar (5,15–17). Das Unheil führte von einer Übertretung zu vielen Übertretungen, das Heil von vielen Übertretungen zur Gnade durch den Einen. Dieses Heil besteht nicht mehr nur darin, die Welt zu erben (4,13), sondern darin, dass die Herrschaft des Todes ein Ende hat und die Christen im Leben sogar „herrschen“ werden (5,17). Erneut schlägt der transformierte messianische Universalismus des Paulus durch. Es geht um die Herrschaft der Christen mit dem Messias in einem Leben der Gnade. Am Ende steht wieder eine Aussage über die Funktion des Gesetzes. Es bewirkt nicht nur Selbstgerechtigkeit (2,17–24) und Erkenntnis der Sünde (3,20). Vielmehr begründet sein Kommen (am Sinai) die Vermehrung von „Übertretung“ und Verfehlung, „damit die Gnade umso größer werde“ (5,20). Wie universal ist dieses Heil gedacht? Paulus spricht in 5,18 nicht nur von „den Vielen“, die durch Christus Gnade empfangen haben (wie in 5,15.17), sondern von allen Menschen: „Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt“ (5,18). Die Logik ist: Wenn alle von Adam abstammen, muss Christus als neuer Adam ebenfalls allen das Heil bringen. Der folgende Wechsel von „allen Menschen“ zu „vielen“ (5,19) könnte einschränken, prinzipiell aber gilt das Heil allen. Diese Universalisierung des Heils führt in eine Aporie: Warum sollen die Menschen noch die Sünde überwinden, wenn ohnehin alle gerettet werden? Paulus diskutiert dieses Problem im nächsten Teil (6,1–8,39). Der zweite Teil des Briefes endet so mit der Adam-Christus-Typologie in einer beeindruckenden Coda zum Thema „Herrschaft der Gnade“. Es ist die Herrschaft derer, die Gnade empfangen haben und im Leben herrschen werden (5,17).

7 Nur wenige Exegeten lassen mit 5,12 einen neuen Teil  beginnen. Dagegen spricht: Röm 5 wird durch Wendungen wie „durch (unseren Herrn) Jesus Christus“ zusammengehalten (5,1.11.17.21). Rechtfertigungsaussagen begegnen sowohl vor als auch nach 5,12 (5,1.9.16–19.21), so Wolter, EKK 6/1, 70.

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Der Gedankengang des Römerbriefs

Exkurs 4: Beginnt mit 5,1 ein neuer Teil des Römerbriefs? Viele lassen mit 5,1 einen neuen Teil des Römerbriefs beginnen, in der Regel als einen Unterabschnitt innerhalb des größeren Teils 3,21–8,39. Für einen Neuansatz erst in 6,1 sprechen jedoch folgende Argumente:8 (1) Die in 3,1 und 3,8 formulierten Einwände wecken die Erwartung, dass die beiden Fragen nach Gut und Böse und den Privilegien Israels noch einmal aufgegriffen werden. Beide werden in anderer Reihenfolge in Röm 6–8 und 9–11 erörtert.­ Paulus setzt hier jeweils neu ein. (2) Der literarische Charakter ändert sich ab 6,1: 3,21–5,21 greift auf die alttesta­ mentlichen Typen Abraham und Adam zurück und bringt viele alttestamentliche Zitate, 6,1–8,39 benutzt die allgemein menschlichen Metaphern Sklave, Frau und Sohn und zitiert nur einmal das Alte Testament in 8,36 (= Ps 43,23LXX). (3) Die Terminologie ist verschieden. Nur in 1–5 begegnen die Worte „Ruhm“ (7x), „Zorn“ (6x), „Blut“ (2x), „Versöhnung“ (3x) einschließlich ihrer Ableitungen. Nur in 6–8 begegnen dagegen die Begriffe „Heiligung“ (2x), „Freiheit“ (8x), und „Knechtschaft“ (8x mit Ausnahme von 1,1).9 (4) Die alttestamentlichen Typologien in 3,21–5,21 gehören zusammen: Abraham repräsentiert als „Gottloser“ die „Frömmigkeit“ im Kanon der beiden Tugenden, Adam und Christus repräsentieren die „Gerechtigkeit“. Beide Teile des „Kanons“ wurden in 1,18 indirekt angesprochen. (5) Ebenso gehören die drei Metaphern des Hauses: Sklave, Frau und Sohn, zum selben Bildfeld. Sie sprechen von einer Statusveränderung, die immer als „Freiheit“ und Befreiung beschrieben wird. Es geht um Freiheit von Sünde (6,18.22), Gesetz (7,3; 8,2) und Vergänglichkeit (8,21). (6) Am Ende des ersten Teils (1,18–3,20) belegt Paulus seine These mit alttestamentlichen Schriftzitaten (3,10–18), am Ende des zweiten Teils durch die alttestamentliche Geschichte: Adam ist Stammvater der alten Menschheit (5,12–21). Die Adam-Christus-Typologie steht im 1.  Korintherbrief am Ende des Briefes (1Kor 15,20–22.44–49) und könnte auch im Römerbrief am Ende eines Briefteils stehen. (7) Aus der verfehlten Gottesbeziehung in 1,18–23 folgt, dass Gott wie ein „Feind“ die Menschen ihren Sünden ausliefert (1,24–32). Entsprechend folgt in 3,21–5,21 aus der erneuerten Gottesbeziehung die Versöhnung Gottes mit seinen Feinden (5,1–11). Der dreimaligen „Dahingabe“ (παρέδωκεν/parédōken) der Menschen (1,24.26.28) entspricht die „Dahingabe“ (παρεδόθη/paredóthē) Jesu (4,25) als Überleitung zu einem kleineren Neuansatz von 5,1 innerhalb von 3,21–5,21 so, wie 1,24 im ersten Teil ein kleiner Neuansatz ist.

8 Für 6,1 als Beginn eines Abschnitts plädieren u. a. Kuss, RNT 6, 199; Wilckens, EKK 6/1, 15–22; Stuhlmacher, NTD 6, 17–19; Haacker, ThHK 6, 14–17, Wolter, EKK 6/1, 70 f; Theobald, Römerbrief, EdF 294, 47–54. 9 Dass von Freiheit erst ab 6,1 die Rede ist, spricht gegen die Zusammenfassung der vier Kapitel in Röm 5–8 unter Überschriften: Freiheit von Tod (Röm 5), Sünde (Röm 6), Gesetz (Röm 7) und „Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8), die Vielhauer, Geschichte, 176, vorschlägt.

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(8) Die beiden ersten Teile des Römerbriefs werden durch eine Ringkomposition zusammengehalten: 1,18–32 beginnt mit einer „entmythologisierenden“ Deutung von Adams Sünde und schließt 5,12–21 mit deren Überwindung durch den neuen Adam. Mit 6,1 beginnt eine neue Ringkomposition: Bilder vom Tod des alten Menschen in 6,1–11 entsprechen den Bildern von den Geburtswehen des neuen Menschen in der Schöpfung in 8,18–25.10 Es macht also Sinn, zwischen 5,21 und 6,1 einen Einschnitt zu sehen. Die abweichenden Gliederungen des Römerbriefs zeigen jedoch: Dieser Einschnitt ist geringer als der vor 9,1 oder 12,1.11 Für eine Verbindung von 3,21–8,39 spricht, dass hier Motive ausgearbeitet werden, die im Galaterbrief zusammen gehören: Abraham, Taufe, Geistverleihung, Abba-Anrede. Was im Galaterbrief zusammengehört, kann man im Römerbrief nicht auseinanderreißen. Auch verbindet 5,21 beide Teile, indem es das Thema von 6,1–8,39 formuliert: Die Gnade ist übermächtig geworden, „damit wie die Sünde geherrscht hat zum Tode, so auch die Gnade herrsche durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“.12

2.2.3 Heil durch Verwandlung: Die Erneuerung des Menschen (6,1–8,39) Wir haben gesehen, dass 3,21–5,21 in einer Aporie endet: Wenn die Gnade durch die Sünde groß wird, läge es nahe, nun erst recht zu sündigen. Dieses libertinistische Argument spiegelt Vorwürfe gegen Paulus (3,8). Paulus antwortet mit dem Gedanken, dass der Mensch nicht nur von Gott gerecht gesprochen, sondern auch verwandelt wird. Zur imputativen Gerechtigkeit, die dem Menschen in einem Gerichtsverfahren (forensisch) angerechnet wird, tritt die effektive Gerechtigkeit, zur Rechtfertigung tritt die „Heiligung“ (6,19.22), zum Glauben an Christus die Christusmystik. Die Aporien des Heilskonzepts einer universalen Rechtfertigung durch den Glauben werden durch das Konzept der Verwandlung aufgefangen. Diese Verwandlung wird in einem kultischen Bild begründet. Christus war in 3,21–26 an die Stelle des Tempelkults getreten. Das wirft die Frage auf: Wie sollen alle Menschen Zugang (5,2) zu diesem Heil finden? Paulus antwortet: Durch die Taufe als symbolisches Sterben. In ihr wird der Mensch mit Christus gekreuzigt, stirbt mit ihm und wird mit ihm begraben (6,6.8.4). Der neue Mensch ist jenseits 10 Oft will man in Röm 5–8 eine Ringkomposition entdecken: Gedanken aus Röm 5 kehren in Röm 8 wieder, vor allem die Liebe Gottes, die sich im Sterben Christi für uns zeigt. Man kann diese Wiederaufnahme von Themen aber auch als Parallele verstehen: Am Ende der beiden Teile 3,21–5,21 und 6,1–8,39 schließt Paulus mit einem Crescendo der Liebe in 5,1–11 und in 8,31–39. 11 Unsere Auslegung des Römerbriefs ließe sich auch mit einer Gliederung vereinen, die in 5,1 einen Neueinsatz sieht, so z. B. Zeller, RNT, 8 f, der 3,21–8,39 in vier Teile aufteilt: 3,21–4,25; 5,1–21; 6,1–7,25 und 8,1–39 als Rekapitulation von 5,1–21. 12 Wolter, EKK 6/1, 71, betont: Alle Begriffe dieses Satzes werden im Folgenden aufgegriffen: Sünde, Gerechtigkeit, Tod, Leben, Herrschen.

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Der Gedankengang des Römerbriefs

des Todes frei, ganz für Gott zu leben (6,10). Obwohl der Gedanke ­darauf zielt, dass die Christen mit Christus schon jetzt auferweckt sind, vermeidet ­Paulus diese Folgerung: Die Auferweckung bleibt ein zukünftiges Ereignis. Doch leben die Christen schon jetzt in einem neuen Leben „wie aus Toten“ (6,13). Die Kraft der Auferstehung wirkt als verwandelnde Macht schon in der Gegenwart – so wie sie bei Abraham durch die Geburt seines Sohnes schon in seinem Leben hier und jetzt wirksam war. Das neue Leben wird nach seiner sakramentalen Grundlegung in der Taufe (6,1–11) mit drei Bildern für die Verwandlung des Menschen beschrieben, die den Rollen von Sklave, Frau und Sohn entsprechen. Der Herrenwechsel des Sklaven ist ein Bild für die Befreiung von Sünde (6,12–23), die Zweitehe der Frau ein Bild für die Freiheit vom Gesetz (7,1–25), die Adoption zu erbberechtigten Söhnen Gottes ein Bild für die Freiheit von Vergänglichkeit; ihr Erbe ist das ewige Leben (8,1–39). In allen drei Bildern geht es um eine Befreiung (6,18.20.22; 7,3; 8,2.21). Paulus versetzt damit die messianische Hoffnung aus der Politik in den Alltag. Paulus verheißt keine Befreiung von politischen Feinden, sondern von Sünde, Gesetz und Tod. Diese Befreiung ist mit Konflikten verbunden: Vom Sklaven ist im Zusammenhang mit Söldnern und Waffen die Rede (6,13.23). Die Befreiung der Frau vom Gesetz des Mannes wird (unabhängig von diesem Bild) dadurch erläutert, dass zwei Gesetze im Menschen miteinander streiten und ein Gesetz den Menschen gefangen hält (7,23). Das neue Leben als „Söhne Gottes“ bedeutet Überwindung der „Feindschaft“ des Fleisches gegen Gott (8,7). Die drei Teile dieser „Verwandlungslehre“ folgen einer zeitlichen Ordnung. In Röm 6 wird der Wechsel vom alten zum neuen Menschen in der Gegenwart dargestellt. Röm 7 greift tief in die Vergangenheit vor diesem Wechsel zurück. Röm 8 richtet den Blick in die Zukunft. Die Christen sind schon jetzt zu Söhnen Gottes adoptiert (8,14–17), ihre „Offenbarung“ als Söhne Gottes aber geschieht erst in der Zukunft (8,19). Insofern etwas Verborgenes später „offenbar“ wird, widerspricht sich das nicht. Wohl aber steht die Erwartung der „Adoption zur Sohnschaft“ (8,23) in Widerspruch dazu, dass sie schon geschehen ist. Sie existiert schon jetzt und ist aber noch nicht wirklich da. Eine Lösung bietet der abschließende Hymnus, der den Gegensatz zwischen „Gegenwärtigem und Zukünftigem“ für irrelevant erklärt (8,38).

a) Der Herrschaftswechsel des Sklaven und die Befreiung von Sünde (6,12–23) Das erste Bild vom Herrenwechsel des Sklaven zeigt: Der Christ war bisher Sklave der Sünde, hat aber nach seiner Taufe die Gerechtigkeit als neuen Herrn (6,12–23). Das Bild zielt auf Freiheit von der Sünde. Der Gedanke des „Freiseins“ wird dabei formal verwendet: Die Christen waren „frei“ gegenüber der Gerechtigkeit, d. h. sie lebten ohne Gerechtigkeit unter der Herrschaft der Sünde, sie sind jetzt

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aber „frei“ von der Sünde (6,20.22). Sie haben den Herrn gewechselt. Im Bild vom Herrenwechsel des Sklaven spielt der Tod keine Rolle, wohl aber im Bild vom Söldner, das mit dem Sklavenbild verschmolzen ist: Der Söldner riskiert den Tod. Der Sklave wird männlich vorgestellt. Nur deshalb kann er zugleich Söldner sein. Beide Bilder sind eigentlich getrennt zu betrachten: Sklaven werden außer in extremen Notzeiten nie bewaffnet, Söldner dagegen sind frei. Wir werden fragen: Warum verbindet Paulus das Bild vom Sklaven mit dem des Söldners?

b) Die zweite Ehe der Frau und die Befreiung vom Gesetz (7,1–25) Das zweite Bild ist die Wiederheirat der Frau als „Beispiel“ für die Freiheit vom Gesetz (7,1–6): Der Christ wird verglichen mit einer Ehefrau, die aufgrund des Todes ihres Mannes einen anderen Mann heiraten kann. In diesem Bild spielt der Tod zweimal eine Rolle. Zunächst tritt er als Tod des Ehemanns auf, durch den die Frau vom „Gesetz des Mannes“ frei wird (7,2), dann als Tod der Ehefrau: Christen, die mit der Ehefrau gemeint sind, sind im übertragenen Sinne gestorben und werden dadurch frei, einem anderen Herrn dienen. Das Bild bringt in beiden Varianten Freiheit vom Gesetz zum Ausdruck. Das Bild von der Wiederheirat ist weit kühner, als wir es uns vorstellen: Paulus widerspricht in ihm der Hochschätzung der univira im nichtjüdischen Kontext, also der Frau, die in ihrem Leben nur mit einem Mann verheiratet war. Auch abgesehen davon macht Paulus eine ungewöhnliche Aussage: Das Gesetz stimuliere die Leidenschaften, die dem Menschen zum Verhängnis werden (7,5). Er widerspricht damit einem antiken Konsens, wonach das Gesetz dazu dient, die Leidenschaften zu kontrollieren; hier ruft es dagegen Leidenschaften hervor. Diese ungewöhnliche Aussage veranlasst eine Reflexion über die Bedeutung des Gesetzes (7,7–25). Paulus formuliert zunächst metakommunikativ in der 1. Person Plural: „Was sollen wir nun sagen?“ (7,7) und geht dann zur 1. Person Singular über (7,8). Man könnte 7,7–25 als Exkurs (digressio) bezeichnen, wenn dieser Text nicht sachlich so zentral wäre. Er erläutert in Ich-Form, was das Bild von der zweiten Ehe aussagt: Freiheit vom Gesetz. Der erste im Präteritum geschriebene Teil  unseres Abschnitts (7,7–13) geht von der Frage aus: Wenn das Gesetz die Sünde selbst stimuliert, ist es dann nicht selbst Sünde? Paulus antwortet mit einer Apologie des Gesetzes. Nicht das Gesetz ist Sünde, sondern das Gesetz wird in den Händen der Sünde missbraucht. Das Gebot selbst ist heilig, gerecht und gut (7,12). Aber die Sünde missbraucht es, verführt und betrügt den Menschen mit dessen Hilfe. Schildert Paulus hier Adams Fall in neuer Weise? Beschreibt er indirekt auch eigene Erfahrungen? Verführte das Gesetz nicht auch Paulus einmal zur Sünde – zur Verfolgung der Christen und zur Ablehnung des Willens Gottes? Wechselt er deshalb ab 7,8 zum betonten „Ich“ (mit explizitem ἐγώ/egō´) über? Oder redet Paulus rhetorisch-fiktiv ohne

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Der Gedankengang des Römerbriefs

jeden persönlichen Erfahrungshintergrund, um einen allgemeinen Gedanken möglichst lebendig darzustellen? All das ist umstritten. Der zweite Teil im Präsens (7,14–25) schildert einen innermenschlichen Konflikt. Der Mensch kann nicht tun, was er eigentlich will, sondern vollbringt das Gegenteil davon. Auffällig ist: Zum ersten Mal seit 3,8 benutzt Paulus erneut die ethischen Kategorien „gut“ (τὸ ἀγαθόν/tó agathón) und „böse“ (τὸ κακόν/tó­ kakón) als Gegensatz: Der Mensch tut nicht das Gute, sondern das Böse, das er nicht tun will, sondern sogar hasst (7,15.18 f.21). Ist diese erstmalige Wiederkehr des ethischen Vokabulars aus dem gegen Paulus gerichteten Vorwurf von 3,8 ein Zufall? Oder setzt sich Paulus insgeheim auch hier mit diesem Vorwurf auseinander? Auf jeden Fall ist die Formel „Tun, was man will“ eine in der Antike geläufige Formel für Freiheit. Wenn Paulus sie verneint, sagt er: Dieser Mensch ist unfrei und unerlöst. Das Ich des unerlösten Menschen ist gespalten, ebenso das Gesetz: Es gibt ein Gesetz in den Gliedern und ein anderes, dem die Vernunft zustimmt. Deren Konflikt lähmt und versklavt den Menschen. Paulus stellt das trotz des Gebrauchs des Präsens im Rückblick fest. Denn er dankt Gott für seine Erlösung, die bereits geschehen ist (7,25)! Die gegenläufige Meinung, dass mit diesem unfreien Menschen, auf den Paulus zurück sieht, der erlöste Christ (einschließlich P ­ aulus selbst) gemeint sei, ist seit Augustinus und Luther jedoch weit verbreitet. Die Darstellung ist in der Tat so lebendig, dass sich die Frage stellt, ob hier ein „Erlöster“ offen über Probleme redet, die ihn noch immer bedrängen. Oder kann er vielleicht deshalb so offen über sie reden, weil er sie als überwundene Probleme darstellen kann – selbst wenn er sie noch nicht ganz überwunden hat?

c) Die Adoption zum Sohn und die Befreiung von Vergänglichkeit (8,1–39) Mit Röm 8 kommt die Wende zur Erlösung. An die Stelle des einsamen, unerlösten „Ich“ tritt das „Wir“ der Erlösten. Nach der Apologie des Gesetzes (7,7–25) beginnt in 8,1 ein neuer Abschnitt, der als Darstellung des Heils spiegelbildlich zur vorhergehenden Darstellung des Unheils gehört. Dafür spricht 7,6 als Überschrift und Einleitung zu beiden Abschnitten: Wenn die Christen „im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens dienen“, dann gehört beides zusammen: das Leben unter dem Gesetz (7,7–25) und das Leben im Geist (8,1–30). Diese Wende zum Leben im Geist wird durch den Gegensatz von zwei Gesetzen und den Gegensatz von Fleisch und Geist beschrieben. Beide sind ineinander verflochten. Denn das Gesetz, das den Menschen von einem anderen Gesetz „befreit“ (8,2), ist das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christo Jesu. Liegt hier ein Wortspiel mit dem Gesetzesbegriff vor? Oder wird das Gesetz in zwei entgegengesetzte Funktionen gespalten? Denkt Paulus wie in 2Kor 3,6 an den Gegensatz von lebenschaffendem Geist und tötendem Buchstaben (vgl. 7,6)?

Systematischer Teil (1,18–11,36)

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Das Neue in Röm 8 ist auf jeden Fall der Gegensatz von „Fleisch“ und „Geist“ (8,3–11). Das neue Leben ist Leben im Geist. Christus wurde als Sohn in Gestalt des sündigen Fleisches gesandt, damit die Sünde in seinem Fleisch verurteilt wird. Nicht Christus wurde also verurteilt, sondern die Sünde! Das geschah, damit die Forderung des Gesetzes in allen Menschen erfüllt werde, die nach dem Geiste leben und nicht nach dem Fleisch. Der innere Krieg im Menschen und mit Gott ist überwunden. Es herrscht Frieden mit Gott. Dies ist möglich, weil der Geist durch die Sendung des „Sohnes Gottes“ (8,3 f) allen Christen gegeben wurde. Alle werden durch ihn zu „Söhnen“ Gottes adoptiert. Gott ist für sie seitdem ein Vater, den sie mit der vertrauensvollen Anrede „Abba“ ansprechen dürfen. Schon vorher war in 6,4 (und zwar zum ersten Mal seit 1,7) von Gott als Vater die Rede, der den Christen in der Taufe neues Leben schenkt. Jetzt begegnet Gott erneut als Vater. Das Bild von der Adoption (8,12–17) ist nach dem Herrenwechsel des Sklaven und der Zweitehe der Frau der Höhepunkt dieser Bilderkette. Wenn die Christen durch den Geist nicht mehr „Sklaven“ sind (8,15), dann wird damit das Sklavenbild von 6,12–23 korrigiert: Sie sind jetzt „Söhne“, die erbberechtigt sind. Das ewige Leben ist nicht mehr ihr „Sold“ (6,23), sondern ihr „Erbe“ (8,17). Ihre Sohnschaft bedeutet „Freiheit“. Denn die ganze Schöpfung wartet auf diese „Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (8,21). Wir werden nach dem Erfahrungshintergrund solcher Bilder fragen. Setzt das Bild von der Adoption zum Sohn etwa voraus, dass einige adoptierte Söhne vorher Sklaven waren? Das letzte Argument 8,18–30 greift auf Röm 6 zurück, auf die Geburt des neuen Menschen. Wie am Anfang von Röm 6–8 ein Bild vom Tod als Beginn eines neuen Lebens steht (6,1–11), so an dessen Ende das korrespondierende Bild der Geburt (8,18–30). Die ganze Schöpfung liegt in Geburtswehen und wartet auf das Erscheinen des neuen Menschen. Das Stöhnen der Schöpfung vereint sich mit den Seufzern der Christen und des Geistes. Ein dreifaches konsonantes Seufzen (der Schöpfung, des Geistes und der Christen) durchzieht die Welt und macht eine Erfüllung gewiss, die noch nicht sichtbar ist. Vielleicht ist mit dem „unaussprechlichem Seufzen“ Glossolalie gemeint, die Paulus hier aus einer Sprache der Engel im Himmel in eine Klage der Menschen aus der Tiefe uminterpretiert. Am Ende dieses Abschnitts steht ein hymnischer Jubel über die Liebe Gottes (8,31–39). Zunächst wird ein paradoxes und ermutigendes Gerichtsbild beschworen, welches in Kontrast zum dunklen Gerichtsbild in 2,5–11 steht. Paulus fragt: Wer will die Auserwählten anklagen? (8,33). Und es ist kein Ankläger vorhanden! Der Richter ist für die Angeklagten voreingenommen: Gott ist Partei für sie! Sie haben einen Fürsprecher in Jesus Christus! Er sitzt neben dem Richter zur Rechten Gottes. Hier findet de facto kein Gericht mehr statt. Mit dem Verblassen der Gerichtsszene bricht bei Paulus die Gewissheit der Liebe Gottes durch. Sie ist stärker als die Leiden in der irdischen Realität und stärker als alle dämonischen Mächte. Ein Leidenskatalog nennt parallel zu einem Mächtekatalog alles, was die Christen von Gott trennen könnte, aber aufgrund

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Der Gedankengang des Römerbriefs

der Liebe Gottes nicht trennen kann. Auch dieser Teil des Briefes endet so mit einer gewaltigen Coda. Ihr Thema ist die Liebe Gottes. Es ist eine Liebe, durch die Christen alles besiegen (8,37), was sie von Gott trennen könnte. 8,18–39 greift Motive aus 5,1–21 auf: Drangsale (5,3/8,35), Hoffnung (5,2.5/ 8,20.24 f), Liebe Gottes (5,5.8/8,39) und das Wirken des Geistes (5,5/8,23.26 f). Dazu kommt die Anspielung auf Adam in 8,20. Diese Motive sind freilich kaum ausreichend, um eine Ringkomposition anzunehmen, die Röm 5–8 zusammenhält. Denn es fehlen in Röm 8 wichtige Motive aus Röm 5: Zorn Gottes, Feindschaft und Versöhnung. Umgekehrt begegnen in Röm 8 neue Motive wie der Freiheitsgedanke, die kosmische Verbundenheit mit der Schöpfung, eine Gerichtsszene und die Gewissheit einer Einheit mit der unbedingten Liebe Gottes. Man wird daher die wiederkehrenden Motive eher als Parallelen werten, die jeweils am Ende von zwei Darstellungen einer Wende stehen: der Wende vom universalen Zorn zur universalen Gnade in 1,18–5,21 bzw. der Verwandlung des Menschen vom Sünder zum Gerechten in 6,1–8,39.

2.2.4 Heil durch Erwählung: Die Rettung Israels und aller Völker (9,1–11,36) In Röm 6–8 verstrickt sich Paulus erneut in einer Aporie. Er will zeigen, dass die universale Rechtfertigungsbotschaft kein Freibrief für unmoralisches Handeln ist. Seine Lehre von der Verwandlung des Menschen ist Antwort auf diese Aporie. Nun aber stellt sich in Röm 9 die Frage: Je größer die „Verwandlung“ ist, desto weniger Menschen erfasst sie. Sollen daher alle vom Heil ausgeschlossen bleiben, die weder getauft sind noch den Geist empfangen haben? Vor allem: Sollen die ungläubigen Juden verloren sein? Paulus greift damit das unerledigte Problem aus 3,1 auf. Dort hat er zwar jeden Vorzug der Juden bestritten, aber die Glaubwürdigkeit der Verheißungen Gottes betont, angesichts der alle Menschen „Lügner“ seien (3,4). Er hat sogar im Ich-Stil gefragt, ob „die Wahrheit Gottes durch meine Lüge herrlicher wird“ (3,7). Jetzt bekennt er sich erneut zu Israel und unterstreicht durch einen Schwur im Ich-Stil, dass er nicht „lüge“ (9,1). Damit bezieht er sich auf 3,7 f zurück: Paulus muss sich gegen den Vorwurf wehren, dass er die Verheißungen Israels leugnet. Seine Antwort auf den Vorwurf des Libertinismus in Röm 6–8 musste diesen Vorwurf verstärken. Denn Paulus hat in dieser Antwort die messianischen Erwartungen Israels transformiert und spiritualisiert, so dass diese nur für Christen gelten. Gottes Zusagen an Israel hat er auf Christen übertragen: Sohnschaft (8,14 f), Verherrlichung (8,17.30) und Erwählung (8,33). Widerspricht er damit nicht den messianischen Verheißungen an Israel? In 9,1–5 bekennt er sich daher erneut zu den bisher genannten Privilegien­ Israels, fügt aber zwei weitere neu hinzu: die „Bundesschlüsse“ und den „Gottesdienst“. Dies veranschaulicht folgender Vergleich:

Systematischer Teil (1,18–11,36)

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Tab. 3: Die Privilegien Israels und der Christen im Römerbrief Christen sind

Israeliten besitzen (9,4)

„Söhne Gottes“ (8,14)

„Sohnschaft“

wurden „verherrlicht“ (8,30)

„Herrlichkeit“ „Bundesschlüsse“ (διαθῆκαι/diathē´kai)

erfüllen das „Gesetz“ (8,4)

„Gesetzgebung“ „Gottesdienst“ (λατρεία/latreía)

ihnen gehört die Verheißung (4,13)

„Verheißungen“

Die zwei zum ersten Mal genannten Themen spielen in 9,1–11,36 eine besondere Rolle: Der „Bund“ (jetzt im Singular) wird durch Begegnung Israels mit Christus verwirklicht (11,27). Der jüdische Gottesdienst (λατρεία/latreía) erscheint indirekt in Aussagen über den „Zion“ (9,33; 11,26) und den „Tisch“ (11,9 f) in alttestamentlichen Zitaten. Beide Themen hängen zusammen: Wenn der Erlöser aus dem Zion kommt, wird der Bund erfüllt (11,26 f). Was die Gottesverehrung (λατρεία/latreía)  angeht, so war in 1,25 von der falschen Gottesverehrung der Heiden die Rede: Sie hatten die Wahrheit Gottes mit der Lüge vertauscht und das Geschöpf an Stelle des Schöpfers verehrt (ἐλάτρευσαν/elátreusan). Von 9,4 an geht es um den wahren Gottesdienst: Das ethische Verhalten der Christen wird am Anfang des paränetischen Teils zum „vernünftigen Gottesdienst“ (λογική λατρεία/logikē´ latreía) erklärt (12,1). Paulus zielt in ihm auf ein gemeinsames Gotteslob von Juden und Heiden (15,8–13) und versteht seine Reise nach Jerusalem als priesterlichen Dienst (15,16).

Exkurs 5: Röm 9–11 als integraler Teil des Römerbriefs Die drei Kapitel Röm 9–11 werden hin und wieder als Fremdkörper im Römerbrief betrachtet. Sie sollen ein ursprünglich selbständiger Text gewesen sein, den Paulus hier eingefügt hat (C. H. Dodd).13 Heute werden sie allgemein als ein Teil des Römerbriefs betrachtet. Paulus verwendet schon im Galaterbrief zweimal das Abrahambeispiel – das erste Mal, um die Einheit aller Menschen in Christus, das zweite Mal, um die Feindschaft zwischen Juden und Christen zu deuten. Im Römerbrief folgt er dieser Struktur: In Röm 4 beruft er sich auf Abraham als Vorvater aller Glaubenden, in Röm 9 betont er die Spaltung unter den Kindern Abrahams. Gleichgültig, wie man die Pointe von Röm 9–11 bestimmt, es werden Themen aufgegriffen, die vorher eine Rolle spielten: Soll die Rettung Israels die Pointe sein, so werden die Verheißungen für Israel schon in 3,1–8 angesprochen. Sieht man die Israelfrage als Teil des Theodizeeproblems an, so wird die 13 Dodd, Epistle, 149: „The epistle could be read without any sense of gap if these chapters were omitted“. Heute wird er als integraler Teil des Römerbriefs betrachtet: Stenschke, Römer 9–11. Zu seinem Thema vgl. Schmithals, Römerbrief, 321–326, Haacker, Thema, 55–72.

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Der Gedankengang des Römerbriefs

ses Problem schon in 3,5 aufgeworfen: „Ist Gott denn nicht ungerecht, wenn er zürnt?“ Hebt man in Röm 9–11 die Erwählung als zentrales Thema heraus, so knüpft das Erwählungsthema an die Frage an: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?“ (8,33). Macht man die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Geschick Israels zum Thema, so wird dieses Thema schon 1,16 f genannt. Dasselbe gilt, wenn man die Universalität der Mission als Thema von 9,1–11,36 ansieht, die durch die Erfolglosigkeit der­ Israelmission in Frage gestellt wird. Sie ist schon in 1,16 f das Thema: Das Heil gilt für jeden Glaubenden „zuerst dem Juden, dann auch dem Griechen“. Es gibt folglich keinen Grund, daran zu zweifeln, dass 9,1–11,36 ein integraler Bestandteil des R ­ ömerbriefs ist.

Insgesamt macht Paulus in Röm 9–11 drei „Anläufe“, um Israels Geschick zu deuten. Zwei davon scheitern, erst der dritte führt zum Ziel. Jeder Abschnitt des Israelteils wird persönlich eingeleitet. Paulus bringt sich jedes Mal mit Nachdruck ins Spiel. Er tut dies, indem er Leid und Schmerz über Israel beteuert (9,1–5), Israel seine Fürbitte zusichert (10,1 f) und sich auf sein eigenes Beispiel beruft: Als Israelit sei er der lebendige Beweis dafür, dass Israel nicht verworfen ist (11,1 f). Dabei tritt Paulus jeweils in unterschiedlichen Rollen auf: In 9,1–5 übernimmt er die Rolle Christi, der den Fluch für andere trägt, in 10,1 f die Rolle des Moses, der als Fürbitter für sein Volk eintritt, in 11,1–6 die Rolle des Elia, der verfolgt wurde und eine Offenbarung erhielt. Diese dreimalige Einschaltung der eigenen Person zeigt, dass alle drei Kapitel mit großer Ich-Beteiligung geschrieben sind. Daher ist es nicht überraschend, wenn Paulus sich am Ende die Rettung Israels in 1­ 1,25–32 nach dem Modell seiner Damaskuserfahrung vorstellt: Bei der Parusie wird Christus aus dem Zion (in Jerusalem aus dem Tempel oder vom Himmel her?) erscheinen, so wie er­ Paulus vom Himmel her vor Damaskus erschienen ist. Er wird das feindselige Israel gewinnen, wie er vor Damaskus den feindseligen Paulus für sich gewonnen hat.

Exkurs 6: Liegt zwischen Röm 9,29 und 9,30 eine Zäsur? Diese Gliederung, die in in Röm 9,10 und 11 „drei Anläufe“ sieht, um die Frage nach Israels Heil zu beantworten, ist umstritten. Viele Exegeten sehen in 9,6–29 einen ersten Teil über „Gottes freie Gnadenwahl“, in 9,30–10,21 einen zweiten Teil über „Israels Ungehorsam“ und in 11,1–36 einen dritten Teil über „Gottes Verheißung für Israel“.14 Im Unterschied zu der hier vorgelegten Gliederung legen sie zwischen 9,29 und 9,30 eine Zäsur. Bis 9,29 wird aus der Perspektive Gottes, von 9,30 an aus der Perspektive I­ sraels gedacht. Zudem kehrt das Zitat aus Jes 28,16 in 9,33 und 10,11 wieder.15 Für unsere 14 Einteilung und Überschriften nach Lohse, KEK 4, 263.279.284.304. Diese Einteilung wird sogar mehrheitlich vertreten, vgl. Vielhauer, Geschichte, 176; Schnelle, Einleitung, 136; Kuss, RNT 6, 662–935; Stuhlmacher, NTD 6, 133–160; Käsemann, HNT 8a, 243–311; Cranfield, ICC 2, 445–592; Zeller, RNT, 170–204. 15 Auch manche Exegeten, die ansonsten die drei Kapitel ganz anders einteilen, lassen mit 9,30 einen neuen Abschnitt beginnen: So Schlier, HThK 6, 282–348; Jewett, Hermeneia, 606–608. Wer in 9,30 eine neue Problemstellung beginnen lässt, erkennt aber manchmal in 10,1 trotzdem einen neuen Abschnitt. So Wilk, Rahmen und Aufbau, 253. Nicht einleuchtend ist Wilks Einteilung in einen argumentativen (9,6–10,21) und paränetischen Hauptteil (11,1–24).

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Gliederung spricht aber sehr stark eine rein formale Beobachtung: Paulus beginnt jeweils mit der Einschaltung seiner Person.16 Die drei Teile lassen sich zudem grob Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zuordnen. Bis 9,33 geht es darum, dass in der Vergangenheit schon immer eine Spaltung durch Israel ging. Höhepunkt ist der Stein des Anstoßes: Christus. Das im Präsens formulierte Zitat von Jes 28,16 wird eindeutig auf die Vergangenheit bezogen: Die Israeliten stolperten (im Aorist) über den Stein des Anstoßes (9,32). Das ändert sich von 10,1 an. Durch Fürbitte tritt Paulus für das gegenwärtige Israel und seine Zukunft ein. Jetzt heißt es im Präsens, Israeliten haben Eifer für Gott, auch wenn weitere Aussagen im Aorist folgen. Vor allem wird aus Jes 28,16 jetzt nur noch der Teil zitiert, der sich auf das gegenwärtige Bekenntnis der Christen bezieht: „Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“ (10,11). Ab 11,1 richtet sich der Blick in die Zukunft. Paulus fragt, wie es mit Israel weiter gehen soll. Richtig ist, dass Röm 9 und 10 kunstvoll verbunden sind: 9,30–33 ist Schlussteil des Kapitels und zugleich Überleitung: Schon ab 9,30 wird das Thema des „Glaubens“ angesprochen, das von 10,1 an ins Zentrum tritt. Auch verbindet die Metaphorik des „Laufes“ beide Teile: Israel war mit dem Gesetz als Ziel gestartet (9,31), stolperte aber über den Stein des Anstoßes (9,32). In 10,4 wirkt dieses Bild nach, wenn man τέλος (télos) mit „Ziel“ übersetzt. Nicht das Gesetz, sondern Christus ist jetzt das Ziel (10,4). Wir möchten aber betonen: Wir können unsere Deutung mit beiden Gliederungen durchführen.

Erwählung und Verwerfung: Der erste Anlauf (9,1–33), um das Geschick Israels zu klären, blickt zurück auf die Vergangenheit. Gottes Souveränität ist so groß, dass er mitten in Israel die einen erwählt, die anderen verwirft. Die Verheißungen beziehen sich nur auf die Erwählten und gehen für sie in Erfüllung. Insofern handelt Gott nicht im Widerspruch zu sich, wenn er Heiden erwählt, aus Israel aber nur einen Rest. Gott ist in seinem Erbarmen wie in seinem Zorn souverän. Seine Souveränität wird im Bilde des Töpfers dargestellt, der Gefäße herstellt und frei über ihre Verwendung entscheidet. Genauso frei hat er entschieden, Jakob zu lieben, Esau aber zu hassen (9,13). Paulus macht aber klar, dass dieser Gott auch souverän genug ist, „nicht geliebte“ Menschen wieder zu geliebten Menschen zu machen (9,25), dass Gott also frei ist, sein Erwählen und Verwerfen zu revidieren. Paulus geht zunächst vom gegenwärtigen Zustand aus: Die meisten Juden gehören nicht zum geretteten Rest, sondern stehen außerhalb davon. Das Problem ist für ihn damit aber nicht gelöst. Am Ende von Röm 9 korrigiert ­Paulus seine bisherigen Aussagen, indem er aus der Perspektive Gottes zur Perspektive Israels wechselt. Jetzt verteidigt er auch die Nicht-Erwählten in Israel: Israel war eigentlich in die richtige Richtung gestartet, aber hatte den Weg zum Ziel in der falschen Meinung verfolgt, es durch „Werke“ erreichen zu können. Dabei stolperte es über den In Röm 11 steht Gottes Handeln im Zentrum, nicht aber, wie Menschen handeln sollen. Dass Heidenchristen Juden nicht verachten sollen, ist gewiss ein paränetisches Motiv. Aber müsste man dann nicht Röm 9–11 insgesamt als Paränese betrachten? 16 So auch Theobald, SKK.NT 6/1, 259 f. Wischmeyer, Paulus, 267–269 und Haacker, ThHK 6, 188–200, betrachten ebenfalls 9,6–33 als Einheit, untergliedern aber die beiden folgenden Kapitel in viele Unterabschnitte.

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Der Gedankengang des Römerbriefs

„Stein des Ärgernisses“. Dieser Stein ist Christus. Von dessen Geburt und Tod ist also am Anfang und Ende von Röm 9 die Rede: Christus wurde in Israel nach dem Fleische geboren (9,5) und in Jerusalem als Stein des Anstoßes gekreuzigt (9,33). All das ist in der Vergangenheit geschehen. Der erste Anlauf, Israels Heil zu begründen, scheitert: ­Israel bleibt gespalten. Glaube und Unglaube. Der zweite Anlauf, um Israels Geschick zu klären (10,1–21), ist an der Gegenwart orientiert und sagt: Jetzt wird allen – Juden und Heiden – in gleicher Weise das Heil in der Verkündigung angeboten. Auch Israeliten haben nun wieder eine Chance. Das Wort Gottes, das Glauben hervorbringen soll, gilt ihnen genauso wie allen anderen Menschen. Anders als in Röm 9, wo ausschließlich Gottes Erwählung über Heil und Unheil entscheidet, ist jetzt der Glaube des Menschen entscheidend. Auch hier ist das Fazit negativ: Die meisten Israeliten glauben nicht. Und auch hier korrigiert Paulus am Ende seine Aussagen durch eine positive Aussage, indem er von der menschlichen Perspektive des Glaubens und Unglaubens wieder zur Perspektive Gottes umschaltet. Gott streckt trotz Israels Unglauben den ganzen Tag seine Hände nach Israel aus (10,21). Das ist die Überleitung zu Röm 11. Dass das ganze Kapitel die Gegenwart im Blick hat, zeigen die verwendeten christologischen Motive: Von Christus ist als Auferstandenem die Rede, also von seiner gegenwärtigen Existenz. Das Bekenntnis zu ihm (10,9) rettet Juden und Griechen in gleicher Weise. Paulus rekapituliert in Röm 10 noch einmal die Folge der Heilskonzepte im Römerbrief: Er blickt zurück auf die „Werkgerechtigkeit“ und ihr Scheitern (9,30–33; 10,1–5), schildert das Angebot der „Glaubensgerechtigkeit“ und deren Zurückweisung in Israel (10,5–21). Er überspringt das Heilskonzept der „Verwandlung“, da es ohnehin weniger für Israel als für die Heiden konzipiert worden war. Am Ende sieht er die Lösung im Vertrauen auf die „Erwählung“ Gottes (11,1–32). Durch alle Heilskonzeptionen hindurch hält sich ein Grundthema: die „Gnade“ Gottes als Geschenk, das auch den Unwürdigen gilt (vgl. χάρις/cháris in der Rechtfertigungslehre 3,24; 5,21 u.ö., in der Verwandlungslehre 6,1.14 f und in der Erwählungslehre 11,5 f). Verstockung und Errettung: Der dritte Anlauf (11,1–36) öffnet über die Gegenwart ­hinaus den Blick für die Zukunft. Auch Elia meinte, er sei der einzige übriggebliebene Gerechte, aber ihm wurde offenbart, dass weit mehr Menschen Gott treu geblieben seien (11,3–6). Drei Gedanken stärken Paulus: (1) 11,1–10 sagt: Der Rest des Judenchristentums, dem Paulus angehört, ist größer, als er dachte. So war es auch Elia ergangen, als er einsam und verfolgt war. Wenigstens dieser Rest erreicht das, was ganz Israel gesucht hat. Die anderen wurden dagegen von einem Geist der Betäubung erfasst. Aber was wie ihre „Verwerfung“ (11,1) aussieht, ist in Wirklichkeit nur eine „Betäubung“ (11,8), die vorübergeht. Dass ihr Rücken gebeugt ist (11,10), bringt diese Betäubung assoziativ mit ihrer politischen Abhängigkeit in Verbindung.

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(2) 11,11–24 sagt: Die ungläubige Mehrheit in Israel hat eine positive Funktion. Ihre Ablehnung des Glaubens hat den Weg des Evangeliums zu den Heiden geebnet. Der Glaube der Heiden hat wiederum einige Juden zum Glauben gereizt. Israel ist nach wie vor die Wurzel des Ölbaums, in den die Heidenchristen eingepfropft worden sind. Bei Paulus wird Gott dabei aus einem Töpfer (9,21) zu einem Gärtner (11,17–24). Auch ein Gärtner entfernt Zweige. Wir werden fragen müssen: Gehörte es in der damaligen Zeit bereits zur Arbeitspraxis eines Gärtners, diese wieder in die Pflanze einzusetzen? Wurde diese Technik praktiziert? (3) Erst 11,25–32 bringt die Lösung durch das Mysterium von der Rettung „ganz Israels“. Mit ihm korrigiert Paulus wie in den vorherigen Kapiteln am Ende noch einmal seinen Gedanken.17 Seine Botschaft ist jetzt: In der Begegnung mit dem wiederkommenden Herrn werden alle Juden für Christus gewonnen und erlöst. Der Herr kommt dabei „aus Zion“ (Jes 59,20 = Röm 11,26). „In Zion“ sind die Juden bereits einmal über den Stein des Anstoßes gestolpert (9,33). Der Altar dort ist ihnen zum „Anstoß“ geworden (11,9 = Ps 68,23 fLXX). Jetzt werden sie eben dort erlöst. Dunkel bleibt, wie sich Paulus die Rolle des „Zions“ vorstellt. Kommt der wiederkehrende Christus aus dem himmlischen Zion? Oder ist er aus dem Himmel in den Tempel gekommen und kommt von dort aus dem Allerheiligsten als Ort der Gegenwart Gottes – sogar von der Stelle, wo Sühne und Vergebung der Sünden für ganz Israel erwirkt werden und wo sich Gott offenbart? Wird so der Bund Gottes durch die Vergebung der Sünden erfüllt (11,27 = Jer 31,33 f; Jes 27,9)? Am Ende schließt Paulus auf jeden Fall mit der Aussage, dass Gott alle Menschen, unter dem Ungehorsam zusammengeschlossen hat, um sich aller zu erbarmen (11,32). Wieder stellt sich die Frage: Meint Paulus damit wirklich die Errettung aller Menschen? Bricht hier ein Universalismus der Gnade durch, nachdem er am Beispiel Israels gezeigt hat, dass Gott sich auch derer erbarmt, die ihn ablehnen? Erst nach der Gewissheit der Rettung von ganz Israel (und aller Menschen?) kann Paulus wie am Ende des vorigen Teils (8,31–39) in einen jubelnden Dank gegen Gott einstimmen. Dieser hymnische Dank ist ein theozentrischer Hymnus auf die unergründliche Weisheit Gottes (11,33–36). Christus wird in ihm nicht erwähnt, ist aber anonym präsent. Die Frage „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Jes 40,13LXX) bezieht sich in 1Kor 2,16 auf ihn. Seine Anonymisierung passt zum Hymnus: Er endet mit Allformeln. Im allumfassenden Sein Gottes ist auch Christus verborgen anwesend. Nach 1Kor 15,28 wird Christus am Ende Gott untergeordnet, damit Gott alles in allem sei. Auch wenn Christus in Röm 9–11 im Vergleich zum sonstigen Römerbrief zurücktritt, ist er in diesen drei Kapiteln immer präsent: durch seine vergangene Geschichte, weil er aus Israel stammt und durch seinen Tod zum Stein des Anstoßes geworden ist (9,5.33), als gegenwärtig Lebender, zu dem sich die Christen bekennen (10,10), und als Zukünftiger, der zur Parusie aus dem Zion kommt (11,26 f). Zuletzt ist er in einem eschatologischen Pantheismus, in dem Gott alles in allem ist, anonym für alle Zeiten präsent. 17 Becker, Paulus, 494–502, bestreitet gegen den exegetischen Konsens, dass das „Mysterium“ der Rettung Israels etwas anderes meint als die endzeitliche Bekehrung zum Glauben durch Mission. Ebenso insistiert Wright, Faithfulness, 1229–1252, darauf, dass das Mysterium keine neue Einsicht bringt, die über das Vorhergehende hinausgeht. Dazu unten mehr im Exkurs 8 in Kapitel 3.3.2.

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Der Gedankengang des Römerbriefs

Auch dieser Briefteil endet so in einer gewaltigen Coda, einem Hymnus auf die unergründliche Weisheit und Erkenntnis Gottes. Sie ist eine Gegenstimme zur Gerichtspredigt in 1,18–32: Dort haben die Menschen die Erkenntnis Gottes verlassen, sich irrtümlich für „weise“ gehalten und das Geschöpf anstatt des Schöpfers verehrt. Jetzt ist von der Erkenntnis und Weisheit Gottes die Rede, die kein Mensch ergründen kann. Wenn Gott alles in allem ist, wird jede Vertauschung von Schöpfer und Geschöpf unmöglich. Was in diesem Hymnus noch fehlt, um den Kontrast zur Gerichtspredigt zu vollenden, ist der Gottesdienst der Menschen. Von ihm handelt die folgende Paränese. Doch zunächst soll ein Überblick den Gedankengang der drei Israelkapitel ­zusammenfassen:

Zeitdimension

Theologisches Thema

Korrektur

Röm 9

Vergangenheit: Paulus blickt auf die Erwählungsgeschichte von Abraham bis zur Entstehung des Christentums. Betont wird die vergangene Geschichte Christi, seine Herkunft aus Israel und sein Ende in Jerusalem (Zion).

Erwählung u. Verwerfung: Thema ist die souveräne Wahl Gottes zu Heil und Unheil – auch zeitlich vor Christus, d. h. unabhängig vom Glauben. Pointe ist: Gott erwählt auch die, die ehemals nicht erwählt waren, er liebt auch das, was nicht geliebt war.

Israels gute Absicht (9,30–33): Israel war auf dem Weg zum richtigen Ziel. Es stolperte objektiv am Stein des Anstoßes, an Christus, subjektiv, weil es das richtige Ziel in Un­ wissenheit verfolgte.

Röm 10

Gegenwart: Im Blick ist die Verkün­ digung des Evangeliums und der Glaubensgerechtigkeit an alle. Betont wird die Gegenwart Christi: das Bekenntnis zum Auferstandenen.

Glauben und Unglauben: Glaubensgerechtigkeit basiert im Unterschied zur Gesetzesgerechtigkeit auf der Beziehung von Glaube und Wort: a) als Wort des ­ Bekenntnisses b) als Wort der Predigt.

Gottes gute Absicht (10,21): Er streckt seine Hände nach dem ungläubigen Israel aus – unabhängig davon, ob Israel seine Botschaft ablehnt.

Röm 11

Tab. 4: Aufbau und Gedankengang von Röm 9–11

Zukunft: Paulus lenkt den Blick von der Gegenwart auf die Zukunft: Der „Rest“ ist eine Vorhut von ganz Israel. Zwischen Israel und den Heidenchristen kommt es zu einem Wettlauf. Betont wird die Zukunft Christi, seine Parusie.

Verstockung und Rettung: Paulus und der gläubige Rest, die Judenchristen, widerlegen die These von der Verstoßung ­ Israels durch Gott. Israel ist nur teilweise und auf Zeit verstockt. Eifersucht auf die Heiden gewinnt einige in Israel für den Glauben.

Universalität der Gnade (11,25–32): Das Mysterion der ­ endzeitlichen Rettung von „ganz Israel“ durch die Parusie Christi führt zur ­Gleichheit ­ aller Menschen vor Gott, von Heiden und Juden, durch das ­Er­ barmen Gottes.

Paränetischer Teil (12,1–15,13)

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Ein Rückblick auf die vier Heilskonzepte des Römerbriefs zeigt, dass alle Heilskonzepte scheitern: Keiner kann die geforderten Werke vollbringen, die unbedingte Rechtfertigungszusage verführt zum Libertinismus, die Lehre von der Verwandlung des Menschen durch die Taufe schließt alle anderen Menschen aus, der Glaube an die unbegründbare Erwählung Gottes verbirgt seine Unbegründbarkeit in der Dunkelheit Gottes. Aber alle Heilskonzepte scheitern nur deshalb, weil sie eine durchgehende Aussage haben: Gott bietet seine Gnade allen Menschen unbedingt an.

2.3 Paränetischer Teil (12,1–15,13) Das Handeln des erneuerten Menschen Der paränetische Teil  des Römerbriefs knüpft daran an, dass sich Gott als der offenbart, der gnädig ist und sich dessen erbarmt, dessen er sich erbarmen will (9,15 = Ex 33,19; vgl. 11,32). Er beginnt wie die anderen Teile mit kultischen Metaphern: Das ethische Handeln der Christen ist ein „vernünftiger Gottesdienst“ (12,1). Entsprechend begann die Gerichtspredigt mit Polemik gegen den Bilderkult (1,23–25), die Rechtfertigungslehre mit dem Bild vom Sühnopfer (3,21–26), die Verwandlungslehre mit der Taufe (6,1–11), die Erwählungslehre mit der Erinnerung an den Gottesdienst Israels (9,1–5). Dem entspricht in der Paränese das Bild vom vernünftigen Gottesdienst, der darin besteht, Gottes Willen mit erneuertem „Verstand“ zu prüfen (12,1 f). Paulus widerspricht damit dem Vorwurf gegen die Christen, ihr Gottesdienst sei Aberglauben und superstitio. Die Verehrung eines Gekreuzigten war für die Umwelt eine Torheit. Der „vernünftige Gottesdienst“ in 12,1 bezieht sich auf die Deutung des Todes Jesu in 3,21–26 zurück. Dort ist Jesu Tod das blutige Opfer zur Sühne für die Sünden, hier dagegen ist das Leben der Christen ein unblutiger Gottesdienst durch das „lebendige und heilige Opfer“ ihres Leibes (12,1). Dabei ist zu bedenken: Paulus spricht im Römerbrief nicht nur über den Gottesdienst. Sein Brief ist durch seine Verlesung in der Gemeinde Teil des Gottesdienstes. Dieser soll sich im Alltag fortsetzen. Unmittelbar nach dem Segen (15,13) teilt Paulus seine Absicht mit, nach Jerusalem zu reisen, um die Kollekte zu überbringen. Auch diese Reise versteht er als einen Gottesdienst: Er vertritt als Priester das Evangelium (15,16). Durch das einleitende kultische Bild wird die Paränese zu einer Ringkomposition. Sie beginnt mit dem „vernünftigen Gottesdienst“ der an Leib und Vernunft ganz erneuerten Menschen (12,1–2) und endet mit dem Gottesdienst aller ­Menschen durch ihren gemeinsamen Lobpreis Gottes (15,7–13). Dazwischen ­stehen eine allgemeine Gemeinde- und Staatsparänese und eine konkrete Paränese zum Verhältnis von Starken und Schwachen in der Gemeinde. Die allgemeine Paränese (12,1–13,14) knüpft an die Verwandlung des ganzen Menschen in Röm 6–8 an, die konkrete Paränese an die Erwählung Israels und aller

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Der Gedankengang des Römerbriefs

Menschen in Röm 9–11. In beiden Teilen sollen Glaube und Liebe Orientierung geben. In der Gemeinde soll jeder nach dem „Maß des Glaubens“ (12,3) im Leib Christi handeln – der Glaube tritt im Römerbrief im Bild vom Leib Christi an die Stelle des Geistes in 1Kor 12,13. Auch bei umstrittenen Speisefragen soll jeder aus „Glauben“ handeln (14,23)  – die Orientierung am Glauben ersetzt die Orientierung am Gewissen des anderen in 1Kor 8,7; 10,27–29. Alles Handeln soll sich ferner am Liebesgebot ausrichten (12,9 f; 13,8–10; 14,15). Beide, Glaube und Liebe, fordern, einander nicht zu verurteilen (14,13). Da das Liebesgebot und die Mahnung, einander nicht zu richten, die beiden Kernforderungen der Feld- bzw. Bergpredigt sind (Mt 5,43 f; 7,1//Lk 6,32; 6,37), kann man fragen: Folgt ­Paulus hier urchristlicher Paränese, in die anonym Worte Jesu ein­ gegangen sind?

2.3.1 Die allgemeine Paränese: Gemeinde- und Staatsparänese (12,1–13,14) Anfang und Ende der allgemeinen Paränese nehmen aus 6,12 f die Mahnung auf, die Glieder des Leibes als Waffen „dahinzugegeben“. 12,1–2 beginnt mit der Mahnung zur Hingabe der Leiber, 13,12 schließt mit der Aufforderung, die „Waffen des Lichts“ zu ergreifen. Die Gemeindeparänese ist Kontrast zur Gerichtspredigt am Anfang des Römerbriefs (1,18–32): Dort werden Leiber als Folge falschen Gottesdienstes durch sexuelles Fehlverhalten geschändet (1,24). Hier dienen Leib und Geist Gott (12,1 f). Dort motiviert ein verworfener Geist (νοῦς/noús) aggressives Fehlverhalten (1,28). Hier tritt die Liebe der Aggression entgegen.18 Dort werden sexuelle und aggressive Verfehlungen angeprangert (1,26–32). Hier wird vor „Fressen und Saufen, Unzucht und Ausschweifung, Hader und Eifersucht“ gewarnt (12,13 f). Neu ist die Warnung vor „Fressen und Saufen“. Sie ist als Überleitung zur konkreten Paränese sinnvoll, da diese von Essen und Trinken handelt. Der Text zeigt somit eine kunstvolle Ringkomposition: Er beginnt und endet mit einer Gemeindeparänese, die von einer Veränderung von Mensch und Welt zeugt, und umgibt die Staatsparänese mit Mahnungen zur Liebe. Gemeinde- und Staatsparänese folgen demselben Maßstab von Gut und Böse: Die Christen prüfen, was gut ist (12,2), der Staat soll es fördern (13,3 f). Es wird jedoch in verschiedener Weise verwirklicht: Christen besiegen das Böse mit Gutem (12,21), der Staat bekämpft es mit Zwang (13,4). Christen sollen einander nichts außer Liebe schulden (ὀφείλετε/opheílete 13,9), der Staat fordert dagegen das „Geschuldete“ (τὰς ὀφειλάς/tás opheilás 13,8). Christen sollen dem Zorn (ὀργή/orgē´) keinen Raum geben und Gott die Rache überlassen (ἐκδίκησις/­ ekdíkēsis 12,19 f), der Staat handelt dagegen als „Rächer zum Zorn“ (ἔκδικος εἰς 18 So Stowers, Rereading, 317 f.

Paränetischer Teil (12,1–15,13)

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Tab. 5: Aufbau der Gemeindeparänese Röm 12–13 12,1–2

Die neue eschatologische Situation: Die Veränderung des Denkens und die Distanzierung von „dieser Welt“

12,3–21

Gemeindeparänese: a) Die Gemeinde als Leib in Christus: die Charismen 12,3–8 b) Die Mahnung zur Liebe 12,9–21

13,1–7

Staatsparänese: a) An „alle“ adressiert ist die Mahnung, die Autorität des Staates zur Durchsetzung des Guten anzuerkennen 13,1–5 b) An Christen adressiert ist die Mahnung zum Steuerzahlen 13,6–7

13,8–10

Gemeindeparänese: Mahnungen zur gegenseitigen Liebe

13,11–14

Die neue eschatologische Situation: Die Nähe der neuen Welt

ὀργήν/ékdikos eis orgē´n 13,4). Die Rechtsordnung des Staates und die Liebesordnung der Gemeinde stehen sowohl in Spannung als auch in Analogie zueinander. Die reformatorische „Zwei-Reiche Lehre“ mit ihrer Spannung zwischen den „Regimenten“, die sich durch Zwang und Liebe unterscheiden, hat bei Paulus ebenso einen Anhalt wie die Analogie von Bürger- und Christengemeinde, die beide zum Tun des Guten verpflichten.19 Dabei überträgt Paulus die Leibmetaphorik, die in der sonstigen Antike meist auf das politische Gemeinwesen bezogen wurde, auf die religiöse Gemeinde. In ihr sieht er verwirklicht, wovon die Menschen in den griechischen und römischen Städten träumten: eine organische Gemeinschaft der Solidarität. Umgekehrt überträgt er auf den Staat Aussagen, die im Judentum für die religiöse Gemeinschaft der Essener bezeugt sind: „Nicht ohne Gott kommt jemandem die Herrschaft zu“ (Jos. Bell. 2,140). Interessant ist ferner: Nach 3,8 und 7,19 begegnet zum ersten Mal wieder das Gegensatzpaar Gut und Böse (ἀγαθόν und κακόν/agathón und kakón). Der Grundsatz, durch das Gute das Böse zu besiegen (12,21), klingt wie eine Gegenthese zum Vorwurf gegen Paulus, er tue das Böse, damit das Gute herauskomme (3,8). Wehrt sich Paulus auch in diesem Kapitel immer noch gegen diesen Vorwurf? Betont er seine Loyalität gegenüber dem Staat, weil sie ihm nicht überall geglaubt wird? Gilt er als Unruhestifter?

19 Vgl. Barth, Christengemeinde. Zur Lehre von den beiden Regimentern vgl. Luther, Obrigkeit.

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Der Gedankengang des Römerbriefs

2.3.2 Die konkrete Paränese: Der Streit von Starken und Schwachen (14,1–15,13) Die konkrete Paränese bezieht sich auf den Israelteil zurück (Röm 9–11). Dort werden Heidenchristen vor Hochmut gegenüber Juden gewarnt und damit auch vor Hochmut gegenüber Judenchristen! Hier werden Starke und Schwache zur innergemeindlichen Toleranz verpflichtet. Die Anknüpfung an Röm 9–11 wird freilich erst am Ende der konkreten Paränese deutlich, wenn klar wird: Der Verzicht auf gegenseitiges Verurteilen in der Gemeinde hat das Ziel, Juden und Heiden im Lob Gottes zu vereinen (15,7–13). Hier bricht am Ende des Römerbriefs erneut der transformierte messianische Universalismus des Paulus durch: Für ihn ist die Verheißung eines Messias, auf den die Völker hoffen, schon in Erfüllung gegangen (15,12). Veranlasst wird die konkrete Paränese durch einen Streit über Fleisch- und Weingenuss sowie Festtage in Rom. Unterschiede zwischen heidenund judenchristlichen Traditionen wirken in diesem Streit nach. Paulus wirbt für innergemeindliche Toleranz mit eschatologischen, anthropologischen und christologischen Argumenten. Am Anfang steht eine eschatologische Beschwörung des Jüngsten Gerichts (14,1–12). Es hat gegenüber den bisherigen Gerichtsszenarien im Römerbrief einen neuen Charakter. Nach dem Strafgericht (2,5–16) und dem „Liebesgericht“ (8,31–39) ist es jetzt ein „Verantwortungsgericht“: Die Christen leben und sterben mit Christus in fast mystischer Einheit wie in 8,31–39 und sind dadurch dem Vernichtungsgericht entzogen (14,8 f). Das Gericht will nicht verurteilen oder freisprechen, verlangt aber von jedem Rechenschaft. Zwei Bilder vermischen sich: Weil jeder Haussklave seinem eigenen Herrn Rechenschaft ablegen muss, soll niemand den anderen verurteilen! Dabei werden zwei Herren vorausgesetzt. Ebenso gilt aber: Weil Gott als der eine und einzige Herr über jeden einzelnen richtet, soll man auf das Richten über seinen Bruder verzichten! Gott das letzte Urteil zu überlassen, wird zum Motiv zur innergemeindlichen Toleranz. Der Verantwortungsindividualismus des Paulus stiftet hier Frieden. In der Mitte stehen anthropologische Argumente (14,13–23): Es gibt keinen objektiven Unterschied zwischen rein und unrein. Da unreine Speise als κοινόν (koinón) bezeichnet wird, liegt hier ein Streit von Menschen vor, die aus jüdischer Perspektive urteilen, da das Wort koinón nur in jüdischen Texten die Bedeutung „unrein“ oder „tabu“ hat.20 Die Bewertung der Speisen hängt von einem subjektiven Urteil ab. Das Urteil des anderen soll man respektieren und seinem Bruder keinen Anstoß geben. Wer sich nicht selbst verurteilt und an sich selbst und seinem Verhalten zweifelt, handelt in Übereinstimmung mit Gott und eben da-

20 1Makk 1,47.62, Jos. Ant. 11,346; Apg 10,14; 11,8.

Paränetischer Teil (12,1–15,13)

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durch in Übereinstimmung mit sich selbst. Alles, was Menschen aus Glauben und so in Übereinstimmung mit sich tun, ist keine Sünde (14,23). Der Glaube wird als eine subjektive Kraft erkannt, die den Menschen als ganzen handeln lässt. Respekt vor dem Mitmenschen und Übereinstimmung des Menschen mit seinen Überzeugungen ist ein zweites Motiv für Toleranz. Dann folgen christologische Argumente (15,1–6): Christi Leiden ist ein exemplum, das alle Christen lehren soll, sich gegenseitig anzunehmen. Er ertrug Schmähungen, die eigentlich anderen galten. Seine Person ist vorbildlich für eine Liebesbindung an den Nächsten. Sein Beispiel ist das dritte Motiv für Toleranz. Den Abschluss bildet die Aufforderung zum gemeinsamen Gottesdienst von Juden und Heiden (15,7–13). Das ist ein starkes Argument dafür, dass der Streit zwischen „Starken und Schwachen“ durch das Nachwirken jüdischer Normen und Traditionen bedingt war, auch wenn der Vegetarismus der Schwachen nicht allein aus jüdischen Traditionen erklärbar ist. Erstaunlich ist, dass Paulus bei d ­ iesem gemeinsamen Gottesdienst nicht erkennen lässt, dass er nur an einen ­gemeinsamen Gottesdienst von Juden- und Heidenchristen denkt, sondern so formuliert, als denke er an einen Gottesdienst von Juden und Heiden überhaupt. Es spricht viel dafür, dass er dieses umfassende Ziel im Römerbrief vor Augen hat. Ein Blick auf die Gesamtstruktur des Römerbriefs zeigt: Was als Verwandlung des Menschen (Röm 6–8) und universale Erwählung (Röm 9–11) unverbunden nebeneinander zu stehen scheint, wird in der Paränese eng verbunden. In ­12,1–13,14 zeigt Paulus: Der Mensch, der durch Verwandlung seines Geistes erneuert ist, trägt zur allgemeinen Rechtsordnung bei. In 14,1–15,13 zeigt Paulus: Menschen, die durch Glauben ganz in Übereinstimmung mit sich handeln, bringen die Voraussetzung für das Zusammenleben aller Menschen, Juden und Nichtjuden, mit. Wer sich selbst nicht verurteilt und aus Überzeugung handelt, verurteilt auch andere nicht. Als Grundsatz gilt: Wenn Taten nicht aus Glauben geschehen, sind sie Sünde (14,23). Die Einhaltung dieser Grundsätze ermöglicht es den Menschen, gemeinsam Gott zu verehren. Diese universale Verehrung­ Gottes durch Menschen, die im Inneren verwandelt worden sind, ist das Ziel des Römerbriefs. Am Ende dieses Teils (15,7–13) greift Paulus daher das am Anfang formulierte Thema des Römerbriefs (1,16–17) noch einmal auf: Gott setzt sich bei allen Völkern durch den Glauben durch.21 Die Vision eines universalen Gottesdienstes ist eine Utopie. Der anschließende Briefrahmen spricht vom nächsten Schritt auf dem Weg zu dieser Utopie, von der Reise des Paulus nach Jerusalem. 21 Wenn Paulus in der Paränese neben Liebe (12,9; 13,8–10) und Glauben (14,1.23; 15,13) auch die Hoffnung ins Spiel bringt – Gott ist ein „Gott der Hoffnung“ (15,13) –, so folgt er unbewusst der Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung, die ihn schon in seinem ältesten Brief leitete (1Thess 1,3; vgl. 1Kor 13,13).

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Der Gedankengang des Römerbriefs

Alle Hauptteile des Römerbriefs enden mit einer beeindruckenden Coda – teils durch Rückgriff auf das Alte Testament, teils durch hymnische Formulierungen des Paulus. Mit Hilfe alttestamentlicher Zitate zeigt Paulus: Alle stehen unter der Sünde und keiner ist gerecht (3,9–20). Mit Hilfe der Adam-Christus-Typologie zeigt er, dass die Herrschaft der Gnade die Herrschaft der Sünde ablöst (5,12–21, bes. 5,18). Am Ende der Paränese stehen alttestamentliche Zitate, die zum Lob Gottes durch Juden und Heiden aufrufen (15,7–13). Alle Menschen sollen Gott die Ehre (δόξα/dóxa 15,6.7) geben und ihn preisen (δοξάσαι τὸν θεόν/doxásai tón theón 15,9). Dann erst ist der Verlust wieder gutgemacht, dass Menschen, obwohl sie Gott erkannt haben, sich weigern, ihn zu verehren (ἐδόξασαν/edóxasan 1,21) und seine Herrlichkeit (δόξαν/dóxan 1,23) gegen das Bild von Menschen und Tieren eintauschen. Eine Sonderstellung haben die beiden Hymnen des Paulus: Der erste Hymnus bringt die Gewissheit zum Ausdruck, dass nichts von Gottes Liebe trennen kann (8,31–39), der andere preist nach einer Aussage über das universale Erbarmen Gottes dessen Weisheit und Erkenntnis (11,33–36). Hier kann man erkennen, was Paulus am wichtigsten ist. In 1Kor 13 hat er die Liebe als höchstes Charisma gelobt und in 1Kor 1,18–4,21 das Streben nach Weisheit und Erkenntnis kritisiert. In Wirklichkeit haben Weisheit und Erkenntnis für ihn einen hohen Rang, sofern es sich dabei um Gottes Weisheit und Erkenntnis handelt.22 Gnade, Liebe, Erbarmen, Weisheit und Erkenntnis – das sind die Heilsbegriffe, mit denen ­Paulus seine Botschaft zusammenfasst. In der Gerechtigkeit (5,21) findet die Rechtfertigungsbotschaft ihren Höhepunkt, in der Liebe (8,31–39) die Botschaft von der Verwandlung, im universalen Erbarmen die Botschaft von der souveränen Erwählung Gottes (11,29–32). Alle Heilskonzepte aber werden verbunden durch den Grundgedanken der Gnade: Die Gnade Gottes (χάρις/cháris) herrscht durch Gerechtigkeit (5,21), seine Liebe schenkt alles (χαρίσεται/charísetai) (8,32), seine Gnadengaben (χαρίσματα/charísmata)  sind unwiderruflich (11,29). Darin zeigt sich sein Erbarmen.

2.4 Briefrahmen (15,14–16,23) 2.4.1 Reisepläne des Paulus (15,14–33) Paulus konkretisiert erst jetzt seine Reisepläne und das ihnen zugrunde liegende Prinzip: Er versteht seine Reise nach Jerusalem als priesterlichen Dienst am Evangelium. Er beschreibt ihn etwas rätselhaft als die Aufgabe, Heiden als wohlgefälliges Opfer Gott darzubringen. Sein Missionsprinzip ist es, nur dort zu mis-

22 Vgl. Theissen, Glaube.

Briefrahmen (15,14–16,23)

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sionieren, wo bisher niemand missioniert hat. Das steht zwar in Widerspruch zu seiner Absicht, in Rom das Evangelium zu verkündigen (1,15), passt aber gut zu seinem Ziel Spanien. Denn Spanien war Neuland für das Christentum. Für diese Spanienmission ist Paulus auf die soziale und materielle Unterstützung der römischen Gemeinde angewiesen. Vorher will er in Jerusalem die Kollekte überbringen, für die er in Mazedonien und Achaia gesammelt hat, ist sich aber nicht sicher, ob sie von den dortigen Christen angenommen wird und fürchtet um sein Leben angesichts der Feindschaft ungläubiger Juden in Jerusalem. Deswegen bittet er die römische Gemeinde um Fürbitte für ihn.23 Dann folgt ein kurzer Friedenswunsch. Er klingt wie ein Segenswunsch am Ende eines Briefes. Üblicherweise folgten noch Empfehlungen und Grüße (vgl. 1Kor 16,15–20). Sie würden fehlen, wenn der Brief hier einmal abbrach, wie manche vermuten.

2.4.2 Das Schlusskapitel (16,1–23) Es folgt aber noch ein Kapitel mit Empfehlungen und Grüßen an namentlich genannte Christen unter den Adressatinnen und Adressaten, darin eine kräftige Polemik gegen Irrlehrer (16,17–20), eingebettet in Grüße von Christen in Korinth. Umstritten ist, ob Röm 16 ursprünglich zum Römerbrief gehörte. Wir nehmen an, dass Paulus zwei Versionen des Briefes verschickt hat, eine längere nach Ephesus, die er zuerst diktiert hat, eine kürzere nach Rom, mit dessen Abschrift er möglicherweise andere (vielleicht Tertius? 16,22) beauftragt hat. Beide Versionen des Briefes sind authentisch; beide sind ein Brief an die „Römer“. Denn in Ephesus gab es Mitglieder der römischen Gemeinde, die durch das Claudiusedikt 49 n. Chr. aus Rom ausgewiesen worden sind. Zu ihnen gehörten neben Aquila und Priscilla wahrscheinlich noch mehr Christen. Emigranten sammeln sich im „Ausland“ oft an einem Ort. Die durch das Claudiusedikt Verbannten hat es vor allem nach Ephesus gezogen, wo das prominenteste Paar, Priscilla und Aquila, sich niedergelassen hatte. Röm 16 wäre nach unserer Hypothese dann von vornherein als Fortsetzung des Briefes 1–15 geplant gewesen, nicht als ein selbständiges Schreiben. Deshalb gibt es keine stilistischen und inhaltlichen Brüche zwischen Röm 1–15 und

23 Nach Wedderburn, Reasons, 67–87, weisen die beiden Mahnungen mit παρακαλῶ (parakalō´) (12,1 f und 15,30) auf zwei Anliegen des Römerbriefs: In der gespaltenen römischen Gemeinde sollen sich alle so erneuern, dass keiner sich über den anderen erhebt (12,1–3) und alle zusammen Paulus durch Fürbitte unterstützen (15,30–32). Das würde den beiden allgemeinen Zielen des Römerbriefs in unserer Auslegung entsprechen: Paulus fordert, dass Menschen mit ihrem ganzen Leben Gott dienen (12,1 f) und alle Menschen, nicht nur Juden, ihn zusammen verehren; dem dient die Reise des Paulus nach Jerusalem und dafür bittet er um Unterstützung (15,30–32).

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Der Gedankengang des Römerbriefs

Röm 16, die man literarkritisch verwerten könnte. In einer historischen Lektüre des Römerbriefs werden wir diese Vermutung mit einer Modifikation der bisherigen „Ephesus-Hypothese“ näher begründen. Unsere Deutung des Römerbriefs ist jedoch unabhängig davon. Wichtig ist uns: Auch wir deuten Röm 16 als integralen Teil eines Briefs an die Römer, geschrieben an den Teil der römischen Gemeinde, der vorübergehend in Ephesus lebte. Wir rechnen damit, dass Paulus durch Berichte dieser Exilanten aus Rom relativ gut über die internen Verhältnisse in Rom informiert war.

3. Kapitel: Konflikte im Imperium und im Christentum Eine historische Lektüre

Der Römerbrief wirkt wie ein theologischer Traktat, historisch-kritische Forschung deutet ihn jedoch als Brief an eine konkrete Gemeinde. Röm 16 wird mit seinen Grüßen heute als Brief nach Rom gelesen; die Hypothese, dieses Kapitel sei in Wirklichkeit nach Ephesus gerichtet, hat an Zustimmung verloren.1 Falls dieses Kapitel trotzdem an (römische) Christinnen und Christen in Ephesus gerichtet sein sollte, wäre es noch immer eine indirekte Quelle für die römische Gemeinde. Paulus wäre durch nach Ephesus ausgewichene römische Christen über sie informiert. In einem Punkt würde sich jedoch die Sicht des Römerbriefs verändern. Er wäre in Ephesus auch Christinnen und Christen vorgelesen worden, die nicht aus Rom stammten. Paulus hätte sie von vornherein als Nebenadressaten im Blick gehabt. Dazu käme die korinthische Gemeinde als Nebenadressat, da Paulus dort seinen Brief schrieb und Themen aufgreift, die im Gespräch mit den Korinthern eine Rolle spielten.2 Daher steht der Römerbrief auf der Schwelle zur urchristlichen Publizistik.3 Ein historisches Verständnis des Römerbriefs muss klären: Welche historische Situation hat Paulus veranlasst, so umfassend über seine Theologie Rechenschaft abzulegen, wie er es nur in diesem Brief tut? Dieser Brief ist in seiner Kommunikationsstruktur einzigartig. Auf der einen Seite ist er ein abstrakter Traktat, auf der anderen ein Gemeindebrief und gleichzeitig ein sehr persönliches Schreiben. Singulär ist, dass Paulus im Präskript keine Mitverfasser nennt und sich selbst in den Vordergrund rückt, singulär, dass er im Proömium für sich selbst betet, er möge nach Rom kommen (1,10), singulär die Einleitung durch ein persönliches Bekenntnis (1,16). Singulär ist schließlich, dass er am Ende des Briefes die römische Gemeinde um Fürbitte für sein Leben bittet (15,30–32). Nicht ein 1 Nachdem schon Johann Salomo Semler (1725–1791) Röm 15 und 16 für zwei Briefe gehalten hatte, die anders als Röm 1–14 nicht nach Rom adressiert waren, vertrat David Schulz 1829 die These, Röm 16 sei ein selbstständiger Brief nach Ephesus, die Manson, Letter, und Vielhauer, Geschichte, 188–190, modifizierten: Eine um Röm 16 ergänzte Abschrift des ganzen Römerbriefs sei nach Ephesus geschickt worden. Die heute mehrheitlich vertretene Sicht einer Einheit des Römerbriefs begründet am überzeugendsten Lampe, Christen, 124–153. Unsere Überlegungen sind ein Versuch, die einheitliche Entstehung von Röm 1–16 mit der Ephesus­hypothese auszugleichen. 2 Hartwig/Theissen, Gemeinde. 3 Trobisch, Paulusbriefe, 104–106. Publizistik wäre eine Literatur, die sich an ein allgemeines Publikum wendet. Das kann auch eine innerchristliche Öffentlichkeit sein.

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Konflikte im Imperium und im Christentum 

mal im Philipperbrief fordert er in Todesgefahr die Philipper dazu auf. Warum stellt ­Paulus seine Person, seine Botschaft und am Ende auch sein Leben in diesem Brief gegenüber einer ihm unbekannten Gemeinde so sehr ins Zentrum? Was wissen wir (abgesehen von den Angaben in Röm 16) von den Adressaten in Rom und seiner Beziehung zu ihnen? Er schrieb an die Christusanhänger in Rom. Aber auch die Juden in Rom müssen wir im Blick haben, weil die Christen in jener Zeit dem Judentum zugerechnet wurden. Sicher ist: Nirgendwo sind Denken und Leben des Paulus so eins wie in diesem Brief. Es wird daher eine der Aufgaben dieser Untersuchung sein, auch in den abstrakten Gedanken des Römerbriefs das Leben des Paulus zu entdecken.

3.1 Die Gemeinde in Rom: Attraktivität und Vertreibung von Juden Die Geschichte der Juden in der Stadt Rom4 begann in der Makkabäerzeit. Die Römer verbündeten sich 140 v. Chr. mit den Juden in deren Kampf um Unabhängigkeit gegen die seleukidischen Herrscher in Syrien. Fast gleichzeitig wurden Juden in Rom zum ersten Mal erwähnt – nicht als Bundesgenossen, sondern als Störenfriede. Sie wurden 139 v. Chr. aus Rom vertrieben, weil sie Proselyten machten: Romanis tradere sacra sua conati erant (Sie hatten versucht, den Römern ihre heiligen Riten zu vermitteln) (Val. Max. I 3,3)5. Möglicherweise waren sie durch ihr Bündnis mit Rom ermutigt worden, offensiv für ihren Glauben zu werben. Ihre missionarische Ausstrahlungskraft blieb auch in der weiteren Geschichte ein kritischer Punkt. Ausweisungen aus Rom drohten immer dann, wenn Juden unter den Einheimischen Anhänger fanden. Auch bei den ersten Christusanhängern in Rom könnte das eine Rolle gespielt haben, da sie eine für Nicht-Juden attraktive Variante des Judentums vertraten. Die jüdische Gemeinde in Rom wuchs trotz solcher Krisen. Nach der Eroberung Palästinas durch die Römer (63 v. Chr.) kamen viele Juden als Kriegsgefangene nach Rom. Sie erhielten durch Freilassung das römische Bürgerrecht und wohnten oft im Stadtviertel Trans Tiberim (heute: Trastevere), von wo aus sie sich in andere Stadtviertel ausbreiteten. Philo berichtet über sie: Es war ihm (sc. Augustus) wohlbekannt, dass der große Stadtteil Roms jenseits des Tiber von Juden besetzt und besiedelt war, die Mehrzahl von ihnen Freigelassene und römische Bürger. Denn als Kriegsgefangene waren sie nach Italien gebracht und von ihren Besitzern freigelassen worden, ohne sie zu zwingen, ihre überlieferten Gewohnheiten aufzugeben (Legat. 155). 4 Schürer, u. a., History, 73–81. Smallwood, Jews. 5 Stern, Greek and Latin Authors, 147a. Die Notiz stammt aus Auszügen von Valerius Maximus bei Ianuarius Nepotiani.

Die Gemeinde in Rom

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Inschriftlich lassen sich für das 1. Jh. n. Chr. fünf Synagogen in Rom nachweisen:6 Eine Synagoge der Hebräer, in der vielleicht am Anfang ein Gottesdienst in aramäischer Sprache gehalten wurde, und eine Synagoge der Vernaculi, in der sich (im Unterschied zu den Hebräern?) in Rom geborenen Juden sammelten, die wahrscheinlich Latein sprachen (vernaculus bedeutet „Haussklave“ und „einheimisch“). Ferner gab es Synagogen von Freigelassenen des Augustus, des Agrippa und des Volumnius, eines Legaten in Syrien im Jahr 8 v. Chr. und eines Freundes Herodes I. Als nach dessen Tod eine jüdische Gesandtschaft nach Rom kam, wurde sie (angeblich) von 8000 römischen Juden begleitet (Jos. Ant. 17,300). Anders als in Alexandrien oder Antiochien, wo die Juden durch einen gemeinsamen Sprecher vertreten wurden, gab es keine zentrale Organisation der Juden in Rom, daher auch kein Modell für eine entsprechende Organisation der Christusanhänger in Rom. Vermutlich existierten sie von Anfang an in getrennten Gruppen. Paulus grüßt vielleicht deswegen – anders als in seinen anderen Briefen – keine Gemeinde (ἐκκλησία/ekklēsía) in Rom. Aber dafür sind auch andere Erklärungen möglich. Unter Tiberius kam es 19 n. Chr. zu einer Krise. Ägypter und Juden wurden aus Rom vertrieben (Tac. ann. II 85; Suet. Tib. 36).7 Josephus nennt als Grund zwei Betrugsfälle: Ägypter wurden ausgewiesen, weil der ägyptische Isiskult zur Verführung einer hoch stehenden römischen Dame missbraucht worden war (Ant. 18,65–80). Juden wurde vorgeworfen, sie hätten Weihegeschenke einer vornehmen Proselytin Fulvia veruntreut, die für den Tempel bestimmt waren. 4000 Juden wurden damals nach Josephus aus Rom vertrieben (Ant. 18,84). Spielt Paulus auf solch einen Skandal an, wenn er schreibt: „Du verabscheust die Götzenbilder, treibst aber selbst Tempelraub?“ (2,22)? Solche Skandale können freilich propagandistisch übertrieben oder novellistisch erdichtet worden sein, historisch aber sind die darin zum Ausdruck kommenden Vorurteile. Tacitus spricht vom Judentum als „Aberglauben“, der viele „angesteckt“ habe (Tac. ann. II 85). Er setzt dabei wohl kaum eine bewusste Proselytenwerbung voraus. Das Judentum hatte in sich Attraktivität genug, um Fremde anzuziehen. Gerade das war für die Umwelt ein Problem. Die Anfänge des Christentums in Rom8 fallen in die Zeit des Kaisers Claudius (41–54 n.Chr). Christusanhänger wurden damals zum Judentum gerechnet. Daher weiß man nicht, ob sich Aussagen über Unruhen unter Juden auf die dortigen Christen beziehen. Wir hören durch Cassius Dio z. B. von einem „Versammlungsverbot“ für Juden aus den ersten Regierungsjahren des Claudius (ca. 41/42 n. Chr.): 6 Schürer, u. a., History, 96–98, nennt zehn für Rom bezeugte Synagogen, die fünf oben genannten Synagogen waren im 1.Jh. n. Chr. vorhanden. 7 Nebenbei sei die Frage gestellt: Ist es ein Zufall, dass Herodes Antipas im Jahr dieser Vertreibung (19 n. Chr.) seine neue Hauptstadt nach dem Kaiser „Tiberias“ nannte? Wollte er den Kaiser günstig stimmen, nachdem dieser Juden aus Rom vertrieben hatte? 8 Vgl. Donfried/Richardson, Judaism; Brändle/Stegemann, Entstehung.

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Konflikte im Imperium und im Christentum 

Die Juden, deren Zahl sich wieder so vermehrt hatte, dass es auf Grund ihrer Menge schwierig gewesen wäre, sie ohne Unruhen aus der Stadt zu weisen, vertrieb er zwar nicht, aber er befahl ihnen, bei ihrer überkommenen Lebensweise zu bleiben und sich nicht zu versammeln (Cass. Dio LX 6,6).9

Claudius hatte also im Unterschied zu Tiberius darauf verzichtet, die Juden zu vertreiben, aber ein Versammlungsverbot verhängt. Warum „befahl“ er aber gleichzeitig, dass die Juden bei ihrer traditionellen Lebensweise bleiben sollten? Versammlungen in Synagogen gehörten zu ihrer Lebensweise! Hatte er damals Juden (vorübergehend)  verboten, sich in Synagogen zu versammeln, weil dort Christusanhänger Streit ausgelöst hatten? Der Beginn des Christentums in Rom ließe sich dann auf Anfang der vierziger Jahre datieren.10 Jedoch lassen sich die damals entstandenen Unruhen auch als innerjüdische Reaktion auf die Caligula-Krise verständlich machen. Gaius Caligula hatte den Jerusalemer Tempel in ein Heiligtum des Kaiserkults verwandeln wollen. Seine Ermordung am 24. Januar 41 verhinderte die Ausführung dieses Plans. In Alexandrien triumphierten Juden über den Tod ihres Feindes und gingen aggressiv gegen Nicht-Juden vor. Auch in Rom könnten sie durch Kundgebungen aufgefallen sein. Dann bezöge sich das Versammlungsverbot auf öffentliche „Zusammenrottungen“, nicht auf Gottesdienste in Synagogen. So verstanden würde das Versammlungsverbot nicht dem Befehl widersprechen, dass Juden ihre traditionelle Lebensweise fortsetzen sollen.11 Cass. Dio LX 6,6 wäre dann kein Beleg für Christen in Rom, sondern für die konservative Religionspolitik des Claudius. Dieser hatte auch an anderen Orten die Juden ermahnt, bei ihren Traditionen zu bleiben, um die durch Caligulas Vorhaben entstandenen Spannungen abzubauen. Bekannt ist das Schreiben des Claudius an die nicht-jüdischen Alexandriner aus dem Jahr 41 n. Chr., in dem er sie „beschwört“, dass ihr, die Alexandriner, euch einerseits geduldig und freundlich gegenüber den Juden betragt, die seit langer Zeit in derselben Stadt gewohnt haben, und keinen der von ihnen verfolgten Riten zur Anbetung ihrer Götter schändet, sondern ihnen erlaubt, ihren Gebräuchen wie zu den Zeiten des göttlichen Augustus nachzugehen, welche ich, nachdem ich beide Seiten angehört, ebenfalls sanktioniert habe; und andererseits befehle ich den Juden ausdrücklich, nicht auf mehr Privilegien, als sie früher besaßen, hinzuarbeiten […] (PLond 1912 = CPJ I 153).12 9 Schürer, History, 77 Anm. 91, identifiziert die angedrohte Vertreibung in Cass. Dio LX 6,6 mit der tatsächlichen Vertreibung bei Suet. Claud. 25. Es kam in der Tat vor, dass eine Verbannung ausgesprochen, dann aber erlassen wurde (vgl. Suet. Tib. 36). Apg 18,2 zeigt, dass es tatsächlich zur Verbannung von Judenchristen gekommen ist. 10 So Botermann, Judenedikt, 103–140. Sie meint, dass nur eine so starke Gestalt wie Petrus in Rom einen solchen Wirbel hätte verursachen können (ebd., 137–140). 11 Vgl. Alvarez Cineira, Religionspolitik, 196–200. 12 Übersetzung in Barrett/Thornton, Texte, Nr. 52, 55–37. Nach einem nicht-authentischen Edikt des Claudius (Jos. Ant. 19,280–285) sollen Juden in Alexandrien ihre Tradition

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Durch strikte Einhaltung der anerkannten Traditionen – auch durch den Kaiser selbst, der sich in diesem Schreiben indirekt von den Übergriffen des Gaius Caligula distanziert – hoffte Claudius, Religionskonflikte zu beruhigen. Aber gerade in seiner Zeit missionierten Christusanhänger unter Heiden und stellten traditionelle Identitätszeichen des Judentums wie Beschneidung und Speisegebote in Frage. Dadurch widersprachen sie seiner Religionspolitik – allen voran Paulus, der immer wieder Unruhen auslöste. Daher fielen die Christen auch in Rom auf, wo sie durch das Vertreibungsedikt des Claudius im Jahr 49 zum ersten Mal bezeugt sind. Sueton ist einer der drei Zeugen für ihre Vertreibung, er schreibt: Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma expulit: „Die Juden (möglicherweise ist gemeint: „diejenigen unter den Juden“), die auf Anstiften eines Chrestus hin beständig Unruhe machten, vertrieb er aus Rom“ (Suet. Claud. 25 = GLAJJ 307). Wahrscheinlich hatte die Botschaft vom auferstandenen Christus für Unruhe gesorgt, denn das Edikt spricht von „Chrestus“ wie von einem lebendigen Unruhestifter.13 Der Wechsel von Christus zu Chrestus ist oft belegt, wie auch die Erwähnung von chrestiani bei Tac. ann. XV 44,2 als Bezeichnung für die Christen zeigt. Der zweite Beleg findet sich in der Apostelgeschichte. Paulus trifft in Korinth Priscilla und Aquila, die gerade aus Italien gekommen sind, „weil Kaiser Claudius allen Juden geboten hatte, Rom zu verlassen“ (Apg 18,2). In Korinth war Paulus ca. 49/50 n. Chr. eingetroffen. Orosius, ein christlicher Schriftsteller des 5. Jh.s, datiert die Vertreibung der Juden aus Rom unter Berufung auf Josephus in das neunte Jahr des Claudius (Adv. Paganos VII 6,15). Nimmt man dieses als wahrscheinliches Datum der Vertreibung an, ergibt sich eine plausible Ereigniskette: Nachdem Claudius Anfang der vierziger Jahre den Juden wegen Unruhen eine Vertreibung angedroht hatte, führte er sie im Jahr 49 n. Chr. durch, als die neue christliche Botschaft Unruhen hervorrief. Wieder hing die Vertreibung damit zusammen, dass Christusanhänger unter den Juden im heidnischen Umfeld Anhänger gewonnen hatten. Denn erst kurz zuvor hatte das Apostelkonzil in Jerusalem (zwischen 46/48 n. Chr.) der Heidenmission dadurch einen gewaltigen Auftrieb gegeben, dass der Verzicht auf die Beschneidung von Heiden anerkannt worden war. Diese Entscheidung könnte in Rom Streit in den jüdischen Gemeinden hervorgerufen haben. Durch das Claudiusedikt verlor die römische Geeinhalten und haben dort Bürgerrechte. Das widerspricht dem Schreiben des Claudius aus dem Jahr 41, nach dem die Juden in Alexandrien eine fremde Stadt bewohnen. Ein Edikt des Claudius an die ganze Welt macht es allen Juden zur Pflicht, die väterlichen Traditionen einzuhalten (Ant. 19,286–291, dort 290). Unabhängig davon, wie echt dieses Edikt ist, muss man feststellen: Josephus selbst war überzeugt, dass die Religionspolitik des Kaisers Claudius alle Juden zur Traditionstreue verpflichtete. Das hat einen historischen Kern, der für Rom (Cass. Dio LX 6,6) und Alexandrien (PLond 1912) gut bezeugt ist, aber kaum auf diese Städte beschränkt war (vgl. Apg 16,21 für Philippi und 17,7 für Thessaloniki). 13 Slingerland, Policymaking, 151–245, meint dagegen, ein Sklave oder Freigelassener des Claudius mit Namen Chrestus habe den Kaiser angestachelt, die Juden zu vertreiben. Dagegen mit Recht Das, Solving, 154–158.

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meinde durch Verbannung einige profilierte Mitglieder. Nicht nur Priscilla und Aquila, sondern viele Judenchristen wurden damals ausgewiesen. Übertrieben ist freilich die Nachricht in Apg 18,2, Claudius habe alle Juden ausgewiesen. Dies war nicht durchführbar. Eine zahlenmäßig bedeutende judenchristliche Gruppe muss in Rom geblieben sein. Deren Existenz setzt Paulus im Römerbrief voraus. Das Claudiusedikt hatte einschneidende Folgen für die paulinische Mission. Christusanhänger waren seitdem – besonders in der von Paulus vertretenen liberalen Variante – ein politisches Problem für die jüdischen Synagogengemeinden. Sie mussten sich von ihnen distanzieren – vor allem dort, wohin die Nachricht von der Vertreibung von Juden aus Rom gelangt war. Schon die Vertreibung des Paulus aus Thessaloniki könnte eine Auswirkung des Claudiusedikts sein. Denn der Vorwurf gegen Paulus lautete, er gehöre zu einer Gruppe, die weltweit Unruhe stifte. Seine Botschaft vom messianischen König widerspreche den Edikten (!) des Kaisers (Apg 17,7). Auch das Vertreibungsedikt des Claudius spricht von „Chrestus“ wie von einer lebenden Gestalt.14 Dazu kommen andere Edikte: Seit dem Machtantritt des Claudius zielten einige von ihnen darauf, durch Bewahrung religiöser Traditionen den Frieden zu wahren. Der Plural weist auf die Religionspolitik des Claudius insgesamt. Juden wurden durch diese Religionspolitik motiviert, sich von den Christusanhängern zu distanzieren, Judenchristen dagegen, Heidenchristen für ihr Judentum zu gewinnen, um Spannungen mit der Synagoge abzubauen. Einige von ihnen starteten (von Jerusalem aus?) eine Gegenmission zu Paulus in Galatien und Philippi, wo sie verlangten, dass Heidenchristen die jüdischen Identitätsmerkmale Beschneidung und Speisegebote übernehmen sollten. Paulus unterstellt ihnen als Motiv, sie wollten Verfolgungen vermeiden (Gal 6,12; vgl. 5,11).15 In Wirklichkeit wollten sie nur Frieden mit der Umwelt schaffen – konform zur Religionspolitik des Claudius. Die damalige „judaistische“ Krise im frühen Urchristentum wäre demnach auch eine Folge veränderter politischer Rahmenbedingungen aufgrund des Claudiusedikts. Die Briefe an die Galater und die Philipper wären ohne diese Spannungen zwischen Imperium und Christusanhängern nicht geschrieben worden. Diese Interpretation steht einer „antiimperialen“ Paulusdeutung nahe, schreibt aber Paulus keinen „Widerstand“ gegen das römische Reich zu, sondern eher der römischen Politik Widerstand gegen seine Mission. Diese Mission musste Paulus bei politischem Gegenwind durchführen! 14 Judge, Decrees, denkt an Edikte gegen die Weissagung neuer Herrscher und an Eide, die den Kaisern in der Provinz geleistet wurden. Aber nichts weist auf Edikte gegen Astrologen. Das letzte war durch Tiberius erlassen worden (Suet. Tib. 36). Eide sind keine Edikte und wurden freiwillig geleistet. Daher könnte an Edikte wie das Vertreibungsedikt des Claudius und a­ ndere Edikte des Claudius zur Judenpolitik gedacht sein, vgl. Alvarez Cineira, Religionspolitik, 266–268. 15 Vgl. Alvarez Cineira, Religionspolitik, 291–340.

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Welche Folgen hatte das Claudiusedikt für die römische Gemeinde? Die Verbannung profilierter Judenchristen ließ in ihr eine heidenchristliche Mehrheit zurück, unter ihnen viele Gottesfürchtige, d. h. heidnische Sympathisanten der Synagoge.16 Diese fanden in der christlichen Gemeinde ein Judentum, in dem sie auch ohne Beschneidung und Toraobservanz gleichberechtigt waren. Paulus setzt eine heidenchristliche Mehrheit in Rom voraus, dazu eine judenchristliche Minderheit, die von Vertreibung verschont geblieben war. Unwahrscheinlich ist, dass sich Juden- und Heidenchristen in je verschiedenen Hausgemeinden versammelten.17 Der Streit zwischen Starken und Schwachen setzt ein engeres Zusammenleben voraus (14,1–15,13). Danach wäre der Römerbrief an eine Gemeinde adressiert, die aus einer heidenchristlichen Majorität und einer judenchristlichen Minorität bestand. Nach einer anderen Auffassung ist der Römerbrief exklusiv an Heidenchristen adressiert.18 Das Präskript nennt nur sie als Adressaten. Im Ölbaumgleichnis werden nur Heidenchristen vor Hochmut gegenüber Juden gewarnt (11,17 f). Richtig ist, dass Paulus im Römerbrief nicht zu Judenchristen, sondern über sie redet (4,11 f; 4,16; 9,1–5; 9,27–29; 11,5 f). Dafür gibt es einen plausiblen Grund. Durch Vereinbarung auf dem Apostelkonzil waren offiziell nur die Heiden Adressaten seines Evangeliums. Paulus selbst erinnert indirekt durch die Nicht-Einmischungsklausel in 15,20 f daran. Offiziell respektiert Paulus die Begrenzung seines Auftrags auf Heiden19 und spricht wohl deswegen die Christen in Rom nicht als ἐκκλησία/ekklēsía an.20 Ein Brief an die ganze Gemeinde (ἐκκλησία/ekklēsía) in Rom, zu der auch Judenchristen gehörten, hätte als Übergriff betrachtet werden 16 Das, Solving, 171–202, meint, fast alle Judenchristen seien mit Hilfe der Synagogen vertrieben worden. Nur die Synagogen hätten sie als Juden identifizieren können. Von den Christusanhängern seien damals nur die Gottesfürchtigen in Rom geblieben, die aber seien seit diesen Unruhen in den jüdischen Synagogen nicht mehr willkommen gewesen. Diese gottesfürchtigen Christusanhänger und neu gewonnene Heidenchristen bildeten die doppelte Adressatenschaft des Römerbriefs, nicht aber, wie man traditionellerweise annimmt, Juden- und Heidenchristen. 17 Wenn man annimmt, dass Röm 16 nach Rom gerichtet war, könnte man einige Hausgemeinden erschließen: eine um Aquila und Priskilla (16,5), eine andere um Asynkritus, Phlegon, Hermes, Patrobas, Hermas „und die bei ihnen befindlichen Brüder“ (16,14), eine dritte um die „Heiligen“ um Philologus und Julia, Nereus und seine Schwester und Olympas (16,15), vielleicht auch Christen aus dem Haus des „Aristobul“ (16,10) und Christen aus dem Haus des „Narkissus“ (16,11). Nach unserer Deutung ist jedoch Röm 16 an die Gemeinde in Ephesus gerichtet, aber auch indirekt an die Gemeinde in Rom, da in Ephesus Exilanten aus der römischen Gemeinde lebten. 18 Das, Solving, 54–60, 261–264, und Wolter, EKK 6/1, 44–46, plädieren für eine heidenchristliche Adressatenschaft, Bergmeier, Gerechtigkeit, 97–99, Esler, Conflict, 111–115, für Juden- und Heidenchristen. 19 Campbell, Addressees, bes. 180. 20 Die im Römerbrief fehlende Anrede als ἐκκλησία/ekklēsía wird dreifach erklärt: (a) Die Gemeinde war in Hausgemeinden zersplittert (Michel, KEK 4, 43; Wilckens, EKK 6/1, 69; Lohse, KEK 4, 69; Dunn, WBC 38A, 19). Warum schreibt Paulus dann aber nicht an mehrere ἐκκλησίαι/ekklēsíai wie in Gal 1,2 und nicht an „die Gemeinde“ wie in 1Kor 1,2; 2Kor 1,1, obwohl es dort mehrere Hausgemeinden gab (z. B. die in Kenchräa)?

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können. Inoffiziell wendet sich Paulus umso mehr auch an judenchristliche Adressatinnen und Adressaten. Zwar stellt er sich mit einem Auftrag für alle Heiden vor, „unter denen (ἐν οἷς/en hoís) auch ihr seid“ (1,6), was heißen kann: „zu denen auch ihr gehört“. Damit definiert Paulus seinen Mandatsbereich.21 In der folgenden Adscriptio weitet er seinen Adressatenkreis aber auf „alle“ aus, die in Rom „von Gott Geliebte und berufene Heilige“ sind (1,7) und schließt dabei Judenchristen ein, die er später im Brief „Heilige“ (15,25 f), „von Gott geliebt“ (11,28) nennt und deren „Berufung“ er betont (11,29). Für Judenchristen als implizite Mit-­Adressaten seines Briefes sprechen folgende Argumente, von denen viele mit der Annahme einer doppelten Adressatenschaft nur kompatibel sind, ohne dass sie diese Annahme unausweichlich machen. Das letzte, das auf den Aussagen über Starke und Schwache basiert, dürfte jedoch entscheidend sein. (1) Paulus definiert sein Evangelium als eine Botschaft „für jeden Glaubenden, für Juden zuerst, dann auch für Griechen“. Fünfmal begegnet diese Doppelformel (1,16; 2,9.10; 3,9; 10,12). Wenn sich sein Evangelium explizit an beide Gruppen wendet, dann will der Brief, in dem er dieses Evangelium entfaltet, zumindest implizit beide ansprechen. Dass er als Heidenmissionar implizit auch Juden anspricht, entspricht seinem Selbstverständnis als Apostel, wie es in 11,13–15 zum Ausdruck kommt. Danach reizen seine Erfolge als Heidenmissionar unter den Heiden auch Juden zum Glauben, so dass er indirekt auch die Rolle des Israelmissionars übernimmt, die eigentlich Petrus zukam. Paulus hat ein expansives Sendungsbewusstsein, dem die Kommunikationsstruktur des Römerbriefs entspricht. Wenn sich Paulus in ihm als Missionar für die Heiden stilisiert, zielt er indirekt auch auf Juden. (2) Paulus spricht zweimal „Heidenchristen“ an, einmal im Plural: „Euch aber, den Heiden, sage ich …“ (11,13), dann im Singular: „Du, der du ein wilder Ölzweig warst“ (11,17). Paulus müsste Heidenchristen nicht besonders ansprechen, wenn er sonst nicht voraussetzt, dass auch Judenchristen seinen Brief lesen. Im Ölbaumgleichnis unterscheidet er nicht nur ausgebrochene und eingepfropfte Zweige (also den Glauben ablehnende Juden und gläubige Heiden),22 sondern sagt auch, (b) Paulus verweigert der römischen Gemeinde den Status einer ἐκκλησία/ekklēsía, weil er ihr erst durch seinen Besuch apostolische Gründung und Signatur verleihen will, so Klein, Abfassungszweck. Aber auch die von Paulus gegründete Gemeinde in Philippi redet er nicht als ἐκκλησία/ekklēsía an (vgl. Phil 1,1). (c) Wenn Paulus seinen Brief an Heiden(-christen) adressiert, will er seine Leser „in seinen apostolischen Zuständigkeitsbereich hineinholen“ (Wolter, EKK 6/1, 95). Paulus betont u. E. sein Mandat für die Heiden (1,1–6) auch deshalb, weil er für seine Spanienmission mit dem­ Argument werben wollte, dass er einen Auftrag speziell für die Heiden hatte. Er blieb explizit innerhalb seines (auf dem Apostelkonzil definierten) Zuständigkeitsbereichs, weitet ihn aber implizit auf Judenchristen aus. Das ist die wahrscheinlichste Erklärung. 21 Paulus deutet vielleicht schon in V. 6 an, dass die Adressaten zwar „unter Heiden leben“, aber deswegen nicht nur Heiden sind. Mit derselben Wendung „unter (den) Heiden“ spricht er nämlich auch in 2,24 und in 15,9 (= Ps 17,50LXX ) von Juden. 22 So aber Wolter, EKK 6/1, 45. Dass bei Paulus nur „einige Zweige“, aber nicht alle ausgebrochen sind, hätte umso mehr Gewicht, wenn bei einer Veredlung eines Baums in der Regel alle alten Zweige entfernt würden.

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dass nur „einige Zweige“ entfernt wurden (11,17), womit also im Stamm verbliebene Zweige vorhanden sein müssen, die wir mit den Judenchristen identifizieren können. In 2,17–24 wendet er sich direkt an einen Juden: „Wenn du dich aber Jude nennst …“. Er kritisiert, dass er an anderen verurteilt, was er selbst tut. Dieser Dialog mit einem fiktiven Juden enthält indirekt eine Botschaft an die realen Adressaten.23 Denn Paulus hatte sich in 2,1 an jeden Menschen gewandt, der andere „richtet“, und ihn deswegen kritisiert. Das wendet er aber nicht nur auf einen Juden an (2,17–24), sondern später auch auf Starke und Schwache, wenn er sie davor warnt, einander zu „richten“ (14,3 f.13). Die Kritik des P ­ aulus am selbstbewussten Juden in 2,17 trifft also indirekt auch Tendenzen in der Gemeinde von Rom. Unwahrscheinlich ist, dass Paulus hier einen Gottesfürchtigen anspricht, der sich Jude „nennt“, ohne es von Geburt zu sein:24 Wenn es nämlich am Ende heißt, der Name Gottes werde wegen seines Fehlverhaltens „unter den Heiden“ gelästert (2,24), ist der Gegensatz von „Juden“ und „Heiden“ vorausgesetzt, bei dem alle Juden gemeint sind. Wenn Paulus danach die Beschneidung diskutiert (2,25–29), denkt er auch an beschnittene Juden und nicht nur an unbeschnittene Gottesfürchtige (2,28). Offen kann bleiben, ob er sich in 7,1 an Judenchristen und Gottesfürchtige wendet, wenn er sagt: „Ich rede mit denen, die das Gesetz kennen“. Dass er dabei Juden und Judenchristen ausschließt, ist aber schwer vorstellbar. Paulus schließt sich als Jude in Wir-Aussagen mit anderen Judenchristen zusammen: Abraham ist unser Stammvater „nach dem Fleisch“ (4,1), Vater derer aus dem Gesetz und der Gläubigen (4,16). Er wäre nur für Judenchristen „Vorvater nach dem Fleisch“, so wie ihn andere Juden „unseren Vorvater“ nennen (Jos. Bell. 5,380), auch wenn sie gleichzeitig Gott ihren „Vorvater“ nennen konnten (3Makk 2,21). Das „Wir“ in 9,24 umschließt explizit Juden- und Heidenchristen: Gott hat „uns dazu berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden“. Solch ein „Wir“ kann natürlich einfach alle Christen in der ganzen Welt meinen, aber es schließt auch dann nicht die Adressaten des Römerbriefs aus, sondern ein. Paulus führt an vielen Stellen fiktive Gesprächspartner im Stil der Diatribe ein und grenzt dabei seine Position gegen jüdische Positionen ab (3,27–30; 4,1–12; 9,30–33; 11,1–10.11–24) oder verteidigt sich gegen Angriffe von jüdischer Seite (3,1–8.31; 6,1 f.15; 7,7–25; 9,1.19–21; 11,1).25 Deswegen kann man den Römerbrief einen dialogus cum Iudaeis zu bezeichnen. Ist es nur ein imaginierter Dialog mit Juden, die Paulus in Jerusalem treffen wird? Viel wahrscheinlicher ist, dass es auch ein (indirekter) Dialog mit Juden und Judenchristen in Rom ist. Entscheidender Test für die Bestimmung der Adressaten des Römerbriefs ist der Konflikt zwischen Starken und Schwachen (14,1–15,13). Hier wendet sich Paulus an beide Seiten (14,13; 15,7). Sicher ist: Paulus stellt sich die Starken als Heidenchristen und die Schwachen als Judenchristen vor, wenn er die Speisetabus der Letzteren damit erklärt, dass für sie manche Speise κοινόν/koinón sei. Das Adjektiv κοινόν/koinón (14,14) hatte nur unter Juden die Bedeutung von „unrein“

23 Anders Das, Solving, 87–89. 24 So Thorsteinsson, Paul’s Interlocutor, 165–231. 25 Die Einteilung der Stellen weitgehend nach Theobald, Römerbrief, EdF 294, 71–74.

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(vgl. 14,20).26 Es kann sich hier nicht um eine interpretatio judaica des Paulus handeln, die von den Schwachen nicht geteilt wurde, denn Paulus spricht von jemandem, der eine Speise für κοινόν/koinón hält (14,14), nimmt also betont dessen Perspektive ein. Wenn er dazu mahnt, sich gegenseitig anzunehmen und Christus zum Vorbild zu nehmen, der ein „Diener der Beschneidung“ war (15,8), so ist das eine Aufforderung an die Starken, „Diener“ der Judenchristen zu werden, d. h. sich den Schwachen in Speisefragen anzupassen. Da Paulus hier von „Beschneidung“ spricht, ist ausgeschlossen, dass er bei den Schwachen nur an Gottesfürchtige denkt, die nicht beschnitten waren.27 Der juden- und heidenchristliche Charakter der Schwachen und Starken wird dadurch bestätigt, dass beide Gruppen einmütig Gott loben sollen (15,6). Denn dieses „Loben“ (δοξάζειν/­doxázein) wird in Schriftzitaten durch „bekennen“ (ἐξομολογεῖν/exhomologeín) (15,9), „sich freuen“ (εὐφραίνειν/euphraínein) (15,10) und „loben“ (αἰνεῖν/aineín) (15,11) aufgegriffen; dabei sollen immer Juden und Heiden zusammen Gott loben und preisen: „Darum will ich dich rühmen (oder: bekennen) unter den Heiden“ (Ps 17,50LXX = 15,9); das sagt nach jüdischer Überlieferung der Jude David als Dichter der Psalmen. Sein Bekenntnis erinnert an den Jesajavers: „Jede Zunge soll Gott bekennen (ἐξομολογήσεται/exhomologē´setai)“ (Jes 45,23LXX). Dieses universale Bekenntnis soll schon in 14,11 Starke und Schwache zusammenführen. Das weist darauf, dass sich bei ihnen juden- und heidenchristliche Traditionen auswirkten.28

Alles spricht u. E. für eine doppelte Adressatenschaft des Römerbriefs an Heidenund Judenchristen. Das entspricht auch der für uns noch erkennbaren geschichtlichen Situation. Spätestens mit dem Regierungsantritt Neros (54–68 n. Chr.) war der Weg für die Rückkehr der aus Rom vertriebenen Judenchristen frei.29 Auch dadurch stellte sich die Aufgabe, in Rom das Verhältnis von Juden- und Heidenchristen und ihre Beziehung zu den jüdischen Synagogen zu klären. In dieser Zeit hat sich das Christentum in Rom mehr und mehr verselbständigt: Erschienen die Christusanhänger noch zur Zeit des Claudiusedikts als eine jüdische Gruppe, so sind sie in der Zeit der Christenverfolgung unter Nero 64 n. Chr. für Außenstehende eine von den Juden getrennte Gruppe (Tac. ann. XV 44). Der Römerbrief wurde zwischen der Christenvertreibung des Claudius 49 n. Chr. und der Christenverfol 26 Mk 7,14–23; Apg 10,14.28; 11,8; 1Makk 1,47.62; Jos. Ant. 3,181 u.ö. Wolter, EKK 6/1, 51–54, hält κοινόν/koinón dagegen für eine interpretatio judaica durch Paulus, die also nicht das Selbstverständnis der Schwachen wiedergibt, sondern dessen Deutung durch Paulus. 27 Anders Das, Solving, 106–114, 28 Danach werden zweimal Heiden zum Loben aufgefordert: „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk“ (Dtn 32,43LXX = 15,10). „Lobt den Herrn alle Heiden, und preist ihn, alle Völker“ (Ps 117,1 = 15,11). Mit „Volk“ (λαός/laós) ist Israel hier immer (mit-)gemeint (vgl.10,21; 11,1). Paulus geht es eindeutig um die Verbindung von Juden und Heiden in der Verehrung des einen und einzigen Gottes. 29 Förster, Aufenthalt, 189–227, bringt gute Argumente dafür, dass die Konstitutionen (d. h. Edikte, Mandate und Reskripte) des Kaisers, durch die Menschen verbannt wurden, nicht konsequent umgesetzt wurden. Sobald ein Problem durch Vertreibung der Unruhestifter gelöst schien, bestand man nicht mehr auf deren Durchführung.

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gung des Nero 64 n. Chr. geschrieben. Daher ist die Frage berechtigt, ob der Römerbrief zu dieser Verselbständigung der Christen gegenüber den Juden beigetragen hat. Ebenso aber auch die Frage, ob er vielleicht die Verbindung der Gemeinden mit dem Judentum gegen den damaligen Trend retten will. Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die Situation des Paulus kennen, als er den Brief schrieb.

3.2 Die Situation des Paulus: Überwundene Konflikte in Kleinasien und Korinth Obwohl der Römerbrief Korinth nirgendwo erwähnt, ist weithin Konsens, dass er dort im Haus des Gaius geschrieben wurde (16,23), den Paulus im Korintherbrief erwähnt (1Kor 1,14). Auf Korinth weist die Empfehlung der Phoibe aus Kenchreä, der korinthischen Hafenstadt (16,1 f). Die vorausgesetzte Situation entspricht den Plänen des Paulus, der die Kollekte von Korinth aus nach Jerusalem bringen wollte (1Kor 16, 1–4). In 15,14–33 setzt er den Abschluss dieser Kollekte voraus und kündigt seine Reise nach Jerusalem an. Falls er seine Pläne nicht zwischenzeitlich revidiert hat, muss Paulus in Korinth sein.

3.2.1 Der Konflikt in Galatien Als Paulus den Römerbrief schrieb, lagen Krisen hinter ihm. In Galatien waren Vertreter einer judenchristlichen Gegenmission in die Gemeinden eingedrungen und hatten vorgegeben, sie wollten die Arbeit des Paulus vollenden, indem sie Beschneidung und Speisegebote in die Gemeinde einführten.30 Sie wollten die Gemeinden in Anpassung an die konservative Religionspolitik des Claudius ins Judentum integrieren. Dazu reichte es, wenn sie die wichtigsten Identitätszeichen des Judentums übernähmen, ohne deswegen alle Gesetzesgebote halten zu müssen. Im Gegensatz dazu macht Paulus darauf aufmerksam, dass die Beschneidung verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten (Gal 5,3). Er unterstellt seinen Gegnern das Motiv, Verfolgung vermeiden zu wollen (Gal 6,12; vgl. 5,11), und denkt dabei an die Religionspolitik des Claudius, die Juden verpflichtete, bei ihren Traditionen zu bleiben, um jede Unruhe zu vermeiden. Sie führte in den jüdischen Gemeinden zur Unterdrückung der von Paulus vertretenen Bewegung, die diese Traditionstreue aufkündigte und uralte Riten in Frage stellte. Die Gegenmissionare wollten Spannungen mit den jüdischen Gemeinden und den Konflikt mit der römischen Religionspolitik vermeiden. Ihr Erfolg beruhte auf ihrer Behauptung, im Einklang mit Paulus und den Beschlüssen des Apostelkonzils vorzugehen. Sie griffen Paulus also nicht frontal an, sondern gaben vor, in Übereinstimmung mit 30 Dazu Theissen, Gegenmission.

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ihm zu handeln, was Paulus zu scharfen und polemischen Angriffen gegen sie provozierte. Er wirft ihnen vor, ihr Plädoyer für eine Übernahme des Gesetzes sei so verwerflich wie der Rückfall ins Heidentum (Gal 4,9). Anstatt sich beschneiden zu lassen, sollten sie sich gleich kastrieren (Gal 5,12). Paulus geht es dabei nicht nur um rituelle Einzelforderungen, sondern um das Gesetz überhaupt. Der Konflikt in Galatien wirkt im Römerbrief nach. Wahrscheinlich hat der polemische Galaterbrief (zusammen mit ähnlichen Konflikten) Paulus den Vorwurf eingebracht, er lehre, man solle das Böse um des Guten willen tun (3,8). Der Vorwurf richtet sich gegen seine Abkehr von jüdischen Traditionen, vor allem gegen seine Ablehnung der Beschneidungspflicht für Heidenchristen. Denn Paulus problematisiert in 3,1 zunächst den „Nutzen der Beschneidung“, bevor er in 3,8 diesen Vorwurf zitiert. Paulus hatte auf dem Apostelkonzil und im antiochenischen Konfikt nur rituelle Gebote in Frage gestellt (Gal 2,1–14), spätestens im galatischen Konflikt aber auch das Gesetz als Ganzes (Gal 3,10.13.19). Daher konnten seine Aussagen so gedeutet werden, als wolle er auch die ethischen Gebote des Gesetzes aufheben. Seine Gegner unterstellten ihm, er tue Böses, d. h. stelle jüdische Traditionen in Frage, um Gutes zu erreichen, nämlich die Verehrung Gottes bei allen Menschen. Sie rückten ihn in die Nähe zynischer Sophisten und Libertinisten. Darüber ist Paulus empört. Paulus will im Römerbrief gegenüber der römischen Gemeinde ein Bild zurechtrücken, das ihn als Vertreter eines Libertinismus und als Zerstörer der Einheit mit dem Judentum brandmarken soll. Seine Verdammung der Gegner widerspricht seiner Mahnung zum Umgang mit Feinden: „Segnet und verflucht nicht!“ (12,14). Aber man sollte nicht übersehen, dass er trotz aller Polemik auch von diesen Gegnern gelernt hat. Im Römerbrief entwickelt er nämlich ein bestechendes Konzept gegen das Programm der Gegenmission. Er akzeptiert ihr Ziel, dass Christusanhänger zum Judentum gehören sollen, wählt aber einen anderen Weg zu diesem Ziel. Die Gegner wollten Anpassung der heidenchristlichen Gemeinden an das Judentum, Paulus will dagegen eine Anpassung des Judentums an seine heidenchristlichen Gemeinden. Es soll sich für seine Gemeinden öffnen. „Ganz Israel“ soll auf wunderbare Weise gerettet werden, wenn die „Fülle der Heiden hineingehen“ wird (11,25 f). Zur „Fülle“ der Heiden gehören auch seine heidenchristlichen Gemeinden. Halten wir als Vermutung fest: Der Römerbrief ist eine Antwort auf Vorwürfe gegen Paulus. Er greift das Grundanliegen seiner Gegner auf, aber will es in anderer Weise erfüllen. Schon der Galaterbrief lässt diese „Strategie“ erkennen: Die Gegner hatten in der Gemeinde den Wunsch geweckt, durch Erfüllung des Gesetzes den christlichen Glauben zu vollenden (Gal 3,3). Paulus greift diesen Wunsch auf, zeigt aber eine andere Weise, ihn zu erfüllen: Das Gesetz werde durch das Liebesgebot erfüllt (Gal 5,14). Im Römerbrief wiederholt er diese „Strategie“ noch umfassender: Die Gegner wollen die Einheit mit dem Judentum durch Veränderung der Gemeinden, Paulus durch Veränderung des Judentums.

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3.2.2 Der Konflikt in Korinth Der Konflikt in Galatien lag einige Zeit zurück, als Paulus den Römerbrief schrieb.31 Unmittelbar hinter ihm lagen neue Konflikte in Korinth: Auch dort waren Gegenmissionare aufgetreten, die aber anders als die in Galatien und Philippi weder Beschneidung noch die Einhaltung von Speisegeboten verlangten, um die Christusanhänger als Mitglieder des Judentums erkennbar zu machen. Das war in Korinth nicht nötig, denn dort hatte der Statthalter Gallio die Christusanhänger als Teil des Judentums anerkannt, als er sich mit der Begründung, er wolle nicht in innerjüdische Konflikte eingreifen, geweigert hatte, einen Prozess gegen sie zu eröffnen (Apg 18,12–17). Unabhängig davon, wann dieser „Prozess“ stattgefunden hatte, müssen Christen vorher oder nachher in Korinth als Juden angesehen worden sein. Christusanhänger mussten in diesem Umfeld daher keine jüdischen Identitätsmerkmale übernehmen, um als Juden zu gelten. Daher konnten die Gegenmissionare auf diese Forderungen verzichten. Dafür haben sie, um Einfluss zu gewinnen, Paulus umso schärfer persönlich angegriffen und die Legitimität seines Apostolats in Frage gestellt. Um diesen Konflikt um seine Person beizulegen, war Paulus aus Ephesus nach Korinth geeilt. Ein Gemeindeglied hatte ihn bei diesem „Zwischenbesuch“ persönlich beleidigt und das Zerwürfnis vertieft (2Kor 2,5–11). Paulus war es dennoch gelungen, die Gemeinde mit sich zu versöhnen. Der 2.  Korintherbrief ist sein Versöhnungsbrief. Wir wissen durch ihn, dass die Korinther selbst während ihres Konflikts mit Paulus seine Briefe gelobt, aber sein armseliges Auftreten kritisiert haben (2Kor 10,10). Wahrscheinlich wurde Paulus auch durch ihr Lob motiviert, mit dem Römerbrief die größte literarische Leistung seines Lebens zu vollbringen. Paulus führte außerdem an vielen Stellen das Gespräch mit den Korinthern weiter, als er in ihrer Mitte den Römerbrief schrieb.32 Er greift Themen aus dem 1Kor auf und setzt dabei neue Akzente: (1) Die Ablehnung Gottes durch Menschenweisheit führt im Römerbrief nicht nur zur Ablehnung der Offenbarung durch Juden und Griechen (1Kor 1,18–31), sondern zur moralischen Katastrophe unter Heiden wie Juden (Röm 1,18–32). (2) In 1Kor 4,8 spricht Paulus ironisch über Korinther, die meinen, sie seien schon „zur Herrschaft gelangt“, in Röm 5,17 verspricht er den Christen für die Zukunft, dass sie im Leben „herrschen werden“. 31 Viele wollen den Galaterbrief zeitlich unmittelbar vor den Römerbrief datieren, weil der Römerbrief die Struktur des Gal aufnimmt und die Rechtfertigungslehre dann als einheitliche Reaktion auf die Gegenmission verstanden werden kann. Aber man sollte Paulus glauben, dass seine Rechtfertigungslehre schon in seiner Bekehrung angelegt war (Phil 3,2–10) und im antiochenischen Konflikt (Gal 2,11–21) eine Rolle spielte. Gal 2,16 weist zusammen mit Apg 13,38 f auf eine frühe Form der Rechtfertigungslehre, in der Glaube und Werke additiv verbunden waren. Dass Glaube und Werke dann alternativ gegeneinander ausgespielt werden, ist eine Zuspitzung durch Paulus im Galaterbrief, vgl. Wong, Evangelien, 136–156. 32 Hartwig/Theissen, Gemeinde.

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(3) Die Adam-Christus-Typologie zielt im 1Kor auf eine Verwandlung in das Ebenbild Gottes in einer neuen Welt (1Kor 15,21 f.45–49), im Römerbrief auf einen Kontrast zwischen Adams unrechtem Tun und der gerechten Tat Christi in dieser Welt (5,12–21). (4) In 1Kor 14 kritisiert Paulus die Glossolalie, die er als Engelssprache respektiert (1Kor 13,1), in Röm 8,26 f aber als ein unaussprechliches Seufzen des Menschen deutet, der nach Erlösung schreit. (5) Das Bild vom Leib Christi wurde in 1Kor 10,16 f im Abendmahl begründet, in 1Kor 12,12 f in der Taufe, im Römerbrief wird es von den Sakramenten gelöst und dient ausschließlich der ethischen Paränese (Röm 12,4–8). In ihm ist der Glaube der Maßstab, an dem sich alle orientieren sollen. Er tritt an die Stelle des Pneumas, das den Leib zusammenhält (1Kor 12,13). (6) Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen wird hier wie dort mit einer vergleichbaren Mahnung zur Rücksichtnahme gelöst, aber an die Stelle des Appells, das schwache „Gewissen“ des anderen zu respektieren (1Kor 8,7–13; 10,25–30), tritt die Forderung, jeder solle im „Glauben“ so handeln, dass er sich selbst nicht verurteilen muss (Röm 14,22 f).

Die Korinther haben den Römerbrief durch Paulus selbst, seinen Schreiber Tertius oder seinen Gastgeber Gaius (16,22 f) kennen gelernt. Vielleicht hinterließ Paulus ihnen eine Abschrift. Abgesehen davon hat Paulus während seiner Arbeit am Römerbrief in Korinth sicher mündlich Gedanken vertreten, die er im Römerbrief niederschrieb. Auch die korinthische Gemeinde ist daher ein Nebenadressat des Römerbriefs. Wichtig für sein Verständnis ist, dass ihn Paulus in einer Umgebung schrieb, in der die Vision einer Einheit von Christen und Juden plausibler war als anderswo. In Korinth galten die Christen für Außenstehende als Juden. Ist es ein Zufall, dass Paulus gerade in dieser Stadt die schroffe Abgrenzung zum Judentum (im Galaterbrief) durch eine Vision ersetzt, nach der Juden und Christen am Ende zusammenfinden?

3.2.3 Die Krise in Ephesus Unmittelbar hinter Paulus lag eine schwere Krise in Ephesus: Paulus war dort inhaftiert worden und hatte mit einem Todesurteil gerechnet, einem ἀπόκριμα τοῦ θανάτου (apókrima toú thanátou) (2Kor 1,9). Er war überraschend freigelassen oder freigesprochen worden.33 Es ist verständlich, dass Paulus danach den römischen Staat in 13,1–7 als Rechtsstaat darstellt. Seine Bildersprache im Römer 33 Das gilt unabhängig davon, ob man den Philipperbrief in die Zeit dieser Gefangenschaft in Ephesus oder in Rom datiert. Die Informationen über eine Todesgefahr in Ephesus gehen aus dem 2. Korintherbrief selbst hervor. Für eine Freilassung ohne formellen Freispruch könnte sprechen, dass Paulus auf seiner Reise nach Jerusalem Ephesus vermeidet und die Presbyter der Gemeinde nach Milet kommen lässt (Apg 20,17). Hätte er sich bei einem Freispruch nicht in Ephesus sehen lassen können? Aber auch wenn es ein formeller Freispruch gewesen wäre, mit

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brief könnte durch seine Erfahrung in Ephesus bestimmt sein: Erlösung ist für ihn im Römerbrief Freispruch eines Angeklagten, der eigentlich den Tod verdient hat. Er jubelt: „So gibt es nun keine Verurteilung (κατάκριμα/katákrima) mehr für die in Christus Jesus“ (8,1). Im Galaterbrief vertrat Paulus dieselbe Rechtfertigungslehre, schildert aber nirgendwo das Gericht Gottes so anschaulich wie im Römerbrief (2,5–11; 8,31–34; 14,10–12). Verdankt sich diese Anschaulichkeit der Erfahrung eines Freispruchs? Auf jeden Fall konnte Paulus nun wieder Zukunftspläne entwickeln. Seine Freilassung dürfte mit dem Ende der Regierung des Claudius zusammenhängen. Agrippina hatte nicht nur ihren Mann Claudius im Oktober 54 vergiften lassen, sondern etwas später auch den Statthalter von Asien in Ephesus, Junius Silvanus, einen Urenkel des Augustus (Tac. ann. XIII 13,1; vgl. Cass. Dio LIX 4–5). Sie musste befürchten, dass er ihrem unmündigen Sohn Nero vorgezogen oder zu seinem Vormund gemacht würde. Ende 54/­Anfang 55 n. Chr. war nach dem Tod des Silanus wahrscheinlich eine Zeit lang offen, wer sein Nachfolger werden sollte.34 Die Freilassung des Paulus würde gut in diese Zeit nach dem Tod des Claudius passen, in der dessen konservative Religionspolitik „storniert“ werden konnte, bis klar sein würde, ob sie durch seinen Nachfolger fortgesetzt würde.35 Im Präskript des Römerbriefs gibt es vielleicht eine versteckte Anspielung auf den Tod des Claudius. Paulus betont dort, dass Jesus aus einem Königshaus abstammt, aber nach seinem Tod durch Auferweckung zum Sohn Gottes „in Macht“, d. h. auch „in Wirklichkeit“ erhöht wurde. Damit könnte er Christus als ein Gegenbild zu Claudius darstellen.36 Claudius war durch Beschluss des Senats unter die Götter aufgenommen worden. Seneca verspottete das (noch im Jahre 54 n. Chr.?) mit der Satire: Apocolocyntosis.37 Die Botschaften von der Auferweckung des Gekreuzigten und der Apotheose des verstorbenen Kaisers sind strukturell verwandt: Beide stammten aus einer königlichen Herrscherfamilie und beide wurden nach dem Tod in göttliche Würde eingesetzt. Eben deswegen betont Paulus, dass die Einsetzung Jesu zum Gottessohn in Macht (ἐν δυνάμει/ der Auflage, keine neuen Unruhen anzuzetteln, hätte Paulus einen Grund gehabt, Ephesus zu meiden. Wie leicht hätte es dort neue Konflikte geben können! 34 Vgl. Riesner, Chronology. 35 Sueton berichtet, dass Nero viele der Gesetze des Claudius als „die eines Unverständigen und Wahnsinnigen“ aufhob (Suet. Nero 33). Wahrscheinlich geschah das am Anfang von Neros Regierungszeit – möglicherweise mit Billigung von Seneca und Burrus, die faktisch die Macht besaßen. 36 Eine ausführlichere Begründung findet sich unten in 4.1. und in G. Theissen, Auferstehungsbotschaft. Georgi, Gott auf den Kopf stellen, 195 f, hat das Verdienst, 1987 als erster das christologische Bekenntnis in Röm 1,3 f als Gegenbotschaft zum Herrschaftsanspruch des Kaisers interpretiert zu haben. Als ich 1998 eine ähnliche Deutung von Röm 1,3 f vorlegte, war mir sein Aufsatz unbekannt. Wir stellen verschiedene Vergleichspunkte heraus. Für Georgi ist der unnatürliche Tod des Claudius durch Vergiftung eine Parallele zum Kreuzestod Jesu. Aber das spielt in Röm 1,3 f u. E. keine Rolle. 37 Vgl. Seneca, Apocolocyntosis Divi Claudii.

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en dynámei) geschah und deswegen keine Fiktion war. Wir werden uns mit den möglichen Anspielungen auf die Apotheose des Claudius im Römerbrief noch näher beschäftigen. Daher mögen diese Beobachtungen an dieser Stelle genügen. Als Paulus den Römerbrief schrieb, hatten sich für ihn auf jeden Fall nach dem Tod des Claudius neue Möglichkeiten geöffnet. Meist wird angenommen, er habe seine Mission im Osten als abgeschlossen betrachtet, sodass er sich jetzt dem Westen zuwandte. Aber war sie wirklich abgeschlossen? Paulus hatte den Norden Kleinasiens nie betreten38 und war bisher nicht in Ägypten und Nordafrika tätig gewesen. Wenn er Rom aufsuchen wollte, so zog ihn vor allem die Hauptstadt an. Schon immer hatte er auch in den Provinzen die Hauptstädte besucht. Erst recht musste die Hauptstadt des Imperium Romanum ihn locken. Man sollte ihm daher glauben, dass er Rom schon oft hatte besuchen wollen (1,13), aber bisher daran gehindert worden war (15,22). Solange Claudius regierte, war es nicht zweckmäßig, dass Paulus in Rom erschien, da er mit seiner Mission der Religionspolitik des Claudius widersprach. Mit dem Tod des Claudius im Oktober 54 war der Weg frei geworden. Das Fernziel des Paulus war nun Spanien. Er wollte die „Fülle der Heiden“ erreichen. Vielleicht suchte er auch ein Arbeitsfeld, in dem er die Konflikte im Osten hinter sich lassen konnte. Die Situation des Paulus bei der Abfassung des Römerbriefs war auf jeden Fall einzigartig: Er hatte schwere Krisen überwunden, war einem Todesurteil entronnen und verbrachte ca. drei Monate (Apg 20,3) in einer Gemeinde, mit der er sich versöhnt hatte und der es gelungen war, in ihrem Umfeld als Teil des Judentums anerkannt zu werden. Es muss eine seiner glücklichsten Zeiten gewesen sein – eine gute Voraussetzung, um ein theologisches Meisterwerk zu schreiben, weltumfassende Pläne zu entwickeln und von einer Einheit von Juden und Christen in der Zukunft zu träumen.

3.3 Die Reisepläne des Paulus: Ephesus und Jerusalem, Rom und Spanien Die Reisepläne des Paulus hatten erst Jerusalem, dann Spanien zum Ziel. Auf dem Weg nach Spanien lag Rom, auf dem Weg nach Jerusalem Ephesus.39 Auch diese Zwischenstation auf dem Weg nach Jerusalem ist wichtig, um den historischen Kontext des Römerbriefs zu verstehen. Denn eine Hypothese besagt, dass Paulus eine Abschrift des Römerbriefs nach Ephesus geschickt hat. Wollte er vielleicht damit seinen Kontakt mit der Gemeinde von Ephesus auf der Reise nach Jerusalem vorbereiten? 38 1Petr deckte später diese Lücke ab (1Petr 1,1). 39 Nach Apg 20,3 wollte Paulus mit dem Schiff nach Syrien fahren, wurde aber durch Juden daran gehindert. Hatte er damals vor, Ephesus zu besuchen? Dafür spricht, dass er auch nach Apg 18,18 von Korinth nach Syrien reisen wollte – damals über Ephesus (18,19) nach Caesarea (18,22). Genauso sollte wohl auch die in 20,3 geplante Reise nach Syrien über Ephesus führen.

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3.3.1 Ephesus als Zwischenstation Paulus hätte in der Tat gute Gründe gehabt, durch eine Version des Römerbriefs, die er nach Ephesus schickt, seine Reise vorzubereiten. In Ephesus lebten einige der 49 n. Chr. aus Rom verbannten Judenchristen. Das erklärt, warum so viele Namen in Röm 16 für Rom gut belegt sind.40 Entweder lässt Paulus sie als in Ephesus lebende römische Gemeindeglieder grüßen oder er bittet darum, sie von Ephesus aus in Rom zu grüßen.41 Da Ephesus auf dem Weg nach Jerusalem lag, würde Paulus mit der dortigen Gemeinde noch vor seiner Ankunft in Rom in Kontakt kommen. Dieser Kontakt muss ihm wichtig gewesen sein, denn er konnte vielleicht aufgrund von Konflikten nicht direkt nach Ephesus kommen, sondern musste die Presbyter der Gemeinde nach Milet kommen lassen (Apg 20,17). Falls Paulus mit einer Version des Römerbriefs ein Treffen mit den Vertretern der Gemeinde von Ephesus vorbereiten wollte, musste die für die Gemeinde in Ephesus bestimmte Version zeitlich vorrangig abgesandt werden. Daraus ergibt sich folgende Hypothese: Paulus diktierte seinem Schreiber Tertius den ganzen Brief (Röm 1–16) einschließlich des „Anhangs“, der sich speziell an die Gemeinde in Ephesus richtet. Diese Fassung des Römerbriefs sollte möglichst bald jemandem, vielleicht Phoibe aus Kenchreä (16,1 f), auf den Weg nach Ephesus mitgegeben werden. Da Paulus diesen Text zusammenhängend diktiert hatte, lässt sich kein stilistischer oder formaler Bruch zwischen Röm 1–15 und 16 feststellen. Die Sendung einer verkürzten Version des Römerbriefs nach Rom ohne das für Ephesus bestimmte Schlusskapitel hatte dagegen Zeit, da Paulus erst sehr viel später nach Rom kommen würde. Paulus konnte die Kürzungen für diese zweite Version daher anderen überlassen, vielleicht seinem Schreiber Tertius. Die Kurzversion endete 15,33 oder 14,23. Nicht Paulus, sondern ein anderer hat dann an die verkürzte Abschrift des Römerbriefs die Doxologie (16,25–27) hinzugefügt. In dieser abgewandelten Form stellen wir die „Ephesushypothese“ hier erneut zur Diskussion, auch wenn unsere Interpretation des Römerbriefs nicht von ihr abhängt. Sie sei nun im Einzelnen begründet. 40 Lampe, Christen, 139 f, ordnet die in Röm 16 vorkommenden Namen nach ihrer Häufigkeit in Rom (anhand von Solin, Personennamen). An der Spitze der in Rom bezeugten Namen stehen: Julia, Hermes, Rufus, Junia, Prisca, Maria, Urbanus, Ampliatus, Tryphaena, Nereus. Sie könnten aus Rom kommen. Sicher ist das freilich nicht. Paulus betont zudem zweimal, dass es sich um „Volksverwandte“, d. h. um Juden, handelt (16,7.11; vgl. 16,21). Darüber hinaus waren auch Prisca und Aquila Juden. Nur Juden bzw. Judenchristen waren verbannt worden. 41 Grußaufträge in der zweiten Person am Ende eines Briefes meinen bei Paulus in der Regel Grüße an Mitglieder der jeweiligen Gemeinde: Die Gemeindeglieder sollen alle „Brüder“, jeden „Heiligen“ (1Thess 5,26; Phil 4,21) oder sich gegenseitig grüßen (1Kor 16,20; 2Kor 13,12). Jedoch hat Mullins, Greeting, gezeigt, dass bei Grußaufträgen in der zweiten Person in antiken Briefen oft dritte Personen neben den Adressaten gemeint sind. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass einige der Adressaten in Röm 16 nicht (mehr) in Ephesus, sondern (inzwischen) anderswo, z. B. in Rom wohnten. Vgl. dazu Das, Solving, 101–103.

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Exkurs 7: Röm 16 – das Ende eines für Ephesus bestimmten Briefs an die Römer in Ephesus? (1) In der handschriftlichen Überlieferung stand am Anfang nach überzeugenden Rekonstruktionen eine Version mit Röm 16,1–23.42 Das steht mit unserer Annahme in Einklang, Röm 1–15 (oder 1–14) als gekürzte Version einer ursprünglicheren für Ephesus bestimmten Version des Briefes zu betrachten. Sie ist in zwei Varianten bezeugt, am häufigsten durch eine Variante, die in 14,23 mit der Pointe abschließt: „Was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde“. Das 15. Kapitel wurde vielleicht weggelassen, weil in ihm die Reise nach Jerusalem für Paulus wichtiger zu sein schien als seine Reise nach Rom. Die Platzierung der (sekundären) Doxologie nach der Mahnung an Starke und Schwache wäre sinnvoll, denn Gott wird in dieser Doxologie gebeten, die Christen zu stärken. Das wirkt wie eine Fürbitte für die Schwachen. Die Doxologie träte dann an die Stelle der in dieser gekürzten Version weggelassenen Aufforderung zum Lob Gottes in 15,6 und 9.43 Wahrscheinlich aber endete die für Rom bestimmte Kurzfassung erst in 15,33. In dem wegen seiner Qualität hoch eingeschätzen Papyrus 46 (um 200 n. Chr.) steht die Doxologie nämlich zwischen 15,33 und 16,1. Dieser Abschluss nach 15,33 ist für einen an die römische Gemeinde gerichteten Brief sehr sinnvoll, da er mit der Bitte an die römische Gemeinde endet, für Paulus zu beten. Die dann folgende (sekundäre) Doxologie realisiert die vorhergehende Aufforderung zum Lob Gottes in 15,6 und 9. Die „prophetischen Schriften“ in 16,26 erinnern an die Prophetien in Psalm- und Jesajazitaten (15,9–12). Das bisher „verschwiegene“ „Kerygma von Jesus Christus“ (16,25) erinnert an das „Evangelium des Christus“, das dort verkündet werden soll, wo sein Name noch nicht genannt, also bisher „verschwiegen“ wurde (15,20). Der „Gehorsam der Heiden“ (15,18) als Ziel der Verkündigung kehrt im „Gehorsam des Glaubens für alle Heiden“ wieder (16,26). Sicher ist freilich nur, dass vor 200 n. Chr. die unechte Doxologie 16,25–27 an eine Kurzversion des Römerbriefs angefügt wurde. Aus den längeren Versionen des Briefes für Ephesus wurden dann die fehlenden Teile 15,1–16,23 bzw. 16,1–23 ergänzt. Wenn verschiedene Versionen eines Textes mit verschiedenem Umfang existieren, wird die längere als die vollständigere Fassung gelten und eine größere Chance haben, sich durchzusetzen. (2) Paulus grüßt den Epainetos, „der der Erstling Asiens für Christus ist“ (16,5). Paulus formuliert im Präsens. Wäre Epainetos inzwischen nach Rom übergesiedelt, hätte es näher gelegen zu schreiben, dass er „der Erstling Asiens war“. Der Erstbekehrte der Provinz Asien stammt wahrscheinlich aus dieser Provinz selbst. Was für ein Motiv sollte er gehabt haben, nach Rom überzusiedeln? In der Gemeinde von Ephesus hatte er einen hohen Status, in der Gemeinde von Rom war er ein Fremder. Wahrscheinlich lebte er zur Abfassungszeit von Röm 16 in Ephesus. (3) Das gilt auch für Priska und Aquila, die Paulus in 16,3 an erster Stelle grüßen lässt. Sie waren nach ihrer Vertreibung aus Rom nach Korinth geflohen, von da nach Ephesus weiter gezogen (Apg 18,2.18 f.26) und hatten für Paulus ihr Leben ris 42 Aland, Schluß, Lampe, Textgeschichte; Jewett, Hermeneia, 4–7; Trobisch, Entstehung, 63–79; Wolter, EKK 6/1, 18–20. 43 Wenn man die Kürzung (nach Origenes) auf Markion zurückführt, kann man als Grund dafür die positive Wertung von Judenchristen und Juden in 15,7–13 annehmen.

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kiert (16,4), als er in Ephesus in Lebensgefahr gewesen war.44 Ihre Rückkehr vor dem Tod des Claudius ist unwahrscheinlich.45 Paulus konnte ihre Hausgemeinde in Ephesus nach wie vor zur römischen Gemeinde zählen und erwarten, dass sie und andere Verbannte in seinem Namen Grüße nach Rom ausrichteten, um für ihn einzutreten. Möglicherweise erwartet er ihre Rückkehr nach Rom. Wären sie schon zurückgekehrt, so wäre schwer vorstellbar, dass sie so schnell wieder eine Hausgemeinde um sich sammeln konnten, wie das in 16,5 vorausgesetzt wird. Außerdem lokalisiert der pseudopaulinische 2Tim das Ehepaar an einem Ort im Osten, während Paulus in römischer Haft sitzt (2Tim 4,19). Pseudopaulinische Briefe können in Personalnotizen historische Erinnerungen bewahrt haben. Wenn ein Paulusschüler seinen Brief als echten Paulusbrief verbreiten wollte, durfte er seine Glaubwürdigkeit nicht durch leicht widerlegbare Aussagen erschüttern.46 (4) Viele Menschen, die Paulus laut Röm 16 gekannt hat, muss er im Osten kennen gelernt haben. Mit ihnen verbindet ihn eine Geschichte, die wir nicht kennen, mit Andronikus und Junia seinen „Mitgefangenen“ (16,7), Ampliatus, seinem „Lieben“ (16,8), Urbanus, seinem „Mitarbeiter“, Stachys, seinem „Lieben“ (16,9), Tryphäna und Tryphose, die im Herrn „geschuftet“ haben und Persis, seiner „Liebe, die sich viel gemüht hat im Dienst des Herrn“ (16,12), Rufus und seiner „Mutter“, von der Paulus sagt, dass sie auch seine Mutter sei – wahrscheinlich deshalb, weil sie sich um Paulus wie um einen Sohn gekümmert hat (16,13). Wenn Paulus annimmt, dass diese Personen Kontakt mit den römischen Christen (in Ephesus 44 Theoretisch käme auch die Gefahr von 1Kor 15,32 in Frage: „Habe ich nur im Blick auf dieses Leben in Ephesus mit wilden Tieren gekämpft?“ Im 1Kor lässt Paulus Aquila und Priska grüßen (1Kor 16,19). Wenn sie schon damals für ihn ihr Leben riskiert hätten (Röm 16,4) hätte er sie aber wohl schon im 1Kor deswegen gelobt. Daher ist die Todesgefahr in Röm 16,3 f eher auf die in 2Kor 1,8–11 bezeugte Todesnot zu beziehen, die bei Abfassungszeit des Römerbriefs nur wenige Monate zurücklag. 45 Förster, Aufenthalt, 196–201.210 f, bringt Argumente dafür, dass Vertriebene vor dem Tod eines Kaisers zurückkehren konnten, aber nicht dafür, dass Aquila und Priska tatsächlich zurückgekehrt sind. Seine Argumente sprechen freilich eher gegen deren frühe Rückkehr: Wenn kollektive Ausweisungen nach Beruhigung der Lage nicht weiter verfolgt wurden, galten die Ausgewiesenen umso mehr als Unruhestifter, besonders dann, wenn sie nach ihrer Ausweisung weiterhin Unruhe stifteten. Priska und Aquila haben für Paulus auch nach ihrer Ausweisung ihr Leben riskiert (16,4), sie waren weiterhin potentielle Unruhestifter. Dazu kommt das chronologische Argument: Wenn Priska und Aquila beim letzten Konflikt des Paulus in Ephesus noch bei ihm waren (16,4), sprechen alle Argumente, die Förster für die praktischen Schwierigkeiten einer Rückkehr und des Neuanfangs in Rom zusammengestellt hat (Reisegeschwindigkeit und Reisemöglichkeit, Wohnungsfindung in Rom, Zeit für die Sammlung einer neuen Hausgemeinde), dafür, dass sie zur Abfassungszeit des Römerbriefs noch nicht in Rom waren oder noch keine neue Hausgemeinde um sich hatten sammeln können. 46 Lampe, Christen, 130, meint dagegen, 2Tim habe bewusst alle mit Ephesus verbundenen Personen in seinem Brief gesammelt: Trophimus (Apg 20,4; 2Tim 4,20); Tychikus (Apg 20,4; 2Tim 4,12); Markus (Phlm 24; 2Tim 4,11). Mit diesen Namen kam er auf jeden Fall nicht in Widerspruch zu einem (im Rahmen des Römerbriefs) nach Rom adressierten 16. Kapitel! Denn den Trophimus will der Ps-Paulus des 2. Timotheusbriefs in Milet gelassen haben, Tychikus habe er nach Ephesus geschickt, Markus wird nicht in Rom, sondern irgendwo im Osten vorgestellt. Keiner von ihnen wird in Röm 16 erwähnt. Anders ist das bei Priska und Aquila.

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oder Rom) hatten, würde das erklären, warum er ihre Verdienste hervorhebt.47 Er muss sie und ihre Kontaktpersonen in Rom für sich gewinnen! Er braucht deshalb auch nicht alle ihm bekannten Personen in Ephesus grüßen. Dass Apollos, der in 1Kor 16,12 noch in Ephesus war, nicht erwähnt wird, sagt gar nichts. Er hatte als Wandermissionar vielleicht Ephesus schon lange verlassen. (5) Paulus empfiehlt die Phoibe aus Kenchreä (16,1), man solle sie auch in Geschäften (ἐν πράγματι/en prágmati) unterstützen. Kenchreä ist die Hafenstadt Korinths nach Osten hin. Eine geschäftliche Beziehung nach Ephesus von dort aus ist möglich, sogar wahrscheinlicher als nach Rom. Paulus könnte der Phoibe die Langversion des Römerbriefs nach Ephesus mitgegeben haben. Paulus betont, dass sie „Dienerin“ der Gemeinde in Kenchreä ist und ihn als „Patronin“ unterstützt hat. In dem Brief, den er ihr mitgab, hatte er zuletzt die Kollekte der heidenchristlichen Gemeinden als seinen „Dienst“ (διακονία/diakonía) an der Jerusalemer Gemeinde angekündigt (15,31 vgl. 15,25). Sollte Phoibe ihn in diesem Dienst als διάκονος τῆς ἐκκλησίας (diákonos tē´s ekklēsías) und als seine Patronin unterstützen? Sollte sie für die Kollekte in Ephesus werben? Empfiehlt er deshalb ihre Unterstützung „in welcher Sache auch immer sie euch braucht“? Tatsächlich wurde er ja nach Apg 20,4 auf seiner letzten Reise zur Überbringung der Kollekte nach Jerusalem von zwei Christen aus Ephesus begleitet, von Tychikus und Trophimus (vgl. Apg 21,29). Hat Phoibe mit Erfolg für die Kollekte in Ephesus geworben? Doch kann das alles offen bleiben. (6) Paulus unterbricht in 16,17–20 die Grüße durch eine heftige Polemik gegen Irrlehrer, die nicht Christus, sondern ihrem Bauch dienen. Paulus hatte vorher dazu gemahnt, in Speisefragen versöhnlich zu sein (14,1–15,7). Seine Polemik würde diese Mahnung durchkreuzen. Dagegen hatte Paulus (wohl von Ephesus aus) im Philipperbrief scharf gegen Gegner polemisiert, deren „Gott der Bauch“ sei (Phil 3,19). Diese Polemik weist in einen kleinasiatischen Kontext. Nach Apg 20,29–31 warnt er in seiner Abschiedsrede an die Presbyter aus Ephesus vor Irrlehrern. Paulus lobt zudem im Römerbrief die in seiner Polemik angesprochene Gemeinde wegen ihres „Gehorsams“, der bei allen bekannt geworden sei (16,19). Das Motiv passt eher in ein Proömium an den Anfang eines Briefes (vgl. 1,8; 1Thess 1,7 f), wenn es darum geht, Kontakt mit den Adressaten aufzunehmen, würde aber in eine Erweiterung des Römerbriefs gut passen, wenn erst hier am Ende des Briefes speziell mit der Gemeinde in Ephesus Kontakt aufgenommen wird.48 (7) Wenn Paulus die römische Gemeinde im Römerbrief nicht ἐκκλησία/ekklēsía nennt und dieses Wort auch sonst im Römerbrief nicht gebraucht, dann muss auffallen, dass er in Röm 16 den Begriff ἐκκλησία/ekklēsía gleich viermal verwendet 47 Setzt das Lob namentlich genannter Christen voraus, dass die Adressaten ihre Verdienste nicht kennen? Das würde für die Adressierung von Röm 16 nach Rom sprechen. So Ollrog, Abfassungsverhältnisse. Aber Paulus kann Christen vor einer ihnen bekannten Gemeinde loben, z. B. den aus Korinth stammenden Stephanas in 1Kor 16,15–18. Wenn Paulus die in der Grußliste genannten Christen für sich gewinnen will, muss er sie an positive Erfahrungen mit ihm erinnern. Außerdem will er selbst nach Rom reisen und deutet durch sein Lob an, dass er ihren guten Ruf dort fördern kann. 48 Weil die Polemik die Grußlisten unterbricht, wird sie manchmal für eine sekundäre Interpolation angesehen, so Ollrog, Paulus, 230–234. In der Textüberlieferung gibt es dafür keine Hinweise.

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(16,4.5.16.23), wenn auch nie bezogen auf alle Adressaten. Aber lässt man eine Gemeinde von allen „Gemeinden“ (ἐκκλησίαι/ekklēsíai) grüßen, wenn man in einem Brief an sie das Prädikat der Gemeinde vermeidet? Könnte das ein Zeichen dafür sein, dass Paulus in Röm 1–15 und Röm 16 verschiedene Adressaten vor Augen hat?

Paulus hat auf jeden Fall drei Gründe, eine (auch Röm 16 umfassende) Version des Römerbriefs nach Ephesus zu schicken.49 Erstens hat er ein Interesse daran, dass sich die in Ephesus befindlichen römischen Christen auch nach ihrer Verbannung als Teil der römischen Gemeinde verstehen. Ihnen kann er Grüße an Christen in Rom auftragen, was Grüße an Personen mit Namen erklären würde, die wie die Christen aus dem Haus des Aristobul (16,10) oder des Narzissus (16,11) eher nach Rom weisen.50 Der Auftrag, sie zu grüßen, ist eine Aufforderung, das Band zwischen den Teilen der auseinandergerissenen Gemeinde enger zu knüpfen und von Paulus Gutes zu berichten, indirekt vielleicht sogar eine Aufforderung, nach Rom zurückzukehren – und sei es nur, um diese Grüße auszurichten. Eine Stärkung seiner Parteigänger in der römischen Gemeinde war im Interesse des Paulus. Er ist auf die römische Gemeinde zur Unterstützung seiner Spanienmission angewiesen.51 Ein zweiter Grund dafür, eine Abschrift des Römerbriefs nach Ephesus zu schicken, ist die Kollekte für Jerusalem. Für sie will er werben und hatte damit auch Erfolg. Im Römerbrief schreibt er nur von der Kollekte der Gemeinden in Makedonien und Achaia, aber die Apostelgeschichte berichtet, dass auch zwei Christen aus Ephesus, Trophimos und Tychikos, ihn bei seiner Kollektenreise nach Jerusalem begleitet haben (Apg 20,4; vgl. 21,29). Möglicherweise ahnte er schon in Korinth, dass er die Gemeinde in Ephesus nicht direkt besuchen konnte (vgl. Apg 20,17). Umso mehr musste er ein Interesse haben, schriftlich mit ihr Kontakt aufzunehmen und für sich und seine Kollektenreise zu werben. Einen dritten Grund legen die apologetischen Motive des Römerbriefs nahe. Paulus hatte Grund, auch in Ephesus sein Evangelium zu verteidigen, denn er 49 Schnelle, Einleitung, 141, wendet gegen die Ephesus-Hypothese ein, es könne nicht überzeugend geklärt werden, warum ein nach Ephesus gerichteter Empfehlungsbrief an den Römerbrief angehängt wurde. Aber es hat wohl nie einen vom Römerbrief unabhängigen Empfehlungsbrief nach Ephesus gegeben, sondern nur eine längere, erste Version des Römerbriefs für die (z. T. römischen) Gemeindeglieder in Ephesus. 50 Dass wir in Röm 16 viele für Rom gut bezeugte Namen finden, ist zu erwarten, wenn sich aus Rom verbannte Christen dort aufhielten und Paulus ihnen Grüße an andere Christen (in Ephesus oder Rom) ausrichten ließ. 51 Gegen die Ansicht, Röm 16 sei ein integraler Bestandteil des Römerbriefs, hat man früher eingewandt: Wenn so viele Namen nach Ephesus weisen, wie sollen so viele Menschen aus dem Osten so schnell nach Rom gekommen sein, dass Paulus sie in einem Brief an die Römer grüßen kann? Wäre das nicht eine kleine Völkerwanderung gewesen (Jülicher, Einleitung, 95)? Aber diese „Völkerwanderung“ könnte auf einem einzigen Schiff stattgefunden haben. Noch wichtiger ist: Diese Rückkehr nach Rom könnte zur Abfassungszeit des Römerbriefs nur geplant gewesen sein.

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war dort umstritten.52 Paulus gibt seinen Anhängern mit dem Römerbrief in jedem Fall einen Text an die Hand, in dem er sich gegen Vorwürfe verteidigt und seine Loyalität gegenüber dem Staat demonstriert. Gleichzeitig konnte er auf diese Weise seinen Anhängern in Ephesus danken, von denen einige viel für ihn und seine Mission (16,4.7.9), andere viel für die Gemeinde getan hatten (16,6.12). Wenn Paulus diese Mitchristen von „allen Gemeinden“ grüßen lässt (16,16), sagt er indirekt, dass er in allen Gemeinden von ihrem Einsatz erzählt. Die Christen in Ephesus gehörten wahrscheinlich von Anfang an zu den Nebenadressaten des Römerbriefs. Durch römische Exilanten unter ihnen dürfte Paulus über die römische Gemeinde informiert gewesen sein. Wenn Röm 16 nicht direkt nach Rom gerichtet ist, folgt daraus also nicht, dass Paulus seinen Römerbrief an eine ihm ganz unbekannte Gemeinde in Rom geschrieben hat. Der Römerbrief hat eine konkrete Gemeinde als Adressaten. Aufgrund der vielen Nebenadressaten steht er aber an der Schwelle zur christlichen Publizistik, die sich an alle Christen wendet.

3.3.2 Jerusalem als Ziel der Kollektenreise Bevor Paulus nach Rom reist und von dort aus nach Spanien weiterreist, möchte er Jerusalem besuchen. Das kommt für den Leser in 15,25 zwar etwas überraschend, aber subtil hat Paulus die Leser zuvor schon auf dieses Ziel vorbereitet. Schon die Themenangabe des Briefes betont, das Evangelium gelte zuerst den Juden, dann den Griechen (1,16). Wenn Paulus zuerst nach Jerusalem reist und von da nach Spanien, bringt er mit seinen Reisplänen den Vorrang des Judentums zum Ausdruck. Seine Weltmission hatte in Jerusalem ihren Ausgangspunkt (15,19). Von dort aus will er sie auch vollenden. Seine Reise nach Jerusalem hat zwei eng zusammenhängende Ziele: Er will Heiden als lebendige Opfer nach Jerusalem bringen und mit ihnen zusammen die Kollekte der Jerusalemer Gemeinde überreichen. Paulus sieht in seiner Reise den Sinn seiner ganzen Existenz als Apostel der Heiden zusammengefasst, indem er Heiden als Opfer nach Jerusalem bringt. Wie am Anfang des Römerbriefs definiert er den Zweck seines Evangeliums (1,1; 15,16.19),53 jetzt aber nicht in politischen, sondern in kultischen Bildern. Er greift auf 12,1 zurück: Alle Menschen sollen sich als lebendige Opfer Gott darbringen, seine Aufgabe oder seine „Gnade“ (χάρις/cháris 1,5; 15,15) besteht darin, als Priester Heiden Gott darzubringen, die „durch den heiligen Geist geheiligt“ 52 Es gab in Ephesus unter Christen Missdeutungen seiner Botschaft (Phil 1,12–18). Auch wenn man den Philipperbrief nicht in Ephesus lokalisiert, ist sicher, dass Paulus dort umstritten war (vgl. Apg 19,8–20,1). 53 Die vielen Entsprechungen zwischen 1,1–16 und 15,14–32 werden von Das, Solving, 65 f, tabellarisch nebeneinander gestellt.

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sind (15,16). Es handelt sich bei den von ihm dargebrachten Opfern um Menschen, nicht um die Kollekte. Denn nur Menschen können vom Heiligen Geist erfüllt werden. Paulus brachte tatsächlich Heidenchristen nach Jerusalem. Er kam in der Rolle des Freudenboten (10,15 = Jes 52,7), wirkte als Heidenmissionar in der Rolle des Gottesknechtes (15,21 = Jes 52,15LXX) und träumte wahrscheinlich von einer Wiederherstellung Jerusalems und Israels in der Endzeit, wie sie u. a. in der Erwartung einer Völkerwallfahrt in Jes 66,20 zum Ausdruck kommt: „Und sie werden alle eure Brüder aus allen Völkern herbringen dem Herrn zum Weihgeschenk … nach Jerusalem zu meinem heiligen Berge, spricht der Herr“.54 Meint Paulus aber wirklich, dass dann alle Juden zusammen mit den Völkern Gott verehren? Unter Exegeten ist umstritten, wie die Rettung von „ganz Israel“ in 11,25–27 zu verstehen ist. Da diese Frage für unsere Deutung des Römerbriefs als Rechenschaft eines Reformators des Judentums wichtig ist, diskutieren wir im folgenden Exkurs die wichtigsten Argumente.

Exkurs 8: Die Rettung von „ganz Israel“ (Röm 11,25–27) Die Mehrheit der Exegeten rechnet mit der Rettung von „ganz Israel“ aufgrund einer Begegnung mit Christus bei seiner Parusie. Konsens ist heute, dass der „Erlöser“ in 11,26 (= Jes 59,20) nicht Gott, sondern wie in 1Thess 1,10 Christus ist.55 Zwar spricht Gott in Jes 59,20 von sich in einer Ich-Aussage als Erlöser, aber rabbinische Ausleger deuten den Vers auf den Messias (bSan 98a). Genauso wird ein Leser auch 11,26 verstehen, da Gott hier von einer anderen Person als dem Erlöser spricht. Gemeint ist Christus. Die Erlösung Israels vollzieht sich nicht an ihm vorbei, wohl aber vorbei an der Mission der Kirche. Ein weitgehender Konsens besteht auch über die fünf im Folgenden genannten Annahmen.56 (1) Konsens ist: 11,25 sagt, dass eine vorhergehende Verstockung Israels aufgehoben wird, wenn die Fülle der Heiden „hineingeht“. Dagegen wurde eingewandt, Verstockung sei irreversibel und nur in Ausnahmefällen aufhebbar.57 Aber für Paulus ist Verstockung nicht endgültig. Er wandelt in 11,8 ein AT-Zitat charakteristisch ab: „Und Gott hat euch bis auf den heutigen Tag nicht ein Herz gegeben, das verständig wäre, Augen, die da sähen, und Ohren, die da hörten“ (Dtn 29,3). Paulus tauscht das „Herz“ gegen den „Geist der Betäubung“ (aus Jes 29,10) aus. Ein Herz ist ein bleibendes Organ (trotz des neuen Herzens in Jer 24,7; Hes 11,19; 18,31; 36,26), 54 Ob dieses Motiv einer Völkerwallfahrt eine Rolle spielt, ist freilich umstritten. Skeptisch urteilt Horn, Kollekte, 119, positiv dagegen Dunn, WBC 38A, 860, Theobald, SKK 6/1, 205. Nach Georgi, Kollekte, soll die paulinische Kollekte die endzeitliche Einheit von Juden und Heiden zeichenhaft realisieren. 55 Zur Diskussion vgl. Keller, Gottes Treue, 271–277. 56 Wright, Faithfulness, 1231–1252, bestreitet diesen Konsens fast in allen Punkten. Der Exkurs 8 setzt sich vor allem mit seinen Argumenten auseinander. 57 Das gilt sicher nicht für das Neue Testament: Die Verstockungsaussage Jes 6,9 f wird in Mk 4,12 am Ende relativiert: „Vielleicht kehren sie um und wird ihnen vergeben“ (Lampe, Deutung). Ebenso wird die Verstockung von Jes 6,9 f in Apg 28,26 f am Ende zurückgenommen: „Und sie werden umkehren und ich werde sie heilen“.

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Betäubung aber ist ein vorübergehender Zustand. Verstockung ist bei Paulus keine endgültige Verwerfung, sondern kann von Gott aufgehoben werden. (2) Die meisten Exegeten nehmen an, dass die Rettung von „ganz Israel“ die Bekehrung „einiger“ Israeliten in 11,14 überbietet. Dagegen wurde eingewandt, dass der Inhalt des Mysteriums (11,25 f) nur sagt, was Paulus schon vorher geschrieben hat, nämlich dass einige Juden für den Glauben gewonnen werden (11,11–24). Wer unter den Juden jetzt noch nicht für den Glauben gewonnen worden ist, habe später eine Chance, aufgrund seines Glaubens wieder in den Ölbaum eingepfropft zu werden (11,23). Paulus sagt aber in 11,25 f nicht nur, dass sich die Bekehrung Israels in Zukunft vollenden würde. Die Ankündigung eines „Mysteriums“ mit der Einleitung:58 „Ich will euch nicht in Unkenntnis darüber lassen…“ (11,25) signalisiert etwas Neues.59 Vorher hatte er nur gesagt: Gott wird die ungläubigen Israeliten wieder einpfropfen, weil er dazu die Macht hat (11,23). Dann sagt er: Er wird es gewiss tun, denn er hat schon jetzt (einige) Heidenchristen faktisch eingepfropft (11,24). Das „Mysterium“ geht darüber noch einmal hinaus: Es bindet die Erlösung Israels an das Hineingehen der „Fülle“ der Heidenchristen und an das Kommen des Erlösers. Vorher war Paulus zuversichtlich, dass Gott einige Juden durch seine Mission retten werde (11,14). Jetzt ist er gewiss: Ganz Israel wird gerettet. Grund seiner Gewissheit ist – kausal angeschlossen durch „denn“ – ein „Mysterium“ (11,25). Paulus widerspricht mit ihm zweifellos seiner Überzeugung von der Heilsnotwendigkeit des Glaubens an den Gekreuzigten und Auferstandenen. Aber die Konstruktion eines widerspruchslosen Paulus ist nicht Paulusexegese, sondern Pauluskult.60 (3) Unter den meisten Exegeten besteht Einigkeit darüber, dass Paulus (wie beim „Mysterium“ in 1Kor 15,51) durch eine prophetische Eingebung Gewissheit über die endzeitliche Rettung von „ganz Israel“ erhielt. Dagegen wurde eingewandt, dass der Inhalt des Mysteriums auf Schriftauslegung basiert. Das ist kein Widerspruch: Für Josephus gehören Träume, Schriftkenntnisse und Gebete zusammen, um prophetische Begabung zu erklären (Jos. Bell. 3,352 f).61 Er gewinnt Gewissheit im Gebet (Jos. Bell. 3,354). Auch Paulus führt in Röm 9–11 einen intensiven Dialog mit Gott wie in einem Gebet. Er wählt aus der Schrift vorwiegend Zitate 58 Keines der vorhergehenden Schriftzitate hat Paulus mit solch einer emphatischen Einleitung hervorgehoben. 59 Vergleichbar ist das Mysterion in 1Kor 15,51, wo Paulus gegenüber 1Thess 4,15.17 etwas Neues verkündigt, nämlich dass zwar einige Christen sterben, alle aber bei der Parusie verwandelt werden. 60 Vgl. Räisänen, Law, 15. Angemerkt sei jedoch: Das „Mysterium“ widerspricht nicht unbedingt den Grundüberzeugungen des Paulus. Dass die bisher ungläubigen Juden Anstoß am Kreuz genommen haben, setzt Paulus als selbstverständlich voraus (9,33). Bei der Parusie werden sie unmittelbar dem Auferstandenen begegnen und dabei den Anstoß des Kreuzes genau so überwinden, wie es einst Paulus getan hatte, als ihm der Auferstandene erschienen war. Ganz Israel wird im letzten Augenblick bekehrt – keineswegs an Kreuz und Auferstehung vorbei. Ihr Glaube am Ende der Zeit ist aber schon ein „Schauen“, das den Glauben überbietet. 61 Jos. Bell. 3,352 f beschreibt seine prophetische Gabe als Resultat von Schriftkenntnis und prophetischen Träumen: „Josephus verstand sich nämlich auf die Deutung von Träumen und auf die Auslegung von Gottessprüchen, die zweideutig geblieben waren. Da er selbst ein Priester war und aus einem priesterlichen Geschlechte stammte, waren ihm die Weissagungen der heiligen Schriften gut bekannt. Als er nun zu derselben Stunde durch diese in das Geheimnis Got-

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aus, die ein Gottes-Ich enthalten, ein Ego divinum.62 In ihnen hört er die Stimme Gottes. Als Betender schlüpft er in die Rolle des Mose (10,1 f) und des Elia.63 Die entscheidende Aussage, die einen Durchbruch zur Gewissheit der Rettung Israels bringt, ist ein AT-Zitat mit einem Gottes-Ich: „Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde“ (11,27 = Jer 31,33; Jes 27,9). Hier gibt es freilich ein psychologisches Problem: Ist Paulus dieses Geheimnis erst beim Schreiben von Röm 11 aufgegangen?64 Das würde erklären, warum ihn am Anfang der Unglaube Israels so angefochten hat. Aber es gibt Indizien dafür, dass sich seine Gewissheit schon vorher angebahnt hat. Wenn er verflucht sein will, um mit Israel solidarisch zu sein (9,3), muss er zuversichtlich gewesen sein, dass es eine Lösung gibt. Nur deshalb kann er Gott unmittelbar danach in einer Doxo­logie preisen und versichern, dass die Verheißungen Gottes nicht hinfällig geworden sind (9,5 f). Nur deshalb kann er als Fürbitter für Israel auftreten (10,1). In 11,25–27 kommt daher u. E. eine schon vorher vorhandene Gewissheit zum Durchbruch. Dass er seine Gedanken geschickt dramatisiert, gehört zu seinem Stil. So lässt er in 1,18–3,20 die ganze Welt unter dem Zorn Gottes versinken, obwohl er von Anfang an weiß, dass Gottes Gerechtigkeit allen Menschen angeboten wird (1,16 f). (4) Ein weitgehender Konsens sagt: Zu „ganz Israel“ gehören alle Juden, auch alle, die durch eine teilweise Verstockung verblendet waren. Dagegen wurde eingewandt, für alle drei Kapitel 9–11 gelte: „Nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen“ (9,6). Wenn diese Unterscheidung auch für Röm 11 gilt, kann „ganz Israel“ (11,26) nicht alle Juden umfassen. Einige blieben dauerhaft ausgeschlossen. Das Bild vom Töpfer zielt in der Tat auf eine irreversible Trennung in Israel (9,19–23). Unbrauchbare Tonware kann nicht mehr in brauchbare verwandelt werden. Aber hier ist die Folge der Bilder zu beachten: Das Bild vom Gärtner in 11,17–24 hat seine Pointe darin, dass der Gärtner ausgebrochene Zweige wieder einpfropfen kann. Damit wird das Bild vom Töpfer aufgehoben. Ferner macht Paulus auch direkte Aussagen darüber, dass Gott sein Erwählen und Verwerfen revidieren kann (vgl. 9,25 = Hos 2,25). Auf die Verwerfung Israels (durch Gott) folgt dessen erneute Annahme: „Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben aus den Toten!“ (11,15).65 Am Ende revidiert Gott sogar sein Urteil über alle Menschen (11,32). Dass irgendein Mensch ausgeschlossen sei, weil Gott seinen Ungehorsam nicht vergeben kann, ist unvorstellbar. Obwohl Paulus in Röm 9 eine Spaltung mitten durch Israel feststellt, ist tes versenkt war und die furchterregenden Bilder der erst kurz zurückliegenden Träume hervorholte, brachte er Gott insgeheim ein Gebet dar […]“. In diesem Gebet fällt die Entscheidung, sich den Römern auszuliefern. Zu dieser Prophetenberufung vgl. v. Gemünden, ­Prophétie, 181–185. 62 Vgl. 9,9.13.15.17.25.33; 10,19.20.21; 11,4.27. Dazu Hübner, Gottes Ich. 63 Müller, Prophetie, 177 f, vertritt die plausible These, dass das Mysterion in 11,25 f sachlich die Antwort Gottes auf das Gebet des Paulus in 10,1 darstellt, durch welche die ältere Prophetie von 1Thess 2,14–16 aufgehoben wurde. 64 Keller, Gottes Treue, 70–78. 65 Es gibt aber auch die Möglichkeit, „ihre Verwerfung“ aktivisch zu verstehen: Israel habe das Evangelium verworfen. So Schaller, ΑΠΟΒΛΗ; Fitzmyer, AB 33, 612; Haacker, ThHK 6, 227–229, Jewett, Hermeneia, 680 f. Für die passivische Deutung, als sei Israel von Gott verworfen worden, plädiert dagegen Sänger, Verwerfung.

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diese Spaltung also in 11,26 aufgehoben, wenn Paulus betont, „ganz Israel“ werde gerettet. Damit sind alle Juden im ethnischen Sinne gemeint.66 (5) Die meisten Exegeten sind sich darin einig, dass sich das Futur des Schriftzitats in 11,26 auf die zukünftige Parusie bezieht. Nur wenige beziehen es auf das vergangene Auftreten Jesu in Zion.67 Richtig ist: Futurische Verbformen in AT-Zitaten können in 9,25–28.33; 10,6.19 auch vergangene und gegenwärtige Ereignisse als Erfüllung von Weissagungen meinen. 11,25 f könnte solch eine schon realisierte Prophetie sein. Aber das ist unwahrscheinlich, denn dem AT-Zitat geht die Offenbarung des Mysteriums voraus, das sich eindeutig auf die Zukunft bezieht (11,25).68 Das AT-Zitat bezieht sich auf dieses Geheimnis. Es verweist auf die Zukunft, denn σωθήσεται (sōthē´setai) ist nicht nur grammatisch ein Futur, sondern meint inhaltlich die eschatologische Rettung. Bei einer Deutung auf vergangene oder gegenwärtige Ereignisse hätte das Präsens näher gelegen: „So wird Israel gerettet“. Im sozialgeschichtlichen Kapitel über die Universalisierung des Heils (Kapitel 6.2) werden wir uns noch einmal mit 11,25 f beschäftigen und eine neue Deutung dafür vorschlagen, wie sich Paulus die Rettung von „ganz Israel“ vorgestellt hat. Hier verteidigen wir nur den Mehrheitskonsens, dass Paulus bei seiner Reise nach Jerusalem auf einen gemeinsamen Gottesdienst aller Juden und der „Vollzahl der Heiden“ hofft. Gott wird ihn selbst herbeiführen. Deshalb ist offen, wann sich dieser gemeinsame Gottesdienst realisieren wird.

Zusammen mit Menschen als lebendigen Opfergaben bringt Paulus eine materielle Kollekte nach Jerusalem, um mit ihr die Einheit von Juden- und Heidenchristen zu demonstrieren (15,14–33). Er wollte damit noch einmal seinen Erfolg beim Apostelkonzil ca. 46/48 n. Chr. wiederholen, als ihm schon einmal eine Kollekte für die Jerusalemer geholfen hatte, seine kirchenpolitischen Ziele durchzusetzen.69 Damals hatte er nicht alle Christen für sich gewinnen können, wie die „falschen Brüder“ in Gal 2,4 und später Konflikte in Galatien und Philippi zeigen. Auch jetzt befürchtet er, dass seine Kollekte von der Gemeinde in Jerusalem zurückgewiesen wird und dass sein Leben bedroht ist (15,31). Beide Befürchtun 66 Ob dabei „ganz Israel“ alle vorhergehenden Generationen umfasst oder nur das Israel der letzten Generation, darf ebenso offen bleiben wie die Frage, ob im Begriff „ganz Israel“ die „Fülle der Heiden“ enthalten ist oder ob die Heiden zu dem wieder hergestellten Israel zusätzlich hinzukommen. Letzteres ist wahrscheinlich. Denn nach 15,10 = Dtn 32,43LXX sollen die Heiden zusammen mit dem Volk Gottes Gott loben. 67 So Becker, Paulus, 500–502; Zeller, RNT 6, 199. Wenn hier eine realisierte Prophetie vorliegt, geschieht die Rettung Israels durch Glauben an den schon erschienenen Jesus. 68 Jewett, Hermeneia, 701, betont mit Recht, dass sich ein modales und temporales Verständnis von „und so (καὶ οὕτως/kaí hoútōs) wird ganz Israel gerettet werden“ nicht ausschließen. Vgl. van der Horst, Israel, mit Belegen zum temporalen Verständnis von hoútōs. 69 Nach der Apg ist Paulus nach seiner Bekehrung dreimal, nach eigenen Aussagen zweimal nach Jerusalem gereist, die Reise zum Apostelkonzil mitgerechnet. Wahrscheinlich hat die Apg die Kollektenreise (Apg 11,30) von der Reise zum Apostelkonzil (Apg 15,4) getrennt, um den Verdacht abzuwehren, Paulus habe mit der Kollekte Kirchenpolitik gemacht – wie Simon Magus, der mit Geld kirchliche Autorität hatte kaufen wollen (Apg 8,18–24).

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gen erwiesen sich als berechtigt. Die Jerusalemer Gemeinde empfahl ihm wahrscheinlich, mit dem Geld der Kollekte die Kosten für vier Nasiräatsgelübde zu übernehmen (Apg 21,23–24). Nasiräatsgelübde bestanden in dem Versprechen, die Haare wachsen zu lassen und keinen Wein zu trinken. Sie wurden durch ein Opfer beendet, dessen Kosten andere übernehmen konnten. Paulus sollte dadurch seine Rechtgläubigkeit demonstrieren. Die Kollekte wird zwar in diesem Zusammenhang in Apg 21 nicht erwähnt, ihre Existenz aber in Apg 24,17 vorausgesetzt, wenn Paulus sagt, er sei nach Jerusalem gekommen, um Almosen für sein Volk zu bringen. Lukas geht in der Apg u. E. nur indirekt auf sie ein, weil ihm der Gedanke zuwider war, dass Menschen mit Geld Kirchenpolitik machen. Das war für ihn die große Sünde des Simon Magus (Apg 8,18–24). Auch die Angst des Paulus um sein Leben war berechtigt. Er erregte in Jerusalem den Hass fanatischer Juden. Einige verschworen sich gegen ihn, um ihn umzubringen (Apg 23,12–22). Die Attentäter waren wahrscheinlich Menschen, die denselben Überzeugungen wie der vorchristliche Paulus anhingen, also Anhänger eines Zelos-Ideals waren, das es zur Pflicht macht, Gesetzesbrecher außerlegal umzubringen. Falls Paulus davon träumte, dass sich der Tempel einmal für Heiden öffnen werde, wäre seine Angst berechtigt gewesen. Er berührte damit indirekt ein Tabu. Später wird er nach Lukas tatsächlich beschuldigt, einen Heiden in den Tempel gebracht zu haben (Apg 21,28). Darauf stand die Todesstrafe. Wir werden diese Vermutung später erörtern. Schon jetzt sei betont, dass die Angst des Paulus um sein Leben nicht bedeutet, dass er in „Panik“ verfallen ist. Panik lähmt, Angst kann aktivieren. Die Konfrontation mit dem Tod war ­Paulus vertraut (1Kor 4,9; 2Kor 1,9; 6,9; 11,24–29; Phil 1,19–26). Sie hat ihn nicht daran gehindert, gewaltige Briefe zu formulieren. Ihm ist zuzutrauen, dass ihm sein möglicher Tod in Jerusalem vor Augen stand und er trotzdem jene durchdachte Rechenschaft über seine Theologie und sein Wirken schrieb, die uns als sein Brief an die Römer erhalten ist. Neben der römischen Gemeinde als Hauptadressatin hat sein Römerbrief als Nebenadressatin daher auch die Jerusalemer Gemeinde in dem Sinne, dass sich Paulus innerlich darauf vorbereitet, vor sie zu treten. Das erklärt die Breite der Israelthematik in Röm 9–11.70 Auch wäre das eine gute Erklärung dafür, dass dort Motive begegnen, die eine Parallele in der Logienquelle (Q) haben. Denn dort finden sich die Jesusüberlieferungen, die damals in Palästina und Umgebung kursierten.71 (1) Das Motiv der Prophetenverfolgung ist Paulus und Q gemeinsam. Wie Elia verfolgt wurde, werden auch heute Propheten verfolgt (11,1–6). Paulus stellt sich in die Reihe dieser verfolgten Propheten (vgl. 1Thess 2,15), wie sich in QLk 6,22 f Christen in der Nachfolge der verfolgten Propheten sehen. 70 Vgl. Jervell, Brief. 71 Theissen, Lokalkolorit, 235; ders., Saying Source, 100 f; Tiwald, Frühjudentum, 304–306.

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(2) Verwandt ist das Motiv, dass die Heiden Israel zum Glauben oder zur Umkehr reizen und Israel von umkehrenden Heiden beschämt wird (11,11.14). Auch in Q sind Heiden Vorbild für Umkehr und Glauben: die Menschen von Tyros und Sidon (QLk 10,13–15), die Königin des Südens, die Nineviten (QLk 11,31 f), dazu der Hauptmann in Kapernaum (QLk 7,1–10). (3) Dazu passt das Motiv einer letzten Chance für Israel bei der Parusie (11,26 f). Es findet sich auch in QLk 13,34 f. Den Jerusalemern, die einst die Boten Gottes und Jesus ablehnten, weissagt Jesus, ihr Tempel werde zeitweise von der Gottheit verlassen werden, „bis die Zeit kommt, da ihr sagen werdet: Gelobt ist, der da kommt in dem Namen des Herrn“ (QLk 13,35).72 Auch Paulus hofft, dass Christus bei seiner Parusie „aus dem Zion“ kommend (11,26) die ihm feindselig ge­ sonnenen Juden gewinnen wird. Er verbindet auf jeden Fall die Parusie mit dem Tempelberg. (4) Schließlich ist das Motiv einer Völkerwallfahrt zum Zion zu nennen. Dieses Motiv ist vorausgesetzt, wenn Paulus die Vision hat, die Fülle der Heiden werde „hineingehen“ (11,26). Es begegnet auch in der Logienquelle (QLk 13,28 f). Wenn Paulus in 10,15 aus Jesaja zitiert: „Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die G ­ utes verkündigen“, dann sieht er sich selbst in der Rolle dessen, der Zion Heil verkündet (Jes 52,7).73

Am Ende des Röm (15,30) bittet Paulus die römische Gemeinde um Fürbitte für das Gelingen seiner Jerusalemer Mission und beteiligt sie so in geschickter Weise „moralisch“ an seiner Kollekte. Danach will Paulus seine schon lange geplante Reise nach Rom verwirklichen. Vermutlich wollte er schon bei seiner ersten Europareise bis nach Rom kommen, als ihn (in Thessaloniki oder in Korinth?) die Nachricht von der Vertreibung von Judenchristen aus Rom durch Kaiser Claudius (49 n. Chr.) erreichte. Damals war seine Gegenwart in Rom inopportun gewesen. Er hätte mit seiner Verkündigung den Streit zwischen messianischen Juden-(christen) und anderen Juden neu angeheizt und Unruhe in die Gemeinde gebracht; auch wäre er selbst gefährdet gewesen. Darauf könnte sich seine Versicherung beziehen, er sei bisher daran gehindert worden, nach Rom zu kommen (1,13; 15,22).74 Seine Heidenmission widersprach der Religionspolitik des Claudius. Erst nach dessen Tod war für ihn der Weg nach Rom frei.

72 Es ist unwahrscheinlich, dass die Begegnung mit dem zur Parusie kommenden Christus in QLk 13,34–35 nur eine Begegnung mit dem verurteilenden Richter ist. Die Begrüßung mit den Worten: „Gelobt ist, der da kommt in dem Namen des Herrn!“ ist positiv gemeint. Da das Verlassen des Tempels durch die Gottheit die angekündigte Strafe ist, ist ihre Rückkehr schon in sich eine Aufhebung der Strafe und bedeutet Rettung und Heil. 73 Dasselbe Motiv begegnet noch einmal in Nah 2,1 ohne Erwähnung des Zion. 74 Ein anderer Grund ist gewiss, dass Paulus durch seine Mission im Osten gehindert wurde, nach Rom zu kommen (15,20–23). Wenn er gehindert wurde, nach Rom zu kommen, weil er dort als Unruhestifter unerwünscht war, so wäre es unklug gewesen, das in einer „Selbsteinladung“ bei der römischen Gemeinde allzu sehr zu betonen.

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3.3.3 Rom als Zentrum des Imperiums und Zwischenstation In Anspielungen hat Paulus vielleicht schon im Präskript seines Römerbriefs zum Kaisertum kritisch Stellung genommen. Nicht die Kaiser sind die wahren Weltherrscher, sondern Jesus, der dem Apostel ein Mandat für alle Völker gegeben hat. Nicht die Kaiser werden nach ihrem Tod zu Söhnen Gottes erhoben, sondern Jesus. Umso wichtiger ist, dass Paulus im Römerbrief die grundsätzliche Staatsloyalität der Christen in einer Staatsparänese betont (13,1–7). Auffällig ist, dass er dabei nicht vom Kaiser oder einem einzigen Machthaber spricht (wie die Parallele 1Petr 2,13), sondern von Autoritäten im Plural. Das entspricht den politischen Verhältnissen zur Abfassungszeit des Römerbriefs.75 Das Römische Reich wurde nach dem Tod des Claudius 54 n. Chr. fünf Jahre lang in Vormundschaft für den unmündigen Nero von dessen Lehrer Seneca und dem Prätorianerpräfekten Burrus verwaltet. Sie waren die legitimen „Autoritäten“ (ἐξουσίαι/exousíai). Augustus bezeichnet in seinen „Res Gestae“ mit ἐξουσία (exousía) seine republikanischen Ämter, aus denen er das Prinzipat geschaffen hatte, indem er sie kumuliert hatte.76 Paulus scheint in seiner Staatsparänese alle politischen Autoritäten vorbehaltlos auf Gott zurückzuführen: „Denn es gibt keine politischen Autoritäten es sei denn von Gott“ (13,1). Dann aber fügt er einschränkend hinzu: „Die derzeit bestehenden Autoritäten (αἱ δὲ οὖσαι/hai dé oúsai) aber sind von Gott eingesetzt“. Der Anschluss mit δέ (dé, „aber“) hat oft adversativen Sinn.77 Will Paulus hier andeuten, dass „zumindest“ die zurzeit Regierenden im Unterschied zu anderen Regierenden legitime Autoritäten sind? Sein Vorbehalt könnte darauf zielen, dass die derzeitigen Autoritäten ohnehin bald verschwinden werden. Die Nacht dieser Weltzeit ist bald vorbei (13,11 f). Bald wird der Satan überwunden sein (16,20). Dann wird nur noch Gott herrschen.78 Jedoch wird sich der Vorbehalt eher gegen vergangene Herrscher richten. Denn Paulus spricht im Partizip Perfekt von denen, die sich den legitimen Autoritäten widersetzt haben, also von vergangenen

75 Georgi, Gott auf den Kopf stellen, 204, sieht dagegen in Röm 13,1–7 ein „jüdisches Traditionsstück aus republikanischer Zeit“, dessen Verwendung in einem Brief nach Rom „ohne jede Erwähnung des Princeps und der besonderen Stellung Roms“ einen kritischen Klang enthalte. 76 R. Gest. div. Aug. II 4; III 6; IV 8 u.ö. 77 Vgl. Röm 9,6.18.21.31; 10,6.10,21; 11,7.17.18.22.23.28.30; 12,4.6; 13,12. 78 Dibelius, Rom, 184: „Wenn es also in Röm 13,1 heißt: ‚die vorhandenen Obrigkeiten sind von Gott geordnet‘, so hört der Christ aus dieser Formulierung heraus: ‚die noch vorhandenen‘ und ‚solange sie noch vorhanden sind‘“. – Dieser Gedanke ließe sich eher durchführen, wenn Paulus an die Erwartung einer kommenden widergöttlichen Herrschergestalt denkt wie in 2Thess 2,3–12, einem deuteropaulinischen Brief, der auf mündliche Überlieferung zurückgehen könnte, die sich auf Paulus berief (2Thess 2,5). Angesichts einer solchen Erwartung wären die derzeitigen Herrscher legitim.

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Gestalten.79 Falls er an Autoritäten denkt, die nicht von Gott eingesetzt sind und die er mit den „bestehenden“ Machthabern kontrastiert, gehören diese der Vergangenheit an. Von wem aber will er sich hier distanzieren? Wahrscheinlich von Gaius Caligula. Dieser hatte versucht, den Jerusalemer Tempel zu profanieren und damit der „Anordnung Gottes“ widersprochen. Der Prätorianerpräfekt Cassius Chaerea, Inhaber eines legitimen Amtes, hatte ihn 41 n. Chr. getötet. Vor allem war Gaius Caligula auch in den Augen der Römer kein legitimer Herrscher mehr, als Paulus den Römerbrief schrieb. Zwar hatte sein Nachfolger Claudius eine formelle damnatio memoriae durch den Senat verhindert (Cass. Dio LX 4,5), aber er hatte seine Regierungsmaßnahmen für ungültig erklärt (Suet. Claud. 11; Cass. Dio LX 5,1), die schriftlichen Unterlagen aus seiner Zeit verbrennen und seine Statuen und Bildnisse entfernen lassen (Cass. Dio LX 4,5). Seine Münzen wurden durch Senatsbeschluss eingeschmolzen (Cass. Dio LX 22,3). Das alles kam einer damnatio memoriae gleich.80 Man kann daher überlegen, ob Paulus seine Mahnung zur Unterordnung unter die politischen Autoritäten nicht bewusst so formuliert hat, dass unter die „Rebellen“ auch Herrscher wie Caligula fallen würden. Er fährt zunächst im Singular fort: „Wer sich also der (legitimen) Macht widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes“ (13,2a). Denkt er an einzelne Menschen? Das könnte auf eine bestimmte Person weisen. Danach aber generalisiert er im Plural: „Die aber widerstehen (oder: widerstanden haben), werden sich selbst das Urteil zuziehen“ (13,2b). Die Wendung „sich selbst das Urteil zuziehen“ könnte darauf hinweisen, dass die Schuldigen dem göttlichen Gericht verfallen und nicht den irdischen Gerichten (vgl. λαμβάνειν κρίμα/lambánein kríma in Mk 12,40/Lk 20,47; Jak 3,1). Dass sie „sich selbst“ (ἑαυτοῖς/heautoís) das Urteil zuziehen,81 erinnert an die Warninschriften im Tempel, die damit drohten, dass Fremde „selbst verantwortlich (ἑαυτῷ αἴτιος/heautōi aítios)“ für ihren Tod sind, wenn sie in den ihnen verbotenen inneren Tempelbezirk eindringen (OGIS 598). Das war eine Androhung von Lynchjustiz, die meinte, Gottes Gerichtsurteil zu vollziehen. Auch Gaius Caligula 79 Jewett, Hermeneia, 791, schließt aus dem Perfekt, „that the problem of opposition against Roman authorities was a matter of the past with continuing present relevance“. ­D uchrow, Weltverantwortung, 143, wendet gegen M. Dibelius ein, dass Gehorsam gegenüber den „noch bestehenden“ Autoritäten den Gehorsam nicht relativieren würde. Angesichts des nahen Endes müsse man erst recht dem Staat gehorchen. Denkt man aber anders als M. Dibelius an einen Kontrast zu vergangenen illegitimen Herrschern, so wird der Gehorsam gegen die bestehenden zwar geboten, aber durch Kontrast zu vergangenen „Tyrannen“ relativiert – nämlich für den Fall, dass die gegenwärtig herrschenden Autoritäten wie sie tyrannisch werden. 80 Gizewski, Art. Damnatio memoriae I; A. Mlasowski, Art. Damnatio memoriae II. 81 Eine Parallele im Römerbrief ist 1,27. Paulus sagt dort über Homosexuelle, dass sie „den Lohn ihrer Verirrung durch sich selbst empfangen“ (ἐν ἑαυτοῖς ἀπολαμβάνοντες/en heautoís apolambánontes). „Durch sich selbst“ ist instrumental: Sie sind Ursache ihres „Lohnes“ und vollziehen an sich selbst ihre Strafe (Wolter, EKK 6/1, 152). Auch hier ist nicht an ein formales Verfahren gedacht.

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war außerlegal ermordet worden. Die Warnung des Paulus vor Rebellion richtet sich natürlich gegen jeden, der sich gegen die römische Herrschaft auflehnte. Mit ihm wurde im römischen Staat kurzer Prozess gemacht. Er konnte aufgrund poli­ zeilicher Vollmacht (coercitio) ohne förmliches Verfahren (cognitio) hingerichtet werden. „Selbst seine Strafe verursachen“ weist auf solche harten Repressionsmethoden zur Sicherung von Ordnung und Macht.82 Ein zweiter Kandidat für einen römischen Herrscher, dem in den Augen des Paulus legitime Autorität fehlt, könnte sein Nachfolger Claudius sein. Er konnte zwar nach Gaius Caligula wieder Ruhe herstellen, aber auch ihm wurde nach seinem Tode in Senecas Satire „Apocolocyntosis“ die religiöse Legitimität seines Kaisertums abgesprochen. Die Götter wollen ihn nicht in ihren Kreis aufnehmen. Er starb eines unnatürlichen Todes, vergiftet durch seine Frau Agrippina. Nero ließ (wohl am Anfang seiner Regierungszeit) einen großen Teil  seiner Gesetze als „die eines Unverständigen und Wahnsinnigen“ aufheben (Suet. Nero 33). Er konnte das kaum ohne Zustimmung derer tun, die am Anfang für ihn die Macht ausübten, d. h. ohne den Prätorianerpräfekt Burrus als Vertreter eines republikanisch legitimierten Amtes und Seneca. Auch Claudius fehlte in einem kleinen Kreis von Römern die von den Göttern verliehene Autorität. Aufgrund seiner Ausweisung von Juden(-christen) aus Rom 49 n. Chr. musste er unter Christen einen schlechten Ruf haben. Paulus erwähnt weder den von Römern und Juden abgelehnten Schurken Gaius Caligula, noch den zur Abfassungszeit des Römerbriefs in einigen Kreisen Roms umstrittenen Claudius mit Namen. Eigennamen sind in einer Paränese ohnehin fehl am Platz. Die faktische damnatio memoriae ließ den Namen des Gaius Caligula verschwinden. Er wird nirgendwo im Neuen Testament erwähnt, obwohl sein Vorgehen gegen den Tempel Christen und Juden tief irritiert haben muss. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei noch einmal betont, dass Paulus seine Mahnung in einer Art und Weise formuliert, die einschließt, dass alle, die sich den legitimen Autoritäten widersetzen, mit Gott in Konflikt geraten. Beim Lesen muss man daher in erster Linie an Rebellen „von unten“ denken. Aber er formuliert so, dass auch ein Usurpator „von oben“ unter sein Verdammungsurteil fallen könnte. Gaius Caligula hatte sich mit den legitimen Autoritäten des Senats angelegt. Deshalb war er gestürzt worden – von einem Prätorianerpräfekten, dessen Nachfolger zur Zeit des Paulus zusammen mit Seneca die legitime Herrschaft

82 Wenn man einmal mit der Möglichkeit rechnet, dass Paulus auch die Bestrafung von­ Tyrannen wie Gaius Caligula in 13,1–7 im Blick hat, bekommt der vorhergehende Kontext einen Hintersinn: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ‚Die Rache ist mein. Ich will vergelten, spricht der Herr‘“ (12,18 f). Das würde (zufälligerweise?) gut auf den Konflikt mit Gaius Caligula passen. Die Proteste gegen ihn waren gewaltlos. Er wurde schließlich beseitigt.

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im Römischen Reich ausübte.83 Wenn Paulus solche Ereignisse im Blick hat, ist es nachvollziehbar, wenn er schreibt, dass die Autoritäten auch „Gottes Diener zum Guten für dich“ sein können (13,4). Sie bekämpfen Unruhestifter und Gesetzesbrecher – aber beseitigen manchmal auch einen Tyrannen. Paulus begründet die Unterordnungspflicht damit, dass die (legitimen) Autori­ täten den Menschen dienen, indem sie das Gute loben und das Böse strafen. Furcht vor Strafe soll aber nicht das einzige Motiv zur Unterordnung sein, sondern auch das „Gewissen“.84 Zuvor redet Paulus die Leser im Singular (13,4), danach im Plural (13,6) an, spricht aber weder von „deinem“ noch von „eurem Gewissen“, während er sonst das Gewissen durch Genetivverbindung einer Person zuordnet. Unter 14 Belegen bei Paulus findet sich das „Gewissen“ nur viermal ohne Genitivverbindung – immer in der Wendung διὰ τὴν συνείδησιν (diá tē´n syneídēsin) (13,5; 1Kor 10,25.27.28). Paulus setzt voraus, dass bei dieser Wendung nicht klar ist, wessen Gewissen gemeint ist. Deshalb präzisiert er einmal: „Ich rede aber nicht von deinem eigenen Gewissen, sondern von dem des andern“ (1Kor 10,29). Daher könnte Paulus auch in 13,5 offen lassen, ob er nur das Gewissen der Christen meint oder auch das anderer Menschen, die „als Diener Gottes“, als ein διάκονος/diákonos (13,4) oder als λειτουργοί/leitourgoí Gottes (13,6) dienen. „Gewissen“ meint in 2,15 auf jeden Fall eine allgemeine anthropologische Instanz.85 Alle Menschen haben nach Paulus die Fähigkeit, die Forderung des Guten zu vernehmen. Menschen, die im Auftrag Gottes ihren Dienst eifrig betreiben (13,6), stellt sich Paulus gewiss nicht ohne solch ein moralisches Bewusstsein vor. Die beiden nebeneinander stehenden Motivationen einerseits „wegen des Zorns oder der Strafe“ (διὰ τὴν ὀργήν/diá tē´n orgē´n), andererseits „wegen des Gewissens“ (13,5) können sowohl auf Beamte als auch auf Beherrschte bezogen werden: „Zorn“ ist der Affekt dessen, der straft, wurde aber zu einem Begriff für die „Strafe“ selbst. Christen sollen die staatlichen Autoritäten nicht nur aus Furcht vor Strafe respektieren, sondern auch aus Respekt vor dem Gewissen der Beamten und vor der eigenen moralischen Überzeugung. Auch Seneca appelliert in seiner Lehre über das Herrschen an das „Gewissen“ des Herrschers.86 Falls un 83 Carter, Irony, deutet die Staatsparänese als Ironie, bei dem die Leser erkennen konnten, dass Paulus in Wirklichkeit das Gegenteil meint. Die staatlichen Autoritäten verhalten sich in Realität ja eben nicht so, dass sie das Gute fördern. Aber Paulus meint u. E., was er sagt. Unsere Auslegung ist vereinbar mit der Unterscheidung eines public transcript und eines hidden transcript bei Schreiber, Imperium Romanum. Der Leser darf zwischen den Zeilen lesen: Wenn alle politische Macht von Gott kommt, dann kann er sie auch wieder zurücknehmen. Wenn alle Macht das Gute fördern soll, dann wird sie verwerflich, wenn sie Böses tut. 84 Zur Interpretation des „Gewissens“ verdanke ich Anregungen der im Entstehen begriffenen Dissertation von K. Wagner, Das interaktive Gewissen bei Paulus, Diss. theol., Heidelberg ca. 2016. 85 Dazu tendiert auch Duchrow, Christenheit, 165: Er bezieht die Syneidesis auf jedermann, nicht etwa nur auf die Christen. 86 Nach Engberg-Pedersen, Politics, ist das in 13,1–7 vorausgesetzte Herrscherideal stoisch. Seneca hält es seinem Schüler Nero vor Augen: Es „bereitet Freude, zu betrachten und

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sere Deutung richtig ist, könnte Paulus in seiner Staatsparänese auch den Fall vor Augen haben, dass legitime staatliche Beamte aufgrund ihres Gewissens dem Guten z. B. dadurch dienen, dass sie Tyrannen wie Gaius Caligula aus dem Wege räumen. Das wäre nicht der in 1,29 angeprangerte Mord, sondern Ausübung der legitimen Schwertgewalt des Staates in 13,4. Oft wird ein zeitgeschichtlicher Bezug hinter der Steuerfrage vermutet. Paulus verlangt von Christen, dass sie entsprechend ihrer bisherigen Praxis Steuern (φόρους/phórous) zahlen (13,6). Neros Steuerpolitik war in der ersten Hälfte seiner Regierungszeit auf Proteste in Rom gestoßen, so dass er eine 58 n. Chr. angekündigte Steuersenkung nicht durchsetzen konnte.87 Die Proteste richteten sich gegen die indirekten Steuern (vectigalia), nicht gegen direkte Steuern (tributa), die im Römerbrief φόρους (phórous) genannt werden.88 Paulus denkt an alle Steuern und Abgaben, wenn er in 13,7 von Steuern (φόρον/phóron) und Zoll (τέλος/télos) spricht. Diese Abgaben betrafen nicht nur Christen. Speziell gegen Christen könnte allenfalls der Verdacht gestreut werden, sie würden nur aus Anpassung Steuern zahlen (Mt 17,24–27). Selbst Jesus stand im Verdacht, seinen Anhängern zu verbieten, dem Kaiser Steuern (φόρους/phórous) zu zahlen (Lk 23,2). Jesus musste die Lehre des Judas Galilaios zurückweisen, dass die Steuerzahlung an den Kaiser mit dem ersten Gebot nicht vereinbar sei (Mk ­12,13–17). Aber die Steuerzahlung wurde nur in Judäa und Galiläa grundsätzlich diskutiert. Paulus könnte diese Diskussion im Sinne haben, denn er bereitet sich ja auf eine Reise nach Jerusalem und Judäa vor. Vor allem aber war Paulus selbst einmal ein „Eiferer“ gewesen (Gal 1,14; Phil 3,6). Dazu gehörte manchmal auch die Steuerverweigerung. Paulus wird solche Tendenzen im Judentum zumindest ge-

ins Auge zu fassen ein gutes Gewissen (bona conscientia), sodann den Blick auf diese unermessliche Masse zu richten, uneinig, aufsässig, unbeherrscht, zu fremdem und eigenem Verderben gleichermaßen bereit, wenn sie dieses Joch zerbrochen hat, und so mit sich zu sprechen: Ich von allen Menschen habe gefallen und bin erwählt, auf Erden ein Gott zu sein? Ich [bin] den Völkern ein Richter über Leben und Tod; Los und Stellung eines jeden liegen in meiner Hand; was jedem Sterblichen das Schicksal geben lassen will, verkündet es durch meinen Mund. […] diese vielen Tausende Schwerter, die mein Friede ruhig hält, können auf meinen Wink gezogen werden“ (Sen. clem. I 1,1 f). Seneca betrachtet den Herrscher aus einer Perspektive von oben,­ Paulus von unten. 87 So Friedrich, u. a., Situation. Die Steuerprobleme werden schon zur Abfassungszeit des Römerbriefs (ca. 56 n. Chr.) spürbar gewesen sein: „Als im selben Jahr das Volk wiederholt Abhilfe verlangte für seine Beschwerden über die Unverschämtheit der Staatspächter, überlegte Nero, ob er nicht alle indirekten Abgaben aufheben lassen und so der Menschheit das schönste Geschenk machen solle. Aber nachdem man zunächst seine Großherzigkeit sehr gepriesen hatte, dämpften die älteren Senatoren seinen Eifer durch den Hinweis, es würde die Auflösung des Reiches bedeuten, falls die Einkünfte, von denen der Staat getragen werde, sich vermindern sollten: denn wenn die Zölle aufgehoben würden, sei die Folge, dass die Abschaffung der direkten Steuern gefordert würde“ (Tac. ann. XIII 50 f). 88 Vgl. Tac. ann. XIII 50; Suet. Nero 10,1; Krauter, Studien, 153 f.

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kannt haben. Er wusste, dass er leicht in den Verdacht geraten konnte, kein loyaler Staats­bürger zu sein. Seine persönliche Vorgeschichte könnte ihn für dieses Thema sensibel gemacht haben. Meist wird freilich nur damit gerechnet, dass seine Staatparänese allgemeine, nicht aber persönliche apologetische Züge hat. Minderheiten stehen immer unter Druck, ihre Loyalität zu Staat und Gesellschaft zu betonen, vor allem, wenn sie in ihrem Lebensstil abweichen. Nun wird Paulus kaum damit rechnen, dass sein Brief die Außenansicht auf die Christen beeinflussen kann. Er ist für die christliche Gemeinde bestimmt. Ihm liegt primär daran, dass sich die römische Gemeinde ein Bild davon verschaffen kann, welche praktischen Folgen er aus seinem Evangelium zieht. Daher leitet er die Paränese mit dem Satz ein: „Ich ermahne euch“ (12,1; anders 1Thess 4,1; Gal 5,1.13), und betont, dass er kraft seiner persönlichen Charis (χάρις/cháris) als Apostel schreibt (12,3 vgl. 1,5; 15,15). Dadurch erhält auch diese allgemeine Paränese einen persönlichen Akzent. Es könnte sein, dass sich Paulus in ihr indirekt verteidigt.89 Paulus war mit ethischen Kategorien angegriffen worden (3,8): Er lehre das „Böse“, damit das „Gute“ herauskomme. Schon 7,19.21 klingt wie die Gegenthese, dass er das Gute will, aber das Böse bewirkt. Danach begegnen Gut und Böse erst wieder in der Paränese (12,2.9.17.21; 13,3 f). Die Mahnung, man solle das Böse mit Gutem besiegen (12,21), ist eine perfekte Gegenthese zum Vorwurf in 3,8. Wenn Paulus danach die Funktion des Staates betont, das Gute zu loben und das Böse zu strafen (13,3 f),90 versichert er indirekt, er werde nichts gegen diese Maßstäbe lehren. Schon der Vorwurf in 3,8 hatte einen politischen Hintergrund. Wenn Paulus jüdische Traditionen außer Kraft setzte, widersprach er der Reli­gions­politik des Claudius und tat damit in den Augen des Staates wie der jüdischen Gemeinden etwas „Böses“. Obwohl „gut“ und „böse“ verbreitete Vokabeln sind, ist ihr Vorkommen in der Staatparänese bemerkenswert. Eigentlich sind „Gesetze“ der Maßstab politischen Handelns.91 Dass Paulus von „gut“ und „böse“ spricht, könnte durch die Vorwürfe in 3,8 bedingt sein, aber auch dadurch, dass er einen gemeinsamen Nenner für Gemeinde- und Staatsparänese braucht. Christen und Nichtchristen sind in gleichem Maße dem „Guten“ verpflichtet.92 89 Indem man andere strikt ermahnt, bestimmte Normen einzuhalten, kann man beweisen, dass man sie selbst ernst nimmt. Das ist keine künstliche Kommunikationssituation (so­ Krauter, Studien, 150), sondern eine verbreitete Strategie. Paulus hat Gründe, warum er nicht nur sein Evangelium, sondern auch seine Ethik den Römern darlegt. 90 Gemeint ist nicht das politisch Gewollte oder das Wohl des Staates, sondern das moralisch Gute. So mit Recht ebd., 195–201. 91 Vgl. ebd., 241: „Es ist auffällig, dass Paulus entgegen dem in der Antike sowohl im griechisch-römischen als auch im jüdischen Bereich Üblichen nicht das Gesetz – bzw. (die) Gesetze – als Maßstab nennt“. 92 „Gut“ und „böse“ sind zwar Allerweltsvokabeln, aber „gut“ kommt im Römerbrief häufiger vor (21x) als in den anderen echten Paulusbriefen (9x), „böse“ 14x im Römerbrief und 6x

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Das Motiv für diese indirekte Apologie, in der Paulus seine persönliche Staatsloyalität beteuert, ist leicht erkennbar. Die römische Gemeinde war 49 n. Chr. durch Ausweisung von Judenchristen durch Claudius in eine schwere Krise geraten. Ursache waren Spannungen zwischen Juden und Christen wegen der Christusverkündigung gewesen. Die römische Gemeinde musste daher einem Besuch des Paulus mit gemischten Gefühlen entgegensehen, da sein Wirken bisher in Thessaloniki, Korinth und Ephesus zu Konflikten mit Juden und politischen Autoritäten geführt hatte. Wie sollte sie jemanden bei seiner Spanienmission unterstützen, der im Ruf stand, die Ordnung des Römischen Reiches zu stören?93 Durch den Tod des Claudius am 13.10.54 n. Chr. hatte sich die Lage geändert. Die ersten fünf Jahre Neros, die Zeit unter Burrus und Seneca, wurden als eine gute Zeit erlebt. Offen war, ob die konservative Religionspolitik des Claudius fortgesetzt würde. Doch die von uns (und wohl auch von Paulus) vermuteten Befürchtungen der römischen Gemeinde waren nur allzu berechtigt. Paulus kam später als Gefangener nach Rom – angeklagt als Unruhestifter! Eigentlich wollte er in seinem Brief darauf hinarbeiten, in Rom ein beruhigtes Umfeld zu schaffen, um für seine Spanienmission Unterstützung zu finden.

3.3.4 Spanien als Missionsgebiet und Reiseziel Letztes Ziel seines Reiseplans ist Spanien im äußersten Westen des Reiches. Wenn Paulus sich am Anfang des Römerbriefes als Schuldner von Griechen und Barbaren,94 von Weisen und Nichtweisen (1,14) bezeichnet, denkt er bei den „Barbaren“ vielleicht an die Spanier. Für seine Missionsreise nach Spanien wirbt er um Unterstützung bei der römischen Gemeinde. Er macht widersprüchliche Aussagen über seine Reisemotive. Am Briefanfang beteuert er, wie sehr er sich danach sehne, die Römer um ihrer selbst willen zu besuchen (1,8–13), am Briefende fordert er, dass ihn die römische Gemeinde für seine Spanienreise materiell unterstützt, und es wird deutlich, dass er sie nicht um ihrer selbst willen besuchen wird (15,22–24). Am Anfang des Briefes kündigt er an, dass er in Rom das Evangelium predigen wird (1,15), an dessen Ende formuliert er als Grundsatz, er predige nur dort, wo Christus bisher nicht bekannt sei (15,20). Diese vermeintlichen Widersprüche sind leicht zu erklären. Sein Missionsgrundsatz, nur Neuland zu bearbeiten, leitet die Absichtserklärung ein, in Spanien zu missionieren – Spanien war für das Christentum in der Tat Neuland. Die Nutzung des Aufanderswo. Könnte das mit dem Vorwurf zusammenhängen, Paulus, würde das „Böse“ für das „Gute“ instrumentalisieren und die Grenzen zwischen „gut“ und „böse“ verwischen? 93 Vor allem Jewett, Hermeneia, 794, sieht einen Zusammenhang zwischen den Spanienplänen und der Versicherung politischer Loyalität bei Paulus. 94 Ebd., 131.

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enthalts in Rom als Zwischenaufenthalt findet so eine akzeptable Begründung. Dass Paulus Rom nur als Durchgangsstation besucht, sollen die Römer nicht als Geringachtung ihrer Gemeinde bewerten, da sein Reiseplan einem Grundsatz seiner Mission entspricht. Umgekehrt meint er mit der Predigtabsicht am Anfang des Römerbriefs keine gemeindegründende Missionspredigt. Denn bevor er seinen Wunsch äußert, in Rom zu predigen, hat Paulus deutlich gemacht, er wolle von den Römern und ihrem Glauben getröstet werden (1,12). Dadurch bestätigt er ausdrücklich die Existenz von Christen in Rom, so dass seine Verkündigung in Rom nicht als Missionsverkündigung verstanden werden kann. Dass er erst am Ende des Briefes seine Bitte konkretisiert, ist verständlich. Die römische Gemeinde war ihm unbekannt, auch wenn sie von ihm wohl schon gehört hatte. Er hatte Grund, vorsichtig aufzutreten. Er wirbt um Vertrauen für sich und seine Botschaft.

3.4 Die Intention des Römerbriefs: Pragmatische Absichten und theologische Rechenschaft Paulus verfolgt mit dem Römerbrief mehrere Absichten, die ineinander greifen,95 an erster Stelle eine missionarische Intention. Er will eine weltweite Mission bis Spanien vorbereiten. Durch diese Mission sollen Grenzen zwischen den Völkern überschritten werden: die Grenzen zwischen Juden und Heiden, um alle in der Verehrung des einen und einzigen Gottes zu vereinen. Er braucht dazu die Unterstützung der Gemeinde in Rom. In Bezug auf die Gemeinde in Rom hat er deswegen pastorale Absichten. Er will auch in ihr die Grenze zwischen Menschen aus verschiedenen Traditionen überwinden und interveniert deswegen in den Streit zwischen Starken und Schwachen. Denn sie wird ihn erst aus Überzeugung unterstützen können, wenn sie einen Konflikt in sich überwindet, in dessen Hintergrund Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen stehen. Er hat dabei aber nicht nur die römische Gemeinde im Blick, sondern auch die Jerusalemer. Der Brief hat nämlich die (kirchen-)politische Absicht, auch hier die Einheit von Juden- und Heidenchristen herzustellen – als Vorspiel einer durch den christlichen Glauben ermöglichten Einheit von Juden und Heiden in einem gemeinsamen Gottesdienst. 95 Wedderburn, Reasons, 140–142, spricht mit Recht von mehreren „Gründen“, Konfliktlösung und Theologie gehören zusammen. Das Evangelium des Paulus wird bei den einen in gesetzeskritischer Weise verschärft, stößt bei den anderen auf Widerstand. Diese Spaltung wolle Paulus überwinden, um in Rom Unterstützung beider Seiten für seine Aufgabe in Jerusalem und in Spanien und eine positive Aufnahme in der römischen Gemeinde zu finden.

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Immer aber verfolgt er auch eine persönliche Absicht. Er will Vorwürfe gegen ihn widerlegen, dass er die von ihm angestrebte Einheit von Juden und Heiden keineswegs überwindet, sondern ihre Gegensätze sogar verschärft, indem er jüdische Ethik und Riten diskreditiert. Paulus muss Vertrauen in seine Person schaffen. Das ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass er überhaupt etwas bewirken kann. Alle diese pragmatischen Absichten können aber nicht völlig erklären, warum Paulus eine Summe seiner Theologie schreibt. Deren Zusammenfassung in Gestalt eines Briefes mit unverkennbar literarischen Ambitionen soll ihn dort vertreten, wo er künftig abwesend sein wird: im Osten in seinen eigenen Gemeinden. Sie soll ihn dort sichtbar machen, wo er noch nie war, in der römischen Gemeinde. Sie soll darüber hinaus für alle Gemeinden eine theologische Grundlage sein. Ziel seiner Theologie ist die Durchsetzung des einen und einzigen Gottes bei allen Völkern, bei Juden und Heiden. Dieses Ziel weist über alle pragmatischen Zwecke hinaus. Solch ein Brief will auch in sich selbst sinnvoll sein – als persönliche Rechenschaft über sein Denken und Leben. Wir dürfen den schriftstellerischen Ehrgeiz des Paulus nicht unterschätzen.

3.4.1 Die missionarische Absicht des Römerbriefs Philip Vielhauer und viele andere sehen den primären Zweck des Römerbriefs in den Missionsplänen des Paulus: Der Intention, die Spanienmission vorzubereiten, verdanken wir, dass der Römerbrief geschrieben wurde. Dem Bestreben des Paulus, Missdeutungen der paulinischen Botschaft zu wehren, verdanken wir, was in diesem Brief geschrieben wurde. Briefzweck und Briefinhalt entsprechen einander.96 Paulus wirbt in 15,24 direkt für Unterstützung seiner Spanienmission. Indirekt tut er dies, indem er sein Evangelium gegen zwei Missverständnisse verteidigt. Die Öffnung für die Heiden bedeute nicht, dass man heidnisches Verhalten nach dem Motto übernimmt: „Lasst uns sündigen, denn wir sind nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“ (6,15). Konflikte mit Juden wegen der Heidenmission bedeuten nicht, dass Paulus ein Feind Israels ist; vielmehr dient seine Heidenmission der Rettung Israels (11,11–32). Paulus will zeigen, dass die Gemeinde ihn guten Gewissens unterstützen kann. Schon der Anfang des Briefes ist auf seine Person konzentriert. Paulus stellt sich ausführlich vor und formuliert sein Evangelium als persönliches Bekenntnis (1,16). Er will zeigen, dass es alle Menschen als Adressaten hat, Gebildete und Ungebildete, Heiden und Barbaren, Juden und Griechen (1,14.16). Sofern er sein Evangelium entfaltet, ist der Römerbrief sein sachlichster Brief, sofern er sein Evangelium dar-

96 Vielhauer, Geschichte, 184.

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legt, sein persönlichstes Schreiben. In 2,16 spricht er sogar explizit von „meinem Evangelium“.97 Aber auch sonst verbindet er den Begriff „Evangelium“ mit seiner persönliche Sendung (1,1.9.16; 10,16; 15,16.19).98

3.4.2 Die pastorale Absicht des Römerbriefs Paulus greift in Konflikte zwischen Juden- und Heidenchristen in Rom ein (11,17–24), die sich besonders im Streit zwischen Starken und Schwachen zeigen (14,1–15,13). Die Gruppen, die hier miteinander streiten und die Intervention des Paulus werden sehr unterschiedlich gedeutet. Eine Deutung sagt, eine judenchristliche Mehrheit habe der heidenchristlichen Minderheit das Recht zur Mission von Heiden bestritten; ihnen setze Paulus seinen christlichen „Universalismus“ entgegen, der sich vom „judenchristlichen Partikularismus“ unterscheide. Die Kapitel 9–11 wären dann der Höhepunkt des Briefes (Ferdinand Chr. Baur).99 Nach einer anderen Deutung handelt es sich um einen Konflikt zwischen der heidenchristlichen Mehrheit und einer judenchristlichen Minderheit. Paulus werbe bei der heidenchristlichen Mehrheit um Respektierung der judenchristlichen Minorität. Der Römerbrief wäre dann die erste Schrift gegen den christlichen Antijudaismus (Gottlob Schrenk).100 Eine dritte Variante lautet: Die Gemeinde habe in getrennten Gemeinden von Juden- und Heidenchristen existiert, weswegen Paulus keine einheitliche Ekklesia in seinem Briefpräskript anspreche. Er wolle beide Gemeindegruppen zusammenführen und die Judenchristen aus ihrer Bindung an die Synagoge lösen. Der Römerbrief zeige damit den Übergang von einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung zu einer Sekte, die sich vom Judentum abgrenzt (Francis Watson).101 Eine vierte Variante vertritt die entgegengesetzte These: Paulus schreibe im Römerbrief ausschließlich an Heidenchristen, die als Gottesfürchtige in der Synagoge lebten. Er will sie davon abhalten, sich in einer eigenen Gemeinde zu organisieren. In 13,1–7 appelliere er an sie, die Autoritäten in den Synagogen anzuerkennen, in 14,1–15,13 fordere er sie auf, die Speisetraditionen der anderen 97 Die Wendung von „meinem Evangelium“ wird in der sekundären Doxologie (16,25) aufgenommen und findet sich deuteropaulinisch auch in 2Tim 2,8. 98 11,28 ist keine Ausnahme. Paulus denkt auch hier an sein ihm persönlich aufgetragenes Evangelium, wenn er von der Feindschaft von Juden wegen des Evangeliums spricht. 99 So Baur, Zweck. 100 Schrenk, Römerbrief; Lütgert, Römerbrief. 101 So Watson, Judaism, der den Römerbrief als Dokument eines Übergangs deutet. Vom Resultat her gesehen, war es ein Übergang, damals aber war die Situation noch offen. Wir wollen zeigen, dass Paulus noch immer eine Öffnung des Judentums für seine heidenchristlichen Gemeinden erhofft, so dass Juden und Christen einmal gemeinsam Gott verehren werden.

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Juden zu respektieren. Die „Schwachen“ seien also Juden, die „Starken“ gottesfürchtige Heidenchristen in der jüdischen Gemeinde (Mark Nanos).102 Eine fünfte Variante bestimmt die Adressaten des Römerbriefs ebenfalls ausschließlich als Heidenchristen, sie sei aber aus zwei Gruppen zusammengesetzt: aus Gottesfürchtigen, die jüdisch sozialisiert sind (den Schwachen), und aus Heidenchristen, die ohne Vermittlung durch das Judentum in die christliche­ Gemeinde kamen (den Starken). Der Brief wolle Heidenchristen die Bedeutung jüdischer Traditionen für ihren Glauben nahebringen (A. Andrew Das).103 Eine sechste Variante sieht in der Überwindung interethnischer Konflikte zwischen Juden und Nicht-Juden allgemein die Absicht der Rechtfertigungsbotschaft, konkret aber in der Überwindung innerethnisch bedingter Spannungen zwischen heidenchristlichen Starken und judenchristlichen Schwachen. Der Römerbrief wolle eine transethnische Identität für alle Gemeindeglieder begründen (Philip Esler).104 Unsere Deutung folgt im Großen und Ganzen diesem Ansatz. Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen war für Paulus sicherlich von großer Bedeutung. Mit keinem anderen Problem beschäftigt er sich in zwei Briefen so ausführlich. Seine Intervention könnte im Römerbrief auch eine apologetische Absicht haben. Paulus war in den Ruf gekommen, dass er Gemeinden spalte. Im antiochenischen Konflikt hatte er auf der Freiheit von jüdischen Speiseregeln insistiert und die Spaltung einer Gemeinde riskiert (Gal 2,11–14). Später vertrat er in Korinth eine ausgleichende Position und verlangte von den Starken, das „Gewissen“ der „Schwachen“ zu respektieren und auf das Recht zu verzichten, jede Speise zu essen (1Kor 8–11,1). In 14,1–15,13 ermutigt er beide Seiten, zu ihrer Überzeugung zu stehen. Er argumentiert nicht mit dem „Gewissen“ der Schwachen. Alle sollen in Übereinstimmung mit sich selbst handeln. Was nicht aus Glauben oder innerer Überzeugung kommt, ist Sünde (14,23). Paulus hat zwar seine Meinung zu diesem Konfliktthema geändert, musste aber damit rechnen, dass sich seine unversöhnliche Haltung im antiochenischen Konflikt herumgesprochen hatte. Umso mehr will er den Eindruck vermitteln, er sei ein Mann des „Friedens“ (14,17; 15,13) – ebenso wie Gott ein „Gott des Friedens“ sei (15,33; 16,20). Am Beispiel des Konflikts zwischen Starken und Schwachen kann er zeigen, wie er zwischen Menschen vermittelt, die unterschiedlichen kulturellen und religiösen Normen folgen.

102 Nanos, Mystery; vgl. Nanos, Churches. Gegen seine bestechende Interpretation spricht, dass die Schwachen „schwach im Glauben“ sind (14,1) und damit der christliche Glaube gemeint ist. Denn auch für die Schwachen gilt, dass sie im Herrn leben und sterben (14,8) und dass der Herr eindeutig „Christus“ ist (14,9). Die Deutung von Röm 13,1–7 auf synagogale Autoritäten lässt sich nicht halten, vgl. Das, Solving, 146 f. 103 Das, Solving, bes. 261–264. Die Argumente, die gegen eine ausschließlich heidenchristliche Adressatenschaft sprechen, haben wir oben in 3.1 ausführlich diskutiert. 104 Esler, Conflict.

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3.4.3 Die (kirchen-)politische Absicht des Römerbriefs Paulus ging es nicht nur um den Frieden innerhalb der römischen Gemeinde, sondern bei seiner Jerusalemreise zugleich um die Einheit von Juden- und Heidenchristen auf der ganzen Welt.105 Diese war seit der gegen ihn gerichteten Gegenmission gefährdet. Der Römerbrief ist die Antwort des Paulus auf diese Gegenmission. Nachdem Paulus sie im Galater-, Philipper- und 2. Korintherbrief scharf bekämpft hatte, trat er im Römerbrief mit einem Plan an die innerchristliche Öffentlichkeit, die das Anliegen der Gegenmission aufgreift, aber in ganz anderer Weise zum Ziel bringt. Paulus will Juden und Christen nicht durch Rückkehr der christlichen Gemeinden ins Judentum vereinen, sondern durch eine Öffnung des Judentums für die christlichen Gemeinden. Er hat die Vision, dass Gott dafür sorgen werde, dass Christen und Juden gemeinsam Gott verehren (15,7–13). Diese Hoffnung lässt Paulus in einem sehr positiven Licht erscheinen. Er ist ein Reformator, der auch die Anliegen seiner Gegner aufgreift. Sie lässt ihn aber auch in einem tragischen Licht erscheinen. Denn er ist ein scheiternder Reformator. Die Trennung von Juden- und Christentum ging trotz des Römerbriefs weiter. Paulus hat gegen seine Absicht dazu beigetragen. Alle kirchenpolitischen Absichten des Römerbriefs sind vielleicht in einen allgemeinen politischen Kontext eingebettet. Angesichts wachsender Spannungen zwischen Heiden und Juden im Vorfeld des jüdischen Kriegs wirbt Paulus für ein friedliches Zusammenleben aller Völker – direkt in der christlichen Gemeinde, indirekt überall (Klaus Haacker).106 Die optimistische Sicht des römischen Staates in Röm 13 könnte nebenher den Zweck haben, das Imperium Romanum als Rahmen für eine Friedensordnung zu empfehlen. Auch diese politische Absicht des Römerbriefs wäre mit einem apologetischen Motiv verbunden. Paulus hatte oft Konflikte mit kommunalen und staatlichen Behörden. Der Brief soll die Befürchtung zerstreuen, Paulus sei politisch ein Unruhestifter.

3.4.4 Die literarische Absicht des Römerbriefs Trotz dieser pragmatischen Absichten, die alle auf der Beziehungsebene zwischen Paulus und seinen Adressaten liegen, ist Paulus auf der Sachebene intrinsisch hoch motiviert, seine Theologie zusammenzufassen. Sein Brief enthält seine Theologie mit einer Vision, die über alle pragmatischen Zwecke hinausweist und dadurch seinem Brief über seinen Gebrauchswert hinaus einen Eigenwert gibt, der ihn zu

105 Jervell, Brief; Noack, Current. 106 Haacker, Römerbrief.

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„Literatur“ macht.107 Seine Vision umfasst die ganze Welt und bewegt noch heute Menschen, daher gehört der Römerbrief zur „Weltliteratur“. Schon die Christen in Korinth hatten die große Qualität seiner Briefe gespürt, als sie Paulus zu verstehen gaben, dass seine Briefe „schwer und stark“ wirkten (2Kor 10,10), sein persönliches Auftreten – im Kontrast zu anderen wie Apollos (?) – dagegen schwach war. Sie vermissten bei ihm „Weisheit“. Und schon in 1Kor 2,6–16 hatte Paulus demonstriert, dass er sehr wohl „Weisheit“ für Vollkommene bietet. Jetzt aber zeigt er in seiner Summa Evangelii,108 dass er mit den Weisen dieser Welt konkurrieren kann. Sein Brief ist länger als übliche Briefe, so lang wie sonst nur literarische und philosophische Briefe.109 Paulus behandelt systematisch die wichtigsten Themen seiner Theologie. Nur das Abendmahl spricht er nicht an – vielleicht, weil das eine Gemeinschaft voraussetzen würde, die er erst durch den Römerbrief schaffen will.110 Möglicherweise stellt er sich die Verlesung des Römerbriefs als Teil des Gottesdienstes vor, dem das Abendmahl folgt. Liturgische Signale, die während des Verlesens die Erwartung wecken, dass unmittelbar danach die Feier des Abendmahls beginnen soll, könnten da nur stören. Oder gibt es noch einen tieferen Grund für dessen Ausklammerung? Riten grenzen Gruppen gegeneinander ab. Paulus verfolgt im Römerbrief aber die Vision einer rituellen Öffnung des Gottesvolkes für alle Menschen. Er wirbt daher um eine Voraussetzung für solch eine offene Gemeinschaft, nämlich um Toleranz im Umgang mit Speisetabus. Damit plädiert er indirekt für eine Öffnung der Mahlgemeinschaft. Das Abendmahl passt in seiner ausgrenzenden Funktion nicht zu dieser Vision. Ein im Geiste der Versöhnung zwischen Starken und Schwachen gefeiertes Abendmahl würde Fremde nicht aussschließen, wenn sie teilnehmen wollen. Zur literarischen Absicht des Römerbriefs gehört auch, dass Paulus eine konsensfähige Theologie gerade deswegen vorlegen will, weil er so umstritten war. Dazu beruft er sich auf die gemeinsamen Grundlagen des christlichen Glaubens. Mehr als in anderen Briefen zitiert er die von allen anerkannte Bibel, das Alte Testament. Nur in Röm 6–8 fehlen weitgehend alttestamentliche Zitate. Deswegen knüpft er im ganzen Römerbrief an urchristliche Formeln und Bekenntnisse an. Seine Theologie ist Auslegung von Tradition.111 Die wichtigsten bei Paulus nachweisbaren urchristlichen Traditionen sind jeweils in einer Variante im Römerbrief präsent oder werden in ihm vorausgesetzt. Manchmal leiten sie Teile des Römer 107 Theissen, Entstehung, 17–19. 108 Lohse, Summa Evangelii. 109 Charakteristisch für literarische Briefe ist, dass sie kleine Traktate sind und oft in Briefsammlungen veröffentlicht werden. Beispiele sind die Briefe Platos, Epikurs oder Senecas an Lucilius. Muss Paulus nicht als Anregung solche literarischen Briefe vor Augen gehabt haben? Vgl. Theissen, Entstehung, bes. 106 f. 110 Mit den Korinthern stand er in Abendmahlsgemeinschaft und konnte daher im 1Kor Probleme des Abendmahls offen ansprechen. 111 Conzelmann, Paulus.

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briefs ein (1,3 f; 3,25; 6,2–4), manchmal finden sie sich aber auch mitten in den Textabschnitten. Die folgende Darstellung gibt einen Überblick über die wichtigsten christologischen Formeln des Paulus und ihr Vorkommen im Römerbrief: Tab. 6: Christologische Formeln im Römerbrief Tod

Auferweckung

Dahingabeformel:

Sterbeformel:

Auferweckungsformel:

Sohn

Christus

Kyrios

Röm 8,32 (Gal 2,20; Gal 1,4)

Röm 5,8; 14,15 Sühneformel: Röm 3,25 (1Thess 5,10; 1Kor 8,11)

Röm 10,9 Röm 4,24 (2Kor 4,14)

Röm 4,25:

1Kor 15,3–5 klingt in Röm 6,1–11 an:

Jesus unser Kyrios welcher ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt

Christus ist gestorben für unsere Sünden nach der Schrift und begraben und auferstanden am dritten Tag nach der Schrift und erschienen …

Mit diesem Werben um Konsens verbindet Paulus die Wiederaufnahme von Themen aus älteren Briefen. Das gilt besonders für den Galaterbrief, der dem Römerbrief als „Skript“ zugrunde liegt. Paulus formuliert im Römerbrief noch einmal in ausgewogener Weise neu, was er dort polemisch gesagt hatte. Die folgende Übersicht zeigt, wie einzelne Themen und die Struktur des Galaterbriefes im Römerbrief wiederkehren (s. Tab. 7). Der Vergleich zeigt, dass der Römerbrief den Galaterbrief fortsetzt und revidiert.112 Eine Fortsetzung ist, dass die in Gal 1–2 zugrunde liegende biographische Anordnung der Themen im Römerbrief noch konsequenter durchgeführt 112 Vgl. Theissen, Entstehung, 126 f.127 f. Aus der Strukturverwandtschaft von Galaterund Römerbrief kann man nicht schließen, Paulus habe den Galaterbrief unmittelbar vor dem Römerbrief geschrieben. Die eigenhändige Unterschrift des Paulus in Gal 6,11 zeigt, dass er den Galaterbrief wie eine Urkunde behandelt; die aber wurde immer an beide Parteien ausgestellt. Vermutlich besaß er daher eine Abschrift des Galaterbriefes. Er musste nicht nur auf sein Gedächtnis zurückgreifen. Zudem revidiert Paulus im Römerbrief Gedanken des Galaterbriefs. Das setzt einen gewissen Zeitabstand voraus.

Die Intention des Römerbriefs

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Tab. 7: Der Galaterbrief als Skript des Römerbriefs Themen und Aufbau des Galaterbriefes

Themen und Aufbau des Römerbriefes

1. Der biographische Teil Gal 1–2 Die Berufung des Paulus durch Gott und seine Anerkennung durch die Apostel legitimiert die Botschaft des Paulus in doppelter Weise. Paulus lässt drei Stadien seiner Entwicklung erkennen: Seine Zeit vor der Wende, die Zeit seiner ersten Mission, seine theo­ logische Position in Konflikten in ­ Jerusalem und Antiochien.

Röm 1,1–3,20 Paulus ist von Gott zum Apostel berufen mit einem Auftrag für die ganze Welt. Die Menschheitsgeschichte und das universale Unheil von Juden und ­ Heiden treten an die Stelle der Bio­ graphie des Paulus. Oder bleiben in ihr verborgen Grundzüge seiner Entwicklung ­erkennbar?

2. Der systematische Teil Gal 3–4 Entfaltung der These: Rechtfertigung geschieht aus Glauben ohne Werke (Gal 2,15–21).

Röm 3,21–31 Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes wird in der These zusammengefasst: Rechtfertigung geschieht aus Glauben ohne Werke (3,28).

Gal 3,6–29 + 4,21–31 Diese These wird durch eine zwei­fache Behandlung des Abrahambeispiels (in Gal 3 und 4) bewiesen: Paulus rekurriert auf seinen Gründungsbesuch ­(3,1–5), dann auf seinen zweiten Besuch ­(4,12–20).

Röm 4,1–25 + 9,6–8 Im Röm begegnet diese zweifache Verwendung des Abrahambeispiels in Röm 4 und 9: Röm 4 rekurriert auf die große Wende der Weltgeschichte, Röm 9 auf die dadurch entstandene Spaltung.

Abraham ist Verheißungsträger für das Heil der Heiden. Er begründet die Einheit von Juden und Heiden in Christus. Der Begriff „Sperma“ wird singularisch auf Christus gedeutet (Gal 3,16). Dadurch gelten nur Christen als Nach­kommen Abrahams.

Abraham ist in Röm 4 Stammvater aller Glaubenden unter Juden und Heiden und leiblicher Stammvater aller Juden. Der Röm revidiert den Gal, indem er durch die pluralische Deutung von „Sperma“ den Juden die Abrahamskindschaft wieder ausdrücklich zuspricht.

Während die erste Verwendung des Abrahambeispiels die Einheit aller Nachkommen betont, so die zweite ihre Spaltung: Abraham ist Stammvater zweier feindlicher Söhne: Ismael verfolgt Isaak. Das erklärt den Gegensatz von ­ Juden und Christen (Gal 4,21–31). Im Gal ist kein versöhnliches Ende dieses Konflikts erkennbar.

Ebenso wird in Röm 9 an den beiden Söhnen Abrahams der Unterschied zwischen Erwählung und Nicht-Erwählung gezeigt. Der Röm revidiert die Aussage des Gal: Zwischen Juden und Christen bleibt keine Feindschaft, am Ende wird ganz Israel für Christus gewonnen und gerettet (11,26).

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Konflikte im Imperium und im Christentum 

Gal 3,26–29 Heidenchristen werden durch die Taufe Kinder Abrahams: Damit Abrahams ­ Segen durch seinen „Nachkommen“ (= Christus) allen Heiden zugutekommt, müssen alle mit Christus identifiziert werden. Alle haben durch die Taufe Christus angezogen (Gal 3,27). Alle sind in ihm eine Person.

Röm 6,1–11 Die Taufe folgt auch in Röm 6 (unterbrochen durch andere Themen) dem Abrahambeispiel in Röm 4. Die Taufe betont nicht die Einheit aller Christen, sondern der Verwandlung des ganzen Menschen: Er stirbt mit Christus und beginnt mit ihm ein neues Leben.

Gal 4,1–6 Sendung und Geistverleihung folgen in Gal 4,1–6. Durch den Geist und die Sendung des Sohnes werden unmündige Kinder zu Erben. Der Geist befähigt dazu, Gott als Abba anzurufen (Gal 4,6).

Röm 8,1–17 Der Sendung des Sohnes (8,3 f) folgt die Verleihung der Sohnschaft und des Geistes, der dazu befähigt, Abba zu rufen, und die Erbschaft verbürgt (8,12–17).

3. Der paränetische Teil Gal 5,13–6,10 Die Paränese wird zusammengefasst im Liebesgebot. Die Erfüllung dieses einen Gebots ist ausreichend. Mit ihm ist das Gesetz „qualitativ“ erfüllt (Gal 5,14). Im Galaterbrief folgt das Liebesgebot auf einen wiederholten Aufruf zur Freiheit (Gal 5,1.13).

Röm 12,1–15,13 Auch im Röm ist das Liebesgebot (12,9–21; 13,8–10) Zusammenfassung der Paränese, mit ihm werden „qualitativ“ alle anderen sozialen Gebote erfüllt. Es erfolgt kein Aufruf zur Freiheit, sondern zur Unterordnung unter staatliche Autoritäten (13,1–7).

Das Liebesgebot wird u. a. konkretisiert durch die Mahnung zur Rücksicht auf Schwächere: Wenn Pneumatiker einen Bruder bei einer Verfehlung ertappen, sollen sie rücksichtsvoll miteinander umgehen: „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2).

Diese Rücksicht wird in der Mahnung an Starke und Schwache erneut aufgegriffen. Beide sollen einander annehmen, wie Christus sie angenommen hat (15,7).

wird, wie wir noch zeigen wollen. Eine Revision ist es, wenn der Konflikt mit Israel durch die Hoffnung auf dessen Rettung ersetzt wird; wenn der Galaterbrief das Gesetz als „Zuchtmeister“ auf Christus hin befristet (Gal 3,25), der Römerbrief dagegen (nach einer umstrittenen Deutung) Christus zum „Ziel des Gesetzes“ erklärt (10,4) oder wenn in Gal 6,16 Christen (wahrscheinlich) das „Israel Gottes“ sind, in Röm 9–11 aber mit „Israel“ alle Juden gemeint sind. Diese Revisionen machen es schwer, den Galaterbrief unmittelbar vor den Römerbrief zu datieren. Zwischen beiden Briefen hat sich Paulus weiterentwickelt. In den vom Galaterbrief vorgegebenen Aufriss hat Paulus Themen aus den Korintherbriefen eingebaut, die Adam-Christus-Typologie (1Kor 15/Röm 5), das Bild

Die Intention des Römerbriefs

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vom Leib Christi (1Kor 12/Röm 12) und die Mahnung an Starke und Schwache (1Kor 8–10/Röm 14–15), dazu die Formel vom tötenden Buchstaben und Leben schaffenden Geist (2Kor 3,6), die er zweimal im Römerbrief bringt (2,29 und 7,6). Ebenso greift er in 5,10 f das Thema der Versöhnung aus 2Kor 5,13–21 auf: Gott hat in Christus die Welt versöhnt. In 5,10 f korrigiert er damit die Vorstellung vom „Sühnetod“ Jesu, der den Zorn Gottes überwindet (3,25). Versöhnung meint, dass Gottes Zorn nicht nur beschwichtigt wird, sondern dass Gott aktiv den feindlich gesonnenen Menschen für sich gewinnen will. Da Paulus den Römerbrief in Korinth schreibt, kann man annehmen, dass er dabei das Gespräch mit der korinthischen Gemeinde fortsetzt.113 Paulus fasst für den Fall, dass er sein Missionswerk nicht weiterführen kann, Grundzüge seiner Theologie zusammen. Er hatte spätestens durch seine Briefe an die Korinther seine Fähigkeit erkannt, mit Briefen auf seine Gemeinden einzuwirken. Dort wo er abwesend sein wird, soll der Römerbrief seine Anwesenheit ersetzen. Daher kann man ihn das „Testament des Paulus“ nennen, obwohl er erst durch die weiteren Ereignisse zu einem Testament geworden ist (G. Bornkamm).114 Paulus hoffte zur Abfassungszeit des Römerbriefs noch auf sein Weiterleben angesichts der Möglichkeit seines Todes. Der Römerbrief ist also ganz gewiss eine „Rechenschaft“ über sein Wirken und seine Theologie (E. Lohse). Er hat den Charakter einer Zwischenbilanz seiner Theologie und seines Lebens, aber er wirkt oft auch wie eine „Programmschrift“ für die Zukunft des Judentums und Christentums.115 In unserer Auslegung des Römerbriefs wollen wir zeigen, dass der Römerbrief all das ist und noch weit mehr. Er ist die Rechenschaftsablage eines Reformators, der über alles hinaus, was er schon erreicht hat, ein unerfülltes utopisches Ziel hat, nämlich alle Völker für die Verehrung des einen und einzigen Gottes zu gewinnen. Paulus wollte keine neue Religion gründen, sondern die jüdische Religion so reformieren, dass sie sich für alle Menschen öffnet. Jerusalem ist für ihn nach wie vor das kultische Zentrum seines Glaubens. Das Gesetz ist für ihn nach wie vor im Kern gültig. Das Volk Gottes lebt für ihn nach wie vor aus den Erinnerungen der alttestamentlichen Geschichte. Der eine und einzige Gott ist und bleibt ohnehin das Zentrum, auf das sich alles ausrichtet. Paulus will jedoch Tempel, Gesetz, Gemeinde und Gottesbild so verändern, dass Heiden leichter den Zugang zu Gott finden und in die Gemeinde Gottes aufgenommen werden können. Er will, dass sie das Gesetz nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist nach praktizieren und den Jerusalemer Tempel als ihr Heiligtum betrachten dürfen. Wie alle Reformatoren muss er sich für Neuinterpretationen auf die Tradi 113 Hartwig/Theissen, Gemeinde. 114 Bornkamm, Römerbrief; die Weiterführung dieses Ansatzes bei Reichert, Gratwanderung. 115 Lohse, Rechenschaft, 45–48.

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Konflikte im Imperium und im Christentum 

tion berufen, sie aber faktisch gegen ihren wörtlichen Sinn verändern. Grundsätzliche Treue zur Tradition zum Zwecke ihrer Überwindung ist das Dilemma aller Reformatoren. Der Römerbrief ist daher nicht nur eine rückwärts gerichtete Rechenschaft über das bisher Erreichte, sondern eine nach vorne gerichtete Utopie. Er formuliert ein Programm, auch wenn er es nicht allein durch sein Handeln verwirklichen kann. Er formuliert einen Überschuss, der bis heute nicht eingelöst ist: Dass der eine und einzige Gott der Gott aller Menschen ist und dass er jeden Menschen ganz beansprucht. Dieser Überschuss kann kaum mit abstrakten Worten und Gedanken erfasst werden. Paulus vermittelt ihn durch Bilder und Metaphern. Ihnen wenden wir uns im nächsten Kapitel zu.

4. Kapitel: Theologische Bilder im Römerbrief Eine bildsemantische Lektüre

Theologie vollzieht sich nicht nur in Gedanken, sondern ebenso in Bildern. Gerade in religiösen Texten finden wir viele Bilder, vor allem Metaphern und Symbole.1 So enthält auch der Römerbrief eine reiche Bilderwelt.2 „Vieles“, so Michael Theobald, „hätte Paulus ohne diese Bildelemente wahrscheinlich gar nicht angemessen sagen können!“3 Die paulinischen Bilder sind nicht „nur“ belangloses Ornament einer rationalen Gedankenführung, sie haben in sich selbst argumentative Kraft: Sie transportieren Gedanken, lösen Assoziationen, Emotionen und Motivationen aus. Sie sind nicht eindimensional, sondern sprechen, wie schon die antiken Rhetoriker und Paulus wussten, den ganzen Menschen an  – seine­ kognitive und emotionale Seite wie die pragmatische Dimension seines Handelns. Es lohnt sich, sie genauer zu betrachten, und zwar nicht für sich, sondern in ihrem textuellen und assoziativen Kontext. Häufig stehen sie im Römerbrief nicht allein, sondern treten in Kombination auf. Im Kontext verwandter Bilder können selbst verblasste Bilder erneut metaphorische Kraft gewinnen und so „re­metaphorisiert“ werden.4 Zudem entstammen sie oft bestimmten Bildfeldern oder Bildkreisen,5 sind also mit sinnverwandten Bildern verbunden, die 1 Zur Unterscheidung verschiedener Formen von Bildern vgl. v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 1–19 zur Metapher, 19–31 zur Abgrenzung von Symbol und Allegorie. Bei Metaphern nehmen Wörter eine übertragene „bildliche“ Bedeutung an, bei Symbolen (wie Ehering und Kreuz) reale Gegenstände. Allegorien erfordern einen Code, um sie zu verstehen, während Metaphern und Symbole verständlich sind. Bei solchen idealtypischen Unterscheidungen gibt es in der Realität immer Übergänge und Mischformen. 2 Zu paulinischen Bildern vgl. v. a. Straub, Bildersprache; Williams, Metaphors. 3 Theobald, SKK 6/1, 190, ähnlich die Wertung von Esler, Conflict, 298: „Usually […] rather than the image [sc. of Paul] being subordinate to his thought, it offers a clearer sense of his meaning and helps us to resolve difficulties and ambiguities in the thought“. Dass wir bei Paulus – anders als in der Jesustradition – keine narrativ entfalteten Gleichnisse finden, mag in der Makrogattung „Brief “ begründet sein, vgl. auch Siegert, Argumentation, 186. Ganz anders die negative Wertung von M. Crüsemann: „Bilder sind nicht immer seine (sc. Paulus) Stärke […] es ist möglich, dass die Welt des Bildes die Botschaft verdunkelt“ (Crüsemann, Sklaverei, 59). Eine negative Wertung finden wir schon bei Bultmann, Diatribe, 80.88.92. 4 Ein Beispiel: Bei dem Begriff „Tischbein“ denkt jeder an Teile eines Tisches, niemand denkt an ein lebendiges „Bein“. Sagt man aber: „Der Tisch kann uns nicht weglaufen“, dann weckt die Vorstellung vom „Weglaufen“ beim „Tischbein“ den ursprünglichen Bildgehalt. Der Begriff „Bein“ wird remetaphorisiert. 5 Zur Bildfeldtheorie vgl. v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik (mit weiterführender Literatur). Theobald, SKK.NT 6/1, 192 spricht von „Bildkreis“.

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Theologische Bilder im Römerbrief

z. B. aus der Sphäre der politischen Herrschaft oder des Oikos (des Hauses) stammen. Diese Bildfelder geben einem im Brief verwendeten Bild sein spezifisches Profil. Über die Einzelbilder hinaus ist also ein Blick auf die virtuellen (assoziativen) Strukturen eines Bildfeldes und den textuellen Kontext im Brief vielversprechend: Häufig stehen die Bilder an gewichtigen Punkten des Römerbriefes. Ihre Aufeinanderfolge hat eine innere Logik und Struktur. Ihre Wiederkehr in v­ ariatio ist bedeutsam. Eine Untersuchung der metaphorischen Logik und Struktur6 zeigt: Der Römerbrief beginnt mit Bildern für Gott, die aus dem öffentlichen Leben stammen. Wir begegnen hier einer Machtmetaphorik: Gott erscheint in der Rolle des Königs, Richters und Priesters. Christus ist ein Königssohn aus dem Geschlecht Davids, der zum Weltenherrn aufsteigt. In Röm 6–8 wird die Verwandlung des Menschen vor allem mit einer familiären Oikos-Metaphorik dargestellt, d. h. mit Bildern des antiken Hauses (des Oikos), das aus Mann, Frau, Kindern und Sklaven besteht: Der Herrenwechsel des Sklaven, die zweite Ehe der Frau, die Adoption des Sohnes – diese Bilder bezeichnen eine Transformation des Menschen, bei der die korrespondierende Rolle Gottes als Hausherr im Hintergrund bleibt. In der Darstellung dominiert die Perspektive der menschlichen Rolle. Den Israel­ teil (Röm 9–11) dominieren dagegen Bilder für Gott, die alltäglichen Berufsrollen entsprechen: Gott verwandelt sich vom Töpfer zum Gärtner. Der Mensch wird dabei aus der Perspektive Gottes gesehen, wie die vielen alttestamentlichen Zitate zeigen, in denen Gott den Menschen direkt im Ich-Stil anredet. Im Gewebe des Textes kehren manche Bilder immer wieder. So begegnen in fast allen Teilen Gerichtsbilder für die Situation des Menschen vor Gott. Vor allem im paränetischen Teil und dem Schluss des Römerbriefes klingt eine Polyphonie von Bildern aus dem ganzen Römerbrief nach. Die Wiederkehr der Bilder oder ihre Folge signalisiert oft eine Veränderung, sei es eine Veränderung Gottes oder des Menschen. Dabei sind parallele Aussagen über Gott und Mensch von besonderem Interesse, darunter auch psychomythische Parallelismen, wenn etwa vom objektiven Gericht Gottes die Rede ist (2,1–11) und unmittelbar danach vom internen Gericht des Gewissens in jedem Menschen (2,12–16). Durchgehend finden wir eine Parallele in den Aussagen über Gottes Zorn und menschliche Aggressivität, Gottes Liebe und menschliche Liebe.7



6 Vgl. Theissen/v. Gemünden, Metaphorische Logik. 7 Vgl. v. Gemünden, Gottesbild.

Politische Bilder: König, Richter, Priester

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4.1 Politische Bilder: König, Richter, Priester In der Antike lassen sich die Rollen von König und Richter nicht trennen. Herrscher waren zugleich die obersten Richter. Ihre Funktionen als König und Richter standen in Spannung zueinander: Das Recht ist auf Macht angewiesen, um sich durchzusetzen, soll gleichzeitig aber Macht begrenzen.8 Deswegen werden beide manchmal von verschiedenen Personen vertreten – sowohl in der Realität als auch in der religiösen Symbolwelt. So erscheinen neben Gott hin und wieder Beauftragte, die in seinem Namen in der Endzeit das Richteramt ausüben: Der Menschensohn soll das Gericht Gottes durchführen (1Hen 36–71), der Messias die Stämme Israels richten oder regieren (PsSal 17). Auch der Römerbrief proklamiert einen von Gott eingesetzten endzeitlichen Messias, der aber sein Volk nicht von Fremdherrschaft befreien soll, sondern alle Menschen von Sünde, Gesetz und Tod. Anders als die Funktionen von König und Richter wurde das König- und Priestertum in Israel immer wieder getrennt und wieder verbunden: Trennung begrenzte ihre Macht, Vereinigung stabilisierte sie. Durch das Nebeneinander von Mose und Aaron bzw. David und Zadok war die Trennung in der Tradition vorgegeben.9 Aber als die Juden wieder einen eigenen Staat bilden konnten, vereinte der Hasmonäer Simon (143–134 v. Chr.) das Amt des Ethnarchen und Hohepriesters  – vorläufig bis zum Kommen eines Propheten. Sein Nachfolger Johannes­ Hyrkan (134–104 v. Chr.) beanspruchte auch das Amt des Propheten und signalisierte so, dass für ihn die Vereinigung aller Ämter endgültig war.10 Die Herodäer mussten das Priester- und Herrscheramt wieder trennen, da sie aus keiner legitimen Priesterfamilie stammten. Der Priester hatte andere Aufgaben als der König: Er musste für das Heil der Gemeinschaft sorgen, auch durch Sühnopfer für die Sünden des Volkes. Der Römerbrief verkündigt, dass der Messias selbst dieses Sühnopfer ist – nicht nur für die Sünden des Volkes, sondern für die Sünden aller Menschen. Zu einem Gegengewicht gegen das Königtum hatte sich das Prophetentum entwickelt. Königs- und Prophetenrecht bildeten eine Machtbalance (Dtn 17,14–20; 18,9–22). Dass die Propheten ein Gegengewicht zur Macht wurden, zeigen die Konflikte zwischen David und Nathan, Ahab und Elia, Jerobeam und Amos. Auch im 1. Jh. v. Chr. traten Propheten auf, die in verschiedener Weise eine Op 8 So schon V. Pöschl in einer Untersuchung der Geschichtswerke des Sallust (Pöschl, Grundwerte). 9 Mose galt in der jüdischen Tradition oft als Idealherrscher (Philo Mos. 1,149 f). Als Idealherrscher vereint er nach Philo das Königtum mit dem Priester- und Prophetentum (Philo Mos. 2,2–7). 10 Dagegen gab es Opposition: Die Qumrangemeinde erwartete zwei Messiasse, einen­ königlichen und einen priesterlichen (1QS IX,11; CD XII,23–XIII,1; XIV,18; XX,1).

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Theologische Bilder im Römerbrief

position verkörperten: Johannes der Täufer, ein samaritanischer Prophet, Theudas und viele andere. Im Römerbrief tritt Paulus selbst in die Rolle des Propheten: Er ist „ausgesondert“ für seinen Auftrag (1,1 vgl. Jes 49,1; Jer 1,5). Er ist der Freudenbote, der Jerusalem Heil verkündigt (10,15 vgl. Jes 52,7). Und auch Jesus wird einmal von ihm in die Reihe der Propheten eingereiht (1Thess 2,15). Die drei Rollen von König, Richter und Priester greifen im Römerbrief inein­ ander über: Politische Bilder am Anfang des Briefes zeigen Gott als Herrscher. Er beauftragt Jesus mit der Weltherrschaft und zeigt seinen „Zorn“ über die Sünde durch eine „strafende Gerechtigkeit“ (1,18–32). Dann erscheint er als Richter, der in „unparteiischer Gerechtigkeit“ im Jüngsten Gericht über jeden einzelnen urteilt (2,1–16). Schließlich verwandelt er sich in einen Priester, der durch „parteiische Gerechtigkeit“ Heil schafft, indem er Jesus zur Sühne für die Sünden bestimmt (3,25). Bei der Darstellung dieser Wende zum Heil greifen drei Bildfelder ineinander: Bilder des priesterlichen Sühnekults, der juridischen Stellvertretung und der politischen Diplomatie. Wichtig ist: Gott handelt als König, Richter und Priester immer zusammen mit seinem Repräsentanten. Neben dem Weltherrscher steht der mit der Weltherrschaft beauftragte Jesus (1,3 f), neben dem Richter urteilt Jesus im eschatologischen Gericht (2,16). Auffallend ist, dass Gott als Priester Jesus zur „Sühne“ opfert (3,25). Das in der Realität überwundene Menschenopfer wird in der religiösen Bilderwelt reaktiviert und durch die Auferstehung überwunden.

4.1.1 Herrschaftsmetaphorik im Römerbrief Die ersten beiden Teile des Römerbriefs (1–5) sind durch Herrschermetaphorik bestimmt: Der Brief beginnt mit der Proklamation des jüdischen Messias, der von den Propheten geweissagt wurde und als Weltenherr über alle Völker herrschen soll (1,1–7). Zur politischen Metaphorik gehören die dann folgenden Aussagen über die „Gerechtigkeit Gottes“: Gott setzt in der Welt wie ein machtvoller König seine Rechtsordnung durch und macht dabei zwischen Heiden und Juden keinen Unterschied (1,16 f). Er erhebt einen universalen Anspruch. Der Inhalt des Römerbriefs wird mit dem Begriff „Evangelium“ in 1,16 f zusammengefasst. Dieser Begriff hat zwei Ursprünge: einerseits den Freudenboten Deuterojesajas, der durch das Partizip ὁ εὐαγγελιζόμενος/ho euangelizómenos bezeichnet wird (Nahum 2,1LXX; Jes 40,9LXX; 52,7LXX), andererseits hellenistische Herrscherrhetorik, in der das Substantiv εὐαγγέλια (euangélia im Plural) zu Hause ist.11 Der alttestamentliche Freudenbote verkündigt das Ende des Exils, die hellenistischen euangélia verbreiten die Nachricht von Geburt und Erfolgen 11 Die wichtigsten Belege sind die Kalenderinschrift von Priene (OGIS 458 bei Schreiber, Weihnachtspolitik, 122–127), dazu die „Evangelien“ vom Aufstieg des Vespasian bei Josephus

Politische Bilder: König, Richter, Priester

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von Herrschern.12 Der Inhalt ist hier wie dort politisch. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind aber auch private Nachrichten, Botenlohn und Opferfeiern nach guten Nachrichten euangélia.13 Paulus bezeichnet seine mündliche Missionsverkündigung als „Evangelium“.14 Obwohl dieser Begriff bei ihm ohne politische Konnotationen ist, wird er im Kontext anderer Bilder manchmal politisch remetaphorisiert: In 1Kor 15,1–8 erinnert Paulus die Korinther an das „Evangelium“ von Christus, an seinen Tod und seine Auferstehung. Im folgenden Kontext kündigt Paulus dann die „Parusie“ und den Herrschaftsantritt „des Christus“ an (1Kor 15,23.25). Da der Begriff „Parusie“ in der antiken Herrschaftsrhetorik die Ankunft eines Herrschers bezeichnet, kann hier an den politischen Konnotationen von „Evangelium“ kein Zweifel bestehen.15 Auch in Röm 1,1–7 finden wir politische Assoziationen: Inhalt des Evange­liums ist ein Nachkomme aus dem Königshaus Davids, der von Gott zum Sohn Gottes erhöht wurde. In seinem Auftrag soll Paulus als Legat „alle Völker zum Gehorsam des Glaubens“ bringen. Er kündigt einen Weltherrscher an, der nicht durch militärische Macht, sondern durch das Wort des Evangeliums herrschen will. Paulus kommt am Ende des Römerbriefs noch einmal auf diese Erwartung zu sprechen, wenn er mit Jesaja 11,10 einen Nachkommen der Davididen (aus Isais Stamm) erwartet, der „über die Heiden herrschen wird, auf den die Heiden hoffen werden“ (15,12). Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Paulus am Anfang und Ende des Briefes mit politisch aufgeladenen Bildern einen messianischen Weltherrscher ankündigt. Von diesem Weltherrscher spricht Paulus aber im übertragenen Sinne, denn er bringt keine politische Befreiung Israels von seinen Feinden, sondern Befreiung der Menschen von Sünde, Gesetz und Vergänglichkeit (Röm 6–8). Diese „Feinde“ erscheinen im Römerbrief wie Mächte, unter denen die Menschen versklavt waren. Gleichzeitig treten übernatürliche Mächte zurück. Der Satan wird nur in 16,20 erwähnt. Aber auch in den „spiritualisierten“ Heilserwartungen des Paulus klingen „reale“ Herrschaftsträume nach – nicht nur als Verheißung eines einzelnen Herrschers, sondern einer Machtstellung aller Christen. Sie sollen als (Jos. Bell. 4,618.656). Für eine Herleitung des Substantivs „Evangelium“ aus antiker Herrschaftsrhetorik plädiert Strecker, Evangelium, für eine Ableitung aus der alttestamentlichen Tradition plädiert Stuhlmacher, Evangelium. 12 Feste wurden in der Regel durch ein Neutrum im Plural bezeichnet: Kronia, Panathenaia, Eleusinia, Cerialia, Vestalia, Neptunalia usw. Der Plural εὐαγγέλια (euangélia) weckte Assoziationen an Feste, mit denen eine gute Botschaft gefeiert wurde, der Singular εὐαγγέλιον (euan­ gélion) erinnert dagegen an die gute Nachricht selbst (vgl. Jos. Bell. 2,420). 13 Vgl. Horsley, NDIEC 3, 10–15. 14 Vgl. Wolter, Paulus, 52. 15 Auch die in 1Thess 1,5 genannte Verkündigung des „Evangeliums“ wird in einer traditionellen Formulierung zusammengefasst, die von Jesu Auferweckung und seiner Wiederkunft als Gottessohn sprach (1Thess 1,9 f). In 1Thess 4,13–18 wird diese Wiederkunft wie die Einholung eines Herrschers als dessen „Parusie“ erwartet; meist wird sie ὑπάντησις (hypántēsis) genannt, in 1Thess 4,17 steht dafür das verwandte Wort ἀπάντησις (apántēsis).

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Nachkommen Abrahams die Welt „erben“ (4,13), werden „durch den Einen,­ Jesus Christus“ im Leben „herrschen (βασιλεύσουσιν/basileúsousin) (5,17) und wie Jesus (in 1,4) zu erbberechtigten Söhnen Gottes adoptiert und mit ihm „verherrlicht“ (8,15–17). Bald werden sie über den Satan herrschen (16,20). Messianische Erwartungen werden hier nicht nur spiritualisiert, sondern auch generalisiert, d. h. vielen Menschen zugänglich gemacht. Paulus greift hier die Erwartung einer eschatologischen Mitherrschaft mit dem Messias auf.16 Der Anfang des Römerbriefs könnte noch weitere politische Assoziationen enthalten, wie wir schon bei unserer historischen Lektüre des Römerbriefs gezeigt haben (s. o. Kapitel 3.3.3):17 Kurz nach seinem Tod war Claudius vom Senat „konsekriert“ worden. Er wurde per Beschluss unter die Götter aufgenommen. Diese Ehre war bisher nur Caesar (Suet. Iul. 84,2), Augustus (CIL I2, 329) und Drusilla, einer Schwester des Gaius Caligula, zuteil worden (Sen. dial. XI 17,5). Bei Augustus hatte der Senator Numerius Atticus eidlich versichert, er habe die Gestalt des verbrannten Augustus zum Himmel emporsteigen sehen (Suet. Aug. 100; Cass. Dio L 46). Bei Drusilla fand sich der Senator Livius Geminus zu einem entsprechenden Schwur vor dem Senat bereit (Cass. Dio LIX 11). Beide wurden für ihre staatstragenden Schwüre mit 250.000 Denaren belohnt. Solche Eide und Versicherungen (und die postmortale Divinisierung von Mitgliedern der Kaiserfamilie) stießen schon damals auf Skepsis. Die Skepsis ist gut für eine kleine Gruppe von Gebildeten bezeugt, für die Seneca – wohl noch im Jahre 54 n. Chr. – eine Spottschrift auf die Vergöttlichung des Claudius geschrieben hat: Die Apocolocyntosis oder den Ludus de morte Claudii Neronis.18 Apocolocyntosis bedeutet „Verkürbissung“ des Claudius, was im Deutschen durch „Veräppelung“ wiedergegeben werden kann, wobei der Name selbst Spott enthält: Apocolocyntosis ist eine Verballhornung von Apotheosis, der angeblichen „Vergöttlichung“ des Claudius. Seneca schildert in seiner Satire, wie Claudius vergebens nach seinem Tod um Aufnahme in die Götterversammlung des Olymps ersucht. Augustus spricht sich dort gegen seinen unwürdigen Nachfolger aus. Anstatt in den Himmel aufgenommen zu werden, wird er in die Unterwelt geschickt, wo er die von ihm Ermordeten und zum Tode Verurteilten trifft. Nun könnte man einwenden, diese Satire sei nur für kleine Kreise am Hofe des Nero geschrieben. Sie ist jedoch nicht nur geistreiche Unterhaltung, sondern verfolgt Legitimationsinteressen: Sie will die Ansprüche von Nachfahren des Claudius – Nero selbst war nur ein Adoptivsohn des Claudius – durch Verspottung des verstorbenen Kaisers bekämpfen, zielt also auf eine gewisse Breitenwirkung. Darüber hinaus deutet sie an, dass die Apotheose auch im Volk umstritten war. Über den Senator Livius Geminus lesen wir: „Denn seitdem er im Senat geschworen hat, er habe Drusilla in den Himmel emporsteigen sehen, und ihm zum Dank für diese so freudige Kunde (tam bono nuntio) kein Mensch mehr glaubt, was er vermeintlich gesehen hat […]“ (Sen. apocol. 1,3). Hier spricht eine allgemeine 16 Roose, Mitherrschaft, 260–293. Die Vorstellung einer eschatologischen Mitherrschaft findet sich noch in 1Kor 6,2 f; 4,8. Charakteristisch für Paulus ist, dass Mitherrschaft als Geschenk und Gnade verstanden wird. 17 Das Folgende nach Theissen, Auferstehungsbotschaft. 18 Vgl. Bauer (Hg.), Verkürbissung, und Lund (Hg.), Apocolocyntosis.

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Skepsis gegenüber der Divinisierung verstorbener Mitglieder der Kaiserfamilie: „Kein Mensch“ glaubt dem offiziellen Zeugen der „Himmelfahrt“ der Drusilla. Nimmt man hinzu, dass die Divinisierung des Claudius durch symbolische Akte wieder aufgehoben wurde – Nero ließ einen für ihn errichteten Tempel wieder abreißen19 –, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass der gesunde Menschenverstand Grund genug für Skepsis gegenüber postmortalen Divinisierungen hatte. Das wird insbesondere für Juden und Christusanhänger gelten. Die Apotheose von Herrschern war für sie seit Gaius Caligula ein Gräuel. Hatte doch dessen Selbst­ apotheose zwischen 37 und 41 n. Chr. zu einer tiefen Krise zwischen Judentum und Imperium Romanum geführt. Caligula hatte damals versucht, den Jerusalemer Tempel in eine Stätte des Kaiserkults umzuwandeln. Wenn es in Rom also kritische Stimmen zur Apotheose von Herrschern gab, so wurden sie unter Juden gewiss begierig aufgenommen. Skepsis gegenüber einer postmortalen Vergöttlichung konnte auch die christliche Auferstehungsbotschaft treffen. Christen mussten deutlich machen, dass ihr „Evangelium“ vom Auferstandenen die „gute Botschaft“ von der postmortalen Divinisierung der Kaiser an Realitäts- und Heilsmacht überbot. Die „gute Botschaft“ von der Auferweckung des Gekreuzigten und von der Apotheose verstorbener Kaiser waren strukturell verwandt: Hier wie dort stammten die Vergöttlichten aus einer Herrscherfamilie, in Rom aus julisch-claudischem Haus, in Judäa aus der davidischen Familie. Hier wie dort wurden sie durch ein übernatürliches Charisma in ihre gött­ liche Würde eingesetzt – durch den „Genius“ des Kaisers oder das „Pneuma der Heiligkeit“. Hier wie dort sprach man von einer „guten Botschaft“, dort hieß sie ­bonus nuntius, hier εὐαγγέλιον/euangélion. Gerade wegen dieser strukturellen Verwandtschaft dieser beiden Botschaften musste Paulus betonen: Die Einsetzung Jesu zum Gottessohn geschah ἐν δυνάμει/en dynámei, d. h. in Wirklichkeit und Macht, und war keine staatstragende Fiktion. Es ist möglich, dass Paulus solche Zusammenhänge bewusst waren, aber sie konnten sich den Empfängern des Römerbriefs auch un­abhängig davon aufdrängen. Wenn diese in Röm 1,23 lasen, dass die Menschen die Herrlichkeit Gottes mit dem Bild eines sterblichen Menschen (im Singular) vertauschten, so konnten sie auch hier an die postmortale Vergöttlichung der Kaiser denken.20 Angesichts des 19 Nach Suet. Vesp. 9 errichtete Vespasian einen Tempel „für den unter die Götter aufgenommenen Claudius auf dem Caeliushügel, der von Agrippina begonnen, von Nero aber wieder fast gänzlich niedergerissen worden war“. Nach Suet. Claud. 45 wurde Claudius „unter die Götter aufgenommen, eine Ehrung, die Nero vernachlässigte und dann ganz fallenließ“. Diese Wende in der „Politik“ Neros trat möglicherweise schon sehr früh ein, denn nur für die Jahre 54–55 finden sich Münzen mit dem Titel „Neron fil. Divi“, also Münzen, die eine Divinisierung des Vorgängers und Adoptivvaters voraussetzen und es Nero erlaubten, sich selbst Sohn des „vergöttlichten“ Vorgängers zu nennen; vgl. Mattingly/Sydenham, Coinage, 150, Nr. 1–7.10. 20 Eine der engsten Parallelen zu 1,23 bezieht sich auf die Selbstapotheose des Kaisers Gaius Caligula. Philo schreibt am Anfang der vierziger Jahre über ihn: „Was Gaius aber veränderte, war keine Kleinigkeit, sondern die größte Ungeheuerlichkeit, der Versuch nämlich, das geschaffene, vergängliche Wesen eines Menschen zum ungeschaffenen, unvergänglichen eines Gottes nach eigenem Belieben umzuformen. Das gerade hielten die Juden für die schlimmste Sünde. Denn eher könnte sich Gott in einen Menschen als ein Mensch in Gott verwandeln […]“ (Philo Legat. 118).

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Polytheismus der Heiden hätte es näher gelegen, gegen die vielen anthropomorph dargestellten Götter zu polemisieren. Die Herrlichkeit des einen unvergänglichen Gottes wird aber nur mit dem Bild eines einzigen vergänglichen Menschen vertauscht. Die Vergöttlichung eines einzelnen Menschen erlebten die damaligen Zeitgenossen am anschaulichsten im Kaiserkult. Dabei wurden die Cäsaren in Rom erst nach ihrem Tod, in der Provinz aber schon zu Lebzeiten, als göttlich verehrt. Weitere Anspielungen auf die Situation in Rom sind nicht ausgeschlossen. Die Schilderung der Laster in 1,24–32 könnte durch Gedanken an die römischen Kaiser gefärbt sein, etwa dadurch, dass die meisten Kaiser sich (auch) homosexuell verhielten, obwohl sie verheiratet waren. Nur Claudius war eine Ausnahme.21 Wenn unter den aggressiven Verhaltensweisen auch „Mord“ genannt wird, passt das kaum auf die jüdischen und christlichen Gemeinden, wohl aber auf die imperiale Elite, in der es immer wieder zu blutigen Säuberungen kam.

4.1.2 Richtermetaphorik im Römerbrief Paulus formuliert den Anspruch Gottes auf „Weltherrschaft“, indem er von der universalen Gerechtigkeit spricht, die sich bei allen Menschen durch Glauben durchsetzen soll (1,16 f). Er ist überzeugt: Allen Menschen fehlt die Gerechtigkeit, die sie haben sollten (3,23), und allen wird sie als unverdienter Freispruch im Gericht aufgrund von Glauben angeboten (3,21–4,25). Sein Begriff von Gerechtigkeit Gottes ist eine Radikalisierung der Konzeption einer parteiischen Gerechtigkeit, wie wir sie im Orient finden.22 Sie verbindet sich bei Paulus in einzigartiger Weise mit der Konzeption einer neutralen Gerechtigkeit, die universal in allen Kulturen begegnet. Auch in Lev 19,15 heißt es: „Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht; du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten“. Diese neutrale Gerechtigkeitskonzeption wurde nur in Griechenland und Rom zur dominierenden Vorstellung. Der Unterschied zwischen beiden Konzeptionen von Gerechtigkeit lässt sich sozialgeschichtlich erklären: In den Monarchien des Alten Orients war Gerechtigkeit faktisch Gnade des Mächtigen, der den Schwachen zu ihrem Recht verhelfen musste. Weil die Verhältnisse autoritär waren, musste Gerechtigkeit die Form der Barmherzigkeit annehmen. Diese Gerechtigkeit ist daher zugunsten des Schwächeren parteiisch. Ihr bildhafter Hintergrund ist die absolutistische Monarchie des Orients. In den Stadtstaaten des Okzidents, in der griechischen Polis und der römischen res publica, dominierte dagegen eine neutrale Gerechtigkeitskonzeption: Alle Bürger werden (wenigstens der Idee nach) 21 Vgl. Suet. Caes. 49 f; Aug. 68 f; Tib. 43 f; Cal. 24 f.36. Bei Claudius betont Sueton: „Für Frauen hatte er eine zügellose Leidenschaft, verkehrte aber gar nicht mit Männern“ (Suet. Claud. 33). 22 Die folgenden Gedanken nach Theissen, Gerechtigkeit.

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gleichbehandelt – sowohl bei Verteilungen von Gütern als auch vor dem Richter. Gerechtigkeit ist Anspruch auf Gleichheit. Ihr bildhafter Hintergrund ist der an das Gesetz gebundene Richter der Stadtstaaten. Natürlich enthielt auch sie ein Element „parteiischer Gerechtigkeit“ in der Idee der „Billigkeit“: Gesetze dürfen nicht nur schematisch angewandt werden, sondern müssen dem Einzelfall Rechnung tragen. Für den Althistoriker Hendrik Bolkestein, der diese Unterscheidung zwischen orientalischem und okzidentalem Gerechtigkeitsverständnis herausgearbeitet hat, war das alttestamentliche Gerechtigkeitsverständnis eine Variante des orientalischen Barmherzigkeitsethos.23 Er meinte, durch das Christentum sei dieses orientalische Ethos in die antike Welt eingedrungen und habe in der Spätantike deshalb so große Resonanz gefunden, weil die politischen und sozialen Verhältnisse durch die Krisen des Imperium Romanum immer autoritärer geworden waren. Er fand dafür eine einprägsame Metapher: Das Christentum saß am Sterbebett einer vergehenden Kultur, als es sie die Barmherzigkeit lehrte.24 Bolkestein übersah u. E. jedoch drei Unterschiede zwischen dem Gerechtigkeitsverständnis im­ Alten Testament und im Orient: Der erste Unterschied betrifft die Rolle des Königs: Hammurapi wird von den Göttern beauftragt, sein Gesetz als Gesetz des Königs zu verkündigen. Im Alten Israel aber gibt Gott das Gesetz, der König muss sich ihm unterordnen. Nach Dtn 17,19 soll er sein Leben lang im Gesetz lesen, „dass er halte alle Worte dieses Gesetzes und diese Rechte und danach tue. Sein Herz soll sich nicht erheben über seine Brüder“. Der König steht also nicht über dem Gesetz, sondern wie alle anderen Israeliten unter ihm. Er erhält eine neue Rolle. Die Erwartungen an ihn wurden in Israel aber noch in anderer Weise transformiert: Sie wurden zur Erwartung eines „Messias“, der Gerechtigkeit bringen soll. Der zweite Unterschied betrifft die Rolle der Götter: In Israel übernahm Gott die Rolle, für Arme und Bedrängte zu sorgen. In Ps 82 macht er anderen Göttern den Vorwurf: Wie lange wollt ihr unrecht richten Und die Gottlosen vorziehen? Schafft Recht dem Armen und der Waise Und helft dem Elenden und Bedürftigen zum Recht. Errettet den Geringen und Armen Und erlöst ihn aus der Gewalt der Gottlosen (Ps 82,2–4).

23 Bolkestein, Wohltätigkeit, besonders 418–484. 24 Ebd., 484: In der Spätantike „hat die christliche Kirche die Aufgabe übernommen, durch Predigung (sic!) der caritas und Organisation der Armenpflege den Notleidenden, die der Staat ihrem Schicksal überlassen hatte, wohltätige Unterstützung zu gewähren und so als Trösterin zu wirken am Sterbebett einer untergehenden Welt, in der zum ersten Mal das Elend die Massen ergriffen hatte“.

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Obwohl der Wille zur Gerechtigkeit bei altorientalischen Göttern vorhanden war, etwa in Gestalt der ägyptischen Ma’at, waren die Israeliten überzeugt: Andere Götter haben nicht dieselbe Leidenschaft für Gerechtigkeit wie JHWH. ­Julius Wellhausen hat diese so beschrieben: Was Jahve fordert, ist Gerechtigkeit, nichts anderes; was er haßt, ist das Unrecht. Die Beleidigung der Gottheit, die Sünde, ist durchaus moralischer Natur. Mit so ungeheurem Nachdruck war das nie zuvor betont worden. Die Moral ist es, wodurch allein alle menschlichen Dinge Bestand haben, das allein Wesenhafte in der Welt. Sie ist kein Postulat, keine Idee, sondern Notwendigkeit und Tatsache zugleich, die lebendigste persönliche Macht – Jahve der Gott der Mächte. Zornig, zerstörend macht sich die heilige Realität geltend; sie vernichtet allen Schein und alles Eitle.25

Gott ist in der Bibel ein Zentrum ethischer Energie. Seine Glut erfasst den einen als unendliche Liebe und vernichtet den anderen durch seinen Zorn. Der dritte Unterschied betrifft die Rolle des Volkes: Das Eintreten für Witwen und Waisen war in Israel nicht nur die Pflicht der Mächtigen und des Königs, sondern aller Israeliten: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und be­drücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen, ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken!“ (Ex 22,20 f). Diese Mahnung im Bundesbuch, der ältesten Gesetzessammlung Israels, wird in ihm noch einmal wiederholt und eingeschärft: „Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid“ (Ex 23,9). Alle Menschen galten als Gottes Ebenbild. „Ebenbild“ der Götter waren im Alten Orient sonst nur die Könige. In Israel aber ist jeder Mensch Ebenbild Gottes. Man könnte sagen, hier werde ein Königsethos „demokratisiert“, wenn das nicht anachronistisch wäre. Entscheidend ist: Jeder in Israel sollte parteiisch für Arme und Schwache eintreten. Die Gerechtigkeit Gottes ist wie in der biblischen Tradition im Römerbrief eine parteiische Gerechtigkeit, Gott wendet sich aber in ihm nicht bevorzugt den Armen, sondern den Sündern zu. Er tut, was für einen Richter die schlimmste Rechtsbeugung wäre: Er spricht den Schuldigen frei. Das ist ein Verstoß gegen die unparteiische Gerechtigkeit – allerdings nur auf den ersten Blick. Denn für­ Paulus ist jeder schuldig. Alle müssten eigentlich verurteilt werden. Keiner wird also durch den Freispruch eines Sünders benachteiligt, im Gegenteil: Alle sind darauf angewiesen, freigesprochen zu werden. Gottes Gerechtigkeit ist also eine paradoxe Intervention: die positive „Belohnung“ eines nicht erwünschten Verhaltens. Der Sünder wird gerecht gesprochen – natürlich in der Erwartung, dass er umkehrt. Gott erweist damit seine Liebe; er hält die Beziehung zum Sünder für eine wertvolle Beziehung, die er erhalten will. 25 Wellhausen, Geschichte, 106. Er bezieht sich hierbei auf das Gottesbild des Propheten Amos.

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Die Verkündigung der parteiischen Gerechtigkeit Gottes für den Sünder ist das Thema des Römerbriefs. Die theologische Tradition unterscheidet sie als­ iustitia salutifera, die dem Sünder Heil bringt, von der iustitia distributiva, die jedem das Seine zuteilt: Lohn dem, der Gutes tut, und Strafe dem, der Böses tut. Paulus definiert sein Evangelium in 1,16 f als Offenbarung dieser heilbringenden Gerechtigkeit. Sie ist zugleich Macht, die sich weltweit unter allen Völkern durchsetzt, und Gabe an den Einzelnen, der an das Evangelium glaubt.26 Erst danach zeigt Paulus, wie Gott als Richter in dreifacher Weise tätig wird: Seine Gerechtigkeit offenbart er erstens als strafende Gerechtigkeit gegen alles Böse in Vergangenheit und Gegenwart (1,18–32), zweitens als neutrale Gerechtigkeit im zukünftigen Gericht (2,5–16) und drittens als positive parteiische Rechtfertigung mitten in der Geschichte in Christus (1,16 f; 3,21–5,21). Die Offenbarung des „Zornes“ Gottes zeigt die dunkle Seite Gottes. Paulus spricht von diesem Zorn nur im 1. Thessalonicher- und im Römerbrief.27 In der Antike war es üblich, mit dem Zorn der Götter Unglück und Katastrophen zu erklären. Tacitus distanziert sich zwar von denen, die im geringen Wasserstand des Rheins die Auswirkung göttlichen Zorns sahen (Tac. hist. IV 26,2), aber er erklärt die Grausamkeit des Kaisers Tiberius in dessen Spätzeit mit demselben Konzept: Sie zeige „den Zorn der Götter gegen den römischen Staat“ (Tac. ann. IV 1). Auch Paulus könnte bei seiner Beschwörung göttlichen Zorns in den beiden Briefen an (vorwiegend) heidenchristliche Gemeinden an eine aktuelle Stimmung appellieren, nämlich die, dass die Welt von Unheil heimgesucht wird. Wenn er in 1Thess 2,16 den „Zorn“ Gottes über diejenigen Juden heraufbeschwört, die sich seiner Verkündigung an die Heiden widersetzen, könnte das eine Reaktion auf die Verbannung von Juden aus Rom durch Claudius im Jahre 49 sein. Diese Verbannung war wahrscheinlich durch Unruhen in der jüdischen Gemeinde durch einige Christusanhänger verursacht worden.28 Für die Beschwörung des Zornes Gottes im Römerbrief muss man dagegen nicht zeitgeschichtlich nach einem konkreten Unheil suchen. Die ersten fünf Jahre unter Nero (das quinquennium Nero­nis), in denen er geschrieben wurde, wurden als gute Zeit erlebt. In den Negativschilderungen des Zornes könnten sich vielmehr allgemeine Erfahrungen des jüdischen Volkes niederschlagen: Obwohl ihm die messianischen Ver­heißungen galten, war es u ­ nterworfen; 26 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 193, fasst sein Ergebnis so zusammen: „Gottes Macht greift nach der Welt, und Heil der Welt ist es, daß sie unter Gottes Herrschaft zurückgeführt wird. Eben darum ist es Gottes Gabe und das Heil auch des einzelnen, daß wir der Gottesgerechtigkeit gehorsam werden“. Kosmische (und darin enthalten: eine soziale) Dimension der Gerechtigkeit und ihre individuelle Bedeutung werden hier zutreffend zusammengedacht. Irritierend ist bei Käsemann der autoritäre Akzent seiner Machtmetaphorik: Wenn der Geist Gottes in den Menschen wirkt, wird das, was als fremde Macht von außen bestimmt, zur eigenen Motivation, die von innen antreibt. 27 1Thess 1,10; 2,16; 5,9; Röm 1,18; 2,5.8; 3,5; 4,15; 5,9; 9,22; 12,19; 13,4.5; vgl. v. Bendemann, „Zorn“. 28 Bammel, Judenverfolgung.

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Heiden hatten die Weltherrschaft inne. Dieser Wider­spruch führte manchmal zu scharfen Gerichtsreden gegen die Heiden (Sib 3,36–829). Motive solcher Reden werden von Paulus aufgenommen, aber er „spiritualisiert“ sie. Das Unheil besteht in der Unmoral. Diese ist weniger Ursache für den Zorn Gottes als dessen Folge. In 1,18–32 wird Gott selbst zum Feind. Wenn Paulus dreimal betont, Gott habe die Menschen ihren Verfehlungen „übergeben“ (παρέδωκεν/parédōken), so erinnert das an die alttestamentliche Wendung, Gott liefere Feinde in die Hände eines anderen aus: „Denn ich will dir in deine Hand übergeben (παραδώσω/paradō´sō) die Bewohner des Landes, dass du sie ausstoßen sollst vor dir her“ (Ex 23,31).29 Das Wort „ausliefern“ suggeriert, dass zwischen Gott und Mensch Krieg herrscht. Krieg bedeutet Leid, das auch Unschuldige trifft. Alle in 1,28–31 aufgezählten „Laster“ fügen in der Tat Unschuldigen Leid zu: Wo es Verführer gibt, gibt es Verführte. Wo Verleumder am Werk sind, werden andere verleumdet. Zu Mördern gehören Ermordete. All das geschieht innergeschichtlich als Auswirkung von Gottes Zorn. Dieser „Zorn“ ist keine iustitia distributiva, die jeden nach seiner Tat bestraft oder belohnt. Sofern 1,24–32 die innergeschichtliche Verlorenheit der Menschen, ihr Leid unter den Folgen ihrer eigenen Sünden aufdeckt, sind alle davon betroffen, Schuldige und Unschuldige. Hier geht es nicht um eine Gerechtigkeit Gottes, die den Schuldigen trifft und andere verschont. Davon unterscheidet sich das Gerichtshandeln Gottes im Jüngsten Gericht. In ihm richtet Gott unparteiisch alle Menschen und unterscheidet genau zwischen Schuldigen und Unschuldigen. Auch dieses Gericht ist ein „Tag des Zorns“ (2,5). Aber es ist ein gerechtes Gericht, das „einem jeden geben wird nach seinen Werken“ (2,6). In ihm wendet sich Gottes Zorn nur gegen Übeltäter: „Ungnade und Zorn“ wird denen angedroht, „die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen“, „Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen“ verheißen, „die Gutes tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott“ (2,8–11). Paulus verlagert dieses neutrale Gericht dann in das Innere des Menschen. Auch die Heiden haben das „Werk des Gesetzes“ in ihren Herzen eingeschrieben. Sie vernehmen es im Gewissen als Zeugen, während ihre Gedanken als Ankläger und Verteidiger auftreten (2,15 f). Die Schilderungen des letzten Gerichts als forum externum in Röm 2,5–11 und als forum internum des Gewissens (2,12–16) bilden einen psychomythischen Parallelismus: Die Bilder vom äußeren Gericht haben eine Entsprechung in inneren Prozessen. In diesem Zusammenhang begegnet auch Christus als Richter. Paulus sagt von ihm: Beim Jüngsten Gericht wird „Gott das Verborgene der Menschen durch Christus Jesus richten nach meinem Evangelium“ (2,16). Das ist eine Erinnerung daran, dass Paulus eine heilschaffende Gerechtigkeit (eine iustitia salutifera) verkündet, als hätte er eine Spannung zwischen seinem Entwurf eines neutralen Gerichts nach Werken und seinem Evangelium von einer Gerechtigkeit „ohne Werke des Gesetzes“ gespürt. 29 Vgl. Gen 14,20; Lev 26,25; Num 21,3.34; Dtn 1,27; 2,24.31; 3,2 usw.

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Paulus bringt noch zweimal im Laufe des Römerbriefs beeindruckende Gerichtsszenen. Am Ende von 6,1–8,39 begegnet Gott als Richter (8,31–34). Aber niemand tritt als Ankläger auf. Christus ist nun ein Fürsprecher. Er sitzt zur Rechten des Richters; es kommt zu keiner Verurteilung. Der Gerichtssaal verwandelt sich in einen Raum, in dem allein Liebe herrscht. Diese Verwandlung des Gerichtsbildes ist nur möglich, weil Gott seine parteiische Bejahung der Sünder durch die Hingabe seines eigenen Sohns bezeugt hat. „Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (8,32) Hier ist durch die Hingabe Jesu ein grundlegender Wandel im Gottesbild eingetreten. Diese Hingabe Jesu in den Tod wird nicht nur in juridischen Bildern gedeutet, sondern auch in einem kultischen Bild als Sühne (3,25) und in einem diplomatischen Bild als Versöhnung (5,10 f). Das letzte Gerichtsbild findet sich dann in 14,7–12. Es ist vergleichbar der Rechenschaftsablegung von Haussklaven vor ihrem Herrn. Sie müssen keine Verurteilung zum Tode erwarten, obwohl der Hausherr seine Sklaven theoretisch dazu verurteilen konnte. Hier treten die Christen vielmehr im Bewusstsein einer tiefen Verbundenheit mit Christus vor Gottes Gericht: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“ (14,8). Diese Verbundenheit mit Christus schützt die Christen. Gott zieht sie einzeln zur Verantwortung, aber sie werden in ihrer Existenz nicht bedroht: „So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben“ (14,12).

4.1.3 Priestermetaphorik im Römerbrief Paulus schreibt Gott in 3,21–31 eine neue Rolle zu: Er wirkt als Priester, der durch Jesu Tod Sühne schafft. Die „Sühne“ durch das Blut Christi ist ein kultisches Bild, das mit juridischen Bildern der Rechtfertigung verbunden wird: Christus trägt stellvertretend die Strafe, die allen Menschen droht. In 5,1–11 gibt Paulus diesem Erlösungsgeschehen durch den Versöhnungsgedanken einen neuen Rahmen. Dieses Bild stammt aus Politik und Diplomatie: Versöhnung ist die erfolgreiche Vermittlung zwischen Feinden.30 Paulus spricht oft davon, dass Christus für uns gestorben ist (5,6.8; 14,15; 1Kor 8,11; 1Thess 5,10). Umstritten ist, ob er dabei immer an einen sühnenden Tod denkt, denn er kennt auch die antike Vorstellung eines „altruistischen Todes“ für andere,31 wenn er schreibt: „Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben“ (5,7). Ausdrücklich schließt er hier den Tod für einen Sünder aus. Gerade darin sieht er den Unterschied zum Sterben Christi: „Christus ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren“ (5,8). Die Befreiung von Sünde ist für Paulus also das Besondere des Sterbens Christi ge 30 Die folgenden Gedanken in Anlehnung an Theissen, Kreuz. 31 Vgl. Hengel, Atonement; Seeley, Death.

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genüber einem allgemeinen altruistischen Sterben für andere. Bei seinen Aussagen über Christi Tod für uns kann man den Sühnegedanken daher nie ausschließen. Nun haben wir gesehen, dass Paulus drei Bildfelder verbindet, wenn er von diesem Sühnetod Jesu spricht: Sühne ist ein kultisches, Stellvertretung ein juridisches, Versöhnung ein diplomatisches Bild. Begrifflich lassen sie sich so unterscheiden: Sühne ist Ersatzleistung für die volle Strafe, Stellvertretung Übernahme der ganzen Strafe und Versöhnung Friedenstiften zwischen Konfliktgegnern. Eindeutig von „Sühne“ spricht Paulus in seinen Briefen freilich nur in Röm 3,25. Im Unterschied zur Sühne ist Stellvertretung ein umfassenderer Begriff. Er umfasst nicht nur die Übernahme einer Strafe, sondern jedes Handeln und Erleiden an der Stelle eines anderen. Ebenso umfasst das diplomatische Bild der Versöhnung nicht notwendig die Überwindung von Schuld, sondern meint an erster Stelle die Überwindung von Feindschaft. Aber alle drei Vorstellungen sind in 3,21–5,11 eng miteinander verbunden und lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Es hat wenig Sinn, den Sühnegedanken in der paulinischen Gedankenwelt als unbedeutend herunter zu spielen. Denn er begegnet in kultischer, juridischer und in diplomatischer Deutung.

a) Die kultische Deutung: Der Tod Christi als Sühne Paulus spricht in 3,25 eindeutig von einem Sühnetod, wenn er von Christus schreibt: „Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit“. Aber selbst für diese Stelle wollte man den Sühnegedanken unsichtbar machen. Vor allem Werner Georg Kümmel32 wandte sich dagegen, dass in 3,21–26 ein zorniger Gott durch ein Opfer versöhnt werden soll: Gott vergebe durch das Kreuz die vorher geschehenen Sünden in einem freien Akt seiner Gnade. Paulus sage nirgendwo, dass „Gott auf diese Weise handeln und daß Christus darum sterben mußte, daß Christus die Strafe an unserer Statt erleiden mußte“.33 Paulus wolle vielmehr „in den Vorstellungsformen seiner jüdischen Vergangenheit“34 Gottes Handeln beschreiben und die frohe Botschaft des Evangeliums von der freien Vergebung der Sünden „verkündigen“. Diese Deutung macht das Sühnegeschehen zu einem Kommunikationsgeschehen. In ihm teile Gott den Menschen mit, dass er in seiner Freiheit Sünden vergeben hat. Paulus habe die zeitbedingte Vorstellung der Sühne genutzt, um diese freie Liebe Gottes zum sündigen Menschen mitzuteilen. Der Tod Jesu sei der „Weg der Liebe Gottes“,35 nicht Ausdruck seines Zorns, und das Kreuz sei nur communicatio salutis, nicht causa salutis. Der Vorteil dieser Deutung ist, dass Gott an keine Notwendigkeit gebunden ist, den grausamen Akt einer Hinrichtung zur Heilsbedin 32 Kümmel, Theologie, 177 f. 33 Ebd., 178. 34 Ebd. 35 Ebd.

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gung zu machen. Aber warum wählt er solch ein blutiges Geschehen, um seine Gnade mitzuteilen, wenn er frei wäre, sie auch anders zu vermitteln? Die Deutung von Ulrich Wilckens geht in die entgegengesetzte Richtung.36 Er betont nicht Gottes freie Souveränität, sondern bindet Gott in eine alles umfassende Ordnung der Welt ein. Alle Sünden hätten aufgrund ihrer schicksalswirkenden Tatsphäre unheilvolle Konsequenzen. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen gehöre zur Struktur der Wirklichkeit. Nicht Gottes Zorn komme darin zum Ausdruck, sondern eine einsichtige Ordnung. Gott erlaube innerhalb dieser Ordnung, dass die Folgen menschlicher Schuld über den Gekreuzigten ergehen – um ihre unheilvollen Folgen zu unterbrechen. Im Grunde heißt das aber, Jesus übernimmt nicht die Schuld der Menschen, sondern die Haftung für ihre Handlungen. Ein Vorteil dieser Deutung ist, dass Haftungsübernahme mit dem modernen Menschenbild vereinbar ist. Ein weiterer Vorteil ist, dass Gott nicht als zorniger Gott erscheint. Er verhängt keine Strafe über den Gekreuzigten, sondern lässt nur die Folgen menschlicher Sünde an ihm aufgrund einer kosmischen Gesetzlichkeit zur Auswirkung kommen. Es ist die menschliche Sünde, die Jesus tötet, nicht Gottes Zorn. Das ist leichter mit unserem Gottesbild vereinbar. Die menschlichen Motive dieser hervorragenden Exegeten sind überzeugender als ihre exegetischen Argumente. In 3,25 ist die Rede von Sühne gewiss mehr als ein austauschbares Bild für die souveräne Gnade Gottes, „Sühne“ meint auch mehr als Haftung für Sündenfolgen: Sühne ist Überwindung von Schuld. Der Begriff Sühne (ἱλαστήριον/hilastē´rion) weckt Assoziationen an den alttesta­ mentlichen Opferkult, auch wenn wir nicht wissen, welche Bilder Paulus konkret aufrufen will. Denkt er an den Deckel der Bundeslade, die Kapporæt, an die beim Versöhnungstag Blut gesprengt wurde, um Sühne für das Heiligtum zu schaffen (Lev 16,15–17 vgl. Hebr 9,5)? Das Wort Kapporæt wird in der LXX mit ἱλαστήριον/hilastē´rion übersetzt. Doch war die Deckplatte zu Zeiten des­ Paulus schon lange verschwunden. Aber gerade ihr Verschwinden schuf vielleicht Raum dafür, sich die Sühne auch an anderen Orten vorzustellen und das Wort ἱλαστήριον/hilastē´rion in neue Kontexte zu stellen. Auch bei solch einem metaphorischen Umgang mit „Sühne“ und „Sühnedeckel“ werden Assoziationen an den Tempelkult geweckt. Freilich werden gegen eine Bezugnahme auf die Kapporæt wichtige Argumente vorgebracht:37 (1) „Kapporæt“ begegnet in der LXX immer mit Artikel – abgesehen von seiner ersten Erwähnung, als Gott dem Mose befiehlt: „Du sollst ein ἱλαστήριον ἐπίθεμα/hilastē´rion epíthema machen aus feinem Gold“ (Ex 25,17).38 Da auch 36 Wilckens, EKK 6/1, Exkurs: Zum Verständnis der Sühne-Vorstellung, 233–243. 37 Lohse, KEK 4, 134 f. 38 Auch Philo spricht vom Deckel (ἐπίθεμα/epíthema), der in den Heiligen Schriften hilastērion genannt wird, ohne Artikel (Philo Mos. 1,95).

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Paulus den Begriff hilastē´rion in 3,25 neu einführt, spricht der fehlende Artikel nicht gegen Assoziationen an den „Sühnedeckel“.39 Würde aber ­Paulus konkret den Sühnedeckel meinen, so würde man in 3,25 eher die Wendung hilastē´rion epíthema erwarten.40 Aber solch ein konkreter Bezug liegt kaum vor. Allen war klar, dass Jesus außerhalb Jerusalems gekreuzigt worden ist, weit entfernt vom Tempel.41 Da auch der Sühnedeckel nicht mehr im Tempel war, warum sollte nicht ein anderer Ort seine Funktion übernehmen? Der Begriff hilastē´rion bezieht sich schon in der LXX nicht nur auf den Altar im Tempelinneren, sondern z. B. auch auf den Brandopferaltar vor dem Tempelinneren (Ez 43,14.17.20), bei Symmachus sogar auf die Arche Noahs (Gen 6,15). Immer ist dabei an einen Sühneort gedacht. Rätselhaft ist, dass Paulus den Begriff nur in 3,25 benutzt, obwohl die Deutung des Todes Jesu im Zentrum seiner Theologie steht. Wenn wir einen Grund dafür nennen könnten, dass er in 3,25 assoziativ an den Tempel gedacht hat, wäre das eine Erklärung seines singulären Sprachgebrauchs. Wir werden sehen, dass sich solch ein Grund finden lässt. (2) Assoziationen an den Versöhnungstag werden durch Verweis auf Jesu Blut (ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι/en tō autoú haímati) verstärkt.42 Beim Versöhnungstag trug der Hohepriester das Blut des Opfers (τὸ αἷμα αὐτοῦ/to haíma autoú) ins Innere des Tempels hinter den Vorhang (Lev 16,15). Das Bild enthält einen Widerspruch: Jesus wäre auf der einen Seite der Sühnedeckel, an den das Blut des Opfertiers gesprengt wurde, auf der anderen Seite das Opfertier, dessen Blut gesprengt wird. Aber Jesus ist auch in Hebr 9,11 f Hohepriester und Opfer zugleich, wenn auch der Gedanke der Selbsthingabe beides verbindet. Eine solche gedankliche Brücke fehlt in 3,25. Wir können nur so viel sagen: Paulus denkt an den Tod Jesu und dieser Tod hat die sühnende Funktion, die sonst der Tempel hatte. Aber welche Funktion hatte diese Sühne? 39 Es ist an sich nicht unmöglich, dass für Paulus Jesus zugleich der Sühnedeckel und das Blut ist, das an ihn gesprengt wird. Der Hebräerbrief kennt ein noch kühneres Bild: Jesus geht als Hohepriester mit seinem eigenen Blut ins Allerheiligste (Hebr 9,11 f). Es kommt nicht auf die Stimmigkeit der Bilder an, sondern auf die übereinstimmende Funktion. So wie in 4Makk 17,22 der priesterliche Sühneort auf die makkabäischen Märtyrer übertragen wird, so in 3,25 auf den Tod Jesu (Wolter, EKK 6/1, 258 f). 40 Weitere Argumente bei Kraus, Heiligtumsweihe, 153. 41 Der Hebräerbrief hat dennoch Jesu Tod als Sühne in typologischer Entsprechung zum Sühnopfer der Hohepriester verstehen können. Dass die geopferten Tiere außerhalb des Lagers verbrannt wurden (Lev 16,27 f), setzt er in Beziehung dazu, dass Christus außerhalb der Tore Jerusalems starb (Hebr 13,11 f). 42 Die Beziehung der präpositionalen Wendung auf das folgende Substantiv – die Sühne geschehe: „durch [den] Glauben an sein Blut“ – ist unwahrscheinlich. Das zeigen Analogien in Röm 3,22; Gal 3,26 und Eph 3,17, bei denen sich diese Wendung immer auf das vorhergehende Substantiv bezieht (Wolter, EKK 6/1, 248).

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(3) Der große Blutritus des Versöhnungstags, bei dem Blut an die Kapporæt gesprengt wurde, entsühnte nicht das Volk, sondern die Priester und das Heiligtum (Lev 16,11–19).43 Die Sünden des Volkes wurden erst mit dem dann folgenden Sündenbockritual (Lev 16,20–22) und einem Brandopfer im Tempel beseitigt (Lev 16,23–25). Bei diesen beiden Riten aber floss kein Blut. Das erschwert eine typologische Entsprechung zwischen Jesu Tod und dem Blutritus des Versöhnungstags, es sei denn, man fasst Jesu Tod als Heiligtumsweihe auf. Dann müsste man konsequenterweise in Jesu Tod einen vorbereitenden Akt vor dem eigentlichen Akt, der die Sünden beseitigt, sehen. Dieser eigentliche Akt könnte die Auferstehung sein. Paulus spricht ja davon, dass die Sühne „durch den Glauben“ geschieht. Denkt er hier an den Glauben an die Auferstehung wie in 1,3 f; 4,17.24 f? (4) Die Erlösung geschieht auf jeden Fall „durch seine Gnade“ (τῇ αὐτοῦ χάριτι/tēi autoú cháriti) und die Sühne „ohne Verdienst durch Glauben (διὰ πίστεως/diá písteōs) in seinem Blut“, d. h. sie wird nur für diejenigen wirksam, die an Christus glauben. Dieser Glaube ist allen Menschen zugänglich, Juden und Heiden, wie Paulus vorher (1,16 f; 3,22) und nachher (3,29 f) sagt. Nun begegnen die Begriffe „Glauben“ und „Gnade“ noch einmal in 5,2. Dort fasst Paulus seine Rechtfertigungsbotschaft mit den Worten zusammen: „So haben wir nun „Zugang“ (προσαγωγήν/prosagogē´n) im Glauben zu dieser Gnade“ (5,2). Das weckt Assoziationen an den Tempel. Man denke nur an den Zugang (εἴσοδον/eíshodon) zum Allerheiligsten in Hebr 10,19–22 (vgl. Eph 2,18; 3,12). In 5,2 geht es um Zugang zu „dieser Gnade“ Gottes durch Glauben. Damit bezieht sich Paulus auf die Erlösung in 3,24 f zurück. Denn eben sie geschieht durch Gnade und Glauben.44 Außerdem greift er in 5,9 noch einmal die Wendung „durch sein Blut“ aus 3,25 auf, obwohl er sonst nie  – abgesehen von den Abendmahlsworten  – vom Blut Christi spricht. Ferner begegnet die Verbindung von δωρεά/dōreá und χάρις/cháris aus 3,25 noch einmal in 5,15 und 5,17. Es spricht vieles für das Fazit von Michael Wolter: „Die Näherbestimmung von ἱλαστήριον durch ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι legt es […] nahe, dass Paulus hier in der Tat auf den großen Blutritus des Versöhnungstages anspielt, der in Lev 16,15–17 beschrieben wird“.45 Als Erklärung für den Begriff ἱλαστηρίον/hilastē´rion wird 43 Vgl. Kraus, Heiligtumsweihe, 45–70. Kraus deutet Jesu Tod als Heiligtumsweihe. 44 Paulus spricht von Gnade vorher zweimal in der Wendung κατὰ χάριν/katá chárin (4,4.16) – als Ergänzung eines Verbs. Der Zugang „zu dieser Gnade“ in 5,2 bezieht sich daher auf die Gnade in 3,24 zurück. 45 Wolter, EKK 6/1, 258. Wahrscheinlich ist nicht an eine Typologie gedacht, sondern an eine funktionale Analogie: Der Blutritus diene ebenso wie Christi Tod der Beseitigung der Sünden (ebd., 259). Stuhlmacher, NTD 6, 1989, 5 f, fasst diese Deutung, die er gegen den Trend zur Minimierung des Sühnegedankens vertreten hat, in der Formel zusammen: „Kar-

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zwar auch seine Deutung als „Weihegeschenk“46 und seine Ableitung aus der jüdischen Märtyrertheologie erwogen,47 aber sie sind keine Alternativen, sondern Ergänzungen, denn der Tod der Märtyrer wird selbst kultisch interpretiert. Die sieben Märtyrer sind Priestersöhne (4Makk 17,9) und deuten ihren Tod als Sühnopfer. Der sterbenden Eleazar bittet: „Sei gnädig unserem Volk. Lass dir an unserer Bestrafung genügen, die wir für sie auf uns nehmen. Zu einem Reinigungsopfer (καθάρσιον/kathársion) für sie mache mein Blut und nimm mein Leben als Ersatz (ἀντίψυχον/antípsychon) für ihr Leben“ (4Makk 6,28 f). Dieselbe Sühne­deutung begegnet in der Schlussreflexion des Verfassers über die Märtyrer: „Sie […] sind doch zu einer Art Ersatzleistung (ἀντίψυχον/antípsychon) für die Sünden des Volkes geworden. Durch das Blut jener Frommen und durch ihren sühnenden (ἱλαστηρίου/hilastēríou) Tod48 hat die göttliche Vorsehung das zuvor schwer heimgesuchte Israel gerettet“ (4Makk 17,21–22). Sowohl bei Paulus als auch bei den jüdischen Märtyrern ist Gott das Subjekt des sühnenden Handelns: Seine Vorsehung (πρόνοια/prónoia) rettet Israel in 4Makk 17,22. Von ihm geht die Initiative aus – so wie Gott nach 3,25 Jesus zur Sühne (vorher-)bestimmt hat (προέθετο/proétheto).49 Antike Menschen haben es nicht freitag wird zum Großen Versöhnungstag der Christengemeinde“ (S.  6). Bei Paulus gilt dieser Versöhnungstag auch für die Juden. Er denkt in 3,25 wahrscheinlich an den Tempel, der in 11,25–27 noch einmal in der Endzeit zum Ort des Heils für alle Juden werden soll. Weil er unterwegs nach Jerusalem ist, aktiviert er im Römerbrief Tempelbilder und Tempelassoziationen. Das erklärt, warum Paulus ausnahmsweise im Römerbrief von „Sühne“ als Grund der Er­lösung spricht. 46 Vgl. Schreiber, Weihegeschenk. Kritisch dazu Weiss, Weihegeschenk, dazu die Antwort von Schreiber, Weitergedacht, 211–215. Wenn man in Röm 3,25 übersetzt, dass Gott Jesus als Sühne öffentlich „hinstellt“, weckt das Assoziationen an sühnende Weihegeschenke. Rezeptionsgeschichtlich wird man daher mit solch einer Deutung bei den Briefempfängern rechnen müssen (ebd., 215). Die dieser Deutung zugrunde liegenden Weiheinschriften, die Weiss, Weihegeschenk, 296–298, bespricht, führen die „Sühne“ nie kausal auf das Sterben eines Menschen zurück. In der für diese Deutung so wichtigen Beschreibung des „Sühnemals“, nämlich des trojanischen Pferds, das die Athener in Troja zurücklassen (Dion Chrys. 11,121), soll es den Tod vieler Trojaner sühnen. In Röm 3,25 und in der jüdischen Märtyrertheologie geschieht die Sühne aber wie in Röm 3,25 durch ein Sterben von Menschen. Die Kombination von Sühne und Blut (= Tod) in Röm 3,25 ist ein starkes Argument für einen Rückbezug auf Lev 16. 47 Lohse, Märtyrer, 71 u.ö. 48 Unwesentlich ist, dass ἱλαστήριον/hilastē´rion in 4Makk 17,22 ein Adjektiv ist, in Röm 3,25 aber ein Substantiv. Das Adjektiv ist substantiviert: „durch das Sühnende ihres Todes hat er … gerettet“. 49 Gott hat Christus (durch „sein Blut“ = seinen Tod) zur Sühne „bestimmt“. Προτιθέναι (protithénai) ist wohl temporal analog zur Aussage in 4Makk 17,22 zu verstehen, wo von der göttlichen Vorsehung (πρόνοια/prónoia) die Rede ist. Temporalen Sinn hat auch πρόθεσις/próthesis in 8,28; 9,11 (Cranfield ICC 1, 209 f; Zeller, RNT 6, 85). Für ein lokales Verständnis von pró und die Bedeutung „öffentlich hinstellen“ gibt es aber auch gute Belege (Schlier, HThK 6, 109 f; Jewett, Hermeneia, 283). Der Kontext spricht sogar von einem „Offenbaren“

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als paradox empfunden, dass Gott selbst in Sühneriten aktiv wird und dabei seinen eigenen Zorn überwindet – waren doch auch Menschen verpflichtet, ihren eigenen Zorn zu überwinden. An beiden Stellen wird freilich nicht ausdrücklich von einer Beschwichtigung des Zornes Gottes gesprochen, aber unverkennbar ist: In 3,25 wird wie bei den jüdischen Märtyrern Sünde überwunden und nicht nur mitgeteilt, dass sie überwunden ist. Unverkennbar ist auch, dass wie bei den Märtyrern Schuld übernommen wird und nicht nur die Haftung für deren Folgen. Dabei werden im Römerbrief wie im 4Makk kultische Bilder mit juridischen Aussagen verbunden. Das führt zur nächsten Variante der Deutung des Todes Jesu.

b) Die juridische Deutung: Der Tod Christi als Stellvertretung In 4Makk bitten die Märtyrer, ihren Tod als eine „Strafe“ (δίκη/díkē) anzunehmen, die sie stellvertretend für das Volk auf sich nehmen. Stellvertretung ist begrifflich klar von Sühne zu unterscheiden. Ein Stellvertreter nimmt die un­ verminderte Strafe auf sich, die ein anderer verdient hat. Sühne vermindert diese Strafe durch eine geringere Ersatzleistung. Beides kann eins werden. Wenn nämlich einer stellvertretend für viele stirbt, trägt er die Strafe in vollem Umfang, aber sein Tod bleibt hinter dem Tod aller zurück. Insofern ist seine Stellvertretung Sühne, d. h. Ersatzleistung für eine viel größere Strafe.50 Genau das ist in 4Makk und im Römerbrief der Fall: In 3,21–26 wird im Tod Jesu (in seinem „Blute“) die „Gerechtigkeit“ Gottes offenbart. Sein Tod soll Demonstration („Erweis“) seiner Gerechtigkeit sein, indem er zeigt, dass Gott als „Richter“ gerecht ist (3,5 f). Gott hat in der vergangenen Zeit Sünden ungestraft geschehen lassen. Die Wendung διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων/diá tē´n páresin tōn progegonótōn hamartēmátōn wird heute zwar oft anders übersetzt, als habe Gott seine Gerechtigkeit „durch“ Vergebung früher begangener Sünden erwiesen.51 Dann aber müsste διά/diá mit Genitiv wie in 3,24 stehen, wo διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως/

der Gerechtigkeit (3,21). Bei dieser lokalen Bedeutung (im Sinne von „öffentlich hinstellen“) müsste bei einem assoziativen Bezug zum „Sühnedeckel“ an einen Gegensatz zu etwas Verborgenem gedacht sein: Der Sühnedeckel stand ja im Allerheiligsten, das für niemanden zugänglich war. Christus wäre im Kontrast dazu öffentlich auf Golgatha als Sühne hingestellt worden. Dabei ist zu bedenken, dass die Kapporæt nicht nur Ort der Sühne, sondern auch der­ Offenbarung war: Dort will Gott reden und sich offenbaren (Ex 25,22). 50 Schenker, Art. Sühne, 724: „Die von Gottesknecht und Menschensohn vermittelte S. ist eine Grenzform: sie ist S. insofern, als die Schuldigen der harten Strafe enthoben sind; sie ist aber keine S., insofern die harte Strafe für den Mittler erhalten bleibt, der sie anstatt der Schuldigen trägt“. 51 Seit dem grundlegenden Aufsatz von Kümmel, Πάρεσις, wird diese Deutung von vielen vertreten, u. a. von Käsemann, ΗΝΤ 8a, 92 f; Wilckens, EKK 6/1, 196; Zeller, RNT 6, 87 f; Lohse, KEK 4, 135 f.

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diá tē´s apolytrō´seōs „durch die Erlösung“ bedeutet.52 Wenn Paulus unmittelbar danach διά/diá mit dem Akkusativ gebraucht, deutet der Kasuswechsel einen Bedeutungsunterschied an. Διά/diá mit Akkusativ bedeutet aber in der Regel „wegen“. Das gibt einen ausgezeichneten Sinn: „Wegen des Übergehens früher begangener Sünden“ will Gott jetzt zeigen, dass er gerecht ist und Sünden nicht straflos lässt. Πάρεσις/páresis kann „Strafloslassen“ bedeuten.53 Josephus erzählt, dass ­Herodes der Alexandra einen Fluchtversuch „vergab“ (παρῆκε/parē´ke), obwohl er sie eigentlich hätte strafen wollen. Er tat nur so, „als ob er aus Großmut und Milde Verzeihung gewährt habe“ (Jos. Ant. 15,48). Hier ist Straflosigkeit und nicht Verzeihen gemeint.54 Die πάρεσις/páresis vorher geschehener Sünden meint daher auch in 3,25 ein Strafloslassen der bisherigen Sünden.55 Bei einer Strafverfolgung durch Menschen mögen ja einige Vergehen straflos bleiben. Anders bei Gott. Gott kann alle Taten richten. Bisher hat er es aber nicht getan. Daher will Gott seine Gerechtigkeit jetzt dadurch erweisen, dass er die Sünden straft, indem er stellvertretend Jesus verurteilt.56 Der Gekreuzigte trägt eine Strafe, die andere treffen sollte, die dafür im Gericht Gottes freigesprochen werden. Die enge Verbindung von kultischer und juridischer Terminologie macht es unmöglich, hier nur an Haftung für sich „automatisch“ einstellende Unheilsfolgen menschlicher Sünden zu denken. Gott urteilt und verurteilt in einem freien Akt – so wie er in 52 Διά/diá mit Genitiv begegnet im näheren Kontext siebenmal in der kausalen Bedeutung „durch“, vgl. „durch das Gesetz“ (3,20), „durch Glauben an Jesus Christus“ (3,22); „durch die Erlösung in Jesus Christus“ (3,24); „durch den Glauben“ (3,25); „durch welches Gesetz?“ (3,27), „durch das Gesetz des Glaubens“ (3,27); „durch den Glauben“ (3,30 f). Sollte die einzige Abweichung, διά/diá mit Akkusativ, da nicht eine andere Bedeutung haben? Die Analogie in 8,10, wo διά/diá eventuell kausal verstanden werden könnte, ist nicht zwingend: Die Luther’sche und die Zürcher Übersetzung übersetzen hier final mit „um willen“, die Einheitsübersetzung kausal mit „aufgrund“. 53 So wünscht sich Jesus Sirach eine Geißel für sein Denken und Weisheit für sein Herz, damit sie seine Verfehlungen nicht schonen und „ihre Sünden nicht straflos blieben“ (καὶ οὐ μὴ παρῇ/kaí ou mē parē´i) (Sir 23,2). Viele weitere Belege bei Wolter, EKK 6/1, 261. 54 Die Parallelen zu diesem Verständnis von πάρεσις/páresis meinen in der Regel nicht, dass die Sünder später doch noch von ihrer Strafe eingeholt werden (so Wolter, EKK 6/1, 261). Aber in diesen Parallelen ist von Menschen die Rede, die nicht jedes Vergehen ahnden können, nicht von Gott. Deshalb ist es nicht unwichtig, dass πάρεσις/páresis nicht „Vergeben“ bedeutet, sondern Strafloslassen. Wenn in Ps 90,8 darüber geklagt wird, dass der Zorn Gottes alle trifft: „Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht“, dann ist vorausgesetzt, dass Gott im Unterschied zum Menschen alle Untaten bestrafen kann. 55 Vgl. Kraus, Heiligtumsweihe, 95–104.149.163.190.233; Kuss, RNT 6/1, 158 f; Cranfield, ICC 1, 211 f; Schlier, HThK 6, 112 f; Jewett, Hermeneia, 290. Anders Kümmel, Πάρεσις, ­154–167. 56 Stellvertretendes Strafleiden ist von Satisfaktion klar zu unterscheiden. Satisfaktion ist bei Anselm von Canterbury eine Gegenleistung, welche die Strafe ersetzen soll. Für ihn gilt der Grundsatz: aut satisfactio aut poena. Beide Gedanken wurden aber schon in der Reformation verbunden, vgl. Nüssel, Sühnevorstellung, 75–80.

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8,3 die Sünde in Christus in einem eigenen Akt verurteilt. Fragen aber kann man, ob diese stellvertretend getragene Todesstrafe allein der Grund für das Heil der anderen ist. Welche Bedeutung hat dann die Auferweckung Christi? In 3,21–31 ist nicht explizit von Auferweckung die Rede. Paulus betont jedoch in 3,25, die Heilswirkung des Todes Jesu gelte nur für den Glauben. Durch den Glauben kommt etwas ins Spiel, das über den Tod hinausweist. Um die Kraft dieses Glaubens herauszuarbeiten, untermauert Paulus seine Gedanken durch einen Schriftbeweis, in dem Abraham zum Vorbild für den Glauben aller Christen wird. Der Schriftbeweis scheint zunächst nicht das zu sagen, was er belegen soll: Abrahams Glaube richtet sich auf den Gott, der aus dem Nichts ins Sein ruft. Er ist Urbild des Glaubens an die Auferstehung Christi – nicht des Glaubens an die sühnende Macht seines Todes. Wie leicht hätte Paulus die Bereitschaft A ­ brahams, Isaak zu opfern, zum Sinnbild der Dahingabe Jesu durch Gott machen können! Aber er tut es nicht. Mit seinem Schriftbeweis trägt er vielmehr nach, was bisher fehlte: Erst durch den Glauben an die Auferweckung aus dem Tode wird Jesu Tod zum Heilsgeschehen. Wenn Paulus in 3,25 vom Glauben in einer Parenthese spricht: „Den hat Gott hingestellt als Sühne – durch den Glauben – in seinem Blut“, dann ist also wahrscheinlich gemeint: Erst durch den Glauben an die Überwindung des Todes wird Jesu Tod zum Heilsgeschehen. Erst für diesen Glauben ist evident, dass Gottes Zorn über die Sünde nicht sein letztes Wort ist. In 3,21–26 wird dabei explizit nur vom Tod, in 4,1–22 dagegen nur von der den Tod überwindenden Schöpfermacht Gottes gesprochen. Doch in einer Zusammenfassung beider Gedankengänge in 4,23–25 verbindet Paulus beide Akte, Tod und Auferstehung: Er spricht vom Glauben an den, der „um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferstanden ist“ (4,25). Die Überwindung der Sünden wird mit der Dahingabe in den Tod, das Rechtfertigungsurteil über die Sünder mit der Auferstehung verbunden. Durch diese Einbeziehung der Auferstehung geht Paulus über die uns bekannten religionsgeschichtlichen Analogien zu einem „Sterben für andere“ hinaus. Dieses Konzept stammt vor allem von Griechen und Römern.57 Hier sterben Menschen für das Vaterland, für die Freunde, für den Ehemann, um Unheil abzuwehren. Sie sterben immer für etwas, das wertvoll ist. Auch Paulus war dieser „edle Tod“ für andere bekannt. Er bezieht sich auf ihn in 5,7, geht aber über ihn hinaus, weil Jesus sogar für Sünder und Feinde starb. Für Rom bezeugt später der 1. Clemensbrief diese Vorstellung: „Doch um auch Beispiele von Heiden zu bringen: viele Könige und Fürsten haben sich, wenn eine Zeit des Unheils herrschte, auf den Spruch eines Orakels hin dem Tode überliefert, um durch ihr Blut die 57 Nur ein einziges Mal begegnet im Alten Testament die Vorstellung von einem Sterben für andere in der rätselhaften Gestalt des Gottesknechts in Jes 53. Auch hier fehlt eine Auferstehung. Ausdrücklich heißt es von ihm, dass seine Lebenshingabe nur die Verheißung hat, dass er Nachkommen und ein langes Leben haben werde (Jes 53,10).

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Bürger zu retten …“ (1Clem 55,1). Aus diesem „Sterben für andere“ hatten Juden in der Makkabäerzeit (auch angesichts der Probleme, die sich aus der Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen angesichts der blutigen Verfolgung gerade der Frommen ergaben), den Märtyrergedanken entwickelt: Die Märtyrer sterben für das Gesetz Gottes und ihr Volk. Und sie erhalten das ewige Leben. Erst dann konnten sie sich vorstellen, dass Gott durch den Tod eines Menschen Heil für andere bewirken kann. Beides begegnet zusammen in 2Makk 7 und 4Makk 17. Ebenso ist auch im Neuen Testament nicht der Tod, sondern seine Überwindung Grundlage des Heils. Das unterschied den christlichen Glauben an ein „Sterben für andere“ von allen antiken Parallelen. Diese waren nicht mit der Erwartung einer Auferweckung verbunden:58 Die sich selbst Opfernden gingen in den endgültigen Tod. Alcestis ist die große Ausnahme: Sie stirbt für ihren Mann und wird nach der einen Version von Herakles aus dem Totenreich zurückgeholt (Eur. Alc.), nach der anderen von Persephone aus Rührung über ihre Liebe wieder zurückgeschickt (Plat. symp. 179b–d; Plut. am. 761e). Aber Alcestis wird am Ende doch sterben müssen, Christus hat dagegen den Tod endgültig überwunden. Die Einbeziehung der Auferstehung in den Gedanken des „Sterbens für uns“ ist ein Grund dafür, dass Paulus im Folgenden neben der kultischen und der juridischen Bildlichkeit noch einen dritten bildspendenden Bereich zur Deutung des Todes Jesu aktiviert: Bilder personaler Beziehungen wie Liebe, Friede und Versöhnung. Er führt sie erst ein, nachdem er die Auferstehung in den Vordergrund gerückt hat, also erst ab 5,1.

c) Das diplomatische Motiv: Der Tod Christi als Versöhnung Jedem Leser des Römerbriefs fällt auf, dass mit Kapitel 5 die Bilder der Erlösung „wärmer“ werden. Bisher ging es um die Gerechtigkeit Gottes, jetzt um „Frieden mit Gott“ (5,1), Versöhnung (5,11 vgl. 5,9) und Liebe (5,5). Frieden und Versöhnung sind Bilder aus dem politischen und diplomatischen Bereich. Sie bringen eine personale Beziehung zum Ausdruck und werden dadurch bewirkt, dass sich Gottes Liebe im Sterben Christi für uns erweist (5,8). Bisher ging es um die Wiederherstellung der Rechtsordnung Gottes, um seine „Gerechtigkeit“. Diese Gerechtigkeit ist weit mehr als Erfüllung von Normen, sie ist Gemeinschaftstreue. Jetzt wird der Beziehungsaspekt dieser Gemeinschaftstreue als Frieden, Versöhnung und Liebe herausgestellt. Das kann erst nach der Ausweitung des 58 Eschner, Sünder, 63 Anm.  134: „Letztlich lässt sich für diese Zusammengehörigkeit zwischen dem Tod und der Auferweckung Christi jedoch in allen Vorstellungen, die als traditionsgeschichtlicher Hintergrund für die paulinischen Sterbe- und Hingabeformulierungen vorgeschlagen werden, keine exakte Parallele ausmachen, auch nicht innerhalb der mithilfe der Rede vom Sterben „für“ bzw. von der Hingabe „für“ aktualisierten Konzeption des apotro­ päischen Sterbens selbst“.

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Heilsgeschehens auf die Auferstehung geschehen. Fällt es schon schwer, sich angesichts eines Toten zu versöhnen, so ist es erst recht schwer, sich mit einem Toten zu versöhnen. Er muss leben, damit Versöhnung möglich ist. Solche Versöhnungsbilder sind unabhängig vom Kult.59 Versöhnung geschieht zwischen Konfliktparteien, zwischen denen Diplomaten Frieden aushandeln (2Kor 5,20). Man darf diese Versöhnung aber nicht gegen den Gedanken der Sühne ausspielen. Auch sie will die Überwindung der Sünde durch Christi Tod zum Ausdruck bringen. Paulus sagt eindeutig: „Wir sind mit Gott durch den Tod seines Sohnes versöhnt, aber noch mehr sind wir gerettet durch sein Leben“ (5,10). Er beschreibt das Heil in parallelen (dazu chiastisch angeordneten) Sätzen einmal als „Rechtfertigung“, dann als „Versöhnung“ und verbindet es in beiden Fällen mit dem Tod Christi. Die Versöhnung findet ihre Vollendung, wenn der Tod überwunden ist: „Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn,

Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren,

nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind! (5,9)

um wie viel mehr werden wir durch sein Leben gerettet werden“ (5,10).

Die Versöhnungsbilder sind u. E. keine grundsätzliche Alternative zur Sühnevorstellung, sondern deren Vertiefung. Von Versöhnung ist auch bei den jüdischen Märtyrern die Rede – also auch hier in Kombination verschiedener Bildfelder.60 Das ist kein Zufall: Zur Sühne gehört immer eine Versöhnungsabsicht. Sühne soll eine Alternative zur Strafe in ihrer vollen Härte sein. Jedoch gibt es zwei Besonderheiten des Versöhnungsgedankens: Sühne geht erstens einseitig vom Menschen aus, um den Zorn einer Gottheit zu überwinden. Bei der Versöhnung kann die Initiative von beiden Parteien ausgehen. Bei Paulus liegt sie bei Gott, der durch den Apostel bitten lässt: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20). Durch Aufnahme des Versöhnungsbildes kann Paulus den Gedanken entfalten, nicht der Mensch sorgt sich darum, dass Gott von seinem Zorn lässt, sondern Gott arbeitet daran, dass der Mensch seine Feindschaft gegen ihn überwindet. 59 Breytenbach, Versöhnung, passim. 60 Die Überwindung des Zorns Gottes wird in 2Makk 7,33 „versöhnen“ (καταλάσσειν/­ katalássein) genannt. Der Jüngste unter den sieben Brüdern, die das Martyrium erleiden, kündigt dem Tyrannen das Strafgericht Gottes mit den Worten an: „Denn wir müssen unserer eigenen Verfehlungen wegen leiden. Wenn aber unser lebendiger Gott zum Zwecke der Züchtigung und Erziehung eine kurze Zeit erzürnt gewesen ist (ἐπώργισται/epō´rgistai), so wird er sich mit seinen Knechten auch wieder versöhnen (καταλλαγήσεται/katallagē´setai)“ (7,32 f).

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Das zweite Merkmal des Versöhnungsgedankens ist: Versöhnung und Frieden stehen in Opposition zum „Zorn Gottes“. Paulus beginnt den Römerbrief damit, dass er den Zorn Gottes über die Menschheit heraufbeschwört (1,18–32). Sofern Gott hier mit parteiischer „Gerechtigkeit“ gegen das Böse vorgeht, erscheint er als Feind der Menschen, der sie ihrem Unheil ausliefert. Versöhnung verwandelt diese Feindschaft (5,10) in Frieden. So wie die parteiische Gerechtigkeit Gottes für den Sünder etwas Anderes ist als das unparteiische Gericht, geht auch die Versöhnung über die Rechtfertigung hinaus. Das Heil besteht also nicht nur in der Wiederherstellung einer gestörten Rechtsordnung, sondern in der Erneuerung einer personalen Beziehung durch die Liebe Gottes. Aufgrund der Rechtfertigung der Sünder wird die „Liebe Gottes“ (verstanden als Genitivus subjectivus) in die Herzen der Menschen ausgegossen (5,5). Diesem inneren Vorgang entspricht ein Vorgang der Liebe, der sich im Tod Jesu als Geschehen in der Außenwelt ereignet: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (5,8). Wieder finden wir hier einen „psychomythischen Parallelismus“. Kultische, rechtliche und diplomatische Bilder haben einen gemeinsamen Nenner: Immer geht es um eine „Entstörung“ des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Paulus hat in den ersten drei Kapiteln des Römerbriefs gezeigt, wie tief „gestört“ dieses Verhältnis war. Er hat den Zorn Gottes über die ganze Menschheit beschworen und das Todesurteil über alle angekündigt! Dieses Todesurteil wurde stellvertretend an einem Einzigen vollstreckt. Gott demonstrierte dadurch seine Gerechtigkeit, denn er hatte bisher seinen Zorn über die Sünden „zurückgehalten“ und die Sünden ungestraft passieren lassen. Das heißt (gegen Kümmel)61: Gott wollte nicht nur offenbaren, dass er souverän Sünden vergibt, er wollte die Sünde stellvertretend in einem Menschen verurteilen. Das heißt (gegen Wilckens)62: Er ließ nicht nur zu, dass sich die Folgen der Sünden im Tode Jesu auswirkten, er verurteilte selbst in einem eigenen Akt als Richter die Sünde. Wir haben hier den Gedanken des stellvertretenden Strafleidens. Die Sünde wird gestraft, damit die Sünder verschont bleiben. Der Eine wird verurteilt, damit die Vielen leben. Über den Gekreuzigten ergeht der Zorn Gottes, damit er nicht alle Menschen trifft. Nun hatten wir gesehen, dass Sühne immer Ersatz für eine Strafe ist. Das trifft auch hier zu: Dass einer sterben muss, bleibt hinter dem verdienten Tod aller zurück. Daher ist Jesu stellvertretendes Strafleiden gleichzeitig Sühne. Die Vorstellung eines Strafurteils am Gekreuzigten begegnet noch einmal im Römerbrief: Nach 8,3 f sandte Gott „seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verurteilte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt würde …“. ­Interessant ist 61 Kümmel, Theologie, 177 f. S. o. am Anfang von a) Die kultische Deutung: Der Tod Christi als Sühne. 62 Wilckens, EKK 6/1, Exkurs: Zum Verständnis der Sühne-Vorstellung, 233–243.

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die Präzisierung: Das Urteil trifft nicht den Sohn, sondern die Sünde in seinem Fleisch, bestraft wird nicht die Person, sondern die Sünde. Jesu Person überlebt das Strafurteil, denn Gott hat ihn von den Toten auferweckt. Durch diese Auferweckung demonstriert Gott, dass seine Liebe größer ist als sein Zorn. Er schenkt dem von seinem Zorn getroffenen Gekreuzigten neues Leben jenseits des Todes. Damit wird offenbart, dass der vernichtende Zorn nicht das letzte Wort Gottes ist, sondern seine Leben schaffende Liebe. Die Auferweckung offenbart und vollzieht den Wandel vom Zorn Gottes zur Liebe. Sie gibt Gewissheit, dass die Sendung Jesu von vornherein durch Liebe motiviert war. Wenn Paulus von der Liebe Gottes spricht, die sich im Sterben Jesu zeigt, bringt er daher (fast) immer einen Hinweis auf die Auferstehung Jesu.63

4.1.4 Die Bildfolge: Vom König zum Priester Die Sequenz der Bilder in 1,1–5,21 spricht für sich. Paulus beginnt mit Bildern der Herrschaft. Er sichert von vornherein zu: Gott will als Herrscher der Welt eine für den Menschen heilvolle Gerechtigkeit durchsetzen. Das ist der Inhalt seines Evangeliums (1,16 f). Aber dann zeigt er einen Konflikt zwischen Mensch und Gott. Die Gerichtsrede vom Zorn Gottes über der Menschheit beschwört einen Kriegszustand zwischen Gott und Mensch, ebenso aber auch zwischen den Menschen (1,18–32). Das Bild vom neutralen Endgericht ist eine erste Korrektur (2,1–16). Die Wende zu einer Gerechtigkeit durch den Sühnetod Jesu (3,21–31) bringt dann die entscheidende Revision: Der zum Weltherren bestimmte Sohn Gottes (1,3 f)  bewirkt durch seinen Sühnetod eine Wende zum Heil, nicht als Herrscher, sondern als Opfer der Macht. Gegen Ende der ersten beiden Teile des Römerbriefs greift Paulus in 5,1–11 noch einmal die politische Metaphorik auf, mit der er begonnen hatte: Frieden und Versöhnung sind politische Metaphern, aber es sind keine Bilder von Unterdrückung und Zorn, sondern von Liebe und Heil. Damit werden alle vorhergehenden Bilder korrigiert. Dieser Weltenherr will die Menschen nicht beherrschen, sondern zur Herrschaft bringen (5,17). Noch wichtiger aber ist Paulus, womit er die ersten beiden Teile abschließt: Nicht Menschen sollen herrschen, sondern die „Gnade“ (χάρις/cháris). Durch die Herrschaft der Gnade wird die Herrschaft der Sünde überwunden (5,21).

63 Vgl. 5,8 mit dem folgenden Hinweis auf das (Auferstehungs-)Leben Jesu in 5,10; 8,31–39 mit der Auferstehung in 8,34; 2Kor 5,14 mit 5,15; vgl. Gal 2,20.

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4.2 Familiäre Bilder: Sklave, Frau, Sohn (Röm 6–8) Die Metaphorik der Macht, des Rechts und des Kultes wird in den Kapiteln 6–8 durch eine Metaphorik des Hauses abgelöst, in der familiäre Töne angeschlagen werden. Diese häusliche Metaphorik dient dazu, den Wandel des Menschen darzu­ stellen, der zum Ziel hat, dass der Mensch als Ganzer dem Willen Gottes e­ ntspricht. Die Erlösung bewirkt eine Erneuerung menschlichen Wesens, so wird es in Röm 6–8 gezeigt. Sie ist nicht nur ein Freispruch des Angeklagten im Gericht, der diesen ansonsten unverändert lässt, die innere Erneuerung ist radikaler: Am Anfang und Ende von Röm 6–8 wird sie mit Metaphern von Tod und Leben zum Ausdruck gebracht. Am Anfang heißt es: Die Christen sind mit Christus gestorben, um in einem neuen Leben zu wandeln (6,1–11). Am Ende lesen wir, dass die ganze Schöpfung auf ihre Geburt als „Kinder Gottes“ wartet (8,18–39). Die Schöpfung soll mit ihnen noch einmal neu beginnen. Das Motiv der Neuschöpfung begegnet also zu Beginn und zum Schluss dieses Teils. Als Schöpfer neuen Lebens wird Gott an beiden Stellen mit der Metapher „Vater“ angesprochen (6,4 und 8,15).64 Zwischen diesen grundlegenden Bildern von Schöpfung, Geburt, Tod und Leben finden sich nun drei Metaphern, die die Beziehungen im antiken Haus als Bildspender aufgreifen: die Beziehung des Hausherrn zum Sklaven, zur Frau und zu den Kindern. Christen sind (1) wie Sklaven, die einen neuen Herrn bekommen (6,15–22[23]); sie sind (2) wie eine Frau, die eine neue Ehe nach dem Tod ihres Mannes eingeht (7,1–6), und (3) wie Menschen, die zu Söhnen und Erben adoptiert werden (8,12–17).

4.2.1 Der Herrenwechsel des Sklaven (6,12–23) Das zentrale Bild des Sklaven ist in 6,12–14.23 gerahmt vom Bild des Soldaten. Die beiden Bilder weisen eine thematische Nähe auf, denn gefangen genommene Soldaten wurden für gewöhnlich versklavt.65 Weiter eint Sklaven und Soldaten ihre abhängige Stellung und ihre absolute Verpflichtung zu Dienst und Gehor 64 Ansonsten findet sich die Vatermetaphorik im Römerbrief nur in zwei formelhaften Wendungen: im Briefpräskript 1,7 und in der Doxologie am Ende des sachlichen Teils 15,6. 65 Das hat eine lange Tradition, vgl. Welwei, Sub corona vendere. Besiegte Soldaten waren über lange Zeit die Hauptquelle für Sklaven. Der Anteil der aus Kriegsgefangenschaft gewonnenen Sklaven nahm jedoch zu Beginn der Kaiserzeit ab (Bartchy, Mallon Chresai, 45; Herrmann-­ Otto, Sklaverei und Freilassung, 123). Im Römerbrief selbst mündet in 7,23 eine kriegerische Auseinandersetzung in einen Zustand der Gefangenschaft (Sklaverei), vgl. Williams, Metaphors, 117 i. V. m. 131 Anm. 56; 132 Anm. 61 f; 133 Anm. 71.

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sam.66 Jedoch ist der Sklave  – anders als der Soldat  – unbewaffnet67 und bekommt keinen Sold (ὀψώνιον/opsō´nion).68 Zum Militärdienst war er nicht zugelassen.69 Hat ein Mann die Freiheit, als Soldat dem einen oder dem anderen (Kriegs-)Herrn zu dienen, so kann man fragen, inwieweit das analog auch im Hinblick auf die Versklavung zutrifft.70 Beide Bilder – das Bild des Soldaten und das Bild des Sklaven – thematisieren in 6,12–23 das Verhältnis des Christen zur Sünde. In der Antwort auf die rhetorische Frage: „Sollen wir bei der Sünde bleiben, damit die Gnade mehr wird?“ (6,1) hatte Paulus aus der Taufe gefolgert: „So sollt ihr euch als Tote in Bezug auf die Sünde beurteilen, als Lebende aber für Gott in Christus Jesus“.71 Daraus zieht er in 6,12–23 praktische Konsequenzen. An 5,21 anknüpfend appelliert er an die Christen, die Sünde nicht (wie einen­ Tyrannen) im sterblichen Leib herrschen zu lassen (βασιλεύειν/basileúein),72 damit sie dessen Begierden nicht gehorchen (ὑπακούειν/hypakoúein). Dann steigert er konkretisierend die Paränese: Die Christen sollen ihre Glieder nicht der 66 Die Verbindung der Bilder im Römerbrief macht auch das Verb παριστάνειν/paristánein „sich (aktiv) zur Verfügung stellen“ in 6,13.16.19 deutlich, die Parallelen zwischen 6,13 und 6,19, das „Gehorchen“ in 6,12.16 f und die sich an das Sklavenbild anschließende Begründung in 6,23, die mit dem „Sold“ wieder eine Metapher aus dem militärischen Bildfeld aufgreift. 67 Zur Übersetzung von ὅπλα/hópla mit „Waffen“ s. u. 68 Ὀψώνιον/opsō´nion (Sold) ist militärischer terminus technicus. Die abschwächende Deutung als „Entgelt“ ist hier nicht anzunehmen (mit Gerber, Waffendienst, 137 m. Anm. 40). Das Verb βασιλεύειν/basileúein (herrschen) ist kein eindeutiger Hinweis auf das Vorliegen militärischer Metaphorik, denn „der Tropus ist in jenem Terminus schon verwischt“, wie schon A. Tholuck zu Recht feststellte (Tholuck, Commentar, 310). 69 Nach Trajan sind Sklaven, die sich freiwillig als Rekruten gemeldet haben, zu bestrafen (Plin. epist. X 29 f). Nach Belegen aus dem 2. Jh. v. und 1. Jh. n. Chr. (u. a. Cass. Dio LXVII 13,1 ad Domitian) wurden entlaufene Sklaven, die sich als Soldaten haben anheuern lassen, ihren Eigentümern zurückgegeben (Westermann, Art. Sklaverei, 937.1014 Z51 f). War in nationalen Krisen die Rekrutierung von Sklaven für die Armee nötig, so wurden sie in der Regel vorher freigelassen (Combes, Metaphor of Slavery, 36). Umgekehrt konnte man durch Selbstversklavung dem Militärdienst entgehen (Ramin/Veyner, Droit romain, 487 mit Verweis auf Suet. Tib. 8,2 und Suet. Aug. 32,1). 70 S. dazu unten. 71 Röm 6,11, Übers. Zeller, RNT 6, 122. 72 (Königs-)Herrschaft kann im alttestamentlich-jüdischen Kontext ausgesprochen positiv konnotiert sein. Im römischen Kontext dagegen kommt sie der Vorstellung der Tyrannei nahe (vgl. Haacker, ThHK 6, 130). Negativ konnotiert ist das βασιλεύειν/basileúein auch in der matthäischen Kindheitserzählung in Mt 2,22: Da Archelaos in Judäa herrscht (βασιλεύει/­ basileúei), kehrt Joseph mit den Seinen nicht nach Bethlehem zurück, sondern begibt sich nach Galiläa. – Mit der Soldaten/Sklaven-Metaphorik sind (aufgrund der in diesen Bildern implizierten Über- und Unterordnung) das Bild des königlichen Herrschers (βασιλεύειν/basileúein – als König herrschen, Röm 6,12) und das Bild vom Herrn (κυριεύειν/kyrieúein, Röm 6,14) verschmolzen. Wir beobachten also in „Röm 6 in Bezug auf die Sünde drei bildspendende Felder (die Sinnbezirke der politischen Herrschaft, des Militär- und des Sklavereiwesens)“, so richtig­ Röhser, Personifikation, 112. Βασιλεύειν und κυριεύειν/basileúein und kyrieúein erscheinen in 1Tim 6,15 als Synonyme.

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Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit zur Verfügung stellen, sondern Gott als Waffen der Gerechtigkeit (6,13). „Denn die Sünde wird nicht über euch Herr sein (κυριεύσει/kyrieúsei)“ (6,14a). Im Gegeneinander zweier konträrer Herrscher könnte die apokalyptische Vorstellung eines Endkampfes anklingen.73 Auffällig ist, dass Gott hier nicht Beliar (dem Teufel) entgegengesetzt ist, sondern der personifizierten Sünde. Die Sünde erscheint wie ein Kriegsherr. Zwar ist es möglich, ὅπλα/hópla auch weniger martialisch mit „Werkzeuge“ statt „Waffen“ zu übersetzen.74 Das legt sich hier jedoch nicht nahe, denn Paulus verwendet ὅπλα/­hópla immer im militärischen Sinn, spricht also von „Waffen“ (2Kor 6,7; 10,4; Röm 13,12).75 Zudem ist das „zur Verfügung stellen“ (παριστάνειν/paristánein) auch sonst in militärischem Zusammenhang belegt.76 Die Waffen der Soldaten waren im römischen Heer in der Kaiserzeit höchstwahrscheinlich deren Eigentum.77 Entscheidend ist nun nach Paulus, wem der Soldat seine Waffen zur Verfügung stellt – also welchem Herrn er sich verpflichtet. Hier kommt dem Christen – das leistet das Bild des Soldaten besser als das Bild des Sklaven – eine freie, verantwortliche Entscheidung zu. Die Verpflichtung zum Dienst im römischen Heer, das ein Berufsheer war, war nämlich bis auf einige Ausnahmen freiwillig. Gerade für römische Bürger unterer Schichten und Männer ohne Bürgerrecht war sie attraktiv:78 Der Dienst im Heer bot soziale Sicherheit, Aufstiegschancen, ja sogar die Möglichkeit, das römische Bürgerrecht zu erwerben.79 Die jungen Männer mussten zwischen 16 und 28 Jahren dienen.80 Die Verpflichtung zum Dienst implizierte jedoch, dass sie sich während ihrer gesamten Dienstzeit völlig der disciplina militaris und der hierarchischen Struktur des Heeres unterwerfen,81 „lange Dienstzeiten, körperliche Strapazen“ und „ein gewisses Risiko, verwundet oder getötet zu werden“ auf sich nehmen mussten.82 Dafür bekam der Soldat 73 Zeller, RNT 6, 126; ders., Indikativ, 194. 74 So Malan, Bound, 124 („hópla […] denotes ‚implements‘ or ‚tools‘“); Bauer, Wörterbuch, 1166, in Bezug auf Röm 6,13a, jedoch mit der Einschränkung: „Jedoch ist auch die Bed. 2 [„Waffe“, Anm. d. Vf.in, P.v.G.] möglich, die das Wort sonst in uns. Lit. u. spez. bei Pls hat“. 75 Militärische Metaphorik findet sich auch in dem in paulinischer Tradition stehenden Epheserbrief, vgl. Eph 6,11–17. Kampfmetaphorik findet sich auch in Qumran (vgl. Kuhn, Art. Πανοπλία 3c), jedoch fehlt dort ein Äquivalent zu ὅπλα δικαιοσύνης/hópla dikaiosýnēs und ὅπλα ἀδικίας/hópla adikías (du Toit, Dikaiosyne, 271 f). 76 Pol. III 109,9. 77 Wesch-Klein, Soziale Aspekte, 64; Le Bohec, L’armée romaine, 128 (= ders., Armee, 134); Gerber, Waffendienst, 139. 78 Ebd., 138. 79 Vgl. ebd. (mit weiterführender Literatur). 80 Wesch-Klein, Soziale Aspekte, 12. Für Legionäre betrug die Dienstzeit unter Augustus durchschnittlich 20 Jahre (vgl. ebd., 182 mit Anm.  14). Prolongierte Dienstzeiten waren jedoch häufig, v. a. im 1. Jh. (ebd., 182 Anm. 16). Die Dienstzeit für Flottensoldaten betrug vor­ Septimius Severus 26 Jahre und wurde unter ihm auf 28 Jahre erhöht (vgl. ebd., 181 f). 81 Ebd., 11.  82 Ebd.

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dreimal jährlich seinen Sold, dazu gelegentlich (etwa beim Antritt eines neuen Herrschers) donativa und am Ende seines Dienstes eine Abfindung mit Grund und Boden und (seit Augustus) ein nicht geringes Entlassungsgeld.83 Entscheidend jedoch ist, so unterstreicht Paulus in 6,23, welchem Herrn sich der Christ unterstellt: Entscheidet er sich für die Sünde als Herrin, so ist sein Sold der Tod. Die Entlohnung ist also mehr als miserabel. Sie spielt auf den worst case der soldatischen Existenz an: den Fall, dass den Soldaten während seines Dienstes der Tod ereilt. Entscheidet der Christ sich jedoch für Gott als Herrn, so winkt ihm das ewige Leben „in Christus Jesus, unserem Herrn“ – nicht als erworbener Lohn, sondern als Gnadengabe.84 Das Bild vom Soldaten rahmt das Bild des Sklaven  – letzteres war für die Adressatinnen und Adressaten sicher noch mehr mit realen Erfahrungen gefüllt als ersteres, waren doch Korinth (wo Paulus den Römerbrief schrieb) und Rom (wohin Paulus den Brief sandte)  die Zentren des damaligen Sklavenhandels.85 Zudem waren große Teile der Bevölkerung (und auch der Christinnen und Christen) gerade in städtischem Kontext86 im ersten Jahrhundert SklavInnen oder Freigelassene (also ehemalige SklavInnen). So hat man geschätzt, dass zur Zeit des Paulus in Korinth mindestens ein Drittel der Bevölkerung SklavInnen und ebenso viele freigelassene SklavInnen waren.87 Für Italien geht man von einem Drittel ­SklavInnen in der Gesamtbevölkerung aus, teilweise sogar von noch etwas mehr.88 Die Mehrheit der in Rom lebenden Bevölkerung war nach Tenney 83 Ebd., 45–62.185–190; Gerber, Waffendienst, 139. 84 Χάρισμα/chárisma ist nicht als donativum militare (der terminus technicus dafür ist ἡ ἐπίδοσις/hē epídosis), sondern dem paulinischen Sprachgebrauch in Röm 5,16; 11,29 entsprechend als Gnadengabe zu verstehen, vgl. Tholuck, Commentar, 320; Wilckens, EKK 6/2, 40 Anm. 154. 85 Vgl. Bartchy, Mallon Chresai, 58 Anm.  185. Harris, Demographie, 105, betrachtet Ephesus als Mittelpunkt des Sklavenhandels am Ende der Republik und in der hohen Kaiserzeit – auch diese Stadt spielte eine große Rolle für Paulus und die ersten Christen. Zu jüdischen Sklaven und Freigelassenen in Rom vgl. Philo Legat. 155; Tac. ann. 2,85; diese und weitere Belege bei Martin, Family, 120 Anm. 23. 86 So Dunn, WBC 38A, 341: „large proportions of the population in the chief urban centers round the Mediterranean would be or would have been slaves“, vgl. auch Brunt, Rez. Wester­ mann, 165. In christlichen Gemeinschaften seien „nicht wenige“ Sklaven gewesen, so Osiek, Familienangelegenheiten, 238. 87 Bartchy, Mallon Chresai, 58 f. Für das Griechenland der klassischen Periode nennt Garlan, Slavery, 59 f, ca. 100.000 Sklaven, „a proportion of roughly one to three in relation to the population as a whole“. 88 Hopkins, Conquerors, 7 Anm. 13; 8 Anm. 14; Bradley, Art. Slavery, 1375 (für Italien am Ende der Republik); Brunt, Rez. Westermann; Tudor, Istoria Sclavajului; Vogt, Sklavenkriege, 165 („more than a third of the population“ für die Zeit der Republik und des Augustus); Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 123. Die Sklavenzahlen sind jedoch sehr hypothetisch und entsprechend stark umstritten, vgl. ebd., 123 f. Zur großen Anzahl von Sklaven in der römischen Gesellschaft vgl. Sen. clem. III 22,1 (= I 24,1).

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Frank SklavInnen bzw. sklavischer Abstammung.89 Sowohl für die korinthische als auch für die römische Gemeinde müssen wir also mit einer deutlichen Mehrheit christlicher S­ klavInnen und Freigelassenen rechnen.90 Außerdem waren in der Antike nicht nur wenige Reiche Sklavenhalter – selbst Menschen, die tiefer (ja sogar relativ tief) auf der sozialen Leiter standen, besaßen Sklaven.91 In Rom konnten sogar Sklaven wiederum Sklaven besitzen.92 Der Erfahrungshintergrund für das Phänomen der Sklaverei war also bis hin zur persönlichen Betroffenheit gegeben – sei es als Sklavenhalter, Sklave und Sklavin oder ehemaliger Sklave und ehemalige Sklavin. Beim Bild des Sklaven geht es Paulus wie beim Bild des Soldaten darum, welchem Herrn ein Christ dient (6,16)  – im Bewusstsein der LeserInnen ist dabei die Erfahrung vorausgesetzt, die in Mt 6,24par in der Feststellung zum Ausdruck kommt: „Niemand kann zwei Herren dienen (δουλεύειν/douleúein)“. Ist die Alternative hier Gott oder Mammon, so ist sie im Alten Testament Gott oder Götze(n) bzw. weltliche(r) Herrscher.93 Es geht jeweils um ein Entweder-Oder. Hinter dem Bild des Soldaten und dem Bild des Sklaven steht die Auffassung, dass die menschliche Existenz immer bestimmten Mächten und Gewalten ausgeliefert ist – eine Auffassung, die von unserer modernen westlichen Vorstellung einer autonomen, „freien“ Existenz des Menschen ziemlich weit entfernt ist. Das Bild des Sklaven wird in 6,15 durch eine die Ausgangsfrage in 6,1 variierende rhetorische Frage eingeführt: „Sollen wir sündigen, weil wir nicht ­unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind?“ Diese Frage wird dezidiert abgewiesen: Christen unterstehen einem Herrn. Sie sind Sklaven und ihrem Herrn zum Gehorsam verpflichtet. Es fällt auf, dass Paulus hier schreibt: „Wem ihr euch als Sklaven zum Gehorsam zur Verfügung stellt, dessen Sklaven seid ihr und ihm müsst ihr auch gehorchen“ (6,16). Das Sich (bzw. seine Glieder) Zur-Verfügung-Stellen verwendete Paulus schon im Zusammenhang mit dem Mann, der sich als Soldat aus eigenem Entschluss dem einem oder anderen (Kriegs-)Herren zur Verfügung stellen konnte. Aber galt das auch für einen Sklaven? Bisweilen schon: Ein Mensch konnte sich z. B. versklaven, um Schulden zu tilgen, um versorgt zu sein oder 89 Frank, Race mixture. 90 Für Korinth vgl. Bartchy, Mallon Chresai, 58–62; für Rom vgl. Dunn, WBC 38A, 341 in Verbindung mit 1, ebd., xlv-xlvii und Dunn, WBC 38B, 900. 91 Vgl. Iuv. 3,167; Mart. 2,18; 3,36 (vgl. 3,38) und Harrill, Manumission, 45; Apul. apol. 17 wird der Besitz von (nur) drei Sklaven als Zeichen der Armut ihres Besitzers angesehen (der Text reflektiert die Oberschichtperspektive); Apul. met. 1,21–23 (der geizige Geldverleiher Milo hat Photis als einzige Sklavin); Plin. nat. 7,54 (Serapio war der wertlose Sklave eines Schweinehändlers); zum römischen Flottenveteran C. Longinus Castor, der drei Sklaven hat, ­Arangio-Ruiz (Hg.), Negotia, Nr. 50, vgl. Bradley, Art. Slavery, 1375. 92 Die sog. vicarii oder servi servorum, vgl. Erman, Servus vicarius; Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 159. 93 Vgl. Lev 25,55 (als Sklaven Jahwes können die Israeliten Sklaven von niemand anderes sein) und Combes, Metaphor, 43 f.

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um andere zu versorgen.94 Die Entscheidung zur Selbstversklavung entsprang dann aber eher einer ökonomischen Zwangssituation als freiem Willen: „Im allgemeinen handelte es sich um Fälle, in denen man die Schuldsklaverei umgehen wollte“.95 Die Vorteile der Selbstversklavung waren, dass man sich seinen Herrn aussuchen konnte, schnell über eine größere Summe Geldes verfügte,96 versorgt war97 und – bei geschickter Wahl des Herrn – die Aussicht hatte, mit der Freilassung das römische Bürgerrecht zu erlangen.98 Die Selbstversklavung bei einem hochgestellten, mächtigen Herrn oder im kaiserlichen Dienst konnte auch von der Hoffnung getragen sein, ökonomisch und sozial aufzusteigen99 – auch hier winkte (wenn der Herr selbst römischer Bürger war)100 die Möglichkeit, dass der Sklave schließlich durch die Freilassung römischer Bürger werden konnte.101 Häufiger dürften jedoch Selbstversklavungen infolge von Hungersnöten gewesen sein.102 94 Dion Chrys. 15,23; 1Clem 55,2; Petron. 57,4; Papin. in Dig. XLI 3,44; Ulp. in Dig. XXI 1,17,12; XXVIII 3,6,5; Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 197; vgl. Bill. IV/2, 699c. 95 Gülzow, Sklaverei, 79. Ramin/Veyne, Droit romain, 489, nehmen als Gründe für die Selbstversklavung an: „l’excès de pauvreté et de dénuement“. 96 Um Schulden abzutragen und – wenn noch Geld übrig blieb – um auch den Grundstock eines peculium zu haben, mit dem der Sklave sich später freikaufen kann, um dann schuldenfrei als Freigelassener zu leben, vgl. Brunt, Rez. Westermann, 167, und Scaevola in Dig. XLIV 7,30. 97 In der damaligen Gesellschaft hatte man größere Chancen, an einige Mittel zu kommen, wenn man sich versklavte, als wenn man seine Arbeitskraft gegen Lohn anbot, so Ramin/ Veyne, Droit romain, 489. 98 Gülzow, Sklaverei, 82 f; Bang, Herkunft, 209 f; Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 199 f. 99 Bartchy, Mallon Chresai, 46–48. Der Sklavenstand war die Voraussetzung für jeden Beruf, in dem man mit dem Geld des Arbeitgebers umgehen musste (vgl. Ramin/Veyne, Droit romain, 488). Diese Positionen waren sehr begehrt (Harris, Demographie, 104; HerrmannOtto, Sklaverei und Freilassung, 196). Zur Aufwärtsmobilität von Sklaven vgl. auch Martin, Slavery as Salvation, 30–42.62 f. Kritik an Martin übt Williams, Metaphors, 126 Anm. 21 fin. 100 Der römische Herr konnte seinen Sklaven freilassen und ihm das volle römische Bürger­ recht erteilen. Seit Kaiser Augustus gab es jedoch eine Reihe von Einschränkungen, welche die Zahl der Freilassungen begrenzen sollten. So limitierte die Lex Fufia Caninia 2 v. Chr. die Zahl der testamentarischen Freilassungen (Gai. inst. I 42 f) und die Lex Aelia Sentia setzte 4 v. Chr. ein Mindestalter von zwanzig Jahren für Freilasser und ein Mindestalter von dreißig Jahren für Freizulassende fest (Gai. inst. I 36–41), s. Herrmann-Otto, Art. Manumissio, 62; Gülzow, Sklaverei, 83 Anm. 3. Ein Fragment eines nach Bradley in Ägypten gefundenen Testaments (Corpus Papyrorum Latinarum, 174) macht deutlich, dass die von Augustus erlassene Lex ­Fufia Caninia auch in Ägypten befolgt werden musste: „Since I know that I am not permitted by will to manu­ mit a greater number than provided by the lex Fufia Caninia“ (übers. Bradley, ­Slavery, 10). – Griechisches wie später auch hellenistisches Recht sah (bis auf wenige Ausnahmefälle, Demosth. or. 36) nicht die Möglichkeit vor, nach der Freilassung (manumissio) das Bürgerrecht zu er­ halten. Herrmann-Otto, Art. Manumissio 61; dies., Sklaverei und Freilassung, 107; Martin, Slavery as Salvation, 38. 101 Vgl. Petron. 57,4; Martin, Slavery as Salvation, 41 f; Bartchy, Mallon Chresai, 46–48. 102 Harris, Demographie, 104. Von „freiwilliger“ Selbstversklavung während einer Hungers­ not lesen wir schon im Alten Testament (Gen 47,18 f.21; 1Sam 2,5).

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Ob die Selbstversklavung ein in der Kaiserzeit relativ verbreitetes Phänomen war103 oder nicht,104 ist umstritten. Die Diskussion bestimmen in diesem Zusammenhang zwei fiktionale nichtchristliche Texte, dazu ein christlicher Brieftext und mehrere juristische Texte: (1) In einem (fiktiven) Dialog zwischen einem Sklaven und einem Bürger von Dion Chrysostomus (ca. 40 n. Chr. bis ca. 120 n. Chr.) sagt die Figur des Sklaven: „[…] unzählige Freie“ verkaufen sich selbst, „sodass sie durch einen Vertrag Sklaven sind (δουλεύειν κατὰ συγγραφήν/douleúein katá syngraphē´n), gelegentlich sogar unter keineswegs annehmbaren, sondern außerordentlich harten Bedingungen“.105 Diese Äußerung legt zunächst einmal nahe, dass die Selbstversklavung von Freien (zumindest im Osten des Reiches) eine verbreitete Praxis war.106 Betrachten wir jedoch den Kontext näher, so wird deutlich, dass sich die Äußerung auf gebildete Griechen bezieht, die sich vertraglich als Gesellschafter bzw. Lehrer in reichen Häusern verdingen.107 Wahrscheinlich sah der von Dion erwähnte Vertrag eine zeitliche Begrenzung vor – zeitlich limitierte Sklaverei war nach griechischem Recht möglich – und Dion schrieb ja zu einer Zeit für Griechen, als diese griechischem Recht unterstanden.108 Es ist also fraglich, ob Dion hier wirklich Sklaven im eigentlichen Sinn des Wortes (also Sklaven, die – inklusive ihrer Kinder – lebenslang im Besitz ihres Herrn sind) im Blick hat. (2) In den Satiren des Petronius 57,4 sagt ein Freigelassener im Rückblick auf sein Leben: „Warum diente ich […] als Sklave? Weil ich mich selbst als Sklave verdingt habe und lieber römischer Bürger werden als tributpflichtiger Untertan bleiben wollte“.109 Diese Bemerkung dient oft als Beleg für freiwillige

103 So Meyer, Ursprung, 472 Anm. 1; Gülzow, Sklaverei, 79.81; Bang, Herkunft, 209; Ramin/Veyne, Droit Romain, 483.488; für römische Vollbürger: Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 196; für die Provinzen, bes. die des Ostens: Barrow, Slavery, 12. Nach Bartchy könnte diese seiner Meinung nach verbreitete Praxis der Hintergrund der paulinischen Forderung „werdet nicht Sklaven von Menschen“ (1Kor 7,23) sein (Bartchy, Mallon Chresai, 48). 104 Harrill, Manumission, 30 f. 105 Dion Chrys. 15,23 (übers. W. Elliger). 106 Gülzow, Sklaverei, 79; Barrow, Slavery, 12; zur Sache (für Ägypten) jedoch ohne den Begriff „Versklavung“ vgl. auch Taubenschlag, Law, 70 f; zum römischen Bereich (3./4. Jh.) vgl. ebd., 74 f. 107 Vgl. Elliger, Dion Chrysostomos, 805 Anm. 12 z. Stelle; Harrill, Manumission, 31 („educated Greeks who contract themselves not into chattel bondage but a kind of indentured servitude“). 108 Barrow, Slavery, 12. Römisches Recht betrachtete dagegen zeitlich begrenzte Sklaverei „as a contradiction in terms“ (ebd.); vertragliche Selbstversklavung sahen römische Juristen als „rechtlich irrelevant“ an (Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 36). 109 Petron. 66.

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Selbstversklavung zur Erlangung des Bürgerrechts.110 Doch handelt es sich hier wirklich um freiwillige Selbstversklavung? Im Folgenden erzählt der Freigelassene nämlich, dass er schon in diese Stadt gekommen sei „als ein Junge mit langem Haar, da war die Börse noch nicht gebaut“.111 Er muss also noch recht jung gewesen sein, als er nach Italien kam, darauf weist auch die Bemerkung des Freigelassenen hin, er habe seinem Herrn vierzig Jahre gedient.112 Weiter kann man sich fragen: Sind Freilassung und Bürgerrecht nach immerhin vierzig Jahren Sklaverei wirklich hinreichend attraktiv für eine freiwillige Selbstversklavung? Zudem haben wir festzuhalten, dass die Aussage im Kontext einer Satire gemacht wird, in einer Szene, in der die Kommunikation der Bankettteilnehmer unter dem Einfluss von Alkohol entgleist ist und satirisch überspitzt dargestellt wird. In diesen Rahmen sind die Ausführungen des Freigelassenen einzuordnen. (3) Der einzige nicht-fiktionale und zudem der einzige christliche Text ist der ins letzte Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts zu datierende 1. Clemensbrief, der von einer Selbstversklavung von Christen (wahrscheinlich von Christen Roms)113 zugunsten anderer berichtet: „Wir wissen von vielen bei uns, die sich selbst in Ketten überliefert haben, um andere zu erlösen. Viele haben sich selbst in Sklaverei begeben, und mit ihrem Kaufpreis haben sie andere gespeist“ (1Clem 55,2).114 Im Kontext geht es um Beispiele herausragenden vorbildlichen Verhaltens, nicht um ein verbreitetes Phänomen. Eine entsprechende Praxis ist in so früher Zeit sonst nicht belegt,115 wohl aber ab dem 3. Jahrhundert.116 (4) Eine ganze Reihe römischer juristischer Texte behandelt die Rechtsstellung des Selbstverkäufers. Das war juristisch ein schwieriges Problem, denn die freie Geburt war nach Zivilrecht unveräußerlich.117 Ein von Geburt her Freier kann sich folglich nicht selbst verkaufen und darf auch nicht von einem an 110 Vgl. nur Martin, Slavery as Salvation, 41. Martin weist in diesem Zusammenhang auf freiwillige Selbstversklavungen als Gladiatoren hin: vgl. Petron. 117,5 f; Tatianos, Oratio ad Graecos 23; Cic. Manil. 4,220–226; Sen. epist. IV 37,1. 111 Petron. 57,9. Auf das junge Alter bei der Versklavung weist auch die Bemerkung des Gastgebers Trimalchio, er sei aus Kleinasien gekommen, als er so groß war „wie der Leuchter hier ist“ (Petron. 75,10, Übers. Holzberg). 112 Petron. 57,9. 113 Vgl. Gülzow, Sklaverei, 77 Anm. 5; Lindemann, Clemensbriefe, 155. 114 Übers. A. Lindemann, in: ebd., 151. Zur Datierung vgl. ebd., 12. 115 Ebd., 155. 116 Selbstversklavung, um andere zu ernähren oder/und um das Evangelium zu verbreiten, wurde in späterer Zeit zu einem Topos der Hagiographie (Belege bei Bellen, Verzicht, 179 Anm. 16). Ebd. geht davon aus, dass dieser Topos „wirkliche Vorkommnisse widerspiegelt“ (anders: Lindemann, Clemensbriefe, 155). Bellen, Verzicht, 179 m. Anm. 15 verweist auch noch auf ActThom 2 und 167, jedoch passt die Legende bei genauer Betrachtung nicht in unseren Zusammenhang, so auch Lindemann, Clemensbriefe, 155. 117 Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 197; dies., Mobilität, 180.

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deren rechtskräftig verkauft werden.118 Dem zuwider laufende Kaufgeschäfte waren folglich ungültig. Gleichwohl wird betrügerischer Selbstverkauf von freien Personen von römischen Juristen häufig behandelt, muss also häufiger praktiziert worden sein und ein gravierendes Problem dargestellt haben. Darauf weist auch die Formulierung in den Digesten „wir kaufen regelmäßig unwissend Freie“ – „frequenter ignorantia liberos emimus“ hin.119 Solche Käufe unter der falschen Voraussetzung, dass die erworbene Person ein Sklave sei, sind für die Sicherheit des (gutgläubigen) Käufers problematisch. Er hat ja statt eines vermeintlichen Sklaven de facto einen Freien erworben, der beanspruchen kann, wieder in seine Rechte eingesetzt zu werden. In einer Reihe von Texten, die auf uns gekommen sind, geht es folglich um die Entschädigungssumme zur Absicherung des gutgläubigen Käufers gegen eine zukünftige „Wiedereinsetzung des vermeintlichen Sklaven in die Rechte von Geburt an (restitutio natalibus)“.120 Um die Sicherung des gutgläubigen Käufers geht es auch in Texten, aus denen sich folgende Regelungen erheben lassen: Ist der Freie, der sich verkauft, über zwanzig Jahre alt, also nicht mehr minderjährig, und hat er sich mit Gewinnbeteiligung verkauft und diesen Gewinn auch wirklich erhalten, so scheint er in einem Statusprozess seine Ingenuität gleichwohl zu verlieren und zwar wegen der Arglist, mit der er den Käufer getäuscht hat.121 Auch wenn die Versklavung oft gegen den Willen des Menschen, der versklavt wurde, erfolgte,122 so gab es zur Zeit des Paulus durchaus auch die mehr oder weniger verbreitete Praxis, sich selbst als Sklave zur Verfügung zu stellen. Doch war die Entscheidung dazu wohl mehrheitlich einer verzweifelten ökonomischen Situation geschuldet und deshalb fast nie eine wirklich „freie“ Entscheidung.123 Sie war zudem mit erheblichen Risiken behaftet.124 Eine ganze Reihe von Exe 118 Dies., Sklaverei und Freilassung, 193. 119 Papin. in Dig. XLI 3,44, Hervorhebung von mir, P.v.G. 120 Belege bei Herrmann-Otto, Mobilität, 181 Anm. 29. 121 Vorausgesetzt ist, dass die Person zunächst (nach Absprache) von einem Käufer gekauft wurde und die beiden den dabei erzielten Gewinn geteilt haben. Im Anschluss daran hat der Käufer diese Person einem (gutgläubigen) Käufer unter der Vorspiegelung verkauft, es handle sich um einen Sklaven, vgl. ebd., 180 f. 122 Vgl. nur Mt 18,23 f, wo der Gläubiger befiehlt, den Schuldner samt Frau und Kindern zur Begleichung der Schuld zu verkaufen – eine durchaus anerkannte Vorgehensweise (Combes, Metaphor of Slavery, 26 Anm. 14). 123 Eine Ausnahme bildet die freiwillige Selbstversklavung von Christen nach 1Clem 55,2; möglicherweise auch die Selbstversklavung, um ökonomisch aufzusteigen. 124 Der akzeptable Herr konnte sterben und infolgedessen konnte der Sklave unversehens in den Besitz eines anderen Herrn kommen. Bei Verkauf eines Landgutes bzw. einer Produktionsstätte wurden normalerweise die dort arbeitenden Sklaven und Sklavinnen mitverkauft, vgl. (in Bezug auf einen ländlichen Betrieb) Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 160, und (in Bezug auf eine Töpferei) Westermann, Art. Sklaverei, 1028 f.

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geten findet deshalb das Bild in 6,16 („Wem ihr euch als Sklaven zum Gehorsam zur Verfügung stellt, dessen Sklaven seid ihr und ihm müsst ihr auch gehorchen“) von der Sachebene – „dem Vorgang des Christwerdens und Christseins her konstruiert“.125 In jedem Fall ist festzuhalten, dass dem Christen hier ein aktiver Part zugeschrieben wird: Anders als stoische Texte, die tendenziell „die Passivität des Menschen in der Übernahme seiner Sündhaftigkeit von schlechten Vorbildern und durch schlechte Erziehung“126 betonen, kommt hier dem Christen bei der Entscheidung, wem er sich zur Verfügung stellt, eine eigene Verantwortung und damit auch eine Schuldfähigkeit zu.127 In 6,16 betont Paulus im Hinblick auf diese Entscheidung: Ein Sklave ist dem Herrn, dem er sich zum Gehorsam zur Verfügung gestellt hat, auch „zum Gehorsam verpflichtet“, muss also dessen Willen voll und ganz erfüllen.128 Diese Pflicht des Sklaven zum Gehorsam ist in der Antike eine Selbstverständlichkeit, die sich in vielen Texten spiegelt.129 Auffallend ist: Paulus betont in Röm 6 die Verpflichtung zum Gehorsam – und zwar zum aktiven Gehorsam – besonders nachdrücklich.130 Christen sind also einem Herrn zum aktiven Gehorsam verpflichtet – nur: welchem Herrn?! Das ist die entscheidende  – und, wie Paulus noch ausführen wird, für Christen in der Taufe schon entschiedene – Frage. Sind sie Sklaven der Sünde zum Tod oder Sklaven des Gehorsams zur Gerechtigkeit (6,16)? Die Formulierung irritiert etwas und ist auch asymmetrisch: In 6,16a hatte Paulus ja festgestellt, dass alle Sklaven zum Gehorsam verpflichtet sind. Zu „Sklaven der Sünde“, die ja der Sünde gehorsam sein müssen, ist „Sklaven des Gehorsams“ folglich kein überzeugendes Pendant. Als mögliche Alternativen zur Sünde als Herrn kämen nach dem Kontext Gott (6,13), Christus (6,23) oder die Gerechtigkeit (6,18) als Herr(in) in Frage. Vielleicht muss man hier also Gott, Christus oder die Gerechtigkeit hinzudenken. Weiter hätte man als Pendant zu „zum Tod“ eigentlich „zum Leben“ erwartet. So bemerkte z. B. schon Johannes Weiss, dass von der Symmetrie her zur Formulierung „Sklaven der Sünde zum Tod“ eine Formulierung wie „Sklaven der Gerechtigkeit zum Leben“ nahe gelegen hätte.131

125 Schlier, HThK 6, 1977, 206, vgl. Wilckens, EKK 6/2, 34 Anm. 121. 126 Röhser, Personifikation, 109, mit Verweis auf van Geytenbeek, Musonius Rufus, 44, der bemerkt: „in which (sc. the Stoa) a bad education and a bad example set to the young and the bad habits engendered by them were regarded as the main causes of a sinful life“. 127 Röhser, Personifikation, 109. 128 Lyall, Slaves, 36. 129 Vgl. nur Philostr. Ap. VII 42 (Philostratos, Apollonios von Tyana, 834, Z. 17–19); Mt 8,9par; Phil 2,7 f, vgl. auch die nachpaulinischen Mahnungen in Kol 3,22–25; Eph 6,5–8; 1Tim 6,1 f; Tit 2,9 f; 1Petr 2,18. 130 Vgl. Röm 6,12.16 (vgl. 2,8); Röhser, Personifikation, 108 f. 131 Weiss, Beiträge, 181; Zeller, RNT 6, 127. Denkt Paulus hier an den Gehorsam des Glaubens (Röm 1,5, so z. B. Wilckens, EKK 6/2, 34) oder an den von Christus her qualifizierten Gehorsam (so Zeller, RNT 6, 127)?

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Vielleicht hebt Paulus sich hier jedoch das „Leben“ für den dann umso wirkungsvolleren Schlussakkord in 6,22 f auf.132 Hatte Paulus in 6,16 zwei Herren des Sklaven alternativ gegenübergestellt, so macht das Einst-Jetzt-Schema in 6,17–23 deutlich, dass die Christen (in der Taufe) schon einen Wechsel des Herrn vollzogen haben. Die rhetorische Frage: „Sollen wir sündigen, weil wir … unter der Gnade sind?“ ist für Christen also (mit der Taufe) im Grunde schon klar entschieden: Sie waren einst Sklaven der Sünde, jetzt sind sie frei geworden von der Sünde und Sklaven der Gerechtigkeit geworden (6,17 f). Der Wechsel eines Sklaven von einem zu einem anderen Herrn war in römisch-hellenistischer Zeit nicht absolut ausgeschlossen, wie wir Plutarch (45 n. Chr. bis kurz nach 120 n. Chr.) entnehmen können, wo es heißt: „Selbst für Sklaven, die jede Hoffnung auf Freilassung aufgegeben haben, gibt es ein Gesetz, daß sie einen Verkauf verlangen können, um so ihren jetzigen Herrn gegen einen milderen einzutauschen“.133 Auch hier fällt das Moment der Aktivität von Seiten des Sklaven auf. Dem Herrschaftswechsel in der Vergangenheit folgt die Mahnung im Blick auf die Gegenwart: „Wie ihr nämlich eure Glieder in den (Sklaven-)Dienst der Unreinheit und Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit stelltet, so stellt jetzt eure Glieder in den (Sklaven-)Dienst der Gerechtigkeit zur Heiligung. Denn als ihr Sklaven der Sünde wart, wart ihr frei gegenüber der Gerechtigkeit“ (6,19 f).134 Wie schon in 6,16 fällt auch in 6,19b das Sich-zur-Verfügung-Stellen (παριστάνειν/paristánein) im Zusammenhang mit der Sklaven(!)metaphorik ins Auge. Günter Röhser vermutet, dass es aus dem militärischen Bildfeld (vgl. 6,13.23) hier eingedrungen ist. Auch wenn es dem Bildfeld vom Sklaven zugehören sollte, weckt es auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der Adressaten. Es betont das Moment der eigenen Aktivität und folglich auch das der eigenen Verantwortlichkeit des Sklaven. Offensichtlich, so Röhser, will Paulus „den Eindruck ‚eines Zwanges zum Sündigen‘ vermeiden“.135 Die Opposition ist weiter vom Einst-Jetzt-Schema bestimmt: So wie die Adressatinnen und Adressaten einst ihre Glieder in den Sklavendienst der Unreinheit und Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit stellten, so sollen sie jetzt ihre Glieder in den Sklavendienst der Gerechtigkeit zur Heiligung stellen (6,19). Die körperbezogene Rede von den Gliedern (μέλη/mélē), die SklavInnen zur „Unreinheit und Gesetzlosigkeit“ zur Verfügung stellten und der Begriff „Unreinheit“ (ἀκαθαρσία/akatharsía), der in 1,24 im Zusammenhang (als typisch heidnisch gewerteter) sexueller Verfehlungen erscheint,136 evozierte in der Antike schnell den Gedanken an eine besonders 132 Vgl. Weiss, KEK 4, 293: „[…] Paulus behält dies Moment [sc. εἰς ζωήν, Anm. d. Vf.s] offen­ bar absichtlich sich vor“. 133 Plut. De superstitione 4. 134 Übers. in Anlehnung an Zeller, RNT 6, 6. 135 Röhser, Personifikation, 110 (Hervorhebung von mir, P.v.G.). 136 In Lasterkatalogen steht ἀκαθαρσία/akatharsía häufig neben πορνεία/porneía, vgl. Gal 5,19; Eph 5,3; Kol 3,5, vgl. 2Kor 12,21. Der Begriff ἀκαθαρσία/akatharsía (Unreinheit) ist breiter

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dunkle Seite der Sklaverei: Sklavinnen und Sklaven gehörten ganz und gar ihren Eigentümern und hatten folglich ihrem Herrn (und auch ihrer Herrin und wem die Eigentümer es erlaubten) sexuell zur Verfügung zu stehen.137 So musste Trimalchio als Sklave vierzehn Jahre lang sowohl die sexuellen Bedürfnisse seines Herrn als auch die seiner Herrin befriedigen (Petron. 75,11).138 Im gleichen Werk erzählt ein freigelassener Sklave, er habe seine Braut freigekauft, „damit niemand sich an ihrem Haar seine Pfoten abwischen kann“.139 Auch deutet er an, dass auch er einst seinem Herrn (als puer delicatus) sexuell zu Diensten gestanden habe.140 Vielleicht ist es die anstößige Rede von den Gliedern, die SklavInnen einst in den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit stellten und jetzt in den Dienst der Gerechtigkeit stellen sollen, welche die das Bild relativierende Einleitung des Paulus motiviert, dass er „nach Menschenweise“ wegen der Schwachheit seiner AdressatInnen rede.141 Viele denken auch daran, dass Paulus hier das Bild der Sklaverei im Dienst der Gerechtigkeit als unangemessen empfinde142 – in der Tat sind „Sklave(rei)“ bzw. „(als Sklave)  dienen“ häufig negativ konnotiert143 und passen daher nicht gut zum „Dienst der Gerechtigkeit“. Jedoch kann Paulus das Bild des Sklaven im Hinblick auf sich und andere Christen auch positiv konnotiert verwenden.144 Beide Konnotationen sind also möglich. Dies gilt schon für (Jewett, Hermeneia, 420). Im Judentum wird er häufig (Arist 166; 3Makk 2,17; Philo Leg. 2,29) – wie auch ἀνομία/anomía  – mit kritischem Blick auf die Heiden verwandt (Hauck/Meyer, Art. καθαρός, κτλ., 419 Z. 11–19; 422 Z. 38 f; 423 Z. 41–47;431). 137 Vgl. Philostr. Ap. VII 42 (Philostratos, Apollonios von Tyana, 834, Z. 17–19); Kreuzer/ Schottroff, Art. Sklaverei, 527; MacDonald, Slavery, 95 f; Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 197. 138 Vgl. dazu Veyne, Originalität, 51–53. 139 Petron. 57,6, Übers. Schnur, 66. 140 Petron. 57,10, vgl. dazu Petron., Übers. Schnur, 215 Anm.  9 oben. Pueri delicati bzw.­ deliciae konnten schon lange vor der Pubertät missbraucht werden, vgl. Herrmann-Otto, Ex­ Ancilla Natus, 310 m. Anm. 41; 311 m. Anm. 42. 141 So Byron, Slavery Metaphors, 210. 142 Z. B. de Wette, KEH 2/1, 88; Kuss, RNT 6, 390 f; Schlier, HThK 6, 210; dagegen: Kaye, Thought Structure, 133.189 Anm. 99; Jewett, Hermeneia, 419. 143 Vgl. Röm 7,14; Gal 4,3.8.21–31; 5,1, weiter (in einem LXX-Zitat) das Versklaven der­ Israeliten in Ägypten (Apg 7,6) und die Bezeichnung der Irrlehrer in 2 Petr 2,19 als „Sklaven (δοῦλοι/doúloi) des Verderbens“. 144 Paulus nennt sich z. B. in Gal 1,10; Phil 1,1; Röm 1,1 Sklave Christi (Jesu). In Phil 1,1 bezeichnet er auch Timotheus so. In Röm 14,18 schreibt Paulus: „Wer … Christus (als Sklave) dient (δουλεύων τῷ Χριστῷ/douleúōn tōi Christō´i), ist Gott wohlgefällig“; vgl. auch Röm 12,11; 16,18. Nach Gal 5,13 sollen die Christen einander in Liebe (als Sklaven) dienen (δουλεύετε ἀλλήλους/ douleúete allē´lous), vgl. weiter 1Kor 6,20. Diese positive Konnotation von Sklave(rei) war im frühen Christentum verbreitet, vgl. Lk 12,41–46; Mt 6,24par; Apk 1,1; 7,3; 19,5. (Im Philipper­ hymnus wird die Sklavenmetapher sogar in Bezug auf Christus verwandt, vgl. Phil 2,7). Aufgrund der Aufstiegsmöglichkeiten für Sklaven und Sklavinnen bei einem einflussreichen Herrn hat D. B. Martin eine positive Konnotation der Sklavenmetaphorik in römischer Zeit bei Angehörigen unterer Schichten postuliert. Martin, Salvation, 148, setzt unterschiedliche Konnotationen für Angehörige der Unter- und der Oberschicht voraus. Dagegen ist mit Combes,

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die metaphorische Tradition: Auch dort ist die Sklavenmetaphorik bereits gegensätzlich konnotiert.145 Die Rede von der Sklaverei „im Dienst der Gerechtigkeit“ ist also grundsätzlich vorstellbar, etwa um den Leserinnen und Lesern mit der harten Sklavenmetaphorik deutlich zu machen, dass sie „die Verpflichtung, für den Dienst der Gerechtigkeit zu leben, so ernst wie möglich nehmen“ sollen.146 Da Paulus jedoch das Bild der Sklaverei außer in 6,19 immer ohne eine Relativierung verwendet,147 könnte es auch sein, dass sich die Einschränkung, ‚dass er nun nach Menschenweise rede‘, auf die anstößige Rede von den Gliedern bezieht, die SklavInnen einst in den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit stellten und jetzt in den Dienst der Gerechtigkeit stellen sollen.148 Durch die Wiederaufnahme von Stichworten („eure Glieder zur Verfügung stellen“, „Gerechtigkeit“) und der analogen antithetischen Formulierung sind Röm 6,13 und 6,19 – und damit das Soldatenbild und das Sklavenbild – eng miteinander verbunden. Bei einem antiken Abschreiber hat die Ähnlichkeit sogar zu einem Fehler geführt: Er schreibt „Waffen (ὅπλα/hópla)“ statt „als Sklave dienend (δοῦλα/doúla)“149 in 6,19. In der Tat sind in 6,19 die soldatischen Waffen von 6,13 durch den Sklavendienst Metaphor of Slavery, 80, kritisch zu fragen, ob Mitglieder niederer Schichten nicht die Vorurteile Höhergestellter teilten. Harrill, Rez. von Martin, 426 f, erinnert mit Verweis auf­ Petron. 38 daran, dass Menschen mit niedrigem Status die Werte und Vorurteile von höhergestellten Personen teilen oder diese sogar in übertriebener Weise vertreten. Auch hochrangige Sklaven waren von körperlichen Strafen und anderen Formen schlechter Behandlung, wie z. B. Demütigungen und Erniedrigungen, nicht ausgenommen (Bradley, Slavery, 152). Von daher ist eher anzunehmen, dass die positive Konnotation der Sklavenmetaphorik für griechische und römische Ohren ungewöhnlich und schockierend ist – selbst stoische und kynische Philosophen, so F. W. Beare, würden so nicht von sich reden (Beare, Philippians, 50). 145 Vgl. Combes, Metaphor of Slavery, 42 ff. 146 So Michel, KEK 4, 213 f. Paulus bleibt aber im Römerbrief nicht beim Bild des Sklaven von Röm 6 stehen, sondern dringt in Röm 8 zum Bild des Sohnes für die Christen vor. Die Verbindung der Bildfelder Sklaven – Söhne macht Phil 2,22 deutlich, wo im Hinblick auf T ­ imo­ theus das familiäre Bild des Kindes mit dem an die Sklaventätigkeit erinnernden δουλεύειν/ douleúein (dienen) verbunden ist. 147 ἀνθρώπινον λέγω/anthrō´pinon légō nur in 6,19. In Röm 3,5; Gal 3,15; 1Kor 9,8 findet sich aber die (nur von Paulus verwendete) Formel κατὰ ἄνθρωπον/katá ánthrōpon, vgl. noch 1Petr 4,6 und Siegert, Argumentation, 228. Interessant ist, dass Paulus in Röm 6,19a explizit auf seinen Bildgebrauch im Hinblick auf seine AdressatInnen und die Grenzen des von ihm verwendeten Bildes reflektiert. Entsprechende Überlegungen finden wir auch bei Seneca, wenn er in Sen. epist. 59,6 schreibt: „Ich finde […] bildliche Ausdrücke, die zwar nicht unüberlegt, aber doch gewagt sind; ich finde Vergleiche – wenn sie einer zu gebrauchen uns verbietet und sie allein den Dichtern zugesteht, dann scheint mir niemand die Alten gelesen haben, bei denen es noch nicht auf einen beifallheischenden Vortrag ankam: jene, die schlicht und zur Bezeichnung eines Sachverhaltes zu sprechen pflegten, sind voll von Vergleichen, die ich für unverzichtbar halte, nicht aus demselben Grunde wie die Dichter, sondern damit sie Stützen für unsere Schwäche (imbecillitas) seien, damit sie den Sprechenden und den Hörenden in einen Sachverhalt einführen“ (Übers. E. Rosenbach). 148 Mit Byron, Slavery Metaphors, 210. 149 Ms A (02).

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e­ rsetzt. Was die positive Seite der Antithese anlangt, so liegen 6,13 und 6,19 nah beieinander: Die AdressatInnen sollen ihre Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit bzw. in den Sklavendienst der Gerechtigkeit stellen.150 Auf der jeweils einführenden negativen Seite der Antithese sollen die AdressatInnen ihre Glieder nach 6,13 nicht der Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit zur Verfügung stellen, nach 6,19 stellten die AdressatInnen ihre Glieder der Unreinheit und Gesetzlosigkeit zur Verfügung. In 6,13 werden die Waffen also durch den Genitiv „der Ungerechtigkeit“ genauer determiniert. Die allgemeine Formulierung „der Sünde“ (der keine Waffen zur Verfügung gestellt werden sollen) in 6,13 wird in 6,19 durch das detailliertere „der Unreinheit und Gesetzlosigkeit“ intensiviert.151 Zudem findet sich in 6,19 – über 6,13 hinausgehend – jeweils eine motivierende Zielangabe: (einst) zur Gesetzlosigkeit, jetzt zur Heiligung. Dem Erfahrungshorizont der AdressatInnen stand das Bild der Sklaverei vielleicht noch näher als das des Soldaten.152 Es ist wohl kein Zufall, dass gerade im Bild der Sklaverei die schon erfolgte Wende betont wird: Das Zur-Verfügung-Stellen der Glieder steht im Präteritum, die Gegenwart ist deutlich durch ein Jetzt (νῦν/ nýn, 6,19) abgetrennt.

In der Begründung: „Denn als ihr Sklaven der Sünde wart, wart ihr frei gegenüber der Gerechtigkeit“ (6,20)153 erscheinen „Sünde“ und „Gerechtigkeit“ als oppositionelle Herren. Der Befreiung von einem Herrn entspricht die Versklavung unter dem anderen.154 Wieder steht im Hintergrund die Logik des Herrenwechsels, nicht die moderne Vorstellung der Autonomie: Als Sklaven der Sünde waren die AdressatInnen frei gegenüber der Gerechtigkeit (6,20) – jetzt jedoch, befreit von der Sünde, sind sie Sklaven Gottes.155 Dieses Bild eines Wechsels von einem schlechten zu einem guten Sklavenherrn wirkt auf uns wenig überzeugend, macht aber aufgrund der römischen Praxis mehr Sinn als eine Freilassung: Denn erstens wurde die Freilassung eines treuen Sklaven (servus fidelis) als höchstes beneficium 150 Röm 6,13 bietet zusätzlich: „(stellt) euch Gott (zur Verfügung), als gleichsam aus den Toten Lebende“. 151 Vgl. Murray, Romans, 234 ad Röm 6,19: „[…] the terms in which the past state is described are peculiarly adapted to set forth the intensity of dedication to the service of sin“. 152 Für Christen war im ersten Jahrhundert (wie auch für Juden) der Militärdienst ausgeschlossen. Gleichwohl ist durchaus mit Gemeindegliedern mit militärischem Hintergrund zu rechnen: Nach Judge, Rank, ist der hohe Anteil lateinischer Namen im Neuen Testament im Zusammenhang mit Paulus auffällig (ein Drittel der 91 Namen von Einzelpersonen sind lateinische Namen). Diese weisen nach E. A. Judge einen hohen Grad an Übereinstimmung mit populären cognomina römischer Soldaten auf. Letztere wurden ja durch die Entpflichtung aus dem Dienst der römischen Hilfstruppen römische Bürger (ebd., 12). Judge, 13, folgert daraus: „Pauline communities for their part may have drawn extensively upon this class of people with army-derived Roman citizenship“. 153 Man kann Röm 6,20 sowohl als Erklärung von 6,18 f als auch als Einleitung von V.21 f verstehen. 154 Vgl. bes. Röm 6,18.20. 155 Hier liegt eine variatio vor: Statt von „Sklaven der Gerechtigkeit“ ist – vielleicht um Missverständnisse bzgl. der Göttin bzw. der Personifikation der Gerechtigkeit zu vermeiden  – in Röm 6,22 von „Sklaven Gottes“ die Rede.

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aufgefasst, das einem Sklaven gewährt werden konnte.156 Sie hatte meist die Funktion, die SklavInnen zu ergeben-loyalem Verhalten gegenüber dem Sklavenbesitzer und zu engagiertem Einsatz für diesen zu motivieren.157 Für unser Bild würde das bedeuten: Die Freilassung erschiene als Anerkennung für loyale, engagierte Dienste für die Sklavenhalterin „Sünde“, was von Paulus sicher nicht intendiert ist. Zweitens brachte eine Sklavenfreilassung nach römischem Recht nicht den ersehnten Status eines Freigeborenen mit sich, sondern nur den mit einem Stigma und konkreten Einschränkungen verbundenen Status eines libertus, eines Freigelassenen.158 Drittens bedeutete die Freilassung eines Sklaven zu Lebzeiten des Herren159 für den Sklaven nicht einfach Freiheit und Unabhängigkeit vom alten Herrn. Freigelassene Sklaven waren vielmehr nach der Freilassung, der ­manumissio, in vielfacher Weise ihrem ehemaligen Herrn verbunden und verpflichtet: sie schuldeten ihm – der nun als ihr Patron fungierte – auch wenn das nicht einklagbar war – Gehorsam und Ehrerbietung (obsequium) und waren ihm gegenüber durch Eid weiter zu Dienstleistungen (operae) verpflichtet.160 So musste ein Freigelassener z. B. für seinen verarmten Patron sorgen.161 Ja, sogar sexuell verfügbar musste der Freigelassene weiter sein, wie wir einer Äußerung des älteren Seneca entnehmen können: „Unkeuschheit (impudicitas) ist […] eine Verpflichtung (officium) für den Freigelassenen“.162 Die griechischen und hellenistischen paramonē´-Verträge, die das „Verbleiben“, die παραμονή/paramonē´ des Sklaven bei seinem Sklavenherrn regeln, formulieren – über das römische Recht hinausgehend – explizit die Verpflichtungen des Freigelassenen, eine bestimmte Zeit bei dem ehemaligen Sklavenbesitzer „als Sklave“, so die häufige Formulierung, zu „bleiben“ (παραμένειν/ paraménein), bis er die für den Freikauf vereinbarte Summe abgearbeitet hat und 156 Harrill, Manumission, 163. 157 Vgl. Mart. 1,101; Wiedemann, Regularity, 164 f. 158 Freigelassene konnten beispielsweise nicht in den römischen Magistrat aufsteigen und auch keine höheren Ämter in der Armee bekleiden, vgl. Treggiari, Freedmen, 52–68; HerrmannOtto, Sklaverei und Freilassung, 201. 159 Sie erfolgte entweder formell vor dem Magistrat als manumissio vindicta (diese geht von der Fiktion aus, dass der Sklave ein fälschlicherweise versklavter freier Mensch sei) oder informell entweder durch einen Brief (manumissio per epistulam) oder vor Zeugen: unter Freunden (manumissio inter amicos), beim Gastmahl bzw. am Tisch (manumissio in convivio bzw. per mensam), im Zirkus oder Theater (manumissio in circo bzw. in theatro). Deutlich häufiger dürfte in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung jedoch die (an Bedingungen geknüpfte oder bedingungslose) Freilassung aufgrund einer testamentarischen Verfügung (manumissio testamento) nach dem Tod des Sklavenhalters gewesen sein, vgl. Hezser, Slavery, 306; Harrill,­ Manumission, 54; Veyne, Originalität, 54. Während die formellen Freilassungen zum vollen römischen Bürgerrecht führten, gewann der Freigelassene bei einer informellen Freilassung nur ein minderes Bürgerrecht (latinitas), vgl. Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 200. 160 Harrill, Manumission, 55; Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 201; Treggiari, Freedmen, 68–81; vgl. Watson, Slave Law, 35–45; Weiler, Beendigung, 197 f. 161 Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 201. 162 Sen. contr. IV praef 10. 

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der Freilassungsvertrag gültig wird.163 Wie die delphischen Freilassungsinschriften aus hellenistisch-römischer Zeit deutlich machen, hatten die Freigelassenen zusammen mit ihren Kindern „dieselben Sklavenarbeiten evtl. bis zum Tod ihrer Freilasser bzw. deren Kinder zu verrichten, unterlagen weiter der Züchtigungsgewalt ihres ehemaligen Herrn und konnten u. U. in die Sklaverei zurückgerufen werden“.164 D. h. die griechischen Freigelassenen waren de facto nicht frei,165 sondern vielen Einschränkungen ausgesetzt. Auf das paulinische Bild vom Menschen als Sklaven der Sünde angewandt, würde das bedeuten: Der Freigelassene ist nicht wirklich frei, sondern bleibt auch als Freigelassener zeit seines Lebens der Sünde verpflichtet. Vor diesem Hintergrund ist das von Paulus in Röm 6 verwendete (und auf uns befremdlich wirkende) Bild des Herrenwechsels sprechender als das einer Freilassung des Sklaven: Denn nur wenn ein neuer Herr den Sklaven gekauft hat, ist der Sklave ganz und gar von seinem vormaligen Herrn frei und von da ab ganz und gar seinem neuen Herrn verpflichtet: Als Sklaven der Sünde waren die AdressatInnen frei gegenüber der Gerechtigkeit (6,20), jetzt – befreit von der Sünde – sind sie Sklaven Gottes und nur diesem verpflichtet. Damals (in ihrem heidnischen Vorleben) war die Frucht (καρπός/karpós)  – eine Metapher für die konkreten Verhaltensweisen der Adressatinnen und Adressaten166 – etwas, dessen sie sich jetzt schämen, jetzt haben sie die Frucht zur Heiligung (6,21 f). Das Ergebnis ist im ersteren Fall der Tod, im letzteren das ewige Leben (6,21 f). Der Gebrauch der Fruchtmetapher in 6,21 fällt besonders auf, denn ansonsten ist in den paulinischen Briefen „Frucht“ ausschließlich positiv konnotiert, umso stärker sind die einstigen Verhaltensweisen, deren sich die Christen nun schämen, in ihrer „Unmöglichkeit“ und Negativität hervorgehoben. In 6,23 schließlich kehrt Paulus mit dem Tod als Sold der Sünde im Gegensatz zum ewigen Leben als Gabe Gottes wieder zum Bild des Soldaten vom Anfang des Abschnitts zurück.

4.2.2 Die neue Ehe der Frau (7,1–6) In 7,1–6 wechselt Paulus zum Bild der Ehe, das mit dem Sklavenbild durch eine ganze Reihe von Analogien verknüpft ist: Durch die Heirat gelangt die Frau nach römischer Auffassung nämlich unter die Gewalt („in die Hand“ in manum) ihres 163 Westermann, Paramone, bes. 10; Harrill, Manumission, 162, Thür, Art. Paramone, 319. 164 Herrmann-Otto, Art.  Manumissio, 61; Hopkins, Conquerors, 141–158, bes. 144 f, 149–154; vgl. auch 137 m. Anm. 5 und 6. 165 Vgl. Zelnick-Abramovitz, Manumission, vgl. das Fazit S.  343: „Manumitted slaves were never wholly free“. 166 Haacker, ThHK 6, 35.

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Mannes, ist also juristisch von ihm abhängig167 – bisweilen (wohl bei Patriziern) sogar durch einen symbolischen Kauf (coemptio).168 Die Frau war dem Mann – wie das Kind und der Freigelassene  – Ehrerbietung (obsequium) schuldig.169­ Paulus greift sowohl beim Sklaven- als auch beim Ehebild eine hierarchische Beziehung innerhalb des Hauses (οἶκος/oíkos) auf, wobei die Beziehung zwischen Mann und Frau nun eine engere als die des Herrn zu seinem Sklaven vor Augen stellt. Neu ist die enge Verbindung zur Todesthematik – vom Tod des Herrn oder des Sklaven war ja im Sklavenbild als einem Aspekt des Wechsels von einem Herrn zum anderen nicht die Rede,170 im Ehebild kommt dagegen dem Tod des Ehemannes eine entscheidende Bedeutung zu. Diese Verbindung des Ehebildes mit der Todesthematik wird an Übereinstimmungen mit dem Vokabular von Röm 6,1–23 deutlich171 und daran, dass die Röm 7,1–6 zugrunde liegende Denkstruktur auffällige Parallelen zum Abschnitt über die Todestaufe in Röm 6,1–11 aufweist.172 Anders als dort geht es in Röm 7 jedoch nicht um die Sünde, sondern um das Gesetz und das Freiwerden (genauer: das Loskommen) davon.173 Das Ehebild wird eingeleitet durch eine Rechtsregel, die besagt, dass das Gesetz über den Menschen (ὁ ἄνθρωπος/ho ánthrōpos),174 also sowohl über den Mann, als auch über die Frau) herrscht (κυριεύει/kyrieúei), solange er lebt (7,1). Wie das „Gesetz“ hier zu verstehen ist, ist umstritten. Auch, inwiefern man die schmeichelhafte Anrede des Paulus „ich rede doch zu Gesetzeskennern“ (7,1) auswerten kann. Die Anrede muss nicht notwendigerweise auf christusgläubige Juden und Gottesfürchtige zielen:175 Die Römer waren ja berühmt für ihre juris 167 Das bedeutet: der Frau eignet keine autonome zivilrechtliche Stellung, sie ist nicht „sui iuris“ (nicht „eigenen Rechts“, s. Grimal, L’amour, 64; Treggiari, Marriage, 16). Der Begriff „manus“ wird auch für Sklaven, Freigelassene und Kinder unter der väterlichen Gewalt gebraucht (ebd., Anm. 67). 168 Treggiari, Marriage, 17. 169 Vgl. Fitzgerald, Slavery, 80; Treggiari, Marriage, 16 f.238–241, sowie Murnaghan/­ Joshel, Women, 4. 170 Der Tod kommt aber als Konsequenz (6,21 f) und der Sünde Sold (6,23) in den Blick. 171 Little, Analogy, 83; Gieniusz, Imagination, bes. 390. 172 Earnshaw, Marriage Analogy, 72: „In both texts Paul argues for the believer’s liberation from the powers of the old aeon, and present experience of life in the new aeon, on the basis of his/her union with Christ in his death and resurrection“. 173 Gesetz (νόμος/nómos) begegnet in Röm 7,1–6 achtmal; das Loskommen vom Gesetz (καταργεῖσθαι ἀπὸ τοῦ νόμου/katargeísthai apó toú nómou) in Röm 7,2.6 bildet eine Inclusio, vgl. Wolter, EKK 6/1, 409. 174 Der Artikel ist hier generisch zu verstehen, vgl. Burchard, Römer 7,2–3, 447 Anm. 23; Wolter, EKK 6/1, 410. 175 So jedoch Stuhlmacher, NTD 6, 95; Zahn, KNT 6, 328 f. Dagegen Weiss, KEK 4, 324: Für ehemalige Juden sei die Kenntnis des Gesetzes „etwas so selbstverständliches gewesen, dass gar nicht abzusehen wäre, weshalb es Paulus noch besonders hervorgehoben hätte“. Schlatter, Gerechtigkeit, 224: Trotz eifrigen Studiums könne ein Jude nach Paulus zu denen gehören, die das Gesetz nicht verstehen (mit Verweis auf 2Kor 3,14).

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tische Bildung176 und schmeichelhafter als für Judenchristen wäre die Anrede natürlich für Heidenchristen.177 Da es schlicht als gängige rhetorische Figur bewertet werden kann, mit der ein Autor das Wohlwollen seiner Leser gewinnen will (captatio benevolentiae), ist das „ich rede doch zu Gesetzeskennern“ in der paulinischen Anrede historisch nicht auszuwerten.178 Auch wenn Paulus sich in 7,2 auf das jüdische Ehegesetz bezieht, so ist ein Verständnis von „Gesetz“ im Sinne von „Tora“ in 7,1 nicht eindeutig, denn die Regel, dass das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt, ist universal und eine allgemeine Wahrheit.179 Sollte es sich auf die Tora beziehen,180 so ist im Blick zu behalten, dass Paulus in der Tora gleichzeitig allgemein menschliches Recht wahrnimmt.181 Die Regel in 7,1 zeigt jedoch keine religiöse Ausrichtung.182 Auch die allgemeine Charakterisierung der Adressaten als Gesetzeskenner183 könnte darauf hinweisen, dass Paulus hier „ganz einfach von der Gattung Gesetz spricht“184 – die natürlich die Tora mit einschließt. Wenn Paulus dieses Gesetz in 7,13.19.21 synonym auch als das „Gute“ und „Schöne“ bezeichnet, benutzt er allgemeine Begriffe, die Nicht-Juden vertraut sind. Auch hier denkt er an das Gesetz schlechthin – einschließlich jenes Gesetzes, das Heiden ins Herz geschrieben ist und das für Paulus mit der Tora identisch war. Diese Universalität des Gesetzes würde bestätigt, wenn man hinter den Ausführungen von 7,7–13 das Modell Adams sieht, des Stammvaters aller Menschen. Adam war noch nicht mit der jüdischen Tora konfrontiert.185 Zurück zur Rechtsregel in 7,1, wonach das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt. Sie besagt: Die Herrschaft des Gesetzes ist begrenzt. Ein Toter ist nicht mehr zur Befolgung des Gesetzes verpflichtet – eine Regel, die etwas später (im 2./3. Jahrhundert186) rabbinisch belegt ist: „sobald der Mensch gestorben ist,

176 Vgl. Kuss, RNT 6, 435. 177 Das spricht nach Zeller, RNT 6, 131 „eher dafür als dagegen, daß“ die Angeredeten „Heidenchristen waren“. An Heiden- und Judenchristen denkt Lohse, KEK 4, 206. Wilckens, EKK 6/2, 67, denkt dagegen an Gottesfürchtige. 178 Mit Wolter, EKK 6/1, 409. 179 Weiss, KEK 4, 324. 180 Der Bezug auf die Tora wird jedoch mehrheitlich von den Exegeten vertreten, vgl. z. B. Dunn, WBC 38A, 359; Jewett, Hermeneia, 430; Wilckens, EKK 6/2, 63 f; Lietzmann, HNT 8, 72. 181 Vgl. Michel, KEK 4, 220; Schmidt, ThHK 6, 120; zustimmend: Vollenweider, Freiheit, 339. Zur Analogie Tora – allgemein menschliches Recht, vgl. Röm 2,12 f. 182 Käsemann, HNT 8a, 179. 183 Wolter, EKK 6/1, 410. 184 Ebd.; vgl. Käsemann, HNT 8a, 179; Sanday/Headlam, ICC, 172; vgl. Bultmann, Theologie, 260 (Gesetz als Norm). 185 Anders Esler, Conflict, 222–242. Er will Röm 7 nur auf Juden und das jüdische Gesetz beziehen. 186 Vollenweider, Freiheit, 340 Anm. 266.

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ist er von den Geboten frei (‫“)חפשי‬.187 Dass der Tod von Herrschaftsverhältnissen befreit, war auch sonst in der Antike klar: Im Traumbuch des Artemidor bedeutet der Tod z. B. für einen minderen Sklaven Freiheit: „der Tote ist nämlich keinem Herrn untertan und aller Anstrengungen und Dienste ledig“.188 Auch Paulus setzt die Idee der Freiheit von Herrschaftsverhältnissen voraus, wenn er in Röm 6,7 schreibt: „Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde“. In Röm 7 geht es jedoch nicht um die Herrschaft der Sünde, sondern des Gesetzes, wobei das Gesetz nach Röm 7,5 die Leidenschaften der Sünden hervorruft. Die Regel, dass das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt (7,1), konkretisiert Paulus in 7,2 f anhand des Ehebildes – dem Beispiel kommt das verbreitete Verständnis der Ehe als eines Herrschaftsverhältnisses entgegen, das sich auch bei Paulus ausmachen lässt (vgl. 1Kor 7,[4].15.27.39). Das Bild der Ehe reflektiert in zwei Durchgängen die Situation der Ehefrau189 a) zu Lebzeiten ihres Mannes und b) wenn er stirbt bzw. gestorben ist:190 7,2a:

Die verheiratete (wörtlich: einem Mann unterworfene) Frau ist durch das Gesetz gebunden, solange der Mann lebt.

7,2b:

Wenn der Mann stirbt, ist sie vom Gesetz des Mannes losgekommen (d. h. nicht mehr an das Gesetz gebunden).

Auf diesen ersten Durchgang folgt, mit ἄρα/ára im Sinne von „das heißt“ angeschlossen, eine konkretisierende Konklusion, die auf das Delikt des Ehebruchs eingeht: 7,3a:

Solange der Mann lebt, wird sie Ehebrecherin genannt, wenn sie einem anderen Mann zu eigen wird.

7,3b:

Wenn aber der Mann stirbt, ist sie frei vom Gesetz, so dass sie keine Ehebrecherin ist, wenn sie einem anderen Mann zu eigen wird.

187 bShab 151b zu Ps 88,6 (vgl. auch Bill.  III, 232.234). ‫ חפשי‬wird in der LXX meist mit ἐλεύθερος (eleútheros; frei) wiedergegeben, s. Vollenweider, Freiheit, 340 m. Anm.  266; vgl. auch bNid 61b, wo das Verbot des Tragens von Mischgewebe von Lev 19,19 nicht für die Toten gilt. 188 Artemid. 2,49, S. 181,7–9 (deutsche Übers. K. Brackertz, 185). Das Zitat macht die Be­ ziehung des Ehebildes zur Sklavenmetaphorik deutlich. Zum Sterben als Freilassung vgl. die­ antiken Belege bei Haacker, ThHK 6, 137 Anm. 4. 189 Zur Fokussierung auf die Frau vgl. Burchard, Röm 7,2–3, 449. 190 Röm 7,2 f. Übers. in Anlehnung an Wolter, EKK 6/1, 408.

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Im Kontext betrachtet, irritiert das Ehebild: Einerseits ist es mit der einleitenden Regel in Röm 7,1, dass das Gesetz über den Menschen herrscht, so lange er lebt, durch die Gesetzesthematik und durch die Opposition „Herrschen des Gesetzes“ (7,1) und „Frei-werden vom Gesetz“ (7,3) sowie die damit verbundene Todes­ thematik verbunden, andererseits ist es im Ehebild nicht der gestorbene Ehemann, der durch seinen Tod vom Gesetz frei wird, sondern die den Ehemann überlebende Ehefrau. Würde das Bild der in bShab 151b bezeugten Logik folgen: „sobald der Mensch gestorben ist, ist er von den Geboten frei“ – dann müsste die Frau sterben, um vom Gesetz frei zu werden. Sie wird aber bei Paulus durch den Tod ihres Mannes frei vom Gesetz, nicht durch ihren eigenen Tod. Diese Widersprüchlichkeit in 7,1–3 hat seit der alten Kirche viele Lösungsversuche evoziert.191 Keiner erwies sich als logisch einsichtig und kohärent.192 Wahrscheinlich ist es allein der Zusammenhang Tod – Freiheit vom Gesetz, der in 7,1–6 für Paulus ausschlaggebend ist. Wie im Sklavenbild geht es auch im Ehebild um einen Herrenwechsel: Der Sklave steht unter der Gewalt seines Herrn, die Ehefrau steht unter der Gewalt ihres Mannes. Letzteres macht schon die Wortwahl in 7,2 deutlich, wo die Frau als ὕπανδρος/hýpandros (dem Mann unterworfen) bezeichnet wird.193 Der Begriff „bringt die rechtliche Ehewirklichkeit der Antike zum Ausdruck“  – auch wenn der Mann der Frau „liebevoll und fürsorglich war oder in seinem Haus unter dem Pantoffel stand“.194 Die Frau gehörte ihrem Ehemann – inklusive ihres Körpers.195 Während jedoch der Sklave – wie Röm 6 nahelegt – aktiv den Wechsel des Herrn betreiben konnte, war der legale Wechsel des Mannes für eine Ehefrau – nach dem Ehebild des Paulus – zu Lebzeiten ihres Ehemannes nicht möglich. Paulus steht hier entweder traditionelles jüdisches Eherecht vor Augen, wonach die Frau nicht von sich aus die Scheidung von ihrem Mann betreiben konnte,196 oder er zieht – urchristlicher Tradition (Mt 5,31 f) entsprechend – die 191 Vgl. neben den Kommentaren Spitaler, Reasoning, 716 f Anm. 3. 192 So z. B. auch Wolter, EKK 6/1, 411. 193 Menge, Grosswörterbuch, 702, übersetzt ὕπανδρος/hýpandros mit „dem Manne unterworfen, verheiratet“; Bauer, Wörterbuch, 1669, mit „unter der Gewalt des Mannes stehend“, schlägt aber mit Bezug auf unsere Stelle für ὕπανδρος γυνή/hýpandros gynē´ die Übersetzung „die verheiratete Frau“ vor. Earnshaw, Marriage Analogy, 74–78, will in Bezug auf Röm 7,2 nur die Bedeutung „verheiratet“ zulassen und die Bedeutung „under a man“ ausschließen. Doch selbst wenn das zuträfe, so war eine verheiratete Frau in der Realität einem Mann unterworfen (m. Burchard, Römer 7,2–3, 449). 194 Beide Zitate aus: Wolter, EKK 6/1, 413. 195 Burchard, Röm 7,2–3, 449. 196 Nach Dtn 24,1 hatte allein der Mann das Recht, sich scheiden zu lassen. Die Frau durfte keinen Scheidebrief ausstellen. Sie konnte aber von ihrem Mann den Scheidebrief verlangen, wenn dieser ihre grundlegenden Bedürfnisse nicht befriedigte, s. Fechter/Sutter-Rehmann, Art. Ehe, 93. Bei einer ganzen Reihe von jüdischen Oberschichtsfrauen (wie Salome bei Jos. Ant. 15,259) können wir eine Orientierung am hellenistisch-römischen Recht beobachten, wo auch die Frau den Mann entlassen kann (Gai. inst. I 137a), vgl. Wilker, Rom, 59–63 (zur

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Möglichkeit einer Scheidung gar nicht in Betracht.197 Vom „Gesetz des Mannes“ los kommt sie nach 7,2b nur durch den Tod ihres Ehemannes. Dunn kontrastiert hier römisches Recht: In ihm ist die Frau durch den Tod ihres Ehemannes nicht frei vom Gesetz des Mannes, sie ist vielmehr verpflichtet, ihn zu betrauern und zwölf Monate lang unverheiratet zu bleiben – ansonsten verwirkt sie ihr Erbe.198 Ob man hier so scharf kontrastieren kann, ist jedoch fraglich. Denn auch im Judentum war die Trauerperiode reglementiert: Diese erstreckte sich über ein Jahr, das wieder in Zeitstufen mit unterschiedlichen Einschränkungen untergliedert war: In der ersten Woche nach dem Todesfall waren Feste und Sexualität verboten und damit eine Wiederheirat ausgeschlossen. Die nächste Stufe erstreckt sich über einen Monat (sheloshim) – auch in dieser Zeit sind Feiern verboten. In dieser Zeit darf der bzw. die Trauernde nicht einmal die Hochzeiten anderer besuchen. Nach 30 Tagen endet jedoch die Trauerzeit (außer bei einem Elternteil) und damit war grundsätzlich eine Wiederheirat möglich.199 Folglich war auch eine jüdische Frau nicht sofort, aber deutlich früher „frei“ als nach dem (säkularen) römischen Gesetz der Kaiserzeit, das selbst jedoch eine zeitliche Ausweitung und Verschärfung gegenüber vorangehenden religiösen Regelungen darstellt.200 Statistisch gesehen war die Wahrscheinlichkeit für eine Frau hoch, ein-, ja zweimal in ihrem Leben zur Witwe zu werden.201 Der Tod des Mannes bedeutete für die Frau – anders als wir heute assoziieren könnten – nicht Befreiung zu einem Diskussion im Neuen Testament vgl. bes. Bammel, Eherecht, 96–100; Brooten, Scheidung; dies., Debatte; Schweizer Scheidungsrecht; Weder, Perspektive), aber das dürfte für Paulus nicht leitend gewesen sein. Im Talmud wird die Initiative der Frau zur Scheidung abgelehnt, vgl. Falk, Art. Ehe/Eherecht/Ehescheidung, 315 Z. 20–24. 197 Vollenweider, Freiheit, 341 m. Anm. 273; vgl. den Rat des Paulus in 1Kor 7,12 f. 198 Dunn, WBC 38a, 360. Kaser/Knütel, Privatrecht, § 58,23, spricht von „erheblichen vermögensrechtlichen Nachteilen“, wenn sich die Witwe innerhalb des ersten Jahres nach dem Tod ihres Mannes wiederverheiratet. 199 Ich danke C. Hezser für diesen Hinweis. Zu den Regelungen vgl. yKet 1,1/17 und Josef, Art. Trauer, 1036–1038. 200 Vgl. dazu Corbett, Marriage, 249. Plut. Numa 12 setzt eine Witwenzeit von zehn Monaten voraus. Heiratet eine Witwe vorher, muss sie eine Kuh als Opfer bringen. 201 Vgl. Bagnall/Frier, Demography, 115, 120 und v. a. Fig. 6.1 (S. 113), ferner literarische Zeugnisse: „All of the women about whose marriages we have the most information from the legal documents in the Judaean desert had been widowed“ (Satlow, Marriage, 182), mehrere Frauen waren sogar zweimal verwitwet (Babatha, wohl auch Salome und deren Mutter S­ alome Gropte, vgl. ebd., 341 Anm. 3). Umgekehrt war in der Antike aber auch für einen Mann die Wahrscheinlichkeit hoch, zum Witwer zu werden, besonders wenn man an die Gefahren denkt, die Geburt und Kindbett für eine Frau mit sich brachten (zu letzterem vgl. Sutter-­R ehmann, Gebärerin, bes. 175–178.225–230). Auf einigen jüdischen Epitaphen betrauert die Frau den Tod ihres Ehemannes (vgl. die Belege bei Satlow, Marriage, 341 Anm. 4). Häufiger sind jedoch Epitaphe belegt, wo der Mann um seine verstorbene Ehefrau trauert. Statistisch ist dieser Befund jedoch hinsichtlich der Mortalität von Ehepartnern schwer auszuwerten, da die Pflicht, des Mannes (durch eine Inschrift) zu gedenken, eher der biologischen Herkunftsfamilie und den Kindern, als der Ehefrau oblag (ebd., 341).

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selbstbestimmten Leben. Die durch den Tod des Mannes gewonnene rechtliche Freiheit202 bedeutete in biblischer Zeit gemeinhin sozialen Abstieg, Unsicherheit, Schutzlosigkeit und Einsamkeit.203 Als Witwe hatte die Frau in der Gesellschaft ihren Status als Ehefrau verloren: Sie ist „zur Unperson geworden“.204 Witwen und Waisen galten nicht zu Unrecht in biblischer Zeit als die schwächsten Glieder der Gesellschaft.205 Der Frau steht jedoch nach dem Tod des Mannes die Möglichkeit offen, eine neue Verbindung einzugehen (vgl. mQid 1,1). Das wurde im jüdischen Bereich als beste Lösung für eine verwitwete (und geschiedene Frau) angesehen206 und normalerweise auch praktiziert.207 Für die Frau impliziert das aber auch, wieder einem Mann unterworfen zu sein. Es geht also im Ehe- wie im Sklavenbild des Paulus um einen Herrschaftswechsel. Entscheidend ist: Durch den Tod des Mannes ist die Frau – anders als zu dessen Lebzeiten – keine Ehe­ brecherin, wenn sie einem anderen „zu eigen“ wird. Auf Ehebruch stand nach Lev 20,10 und Dtn 22,22 die Todesstrafe.208 Ehebruch wurde also als hochgradig kriminell eingestuft, auch wenn die Todesstrafe realiter aufgrund der Zweizeugenregel (Num 35,30; Dtn 17,6) und des normalerweise wohl gezahlten Sühnegeldes (vgl. Prov 6,35) eher nicht praktiziert wurde.209 Nach dem jüdischen Historiker Josephus210 verheiratete sich Herodias zu Lebzeiten ihres Mannes Herodes Boethos mit dessen Bruder Herodes (Antipas), „nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, obwohl er noch lebte“. Das Wort μοιχαλίς/moichalís (Ehebrecherin) ist (zumindest vorneutestamentlich) nur in jüdischem Kontext belegt.211 Auch Johannes der Täufer wendet sich nach 202 Die Witwe ist sui iuris, vgl. Wegner, Chattel, 14–17, bes. 16.  203 Vgl. Burchard, Römer 7,2–3, 451 f. 204 Ebd., 452. 205 Tal Ilan sieht hier mit Verweis auf die Rabbinen (bGit 12b) einen großen Unterschied zwischen Sklaven und geschiedenen und verwitweten Frauen: Während Sklaven durch den Gewinn der Freiheit eine Besserstellung erfahren, verlieren Frauen durch den mit dem Gewinn der Freiheit verbundenen Statuswechsel – sie sind danach (u. a.) ökonomisch schlechter gestellt (Ilan, Jewish Women, 148). 206 So in Bezug auf die Rabbinen: ebd. Die Rabbinen kommen einer Witwe sehr weit entgegen, um deren Wiederheirat zu erleichtern: z. B. akzeptieren sie sogar nur eine (!) weibliche (!) Zeugin zur Feststellung des Todes des Mannes statt (wie üblich) das Zeugnis zweier männlicher Zeugen (mYev 16,5–7; bYev 115a). 207 Satlow, Marriage, 182 f. 208 Das gilt auch für Rom bis zur klassische Zeit und blieb danach noch im Bewusstsein, vgl. Grimal, L’amour, 125. 209 Dyma, Art. Ehe (AT); Theobald, Johannes, 561. Ab der klassischen Zeit ist auch im römischen Kontext die Todesstrafe üblicherweise ersetzt durch Scheidung von der Frau unter Einbehaltung ihrer Mitgift und durch Schande für deren außerehelichen Partner, s. Grimal, L’amour, 125. 210 Jos. Ant. 18,109 f.136. 211 Vgl. Wolter, EKK 6/1, 414; Burchard, Römer 7,2–3, 452 Anm. 52; im Neuen Testament auch Jak 4,4; 2Petr 2,14.

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Mk 6,18 gegen die Ehe der Herodias. Das sind Hinweise darauf, dass Paulus sich in Röm 7,3 auf jüdisches Eherecht bezieht. Doch auch im paganen Kontext konnte der Verkehr einer Frau mit einem anderen Mann als dem Ehemann „obwohl ihr (Ehe-)Mann noch lebt“ als gesetzeswidrig aufgefasst werden.212 Valeria Messalina, die Frau der Kaisers Claudius, ist zwar – ohne Scheidung (!) – zu Lebzeiten ihres Mannes eine neue Ehe eingegangen – aber das war ein sehr großer Skandal. Mitwisser, ihr neuer Mann und sie mussten dafür mit dem Leben bezahlen (Tac. ann. XI 12,26–38).213 Vor diesem Hintergrund ist Paulus zu verstehen, der in 7,2 f feststellt: Die Frau ist gebunden, so lange der Mann lebt. Ist der Mann gestorben, dann gilt die Frau nicht mehr als Ehebrecherin, wenn sie einem anderen „zu eigen“ wird. Die Gebundenheit durch den Ehemann steht in Opposition zum Loskommen vom Gesetz des Mannes (7,2) – die Frau ist also nicht in jeder Hinsicht frei, aber sie ist frei, eine neue Bindung einzugehen.214 Nach jüdischer Auffassung konnte ein Mann bei außerehelicher sexueller Aktivität seine eigene Ehe nicht brechen, nur die Ehe einer verheirateten Frau, wenn er mit dieser sexuellen Verkehr hatte. Im römischen Bereich war ganz analog der außereheliche Geschlechtsverkehr des Ehemannes weder durch Gesetze noch durch Bräuche eingeschränkt, solange er nicht die Ehre einer verheirateten Frau (mit Bürgerstatus) oder einer Tochter des Hauses betraf.215 Deshalb konnte Paulus schwer von einem Mann sagen, er werde ein „Ehebrecher“ genannt, wenn er zu Lebzeiten seiner Ehefrau außerehelichen Geschlechtsverkehr hatte. Eine Ehefrau dagegen, die zu Lebzeiten ihres Mannes außerehelichen sexuellen Kontakt hatte, war eine Ehebrecherin.216 Auch deshalb eignet sich die Fokussierung auf die Frau im Ehebild des Paulus besser als die auf den Ehemann. Nun gab es besonders im nichtjüdischen Kontext das Ideal der univira – der Witwe, die ihrem Mann auch über dessen Tod hinaus treu bleibt und nicht wie 212 Vgl. Diod. X 21,4 (s. u.) und Wolter, EKK 6/1, 414. 213 Der Gedanke an Valeria Messalina dürfte den römischen Lesern und Leserinnen „in lebhafter Erinnerung gewesen sein“, so Haacker, ThHK 6, 137. 214 So Burchard, Röm 7,2–3, 452 f. Anders Jewett, Hermeneia, 432 mit Anm. 29. 215 Vgl. Grimal, L’amour, 119. Zur sexuellen Freiheit des Mannes im Unterschied zur Frau vgl. Kienast, Cato, 166, fr. 218 f (De dote). Die rechtlich geschützte Monogamie war im römischen Kontext durch eine faktische Polygamie flankiert, s. Grimal, L’amour, 129.132 f. Gleichwohl konnte der fremdgehende Ehemann beim Verkehr mit einer unverheirateten Frau bzw. Freigelassenen oder einer Sklavin Probleme mit deren Vater bzw. Vormund oder dem Herrn der Sklavin bekommen (Piepenbrink, Konzeptualisierung, 198). Zudem drohte ihm eine Klage wegen Unzucht (stuprum) beim Verkehr mit einer freien, unverheirateten Frau, (Piepenbrink, Konzeptualisierung, 198). 216 Das pagane (!) Beispiel der Lucretia bei Diod. X 21,4, die nach ihrer Vergewaltigung Selbstmord begeht, zeigt, dass sogar eine Vergewaltigung zu Lebzeiten des Ehemannes – obwohl der Mann sie entschuldigt – als unerträglich interpretiert werden konnte, vgl. Grimal, L’amour, 124 f.

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der heiratet.217 Das große Ansehen der Frau, die ihr ganzes Leben lang nur mit einem einzigen Mann zusammen war,218 machen entsprechende Inschriften auf Grabplatten, Urnen und Sarkophagen deutlich.219 Trotz der römischen Hochschätzung der Einehe,220 die wir auch in Qumran (vgl. v. a. CD IV,20 f–V,2) und in der Jesusbewegung (vgl. v. a. Mk 10,6) finden,221 geht Paulus – traditionell jüdisch denkend – hier offensichtlich davon aus, dass sich die Frau nach dem Tode ihres Mannes wieder mit einem anderen Mann verbinden wird. Hier haben wir eine strukturelle Analogie zum Herrenwechsel des Sklaven. Die in 7,4 folgende Anwendung auf die AdressatInnen des Römerbriefs macht den Bildcharakter der vorangegangenen Verse klar,222 irritiert aber gleichzeitig im Blick auf das Ehebild von 7,2 f: Denn nun sind es die Angeredeten („ihr, meine Brüder [und Schwestern]“223), die dem Gesetz getötet wurden durch den Tod Jesu 217 Vgl. Humbert, Remariage; Piepenbrink, Konzeptualisierung, 205 Anm. 43 (Lit.!). Wie weit das Ideal in den breiten Schichten der Bevölkerung gelebt wurde, ist umstritten. Die Gesetzgebung unter Augustus zielte auf eine Wiederverheiratung und die Zeugung von Nach­ kommen (Humbert, Remariage, 146–160). Ein Pendant zum römischen und christlichen Ideal der univira gab es im Judentum nicht (Satlow, Marriage, 183). Im Judentum heirateten Witwen normalerweise schnell wieder. Zu den wenigen Ausnahmen vgl. Ilan, Jewish Women, 149 f. Vier jüdische Inschriften mit μόνανδρος/mónandros, dem griechischen Pendant der univira, wurden in Italien gefunden (CIJ 1,392; 1,81; 1,58; 1,550, vgl. Kötting, „Univira“, 196 mit 203 Anm. 20), davon zwei Epitaphe in Rom (Leon, Jews, 274 f Nr. 81 = CIJ 1,81 [Agentia], ebd., 324 Nr. 392 = CIJ 1,392 [Rebecca]), auf denen die verstorbene Frau als μόνανδρος/mónandros bezeichnet wird. Sie sind als Anpassung an römische Vorstellungen zu werten (Kötting, „Univira“, 199, Leon, Jews, 130). 218 Das betrifft Witwen, die nicht wieder geheiratet haben. Da aber auch der überlebende Mann seine verstorbene Frau in (Grab-)Inschriften als univira bezeichnen konnte und sie zudem oft als „keusch“ und „züchtig“ rühmt, ist zu vermuten, dass mit dem Begriff „univira“ auch die Treue der Frau in der Ehe gelobt werden konnte – letztere lebte ja nie als Witwe, vgl.­ Kötting, „Univira“, 196 f. 219 Kötting, Bewertung, 18 f. Die Hochschätzung wird in den Laudationes durch die mit „univira“ verbundenen Adjektive wie rarissima, incomparabilis, etc. deutlich, vgl., ders., „Univira“, 196. Das Ideal der Einehe galt übrigens auch für Männer, vgl. Eisen, Amtsträgerinnen, 153 Anm. 14. Im nachpaulinischen Christentum und der frühen Kirche bildeten asketisch lebende „Witwen“ eine eigene Gruppe, die – in ihr Amt eingesetzt – bestimmte Funktionen in der Gemeinde erfüllten, vgl. 1Tim 5,3–16 und Eisen, Amtsträgerinnen, 138–153. Der Begriff „Witwe“ kann dabei im christlichen Kontext auch (Jung-)Frauen bezeichnen, die aus Liebe zu Gott enthaltsam leben, vgl. v. Gemünden, Les veuves. 220 Kötting, Bewertung, 15–18, Funke, Univira, 183; 186 Anm. 26. Auch wenn die römische Gesetzgebung der Kaiserzeit (1.–4. Jh.) „auf die Wiederverheiratung der durch Scheidung oder Tod des Mannes frei gewordenen Frau“ drängte, s. Kötting, „Univira“, 198; Funke, Univira, 185 f. 221 Weitere Verweise bei Wilker, Rom, 59. 222 Straub, Bildersprache, 94. 223 Die Pluralform „Brüder“ (ἀδελφοί/adelphoí) konnte im Griechischen auch geschlechtsneutral verwandt werden, vgl. Reck, Kommunikation, 190 Anm. 112 und Klauck, Freundesgemeinschaft, 10. 

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Christi („durch den Leib Christi“), auf dass sie einem anderen – nämlich „dem, der von den Toten auferweckt wurde“ zu eigen werden. Nicht der Mann der Frau stirbt, so dass sie „vom Gesetz (des Mannes)“ frei wird und so einem anderen zu eigen werden kann, ohne Ehebrecherin genannt zu werden, sondern nun sterben die AdressatInnen selbst dem Gesetz, so dass sie dem Auferweckten zu eigen werden. Letzteres erinnert an den Rechtsgrundsatz von 7,1, wonach das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt. Auch dort ist es der eigene Tod, der den Menschen den Ansprüchen des Gesetzes entzieht. Knüpft 7,4 also einfach an 7,1 an? Springt Paulus in 7,4 also gedanklich zu 7,1 zurück? Das meinen manche Ausleger.224 Dann bleibt gleichwohl die Frage, warum ­Paulus in 7,2 f das Ehebild überhaupt bietet. Die Anwendung und das Ehebild verbindet u. E. dreierlei – und hier kommen auch Aspekte zum Tragen, die der Rechtssatz vom Tod des Menschen in 7,1 nicht leisten kann: (1) In 7,1 gibt der eigene Tod Freiheit gegenüber dem Gesetz, im Ehebild 7,2 f gibt dagegen der Tod eines anderen, des Ehemannes bzw. Christi, Freiheit vom Gesetz.225 (2) In Bezug auf die Ehefrau und die AdressatInnen meint der Tod sowohl im Ehebild 7,2 f als auch in der Anwendung in 7,4 keinen physischen Tod – die Ehefrau stirbt nicht physisch. Durch den Tod ihres Mannes erlebt sie jedoch einen sozialen Tod: Sie wird zur „Unperson“. Auch die AdressatInnen, die Christinnen und Christen, sterben letztlich keines physischen Todes, wenn sie mit Christus in der Taufe sterben (vgl. Röm 6). Sie sterben ihrer Bindung an die (Macht der) Herrscherin Sünde (Röm 6) bzw. ihrer Bindung an das Gesetz (7,6a). (3) Der Tod ist Voraussetzung für einen Herrenwechsel: Die Frau kann – ohne „Ehebrecherin“ genannt zu werden  – einem anderen Mann zu eigen werden. Die AdressatInnen werden dem Auferweckten zu eigen,226 d. h. es kann jeweils eine neue Bindung eingegangen werden, was das Bild vom Tod des Menschen in 7,1 nicht leisten könnte. Der Tod ermöglicht also (wie im vorangegangenen Sklavenbild) einen legalen, klaren und nachhaltigen Herrschaftswechsel und damit eine neue soziale Zuordnung und Identität.

224 Z. B. Zeller, RNT, 131. 225 Vgl. Wolter, EKK 6/1, 414 f. Die Todesmetaphorik begegnet auch in Gal 2,19, wo Paulus schreibt, dass der Christ „dem Gesetz gestorben“ sei. Das „Ich“ in Gal 2,19 ist nicht nur auf Paulus zu beziehen, vgl. Mussner, Galaterbrief, 179. 226 Schon in 2Kor 11,2 hat Paulus geschrieben, er habe die Christen einem einzigen Mann – Christus – „verlobt“ und rekurriert ebenfalls auf das Bildfeld „Ehe“, um die neue Bindung im Leben der Christen auszudrücken.

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Gleichwohl passt der einleitende Rechtssatz vom Tod des Menschen in 7,1 in gewisser Weise zu den folgenden Versen, denn in der Ehe werden Mann und Frau „ein Leib“ – insofern stirbt mit dem Mann die Frau und umgekehrt. Der „eine Leib“ existiert nach dem Tod eines Ehepartners nicht mehr, die Paarexistenz ist gestorben.227 Das gibt dem Abschnitt trotz der irritierenden Sprünge eine gewisse Kohärenz. Wie im Sklavenbild (6,21 f) folgt in 7,4 f auf den Herrenwechsel die Fruchtmetaphorik. In 7,4b steht das Fruchtbringen als positive Zielangabe voran. Jetzt schließt sich Paulus mit ein:228 Ziel sei, „Gott Frucht zu bringen“, also die aus dieser neuen Lebensbeziehung und Identität erwachsenden menschlichen Taten.229 „Gott Frucht zu bringen“ steht im Gegensatz zur einstigen Existenz der Christen („wir“), in der sie dem Tod Frucht brachten (7,5). Der Wechsel wird (ohne das Ehebild) in 7,5 f im Einst-Jetzt-Schema abschließend entfaltet: … als wir dem Fleisch verfallen waren, da waren die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz (hervorgerufen wurden), in unseren Gliedern wirksam, so dass (wir) dem Tod Frucht brachten. 6Jetzt aber sind wir losgekommen vom Gesetz, weil wir (dem) gestorben sind, durch das wir niedergehalten wurden, sodass wir in der Neuheit des Geistes (πνεῦμα/pneúma) als Sklave dienen (δουλεύειν/douleúein) und nicht in der ‚Altheit‘ des Buchstabens (7,5 f).230 5

Obwohl 7,5 f (auch) die im Römerbrief folgenden Ausführungen231 vorbereitet, nimmt 7,6 mit der Rede vom „Loskommen vom Gesetz“ und „Sterben“ Formulierungen aus dem Ehebild (vgl. 7,2) auf, jetzt aber nicht in der Distanz des Bildes, sondern direkt und in der ersten Person Plural („wir [sind] losgekommen vom Gesetz … wir [sind] gestorben …“): Die Distanz des Bildes hilft, in einem ersten Schritt die eigene Wende zu reflektieren (trotz der oben angesprochenen Spannung zwischen Bild und „Anwendung“). Wie im Sklavenbild geht es um einen Herrschaftswechsel – mit der Formulierung „als Sklave dienen“ (7,6) wird auch an das vorangehende Sklavenbild erinnert. Das Loskommen vom Gesetz bedeutet auch in Röm 7 keine autonome Freiheit. Vielmehr dient der Christ nun in einem neuen Herrschaftsbereich: in der Wirklichkeit der Neuheit des Geistes. Von daher ist es wohl kein Zufall, dass der Begriff „frei“ direkt nur im Ehebild (7,3) erscheint: Die qualifizierte ἐλευθερία/eleutería (Freiheit) wird­ Paulus nämlich erst in Röm 8 zusammen mit dem Geist (πνεῦμα/pneúma) und

227 Vgl. Burchard, Röm 7,2–3, 448–454. 228 Die Anrede der Adressaten und Adressatinnen wechselt von „ihr“ (6,21 f und 7,4a) in 7,4b zum „wir“. 229 Zur antiken Metaphorik der Frucht und des Fruchtbringens vgl. nur Wolter, EKK 6/1, 402 m. Anm. 74. 230 Übers. in Anlehnung an ebd., 408. 231 Röm 7,5 wird Röm 7,7–25, Röm 7,6 wird in Röm 8,1–17 entfaltet.

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der Sohnschaft einführen:232 Alle, die vom Geist Gottes bestimmt werden, sind nach 8,14 „Söhne Gottes (υἱοὶ θεοῦ/hyioí theoú)“.233 Damit sind wir beim nächsten Bild.

4.2.3 Die Adoption des Sohnes (Röm 8) Während das Sklaven- und das Ehebild von einer hierarchischen Abhängigkeit im Haus (οἶκος/oíkos) geprägt sind, werden die Söhne in 8,15 expressis verbis von den Sklaven abgesetzt, wenn es heißt: „Ihr habt nämlich nicht den Geist der Sklaverei empfangen, sodass ihr euch wieder fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, in dem wir rufen: Abba, (das heißt) Vater“. Sklaven und Söhne unterstehen zwar beide dem Herrn bzw. Vater, aber Sklaverei und Sohnschaft werden hier insofern in Opposition zueinander gesetzt, als erstere mit Furcht, letztere mit vertrauensvoller Anrufung des Vaters verbunden ist. In der Tat ist „Furcht“ ein Charakteristikum der Sklavenexistenz und folglich eng mit dem Sklavenbild konnotiert. So sieht Plutarch eine Verbindung zwischen „als Sklave dienen“ (δουλεύειν/douleúein), „Sklaverei“ (δουλεία/ douleía) und „Furcht“ (δειλία/deilía).234 Kleomenes brachte das nach Diogenes Laertius auf den Punkt: „sich zu fürchten […] kommt einem Sklaven zu“.235 Dagegen erzählt das Bildwort in Lk 11,11par ganz selbstverständlich von der vertrauensvoll bittenden Hinwendung des Sohnes zum Vater. Die vertrauensvolle Abba-Anrede in 8,15, die gleichwohl nicht als kleinkindliches „Papi“ zu fassen ist,236 steht aber im Kontrast zum (im κυριεύειν/kyrieúein von 6,14 implizierten) Herrn (κύριος/kýrios). Dass der Sohn vom Sklaven so grundsätzlich wie in 8,15 unterschieden wird, war – geht man von der Semantik und juristischen Regelungen aus – nicht selbstverständlich. Das zeigt schon der griechische und lateinische Wortgebrauch, wo griechisch παῖς/país und lateinisch puer sowohl den Sklaven unabhängig von dessen Alter als auch das Kind bezeichnen können.237 Zwar war der Sohn nach­ 232 So Vollenweider, Freiheit, 345. 233 Schon die Kirchenväter diskutieren die mögliche Beziehung zu dem ὁρισθέντος υἱοῦ θεοῦ/horisthéntos hyoú theoú („der zum Gottessohn eingesetzt worden ist“) von Röm 1,4a, wobei das ὁρίζειν/horízein teilweise im Sinne von „adoptieren“ interpretiert wurde, vgl. dazu mit Belegen: Scott, Adoption, 221–223. 234 Plut. mor. 987D.E, vgl. Eph 6,5 und Haacker, ThHK 6, 157 Anm. 12. Theobald, SKK. NT 6/1, 231 f, denkt an die Angst des „antiken Menschen […] vor Dämonen und Göttern“ (Plut., De superstitione). 235 Diog. Laert. 6,75. S. auch (mit weiteren Belegen) Wolter, Römer, EKK 6/1, 495. 236 Vgl. ausführlich Barr, ´Abbā, 28–47; Zeller, Father, 122–125; Toenges, Vater, 18–23.265. 237 Zu παῖς/pais s. Menge, Grosswörterbuch, 512, sowie Aristoph. Vesp. 1297 f, vgl. 1307 (παῖς/pais wird hier etymologisch von παίεσθαι – geschlagen werden abgeleitet); zu puer vgl. Saller, Household, 114, Finley, Slavery, 96. Zum Folgenden vgl. Fitzgerald, Slavery, 78 f.

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römischem Recht im Gegensatz zum Sklaven (im Blick auf das öffentliche Recht) personenrechtlich frei, jedoch unterstanden im römischen Kontext auch die erwachsenen Söhne der Gewalt des pater familias, des Familienoberhaupts, solange dieser lebte:238 Schon nach der Geburt hing nicht nur das Leben des neugeborenen Kindes eines Sklaven bzw. einer Sklavin, sondern auch das des legalen Kindes des Familienoberhaupts von der Anerkennung durch den pater familias ab.239 Er hatte das Recht über Leben und Tod (ius vitae necisque) – auch über Ehefrau und Kinder240 – und nach allgemeiner Auffassung auch das Recht, diese zu verkaufen (ius videndi) oder zu verpfänden.241 Das Vermögen, das Sklave und Sohn verwalten, aber nicht selbst erwerben und besitzen konnten,242 wird jeweils peculium genannt, auch dadurch werden sie parallelisiert. Selbst die Heirat seiner Kinder kontrollierte der pater familias – unabhängig von deren Alter.243 Eine Analogie zwischen Sklaven und Söhnen beobachten wir weiter in Senecas Schrift über die Wohltaten, wenn es da heißt: „Das musste gesagt werden, um zu zermalmen die Unverschämtheit von Menschen, die vom Schicksal abhängen, und für die Sklaven (servis) das Recht, eine Wohltat zu erweisen, zu sichern, sodass es auch von 238 Zur Gewalt des römischen pater familias über das erwachsene Kind und die Kinder seines Sohnes (patria potestas), vgl. Dion. Hal. ant. II 26,4; Gardner, Roman Citizen, 52–84; M ­ üller, Mitte, 108 f. Hier ist jedoch das gewöhnlich späte Heiratsalter des Mannes im Westen („the late twenties“, Gardner, Roman Citizen, 53) und die insgesamt kürzere Lebenserwartung in der Antike in Rechnung zu stellen (vgl. Saller, Patria Potestas; ders., Men’s age; ders., Patriarchy, ­12–42). So wurde aufgrund historisch-demographischer Untersuchungen angenommen, dass mehr als 25 Prozent der Kinder im 15. Lebensjahr schon ihren Vater verloren hatten, vgl. ­Harders, Patchwork Families, 53; MacDonald, Parenting, 92. Was die Ehefrau anlangt, so unterstand sie der Gewalt des pater familias, vorausgesetzt, sie war eine „uxor in manu“ (eine Ehefrau in dessen Hand) – dann ging sie mit der Heirat aus der Gewalt des pater familias ihrer Herkunftsfamilie in die Gewalt ihres Ehemanns oder (wenn ihr Ehemann noch nicht „eigenen Rechts“ [sui iuris] war) in die Gewalt von dessen Vater über. Im Laufe des 1. Jh.’s gingen Frauen jedoch vermehrt eine Ehe „sine manu“ ein. Sie unterlagen damit weiter der Gewalt des pater ­familias ihrer Herkunftsfamilie und gingen rechtlich nicht in die Familie ihres Ehemannes ein, was impliziert, dass sie auch vom Erbe ausgeschlossen waren, vgl. Backe-Dahmen, Innocentissima Aetas, 51. 239 Vgl. Wiedemann, Slavery, 22; Backe-Dahmen, Innocentissima Aetas, 51; Hopkins, Death, 225 f. 240 Backe-Dahmen, Innocentissima Aetas, 50. 241 Gardner, Roman Citizen, 54; Eltrop, Himmelreich, 64; Kaser/Knütel Römisches Privatrecht, 353 (§ 60 I 3b–c). Jedoch bedurfte es dafür  – zumindest in der späten Republik (und wohl auch darüber hinaus) – starke Gründe. Uns sind nur eine Handvoll (oft als Beispiele außerordentlicher Härte eingeordnete) Fälle bezeugt, in denen Väter wirklich Tod oder Verbannung über erwachsene Kinder verhängten, so Gardner, Roman Citizen, 55, der schlussfolgert: „These [sc. death or banishment on adult children] are not to be taken as presenting the typical pattern of paternal behaviour“. 242 Formalrechtlich gehört das peculium des Sklaven wie das der Söhne und Töchter dem pater familias, vgl. Backe-Dahmen, Innocentissima Aetas, 50; Gardner, Roman Citizen, 55–57. 243 Vgl. Saller, Household, 117. Zur Macht des pater familias auch über seine Kinder vgl. zum römischen Bereich Dion. Hal. ant. II 26,4 (s. o.); für den griechisch-römischen Bereich S. Emp. P. H. 3,211.

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Söhnen (a filiis) in Anspruch genommen werden kann“.244 Der römische Komödiendichter Plautus überlagerte in der Komödie gern den häuslichen Vater-Sohn Konflikt mit dem Herrn-Sklaven-Konflikt:245 Der Sklave springt dort dem verliebten Sohn gegen den pater familias zur Seite. Beide, sowohl der Sklave als auch der Sohn, unterlagen zu Lebzeiten des pater familias dessen Züchtigungsgewalt.246 Trotz der Parallelen zwischen Sklaven und Söhnen im Blick auf deren Abhängigkeit vom pater familias dürften beide gleichwohl normalerweise im alltäglichen Leben vom Vater unterschiedlich behandelt worden sein.247 Auf die Unterscheidung von Sklaven und Söhnen weisen linguistische Unterschiede,248 z. B. die Begriffe pater (Vater) und dominus (Herr) für den römischen Haushaltsvorstand, spezifische Eigennamen249 und der Begriff filius naturalis (natürlicher, d. h. nicht legitimer, unehelicher Sohn)250 im Unterschied zum filius familias (dem legitimen, ehelichen Sohn). Das Recht des pater familias über Leben und Tod konnte durchaus Sklaven treffen, hinsichtlich der eigenen Kinder kam es – darauf weisen auch andere gesetzliche Bestimmungen251  – normalerweise nicht zur Anwendung, Thomas wertet es als bloße Möglichkeit.252 Was das peculium anbelangt, so scheint dieses – trotz der rechtlichen Gleichbehandlung von Sklaven und Söhnen in Bezug auf das peculium – in der Praxis eine unterschiedliche Funktion gehabt zu haben: Das peculium der Söhne diente faktisch der Bestreitung laufender Ausgaben derselben, das peculium der Sklaven dagegen Geschäftszwecken.253 Wie wir gesehen haben, bedurfte die Heirat von Kindern der Zustimmung des pater familias. Hier gibt es insofern einen Unterschied zu den SklavInnen, als diese gar 244 Sen. benef. III 29,1, Übers. M. Rosenbach. 245 Vgl. Fitzgerald, Slavery, 79. 246 Saller, Patriarchy, 134 (151); Kleijwegt, Art. Kind, 889, vgl. 899–902. 247 So Saller, Patriarchy, 1994, 151–153; ders., Household; ders., Corporal Punishment; vgl. auch Fitzgerald, Slavery, 79. Zudem wurde die Entscheidungsgewalt des pater familias im Laufe der Geschichte durch eine Reihe von Regelungen zwar nicht unterbunden, aber de facto begrenzt, vgl. Gardner, Roman Citizen, 54. 248 Im Folgenden nach Saller, Household, 114–117. 249 Die drei Namen (tria nomina)  blieben dem römischen Bürger vorbehalten, Sklaven­ hatten einen einzigen, oft aus dem Griechischen abgeleitete Namen, der vom Familiennamen deutlich unterschiedenen war, so ebd., 116. 250 Herren hatten ja häufig sexuelle Beziehungen zu Sklavinnen, aus denen auch Kinder hervorgingen, vgl. MacDonald, Parenting, 89. 251 So wird in den Ehebruchsgesetzen des Augustus das Recht des Vaters, seine ehebrecherische Tochter zu töten, nicht mit seiner patria potestas, sondern mit gerechtfertigtem Schmerz (iustus dolor) begründet, vgl. ebd., 119. 252 „[…] pur concept“, so Thomas, Vitae necisque potestas, 512, vgl. 545 („La vitae necisque potestas n’est pas un fait d’histoire sociale […] Tuer son fils est presque toujours sacrilège“); vgl. auch Saller, Pietas, 395 f. Nach Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 353 (§ 60 I 3a), hat vielleicht schon das Zwölf-Tafel-Gesetz die Ausübung des Rechtes über Leben und Tod ohne Schuldspruch des Hausgerichts verboten. 253 Vgl. Thomas, Droit domestique, 531–561; Gardner, Roman Citizen, 60.

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nicht zu einer formalen Eheschließung berechtigt waren.254 Trotz der aufgezeigten Parallelen zwischen Sklaven und Kindern in deren Abhängigkeit vom pater familias lassen sich auch rituelle und symbolische Unterschiede zwischen ihnen feststellen.255 So waren z. B. freie Kinder durch die allgemeinen Wertvorstellungen stärker vor sexuellen Übergriffen geschützt als Sklavinnen und Sklaven.256 Und in der Züchtigungsgewalt des Vaters gab es im (griechisch-) römischen Bereich de facto durchaus Abstufungen der Gewalt zwischen Sklave und Sohn.257 Zudem waren Sklaven und Sklavinnen von legitimen Söhnen und Töchtern durch die Bekleidung unterschieden.258 Damit wäre der Unterschied zwischen der römischen Praxis und dem in 8,15 vorausgesetzten Vater-Sohn-Verhältnis gleichwohl nicht so groß wie Sprachgebrauch und juristische Regelungen im römischen Kontext auf den ersten Blick nahelegen. Nach römischem Selbstverständnis ist die patria potestas ein spezifisch römisches Recht. Das bringt Gai. inst. I 55 folgendermaßen zum Ausdruck: „Dieses Recht ist allein römischen Bürgern zu eigen, kaum andere Menschen gibt es, die solch große Gewalt über ihre Kinder haben, die wir haben“.259 Ebenso betont Dionysius von Halicarnassus (II 26,1–3) im Hinblick auf die patria potestas die Unterschiede zwischen Römern und Griechen: Bei letzteren wäre die Autorität des Vaters über den Sohn nur auf eine sehr kurze Zeit begrenzt (nämlich auf die Zeit „bis zur Vollendung des dritten Jahres des mannbaren Alters“260 oder in der der Sohn Junggeselle war oder bis zur Einschreibung in die öffentlichen Listen), zudem konnte der Vater nur relativ leichte Strafen gegen den Sohn verhängen (Verbannung aus dem Haus, Enterbung).261 Die Darstellung von Dionysius von Halicarnassus scheint aber schon zu Beginn der Kaiserzeit, als dieser schrieb, nicht mehr zutreffend gewesen zu sein.262 Nun verwendet Paulus, wenn er in 8,15 vom „Geist der Sohnschaft“ schreibt, mit υἱοθεσία/hyiothesía einen erst in später hellenistischer Zeit aufkommenden263 254 Saller, Household, 121. 255 Ebd., 121–128. 256 Ebd., 125–127. 257 Saller, Patriarchy, 134.151–153; ders., Household, 127 f; Kleijwegt, Art. Kind, 888 f; Plaut. Most. 743–750; 1154–1165.1167–1180. 258 Saller, Household, 128. 259 Gai. inst. I 55. Übers. nach Schröter/Zangenberg (Hg.), Texte, 127. Nach P. Müller ist die Vorherrschaft des Hausvaters gleichwohl „in ähnlicher Weise in der gesamten Antike in Geltung“ (Müller, Mitte, 108). Hier dürfte zu differenzieren sein (s. o.). Lyall, Roman Law, 465 Anm. 34, verweist allgemein auf die Galater: „[…] the Galatians regard children as being in the potestas of their father“. 260 Übers. Wiater, Römische Frühgeschichte, 200. 261 Nach Eyben, Fathers, 114 f, vgl. Kunst, Adoption, 234; Lyall, Slaves, 92 f. 262 Eyben, Fathers, 115. 263 Vgl. Kovar, Römer 8, 55.

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juristischen Begriff, der die Einsetzung zum Sohn, die Adoption, bezeichnet.264 Er fehlt im griechischen Alten Testament und begegnet im Neuen Testament nur bei Paulus und im deuteropaulinischen Epheserbrief.265 Adoptionen waren dem Alten Testament und dem Judentum recht fremd. Ihnen kam keine zentrale Bedeutung zu,266 auch wenn im Alten Testament und Judentum der Rechtsakt der Adoption nicht gänzlich unbekannt war.267 Die Erhaltung der Erbfolge wurde hier über Poly­gamie, Levirats- und Erbtöchterehe geregelt.268 Der Begriff υἱοθεσία/­hyio­thesía fehlt signifikanterweise nicht nur in der LXX, sondern auch bei Philo von Alexandrien.269 Weiter verbreitet waren Adoptionen im griechischen und im römischen Kontext.270 Dabei ergibt sich für die Forschung aber das Problem, dass die Adoptionsregelungen und die Adoptionspraxis in Griechenland lokal und zeitlich in­homo­gen waren.271 Das römische Adoptionsrecht und die römische Adoptionspraxis machen zwar einen einheitlicheren Eindruck, waren jedoch ebenfalls Änderungen unterworfen.272 Hinzu kommt, dass wir (abgesehen von einigen politischen Adoptionen wie der des Augustus, des Tiberius

264 Vgl. Deissmann, Bibelstudien, 66 f; Moule, Art. Adoption, 49; Wülfing-v. Martitz, υἱοθεσία, 400, ausführlich Scott, Adoption, 3–57. Der Begriff ist in literarischen Kontexten nicht sehr verbreitet, findet sich jedoch häufig in Inschriften und Papyri, vgl. (jeweils mit Belegstellen): ebd., bes. 45–50; Wolter, EKK 6/1, 496 m. Anm.  109; Smith, Formulae, 303.305 f.308 f; Kurylowicz, Adoption. Letzterer betont jedoch die Differenzen zur römischen adoptio. Anders als z. B. Schlatter, Gerechtigkeit, 266, geht Käsemann, HNT 8a, 219 davon aus, dass in Röm 8,15 bei υἱοθεσία der Sinn „Adoption“ kaum noch mitschwinge. Für die deutlich seltenere Adoption einer Tochter findet sich der Terminus θυγατροποιία/thygatropoiía, s. Wenger/Oepke, Art. Adoption, 101 f. Liddell/Scott, Lexicon, nennt noch ein im 12. Jh. n. Chr. belegtes θυγατροτεθέω/thygatrotethéō. 265 In Gal 4,5; Röm 8,15.23; Eph 1,5 in Bezug auf die Christen, in Röm 9,4 von den Israeliten. Bis auf Röm 8,23 bezieht sich die Adoption immer auf die Gegenwart, υἱοθεσία wird in Röm 8,23 jedoch nicht in allen Handschriften geboten. 266 Vgl. Wenger/Oepke, Art. Adoption, 106 f. 267 Zu den wenigen Hinweisen auf Adoption(en) im Alten Testament vgl. Theron, „Adoption“, 7; Kovar, Römer 8, 54 f und Rossell, New Testament Adoption. Letzterer betrachtet daselbst (auf den Hintergrund der in den Archiven von Nuzu häufig bezeugten Adoption von Sklaven) die Adoption Eliezers durch Abraham in Gen 15 als Hintergrund der paulinischen Auffassung von Adoption. 268 Vgl. Wenger/Oepke, Art. Adoption, 99. 269 Philo Sobr. 56 setzt  – wahrscheinlich unter dem Einfluss außerjüdischer Praxis  – die Adoption jedoch voraus, wenn es dort vom Weisen heißt, er habe sich Gott zum Vater erwählt und sei „allein als Sohn von ihm adoptiert worden“ (Übers. M. Adler). – In Rom hat es, darauf weisen Katakombeninschriften hin, wohl unter dem Einfluss des römischen Adoptionsrechts „eine kleine Zahl von adoptierten wie adoptierenden Juden“ gegeben (Kunst, Adoption, 231; vgl. die Belege bei Leon, Jews, 232 f). 270 Das schließt Deissmann, Bibelstudien, 66 f aus den zahlreichen Vorkommen des Begriffs υἱοθεσία im griechischen Raum. 271 Vgl. Woodhouse, Art. Adoption (Greek), 107; Scott, Adoption, 3–7; Lyall, Slaves, 95 f. 272 Scott, Adoption, 7.

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oder Neros)273 für das erste Jahrhundert selbst kaum über aussagekräftige Quellen verfügen, sodass vor allem aus dem Vergleich früherer und späterer Quellen auf die Adoption im ersten Jahrhundert geschlossen werden muss.274 Wenden wir uns zunächst der römischen Adoption zu, die in der exegetischen Literatur mehrheitlich als Haupthintergrund von Röm 8,15 (und Gal 4,5) angesehen wird.275 In dem uns interessierenden Zeitraum scheint bei der Adoption der Erhalt der Familie und des Geschlechts (gens), des Familiennamens, des Familienbesitzes und der Hausgötter- und Totenkult hinter der Durchsetzung der patria potestas zurückzutreten:276 Hauptzweck der Adoption scheint die Etablierung der patria potestas über den Adoptierten gewesen zu sein.277 Im Hinblick auf die Adoption (adoptio) sind zwei Formen: a) die adrogatio (bzw. arrogatio) und b) die Adoption im engeren Sinn (adoptio sensu stricto) zu unterscheiden (Gai. inst. I 98–107). (a) Erstere ist die ältere Form und bezeichnet die Adoption einer Person (genauer: eines Mannes, niemals einer Frau278), die sui iuris ist, also nicht der patria potestas unterliegt. Sie erfolgt per populum, in der Volksversammlung, und wurde nur in engen Grenzen gewährt (Gai. inst. I 99).279 Bei der Arrogation sagt sich der arrogatus vom angestammten Familienkult los280 – die Familie und das Geschlecht (gens) erlischt als solche(s). Der arrogatus und die seiner potestas Unterstehenden gingen daraufhin in die potestas des neuen pater familias über (Gai. inst. I 107).281 Da zur Zeit des Paulus die adrogatio nur in Rom erfolgen konnte und für niedere Schichten außerhalb Roms deshalb unerreichbar war,282 dürfte Paulus eher die zweite Form der Adoption vor Augen gestanden haben: 273 Vgl. Prévost, Adoptions. 274 Vgl. Scott, Adoption, 8 f. 275 Kovar, Römer 8, 55 f; Lyall, Slaves, 82; Lyall, Roman Law, 466; Mawhinney, Υἱοθεσία; Hester, Concept, 59 m. Anm. 2; Williams, Metaphors, 84 Anm. 138; Burke, Characteristics*. Anders Rossell, New Testament Adoption; Schoenberg, Huiothesia; Cook, Adoption. 276 Vgl. Kurylowicz, Recht, 14 f.17–19; 24–28; 157 f. Diese Feststellung ist aber nicht ganz unumstritten, vgl. Scott, Adoption, 9. 277 Ebd. 278 Gai. inst. I 101. Frauen konnten ja nicht  – wie für die arrogatio gefordert  – in der Volksver­sammlung auftreten, s. Gell. 5,19,10, Kunst, Adoption, 126 m. Anm. 280, Gardner, Status, 66. 279 Verwehrt wurde sie normalerweise, wenn ein Mann Kinder hatte oder potenziell bekommen konnte, wenn der zu Adoptierende älter oder der Freigelassene eines Dritten war. Zudem wurde nur eine Adoption erlaubt, s. Gardner, Status, 64. 280 Gell. 15,27,3 spricht von einer sacrorum detestatio – einer (öffentlichen) feierlichen Lossagung von den Familien-sacra (Übers. F. Weiss). 281 Vgl. genauer: Kunst, Adoption, 85–98; Lyall, Slaves, 84–86; Williams, Metaphors, 83 Anm. 133. 282 Kunst, Adoption, 209, vgl. Gai. inst. I 100.

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(b) Die adoptio sensu stricto283 passt besser zu den vorangegangenen Bildern des Sklaven und der Ehefrau, da hier der zu Adoptierende nicht eigenen Rechts (sui iuris), sondern alieni iuris ist, also der rechtlichen Gewalt und Autorität eines anderen untersteht.284 Sie ahmte die emancipatio – die Entlassung des Sohnes aus der patria potestas nach.285 Nach dieser erlosch die patria potestas und wurde ein Sohn vom Vater frei, wenn letzterer ihn dreimal manzipiert, d. h. (einem anderen) übereignet hatte.286 Die Adoption im engeren Sinn folgt in einem ersten Schritt diesem Verfahren: Der Sohn wurde vom pater familias dreimal287 an eine dritte Person verkauft, die ihn nach dem Verkauf jeweils wieder freiließ. Durch den dreimaligen Verkauf verlor der Vater die potestas über seinen Sohn.288 In einem zweiten Schritt beantragte der Adoptivvater (da nur Männer potestas hatten, konnten nur Männer, keine Frauen, adoptieren289) beim Praetor (Gai. inst. I 134) die Aufnahme des Sohnes in seine eigene Familie, unter seine familiäre Gewalt (vindicatio filii in potestatem). Erhob der Vater (bzw. ein Dritter) keinen Einspruch, erklärte der Praetor den Adoptierten zum Sohn des Adoptierenden – er wurde fortan Teil der neuen Familie und unterstand der Gewalt (potestas) des Adoptivvaters. Das bedeutete für den Sohn290 einen Wechsel nicht nur des Namens: Er verlor seine (agnatischen, d. h. durch den pater familias vermittelten) Rechte in seiner Herkunftsfamilie und gewann dafür (die agnatischen und kognatischen) Rechte seiner Adoptivfamilie, d. h. er trat in alle durch seinen neuen Vater (= agnatische) und darüber hinaus auch in alle durch die weiblichen Mitglieder der neuen Familie gestifteten (= kognatische)  Verwandtschaftsbeziehungen ein, was normalerweise eine Besserstellung bedeutete: „legal adoption was a m ­ eans to a brighter future“.291 Alte Schulden und Verpflichtungen aus 283 Neben der Adoption im engeren Sinn gab es noch eine dritte Form der Adoption. Die Adoption irgendeiner Person durch einen freien Bürger per Testament, vgl. Mayer-Maly, Art. Adoption, 72 Z. 27–37; Kunst, Adoption, 116–124. 284 Gai. inst. I 99. 285 Kunst, Adoption, 98; 99 mit Anm. 113. 286 Gai. inst. I 132; 4,79; Honsell, Römisches Recht, 184; Kunst, Adoption 98 f m. Anm. 111 (ursprünglich handelte es sich nicht um einen Verkauf des Sohnes [mancipatio], sondern wurde dieser „vermietet“, s. Kunst, Adoption 99 m. Anm. 112). Der pater familias hatte ja das Recht, seine Kinder in die Sklaverei zu verkaufen. Wurden sie freigelassen, fielen sie wieder in seinen Besitz zurück. Der Verkauf des Sohnes wurde deshalb auf dreimal begrenzt, s. Williams, Paul’s Metaphors, 83 Anm. 133. 287 Bei einer Tochter reichte ein einmaliger „Verkauf “. 288 Hinter seinem Handeln konnte das Motiv stehen, Geld zu gewinnen, um z. B. seine anderen Kinder aufzuziehen. 289 Gai. inst. I 104. 290 Anders als in der adrogatio wechselt bei der Adoption im engeren Sinn nur der Adoptierte die Familie, nicht jedoch die ihm Unterstehenden, vgl. Woodhouse, Art. Adoption (Roman), 113. 291 Witherington III/Hyatt, Paul’s Letter, 217.

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seiner ­Herkunftsfamilie ­galten für den Adoptierten nicht mehr. Er war jetzt ein Mensch mit neuer Identität. Er war nicht mehr seinem Vater, sondern ganz seinem Adoptivvater verpflichtet.292 Nach Status, Rechten und Pflichten war er den Söhnen des Adoptivvaters gleichgestellt, war also auch erbberechtigt.293 Bei der Adoption im engeren Sinn hatte der Adoptierende eine deutlich größere Wahlfreiheit als bei der adrogatio – er brauchte nicht die Zustimmung durch den Magistrat, sondern nur dessen Zeugenschaft.294 Er musste sich nur mit dem anderen Familienvater einigen, hatte einen breiteren Kreis von Adoptionskandidaten und konnte so sein Erbe stärker nach seinen Vorstellungen regeln.295 Hatte der Adoptierende schon legitime eigene Kinder, so wundert es nicht, dass diese die Adoption als Zurücksetzung und Bedrohung wahrnahmen und sich ihr entgegen zu stellen versuchten,296 auch wenn die allgemeine Tendenz bestand, die legitimen leiblichen Kinder beim Erben zu bevorzugen.297 Nun waren Sklavenkinder immer wieder auch Halbgeschwister der legitimen, freien Kinder des pater familias,298 da dieser ohne weiteres auch mit Sklavinnen verkehren durfte – selbst wenn diese in eheähnlichen Verbindungen (Kontubernien) lebten.299 Gleichwohl scheint es in der Kaiserzeit – zumindest in der Oberschicht – kaum Versuche gegeben zu haben, durch den Herrn gezeugte Sklavenkinder – auch keine Konkubinenkinder – zu legitimieren.300 In einfacheren Schichten, wo das Konkubinat mit der Sklavin häufig einer Zwangslage entsprang, könnte das anders gewesen sein.301 Dieser Assoziationshintergrund würde den Kontrast zwischen der Furcht des Sklaven und der vertrauensvollen Zuversicht des Sohnes in Röm 8,15 erhellen. Ein großes Interesse daran, ihre in Sklaverei geborenen Kinder zu adoptieren, zeigten Freigelassene.302 Das Erbrecht dieser Kinder wurde aber schon im 2. Jh. v. Chr. 292 Gleichwohl blieb oft die soziale Verbindung zum leiblichen Vater. Dieser suchte bisweilen Einfluss auf die Erziehung des in die Adoption gegebenen Sohnes auszuüben, was Konflikte mit dem Adoptivvater zur Folge haben konnte, s. Kunst, Adoption, 281 f. 293 Williams, Paul’s Metaphors, 64 f; 83 m. Anm. 137; Gardner, Status, 63. 294 Kunst, Adoption, 99 f. 295 Ebd., 273. 296 Das hat sich auch in der Literatur und Rhetorik niedergeschlagen, s. dazu ebd., 265 f, 274–276. Ein pater familias konnte seine Kinder durch Androhung einer Adoption zu diszi­ plinieren suchen (Klein, Römische Adoption, 266). 297 Saller, Pietas, 408. 298 Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 171. 299 Da Sklaven und Sklavinnen keine rechtlich anerkannte Ehe eingehen konnten, musste der pater familias auch keine Rücksicht auf die eheähnliche Verbindung von Sklaven und Sklavinnen nehmen, ebd., 172. 300 Syme, Bastards, 513; Kunst, Adoption, 203.208. – Für Griechenland verfügen wir über keinen positiven Beleg einer Sklavenadoption, so ebd., 195. 301 Beleg dafür ist Hier. ep. 69,5. Dieser ist aber aus späterer Zeit (4. Jh.). 302 Kunst, Adoption, 204; vgl. Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung, 183.

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eingeschränkt.303 Sie kamen auch nicht über die Stellung von Freigelassenen hi­ naus,304 sodass diese als Assoziationshintergrund für 8,15–17 wenig wahrscheinlich sind. Im Blick auf das Neue Testament ist weiter wichtig, dass Sklaven im Zuge der Adoption freigelassen wurden.305 Anders als bei den Römern ist im griechischen Bereich die Herstellung klarer Herrschaftsverhältnisse durch die Unterstellung des Adoptierten unter die patria potestas nicht von Bedeutung.306 Hier wird die Adoption mehr als Mittel der Stärkung eines individuellen, emotionalen Bandes betrachtet.307 Wie bei den Römern ging es aber auch um die Sicherung der Altersfürsorge, den Erhalt der Familie, die ordentliche Durchführung der Memorialpraktiken und um das Erbe.308 Deshalb war man auch hier auf die Adoption eines Sohnes fokussiert.309 Letzterer musste – wie der Adoptierende – ein freier Bürger ohne Schulden sein.310 Der Adoptierende sollte zudem (anders als im römischen Recht) keinen lebenden Sohn haben.311 Der Adoptierte kam (damit das Land in der Familie blieb) im griechischen Kontext fast immer aus der engeren Verwandtschaft,312 nicht von außen, und blieb (über die Mutter) nach griechischem Recht auch seiner alten Familie gesetzlich verbunden.313 Ein Adoptierter war zudem – anders als im römischen Recht – im Vergleich zu einem leiblichen Kind in Bezug auf das Erbe und seine Verfügungsgewalt darüber eingeschränkt.314 Das passt nicht so gut zur paulinischen Bildverwendung, wo die Adoptierten von außen kamen, zu anderen Söhnen des Vaters stießen und oft auch keine freien Bürger gewesen sein dürften. Zudem betont Paulus den radikalen Wechsel und legt in 8,17 den Fokus auf den aus der Adoption folgenden Erbanspruch. Wahrscheinlich orientiert sich Paulus deshalb bei seinem Bild stärker an der römischen Adoption – er schreibt ja nach 303 Hatte der Erblasser kein Testament hinterlassen, so erbten die adoptierten Kinder des Freigelassenen nichts; mit Testament konnte ihnen maximal die Hälfte des Nachlasses zufallen, s. Kunst, Adoption, 204. 304 Ebd., 206; Zu den Nachteilen und Grenzen einer Adoption durch einen Freigelassenen vgl. Gardner, Status, 68–71. 305 Kovar, Römer 8,56. 306 Kunst, Adoption, 234; Lyall, Slaves, 92 f. 307 Kunst, Adoption, 234 f. 308 Woodhouse, Adoption (Greek), 107; ders., Art. Adoption (Roman); Kunst, Adoption, 234; Lyall, Slaves, 90. 309 Nur sehr selten finden sich Zeugnisse der Adoption einer Tochter, vgl. Scott, Adoption, 4 f m. Anm. 7. 310 Lyall, Slaves, 90; Scott, Adoption as Sons, 7. 311 Woodhouse, Art., Adoption (Greek), 108; von Woess, Erbrecht, 268 Anm. 47; Klein, Römische Adoption 268 m. Anm.  630: Bei lebenden Nachkommen wurde eine Adoption­ ungültig. 312 Lyall, Slaves, 91 f; Scott, Adoption of Sons, 7. 313 Lyall, Slaves, 92. 314 Ebd., 93 f.

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Rom und auch die ihm vertrauten Städte im Osten wie Ephesus, Thessaloniki, Philippi, Korinth waren römisch geprägt. Zudem war der damals regierende Kaiser Nero ein Adoptivsohn von Claudius315 und römische Gesetze dürften Paulus (zumindest in Grundzügen) bekannt gewesen sein.316 Trotz der Bedeutung der Adoption im griechisch-römischen Kontext wird diese jedoch nicht weiter metaphorisch verwendet.317 Zwar sind, wie wir gesehen haben, Adoptionen dem Alten Testament und dem Judentum eher fremd, gleichwohl finden wir im Alten Testament und in der jüdischen Literatur die metaphorische Bezeichnung Israels als „Sohn“ JHWHs, sowohl um seine Erwählung auszudrücken (vgl. Ex 4,22–23; Hos 11,1) als auch als Verheißung der Restitution Israels und seiner Beziehung zu JHWH (Hos 2,1; Jub 1,24 f).318 Dabei wird deutlich, dass die Erwählung in einem freien Entschluss JHWHs (Dtn 10,14–15, vgl. Hos 11,1) und nicht in einem speziellen Wert des Volkes gründet, wie wir im Deuteronomium lesen (Dtn 7,7–8; 9,4–6). Paulus greift die Metaphorik in 8,14 auf und überträgt sie auf die Christen. Nun scheint Paulus mit dem Bild der υἱοθεσία/hyiothesía (Adoption), das vor ihm nicht religiös verwandt wurde,319 die theologische Neuprägung eines Bildes durch Rekurs auf die römische Praxis der Adoption einerseits und ihrer Kombination mit der alttestamentlich-jüdischen Rede von Israel als „Sohn“ andererseits vorgenommen zu haben.320 Die metaphorische Rede von υἱοθεσία/­hyio­ thesía (Adoption) ermöglicht es Paulus, einem naturhaften, metaphysischen Missverständnis der Sohnschaft zu wehren321 und zu unterstreichen, dass die Sohnschaft Israels (9,4) und die der Christen (Gal 4,5; Röm 8,15.23; vgl. Eph 1,5) auf einen gnadenhaften Akt Gottes zurückzuführen ist. Der Begriff macht zudem die Nähe322 und den Unterschied der Christen zu Jesus (in Bezug auf den im Neuen Testament der Begriff υἱός, jedoch nie der Begriff υἱοθεσία verwendet wird) deutlich: „[…] we are filii in Filio, but ours is a filiatio adoptiva“, wie G. Vall unter Verweis auf Thomas von Aquin formuliert hat.323 Dabei ist es der Geist, der die Christen analog zu Christus (1,4) zu Söhnen (8,14) bzw. Kindern (8,16 f)324 Gottes macht: Sie erhalten denselben Status wie Christus, werden also sozusagen zu seinen „Geschwistern“ (so dann explizit in 8,29).325 315 Claudius hatte Nero 50 n. Chr. adoptiert, obwohl er eigene Kinder hatte (Tac. ann. 12,25). 316 Vgl. Apg 16,37; 22,25–29; 25,10 f; 26,32 und Kovar, Römer 8,55. Weitere Argumente gegen das griechische Recht als Hintergrund des paulinischen Bildes bei Lyall, Slaves, 93–95. 317 Wülfing-v. Martitz, υἱοθεσία, 401 Z. 20 f; Wenger/Oepke, Art. Adoption, 106. 318 Belege bei Wolter, Römer, EKK 6/1, 494 f. 319 Scott, Adoption, 55. 320 Vgl. Vall, Ad Bona Gratiae, 593. 321 Vgl. Haacker, ThHK 6, 157. 322 Vgl. dazu Gal 4,4 f; Röm 8,3 f und Gal 4,6; Röm 8,4b–13 und Schweizer, Art. υἱός, 394 f. 323 Vall, Ad Bona Gratiae, 594 Anm. 3. 324 Zum Wechsel von den Söhnen zu den Kindern s. u. 325 Vgl. Wolter, Paulus, 173; vgl. ders., EKK 6/1, 499.

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Der Rekurs auf die römische Adoptionspraxis unterstreicht – wenn wir hier die adoptio sensu stricto als Hintergrund annehmen wollen – die vollkommene emancipatio vom Vater der Herkunftsfamilie und dessen potestas und die vollkommene Unterstellung unter die potestas des Adoptivvaters. Die Trennung von bestehenden Bindungen und der Übergang zu einem anderen Herrn (bzw. Ehemann) waren auch dem Sklaven- und Ehebild inhärent. In Röm 8 zeigt das verwendete Bild noch einen weiteren Fortschritt: Anders als ein Sklave ist der Adoptivsohn wie ein leiblich-legitimer Sohn erbberechtigt,326 wobei das römische Recht (anders als griechisches, ägyptisches, hellenistisches wie jüdisches Recht)327 die vollständige Testierfähigkeit des Vaters kannte:328 Der Vater musste einen Sohn nicht zum Erbe bestimmen, behielt also im Hinblick auf sein Erbe seine Freiheit gegenüber seinen Söhnen. Die erbrechtlichen Wirkungen der Adoption waren für Paulus auf jeden Fall von Bedeutung, denn er spricht in 8,17 (und Gal 4,[1].7) explizit vom „Erben“ (κληρονόμος/klēronómos)329 – der Begriff bezeichnet in den Papyri den Erben von Liegenschaften, nicht von beweglichem Gut.330 In der LXX ist das „Erbe(n)“ mit dem (den Vätern verheißenen) dauerhaften Landbesitz Israels konnotiert,331 im Frühjudentum tritt das eschatische Heil bzw. im frühen Christentum auch die Teilhabe an der Gottesherrschaft hinzu.332 Paulus betont in 8,17: „Wenn (wir) aber Kinder (sind), dann (sind wir) auch Erben – Erben Gottes und so Miterben (συγκληρονόμοι/synklēronómoi) Christi“.333 Christus ist schon zur Herrlichkeit erhoben worden,334 für Christen steht dagegen die volle Übereignung der Herrlichkeit noch aus – sie partizipieren aber schon an Christi Leiden, damit sie auch „mit ihm verherrlicht werden“ (8,17).335 Nun ist von den drei Bildern von Röm 6–8 (dem Herrenwechsel des Sklaven, der zweite Ehe der Frau nach dem Tod des ersten Mannes und der Adoption zum 326 Zum Sohn als Erbe (κληρονόμος/klēronómos) vgl. Mk 12,7; Gal 4,7b. 327 Dass der Sohn bzw. die Söhne oder die Kinder Erben waren, war selbstverständlich für griechisches, ägyptisches, hellenistisches wie jüdisches Recht, vgl. Herrmann/Foerster, Art. κλῆρος, κτλ., 767 Z. 45–47. 328 Ebd., 767 Z. 43–45. 329 Vgl. Gal 3,29. Die erbrechtlichen Wirkungen der Adoption standen im hellenistischen Recht im Vordergrund, vgl. Wenger/Oepke, Art. Adoption, 100. 330 Herrmann/Foerster, Art. κλῆρος, κτλ., 767 Z. 48–51. 331 Ebd., 777–779; es handelt sich bei κληρονομεῖν (klēronomeín, erben) in der LXX „nicht um beliebig umkehrbare Vorgänge“, so ebd., 778 Z. 44 f. 332 Belege in Herrmann/Foerster, Art. κλῆρος, κτλ., 757–786, 780 f; Wolter, EKK 6/1, 498 f. 333 Übers. ebd., 470. 334 Röm 8,17. Dass Christus sein Erbe schon angetreten hat, setzt nicht das Ableben des Vaters voraus: Der Antritt des Erbes setzt nach römischem Recht nämlich nicht notwendig den Tod des Testators (also desjenigen, der das Testament gemacht hat) voraus (anders Hebr. 9,16–17), da der Erbe als Verkörperung des Testators angesehen wurde: „The individual was, as it were, the ‚personification‘ of the family [sc. in the family cult], with a continuity of that personality from father to son“ (Williams, Metaphors, 85 Anm. 144, vgl. 65). 335 Vgl. die σύν- (sýn- oder „Mit-“)Aussagen in Röm 6,4–8.

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Sohn) nur eines schon im Galaterbrief – in Gal 4,5b–7 – vorgegeben.336 Daher stellt sich die Frage, ob wir im Römerbrief Abweichungen beobachten können, die eventuell durch den Kontext des Römerbriefs bedingt sind. Deshalb sollen Gal 4,1–7 und Röm 8,14–17b (unter Berücksichtigung ihres Kontexts) miteinander verglichen werden. Tab. 8: Geist und Adoption in Gal 4 und Röm 8337 338 Gal 4

Röm 8

Die Adoption ist Grund für die Geistverleihung und geht ihr voran. Nach Gal 3,26 sind die Christen schon aufgrund ihres Glaubens „Söhne Gottes“.

Die Geistverleihung ist der Grund für die Adoption: Durch Geistverleihung werden die Christen als „Söhne Gottes“ adoptiert (Röm 8,14).

Der Zustand vor der Adoption wird zweideutig beschrieben. Er schillert zwischen einem „frei geborenen Sohn“ und einem als „Sklave geborenen Sohn“:

Der Zustand vor der Adoption wird nicht eindeutig als der eines frei geborenen Sohnes beschrieben:

(a) Durch Unmündigkeit wird der Sohn – obgleich Herr (κύριος/kýrios) – einem Sklaven gleichgestellt.

(a) Er ist durch den „Geist der Sklaverei“ charakterisiert, den freilich auch ein Freier haben kann.338

(b) Sein Zustand vor der Adoption ist gleichzeitig Sklaverei, aus der Christus „freigekauft“ hat (4,5).337

(b) Die vorangehenden Bilder sind jedoch eindeutig mit Sklaverei assoziiert und klingen in Röm 8 nach.

Sklave und unmündiger Sohn sind in Gal 4 beide unfrei: Sie können nicht über sich selbst bestimmen. Gleichwohl ist (a) der Sohn nicht selbst Sklave, sondern untersteht eine gewisse Zeit Vormündern und Hausverwaltern (4,1).339 Das Gesetz ist sein παιδαγωγός/paidagōgós (Gal 3,24). Er ist in dieser Zeit aber schon eindeutig Sohn des Vaters (Gal 4,2). Denn der Vater hat einen Zeitpunkt bestimmt, an dem er mündig wird. Das Bild vom Freikauf bezieht sich dagegen (b) nicht auf einen unmündigen Sohn, sondern auf einen unfrei geborenen Skla-

336 Zum Zusammenhang von Gal 4,5b–7 und Röm 8,14–17b vgl. detailliert Wolter, EKK 6/1, 471. 337 Diod. XXXVI 2,2 verwendet das Gal 4,5 verwendete Verb ἐξαγοράζειν/exagorázein (los-, freikaufen) im Hinblick auf den Loskauf einer Sklavin. 338 Vgl. nur Zenon bei Diog. Laert. VII 121 f; Gal. Peri Alypias/Über die Unverdrossenheit 79b; Pohlenz, Stoa, 136. 339 Zur Vormundschaft über Unmündige (tutela impuberum) im römischen Recht vgl. ­Kaser/ Knütel, Privatrecht, § 62.

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ven,340 der nun von einem anderen Herrn freigekauft werden muss. Er ist dann nicht mehr „Sklave“, sondern Sohn und damit erbberechtigt (Gal 4,7). Der Zustand vor der Adoption ist nicht nur in Gal 4 zweideutig. Auch in Röm 8 ist der Status vor der Adoption nicht eindeutig als der eines freigeborenen Sohnes beschrieben. Sein Zustand ist nämlich (a) durch den Geist der Sklaverei und Furcht bestimmt (8,15). Furcht und Angst sind typisch für die Existenz eines Sklaven.341 Dabei wirken (b) vorhergehende Bilder nach, die eindeutig mit Sklaverei assoziiert sind: Der unerlöste Christ ist wie ein versklavter Kriegsgefangener (7,23),342 er muss „befreit“ werden (8,2). Erlösung ist wie der Herrenwechsel eines Sklaven (6,12–23), ein Bild, das vielleicht in 8,14 bewusst korrigiert wird. Tab. 9: Die Hagar-Sara-Typologie und die Adoption freier und unfreier Kinder343 344 345 In der Hagar-Sara-Typologie in Gal 4,21–31 kontrastiert Paulus den auf natürliche Weise gezeugten Sohn der Sklavin (Ismael) mit dem kraft der Verheißung gezeugten Sohn der Freien (Isaak).343 Hagar, die Sklavin, gebiert zur Sklaverei (Gal 4,24).344 Sie wird in Gal 4,25 mit dem jetzigen Jerusalem identifiziert, „denn es befindet sich mit seinen Kindern in Sklaverei“ (4,25). Hagars Sohn („der nach dem Fleisch gezeugte“) verfolgt(e) den „nach dem Geist Gezeugten“ (Gal 4,29),345 deshalb sind die Sklavin und ihr Sohn zu vertreiben (Gal 4,30).

Anders als in Gal 4,22–31 werden in Röm 8 weder die Sklavin Hagar, noch die Freie Sara erwähnt. War der Sohn des Vaters in Gal 4,2 zwar unmündig, aber frei geboren, so fehlt in Röm 8,12–17 eine eindeutige Aussage darüber, ob der adoptierte Sohn schon vorher ein frei geborener Sohn des Vaters war. Als Hintergrund für Röm 8 ist die adrogatio, wo die zu adoptierende Person eigenen Rechts (sui iuris) ist, wahrscheinlicher als die adoptio sensu stricto, wo die zu adoptierende Person der Gewalt eines anderen untersteht.

340 Möglich wäre auch ein Freier, der als Kriegsgefangener versklavt wurde, so Elert, Redemptio 267 f. Dann wäre das Bild sprechend mit dem Freiwerden von „Feindmächten“ (ebd., 268) konnotiert, passt aber nicht so gut zur Adoption und zum Status als Erben (Gal 4,5b–7). 341 Wolter, EKK 6/1, 495. 342 Dass ein Gesetz einem anderen Gesetz „widerstreitet (ἀντιστρατευόμενον/antistrateuómenon)“ (Röm 7,23) ist ein Bild, das aus dem militärischen Bereich kommt. 343 Dass Hagar eine Sklavin war (Gal 4,22 f.30 f), entspricht dem Zeugnis der LXX (Gen 16; 21,10–13; 25,12LXX), dass Sara eine Freie war, wird dagegen in der LXX nicht erwähnt. Offen ist, ob diese Charakterisierung schon auf die Tradition oder auf Paulus zurückgeht (vgl. Betz, Galater­brief, 416 Anm. 34). Möglicherweise liegt hier ein Akzent des Paulus. 344 Paulus rechnet hier also (in Abweichung vom Alten Testament) damit, dass die mit einer Sklavin gezeugten Kinder des Hausherrn Sklaven bleiben, was der römischen Praxis des 1. Jahrhunderts entsprach. 345 Die Verfolgung wird in der Genesis nicht erzählt, jedoch kann Gen 21,9 (Ismael trieb Mutwillen) in der rabbinischen Auslegung entsprechend interpretiert werden.

Familiäre Bilder: Sklave, Frau, Sohn (Röm 6–8)

Auch wenn Gal 3,6–29 die Pointe hat, dass alle Kinder Abrahams durch Glauben in Christus eins sind, so unterschei­det Paulus in Gal 4,21–31 deutlich zwischen frei geborenen Söhnen und unfrei geborenen Söhnen, ­ wobei die frei geborenen Söhne (Saras) im Galaterbrief eindeutig die Christen sind, während die unfrei geborenen Kinder ­Hagars nichtchristliche ­Juden sind.346

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In Röm 9,4 zählt Paulus die „Adoption zur Sohnschaft“ zu den Privilegien Israels. Im Unterschied zum Galaterbrief sind die Israeliten hier frei geboren347 und werden nicht als Kinder Hagars abgewertet. Durch den Geist ­haben nach 8,14 f aber auch die Heidenchristen das Privileg der Adoption (υἱοθεσία/­hyiothesía).348

346 347 348

Sowohl Gal 4,6 als auch Röm 8,15 bieten einen identischen dem Geist des Sohnes349 bzw. dem Geist Gottes entspringenden Gebetsruf,350 der sicher dem Gottesdienst entnommen ist: Der Geist des Sohnes Gottes ruft (κρᾶζον/krázon):

„Wir rufen (κράζομεν/krázomen)“ da wir den Geist empfangen haben, der die Adressaten zu Söhnen macht:

Αββα ὁ πατήρ/abba ho patē´r „Abba, Vater!“(Gal 4,6)

Αββα ὁ πατήρ/abba ho patē´r „Abba, Vater!“ (Röm 8,15)

346 So die Mehrheit der Ausleger. F. Mußner dagegen denkt an die judaistischen Gegner des Paulus in Galatien (Mussner, Galaterbrief, v. a. 330 f). 347 Das bestätigt auch 9,25 f (vgl. Hos 2,25; Hos 2,1): In 9,24–26 weitet Paulus das Attribut „Söhne (Gottes)“ von Juden (einschließlich der Judenchristen) auf Heidenchristen aus. Dunn, Galatians, 218 f, will den Unterschied zwischen geborenen und adoptierten Söhnen in Gal 4,5–7 nicht als eine feste Unterscheidung zwischen Juden als Söhnen und Heiden als adoptierten Söhnen verstehen und beruft sich dafür auf den Römerbrief, „since Paul can use the same metaphor (adoption) both of Israel’s status (Rom. ix.4) and of the final redemption of the body (Rom. Viii.23)“ (S. 218). Doch könnte zwischen dem Galater- und dem Römerbrief ein Wandel in der Einstellung zu Israel und zum Gesetz geschehen sein, so dass man Aussagen im Galater- und Römerbrief zum Thema Israel nicht auf einen Nenner bringen darf. 348 Denkt Paulus bei den Adoptierten auch an unfrei geborene Söhne des Vaters, die vorher Sklaven waren? 349 Nach Gal 4,6 wird der Geist „in unsere Herzen“ gesandt – das fehlt in Röm 8,12–17, wird aber in Röm 8,18–30 in dem Motiv vom Geist, der in den Herzen der Menschen ist und dort mit „unaussprechlichem Seufzen“ (Röm 8.26 f) betet, in eindringlicher Weise entfaltet. Hier geht Röm 8 über Gal 4 hinaus. 350 Κράζειν/krázein ist in der LXX terminus technicus für das dringliche Gebet; κράζειν (krázein) bei Paulus nur hier und noch in Röm 9,27. Der Ruf: „Abba, Vater“ dürfte deshalb vorpaulinisch sein, vgl. auch Wolter, EKK 6/1, 471; Lohse, KEK 4, 240.

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Theologische Bilder im Römerbrief

Die Adoption macht im Galater- und Römerbrief die Anrede Gottes als „Abba – Vater“ möglich. Gal 4,6 f bezeichnet die Adressaten als „Söhne“ (υἱοί/hyioí). In Röm 8 dagegen wechselt Paulus von „Söhnen Gottes (υἱοὶ θεοῦ/hyioí theoú)“ (8,14) zu „Kindern Gottes“ (τέκνα θεοῦ/tékna theoú) (8,16). Handelt es sich bei „Kinder“ einfach um einen Wechselbegriff für „Söhne“, dem keine weitere inhaltliche Bedeutung zukommt351 oder will Paulus betont auch Frauen und Kinder einschließen? Ersteres vertritt Wolter mit Verweis auf Gal 3,26, wonach „alle“ „Söhne Gottes (υἱοὶ θεοῦ/hyioí theoú)“ sind. Doch bei den Getauften in Gal 3,28 sind die Unterschiede zwischen Mann und Frau aufgehoben. Das Griechische kennt eine begriffliche Differenzierung: Neben der Adoption als Sohn (υἱοθεσία/hyiothesía)  gibt es sowohl für die Adoption als Tochter einen eigenen Begriff (θυγατροθεσία/thygatrothesía)352 als auch für die Adoption als Kind (τεκνοθεσία/teknothesía).353 Will Paulus in 8,16 durch den Wechsel zu „Kinder Gottes“ vielleicht also doch unterstreichen, dass die durch den Geist zu Söhnen adoptierten Christen auch Frauen und „Kinder“ einschließen? Die Sohnschaft bzw. Kindschaft bedeutet sowohl im Galater- als auch im Römerbrief, dass die Christinnen und Christen auch den Status als Erben einnehmen: Der Galaterbrief drückt in diesem Zusammenhang explizit den Kontrast zum Sklaven aus: „so bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn, wenn aber Sohn dann auch Erbe durch Gott (κληρονόμος διὰ θεοῦ/klēronómos diá theoú)“ (Gal 4,7). In Röm 8,15 wird dagegen die Existenz als Sklave nur im (interpretationsoffeneren) „sklavischen Geist“ angesprochen. Auch die „Herrlichkeit (δόξα/dóxa)“ (8,17), zu der die Christinnen und Christen bestimmt sind, steht implizit im Gegensatz zur Sklaverei, die nicht mit „Herrlichkeit“ und „Ehre“ konnotiert war.354 Über Gal 4 hinausgehend sind die Adressatinnen und Adressaten im Römerbrief nicht nur „Erben durch Gott“ (κληρονόμοι διὰ θεοῦ/klēronómoi diá theoú), sondern auch „Miterben Christi“ (συγκληρονόμοι … Χριστοῦ/synklēronómoi … Christoú). Die Verbindung mit Christus erfolgt nicht nur über das gemeinsame Erbe, sondern (wieder über Gal 4 hinausgehend) über das gemeinsame Leiden, „damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden“ (Röm 8,17). 351 So Zahn, KNT 6, 397; Wolter, EKK 6/1, 498; Kuss, RNT 6/2, 600. 352 Belege in Wolter, EKK 6/1, 496, vgl. weiter θέσει θυγάτηρ/thései thygátēr – Adoptivtochter, POxy 504 (Grenfell [Hg.], Oxyrhynchus Papyri, 227–230, hier: 227 Z.4; frühes 2. Jh. n. Chr.); Wenger/Oepke, Art. Adoption, 101 f. 353 Vgl. POxy 3271 (Rea, [Hg.], Oxyrhynchus Papyri, 8 f; ca. 47–54 v. Chr.), auch in Horsley, NDIEC 3, 16. Der Papyrus enthält den Beginn einer Petition einer Isidora, Tochter von Apollonios und Adoptivtochter von Dionysios. Die dort vorkommende Wendung κατὰ δὲ τεκνοθεσίαν/katá dé teknothesían entspricht der viel häufiger vorkommenden Wendung καθ’ υἱοθεσίαν/kath’ hyiothesían (zu letzterer vgl. Horsley, NDIEC 4, 173). Ders., NDIEC 3, 17, vermutet, dass der Gebrauch von τεκνοθεσία/teknothesía in POxy 3271 (ebd., 8 f) in der Unangemessenheit von υἱοθεσία/hyiothesía für eine Frau begründet ist. 354 Wenn König Antigonos Gonatas die Königsherrschaft als „ehrenvolle Sklaverei“ bezeichnete (Ail. var. 2,20), so war das natürlich ein Paradox.

Familiäre Bilder: Sklave, Frau, Sohn (Röm 6–8)

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Im folgenden Abschnitt (Röm 8,18–21) nimmt Paulus das Bild der Sklaverei und der Befreiung der Christen aus der Sklaverei (6,18.22a; vgl. 8,2) auf, um die Rettung der Schöpfung zu thematisieren: Die Schöpfung wird befreit werden von der Versklavung (δουλεία/douleía) der Vergänglichkeit (8,21).355 Das Geschick der Schöpfung wird mit dem Heil der „Söhne Gottes“ (8,18 f) verbunden.356 In 8,22–27 kehrt Paulus dann mit dem Bild der Geburtswehen zum Bild von Tod und Leben in Röm 6 zurück: Die ganze Schöpfung (κτίσις/ktísis) stöhnt (seufzt) (συστενάζειν/systenázein) nach 8,22 bis zum heutigen Tag gemeinsam und liegt zusammen in Wehen (συνωδίνειν/synōdínein).357 Hier wird die Schöpfung personifiziert: Ihr Stöhnen und Klagen358 setzt starke Schmerzen ins Bild,359 nicht unbedingt einen baldigen und glücklichen Ausgang.360 Manche Ausleger denken beim Bild der Geburtswehen361 sogar an die messianischen Wehen362 – ob dieser Hintergrund hier angenommen werden darf, ist jedoch zweifelhaft, da mit den messianischen Wehen die (auf den Menschen fokussierte)363 Erwartung verbunden ist, dass diese direkt vor dem Kommen des Messias deutlich zunehmen,364 was jedoch Römer 8 nicht zu entnehmen ist. Auffällig ist das „zusammen mit (σύν/sýn)“ in συστενάζειν/systenázein (mitstöhnen) und συνωδίνειν/synōdínein (zusammen in Wehen liegen) in Röm 8,22365 – die Komposita begegnen in der Antike nur sehr selten, in der LXX gar nicht und im Neuen Testament nur hier.366 Nach 8,23 stöhnen auch die Christen, die doch die Erstlingsgabe (ἀπαρχή/ aparchē´) des Geistes (empfangen) haben. Das Bild der Erstlingsgabe bezieht sich auf die Praxis, die erste Frucht einer neuen Ernte oder einer Herde Gott zu wei 355 Das Bild der Versklavung ist vorbereitet im Unterworfensein (ὑποτάσσειν/hypotássein) unter die Nichtigkeit/Vergänglichkeit (ματαιότης/mataiótēs) in 8,20. Der Begriff μάταιος/­ mátaios begegnet auch zur Charakterisierung der Sklavenexistenz als vergeblich und sinnlos, vgl. Hommel, Harren, 133 m. Anm. 20. 356 Vgl. das verbindende „auch“ (καί/kaí) in 8,21a und die Rede von der „Herrlichkeit der Kinder Gottes“ 8,21c. Zu der hier zu Grunde liegenden anthropozentrischen Sichtweise vgl. Wolter, EKK 6/1, 514. 357 Bauer, Wörterbuch, 1583 schlägt für συνωδίνω/synōdínō die Übersetzung „zusammen in Wehen liegen“ oder (allgemein) „gemeinsam Schmerz empfinden“ vor. Chang, Knechtschaft, 351 vermutet in Jes 66,7–9 die alttestamentliche Grundlage für den ὠδίνειν/ōdínein (bzw. συνωδίνειν/synōdínein)-Begriff des Paulus. 358 Zum Stöhnen der Natur, vgl. Hi 31,38–40LXX, vgl. auch Jes 24,4–6.7; (Hos 4,3); 4Esr 7,1–14. 359 Wolter, EKK 6/1, 515. 360 Mit Zeller, RNT 6, 162; Wolter, EKK 6/1, 515. Anders die Position L. Schottroffs, die L. Sutter-Rehmann referiert in: Sutter-Rehmann, Gebärerin, 86–96. 361 Zum Bild vgl. Jes 26,17; 66,8; Jer 22,23; Hos 13,13; Mi 4,9 f; Mk 13,8; 1Hen 62,4; 4Esr 4,40.42; vgl. 1QH III 7–18; Bill. I, 950. Zum freudigen Ausgang vgl. Joh 16,21. 362 Schlier, HThK 6, 263; Cranfield, ICC 1, 416 m. Anm. 2. 363 Jewett, Hermeneia, 517. 364 Zeller, RNT 6, 162. 365 Nur wenige Handschriften (F G ar) lesen das Simplex ὀδύνει/odýnei. 366 Wolter, EKK 6/1, 515.

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hen.367 Das ist ein Zeichen dafür, „dass Gott die ganze Erde gehört“, da er „Wachsen und Gedeihen“ geschenkt hat.368 Die „Erstlingsgabe steht“ also „für das Ganze“.369 Der Geist ist eine „Anfangsgabe“ des eschatischen Heils (8,23),370 das „im Modus der Hoffnung“ (vgl. 8,24, vgl. 5,5) in der Gegenwart präsent ist.371 Die Christen stöhnen innerlich372  – sie warten auf die Adoption,373 auf den Loskauf (ἀπoλύτρωσις/apolýtrōsis) des Leibes.374 Das Bild des Loskaufs evoziert leicht den Gedanken an den Freikauf eines Sklaven.375 Die Geburtsmetaphorik klingt noch einmal in 8,29 an, wo die von Gott Berufenen dazu bestimmt sind, dem Bild seines Sohnes gleichgestaltet zu werden. Die Verflochtenheit der Bilder macht den Zusammenhang von Röm 6–8 deutlich. Die drei Bilder des Herrenwechsels des Sklaven, der Frau, die nach dem Tod ihres Mannes eine zweite Ehe eingeht, und der Adoption von Söhnen könnte assoziativ in Gal 3 vorbereitet sein, wo wir in 3,28 nach „hier ist nicht Jude noch Grieche“ lesen: „Hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau (genauer: männlich noch weiblich)“. In Gal 3,28 geht es jedoch – anders als in Röm 6–8 – um reale Rollen in der Gesellschaft, nicht um Bilder. Es fehlen auch in Gal 3,28 die Söhne. Aber kurz davor in Gal 3,26 werden die Christen metaphorisch „Söhne Gottes“ genannt. Wie in Röm 8 bringt das Bild der Sohnschaft die neue Beziehung zu Gott zum Ausdruck.

4.2.4 Die Bildfolge: Vom Sterben mit Christus zu den Geburtswehen der Kinder Gottes Der dritte Teil  des Römerbriefs wird von einem großen Spannungsbogen umrahmt, der sich vom Tod des alten Menschen (6,6) bis zur Geburt des neuen Menschen zieht, die sich in den Wehen der alten Welt ankündigt (8,22). Während 367 Vgl. Ex 22,29[28]; Ex 23,19; Num 18,12; Num 15,17–21; Dtn 18,4; u.ö.; Bauer, Wörterbuch, 162; Wolter, EKK 6/1, 517 (auch mit Belegen aus der nichtjüdischen Literatur). 368 Vgl. Lohse, KEK 4, 248. 369 Ebd. 370 Nach Haacker, ThHK 6, 164, impliziert die Rede von der „erste[n] Frucht“ des Geistes, dass die „Hauptmasse der Ernte“ noch aussteht. Nach Wolter, Paulus, 167 f impliziert die „Anfangsgabe“, dass die „Ablieferung den Beginn der Ernte anzeigt und dass mit ihr das Einbringen der gesamten Ernte bereits begonnen hat“. 371 Wolter, Paulus, 168. 372 Das Stöhnen (Seufzen) wird in Röm 8,26 schließlich auch noch vom Geist ausgesagt, der (im Gebet) „mit unaussprechlichem Stöhnen“ für uns eintritt. 373 Υἱοθεσία/hyiothesía, Adoption [als Söhne]) fehlt in einer Reihe von Handschriften. 374 „Loskauf […] aus der Macht von Sünde und Tod“, Haacker, ThHK 6, 164. Zwischen dem Loskauf (der Erlösung) „unseres Leibes“ in 8,23c und der Befreiung der Schöpfung von der Sklaverei zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes 8,21 besteht eine thematische Parallelität, s. Jewett, Hermeneia, 506. Der Begriff „Leib“ σῶμα/sō´ma wird sehr häufig für Sklavinnen und Sklaven verwandt, vgl. Rollins, Slave Terminology, 109. 375 Williams, Metaphors, 122 f.

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in der Realität die Geburt am Anfang steht und der Tod am Ende, ist die Reihenfolge hier umgekehrt: Das Leben des Christen beginnt in der Taufe mit einem symbolischen Tod und es zielt auf das neue Leben in der Kraft der Auferstehung, das schon hier und jetzt beginnt. Gott gibt als Vater (6,4) dazu seine schöpferische Macht. Dazwischen liegt eine tiefgreifende Verwandlung. Drei Bilder beleuchten diese Verwandlung unter verschiedenen Aspekten. Der Herrenwechsel des Sklaven betont den grundsätzlichen Wechsel. Der neue Herr löst definitiv alle Verpflichtungen gegenüber dem alten Herrn ab – viel radikaler als wenn ihn sein Herr freigelassen hätte, da mit der Freilassung die Abhängigkeit zwar milder wurde, aber keineswegs beendet war. Gleichzeitig fügt die Söldnermetaphorik durch Bildmischung dieser Abhängigkeit deutlich ein Element der Entscheidung und Verantwortung hinzu, weil sich ein Söldner freiwillig in den Dienst eines Herrn stellt. Es handelt sich um eine bewusste Entscheidung für einen Herrn und damit um eine Entscheidung gegen die Sünde. Letztere ist ohne Verantwortung nicht denkbar. Das Bild vom Herrenwechsel des Sklaven hat freilich darin eine Grenze, dass die Abhängigkeit nur ausgetauscht wird. Es betont die Befreiung von der Sünde. Das Bild von der zweiten Ehe der Frau bringt im Rückgriff auf die Todessymbolik der Taufe in 6,1–11 einen neuen Akzent: die totale Diskontinuität zwischen altem und neuem Zustand. Der Tod spielte im Bild vom Sklaven noch keine Rolle – es sei denn als Lohn eines Söldners. Im Bild von der Frau wird das Todesmotiv dagegen gleich verdoppelt: Einmal als Tod des Mannes, durch den die Frau (d. h. der Christ), frei wird (7,2 f), einen neuen Mann zu heiraten, dann als Tod des Christen, durch die der Christ frei wird, Eigentum eines anderen zu werden (7,4). Ging es beim Sklavenbild um die Befreiung von der Sünde, so geht es hier um die Befreiung von einer Rechtsforderung – um die Befreiung vom Gesetz (7,4–6). Das Bild von der Adoption des Sohnes führt mit der Thematik des grundlegenden Wechsels die bisherigen Bilder weiter und korrigiert sie noch einmal: Sohnschaft ist keine neue Sklaverei, sie bedeutet vielmehr Überwindung der Furcht, die mit jeder Sklaverei verbunden ist, sie bringt Freiheit und Erbberechtigung mit sich. Gleichzeitig kommen jetzt bildhafte Motive in Kontinuität zu den bisherigen Bildern neu zur Entfaltung. So wird die in 6,4 nur angedeutete familiäre Metaphorik entfaltet: Der Vater wird liebevoll als „Abba“ angeredet (8,15). Die „Schöpfung“ liegt in Wehen und erhält dadurch Züge einer „Mutter“ (8,22). Es gibt „Kinder Gottes“ (8,16.21). Der Erstgeborene hat viele Brüder; sie sind erkennbar an ihrer gleichen Gestalt (8,29). Das Ziel liegt in einer Verbundenheit­ aller durch Liebe (8,28.37–39).

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Theologische Bilder im Römerbrief

4.3 Berufsbilder: Töpfer und Gärtner (Röm 9–11) Im Israelteil (Röm 9–11) wird Gott am Anfang als Töpfer, am Ende als Gärtner vorgestellt. Die Bilder stehen in Bezug zueinander, sie sind beide Berufsbilder. Sowohl der Töpfer als auch der Gärtner gehen einer Tätigkeit nach, die nach antikem Verständnis zur „Oikonomie“, zur „Haushaltung“ gehört. Beide B ­ ilder begegnen schon im Alten Testament als Bilder für Gott. In Jer 18,1–10 ist das Bild vom Töpfer zudem mit dem Aus- und Niederreißen376 und dem Bauen und Pflanzen377 eines Volkes oder Reiches verbunden – der Bezug der Bilder zueinander bei Paulus ist also in der Tradition vorbereitet. Sowohl bei den Gefäßen als auch bei den Zweigen werden zwei entgegengesetzte Größen unterschieden: Gefäße zum ehrenvollen und zum unehrenvollen Gebrauch, Gefäße des Zorns und des Erbarmens, ausgerissene und eingepfropfte Zweige. Sowohl die Gefäße des Töpfers in Röm 9 als auch die eingepfropften Zweige des Ölbaums in Röm 11 können sprechen.378 In beiden Bildern kommt also ein Charakteristikum der Fabel zum Tragen, in Bezug auf den Ton und Töpfer findet es sich schon in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur.379 Obwohl sowohl die Gefäße des Töpfers als auch die eingepfropften Zweige des Ölbaums durch ihre Fähigkeit, verbal zu kommunizieren, anthropomorphisiert werden, ist sowohl das Töpfer- als auch das Gärtnerbild so gestaltet, dass vorwiegend von der Perspektive Gottes her gedacht wird: Der Handwerker bzw. Gärtner ist jeweils ein souverän Handelnder. Wenn ausnahmsweise die Perspektive des Geschöpfs eingenommen wird, wird der unendliche Abstand zwischen Gott und seinem Geschöpf betont (9,20). Töpfer- und Gärtnerbild sind zwar aufeinander bezogen. Gleichwohl betrachten wir diese beiden Bilder zunächst einmal genauer separat, bevor wir uns Unterschiede zwischen ihnen vergegenwärtigen und auf die Abfolge der Bilder reflektieren.

4.3.1 Der Töpfer und seine Gefäße (Röm 9,19–23) Gottes freies und souveränes Erbarmen und Verstocken ist in 9,19 Anlass zu einem Einwand (im Diatribenstil): „Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch?“ Verstärkt wird der Einwand durch die rhetorische Frage: „Wer kann seinem Willen widerstehen?“ Sie nimmt alttestamentliche Bekenntnis­ 376 Hier handelt es sich wohl um Baumetaphorik. 377 Zur engen Verbindung von Bau- und Pflanzenmetaphorik vgl. nur 1Kor 3,5–15 und Vielhauer, Oikodome, hier bes. 7 f.26.31.37 f.40–42.46.50 f.74 f. 378 Zum Sprechen des Tones zum Töpfer als einer Unmöglichkeit vgl. Jes 29,16. In Röm 9,20 nur implizit realisiert. 379 Jes 45,9, vgl. Jes 29,16. In der Jotamfabel Ri 9,8–15 sprechen Bäume miteinander.

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sprache auf380 und unterstreicht: Niemand kann Gottes Willen widerstehen.381 Wenn Gott souverän entscheidet, dann entfällt jedoch menschliche Verantwortlichkeit. Diesem Einwand wird erstens mit dem Verweis auf den kategorialen Unterschied zwischen dem Werk (πλάσμα/plásma) und seinem Schöpfer (τῴ πλάσαντι/tō´i plásanti) begegnet: „O Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht etwa das Werk zu dem, der es geschaffen hat: Warum hast du mich so gemacht?“ (9,20).382 Mit diesem Schöpfungsargument ist die Konnotation des Menschen als einem Geschöpf aus (Ton-)Erde verbunden (Gen 2,7383). Es steht in engem Zusammenhang mit dem Bild vom Ton und Töpfer, das v. a. in der prophetischen Tradition die „Souveränität Jahwes“ herausstellt.384 Paulus stellt es nun als zweiten Punkt dem Einwand entgegen, wobei er nun von der Perspektive des Geschöpfes zu der des Schöpfers wechselt: „Hat nicht der Töpfer Macht (und Recht385) über den Ton, aus derselben (Ton-) Masse das eine Gefäß zur Ehre zu machen, das andere zur Unehre?“ (9,21). Das erinnert stark an SapSal 15,7: „Da knetet etwa ein Töpfer mühsam weiche Erde und formt für unseren Gebrauch jedes einzelne Stück. Aber aus demselben Ton bildet er die Gefäße, die reinlichen Zwecken dienen, wie auch die gegenteiligen, alle in gleicher Weise. Für welche von diesen Gebrauchsmöglichkeiten ein jedes verwendet werden soll, darüber entscheidet der Tonarbeiter“.386 Anders als in SapSal 15 fehlt in 9,21 jedoch das mühsame Kneten der Tonerde und auch vom Treten des Tons (um diesen geschmeidig zu machen) ist nicht die Rede,387 was die Souveränität Gottes noch klarer hervortreten lässt. Folglich weist das Bild vom Ton und Töpfer den Einwand von 9,19 zurück und unterstreicht die souveräne Freiheit Gottes. Es fällt gleichwohl auf, wie in 9,21 betont wird, dass das 380 Vgl. Hi 9,19bLXX; SapSal 12,12. 381 Siegert, Argumentation, 133 spricht von der „faktische[n] Unmöglichkeit“, Gottes Willen zu widerstehen. 382 Die Zuspitzung auf das mich (με/me) und das auf das Ergebnis blickende „so“ (οὕτως/ hoútōs) fehlt in den alttestamentlichen Texten (s. Käsemann, HNT 8a, 260). 383 „Und Gott formte den Menschen als Aufwurf von der Erde (καὶ ἔπλασεν ὁ θεός τὸν ἄνθρωπον χοῦν ἀπὸ τῆς γῆς/kaí éplasen ho theós tón ánthrōpon choún apó tē´s gē´s)“. 384 Wanke, Töpfer, 160. Zum geprägten Bild vom Töpfer und vom Ton, das die Souveränität JHWHs zum Thema hat, vgl. Jes 29,15 f; 45,9 f; 64,7 f; Jer 18,1–11 (vgl. auch Jer 19,1–13; Hiob 10,9; 33,6), sowie Sir 33,13. Der Bezug des Bildes vom Töpfer und vom Ton zur Schöpfung wird in der Formulierung Jes 64,7 deutlich: „wir sind der Ton und du unser Töpfer, das Werk deiner Hände sind wir alle“. Nicht betont ist jedoch – anders als in Jes 64,7 f und in Qumran (1QS 11,21 f; 1QH 1,21; 3,23 f; 4,29; 11,3; 12,26 f.32; 18,12) – die Anerkenntnis bzw. das Bekenntnis der menschlichen Niedrigkeit vor Gott. 385 Der Begriff ἐξουσία umfasst (im Unterschied zu unserem modernen Sprachgebrauch) beides: „Macht“ und „Recht“, vgl. Siegert, Argumentation, 135. 386 Übers. nach Schlier, HThK 6. 387 Jes 41,25, vgl. weiter Dalman, AuS 7, 199; 208 f und die Abbildung aus Ägypten bei Nötscher, Altertumskunde, Tafel 71, Abb. 71a.b. In Jes 41,25 ist das Treten des Tons ein Gerichtsbild.

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Ausgangsmaterial des Töpfers, die Tonmasse,388 für alle Gefäße dieselbe ist. Hier kann schon des Apostels schmerzliche Frage in Bezug auf Israel durchklingen. Der Töpfer hat die Macht und das Recht, aus ein und derselben Tonmasse das eine Gefäß zur Ehre herzustellen, das andere zur Unehre. Das muss man allerdings nicht so verstehen, dass hier von höherwertigen und minderwertigen Gefäßen die Rede ist.389 Vielmehr scheint Paulus weiter die Gemeinsamkeit zu betonen und von ehrenhaftem und unehrenhaftem Gebrauch des einen und des anderen Gefäßes zu handeln.390 Bei den unehrenhaft gebrauchten Gefäßen könnte man an „Urnen und Waschschüsseln, in denen man die Füße wäscht“ denken (Philo Contempl. 7),391 oder, was wegen der Parallelität nahe liegender scheint, an Nachttöpfe.392 Nachttöpfe unterschieden sich wohl oft nicht weiter von Kochtöpfen: Letztere hatten (einen oder zwei) Henkel und waren aus gebranntem Ton.393 Kochtöpfe und andere tragbare Gefäße konnten zu Nacht 388 Das griechische Wort φύραμα, das hier gebraucht wird, meint wörtlich: „Gemisch“ und begegnet auch in Röm 11,16, wo es den Teig bezeichnet, der dort dem Bild der Zweige paral­ lelisiert ist. 389 So jedoch u. a. Schlatter, Gerechtigkeit, 303. Diese Deutung ist nicht ganz auszuschließen, denn die Bezeichnung „Gefäß zur Ehre“ kann auf ein sehr wertvolles Gefäß verweisen, vgl. Lyd. mag. 126,4: Gefäße der Ehre (τιμῆς/timē´s) gehören zur Gold- und Silberbeute Trajans. Jedoch legt sich hier dann nicht der Bezug auf (von Tonerde gemachte) Menschen nahe. 390 Käsemann, HNT 8a, 260, vgl. auch die Übersetzung von 9,21 von Jewett, Hermeneia, 594: „vessels that serve clean purposes and those serving the opposite“ (Hervorhebungen von mir, P.v.G.). Der Gebrauch des Gefäßes, das für den Menschen steht, ist auch in Epikt. II 4,4 entscheidend (σκευάριον […] σαπρόν […] μηδὲν δύνασθαι χρῆσθαι/skeuárion […] saprón […] mēdén dýnasthai chrē´sthai). 391 In Philo Contempl. 7 begegnet freilich nicht der Begriff σκεῦος/skeúos (Gefäß). 392 Zu letzteren vgl. Magness, Stone and Dung, 131 f; Blanck, Privatleben, 24 (in Bezug auf Griechenland), Hilgers, Gefäßnamen, 209 Nr. 210 (Lasanum) 218 f Nr. 232 (Matula), 217 Nr. 230 (Matella), 271 Nr. 320 (Scaphium); Weeber, Art. Nachttopf, 265 f, der präzisiert, dass die gewöhnlichen Nachttöpfe aus Ton hergestellt waren. Einen „chamber pot“ bzw. Nachttöpfe erwähnen auch Dunn, WBC 38B, 557 und Siegert, Argumentation, 136. In SapSal 15,12c, einem Vers, der im Zusammenhang mit der o.g. Stelle SapSal 15,7 steht, heißt es vom Töpfer, er meine „man müsse Profit machen, von was auch immer, selbst vom Bösen (κἂν ἐκ κακοῦ/kán ek kakoú)“ – einem verbreiteten Topos, der sich nach H. Engel „später wieder findet in der Antwort des Kaisers Vespasian an seinen Sohn Titus, der ihm vorhielt, er dürfe doch Toilettenhäuschen […] in Rom nicht steuerpflichtig machen: pecunia non olet (Geld stinkt nicht)“ (Engel, Weisheit, 237), vgl. Suet. Vesp. 23. 393 Dalman, AuS 7, Abb. 104e (zeigt einen tönerner Kochtopf mit zwei Henkeln aus Dalmans Zeit), er erinnert in der Form ganz an die eisenzeitlichen Kochtöpfe, die man in Juda als Grabbeigabe gefunden hat, vgl. Wenning, ‚Medien‘, 147 Abb. 8 (Kochtopf mit zwei Henkeln), zu Funden von Kochtöpfen in Gräbern: ebd. S.  132 f; Rüger/Reicke, Art.  Topf, 2006 Abb. 1–3. Nachttöpfe sind für die Antike bis jetzt nur klar literarisch bezeugt (vgl. Varro Men. 262;­ Pasqualini, Le pot de chambre, 272; zur Abbildung eines Krugs s. u.), eine eindeutige Zuordnung der auf uns gekommenen Keramik gibt es nicht (Hübner, Mord, 140). Möglicherweise hatten die Nachttöpfe auch keine spezifische Form (Pasqualini, Le pot de chambre, 272).­

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töpfen umfunktioniert werden (Varro Men. 104).394 Die umgekehrte Umwidmung eines Gefäßes war aus Reinheitsgründen ausgeschlossen.395 Sollte Paulus nicht an Kleinkeramik, sondern an Schwer­kera­mik – an Pithoi oder Dolia396 – gedacht haben, so gilt auch hier: Diese Großgefäße konnten ganz unterschiedlich gebraucht werden – als Sargersatz oder Urinal397 einerseits, als Gefäße für Wein, Öl oder Getreide andererseits. Eine feste Determination durch den Gebrauch (und die Deutung auf Menschen, genauer: die Seelen von Menschen) lässt Philo Prob. 15 erkennen: „wie es heißt, dass neue Gefäße den Geruch dessen, was zuerst in sie gegossen wurde, für immer in sich aufnehmen, so nehmen auch die Seelen junger Menschen das Gepräge der an sie herangetragenen Vorstellungen unaus­löschlich an“.398 In 9,22 f spricht Paulus – die Metaphorik weiterführend, jedoch den Akzent verschiebend  – dann von Gefäßen des Zorns, „die zum Verderben geschaffen waren“ und Gefäßen des Erbarmens, die Gott „im Voraus zur Herrlichkeit bereitet hatte“. Die Bestimmung der Gefäße zu einem unterschiedlichen Gebrauch ist etwas anderes als ihre Bestimmung zum Gebrauch oder zur Vernichtung. Die scharfe Opposition wird aber nicht in symmetrischer Weise durchgeführt: Während Gott durch die schon geschehene Berufung von Juden und Heiden den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen des Erbarmens kundtut (9,23 f), wollte er an den anderen Gefäßen seinen Zorn erweisen und seine Macht kundtun. Es wird also nicht gesagt, dass er es wirklich getan hat oder tun wird. Im Gegenteil, Paulus spricht wider Erwarten nicht von der Zerschlagung der Gefäße des Zorns, sondern nur davon, dass Gott die Gefäße des Zorns in großer Langmut (μακροθυμία/makrothymía) ertragen hat (9,22). Weiter heißt es, Gott selbst habe die Gefäße des Erbarmens „im Voraus“ zur Herrlichkeit „bereitet“ (προητοίμασεν/proētoímasen), während die Rede von den zum Verderben geschaffenen Gefäßen Gott zurücktreten lässt. Paulus betont also, dass Gott sein Erbarmen aktiv vollzieht, während die Vernichtung der Gefäße nur als deren Bestimmung in einer passivischen Formulierung angesprochen wird. Dazu passt die dem Töpferbild inhärente Logik, dass ein Handwerker – und wie viel mehr

Hübner, Mord, 140, denkt an „starkwandige Gefäße mit flachem Boden“, wie das das. abgebildete Tongefäß (Abb. 1); einen Krug zum Urinieren hält ein Sklave auf einer rotfigurigen Vase des Oionokles-Malers (Athen, um 470 v. Chr.) einem offensichtlich betrunkenen Erwachsenen hin, vgl. Tafel VII, Abb. 11 in: Heinen (Hg.), Kindersklaven. Eine Abbildung der Vase findet sich: http://www.getty.edu/art/collection/objects/12013/oionokles-painter-attic-red-figure-oinochoeshape-3-chous-greek-attic-about-470-bc/ (Abruf 06.02.16). 394 Vgl. auch Scobie, Slums, 417; Pasqualini, Le pot de chambre, 272. 395 Eine solche Möglichkeit wird von Paulus aber nicht angesprochen. 396 Zum Dolium vgl. Hilgers, Gefäßnamen, 58 und Abb. 37. 397 Vgl. Weeber, Art. Toilette, 363 mit Verweis auf Prop. IV 5,73 und Lucr. IV 1026 (dolia als Urinal). 398 Übers. Philo Deutsch, Hervorhebung von mir, P.v.G.

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Gott als homo faber! – natürlich das Ziel verfolgt, so wenig Ausschuss wie möglich zu produzieren. Sein Handeln zielt auf gute Gefäße – nicht auf Gefäße, die zum Verderben geschaffen waren. Gleichwohl lesen wir in Röm 9 nichts von der Möglichkeit, die im Töpfergleichnis in Jer 18,4 erzählt wird, nämlich, dass der Töpfer aus der missratenen Tonmasse ein anderes Gefäß formt. Obwohl sich Paulus in 9,21 deutlich auf Jer 18,6 bezieht, das Töpfergleichnis von Jeremia also durchaus im Blick hat, bleibt die dort direkt vor Jer 18,6 geschilderte Möglichkeit der Umformung des Tones unerwähnt. Die Gefäße des Zorns sind für Paulus also irreversibel schlecht. Offensichtlich sind sie als schon getrocknet und gebrannt vorzustellen.399 Gebrannte Gefäße sind nicht zu verbessern, aber sie können gleichwohl einem sekundären, guten Gebrauch zugeführt werden, von dem Lydia Einsler und Gustaf Dalman zu berichten wissen: So haben Frauen in Ramallah Anfang des letzten Jahrhunderts zur Herstellung von (wasserdichten) Gefäßen Ton mit dem Staub alter, zermahlener Tonscherben vermischt.400 In Jerusalem hat man zermahlene Tonscherben mit Kalk vermischt und damit Zisternen verputzt – dieser mit Tonscherben hergestellte Verputz wurde als besser erachtet als der mit Zement.401 Auch für missratene, ja zerbrochene Gefäße gäbe es also noch eine positive Verwendung. Diese ist bei Paulus jedoch nicht im Blick – wohl ein Niederschlag der Idee der gemina praedestinatio, der doppelten Prädestination zu Heil und Unheil. Folglich gibt es keine positive Perspektive für die Gefäße des Zorns. Gleichwohl ist nicht explizit von einem Zerschlagen der Gefäße die Rede  – obwohl dieses­ Gerichtsbild in der alttestamentlichen Tradition angelegt ist (im Blick auf Israel in Jes 30,14; Jer 19,11; im Blick auf die Völker in Ps 2,9). Vielmehr heißt es in 9,22, dass Gott die Gefäße des Zorns in großer Langmut ertragen habe. Und weiter ist im Bild vom Töpfer, der ja per se Interesse an der Produktion guter Gefäße hat, impliziert, dass Gottes schöpferisches Handeln grundsätzlich nicht auf schlechte, sondern auf gute Gefäße zielt – hier geht das Bild über den Gedanken einer doppelten Prädestination hinaus: Gottes eigentliche Intention ist die Erwählung zum Heil, nicht die zum Unheil.

399 Anders: Wright, Römerbrief 2, 25. 400 Einsler, Töpferhandwerk, bes. 251; Dalman, AuS 7, 199 und dazu ebd., Abb. 6 (Scherbenmahlen am Sultansteich bei Jerusalem) und Abb. 101 (Frauen, die in Ramallah einen Krug formen). Bei der Lehmteigbereitung werden nach Einsler, Töpferhandwerk, 253, 2/3(!) Tonscherbenstaub (homra) mit 1/3 Lehmerde (trabe) verknetet. 401 Zum Verputzen von Zisternen mit zermahlenen Tonscherben vgl. Dalman, AuS 7, 24. Auch schon in der Antike hat man (ab der Mittelbronzezeit) Zisternen verputzt, s. Yadin, Hazor, 39 m. Anm. 1; Weippert, Palästina, 227.

Berufsbilder: Töpfer und Gärtner (Röm 9–11)

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4.3.2 Der Gärtner und sein Ölbaum (Röm 11,[16b]17–24) Wenden wir uns nun dem Bild vom Ölbaum und seinen Zweigen in 11,17–24 gegen Ende des Israelteils zu. Vorbereitet wird es vom Doppelbild der Erstlingsfrucht (bzw. -gabe) und der Wurzel, das wohl auf Abraham bzw. die Väter des Gottesvolkes zielt,402 durch die dieses geheiligt ist: „Wenn die Erstlingsgabe heilig ist, dann auch der (ganze)  Teig; und wenn die Wurzel heilig ist, dann auch die Zweige“ (11,16).403 Das Bild des Baumes wird im Folgenden (11,17–24) auf den im ganzen Mittelmeerraum positiv konnotierten stets belaubten Ölbaum hin konkretisiert.404 Im Alten Testament und im Judentum ist er ein Bild für Israel,405 das „Einpfrop 402 In 1Hen 93,8 meint die „auserwählte Wurzel“ den Erzvater Abraham (vgl. 1Hen 93,5), vgl. TestJud 24,5 (Juda); Philo Her. 279. In Bezug auf die Erstlingsgabe findet sich zwar kein entsprechender Bezug auf Abraham (nur ein Bezug auf Adam in den rabbinischen Schriften, s. Bill. IV/2, 667 f), die Parallelität der Bilder legt gleichwohl einen analogen Bezugspunkt und damit eine Deutung auf Abraham bzw. die Erzväter nahe (Berger, Abraham, 84; Lohse, KEK 4, 313; Zeller, RNT 6, 196; Dunn, WBC 38B, 672, so auch Calvin in seinem Kommentar zu 11,16). Da Paulus das Bild der Erstlingsfrucht (-gabe, ἀπαρχή/aparchē´) in Röm 16,5 (von Epainetos) und 1Kor 16,15 (von Stephanas) für den Erstbekehrten (Asiens bzw. Achajas) verwendete (vgl. auch 2Thess 2,13), hat man bisweilen ἀπαρχή/aparchē´ in Röm 11,16a auf die Judenchristen beziehen wollen­ (Cranfield, ICC 2, 564), das würde aber die Parallelität der Bilder in Röm 11,16 sprengen. Zudem ist im Kontext (11,28) von Jakob die Rede. Nach Philo Spec. 4,180 ist das Volk Israel „wie eine Art Erstlingsgabe (ἀπαρχή) des Menschengeschlechts“ (Übers. I. Heinemann). 403 Zum kultischen Bild der Erstlingsgabe, s. o. ad Röm 8,23. Paulus sucht hier – neben dem Ölbaum – offensichtlich ein „weiteres Bild für die heilsgeschichtliche Rolle Israels“ (Klauck, Symbolsprache, 111). 404 Zur positiven Konnotation des Ölbaums vgl. nur Ri 9,8 f (in der Jothamfabel wird der Ölbaum als erste Pflanze genannt), Ps 51,10LXX; 127,3LXX; Colum. De re rustica V 8,1 (der Ölbaum als der wichtigste aller Bäume). Die Bildwahl mag auch noch darin begründet sein, dass das Pfropfen beim Ölbaum besonders leicht gelingt, vgl. Foxhall, Olive Cultivation, 109. 405 Jer 11,16 f (auf diese Stelle beziehen sich mit der Deutung auf Israel auch die Rabbinen, vgl. bMen 53b und Rengstorf, Ölbaum-Gleichnis, 136 f; Bill. I, 432 ad Mt 6,23: Pesiqtha 145a: „Die Israeliten werden mit einem Ölbaum verglichen“); Hos 14,7; (Jes 17,6). Zwei Inschriften zeugen von einer Synagoge Ἐλαίας/Elaías, bzw. Ἐλέας/Eléas in Rom. Das ist wahrscheinlich mit Syna­ goge der Olive bzw. des Ölbaums zu übersetzen. Bisweilen denkt man bei Ἐλαίας/Ἐλέας (Elaías/ Eléas) auch an Elia, an den Name eines Stadtteils bzw. eines Platzes oder an eine östliche Stadt (vgl. D ­ avies, Gentiles, 159; Leon, Jews, 145–147; Davies, Romans 11:13–24, 137 f [Davies stellt hier die Vermutung in den Raum, dass die christliche Gemeinde in Rom aus der Synagoge der Olive hervorgegangen ist]). Der Ölbaum ist auch der heilige Baum der Athene. Da Athene den Bewohnern von Attika durch das Pflanzen eines Ölbaums auf dem Felsen der Akropolis von Athen das nützlichste und wertvollste Geschenk gemacht hat, siegte sie der Sage nach gegen Poseidon (Schäfer-­S chuchardt, Olive, 50–55.) Die Athener werden Ableger (μοιρίαι/moiríai) genannt, Platos Akademie lag in einem Ölbaum(?)garten und bei den olympischen Spielen wurde Olivenöl verwandt, für die Siegeskränze Zweige des wilden Ölbaums. Daher konnte der Ölbaum die Assoziation der im römischen Reich hoch geschätzten griechischen Kultur evozieren (Davies, Gentiles, 159 f; ders., Romans 11:13–24, 138–140, bes. 140). In Ägypten und Mesopotamien hat der Ölbaum dagegen keine größere Rolle gespielt, vgl. Zohary/Siegel-Roy, Beginnings, 320.

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fen“ von Zweigen ist im Judentum ein Bild für den Anschluss von Konvertiten an Israel.406 Neu ist die Verbindung beider Bilder in Röm 11 durch Paulus. Diese Innovation im Bildgebrauch zeigt schon die Universalisierung jüdischer Traditionen aufgrund der Öffnung für die Heiden an. Und sie wendet sich einem damit verbundenen Problem zu, wie sofort deutlich wird: Warnend wird im Blick auf die Heidenchristen ein Zweig vom wilden Ölbaum, der in den edlen Ölbaum eingepfropft wurde, in der Bildrede angesprochen: Obwohl einige Zweige ausgebrochen wurden, solle er sich nicht über die anderen Zweige erheben. Dadurch, dass er unter die Zweige eingepfropft wurde, habe er Anteil an der Wurzel bekommen. Die Formulierung, dass einige Zweige ausgebrochen wurden, setzt eine am Baum arbeitende Person voraus. Einige Zweige sind nicht einfach vertrocknet und abgestorben, sie wurden – nach 11,20 wegen ihres Unglaubens – ausgebrochen.407 Auffälligerweise ist in 11,17 f von der Wurzel im Singular die Rede. Das erinnert an Johannes den Täufer: Er spricht in seiner Gerichtsrede von der Axt, die an die Wurzel (Singular) der Bäume gelegt ist (Mt 3,10//Lk 3,9). Hat Paulus in Röm 11 einen Patriarchen im Sinn, nämlich Abraham (der im Kontext von Mt 3,10par explizit genannt wird)? Paulus betont gegenüber dem Zweig vom wilden Ölbaum: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!“ (Röm 11,18). Die Heidenchristen verdanken ihren Anteil am „Fett des Ölbaums“ (Röm 11,17b, vgl. Ri 9,9; TestLevi 8,8; JosAs 5,5408), also an seiner fettspendenden Wurzel, allein der gärtnerischen Aktivität Gottes, der den wilden409 in den (edlen) Ölbaum410 eingepfropft hat. Es fällt auf, dass der angeredete Zweig des wilden Ölbaums zwischen die Zweige des edlen Ölbaums (ἐν αὐτοῖς/en autoís) eingepfropft wurde – die Zweige des wilden Ölbaums ersetzen also nicht einfach die ausgerissenen Zweige.411 Ausgesprochen auffällig ist weiter, dass in Röm 11 ein wilder Zweig auf einen edlen (kultivierten) Baum gepfropft wurde. Die gängige Praxis ist bis heute um 406 Philo Praem. 152; bYev 63a; vgl. Iren. haer. IV 20,12. 407 Dunn, WBC 38B, 673 meint, Paulus schrecke hier nicht vor der Implikation zurück, dass er von einem Strafakt Gottes gegen Israel rede. 408 Griechischer Text in: Burchard, Text, bzw. JosAs 5,7 (Übers. Burchard). 409 Ἀγριέλαιος ὤν/agriélaios ō´n (Röm 11,17). Theophr. h. plant. I 14,4 bezeichnet den wilden Ölbaum als κότινος/kótinos. Nur in Theophr. h. plant. II 2,5 verwendet Theophrast den (auch von Paulus verwendeten) Begriff ἀγριέλαιος/agriélaios – und zwar für die Saatprodukte des edlen Ölbaums, die in der Tat Wildlinge ergeben. Man spricht in diesem Zusammenhang von „sekundären Wildformen“ (Hartung, Logik, 132–134). Gleichwohl dürfte Paulus mit ἀγριέλαιος eine primäre Wildform des Ölbaums meinen. Botanisch wird die (im Unterschied zum edlen Ölbaum) buschige Wildform des Ölbaums auch als Olea europaea var. sylvestris (oleaster) bezeichnet, vgl. dazu und zum Folgenden: ders., 131–136. 410 Ἐλαία/elaía. Anders als das Griechische kennt das Alte Testament keine eigene Bezeichnung für den wilden Ölbaum. Die Kulturform des Ölbaums wird von Botanikern auch als Olea europaea var. sativa bezeichnet. 411 Es handelt sich also nicht um einen Substitutionsvorgang. Vgl. nur Käsemann, HNT 8a, 299.

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gekehrt.412 Bezieht sich Paulus hier also auf eine (vereinzelt geübte) konträre Praxis (a)413 oder ist sein Bild kontrafaktisch (b)?414 Beide Interpretationen wurden vertreten, mehrheitlich aber die letztere: (a) Schon in der Antike pfropfte man bisweilen wilde Reiser auf edle Ölbäume: Dadurch versuchte man, einen nicht (mehr) tragenden Ölbaum zum Fruchtbringen anzuregen: Gesunde, nicht tragende Bäume „bohrt man“, so scheibt Columella, „an und setzt in das Loch genau passend ein frisches Aststück vom wilden Ölbaum ein. So werden sie, von dem fruchtbaren Pflock gleichsam begattet, selbst fruchtbarer“.415 Von einer entsprechenden Praxis im Libanon wurde Gustaf Dalman erzählt, der jedoch auch schreibt, dass der dann auf dem zahmen Baum wachsende wilde Zweig wieder veredelt werden müsse,416 was jedoch in Röm 11 nicht erwähnt wird. Im Hinblick auf Römer 11 schreibt Theobald Fischer 1904 von dem „noch heute in Palästina geübte[n] Verfahren, einen Ölbaum, der Früchte zu tragen aufhört, zu verjüngen, indem man ihn mit einem der wilden Wurzeltriebe pfropft, so dass […] der Baum nun wieder Früchte trägt“.417 Jedoch ist hier anders als in Röm 11 von Wurzeltrieben die Rede. Eine Verjüngung des Ölbaums durch die eingepfropften Triebe und eine Stimulierung zum Fruchtbringen ist in Röm 11 ebenso wenig ausgesagt wie eine Erschöpfung des Ölbaums. Das Fruchtbringen ist auffälliger Weise nicht fokussiert.418 412 Schäfer-Schuchardt, Olive, 183; Foxhall, Olive Cultivation, 109 f; Esler, Conflict, 301–303. Zu den verschiedenen Techniken des Pfropfens vgl. Colum. De arboribus XXVI– XXVII, sowie Colum. De re rustica V 11,1–11; für die Moderne vgl. McMillan Browse, Säen, 172–187. 413 Ramsey, Olive-Tree; ders., Wild-Olive, 19 f; Baxter/Ziesler, Arboriculture; Theobald, SKK.NT 6/1, 299; Haacker, ThHK 6, 233; Bryan, Preface, 181. 414 So schon Orig. Römerbriefkommentar VIII 10; Lietzmann, HNT 8, 105; Dodd, MNTC 6, 180; Hartung, Logik, 138; Schumacher, „Gott hat sein Volk nicht verstoßen!“, 246 (er geht von einer „bewusste[n] ‚Bilddrehung‘ aus und verweist darauf, dass solche Bildumkehrungen auch andernorts bei Paulus zu beobachten seien, vgl. Röm 3,25; 11,16). Hartung, Logik, 138 stellt fest: „Paulus beschreibt sein Gleichnis also exakt gegen die Wirklichkeit“. 415 Colum. De re rustica V 9,16 (Übers. K. Ahrens); vgl. auch Pallad. agric. XI 8,3 (Palladius Werk ist zum großen Teil von Columella abhängig); Theophr. c. plant. I 6,10; Philo Praem. 152, weitere Belege in v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 281 Anm.  69 und Holzmeister, Kontrastbild, 551 f. Diese Art der Verjüngung wird in mediterranen Ländern noch in der Moderne geübt, s. das Folgende und Baxter/Ziesler, Arboriculture, 27 mit Anm. 12; Ramsay, Olive-Tree, 223. 416 Dalman, AuS 4, 184 f. Das bleibt bei Baxter/Ziesler, Arboriculture, 28 f und bei Schumacher, „Gott hat sein Volk nicht verstoßen!“, 244.256 unbeachtet. 417 Vgl. Fischer, Ölbaum, 9, sowie Bill. III, 291. 418 Anders Haacker, ThHK 6, 233, der meint, dass die metaphorische Tradition des Fruchtbringens hier „stillschweigend“ vorausgesetzt sei. Diese ist in der Tat bedeutsam. Aber warum ist sie hier nicht aktualisiert? Die Veredlung und das Fruchtbringen des Konvertiten sind da-

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(b) Normalerweise wird ein edles Reis auf einen wilden Baum gepfropft, um diesen zu veredeln und ertragreiche Früchte zu erhalten, das sagt schon Theophrast419 und das ist bis heute die erfolgversprechendste Methode.420 Das Pfropfreis gedeihe, so führt Theophrast aus, auf dem wilden Baum besonders gut, da dieser stark sei und das Reis entsprechend gut nähre.421 Dass das paulinische Bild vom Ölbaum baumgärtnerischen Gepflogenheiten entgegenlaufe, haben schon viele Kirchenväter (wie Origenes, Ambrosiaster und Augustin) festgestellt.422 Viele sahen sich in dieser Auffassung durch die Formulierung „wider die Natur (παρὰ φύσιν/pará phýsin)“ in Röm 11,24 bestätigt,423 die man aber auch einfach als Opposition zu „der Natur entsprechend (κατὰ φύσιν/katá phýsin)“ verstehen kann.424 Das gilt auch im Blick auf das Entfernen von Zweigen, wenn das (wie anzunehmen ist) nicht im Zusammenhang mit der regelmäßigen Baumpflege,425 sondern  – worauf die Formulierung in Röm 11,19426 weist  – im Zusammenhang mit dem Pfropfen steht: Der bedeutendste antike Landwirtschaftsautor, Columella, fast ein Zeitgenosse des Paulus, empfiehlt, beim Okulieren427 die Spitze und die oberhalb der Veredlungsstelle liegenden wilden Äste zu entfernen, damit die Kraft des Baumes ganz und gar dem eingesetzten edlen Auge zugutekomme.428 Dalman berichtet von einer Okulierung am 25.05.1925. Nach dem Okulieren wurde oberhalb der okulierten Stelle die Rinde des okulierten gegen für Philo ausdrücklich wichtig: Gott nehme „das kräftig gewachsene Reis (das meint den Proselyten, Anm. d. Vf.in, P.v.G.) auf […], weil es sich in ein edles verwandelt hat und schöne Früchte zeitigt“ (Übers. L. Cohn in: Philo Deutsch). 419 Theophr. c. plant. I 6,10. 420 Hartung, Logik, 137; vgl. auch das von Dalman kommunizierte Urteil seines im Okulieren bewanderten arabischen Freundes (Dalman, AuS 4, 185). 421 Theophr. c. plant. I 6,10. 422 Vgl. die Zusammenstellung der Belege bei Schelkle, Paulus, 398. 423 Pelagius, Expositio, 91; vgl. Sickenberger, Briefe, 267–269; Berger, Abraham, 85. 424 Cranfield, ICC 2, 571. 425 Palladius rät, jährlich die trockenen, unfruchtbaren und mit anderen Mängeln behafteten Äste wegzuschneiden (Pallad. agric. XI 8,1–2), Columella rät zu dieser Arbeit hingegen nur in jedem achten Jahr, da immer die Gefahr bestehe, auch Fruchtzweige mit zu entfernen (Colum. De re rustica V 9,15), vgl. dazu Bartoldus, Palladius, 161; Foxhall, Olive Cultivation, 124 f. 426 „Ausgebrochen wurden die Zweige, damit ich eingepfropft würde!“ (Röm 11,19). 427 Das Okulieren ist jedoch – genau betrachtet – eine vom Zweig-Pfropfen abweichende Methode: Während beim Zweig-Pfropfen das Edelreis „auf den zu veredelnden Zweig oder in einen Spalt desselben“ (Dalman, AuS 4, 183) oder an die Seite des Wurzelstocks gesetzt wird (McMillan Browse, Säen, 172.178–181), wird beim Okulieren ein Auge des edlen Baumes unter der Rinde des wilden Baumes platziert (Dalman, AuS 4, 183), vgl. Foxhall, Olive Cultivation, 109–112 und die Abbildungen 5.1 (S. 98) daselbst. 428 Colum. De re rustica V 11,11.

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Astes durchgeschnitten, nach sieben Tagen der Ast oberhalb der Okulierungsstelle abgehauen und Ende August schließlich alle Äste abgehauen (nicht abgesägt).429 Ein stufenweises Vorgehen wird bei der Seitenpfropfung auch heute empfohlen: „Sobald die Teile erkennbar verwachsen sind, wird […] der obere Wuchs des Wurzelstocks um die Hälfte gekürzt. Zwei Wochen später wird der Rest über der Pfropfstelle geschnitten, so daß das Pfropfreis nun zum Leittrieb […] wird“.430 Ist nach dem Pfropfen das Edelreis angewachsen, so wird der Wildling abgeschnitten, damit alle Kraft in das Edelreis geht.431 Das würde im Blick auf Röm 11 bedeuten:432 Beim Pfropfen müssten alle edlen Zweige des Ölbaums433 – und zwar am besten nicht sofort – oberhalb der (normalerweise tief liegenden) Einsatzstelle(n) zugunsten des wilden Zweigs bzw. der wilden Zweige abgeschnitten werden.434 Bei Paulus heißt es aber explizit, dass nur einige Zweige des edlen Ölbaums ausgerissen wurden. Trifft die Empfehlung­ Columellas, (alle) oberhalb der Veredlungsstelle liegenden (wilden) Äste zu entfernen, die antike landwirtschaftliche Praxis, so impliziert das: Die nach Röm 11 stehen gelassenen Zweige des (edlen) Ölbaums fallen einem antiken Leser besonders auf – die Judenchristen erfahren also eine besondere (wertschätzende) Erwähnung.435 Weiter fällt auf, dass das Pfropfen des Ölbaums in der landwirtschaftlichen Praxis das Ziel verfolgt, größere und ölhaltigere Oliven zu bekommen.436 In der paulinischen Bildrede finden die Früchte des Ölbaums jedoch gar keine Erwähnung.437 Vielmehr lesen wir, dass die in den edlen Ölbaum eingepfropften wilden 429 Dalman, AuS 4, 183 f. 430 McMillan Browse, Säen, 178 f. 431 Auskunft von G. Stängle. Eine entsprechende Empfehlung lesen wir auch bei Colum. De arboribus 26 für den Weinstock (im dritten Jahr soll man nur einen Trieb stehen lassen). 432 Wenn man davon ausgeht, dass Paulus das Bild genau entgegengesetzt zur gängigen Praxis, das edle Reis auf den wilden Ölbaum zu pfropfen, konstruiert hat (Hartung, Logik, 138). 433 Vgl. ebd. 434 Anders: Ramsey, Wild-Olive, 20, der in Übereinstimmung mit Röm 11,17 davon ausgeht, dass wilde Zweige gepfropft wurden, nachdem die alten Zweige des edlen Ölbaums ausgehauen wurden. 435 Anders Wolter, EKK 6/1, 45, der argumentiert, Paulus lasse die am Ölbaum verbliebenen Zweige (die Judenchristen) „gänzlich unbeachtet“ und damit gegen eine (von Paulus intendierte) judenchristliche Leserschaft plädiert. Auch Das, Solving, 67 f u. ö., denkt allein an Heidenchristen als Adressaten des Paulus im Römerbrief. Doch es gab auch Judenchristen in Rom – und Paulus dürfte bewusst gewesen sein (und berücksichtigen), dass auch Judenchristen seinen Brief hören und/oder lesen. 436 Vgl. dazu: Zohary/Spiegel-Roy, Beginnings, 187. 437 Schumacher, Gott hat sein Volk nicht verstoßen, 241, macht jedoch darauf aufmerksam, dass der Begriff ἐλαία/elaía, der in den Übersetzungen von Röm 11 gewöhnlich mit „Ölbaum“ übersetzt wird, auch dessen Frucht, die Olive, bezeichnen kann. Die Übersetzung „Olive“ legt sich aber von 11,24 her nicht nahe.

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Zweige (die für sich ja keine reichen Früchte bringen)438 Anteil am Fett von dessen Wurzel haben. Der Fokus liegt also auf der Teilhabe am Fett der Wurzel – also wohl an den Verheißungen für Abraham bzw. für die Patriarchen439 – nicht auf den ethisch konnotierten Früchten. Hier kommt also eine Akzentsetzung des Paulus zum Ausdruck: Die Anteilhabe des Zweiges vom wilden Ölbaum an der Wurzel des edlen Ölbaums,440 also der Heidenchristen an den Verheißungen für Abraham (bzw. für die Patriarchen). Die Wortwahl συγκοινωνός/­synkoi­ nōnós – wörtlich Teilhaber (an der Wurzel) – nimmt den für Paulus so wichtigen Begriff der κοινωνία/koinōnía441 auf und verstärkt den Gedanken der Gemeinschaft noch durch das Präfix συν-/syn- „zusammen (sein)“, d. h. edle und wilde Zweige haben zusammen Anteil an der fettreichen Wurzel des Ölbaums.442 Röm 11,19 formuliert daraufhin (einen potentiellen Einwand der AdressatInnen aufnehmend)  den selbstbewussten Einwand des Zweigs vom wilden Ölbaum: „Zweige443 wurden herausgebrochen, damit ich eingepfropft werde(n konnte)“. Die Formulierung legt den Gedanken der Substitution nahe – dies interessanterweise jedoch nicht im Dialogpart des Paulus, sondern im Mund des wilden Ölbaumzweigs, also des Heidenchristen, der in seiner Äußerung die im Baum verbliebenen Zweige offensichtlich ausgeblendet hat. Statt von Substitution hatte Paulus in 11,17 jedoch nur vom Einpfropfen des wilden Ölbaumzweiges zwischen die Zweige gesprochen. Die in 11,19 vorgestellte Reihenfolge  – erst werden die Zweige ausgerissen, dann wird der Zweig des wilden Ölbaums eingepfropft – widerspricht gärtnerischem Usus. Hier dürfte die Sachebene ihren Niederschlag gefunden haben. Dass Gott als alleiniger Akteur betrachtet wird, machen die Passivformulierungen deutlich: „Zweige wurden ausgebrochen, damit ich eingepfropft werde(n 438 Die Früchte des wilden Ölbaums sind kleiner als die des edlen Ölbaums und „unbrauchbar“, so Lundgreen, Die Bäume, 831, sie „spritzen, wenn man sie drückt, nur Wasser aus“ (Maier, Israel, 132 Anm. 124). Das ändert sich auch nicht durch das Einpfropfen in einen edlen Ölbaum, wie bisweilen angenommen wird (vgl. nur Schumacher, Gott hat sein Volk nicht verstoßen, 256: Das Fruchttragen der wilden Zweige „erfolgt […] in Analogie zu jenem der edlen Zweige“, vgl. 244). PD Dr. Stefan Schneckenburger, der Leiter des Botanischen Gartens der TU Darmstadt, urteilt dagegen in einer E-Mail vom 12.1.2015 dezidiert: „Ganz ausgeschlossen […] scheint mir die Annahme, dass die eingepfropften wilden Zweige wirklich ‚gute‘ Oliven bringen“. Schon Dalman, AuS 4, 184 f, hatte darauf hingewiesen, dass in einen edlen Ölbaum eingepflanzte wilde Zweige veredelt werden müssen. 439 Zeller, RNT 6, 197. 440 In der botanischen Literatur wird geraten, nach dem Pfropfen die Schosse des Wurzelstocks zu entfernen, um „ein Wetteifern des Wurzelstocks“ zu verhindern (McMillan Browse, Säen, 174–176) – das wird in Röm 11 bezeichnender Weise nicht erwähnt. 441 Im Röm vgl. dazu Röm 12,13; 15,26 f. 442 Da das Einpfropfen nicht nur eine äußerliche Verbindung, sondern eine Lebensbeziehung bezeichnet (Dalman, AuS 4, 187), bringt die lebendige Beziehung zur Wurzel eine grundlegende Qualitätsänderung mit sich (vgl. v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 282 f). 443 Der Artikel vor „Zweige“ ist textkritisch nur schwach bezeugt.

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konnte)!“ (11,19). Der wilde Ölbaumzweig sonnt sich offensichtlich im Handeln Gottes zu seinen Gunsten. Paulus reagiert auf diesen von Dünkel zeugenden Einwand von heidenchristlicher Seite durch Verweis auf den Glauben (die πίστις/pístis): Das Herausreißen ist im Unglauben, das Einpflanzen im Glauben begründet, deshalb sei nicht Überheblichkeit, sondern Furcht angesagt (11,20). Denn, so argumentiert Paulus in einem Schluss vom Größeren auf das Kleinere (a maiore ad minus): Wenn Gott (schon) die natürlichen Zweige nicht verschonte, dann wird er auch dich als unnatürlichen Zweig erst recht nicht verschonen (11,21)! Verharrt der eingepfropfte wilde Zweig nicht bei Gottes Güte, dann wird auch er aus dem edlen Ölbaum ausgehauen werden (11,22). Ja, Gottes Macht vermag sogar die abgehauenen Zweige wieder einzupfropfen, wenn sie nicht im Unglauben bleiben. Biologisch ist das unmöglich,444 denn ausgehauene Zweige vertrocknen ausgesprochen schnell und einmal abgestorben sind sie nicht mehr lebensfähig.445 Meist werden sie sogar verbrannt wie im darin vergleichbaren Bild vom Weinstock in Joh 15,6. Ausgesprochen kühn ist also das Bild von den wieder eingepfropften ausgerissenen Zweigen – es unterstreicht eine Möglichkeit, die allein in der Hand Gottes liegt.446 Aus etwas späterer Zeit ist uns von Marc Aurel das Bild des abgetrennten Zweiges überliefert, den Zeus, der Stifter der Gemeinschaft, wieder in den Baum (die Staatsgemeinschaft) einfügt.447 Auch hier ist es eine Gottheit, die dieses Werk vollbringt. Während Marc Aurel jedoch betont, dass abgeschlagene und wieder eingepfropfte Zweige nicht vergleichbar sind mit dem Zweig, der immer im lebendigen Zusammenhang blieb, lesen wir im Römerbrief nicht von einem Qualitätsverlust. Dass die im Ölbaum verbliebenen (edlen) Zweige höherwertiger seien als die ausgehauenen und wieder eingepflanzten Zweige des edlen Ölbaums wird nirgends ausgesagt. Vielmehr geht es – die 11,21 zugrundeliegende Unterscheidung von naturgemäß und nicht naturgemäß aufnehmend – allein um das Verhältnis von natürlichen und widernatürlichen (wilden) Zweigen. Die natürlichen Zweige des Ölbaums haben den Vorteil, dass sie dem edlen Ölbaum von Natur aus entsprechen. Mit einem Schluss a maiore ad minus448 fasst Paulus die Bildrede vom Ölbaum zusammen: „Wenn (nämlich) du aus dem von Natur wilden Ölbaum ausgehauen und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest, um wieviel eher werden diese als die von Natur (dem edlen Ölbaum) zugehörigen Zweige in den eigenen 444 Schumacher, Gott hat sein Volk nicht verstoßen, 247. 445 Schnellstes Arbeiten empfiehlt McMillan Browse, Säen, 173, denn wenn die Schnittflächen „austrocknen, sterben die Zellen ab und bilden eine tote Schicht, die eine wirksame Verbindung verhindert“. 446 Ramsey, Studies, 227, formuliert: „Just as the process does not occur in nature, so the­ spiritual process is impossible except as a miracle of God’s action“. 447 M. Aur. XI 8. Bei Marc Aurel ist es aber der Zweig, der sich von der Gemeinschaft selbst getrennt hat. 448 ‫קל וחומר‬/qal wahomer.

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Ölbaum eingepfropft werden“ (11,24). Im Blick auf die Heidenchristen, die sich über die Juden erhaben wähnen und meinen, definitiv deren historischen Platz eingenommen zu haben, macht Paulus deutlich: Es ist alles andere als selbstverständlich, dass der wilde Ölbaumzweig in den edlen Ölbaum eingepflanzt wurde – es ist gegen die Natur und letztlich Ausdruck der Macht Gottes. Noch sehr viel leichter ist es für den hier als Baumgärtner vorgestellten Gott, in seiner souveränen Freiheit und Macht nicht an Christus glaubende Juden in den Baum einzupflanzen, dem sie entsprungen und naturgemäß verbunden sind.449 Damit sind wir am Ende der Bildrede vom Ölbaum angelangt.

4.3.3 Die Bildfolge: Vom Töpfer zum Gärtner Ein Blick auf Röm 9–11 zeigt, dass Töpfer- und Gärtnerbild eng aufeinander bezogen sind, wie wir bereits eingangs gesehen haben: Beides sind Berufsbilder für Gott aus dem Bereich der Oikonomia, fast ausschließlich wird Gottes Perspektive eingenommen. Ton und Zweig werden anthropomorphisiert: Sie können sprechen. Obwohl Gemeinsamkeiten betont werden, wird jeweils mit einer positiven und einer negativen Möglichkeit gerechnet. Immer ist Gott ein souverän Handelnder, von dessen Macht alles abhängt. Auf dem Hintergrund dieser Bezüge treten die Unterschiede zwischen den beiden Bildern umso deutlicher hervor. Wir können einen Wandel in den Bildern von Röm 9 zu Röm 11 beobachten, der einen Wandel des Gottesbildes zum Ausdruck bringt: Das Töpferbild in Röm 9 zielt eindeutig auf das Positive, denn ein Töpfer (zumal wenn dieser Handwerker Gott ist!) hat kein Interesse daran, Ausschussware herzustellen. Deren Anteil an seinen Produkten will er so gering wie möglich halten. Das Bild ist daher in sich positiver als die abstrakte gedankliche Aussage der gemina praedestinatio. Das Bild vom Töpfer bleibt aber insofern hart, als eine Änderung der getöpferten Ware nicht mehr vorgesehen ist. Eine Umformung des Tons ist nicht möglich: Gebrannte Gefäße sind definitiv nicht mehr zu ändern. Sie sind brauchbar oder unbrauchbar. Die Gefäße des Zorns sind irreversibel schlecht. Obwohl eine mögliche sinnvolle sekundäre Verwendung missglückter oder zerbrochener Gefäße bisweilen praktiziert wurde, wird diese Möglichkeit bei Paulus nirgends angedeutet. Zwar scheut Paulus davor zurück, von einer Zerschlagung der Gefäße zu reden. Das ist auch in der Rede von der Langmut Gottes im Hinblick auf die Gefäße des Zorns zu spüren: Sie sind zwar zur Vernichtung bestimmt, aber Gott erträgt sie in großer Geduld (9,22). Paulus zeigt keine 449 Paulus hebt in 11,23 f Gottes Macht hervor: So wie wilde Zweige entgegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepflanzt werden konnten, vermag er auch ausgehauene Zweige (kontrafaktisch) wieder in den Ölbaum einzupflanzen. Die Qualität der edlen ausgehauenen Zweige per se ist es nicht, die die Wende herbeiführt.

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positive Perspektive für diese auf. Anders verhält es sich im Ölbaumbild: Der Baumgärtner kümmert sich um den Baum, der ihm wertvoll ist. Er setzt Zweige vom wilden Ölbaum ein, sodass diese Anteil am Fett der Wurzel des edlen Ölbaums bekommen. Dabei bricht er „einige“ Zweige aus, was impliziert, dass er auch Zweige stehenlässt. „Unter ihnen“ pfropft er neue Zweige ein (11,17). Warnend macht die Bildrede klar: Die eingesetzten Zweige haben kein Recht, sich über die ausgerissenen Zweige zu erheben. Und während die Gefäße nicht umgeformt werden können und der Töpfer zwischen den Gefäßen je nach deren Gebrauch unterscheidet und die Gefäße des Zorns und des Erbarmens trennt, hat der Baumgärtner die Macht, die eingepfropften wilden Zweige wieder auszureißen und die ausgerissenen edlen Zweige wieder in den edlen Ölbaum einzupflanzen. Der Baumgärtner arbeitet nicht mit anorganischer „toter“ Tonerde, sondern mit einem lebendigen, wachsenden Baum. Er agiert nicht starr, sondern reagiert flexibel auf sein Gegenüber, auf den Glauben oder Unglauben der Zweige: Durch Glauben werden die wilden Zweige zum Einpfropfen qualifiziert, durch Unglauben einige edle Zweige (und potentiell auch wieder die wilden Zweige) zum Ausbrechen. Und dieser Baumgärtner hat sogar die Macht über die Möglichkeiten eines jeden Baumgärtners hinauszugehen und ausgerissene Zweige wieder einzupfropfen (sofern sie nicht im Unglauben bleiben). Anders als der Töpfer hat der Baumgärtner in Röm 11 also mit einem lebendigen Organismus zu tun und kann seine Entscheidungen in einem Maße korrigieren, wie es nur Gott möglich ist.

4.4 Die Polyphonie der Bilder im paränetischen Teil (Röm 12–15) Im paränetischen Teil des Römerbriefs finden sich mehrere Bilder, die an die Bilder der vorangehenden Teile anklingen. Eingeleitet wird die Paränese durch ein Bild aus dem sakrifiziellen, kultischen Kontext: das Bild des sakralen Opfers. In 12,1 ermahnt Paulus seine Adressaten, ihre „Leiber (σώματα/sō´mata) als lebendige, heilige, Gott wohlgefällige Opfer(gabe) darzubringen (παριστάνειν/paristánein)“. In 6,13 hatte Paulus seine Adressaten im Soldatenbild aufgefordert, ihre Glieder (μέλη/mélē) nicht der Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit zur Verfügung zu stellen (παριστάνειν/paristánein), sondern Gott als Waffen der Gerechtigkeit. Im eng damit verbundenen Sklavenbild kontrastiert Paulus in 6,19 die einst in den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit gestellten Glieder (μέλη/mélē) den Gliedern, welche die Adressaten nun in den Sklavendienst der Gerechtigkeit stellen sollen (παριστάνειν/paristánein). Das Bild, das im theologischen Teil des Römerbriefs vorwiegend mit ethischen Kategorien verbunden wurde (6,13.19), wird nun zu Beginn des paränetischen und ethischen Teils des Römerbriefs mit der Aufforderung an die Adressaten, ihre Leiber Gott als Opfergabe darzubrin-

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gen (παριστάνειν/­paristánein), dezidiert in einen kultischen Kontext gestellt. Paulus weiterführende Bemerkung „(das sei) euer vernünftiger Gottesdienst (λογικὴ λατρεία/logikē´ ­latreía)“450 interpretiert das Opfer jedoch nicht als blutiges Tieropfer im Tempelkult,451 sondern metaphorisch, wobei er zeitgenössische Kultkritik aufnimmt, die auch auf das hellenistische Judentum eingewirkt hat.452 Dabei ist im Hinblick auf sein Umfeld auffallend und in mehrfacher Hinsicht einzigartig,453 dass Paulus von der „Darbringung der Leiber“ schreibt. Damit durchbricht er die spiritualistische Tendenz, die für das hellenistische Wortfeld bestimmend ist.454 Die Leiblichkeit ist nicht abzulegen (wie man im griechisch-hellenistischen Kontext eher formuliert hätte), vielmehr ist der Christ nach 12,1 aufgerufen, den „vernünftigen Gottesdienst“ mit seiner ganzen personal-leiblichen Existenz455 im Irdisch-Materiellen konkret zu leben.456 Der ganze Mensch, so macht dieses kultische Bild deutlich, soll umfassend in den Dienst Gottes genommen werden. Daran knüpft in 12,4 f ein biomorphes Bild an:457 Das Bild vom Leib und den Gliedern, das Paulus auch in 1Kor 12,12–30 bietet – dort aber sehr viel breiter entfaltet als im Römerbrief.458 Mit diesem Bild greift Paulus ein damals verbreitetes sozial-politisches Bild auf, das in unterschiedlichen Ausprägungen und Verwendungen überliefert ist459 und nach Wilhelm Nestle schon im 5. Jahrhundert vor Christus „gang und gäbe war“.460 Damals schon wurde der Staat im Bild eines 450 Röm 12,1. 451 Zu blutigen Opfern vgl. Am 5,21–25; Hos 6,6. Zur alttestamentlichen Opferkritik als einem Hintergrund von 12,1 vgl. Blank, Paulus, 177–181. 452 Vgl. Sen. benef. I 6,3: „[…] wie nicht einmal in den Opfern […] eine Ehrung der Götter besteht, sondern in dem aufrichtigen und pflichttreuen Willen der Verehrenden“ (Übers. M. Rosenbach) und Philo Spec. 1,201.271 f.277.290; Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein, ­177–180; Klauck, Symbolsprache, 113 f; Blank, Paulus, 180–184. 453 So Jewett, Hermeneia, 728; vgl. auch Wenschkewitz, Spiritualisierung, 191. 454 Klauck, Symbolsprache, 114. Zur spiritualisierenden Tendenz vgl. die grundlegende Arbeit von Wenschkewitz, Spiritualisierung. 455 Σῶμα/sō´ma ist hier wohl „im Sinne der geistleiblichen Einheit der Person“ zu fassen, vgl. ebd., 191. 456 Im Unterschied zum Alten Testament geht es Paulus nicht um kultischen Dienst im „abgegrenzten heiligen Bereich“, sondern um „Lebensgestaltung“ in Gehorsam zu Gott (Lohse, KEK 4, 336). Es geht ihm, wie E. Käsemann einprägend formulierte, um den „Gottesdienst im Alltag der Welt“ (Käsemann, Gottesdienst). Anders als 3,25 ist die Metaphorik in 12,1 nach Klauck, Symbolsprache, 112 f, nicht von jüdischer, sondern von heidnischer Kultterminologie geprägt. 457 Lässt in 12,1 der Leib (σῶμα/sō´ma) konkret an das Opfertier denken und ist individuell konnotiert, so wird in 12,4 f der Leib (σῶμα/sō´ma) metaphorisch, vielleicht auch mythisch, im Hinblick auf die Gemeinde gebraucht, also kollektiv. 458 Vorausgesetzt ist das Bild der Gemeinde als Leib Christi auch in 1Kor 1,13a; 6,15; 10,17; es klingt evtl. auch in 1Kor 11,29 an (vgl. auch Klauck, Herrenmahl, 333; kritisch dazu­ Lindemann, Kirche als Leib, 155–159). 459 Vgl. ebd., 141–146; Mitchell, Rhetoric, 157–60. 460 Vgl. Nestle, Fabel, 354 und dazu Momigliano, Camillus, 99 f.

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Organismus (eines Leibes) gefasst – Hintergrund war die „politische […] Zerklüftung der […] Polis“461 und die daraus erwachsene Mahnung zum Gemeinsinn (ὁμόνοια/homónoia). Besonders in der hellenistischen Philosophie konnte das Bild auf die gesamte menschliche Gesellschaft, ja auf den gesamten Kosmos bezogen werden.462 Schwerpunktmäßig lassen sich im Anschluss an Andreas Lindemann463 vier Typen der Bildverwendung unterscheiden: (a) Bekannt war das Bild vom Leib und den Gliedern vor allem durch die mehrfach überlieferte Fabel des Patriziers Menenius Agrippa, der – was einzigartig war – selbst aus dem plebs kam.464 Nach Livius465 erzählte Menenius Agrippa den gegen die Patrizier streikenden Plebejern von den Gliedern (des Leibes), die gegen den Magen rebellieren, da dieser im Gegensatz zu ihnen untätig sei. Hände, Mund und Zähne entschieden, ihre Tätigkeit einzustellen. In ihrem Zorn wollten sie den Magen dem Hungertod ausliefern – doch durch ihren Streik wurden sie selbst und der ganze Leib ganz kraftlos. So erkannten die Glieder, dass der Magen sie ernährt, wenn sie ihn ernähren. Die Plebejer verstehen dadurch, dass ihr Aufstand gegen den Senat nicht angemessen ist. Die Fabel wird hier (und in ihren anderen Fassungen) aus der Perspektive „von oben“ erzählt und dient dazu, die revoltierenden Plebejer zur Raison zu bringen (und die gegebenen gesellschaftlichen Strukturen zu legitimieren und zu erhalten).466 Diese Perspektive „von oben“ finden wir bei Paulus in 1Kor 12 und Röm 12 bezeichnenderweise nicht. (b) Mit dem Bild vom Leib und den Gliedern wird auch das Ziel anvisiert, deutlich zu machen: Kein Glied darf im Interesse des Gemeinwesens auf Kosten der anderen leben. Vielmehr muss jeder einzelne sich dem Ganzen unterordnen.467 461 Nestle, Fabel, 353. Sie war geprägt durch Individualismus einerseits und durch Spaltung der Bürgerschaften andererseits, s. ebd. 462 Belege bei Söding, Leib Christi, 290 Anm. 65 und 66; Schweizer, Art. σῶμα, σωματικός, σύσσωμος, 1034–1037. Der Organismusgedanke ist für die Stoa von besonderer Bedeutung, ist aber älter, vgl. Klauck, Herrenmahl, 337. Zu Bezügen zwischen kosmischer und sozialer Leibmetaphorik vgl. ebd., 338–339. 463 Vgl. Lindemann, Kirche als Leib, 142–146. 464 Vgl. Tite-Live, Histoire Romaine, 48 Anm. 2. Die Fabel ist überliefert bei Liv. II 32,9–12; Dion. Hal. ant. 6,86; Plut. Caius Marcius Coriolanus 6,3–4, vgl. Aesop fab. 130 (ed. Voskuhl/ Holzberg); vgl. Quint. inst. V 11,19. Zu den Gliedern als Teil der Gemeinschaft, die sich nicht schaden, sondern eines Sinnes sind, vgl. auch Sen. dial IV 31,7. 465 Die Verbindung mit Agrippa M. Lanatus ist sekundär, vgl. Nestle, Fabel. 466 Vgl. Söding, Leib Christi, 291; Lindemann, Kirche als Leib, 144 Anm. 14. 467 Vgl. Sen. dial IV 31,7: dem Vaterland Schaden zuzufügen ist ein Frevel. Die Glieder (als Teil der Gemeinschaft) schaden sich nicht, sondern sind eines Sinnes. Die Gemeinschaft kann nur „durch die Obhut und Hingabe ihrer Teile“ unversehrt sein. Vgl. weiter: Lindemann, Kirche als Leib, 144.

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(c) Aber auch die wechselseitige Beziehung der Glieder zueinander kann im Bild fokussiert werden,468 oft verbunden mit dem Gedanken sympathischer Gefühle – wenn eines der Glieder schmerze, spüre der ganze Mensch Schmerz.469 (d) Besonders in politischen Texten der Kaiserzeit geht es um die Zuordnung des Hauptes zum Leib.470 Sie findet sich auch im hellenistischen Judentum471 und in den Deuteropaulinien,472 nicht aber bei Paulus selbst.473 Ihm geht es also in dem Bild nicht um die Legitimierung der herrscherlichen Funktion eines Einzelnen. Fassen wir zusammen: In seinem Gebrauch des Bildes vom Leib und den Gliedern nimmt Paulus nicht die Perspektive „von oben“ ein. Die hierarchisch-herrscherliche Überordnung des Hauptes über den Leib finden wir bei ihm ebenso wenig wie das kosmische Verständnis des Leibes. Nicht die Unterordnung (gerade der Schwachen) fordert er,474 sondern die Eintracht, das Aufeinander-Bezogen-, ja, Aufeinander-Angewiesen-Sein der (Gemeinde-)Glieder mit ihren unterschiedlichen Gaben.475 Typisch ist für ihn die paränetische Ausrichtung des Bildes.476 Dabei lässt sich eine Akzentverschiebung zwischen dem Ersten Korintherbrief und dem Römerbrief beobachten: Betont Paulus in 1Kor 12 stärker die Einheit der Gemeinde,477 so in Röm 12, dass die Glieder unterschiedliche Aufgaben im Leib haben.478 Weiter fällt auf: Während Paulus am Ende des Bildes vom Leib und den Gliedern im 1. Korintherbrief den Leib als „Leib Christi“ bezeichnet (1Kor 12,27), also mythisch interpretiert, finden wir eine entsprechend dezidierte Aussage in Röm 12 nicht. Dort heißt es, dass „wir vielen ein Leib in Christus“ sind (12,5).479 Im Römerbrief ist also das „bildhafte Moment […] deutlicher zu spüren“480 als

468 Lindemann, Kirche als Leib, 145. 469 Plat. rep. V 462d; vgl. auch Mitchell, Rhetoric, 162. 470 Zum Kaiser als caput (Haupt) des unum rei publicae corpus, d. h. der stadtrömischen res publica (Cicero), später des ganzen römischen Imperiums (Augustus), vgl. Faust, Pax Christi, 283–287. Vgl. (an Nero gerichtet) Sen. clem. I 2,1 (= II 2) (ed. Rosenbach): „Vom Haupt geht gute Gesundheit zu allen Teilen des Körpers aus“. 471 TestSeb 9,4; Philo Praem. 125, vgl. (mit weiteren Belegen) Lindemann, Kirche als Leib, 146. 472 Kol 1,18; Eph 1,22 f; 4,15 f; 5,23. 473 Das ist auffällig im Blick auf die Staatsparänese in Röm 13. 474 Die Schwachen erfahren in 1Kor 12 besondere Beachtung (vgl. 1Kor 12,22–24). 475 1Kor 12,15–21. 476 Vgl. auch (als Begründung einer Mahnung) Eph 4,25. 477 Vgl. 1Kor 12,12b. Ein Pendant dazu fehlt in Röm 12. 478 Vgl. Röm 12,4b mit 1Kor 12,12–30; Zeller, RNT 6, 208. 479 Hervorhebung von mir, P.v.G. 480 Klauck, Herrenmahl, 336. Ebd. weist aber auch darauf hin, dass die Formulierung „wir vielen sind ein Leib“ (Röm 12,5a) – abgesehen von einer Umstellung – wörtlich mit 1Kor 10,17 übereinstimmt.

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im Ersten Korintherbrief.481 Mit der Formulierung „ein Leib in Christus (σῶμα […] ἐν Χριστῷ/sō´ma […] en Christō´i)“ wird „das Leibsein der Gemeinde […] zu einem Sonderfall der umfassenderen Bestimmung christlicher Existenz“.482 Zum Abschluss der grundsätzlichen Paränese, die in der Forderung zur­ Nächstenliebe mündet, motiviert Paulus seine AdressatInnen mit dem Bild vom Aufwachen bzw. Aufstehen vom Schlaf. Der Schlaf konnte sowohl im paganen als auch im jüdischen Bereich abwertend gebraucht werden und ein moralisches oder erkenntnismäßiges Defizit bezeichnen.483 Das Bild zielt auf das VerfallenSein an den alten, vergehenden Äon.484 Die AdressatInnen sollen vom Schlaf erwachen,485 da die Nacht schon fortgeschritten und der Tag nahe sei.486 Paulus fordert: „Lasst uns … ablegen die Werke der Finsternis (und) anziehen die Waffen487 (bzw. die Rüstung488) des Lichts“. Der Nacht-Tag-Gegensatz wird fortgeführt mit dem Finsternis-Licht-Gegensatz, der dem gleichen Bildfeld angehört. Im Judentum kann er religiös und ethisch verwandt werden.489 Einen Ort hat der Gegensatz im frühen Christentum im Kontext der Konversion und Taufe bzw. in der Taufkatechese.490 Der schwingt hier sicher mit, da sich das Bild des Ausziehens und Anziehens anschließt, das nicht vom Wechseln der Kleider beim Zu-Bett-Gehen evoziert ist, da man sich in der Antike – anders als heute – zum Schlafen nicht umzog, sondern höchstens den Mantel auszog, um diesen als­ Decke zu benützen.491 Eher ist als Assoziationshintergrund an das feierliche Ab­ legen der toga praetexta und das Anlegen der toga virilis zu denken,492 mit dem der Schritt des vom Pädagogen abhängigen Jugendlichen zum für sich selbst verantwortlichen Erwachsenen markiert wurde: Die toga praetexta wurde dem Fa 481 Inwiefern der Leib auch in Röm 12,4 f mythisch aufzufassen ist, ist Gegenstand einer breiten Debatte. Vgl. die gegensätzlichen Positionen von Söding, Leib Christi, und Lindemann, Kirche als Leib. 482 Klauck, Herrenmahl, 336. 483 Vgl. Balz, Art. ὕπνος, κτλ., 547.550–552, vgl. 553–554. 484 Ebd., 554 m. Anm. 70. Vgl. Röm 12,2. Zum Bild vgl. in den Pirque des Rabbi Eliezer (PRE 34): „Der Schlaf in der Nacht ist gleich dieser Welt, und das Erwachen am Morgen ist gleich der kommenden Welt“ (zit. nach Theobald, SKK.NT 6/2, 109). Vgl. das Bild der Nacht für diese und des Tages für die kommende Welt in der rabbinischen Literatur, Bill. IV, 853–855. 485 Vgl. Eph 5,14 in einem „Taufzuruf “ (Schlier, HThK 6, 396). 1Thess 5,6 fordert Paulus die AdressatInnen auf, nicht zu schlafen „wie die anderen“. 486 Die Erwartung des „Tages des Herrn“ hat – wie 1Thess 5,1–8 nahe legt – evtl. das paulinische Bild von Nacht und Tag hier evoziert (Zeller, RNT 6, 218). 487 Theobald, SKK.NT 6/2, 109; Haacker, ThHK 6, 274. Ὅπλα/hópla begegnete schon in Röm 6,13. Das Wort kann auch „Werkzeuge“ meinen. 488 Zeller, RNT 6, 214.219; Williams, Metaphors, 236 Anm. 86. 489 Vgl. 1QS III,19–25; 1 QM XIII,5–16. 490 Vgl. Kol 1,12 f; Eph 5,8–14; vgl. 1Thess 5,1–11; Apg 26,18 (Bekehrung); 1Petr 2,9 (Be­ rufung). 491 Vgl. Zeller, RNT, 219; Williams, Metaphors, 93. 492 Vgl. (auch für das Folgende) ebd., 94. Einen analogen symbolischen Kleiderwechsel gab es auch im griechischen Kontext, s. ebd.

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miliengott übergeben und der junge Mann wurde in Rom – gewandet in der toga virilis  – auf dem Capitol493 (also im Angesicht von Jupiter Capitolinus) in die Liste der Bürger eingetragen. Das Ablegen der Werke der Finsternis und das Anziehen der Waffen des Lichts sind also von der Taufe her zu verstehen (das „Anziehen“ ist in Gal 3,27 explizit mit der Taufe verbunden). Auffällig ist, dass Paulus in 13,12 das Ablegen und Anziehen nebeneinander nennt und dadurch den vollkommenen Wechsel betont.494 Mit dem Bild von den anzulegenden „Waffen (bzw. der Rüstung) des Lichts“ evoziert Paulus wieder das Bild eines Soldaten.495 In 13,14 schließlich ist es Christus, der anzuziehen ist496 – ihn soll sich der Christ ganz und gar zu eigen machen und in seinem ethischen Verhalten dessen Rolle in der Welt spielen.497 In der konkreten Paränese zum Konflikt von Starken und Schwachen fragt Paulus in 14,4 schließlich im Hinblick auf den innergemeindlichen Umgang der Fleisch- und „Gemüse“-Esser (also der Vegetarier): „Was fällt dir ein, einen Haussklaven (οἰκέτης/oikétēs) eines anderen zu verurteilen? Er steht oder fällt für seinen eigenen Herrn“. Das „Verurteilen“ nimmt das Gerichtsbild auf, macht aber deutlich, dass es einem Christen nicht zusteht, gegenüber einem Mitchristen die Rolle des Richters einzunehmen. Vorausgesetzt sind im Bild zwei Herren. Nur dann kann man mit diesem Bild appellieren, den Sklaven eines anderen Herrn nicht zu verurteilen: Jeder Haussklave ist allein seinem Herrn verantwortlich. Paulus verwendet hier statt des allgemeineren Wortes „Sklave (δοῦλος/doúlos)“ das engere Wort „Haussklave (οἰκέτης/oikétēs)“: Ein Sklave auf großen Landgütern konnte nämlich durchaus anderen Sklaven oder Verwaltern unterstehen, ein Haussklave unterstand dagegen in der Regel allein seinem Herrn, dem p­ ater familias.498 Anderen als dem Herrn des Sklaven, das macht das Bild des Paulus deutlich, steht eine Verurteilung nicht zu  – das wird in der Formulierung: „Was fällt dir ein, einen fremden Haussklaven (den Haussklaven eines anderen) 493 Außerhalb Roms fand die Einschreibung an einem entsprechenden Ort der jeweiligen Stadt statt. 494 Ebd., 107 Anm. 78; vgl. Kol 3,9–11; Eph 4,22–24. 495 Korinth, wo Paulus den Römerbrief schrieb, war damals die Hauptstadt von Achaja, weshalb die Präsenz von Soldaten nicht ungewöhnlich war (ebd., 219). Zudem vermutet E. A. Judge aufgrund onomastischer Untersuchungen einen relativ großen Anteil (ehemaliger) Soldaten in den paulinischen Gemeinden (Judge, Rank, 13). 496 Während die Metapher des „Anziehens“ im Alten Testament nur Abstrakta als Objekt hat, finden sich in paganen Texten auch Personen/-namen als Objekt, vgl. van der Horst, Observations, 182–186; Haacker, ThHK 6, 274. 497 Ebd. denkt an das Theaterwesen: Wie der Schauspieler eine Rolle annimmt und spielt, soll der Christ durch einen entsprechenden Lebensstil „den Herrn selbst darstellen“ (ebd.). Die Vorstellung, dass der Mensch in seinem Leben eine Rolle spielt (eine Rolle ablegen, aber auch eine andere annehmen kann) war – über das Theater hinaus in der Antike lebendig, vgl. Sen. benef. II 17,2. 498 Käsemann, HNT 8a, 357.

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zu verurteilen?“ (14,4a) durch den Zusatz „einen fremden“ (ἀλλότριον οἰκέτην/­ allótrion oikétēn) verstärkt. Das „Stehen“ oder „Fallen“ (im Glauben) ist eine im frühen Christentum verbreitete Metapher.499 Wichtig ist: Während im Bild zwei Herren vorausgesetzt werden, betont die Anwendung, dass alle, Starke und Schwache nur einen Herrn haben, nämlich Christus (14,8 f). Alle müssen in gleicher Weise vor Gott Rechenschaft ablegen (15,11 f). Der Sprung zwischen Bild und Sache macht deutlich, dass jeder seiner Überzeugung wie einem eigenen Herrn verpflichtet ist. Insofern ist jeder sich selbst verpflichtet. Aber durch Christus sollen alle lernen, auch bei der Orientierung an ihren inneren Überzeugungen nicht „sich selber zu leben“ (14,7). Hier wird also das Bild vom Herrn und Sklaven auf eine innere Überzeugungswelt gedeutet. Am Ende des Römerbriefs schließt sich der Kreis: Wie zu Beginn des Römerbriefs finden wir kultische Bilder500 – diese rahmen den Römerbrief in einer Ringkomposition. So bezeichnet sich Paulus in Röm 15,16 als „Liturg“ (λειτουργός/ leitourgós) Christi Jesu für die Heiden, der das Evangelium Gottes priesterlich verwaltet (ἱερουργεῖν/hierourgeín), „damit die Opfergabe (προσφορά/prosphorá) der Heidenvölker (d. h. die Opfergabe, die in den Heidenvölkern besteht) wohlgefällig (εὐπρόσδεκτος/euprósdektos) sei, geheiligt durch den Heiligen Geist“ (15,16). Zwar muss „Liturg“ (λειτουργός/leitourgós) (und müssen damit verwandte Worte)  nicht kultisch konnotiert sein. Das Wort bezeichnet allgemein den Diener, den freiwillig-ehrenamtlichen und den dazu berufenen (oft auch den dazu gezwungenen) Diener des Staates bzw. des Gemeinwesens, aber auch den Diener im Tempel.501 In der LXX wird „Liturg“ (und werden verwandte Begriffe) bisweilen auch für den Tempeldienst der Priester und Leviten gebraucht.502 Da 15,16 mehrere Begriffe mit eindeutig kultischer Bedeutung enthält, ist hier auch für „Liturg“ eine solche Konnotation anzunehmen.503 Auffällig ist, dass Paulus sich in der Rolle eines Priesters am Tempel sieht, der den priesterlichen Opferdienst vollzieht – das bedeutet ἱερουργεῖν/hierourgeín.504 Er bringt (als er 499 Vgl. Röm 11,11.20.22; 1Kor 10,12; 15,1; 16,13; 2Kor 1,24; Gal 5,1.4; Eph 6,14; Phil 4,1; 1 Thess 3,8; 2Thess 2,15. 500 Zur Klammer, die Röm 1,1–17 und 15,14–33 bilden, vgl. Theobald, SKK 6/2, 200 f. 501 Vgl. Spicq, Lexique, 899–902; Schlier, ‚Liturgie‘, 248 f. In Röm 13,6 heißen die Be­ amten „Liturgen“ (λειτουργοί), was dem Gebrauch des Wortes in den Papyri entspricht, wo Kommunalbeamte bzw. für ein Gebiet zuständige Beamte so bezeichnet werden (vgl. ebd., 903). Städte (wie z. B. Athen) entsandten „Liturgen“ (λειτουργοί) als Botschafter, welche die Stadt repräsentieren sollten (ebd., 903 f). Spicq sieht hier eine Entsprechung zu Paulus, der von Gott zu den Heiden gesandt wurde. 502 Vgl. ebd., 902; Schlier, ‚Liturgie‘, 249. Im kultischen Sinn verwendet Paulus λειτουργία/ leitourgía in Phil 2,17. 503 So mit Recht Lohse, KEK 4, 394; vorsichtiger: Wiéner, Ἱερουργεῖν, 404. 504 Vgl. ebd.: „Opfer bringen“. In einer Textvariante von 4Makk 7,8 hat ἱερουργεῖν/hierourgeín die Tora als Objekt. Klauck, Symbolsprache, 115, erklärt: „Der Einsatz des eigenen Lebens im Dienst am Gesetz gilt als priesterliches Tun“.

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wählter Diener mit legitimierendem Mandat)505 Gott durch sein Evangelium die Heidenvölker in seinem liturgischen Dienst wie ein wohlgefälliges Opfer dar, wobei sein Opferdienst als der eschatologisch „neue eigentliche und letzte Opferdienst“ zu verstehen ist.506 Die zentrifugale Orientierung der paulinischen Mission schlägt hier um in ein zentripetal orientiertes Bild, das den Jerusalemer Tempelkult zum Inhalt hat. Am Anfang des paränetischen Teils (Röm 12) bringt ein kultisches, sakrifizielles Bild zum Ausdruck, dass der ganze Mensch sich Gott hingeben soll. Am Ende des paränetischen Teils (Röm 15) steht wieder ein kultisches, sakrifizielles Bild, das an die alte Erwartung der Völkerwallfahrt zum Zion denken lässt und an den Traum des Paulus, dass der Tempel für alle Menschen offen stehen werde.

4.5 Die Bildfolge: Veränderungen der Bilder von Gott und Mensch innerhalb des Römerbriefs Auch wenn Paulus oft eine poetische Kraft bei der Gestaltung seiner Bilder abgesprochen wird, lässt sich im Römerbrief eine überzeugende Folge von Bildern für Gott und Mensch beobachten, die sukzessive Veränderungen im Gottes- und Menschenbild anzeigen. Manche Bildmotive kommen immer wieder in Variationen vor und durchziehen den ganzen Brief. Das gilt vor allem für die Bilder des Herrschers, des Richters und Priesters, sowie die damit verbundenen Bilder von Herrschaft, Gerechtigkeit und Versöhnung. Am Anfang begegnet Gott in der Rolle des Herrschers, der seine Welt durch seinen „Sohn“ aus dem Hause Davids regieren will (1,1–7). Die Menschen widersetzen sich seiner Herrschaft. Gott tritt ihnen im ersten Kapitel wie ein Herrscher entgegen, der über ihren Ungehorsam erzürnt ist und sie den Folgen ihres eigenen Fehlverhaltens „ausliefert“. Doch dieses dunkle Bild einer strafenden Herrschaft wird bald überwunden. Niemand muss die Herrschaft Gottes fürchten, im Gegenteil, die Christen werden mit Christus herrschen (5,17). Sie werden mit ihm „verherrlicht“ werden (8,17). Der Messias kommt nicht als Unterdrücker, sondern alle Völker hoffen auf den, der aus der Wurzel Isais, d. h. aus dem Hause Davids, zum Weltherrscher aufsteigen wird (15,12). Ebenso erscheint Gott mehrfach in der Rolle des Richters: Das neutrale Gericht ohne Ansehen der Person (2,5–11) wird korrigiert durch das Bild eines Gerichts ohne Ankläger, in dem Christus als Fürsprecher mit auf der Richterbank sitzt (8,31–39). Am Ende ist das Gericht nur noch eine Instanz, vor der die Knechte Gott als ihrem Herrn Rechenschaft ablegen müssen (14,1–12). Sie 505 Vgl. Schlier, Liturgie, 251. 506 Vgl. ebd., 252, wo Schlier feststellt, dass es hier nicht um eine „Spiritualisierung“, sondern um eine „Erneuerung“ gehe.

Die Bildfolge

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werden durch dieses Gericht nicht mehr bedroht, sondern leben und sterben in Christus. In ihm sind sie geborgen. Wir finden in dieser Bilderfolge eine beeindruckende Entwicklung: Gott verwandelt sich aus einer bedrohenden Macht zum Garanten unbedingter Geborgenheit. Auch die priesterlichen und kultischen Motive bilden eine Art Ringkomposition, durch die Anfang und Ende des Römerbriefs verbunden werden: Der verfehlte Gottesdienst begann einst mit der Abwendung von Gott (1,18–32), die mitten in der Geschichte durch das Sühnopfer Christi (3,21–31) überwunden wurde. Das verfehlte Leben lassen die Christen durch die Taufe als kultisch dargestelltes symbolisches Sterben mit Christus endgültig hinter sich (6,1–11). Alles zielt auf den vernünftigen Gottesdienst, in dem die Christen ihre Leiber Gott zur Verfügung stellen (12,1–2) und die Gemeinde in einem „Leib“ ihre Gaben zugunsten der anderen entfaltet (12,3–21). Am Ende werden alle, Juden und Heiden, im Gottesdienst vereint sein (15,7–13). Hier führt die Bilderfolge von einem verfehlten zum erneuerten Gottesdienst aller Menschen. Sofern Gott als Herrscher, Richter oder Priester erscheint, bedient sich der Römerbrief der Metaphorik öffentlicher Rollen, die im Leben eines Volkes oder einer Polis das gemeinschaftliche Leben bestimmen. Diese Bildlichkeit unterstreicht die Botschaft: Es geht bei der Erlösung um einen Wandel, der die ganze Welt umfasst und eine soziale Dimension hat. Der eine und einzige Gott ist nicht nur ein Gott der Juden, sondern aller Menschen (3,29). Hinzu kommt eine individuelle Dimension. Charakteristisch für den Römerbrief ist, dass die öffentlichen Rollen des Herrschers, Richters und Priesters in Röm 6–8 durch drei private Rollen in Haus und Familie ergänzt werden: Durch die Rolle des Sklaven, der Frau und der Söhne. Alle drei Bilder bringen einen tiefen Einschnitt im Leben zum Ausdruck, der deutlich ein „Einst“ und „Jetzt“ unterscheidet. Der Sklave erlebt einen Herrenwechsel, die Frau eine zweite Ehe, der Sohn wird adoptiert und zum Erben eingesetzt. Solche Bilder einer einschneidenden Veränderung im Leben sagen nachdrücklicher als jede theoretische Reflexion, dass die Erlösung nicht nur im sozialen Leben und in der Welt, sondern in jedem einzelnen Leben einen Wandel bewirken will. Er ist von der ganz persönlichen Entscheidung, sich taufen zu lassen, abhängig. Hier tut sich eine Welt auf, in die man nicht durch Geburt hineinwächst, sondern in die man durch eine Entscheidung eintritt. Es ist daher kein Wunder, dass in allen drei familiären Bildern diese Veränderung „Freiheit“ und „Befreiung“ genannt wird (6,22; 7,3; 8,21). Durch sie wird der Mensch wieder Subjekt seines Lebens, sodass er nicht mehr „das tut, was er nicht will“ (vgl. 7,15.19). Diese Erlösungsbilder zeigen, dass die Erlösung zweifellos auch eine individuelle Dimension hat.507 Was die Bilder zusammenfügen, muss die theologische Deutung ebenfalls zusammendenken. 507 Vgl. Burnett, Salvation, der gegen die Tendenz der New Perspective diese individuelle Dimension herausarbeitet, ohne sie gegen die soziale Dimension der Erlösung auszuspielen.

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Theologische Bilder im Römerbrief

Gehen wir den gesamten Römerbrief durch, so finden wir schließlich eine Parallelität in der Veränderung von Gott und Mensch. Gott wendet sich von seinem Zorn ab und verwandelt sich in einen Gott der schenkenden Gerechtigkeit (3,21–5,21), der Liebe (6,1–8,39) und des Erbarmens (9,1–11,36). Entsprechend verwandeln sich die Menschen aus Geschöpfen, die sich durch die Folgen ihres Fehlverhaltens ruinieren, zu Menschen, die Erbarmen und Liebe üben (12,8 f; 13,8–10; 14,15). Dieser parallele Wandel vom Zorn zur Liebe Gottes und von zwischenmenschlicher Aggression zur Liebe der Menschen ist wohl die Bilderfolge, die sich der Leserin und dem Leser am tiefsten einprägt. Die Bilderfolgen des Paulus bringen seine Theologie eindringlicher als alle begrifflichen Ausführungen zum Ausdruck. Aber sie ersetzen die Gedanken nicht. Im nächsten Kapitel analysieren wir den Gedankengang des Römerbriefs, indem wir verschiedene Heils- und Erlösungskonzepte in ihm unterscheiden.

5. Kapitel: Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien Eine theologische Lektüre

Der Brief an die Römer entfaltet seine Botschaft vom rettenden Glauben in einer Kette von vier Heilslehren.1 Jede von ihnen endet in einem Dilemma, das nach einem neuen Heilskonzept verlangt, das wiederum scheitert.2 Am Ende bleiben Aporien. Deren Lösung überlässt Paulus der „Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ (11,33). Paulus entfaltet als erste Heilslehre die jüdische Gesetzesfrömmigkeit (1,18– 3,20). In ihr ist Gott ein neutraler Richter (2,11). Paulus hat erkannt: Weil keiner die vom Gesetz geforderten Werke tut, kann keiner vor Gott bestehen. Auf diese Aporie antwortet die Rechtfertigungslehre: Gott bietet aufgrund des Sühnetods Christi allen, die glauben, Freispruch ohne Vorbedingungen an (3,21–5,21). Da diese Gewissheit dazu verführen könnte, weiter zu sündigen, entwickelt Paulus eine Verwandlungslehre (6,1–8,39), die sagt: Christen sind durch die Taufe so verwandelt, dass sie sich von der Sünde getrennt haben wie Tote von ihrem Leben; sie sind mit Christus gestorben und in ein neues Leben eingetreten. Gott wird jetzt zum Vater, der neues Leben gibt (6,4) und den man vertrauensvoll anreden darf (8,15). Mit familiären Bildern sagt Paulus, dass Christen von Sünde, Gesetz und Vergänglichkeit befreit sind – vergleichbar einem Sklaven, der einen neuen Herrn bekommen hat, einer Frau, die neu geheiratet hat, oder einem Menschen, der zum Sohn adoptiert wurde. Das neue Dilemma ist, dass nicht alle Menschen durch die Taufe verwandelt sind und Israel zum größten Teil das Evangelium ablehnt. Darauf antwortet die Erwählungslehre (9,1–11,36) mit der These: Gott ist so souverän, dass er auch die erwählen kann, die ihn verwerfen, auch das ungläubige Israel. An die Stelle politischer und familiärer Bilder treten zwei Berufsrol 1 Räisänen, Römer 9–11, 2891–2929, unterscheidet im Römerbrief drei Soteriologien: Heil durch Werke, Glauben und Erwählung. Wenn wir ein „Heil durch Verwandlung“ hinzufügen, folgen wir der Entdeckung von zwei Erlösungslehren bei Paulus, der juridischen Rechtfertigungslehre und der physisch-mystischen Verwandlungslehre im 19. Jh. (Lüdemann, Anthropologie). Die Unterscheidung von zwei Gruppen soteriologischer Bilder (Theissen, Soteriologische Symbolik), von Befreiung, Rechtfertigung und Versöhnung als Beziehungsbildern, von Gestaltwandel, Sterben mit Christus sowie Vereinigung mit ihm als Verwandlungsbildern, entspricht der juridischen und mystischen Erlösungslehre. 2 Nach Wolter, Paulus, 435, ist Paulus an der Israelfrage theologisch gescheitert. Die Sonderstellung Israels in 11,25–29 widerspreche der Gleichstellung von Juden und Heiden im vorhergehenden Römerbrief. Aber Paulus scheitert nicht erst in Röm 11, der ganze Brief ist eine Kette scheiternder Gedanken voll Widersprüchen.

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len: Gott verwandelt sich von einem Töpfer, der unbrauchbare Gefäße zerstört, in einen Gärtner, der ausgebrochene Zweige erneut einsetzt. Wir gehen im Folgenden diese vier Heilskonzepte durch und fragen jeweils: Was versteht Paulus unter Unheil und Heil? Was versteht er unter Sünde? Dabei unterscheiden wir drei Dimensionen der Sünde: Sie ist Beziehungsstörung zu Gott, Gesetzesübertretung und Fehlorientierung am Gesetz. (1) Ursprung der Sünde ist eine Beziehungsstörung zwischen Gott und Mensch. Sünde ist Abwendung von Gott (1,18–31), die sich zur Feindschaft gegen Gott steigert (5,10; 8,7) und als Gefangenschaft unter fremden Mächten Elend für den Menschen bedeutet (6,15; 7,23). (2) Sie zeigt sich konkret in Übertretungen des Gesetzes, mit denen Menschen einander Leid antun. Wo es Täter gibt, gibt es auch Opfer. Wir werden daher fragen: Ist Erlösung nur Befreiung von Schuld oder auch von Leid?3 (3) Darüber hinaus gibt es eine verfehlte Orientierung am Gesetz: Nicht nur der Gesetzesbruch, schon die Orientierung am Gesetz kann in die Irre führen. Jedes Heilskonzept setzt dabei eigene Akzente der Gesetzeskritik. Der Nachweis einer grundsätzlichen Gesetzeskritik ist für unsere Paulusdeutung von großer Bedeutung: Denn gerade diese Gesetzeskritik stand im Zentrum der reformatorischen und existenzialtheologischen Deutung des Paulus. Sie wird heute als problematisch erlebt. Kritik des Gesetzes, das für Juden Grundlage ihrer Identität ist, ist in mancher Form schwer akzeptabel. Daher müssen wir zeigen: Die Gesetzeskritik lässt sich in eine Gesamtdeutung des Paulus als Reformator des Judentums einfügen. Sein Christentum ist ein antikes Reformjudentum. Bei der Wende zum Heil spielt Christus die entscheidende Rolle. Im Rahmen der Gesetzesfrömmigkeit ist er der zukünftige Richter (2,16). Im Rahmen der Rechtfertigungslehre schafft er durch sein Sterben „Sühne“ und Versöhnung (3,25; 5,6–10). Innerhalb der Verwandlungslehre sterben Menschen mit ihm und werden mit ihm erneuert (6,1–11). Innerhalb der Erwählungslehre wird er zum Skandalon für ungläubige Israeliten (9,33) und gewinnt sie bei der Parusie dennoch für sich (11,26 f). Entscheidend ist: Wir suchen nicht nach einer einheitlichen Theologie, sondern nach verschiedenen Heilskonzepten, die durchaus in Widerspruch zueinander stehen können. Diese Widersprüche ergeben einen Sinn, wenn man das Grundanliegen des Paulus im Auge behält: Gott will ein Gott aller Menschen sein und will den ganzen Menschen für sich gewinnen. Wir werden bei jedem Heilskonzept fragen, inwiefern diese Anliegen zur Geltung kommen: die Universalität und Ganzheit des Heils.

3 Solon, Erlösung.

Heil durch Tun des Gesetzes(Röm 1,18–3,20)

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5.1 Heil durch Tun des Gesetzes: Individuelle Sünde und Gleichheit aller Sünder (Röm 1,18–3,20) Paulus beginnt mit dem Heilskonzept der Gesetzesfrömmigkeit. Sie folgt dem Grundsatz: „Vor Gott sind nicht die gerecht, die das Gesetz hören, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein“ (2,13). Das ist jüdischer Humanismus. Gott stellt den Menschen vor die Alternative von Gut und Böse und macht ihn für sein Tun verantwortlich. Man sollte diese Frömmigkeit nicht dadurch „nachzubessern“ versuchen, dass man sie in eine protestantische Gnadenreligion umdeutet. Das Judentum ist auch ohne solch eine Uminterpretation eine Gnadenreligion, da Gottes Zuwendung zum Menschen allem menschlichen Tun vorausgeht. Aber es traut dem Menschen zu, das Gute zu tun und für Fehlverhalten Verantwortung zu übernehmen. Wir verdanken ihm den Grundsatz, der sich in der Aufklärung durchgesetzt hat: Alles in der Religion muss an ethischen Maßstäben gemessen werden. Die Bergpredigt hat ihn als Jesuswort an das Christentum weiter gegeben: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Mt 7,16). Paulus radikalisiert im Rahmen seiner Gesetzesfrömmigkeit diese ethische Sensibilität des Judentums für die Verantwortung und die Sünde des Menschen, wenn er feststellt: Alle scheitern beim Tun des Guten. Oft wird übersehen, dass auch in seiner Darstellung der scheiternden Gesetzesfrömmigkeit die Gnade Gottes erkennbar ist: Es handelt sich um die Gnade der Umkehr. Entgegen der Ansicht, Paulus habe das Judentum verzerrt dargestellt, wollen wir zeigen: Auch wenn Paulus die Gesetzesfrömmigkeit als einen scheiternden Weg zum Heil betrachtet, lässt seine Darstellung die Humanität dieses Weges erkennen.

5.1.1 Die Gnade der Umkehr: Das Heilsverständnis der Gesetzesfrömmigkeit Für den jüdischen Glauben ist schon die Existenz des Gesetzes Gnade. Nach der Sinaierzählung empfängt Mose die Gesetzestafeln von Gott, das Volk aber wendet sich von Gott ab und betet das Goldene Kalb an. Daraufhin zerstört Mose die Gesetzestafeln. Als er über den Abfall des Volkes verzweifelt ist, offenbart sich ihm Gott als Barmherziger. Er sagt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (Ex 33,19LXX; vgl. Röm 9,15). Ausdruck seiner Barmherzigkeit ist, dass er die Tafeln des Gesetzes erneuert. Die Erzählung versichert: Schon die Existenz des Gesetzes ist ein Ausdruck dafür, dass Sünder trotz Abkehr von Gott eine neue Chance erhalten (haben). Das Gesetz selbst ist Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes. Eben dieses Gnadenverständnis finden wir bei Paulus, wenn er dem Sünder vorwirft: „Oder verachtest du

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Umkehr leitet?“ (2,4). Die Möglichkeit der Umkehr im Vertrauen auf den „Reichtum“ der Gnade Gottes ist in der Gesetzesfrömmigkeit zentral – ganz abgesehen von Sühnopfern zur Überwindung der Sünde. Gewiss spricht Paulus in 2,4 von Umkehr als einer verwirkten Chance. Aber bald danach leuchtet noch einmal die Möglichkeit eines Heils durch Umkehr auf, wenn er in 2,25–29 von dem „wahren Juden“ spricht, der am Herzen beschnitten ist. Denn das Bild von der Beschneidung des Herzens meint die Umkehr. Ihr gilt die Verheißung des Lebens: „Und der Herr, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du den Herrn, deinen Gott liebst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass du am Leben bleibst“ (Dtn 30,6). Gnade bestimmt also das Leben unter dem Gesetz. Für Paulus steht trotzdem fest: Alle Menschen haben die von Gott angebotene Umkehrchance verwirkt. Alle sind Sünder. Ihre Sünde hat mehrere Dimensionen.

5.1.2 Die Ursünde als Vertauschung von Schöpfer und Geschöpf Sünde ist an erster Stelle Zerstörung der Beziehung zu Gott. Paulus „entmythologisiert“ in 1,18–31 den Sündenfallmythos, so dass auch Nicht-Juden seine Aussage verstehen können. Er bringt eine Abwendung von Gott zum Ausdruck, die sich in jedem Menschen neu ereignet.4 Paulus steht damit nicht allein. Im syrischen Baruch gilt die Abwendung vom Schöpfer als Wiederholung der Sünde Adams in jedem einzelnen Menschen. Er redet alle Menschen mit den Worten an: Jetzt aber wendet euch nur dem Verderben zu, die ihr jetzt als Ungerechte lebt  – streng wird man euch heimsuchen, weil ihr des Höchsten Einsicht ehemals verworfen habt. Denn niemals haben seine Werke euch belehrt, noch hat das Kunstwerk seiner allezeit bestehenden Schöpfung euch überzeugt. Somit ist Adam einzig und allein für sich der Grund; wir alle aber wurden Stück für Stück zu Adam für uns selbst (syrBar 54,17–19).

Ähnlich schildert Paulus die Abkehr von Gott, freilich ohne explizite Erwähnung Adams. Dadurch sind seine Gedanken allen Menschen zugänglich, auch wenn sie nicht in der biblischen Tradition aufgewachsen sind. Alle Menschen haben nach Paulus die Chance zu einer natürlichen Gotteserkenntnis. Aber alle haben sie durch Gottlosigkeit (ἀσέβεια/asébeia) und Ungerechtigkeit (ἀδικία/adikía) ver 4 Nach Hooker, Adam; Jewett, Hermeneia, 161; Holtz, Gott, 22–24, spielt Paulus auf den Sündenfall Adams an. In 1,23 werde Ps 105,20LXX durch Anleihen an Gen 1,24.26 erweitert. Wenn von der „Gleichgestalt des Bildes eines sterblichen Menschen“ die Rede ist, erinnert das an den Menschen, der „nach dem Bilde Gottes und nach seiner Gleichgestalt“ geschaffen wurde (Gen 1,26). Anders Wolter, Paulus, 144 Anm. 36. Sachlich ist in jedem Fall eine Ursünde gemeint, an der alle Menschen teilhaben. Paulus denkt dabei gewiss auch an Adams Sünde.

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wirkt. Sie widersprechen damit dem Kanon der beiden Tugenden „Frömmigkeit und Gerechtigkeit“, der von Griechen und Juden anerkannt wurde.5 Paulus macht allen Menschen den Vorwurf, sie hätten sich von Gott abgewandt, obwohl Gott in der Schöpfung offenbar ist und sich in ihr offenbart (1,19). Diese „natürliche Theologie“ ist eine theologia negativa. Nach ihr ist von Gott nur sichtbar, dass er unsichtbar ist: „Denn Gottes unsichtbares Wesen … wird gesehen aus seinen Werken“ (1,20). Diese natürliche Gotteserkenntnis ist im Römerbrief kein pädagogischer Anknüpfungspunkt für die christliche Botschaft wie in der Rede des Paulus auf dem Areopag. Dort sagt der lukanische Paulus, die Athener verehrten den unbekannten Gott, den sie nicht kennen (Apg 17,23).6 Paulus selbst sagt dagegen im Römerbrief: Alle Menschen kennen sehr wohl Gott, verehren ihn aber nicht und sind deshalb unentschuldbar. Zu diesem Urteil konnte er kommen, weil in der Begegnung mit der griechischen Philosophie vielen Juden bewusst geworden war, dass auch Philosophen zur monotheistischen Gotteserkenntnis vorgedrungen waren. Nach Jos. c.Ap. 2,169 hatten diese Philosophen zwar die wahre Erkenntnis, aber nicht den Mut des Mose, sie im Volk auch durchzusetzen.7 Ihre Gotteserkenntnis mag unvollkommen sein,8 aber sie ist für Paulus die Grundlage, um alle Menschen zu kritisieren, weil sie die Verehrung des einen und einzigen Gottes verweigern. Die Abwendung von Gott führt schrittweise ins Verderben. Der erste Schritt besteht darin, dass die Erkenntnisfähigkeit der Menschen vermindert wird: Ihre Gedanken werden zunichte, ihr Herz verfinstert sich, aus Weisen werden Toren. Als zweiter Schritt folgt, dass sie Schöpfer und Geschöpf verwechseln. Zwei An 5 Auch Juden kannten ein in ihren eigenen Traditionen enthaltenes Fundamentalethos, das alle Menschen teilen: Die Gebote, die Noah und seinen Nachfahren gegeben wurden. Paulus könnte auf diese noachidischen Gebote zurückgreifen (vgl. Jub 7,20). So Holtz, Gott, 238–244. Der „Kanon der zwei Tugenden“ ist eine griechische Tradition, vgl. Dihle, Kanon. 6 Auch in SapSal 13,6–8 dient die natürliche Theologie als Entschuldigung für heidnischen Polytheismus: Die Schönheit der Welt verführte Menschen dazu, die Schöpfung als göttlich zu verehren: „Aber dennoch ist der Tadel für sie gering, denn vielleicht gehen sie nur in die Irre, während sie Gott suchen und finden wollen. In seinen Werken nämlich sind sie zu Haus und stellen ihre Forschungen an, und sie werden vom Augenschein verführt, weil das, was zu sehen ist, schön ist. Andererseits sind sie aber auch nicht entschuldbar […]“. 7 „Aber diese, die nur für wenige philosophierten, hatten nicht den Mut, die Wahrheit ihrer Lehre in die für falsche Meinungen voreingenommene Menge hinauszutragen. Unser Gesetzgeber dagegen brachte seine Taten mit seinen Worten in Einklang“ (Jos. c.Ap. 2,169). Dazu Amir, Begegnung. 8 Nach Philo erfasst natürliche Gotteserkenntnis nur die Existenz Gottes, nicht sein Wesen. Philo Spec. 1,41 f: „Dass Du bist und waltest, hat diese Welt mir als Lehrerin und Wegweiserin verkündet und wie ein Kind über seinen Vater, wie ein Kunstwerk über seinen Meister, mich belehrt; aber bei meinem Wunsche, Dich Deinem Wesen nach zu erkennen, finde ich in keinem Teile des Weltalls einen Meister, der mich belehren könnte. Daher bitte ich Dich innig: erhöre das Gebet eines Flehenden, der Dich liebt und Dir allein zu dienen wünscht. Denn wie das Licht durch nichts anderes zu erkennen ist und selbst von sich Zeugnis ablegt, so kannst auch Du allein Dich offenbaren“ (vgl. ferner Post. 167–169).

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spielungen sind dabei erkennbar. Die erste zielt auf das Goldene Kalb: „Und sie vertauschten ihre Herrlichkeit mit der Gestalt eines Stieres, der Gras frisst“ (Ps 105,20LXX). Damit deutet Paulus an, dass Juden nicht besser als Heiden sind. Dazu kommt, wie wir gesehen haben, eine Anspielung auf die Apotheose des ­Kaisers. Paulus sagt nämlich nicht, dass der eine und einzige Gott mit dem Bild vieler Menschen vertauscht wurde, sondern mit „einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen“ (1,23). Der Kaiserkult bezog sich immer nur auf einen Menschen. Alles Fehlverhalten hat letztlich seinen Ursprung im Willen des Menschen, der sich von Gott abwendet. Paulus vertritt insofern ein voluntaristisches Menschenbild. Das kognitive Menschenbild vieler griechischer Philosophen sagt dagegen: Wenn Menschen die rechte Erkenntnis haben, folgt der gute Wille von selbst; wenn sie Böses tun, sind sie durch falsche Erkenntnis in die Irre geführt worden. Deshalb vertrat Sokrates die These, Tugend sei Wissen.9 Für Paulus basiert die Sünde dagegen nicht auf falschem Wissen, sondern auf einem fehlgeleiteten Willen.

5.1.3 Konkrete Übertretungen: Sexuelle und aggressive Sünden Aus der Abwendung von Gott, dem Verlust der Gotteserkenntnis und der Vertauschung von Schöpfer und Geschöpf folgen in einem dritten Schritt konkrete moralische Verfehlungen (1,24–32). Sie zeigen nicht nur, dass alle Menschen unmoralisch sind, sondern dass der ganze Mensch verdorben ist. Paulus spricht in drei parallelen Sätzen davon, dass Gott die Menschen ihren Verfehlungen „dahingegeben“ hat (παρέδωκεν/parédōken 1,24.26.28), als habe er sie Feinden ausgeliefert.10 Er unterscheidet nach den beiden Ursünden der Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit zwei Gruppen von Fehlverhalten: In 1,24–27 prangert er sexuelle 9 Vgl. Xen. mem. III 9,4 f; Plat. Men. 87c. 10 Umstritten ist: Geschieht das Gericht schon in den gegenwärtigen Verfehlungen oder ist es futurisch, weil im Lichte des zukünftigen Gerichts die Gegenwart als Hölle erscheint. So Eckstein, Gottes Zorn; Wolter, Paulus, 131. Doch spricht die Parallelität von ἀποκαλύπτεται (apokalýptetai) in 1,17 und 18 für eine präsentische Deutung der Offenbarung des Zorns. Auch die Gerechtigkeit Gottes wirkt schon in der Gegenwart (Jewett, Hermeneia, 150–152). Daher kann die Offenbarung der Gerechtigkeit (3,21) die Offenbarung des Zorns (1,18) mitten in dieser Zeit ablösen. Zu beachten ist ein wichtiger Unterschied zwischen dem immanenten und dem eschatologischen Gericht: Innerhalb der Geschichte ergreift Gott Partei gegen die Sünder und liefert sie zusammen mit ihren Opfern ihren Verfehlungen aus, im Jüngsten Gericht aber straft er unparteiisch jeden nur nach seinen eigenen Verfehlungen. Paulus vertritt eine präsentische Eschatologie des Gerichts! Ein Modell dafür findet sich in der Weisheit. Sie schildert die ägyptische Finsternis (Ex 10,21–29) als Vorspiel des Jüngsten Gerichts: „Aber über ihnen allein war eine bedrückende Nacht ausgebreitet, ein Bild der Finsternis, die sie in der Zukunft aufnehmen würde, sich selbst aber waren sie bedrückender als die Finsternis“ (SapSal 17,21).

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Verfehlungen als Folge von „Gottlosigkeit (ἀσέβεια/asébeia)“ an,11 in 1,28–31 kritisiert er aggressive Verfehlungen als Ausdruck von „Ungerechtigkeit“ (ἀδικία/ adikía, vgl. 1,29). Die sexuellen „Begierden“ sind im Herzen verankert und wirken sich in den Körpern (σώματα/sōmata) aus. Die Vertauschung von Gott mit Tieren führt zum Verlust der Selbststeuerung des Menschen. Wer Schöpfer und Geschöpf vertauscht und damit Gottes Souveränität über die Welt verkennt, verliert auch die Souveränität über sich selbst. Er wird seinen Affekten ausgeliefert. Wenn ­Paulus als Beispiel dafür Homosexualität kritisiert, spiegelt sich darin deren Verwerfung im damaligen Judentum. Der dahinter stehende Grundgedanke ist: Wenn sexuelle Beziehungen bedroht sind, sofern Schöpfer und Geschöpf verwechselt werden und ein Partner in die Rolle Gottes, der andere in die des abhängigen Geschöpfes gerät, ist jede Beziehung gefährdet, sei sie nun hetero- oder homosexuell. Überall wiederholt sich darin dieselbe Ursünde des Menschen. Die zweite Gruppe moralischer Sünden sind aggressive Verhaltensweisen. Sie sind Ausdruck eines verworfenen „Verstands“ (νοῦς/noús) (1,28) und gehen auf den Verlust der Gotteserkenntnis, d. h. auf den ersten Schritt nach der Abwendung von Gott zurück. Mit dem verworfenen „Verstand“ (νοῦς/noús) bezieht sich Paulus auf das Verstehbare (νοούμενα/nooúmena) in 1,20 zurück, mit der „Erkenntnis“ (ἐπίγνωσις/epígnōsis) in 1,28 auf das Erkennbare von Gott (γνωστόν/ gnōstón) in 1,19. Die Abwendung von Gott besteht in der Verweigerung von Lob und Dank. Wo das Leben nicht mehr dankbar empfangen wird, wird es durch Streit zwischen den Menschen zerstört. Paulus kritisiert dabei nicht nur das aggressive Verhalten selbst, sondern auch die Zustimmung zu ihm (1,32). Er hat richtig beobachtet: Aggression wird durch soziale Zustimmung gefördert. Dass alle Menschen ausnahmslos Sünder sind, wird am Ende von 1,18–3,20 als Fazit betont: „Denn wir haben soeben bewiesen (oder: die Anklage erhoben), dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“ (3,9). Paulus belegt das mit Schriftstellen und unterstreicht die Allgemeinheit der Sünde, indem er zum Satz: „Es gibt keinen Gerechten auf Erden“ (Pred 7,20) hinzufügt: „Es gibt nicht einen einzigen“. Er differenziert Wort-12 und Tatsünden (3,13 f und 3,15–17)13 und zeigt so, dass nicht nur alle Menschen, sondern der ganze Mensch mit Hand, Fuß und Zunge von Sünde durchdrungen ist, um am Ende alles verkehrte Handeln auf mangelnde Gottesfurcht zurückzuführen (3,18 = Ps 35,2LXX). Aufschlussreich ist, dass er nur aggressive Handlungen nennt. Die in 1,24–27 betonten Sexualsünden spielen keine Rolle mehr. Charakteristisch ist, dass Paulus die Feindklagen der Psalmen zu Sündenbekenntnissen macht. Feindklagen sind Hilferufe der Opfer, Sündenbekenntnisse Aussagen der Täter. Das Bewusstsein der allgemeinen Sündhaftigkeit ist bei 11 Ἀσέβεια/asébeia (1,18) klingt in ἐσεβάσθησαν/esebásthēsan (1,25) nach. 12 Ps 5,10; 140,4; 10,7. 13 Jes 59,7 f; Ps 36,2.

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Paulus daher auch ein Wissen um das Leid, das die Sünde schafft. Am Ende wiederholt er noch einmal seine These: Kein Mensch ist vor Gott gerecht (3,19 f), wobei er betont: Das Gesetz hat in diesem Zusammenhang nur die Funktion der Erkenntnis von Sünde und schafft so Angst. Aber das Gesetz hat darüber hinaus noch eine weitere unheilvolle Funktion: Es verführt zum Gesetzesstolz. Eine verfehlte Orientierung am Gesetz wird schon innerhalb der Gesetzesfrömmigkeit erkennbar.

5.1.4 Gesetzesstolz als verfehlte Orientierung am Gesetz Wer auf das Gesetz stolz ist, neigt dazu, die Sünden anderer scharf zu verurteilen, eigene Sünden aber zu übersehen. Paulus kritisiert das mit dem Ausruf: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest“ (2,1). Dieser Moralismus maßt sich die Rolle Gottes als Richter an. Später begegnet die Wendung: „O du Mensch!“ (9,20) nur noch einmal im Töpfergleichnis. Das Tongefäß kann seinen Schöpfer nicht zur Rechenschaft ziehen. Es bleibt Geschöpf. Ebenso vertauscht der Mensch im Richten über andere Menschen Schöpfer und Geschöpf, begeht also die religiöse Urverfehlung. Einen Nachklang davon findet sich in der Paränese des Römerbriefs, wenn Paulus im Streit zwischen Starken und Schwachen mahnt: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden“ (14,10). Wen aber kritisiert Paulus in 2,1–3.17–24? Er wendet sich in 2,1 an jeden moralisch urteilenden und verurteilenden Menschen. Aber nachdem Paulus in ­1,18–32 heidnische Sünden kritisiert hat, muss der Leser in 2,1–3 an einen Kritiker denken, der insbesondere heidnisches Verhalten verurteilt. Das legt den Gedanken an einen Juden nahe. Doch erst in 2,17 wendet sich Paulus explizit an einen Juden: „Wenn du dich aber Jude nennst …“. Er kritisiert einen jüdischen Gesetzeslehrer mit hohem moralischen Anspruch, der nicht tut, was er andere lehrt (2,17–24).14 Sünde ist schon innerhalb der Gesetzesfrömmigkeit nicht nur moralisches Versagen, sondern jener Moralismus, der andere wegen eines Versagens verurteilt, das er bei sich selbst leugnet. Alle Juden hätten Paulus zugestimmt, dass dieser Widerspruch zwischen Lehre und Tun verwerflich ist. Falscher Gesetzesstolz wurde schon innerhalb der Gesetzesfrömmigkeit scharf kritisiert. Paulus kritisiert ihn als ein „Sich-Rühmen“ (2,17). Das Gesetz wird in ihm zum Mittel, um andere abzuwerten: Die anderen sind törichte Menschen, die in der Finsternis wandeln. 14 Thorsteinsson, Interlocutor, denkt an einen Heiden, der zum Judentum konvertiert ist oder konvertieren will und den Paulus davon abhalten will, dass er sich beschneiden lässt. Er versteht 2,17 so, dass sich der angesprochene Toralehrer nur einen Juden „nennt“, aber kein Jude ist. Epikt. II 9,19–21, schildert Menschen, die sich durch ihr Verhalten als Juden geben, ohne geborene Juden zu sein. Paulus setzt jedoch nicht nur einen Menschen voraus, der jüdische Lebensweise praktiziert, sondern sie selbstbewusst andere lehrt.

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Neben dem Gesetzesstolz begegnet als Gegenteil zum Gesetzesstolz die Angst vor dem Gericht Gottes. Es bedeutet „Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die Böses tun, zuerst der Juden und ebenso der Griechen … Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott“ (2,9–11). In 2,12–16 verlegt Paulus dieses eschatologische Gericht ins Innere des Menschen – auch in das Innere von Heiden, die weder das Gesetz kennen, noch auf den Jüngsten Tag warten. Wie den Sündenfall, so deutet er auch das Jüngste Gericht psychologisch, indem er neben dem objektiven Gericht (2,5–11) das subjektive Tribunal des Gewissens schildert (2,15–16). Dadurch korrespondieren ein Gericht im Himmel und auf Erden, in Zukunft und Gegenwart. Zuerst wird ein objektives Gerichtsverfahren allen Menschen ohne Ansehen der Person angedroht, dann ein subjektives Gesetzesforum in allen Menschen postuliert. Die Parallelität eines mythischen und psychischen Tribunals geht aus wiederkehrenden Stichworten in ihrer Darstellung hervor: Tab. 10: Der Parallelismus zwischen mythischem und innerem Tribunal Das mythische Gericht ist ein Gericht ohne Ansehen der Person über Juden und Heiden:

Das innere Gericht ist ein Gericht nach demselben Gesetz über Juden und Heiden:

„ … auf den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken“ (2,5 f).

„ … an dem Tag an dem Gott das Verborgene der Menschen richten wird durch Jesus Christus nach meinem Evangelium“ (2,16).

Paulus „entmythologisiert“ in 1,18–2,16 also sowohl den Ursprungsmythos des Sündenfalls als auch den Endzeitmythos des Jüngsten Gerichtes. Beim „Sündenfall“ begründet Paulus die Abkehr des Menschen von Gott mit seiner Undankbarkeit: Trotz Gotteserkenntnis fehlt der rechte Wille. Das von Affekten verfinsterte Personzentrum des Herzens verliert seine Offenheit für Transzendenz. Beim Gericht am Ende der Zeit setzt er voraus, dass auch noch in diesem verfinsterten Herzen der Wille Gottes eingeschrieben ist. Hier gibt es trotz bösen Willens noch genug Erkenntnis, um den eigenen Willen als böse erkennen zu können. In beiden Fällen ist das Herz der entscheidende Ort des Geschehens. In ihm wirken die Gedanken des Menschen, die διαλογισμοί/dialogismoí in 1,21 und die λογισμοί/ logismoí in 2,15. Bei der Gotteserkenntnis gehen die Gedanken in die Irre (1,21), im inneren Tribunal erkennen sie den göttlichen Willen, klagen einander an und verteidigen sich (2,15). In beiden Fällen beleuchten sie das Elend des Menschen durch den Widerspruch seines Willens zum göttlichen Willen. In beiden Fällen bezieht sich die „psychologische“ Interpretation von Sündenfall und Jüngstem

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

Gericht auf alle Menschen – auch auf diejenigen, die die biblische Urzeit- und Endzeitmythen nicht kennen. Gleichzeitig zeigen sie, dass der ganze Mensch von Gott gefordert wird – bis ins Innere, wo der Mensch in einem ständigen Dialog mit Gottes Forderung steht. Der psychomythische Parallelismus zwischen den Tribunalen im Himmel und im Herzen der Menschen ist von grundsätzlicher Bedeutung. Er zeigt, dass Unheil und Heil den ganzen Menschen erfassen. Das eschatologische Tribunal bleibt dabei für Paulus eine objektive Größe, die Bilder des inneren Tribunals sind für ihn dessen Spiegelbild im Menschen, auch wenn für viele moderne Menschen umgekehrt das eschatologische Tribunal eine Projektion des inneren Tribunals ist.15 Die Frage nach der Erlösung bleibt dieselbe: Wie wird der Mensch von der Verurteilung im Tribunal Gottes und im Tribunal seines Gewissens erlöst?

5.1.5 Die Christologie im Rahmen der Gerichtspredigt (Röm 2,16) Christus befreit von der Angst vor Verurteilung. Im ersten Teil 1,18–3,20 begegnet er nur ein einziges Mal – und dann als Richter: Gott wird die Taten der Menschen richten „an dem Tag, an dem Gott das Verborgene der Menschen nach meinem Evangelium durch Christus Jesus richtet“ (2,16). Gott war als Ursprung des „Gesetzes“ anonym im Tribunal des Gewissens anwesend (2,15 f), die Rolle als Richter blieb zunächst unbesetzt. Als Richter tritt er erst am Tag des Gerichts hervor und richtet dann „nach meinem Evangelium durch Jesus Christus“. Paulus deutet damit an: Gott richtet nicht nur „nach dem Werk eines jeden“ (2,6), sondern durch Christus „nach meinem Evangelium“ (2,16). Gott richtet nach 2,16 das Verborgene des Herzens. Das Gericht trifft den ganzen Menschen bis in sein Inneres. Entweder meint das Verborgene die Taten eines Menschen, die der Öffentlichkeit unbekannt sind, dann wären sie nur vor anderen Menschen „verborgen“. Oder sie waren auch dem Täter selbst verborgen, werden ihm aber am Tag des Gerichts vor Augen gestellt. Hier läge dann eine theo 15 Man könnte dieser modernen Deutung zustimmen, wenn man das Tribunal vor Gott, d. h. die Verantwortung des Menschen vor ihm, für eine objektive Gegebenheit hielte. Das würde nicht ausschließen, dass die Bilder, in denen diese Verantwortung erfasst wird, menschliche Projektionen sind. Wenn wir bei „Projektionen“ an einen Projektor (Beamer) denken, mit dem wir Bilder in einen dunklen Raum werfen, so wären religiöse Vorstellungen die projizierten Bilder. Nehmen wir die Bilder weg, d. h. löschen wir das Licht des Projektionsapparats, bleibt der dunkle Raum, in den hinein wir sie projiziert haben. Ohne Projektionen wäre er für uns unsichtbar geblieben. So ist es mit den Bildern vom Jüngsten Gericht. Sie stammen aus unserer Lebenswelt und werden in der Religion in einen dunklen Raum hineinprojiziert. Dieser Raum ist und bleibt eine Realität, auch wenn die Bilder, mit denen wir ihn sichtbar machen, als menschlich-allzumenschliche Bilder durchschaut werden.

Heil durch Tun des Gesetzes(Röm 1,18–3,20)

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logische Konzeption des „Unbewussten“ vor, d. h. eines Bereichs im Menschen, den der Mensch selbst nicht sieht, den aber Gott durchschaut.16 Paulus kennt diese Vorstellung des Unbewussten in 1Kor 4,4–5. Dort beteuert er, ihm selbst sei nichts Unrechtes bewusst, „aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden“. Zu dem Verborgenen des Herzens gehört hier auch das Verdrängte und Geleugnete, das Paulus nicht bewusst ist. Die Erlösung umfasst den ganzen Menschen, auch seine unbewussten Tiefen. Aber es geht nicht nur um Erlösung des ganzen Menschen, sondern aller Menschen. Deshalb blendet Paulus schon jetzt den Hinweis auf „sein Evangelium“ ein. Da dieses Evangelium eine Kraft zur Rettung aller Menschen ist (1,16 f), legt Paulus hier den Gedanken nahe, dass dieser Richter gnädig ist. Paulus selbst ist u. E. dieser Hinweis auf sein Evangelium mitten in einer Schilderung des Zornes Gottes zuzutrauen. Er schafft so einen Bogen, der bis 11,26 reicht, wo Christus zur Parusie kommt – ebenfalls mit einem „Evangelium“ für Sünder, dort für alle Juden, in 2,16 für alle, sowohl Juden als auch Nichtjuden.17 Alle Menschen sind auf Erlösung angewiesen, alle stehen mit sich selbst in Konflikt. Das bezeugt das Gewissen auch bei denen, die kein „Gesetz“ haben, sondern sich selbst Gesetz sind.18 Paulus folgt hier der antiken Vorstellung einer natürlichen Gesetzeskenntnis bei allen Menschen. Seine Gedanken konvergieren mit philosophischen Ideen vom ungeschriebenen Gesetz, vom λόγος ἄγραφος/ lógos ágraphos.19 Im Judentum wurde diese Vorstellung vom „lebendigen Gesetz“ 16 Theissen, Psychologische Aspekte, 67–120, bes. 74–82: Paulus kennt ein Konzept des Unbewussten mit drei Komponenten: 1. Allwissenheit Gottes, die das Herz durchschaut, 2. Verborgenes im Herzen, 3. Begrenztheit menschlicher Einsicht in sich selbst. 17 In der Gerichtspredigt des Paulus wirkt die Berufung auf sein Evangelium freilich wie ein Fremdkörper. Soll man sie deshalb als Glosse entfernen? So Bultmann, Glossen, 282 f. Doch die Textüberlieferung gibt keinen Hinweis auf eine sekundäre Glosse. 18 Seit Augustinus gibt es Bedenken, Heiden diese natürliche Kenntnis des Gesetzes zuzuerkennen, Paulus müsse an Heidenchristen gedacht haben. In ihnen verwirkliche sich der neue Bund, von dem es heißt: „Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und es ihnen ins Herz schreiben“ (Jer 31,33). Paulus sieht diese Verheißung in der christlichen Gemeinde erfüllt (2Kor 3,1–3), vgl. Mundle, Auslegung; Flückiger, Werke. Diese Deutung der lex naturalis in 2,14 f ist eine Verlegenheitslösung. Paulus könnte von Heidenchristen nicht sagen, dass sie „das Gesetz nicht haben“, allenfalls, dass sie es von Natur oder Geburt nicht hatten. Denn sie haben es durch die christliche Verkündigung kennen gelernt. Eine Widerlegung der Deutung von 2,15 auf Heidenchristen bringt Konradt, Gericht, 505–507. 19 Die Sophisten haben den Gegensatz zwischen Natur und menschlicher Konvention entdeckt. Mit Hilfe des Naturgesetzes kritisierten sie die positiv geltenden Gesetze. In der Zeit des hellenistischen Absolutismus galt der König als lebendiges Gesetz, als ἐμψυχος νόμος/­émpsychos nómos. In römischer Zeit träumte man vom Goldenen Zeitalter ohne Gesetz: „Ohne Gesetz wahrte es (sc. das Goldene Zeitalter) aus eigenem Trieb die Treu und das Rechte (sponte

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(ἐμψυχος νόμος/émpsychos nómos) auf die Patriarchen übertragen, die den Willen Gottes erfüllten, obwohl sie das Sinaigesetz noch nicht kannten. So schreibt Philo über Abraham: Dieser Mann erfüllte das göttliche Gesetz und alle göttlichen Vorschriften, ohne dass er in schriftlicher Form darüber belehrt worden wäre, vielmehr indem er sich eifrig bemühte, der ungeschriebenen Natur mit gesunden, heilsamen Trieben zu folgen […] So war das Leben dieses ersten Vertreters und Begründers des Volkes: einige werden sagen, es war ein Leben nach dem Gesetz; meine Darstellung aber hat gezeigt, dass er selbst Gesetz und ungeschriebene Satzung war“ (Abr. 275 f).

Paulus weitet diese Vorstellung vom göttlichen Gesetz in den Patriarchen auf alle Menschen aus,20 spricht aber nicht vom „ungeschriebenen“ Gesetz wie Philo, sondern von einem „geschriebenen“ Gesetz. Da Gott am Sinai nur die Zehn Gebote direkt dem Volk verkündigte (Ex 20,1–21) und nur sie auf Stein schrieb (Ex 31,18; 32,15 f, vgl. 34,28), alle anderen aber mündlich durch Mose verkünden ließ, denkt Paulus an den Dekalog. Er ist für ihn ein universales Naturgesetz. Doch gibt es zwei wichtige Unterschiede zur stoischen Vorstellung von einem Gesetz in allen Menschen. In der Stoa ist der göttliche Logos ebenso im Kosmos wie im Menschen als Vernunft anwesend. Das Gewissen ist ein „Gott in uns“ (Sen. epist. 41,1). Paulus bezieht sich dagegen nicht auf einen immanenten, sondern auf einen transzendenten Gott. Das innere Gesetz ist nur dessen Spur und Schrift in uns.21 Der zweite Unterschied ist: Das Gesetz ist für Stoiker dadurch eine göttliche Stimme, dass der Logos den Menschen befähigt, die Strukturen der Natur zu erkennen und ihnen entsprechend zu leben. Paulus betont dagegen den Willen Gottes, der unmittelbar im Herzen präsent ist. Gott selbst hat sein „Du sollst!“ dort eingeschrieben, vorausgesetzt ist, dass man das „Werk des Gesetzes“ als Forderung von guten Werken deutet. Der Mensch empfängt und hört diese Stimme nach Röm 2,14 f direkt in seinem Inneren und liest sie nicht aus den Strukturen der Gesamtwirklichkeit ab. Das Gewissensverständnis des Paulus ist voluntaristisch, nicht kognitiv. Paulus nimmt also ein inneres Wissen um Gottes Gebot an, das auf Gott zurückgeht, aber als autonomes Gesetz im Menschen wirksam ist. Dabei spricht Gott nicht jeweils neu zum Menschen, denn er hat seinen Willen in sein Herz geschrieben. Seine Schrift bleibt auch dann, wenn seine Stimme verklungen sua, sine lege fidem rectumque colebat). Fern war Strafe und Furcht, man las nicht in ehernen Tafeln drohende Worte gereiht“ (Ov. met. I 89–92, vgl. Strecker/Schnelle, Neuer Wettstein 2/1, 72). Solche Vorstellungen färbten die Schilderung von Naturvölkern, die ohne Gesetze ein friedliches Leben führten, vgl. ebd. Zum Problem vgl. Hirzel, Agraphos nomos; Bornkamm, Gesetz. 20 Kein Einwand ist, dass Paulus nicht von „den Heiden“ spricht, sondern von „Heiden“ (ohne Artikel). Juden und Griechen ohne Artikel meinen in 3,9 alle Juden und Griechen. 21 Klauck, Gott.

Heil durch Tun des Gesetzes(Röm 1,18–3,20)

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ist.22 Paulus zeigt so beides: Das Unheil des Menschen ist erstens universal; denn alle Menschen teilen die Gewissenserfahrung. Es erfasst zweitens den ganzen Menschen; denn diese Gewissenserfahrung ist tief im Menschen verankert. Selbst das Verborgene wird von ihr erfasst. Entsprechend umfasst auch das Evangelium als Verkündigung des Heils den ganzen Menschen und meint alle Menschen. Paulus spricht über sein erstes Heilskonzept im Rückblick. Er betrachtet es als gescheitert, weil keiner die von Gott geforderten Werke tut. Aber an einer Stelle leuchtet noch einmal eine andere Möglichkeit auf. Paulus kennt den Juden „im Verborgenen“: „Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich im Fleisch geschieht; sondern der ist ein Jude, der es inwendig verborgen ist, und das ist die Beschneidung des Herzens, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht. Das Lob eines solchen ist nicht von Menschen, sondern von Gott“ (2,28 f). Wird hier nicht vorausgesetzt, dass Gott so souverän ist, überall Menschen neu zu schaffen, d. h. ihr „Herz“ im Verborgenen zu beschneiden und dadurch zur Umkehr zu bewegen? Zwar wird für Paulus diese Möglichkeit erst durch Christus in einer Gemeinschaft sichtbar realisiert. Aber er kennt zumindest einen am Herzen beschnittenen Menschen vor Christus: Abraham. Er ist Modell der Christen, aber selbst noch kein Christ. Abraham glaubte, ehe er beschnitten war, ehe er ein Jude im Vollsinne war. Die Beschneidung empfing er erst später „als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er hatte, als er noch nicht beschnitten war“ (4,11). Zwar scheitern alle Menschen an Gottes Forderungen, aber hier begegnet eine Alternative ohne Christus: Gott kann Menschen durch seinen Geist, der Leben schafft, erneuern. Wenn der Mensch so als Gottes Werk neu geschaffen wird, sind menschliche Werke als Weg zum Heil ausgeschlossen. Denn kein Mensch kann sich selbst neu schaffen. Auch im Römerbrief wird also innerhalb der Gesetzesfrömmigkeit eine Möglichkeit angedeutet, die jenseits der Werke Heil verheißt. ­Abraham verkörpert eine gültige Form jüdischer Frömmigkeit. Obwohl sie auf die Christen vorausweist, wird sie doch so definiert, dass sie nicht auf sie beschränkt bleibt.23

22 Dihle, Vorstellung, 92: „Jeder, die Heiden eingeschlossen, kann durch sein Gewissen erfahren, dass Gott direkt zu ihm spricht, selbst wenn er die Botschaft nicht recht versteht“. A. Dihle deutet das „Werk des Gesetzes“ auf einen Tatenkatalog. Seine Entdeckung des spontan sich im Menschen äußernden Gotteswillens ist unabhängig von dieser Auslegungsfrage, bei der wir oben eine andere Meinung vertreten haben. 23 Maschmeier, Rechtfertigung, 247–284, sieht in 2,25–29 zwar einen Hinweis auf Christen, kommt dieser Deutung aber nahe.

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5.2 Heil durch Rechtfertigung ohne Gesetz: Die Überwindung der Sünde und universales Heil (Röm 3,21–5,21) Dass das Konzept ‚Heil durch Werke‘ gescheitert ist, erkennt Paulus im Lichte der Gerechtigkeit Gottes, die den Sünder rechtfertigt. Am Anfang des Briefes hat er diese für ihn entscheidende „frohe Botschaft“ formuliert (1,1–17): Gott erschien danach zuerst als Herrscher, der weltweit seine Gerechtigkeit durchsetzen will (1,16 f) und allen Menschen, die sich von ihm abgewandt haben, Unheil androht (1,18–32). Danach folgen Bilder, in denen Gott als unparteiischer Richter jeden nach seinen Taten ohne Ansehen der Person richtet (2,1–3,20). Dann aber geschieht das Überraschende: Gott übernimmt die Rolle des Priesters, um alles Unheil durch Sühne zu überwinden (3,21–31). Diese Erlösung ist reine Gabe, die dem geschenkt wird, der sie nicht verdient hat.

5.2.1 Die inkongruente Gnade: Die Rechtfertigung des Gottlosen Paulus entfaltet in 3,21–5,21 seine Lehre von der Rechtfertigung des Menschen. Heil ist „Gerechtigkeit“.24 „Gerechtigkeit“ meint sowohl den Freispruch im endzeitlichen Gericht in der Zukunft als auch das rettende Handeln Gottes in der Gegenwart. Gerechtigkeit ist ebenso eine Eigenschaft des Menschen, die er von Gott verliehen bekommt, wie eine Eigenschaft Gottes (3,26). Sie besteht sowohl darin, dass Gott Sünden nicht „anrechnet“ (4,8), als auch darin, dass Gott durch sein Wort den Sünder neu schafft (4,17.24 f). Das Heil ist also mehr als ein imaginärer Status, den Gott gelten lässt (entsprechend einem imputativen Verständnis von Gerechtigkeit). Es besteht vielmehr darin, dass Gott den Menschen gerecht macht (entsprechend einem effektiven Verständnis). Gerechtigkeit soll die Beziehung von Gott und Mensch in Gegenwart und Zukunft in einem umfassenden Sinne charakterisieren. Entscheidend ist dabei: Diese umfassende Gerechtigkeit ist reine Gnade (χάρις/ cháris; 3,24; 4,4.16; 5,2). Christen haben sie als „Gabe“ (δωρεά/dōreá; 5,17) und Geschenk (χάρισμα/chárisma und δώρημα/dō´rēma; 5,15,16) empfangen.25 Paulus deutet sie vertiefend als „Frieden“ und „Versöhnung“ mit Gott in 5,1.10 f.26 Damit unterscheidet sich Paulus nicht vom Judentum. Aber er deutet an, dass er dessen Gnadenverständnis radikalisiert. Schon in 2,4 hatte er vom Reichtum (πλοῦτος/ 24 Vierzehnmal begegnet das Substantiv in diesem Teil, achtmal das Verb „gerechtmachen“, viermal das Adjektiv „gerecht“ in diesem Teil. 25 Das Wort „Gabe“ (δωρεά/dōreá) begegnet am Anfang des Abschnitts adverbial in der Bedeutung „umsonst“ (3,24), am Ende substantivisch in der Bedeutung „Gabe“ (5,17). 26 „Gerechtigkeit“ begegnet 14x in 3,21–5,21, Frieden in 5,1, Versöhnung in 5,10.11.

Heil durch Rechtfertigung ohne Gesetz(Röm 3,21–5,21)

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ploútos) der Güte Gottes gesprochen, jetzt steigert er diesen Reichtum zur Überfülle der Gnade (5,17), die nicht nur reichlich, sondern überreichlich Sündern zuteil wurde.27 Worin Paulus die Steigerung der Gnade sieht, sagt 5,20 sehr klar: „Wo aber die Sünde sich vermehrt hat, da hat sich die Gnade überreichlich vermehrt“. Die Radikalisierung der Gnade besteht darin, dass sie denen gegeben wird, die ihrer nicht würdig sind, da sie gesündigt haben: „Gottlose“ werden durch sie gerechtfertigt (4,5; 5,6), „Feinde“ durch sie versöhnt (5,10). Diese Gabe korrigiert alle Vorstellungen von Gabe und Gegengabe. Weil sie nicht an würdige Empfänger, sondern an Sünder gegeben wird, ist sie eine inkongruente Gnade. Auch das ist eine jüdische Tradition. Kleine Gruppen im Judentum haben dieses Gnadenkonzept schon vor Paulus entwickelt. Schon die Gebete der Qumrangemeinde kennen eine inkongruente Gnade Gottes.28 Nach ihnen ist der Mensch ein Lehmgebilde, geboren in Schuld von Mutterleib an und bis ins Alter der Untreue schuldig. Der Beter bekennt, „dass nicht beim Menschen Gerechtigkeit liegt und nicht bei einem Menschensohn vollkommener Wandel“ (1QHa XII,30 f). Trotzdem schenkt Gott ihm die „Fülle seines Erbarmens“ (1QHa XII,32). Paulus kann an solch ein radikales Gnadenverständnis anknüpfen. Was ist dann aber noch neu bei Paulus? Neu ist erstens, dass er die Zuwendung Gottes zum Sünder auf alle Menschen ausweitet. Gott zeigt seine Gerechtigkeit nicht nur dadurch, dass er seinem Volk hilft, sondern allen Völkern. Das zeigt die Heidenmission. Neu ist zweitens, dass die Gnade Gottes unabhängig von dem Wert ist, den Menschen durch das Gesetz zugesprochen bekommen.29 Gottes Gnade gilt auch denen, die den Anforderungen des Gesetzes nicht entsprechen. Die Gerechtigkeit Gottes ist insofern eine Gerechtigkeit „ohne Gesetz“ (3,21). Umso wichtiger ist es, das Sünden- und Unheilsverständnis im Rahmen dieser Rechtfertigungslehre zu verstehen. Leicht erkennbar sind die beiden ersten Dimensionen: Sünde ist Beziehungsstörung gegenüber Gott und besteht in konkreten Übertretungen gegenüber Menschen. Umschließt es aber auch eine grundsätzliche Kritik am Gesetz, also die dritte Dimension des Sündenverständnisses?

5.2.2 Sünde als Beziehungsstörung: Gottlosigkeit und Feindschaft Genauso wie im ersten Teil des Römerbriefs (1,18–3,20) ist in seinem zweiten Teil die Sünde in einer Störung der Beziehung zu Gott begründet, die Paulus als „Gottlosigkeit“ und „Ungerechtigkeit“ anprangert. Was Gottlosigkeit ist, wird am Beispiel Abrahams gezeigt: Abraham glaubte an den, der den Gottlosen (τὸν ἀσεβῆ/ 27 Das ἐπερίσσευσεν/eperísseusen in 5,15 wird zu ὑπερπερισσεύειν/hyperperisseúein in 5,20 gesteigert. Wolter, Reichtum: Mit dieser Rede vom Reichtum und von der Überfülle der Gnade setzt Paulus nicht die Sprache der LXX fort. Das ist seine eigene Sprache. 28 Barclay, Gift, 245–251. 29 Ebd., 561–569.

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tón asebē´) rechtfertigt (4,5). Paulus macht den vorbildlichen Frommen des Alten Testaments zu einem „Gottlosen“. Abrahams „Gottlosigkeit“30 besteht darin, dass er in seiner Jugend den Polytheismus seiner Heimat Chaldäa geteilt hat. Aber dann hat er sich zu Gott bekehrt.31 Vor seiner Bekehrung verkörperte er die „Gottlosigkeit“ (ἀσέβεια/asébeia) als Gegensatz zur „Frömmigkeit“ (εὐσέβεια/eusébeia), der ersten Tugend im antiken „Kanon der zwei Tugenden“ (s. o. Kapitel 2.2.1). Adams Fall zeigt dagegen den Gegensatz zur zweiten Tugend in diesem „Kanon“: die Ungerechtigkeit (5,12–21). Adam tat exemplarisch Unrecht, Christus tat für alle das Gerechte. Die Adam-Christus-Typologie in 5,12–21 unterscheidet sich durch diesen ethischen Akzent von der Adam-Christus-Typologie in 1Kor 15,20–22.45–49, die den irdischen und den himmlischen Menschen kontrastiert. Die in 1,18 kritisierte Ungerechtigkeit (ἀδικία/adikía) wird also durch Christus überwunden. Dadurch ergänzen einander Abraham- und Adam-Typologie. Die Unterschiede zwischen beiden alttestamentlichen Gestalten seien im Folgenden gegenübergestellt (s. u. Tab. 11). Zwischen Abraham- und Adambeispiel wird die Beziehung der Christen zu Gott neu definiert (5,1–11). Sie wird nicht nur durch Gerechtigkeit, sondern durch Gottes Liebe bestimmt. Während die Durchsetzung seiner Gerechtigkeit Wiederherstellung einer gestörten Rechtsordnung war, ist die Überwindung der Feindschaft durch Liebe Versöhnung zwischen Personen. Gott versöhnt dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch „Sünder“ (5,8) und „Feinde“ (5,10) waren. Gott hat sich also dem Menschen zugewandt, bevor der Mensch sich von seiner Feindschaft gegen Gott abgewandt hat. Diese Zuwendung Gottes ist an keine vorhergehende Bedingung gebunden, die der Mensch erfüllen muss, aber sie zielt darauf, dass er als Folge dieser Gnade durch Gottes Liebe verwandelt wird. Diese Liebe ist in seinem Herzen durch den Geist ausgegossen (5,5). 30 Die Gottlosigkeit Abrahams besteht kaum in seiner Verleugnung Saras, als der Pharao sie in seinen Harem aufnehmen wollte (Gen 12,10–20) oder in seiner Bereitschaft, Isaak zu opfern (Gen 22,1–19). Sie gilt im Judentum als hoch geschätzter Beweis des Glaubens Abrahams: „Wurde Abraham nicht in der Versuchung als treu befunden, und wurde es ihm nicht zur Gerechtigkeit angerechnet?“ (1Makk 2,52). Zu Isaaks Bindung vgl. ferner Sir 44,19–21; SapSal 10,5; 4Makk 14,20; 15,28; 16,20; 18,11; Philo Abr. 167–177; LibAnt. 32,1–4 (vgl. 18,5; 40,2); Jos. Ant. 1, 222–236. In christlicher Tradition finden wir dieses Abrahambild in Hebr 11,17–19; Jak 2,21–24; 1Clem 10,7. Paulus weicht von ihm ab. Der Glaube Abrahams zeigt sich nach Paulus in Röm 4 nicht in der Bereitschaft, Isaak zu töten, sondern in der Hoffnung auf seine Geburt. 31 Josephus schreibt über Abraham: „[…] er (Abraham) beschloss, die hergebrachten falschen Ansichten von Gott in richtige umzuwandeln. Daher erklärte er zunächst, dass es nur einen Gott gebe, den Schöpfer aller Dinge, und dass dieser alles, was zum Glücke diene, gewähre, während der Mensch aus eigener Kraft dies nicht erlangen könne“ (Ant. 1,155). Von den Chaldäern deswegen bedroht, wandert er aus. Jub 12 erzählt, wie Abraham seinen Vater Terach wegen seines Götzendienstes zur Rede stellt, der sich damit verteidigt, dass er vom Volk getötet würde, wenn er nur den wahren Gott verehren würde. Abraham verbrennt trotzdem die Götzen und verlässt Chaldäa (vgl. Jub 10,7.10 u.ö.; ApkAbr 1–8).

Heil durch Rechtfertigung ohne Gesetz(Röm 3,21–5,21)

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Tab. 11: Abraham- und Christus-Typologie (Röm 4 und 5) Abraham

Adam-Christus-Typologie

Abraham ist Stammvater der Juden und Proselyten. Er steht für Israel und erhält „universale“ Bedeutung für alle Menschen.

Adam ist Stammvater der ganzen Menschheit. Seine universale Bedeutung hat er schon in der Tradition.

Abraham ist Urbild des rezeptiven Glaubens: Er empfängt das Heil durch sein Vertrauen auf die todüberwindende Macht Gottes.

Christus ist Urbild des aktiven Gehorsams. Er schafft das Heil durch seine ­ Gerechtigkeitstat in Kontrast zur Untat Adams.

Abraham wartet auf die Erlösung in der Zeit zwischen Adam und dem Gesetz. Sein Glaube ist unabhängig von Gesetzeserfüllung. Er ist Glaube an die ­ Verheißung.

Christus bringt die Erlösung. Er kommt nach dem Gesetz und überwindet die durch das Gesetz vermehrte Sünde. Sein Kommen ist Erfüllung.

Abraham geriet durch die Verheißung in Widerspruch zu seinen physischen Möglichkeiten. Wegen seines Alters konnte er keine Kinder mit Sara haben.

Israel geriet durch das Kommen des ­ Gesetzes in Widerspruch zu seinen moralischen Möglichkeiten. Das Kommen des Gesetzes mehrte die Sünde.

Abraham bildet den Glauben an die Auferstehung vorweg ab: Gott kann aus dem Tod auferwecken und das Nichts ins Sein rufen.

Christus steht für ein gerechtes Tun, nämlich für die Selbsthingabe in den Tod, mit der Adams Unrechtstat gut ­ gemacht wird.

Im Text findet sich wieder ein psychomythischer Parallelismus von innerem und objektivem Geschehen – vergleichbar der Parallelität zwischen objektivem und innerem Gericht in 2,1–16. Wieder wird dadurch deutlich, dass Heil und Unheil den ganzen Menschen erfassen. Bei Paulus lässt sich das objektive Geschehen des Todes Jesu nicht vom inneren Vorgang einer existenziellen Verwandlung trennen. Wieder ist für Paulus wichtig: Was als Geschehen Himmel und Erde umfasst, findet im Menschen eine Entsprechung, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt: Tab. 12: Parallelismus der Liebe: Christus und der Geist Objektive Seite des Erlösungsgeschehens

Subjektive Seite des Erlösungsgeschehens

Röm 5,8: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“.

Röm 5,5: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist“.

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5.2.3 Konkrete Sünde als Gesetzesbruch Das gestörte Gottesverhältnis zieht konkrete Sünden nach sich. Paulus spricht von ihnen allgemein als Ungesetzlichkeiten (ἀνομίαι/anomíai; 4,7), als Gesetzesübertretung (παράβασις/parábasis; 4,15) und Bruch des Gesetzes (παράπτωμα/ paráptōma; 5,15). Diese Sünden werden nicht erzählerisch dargestellt. Der Leser muss vielmehr den Götzendienst Abrahams und den Sündenfall Adams aus seiner Kenntnis biblischer Traditionen ergänzen. Umso wichtiger ist, dass die Sünde in Adam und Abraham personalisiert und individualisiert wird. Im ersten Teil des Römerbriefs wurde die Sünde als kollektives Versagen in Lasterkatalogen katalogisiert und wirkt wie ein allgemeines Schicksal, dem niemand entrinnt. Wenn Paulus sie dagegen in 3,21–5,21 in Personen wie Abraham und Adam darstellt, erscheint sie als individuell zurechenbares Versagen. Beide, Abraham und Adam, bieten den Menschen Rollen an, mit denen sie sich identifizieren können. Sie sollen sagen können: Ich bin Adam, der verantwortlich für die Sünde ist; ich bin Abraham, der die Verheißung empfängt.32 Die Personalisierung der Sünde in Adam (und nicht in einer anderen Person) ist deshalb relevant, weil die erste Sünde im Judentum auch auf Eva, den Teufel oder die Engel zurückgeführt werden kann. In der Apokalypse des Mose 32 bekennt Eva: „Alle Sünde ist durch mich in die Schöpfung gekommen“. Paulus kennt zwar die Geschichte von Evas Verführung durch die Schlange (2Kor 11,3), macht aber im Römerbrief keinen Gebrauch von ihr. Nach der Weisheit Salomos hat der Teufel den Tod in die Welt gebracht (SapSal 2,24). Doch Paulus macht ihn im Römerbrief für die Sünde des Menschen und seinen daraus folgenden Tod nicht verantwortlich. Paulus hätte auch die gefallenen Engel aus Gen 6 ins Spiel bringen können, die sich mit den Menschentöchtern gepaart und die Riesen gezeugt hatten. In der Zehnwochenapokalypse kommt die Sünde mit dem Fall dieser Engel in die Welt (1Hen 93,3 f). Zwar kennt Paulus diesen Mythos (1Kor 11,10), trotzdem schreibt er die Verantwortung für den Einbruch von Sünde und Tod im Römerbrief ausschließlich Adam zu. Weder Eva noch der Teufel noch die gefallenen Engel passen zur Logik der Adam-Christus-Typologie, die besagt: Wenn ein einzelner Mensch das Heil bringt, muss auch ein einzelner Mensch das Unheil verursacht haben. Wenn der Mensch für die Sünde verantwortlich ist (und nicht mythische Gestalten wie Teufel und Engel), so kann auch nur ein Mensch sie überwinden. Entscheidend ist also: Adam zeigt, dass der Mensch die Verantwortung für sein Unheil innehat. 32 Allgemein zur religionspsychologischen Rollentheorie vgl. Sundén, Religionen; ders., Gott erfahren.

Heil durch Rechtfertigung ohne Gesetz(Röm 3,21–5,21)

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Er kann die Verantwortung nicht auf andere schieben. Das entspricht jüdischem Denken: „Somit ist Adam einzig und allein für sich der Grund; wir alle aber wurden Stück für Stück zu Adam für uns selbst“ (syrBar 54,19). Mit der Adam-Christus-Typologie kann Paulus in mythischer Sprache eine weitere Erkenntnis zum Ausdruck bringen: Sünde bedeutet immer auch Leid. Alle Menschen leiden unter dem Tod, den Adams Sünde in die Welt gebracht hat, auch wenn sie nicht in derselben Weise wie Adam schuldig geworden sind (5,14). Paulus kennt zwar keine Erbsünde, wohl aber den von Adam ererbten Tod. Der Tod ist für ihn ein Schicksal, das nicht allein durch menschliche Schuld erklärt werden kann.33 Er ist Leid, das nicht allein auf Schuld zurückgeführt werden kann.

5.2.4 Sünde als Gesetzesangst und Gesetzesstolz Auch im zweiten Teil des Römerbriefs ist Sünde nicht nur Beziehungsstörung im Verhältnis zu Gott, nicht nur konkrete Gesetzesübertretung, sondern eine existenzielle Fehlorientierung am Gesetz als Gesetzesstolz und Gesetzesangst. Paulus artikuliert Gesetzesangst, wenn er feststellt, dass es ohne Gesetz keinen Zorn Gottes gibt (4,15; vgl. 5,13). Paulus kritisiert Gesetzesstolz, wenn er das Stichwort vom „Sich-Rühmen“ aus 2,17 aufgreift. Angesichts des Heilstodes Jesu, der die Sünde überwunden hat, ruft er aus: „Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens“ (3,27).34 Dass nicht das „Gesetz der Werke“ jedes Rühmen ausschließt, ist paradox. Denn erst durch das „Gesetz der Werke“ wird ja erkannt, dass alle Menschen Sünder sind und sich keiner seiner guten Taten rühmen kann (3,19 f). Macht also nicht gerade das Gesetz, das Werke fordert, das Rühmen unmöglich? Eben das verneint Paulus in 3,27. Er bezieht sich hier nicht auf den usus elenchticus des Gesetzes in 3,19 f zurück, der die Augen für die eigenen Verfehlungen öffnet und dadurch jeden falschen Gesetzesstolz unmöglich macht, sondern auf den Gesetzesstolz in 2,17–24, der blind gegen die eigenen Verfehlungen macht. Der dort kritisierte Gesetzeslehrer nennt sich stolz einen „Juden“. Sein blinder Gesetzesstolz verführt dazu, andere kollektiv abzuwerten. Das wird erst unmöglich, wenn der Mensch erkennt: Der Glaube ist allen Menschen zugänglich, auch den Heiden, die der in 2,17–24 angesprochene Jude für Toren hält. Der Glaube, der den Heiden das Tor zum Heil öffnet, durchkreuzt die Verführung zum Sich-Rühmen als kollektiver Abwertung der Heiden. Denn nach der Feststellung, dass der 33 Daneben kennt Paulus zwei alternative Deutungen des Todes: Nach 1Kor 15,42–49 ist der aus Erde gemachte Mensch sterblich. Seine Sterblichkeit ist in seinem irdischen Wesen begründet. Ferner versteht er den Tod als mythische Macht, die den Menschen unterdrückt (1Kor 15,26). 34 Ein positives Sich-Rühmen bezieht sich auf die Hoffnung, die der Mensch Gott verdankt (5,2), und auf die Versöhnung durch Gott (5,11).

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Mensch durch Glauben ohne Werke des Gesetzes gerechtfertigt wird, fährt Paulus fort: „Oder ist Gott allein der Gott der Juden? Ist er nicht auch der Gott der Heiden?“ (3,29). Durch den Glauben wird Gott zum Gott aller Menschen. Umso mehr stellt sich die Frage: Was meint Paulus mit dem „Gesetz des Glaubens“, das dieses kollektive Sich-Rühmen ausschließt? „Gesetz“ ist bei Paulus ein mehrdeutiger Begriff. Er kann viererlei meinen: normativ die Forderung Gottes, sozial ein Privileg Israels, kanonisch die Schrift, axiomatisch ein „Prinzip“. Wenn Paulus sagt, dass die Gerechtigkeit Gottes „ohne Gesetz“ offenbar wurde (3,21), meint er das Gesetz im normativen Sinne, das Werke fordert. Wenn er gleichzeitig sagt, dass diese Gerechtigkeit „vom Gesetz“ bezeugt wird, meint er die Schriften des alttestamentlichen Kanons (3,21), in denen die Gerechtigkeit durch Glauben bezeugt wird. Mit derselben Doppelbedeutung spielt er in 3,31, wenn er fragt: „Heben wir denn das Gesetz (sc. im normativen Sinne als Forderung) auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz (im Sinne der Schrift) auf “. Er verweist damit auf den folgenden Schriftbeweis und den aus Gen 15,6 gewonnenen axiomatischen Grundsatz der Rechtfertigungslehre: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch aus Glauben gerechtfertigt wird ohne Werke des Gesetzes“. Paulus zitiert dieses Axiom des Glaubens in 3,28, hat es aber schon früher in Gal 2,16 formuliert.35 Warum schließt dieses Axiom ein Sich-Rühmen aus? Das Motiv des Ruhmes begegnet in dem Schriftbeweis, aus dem Paulus sein Axiom abgeleitet hat: Wenn Abraham durch Werke gerecht ist, könnte er vor Menschen Ruhm haben, nicht aber vor Gott (4,2). Der Ruhm Abrahams basiert also auf einem Vergleich Abrahams mit anderen Menschen und betrifft ebenso seine Beziehung zu Gott. Auch die Maxime: „Dem aber, der mit Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnade zugerechnet, sondern aus Pflicht“ (4,4), gilt für jeden individuell. Ruhm meint hier also das individuelle, nicht nur das kollektive Ansehen. Eine Individualisierung des Heils kommt dabei auch durch narrative Bilder zum Ausdruck: Abraham und Adam brechen einzeln in eine unbekannte Zukunft auf. Abraham musste sein Vaterland verlassen, Adam das Paradies. Ein kollektives Sich-Rühmen ist ausgeschlossen, weil der Glaube jeden Menschen einzeln aus seinem Sündersein befreit. Was Abraham als einzelner erfährt, ist die schöpferische Macht Gottes, der aus Nichts schaffen kann (4,17). Für die Erfüllung der Verheißung eines Sohnes ist er auf diese schöpferische Kraft Gottes angewiesen, denn sein Körper ist ebenso wie der seiner Frau schon „gestorben“ (4,19). Kein Mensch kann dazu etwas durch sein Tun beitragen. 35 Die Deutung des „Gesetzes des Glaubens“ auf den Schriftbeweis Gen 15,6 durch­ Friedrich, Gesetz, ist u. E. zutreffend. Die ersten Christen haben aus Gen 15,6 dieses „Glaubens­ prinzip“ herausgelesen. Wie 7,21 zeigt, kann Paulus νόμος/nómos im Sinne von „Prinzip“ verwenden, aber auch dann, wenn er mit diesem Begriff spielt, ist bei diesem Wortspiel immer an die Tora zu denken.

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Fazit ist: Das Sich-Rühmen ist nicht nur ausgeschlossen, weil der Glaube allen Menschen zugänglich ist und Juden keinen Grund haben, sich des Gesetzes als eines kollektiven Privilegs zu rühmen. Es ist auch ausgeschlossen, weil der Glaube unabhängig von jedem menschlichen Tun des einzelnen Menschen ist, sondern auf die schöpferische Macht Gottes vertraut. Das Sich-Rühmen ist also nicht nur gegenüber Menschen ausgeschlossen, sondern auch gegenüber Gott (4,2). Wenn Paulus kurz nach dieser Verwerfung jedes Sich-Rühmens dennoch positiv von einem Sich-Rühmen spricht (5,2), so basiert das nicht auf einem Verdienst des Menschen, sondern auf einer „Hoffnung“ (5,2) und „Versöhnung“ (5,11), die allein in Gott begründet sind. Das Abrahambeispiel in Röm 4 zeigt u. E., dass Paulus das kollektive Sich-Rühmen zu einem individuellem Sich-Rühmen vertieft hat.36 Diese Individualisierung ist auch durch die Vorstellung vom Gericht bedingt. Seit 2,5–11 ist klar: Gott vergilt im Jüngsten Gericht jedem einzeln nach seinen Werken ohne Ansehen der Person. Durchgehend setzt Paulus im Römerbrief diesen juridischen Bildrahmen als Hintergrund voraus. Der Mensch steht vor seinem Richter und wird nach dem Grundsatz suum cuique beurteilt. Eigentlich haben alle ihre Verurteilung verdient. Das ist ein kollektives Schicksal. Durch Freispruch wird jeder Mensch jedoch individualisiert. Denn der Freispruch ist an den Glauben gebunden, zu dem jeder nur persönlich gelangen kann. Auch in der Rechtfertigungslehre bleibt ein Schatten über dem Gesetz. Selbst wenn der Mensch alle geforderten Werke vollbringen würde, würde er nie einem Gott begegnen, der reine Gnade ist. Er begegnet seinem Richter und muss sich an dessen Gesetz als Forderung messen lassen. Das aber heißt, er muss mit der Möglichkeit seiner Verurteilung rechnen. Daher ist hier die Existenz des Gesetzes schon in sich etwas Negatives, weil es ohne Gesetz keine Übertretung gäbe: „Das Gesetz richtet Zorn an; wo aber das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung“ (4,15). In dieselbe Richtung weisen Beobachtungen, die dafür sprechen, dass Paulus unter den „Werken des Gesetzes“ manchmal nicht Handlungen, sondern Vorschriften für Handlungen versteht. Das gilt für das ins Herz geschriebene „Werk des Gesetzes“ (2,15), aber auch für die „Werke des Gesetzes“ in 3,21.37 Vorschriften können den Menschen nicht zum Heil führen; sie geben nicht die Kraft, sie zu erfüllen. Es gibt daher einen guten Sinn, wenn man das Fazit in 3,19 f in folgendem Sinn versteht: Wenn die universale Schuld aller Men 36 Doch fehlt der kollektive Aspekt bei Abraham nicht ganz. Denn Abraham ist unser „Stammvater“ (4,1). Abraham hätte Grund, auf seine Nachkommenschaft stolz zu sein. Konnte er sich ihrer aber als Ergebnis seines Tuns rühmen? Nein! Es war reine Gnade, dass er überhaupt noch einen Sohn bekam. 37 So vor allem Bachmann, Werke. Michael Bachmann knüpft damit an Beobachtungen von Lohmeyer, Probleme; ders., Grundlagen, an, stützt sich aber darüber hinaus vor allem auf die Qumranschriften, die Lohmeyer noch nicht kennen konnte: „Werke des Gesetzes“ können dort Vorschriften sein (so 4QMMT C 27).

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schen darin begründet ist, dass kein Mensch durch Werke des Gesetzes vor Gott gerecht sein kann, „denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (3,20), dann wird damit gesagt, dass die Forderung des Gesetzes die Sünde bewusst macht, aber nicht dazu beiträgt, diese Forderung durch Handlungen zu erfüllen. Ebenso macht es Sinn, dass die Botschaft von der Rechtfertigung als Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes ohne Gesetz (3,21) eingeführt wird. Die Gesetzesangst ist damit neben dem Gesetzesstolz die zweite existenzielle Fehlhaltung. Sie ist realistisch, solange das Gesetz als Forderungskatalog zwischen Gott und dem Menschen steht. Sie ist überholt, sobald der Mensch durch Gnade gerecht gesprochen ist. Wie aber kann diese Gesetzesangst als falsche Einstellung gegenüber Gott überwunden werden? Dazu muss der Rechtfertigungsgedanke zum Versöhnungsgedanken vertieft werden! Erst die Überzeugung von der Liebe Gottes, die in die Herzen der Menschen ausgegossen wird, bringt diese Angst zum Verschwinden. Erst dann schiebt sich nicht mehr das fordernde Gesetz zwischen Mensch und Gott. Erst dann wird der Zorn Gottes, den das Gesetz bewirkt (4,15), zur Liebe Gottes, die vor diesem Zorn rettet (5,8 f). Erst dann geschieht Offenbarung der Gerechtigkeit ohne Gesetz. Der Zusammenhang zwischen Gesetz und Sünde wird in 5,20 dann noch einmal in einer neuen Weise vertieft, die schon auf den nächsten Teil des Römerbriefs weist. Damit kommen wir zu einer dritten verfehlten Orientierung am Gesetz, zum Gesetzesmissbrauch. Was ist gemeint? Paulus zeigt in 5,12–21 durch Vergleich zwischen Adam und Christus, dass alle Menschen wie Adam Sünder sind, alle aber dazu bestimmt sind, wie Christus Gerechte zu werden. Eine Alternative zum Vergleich Adams mit Christus wäre der Vergleich Adams mit Mose gewesen: Adam hat gesündigt, Mose aber hat den Menschen vor der Sünde Adams bewahrt. Diese Alternative schließt Paulus aus. Im Gegenteil, er sagt, die Gesetzgebung am Sinai durch Mose habe alles nur noch schlimmer gemacht: „Das Gesetz aber ist hinzugekommen, damit die Verfehlung (παράπτωμα/paráptōma) zunahm. Wo aber die Sünde (ἁμαρτία/hamartía) vermehrt wurde, da hat sich die Gnade noch viel mehr vermehrt“ (5,20).38 „Sich vermehren“ hat zunächst quantitativen Sinn. Das könnte man so deuten: Adam wurde im Paradies nur mit einem Gebot konfrontiert, Israel am Sinai aber mit vielen Geboten. Dadurch wurden die Sünden vermehrt – entsprechend dem Grundsatz: Ohne Gesetz keine Übertretung (4,15) und keine Anrechnung der Sünde (5,13). Viele Gesetze bedeuten also viele Übertretungen.39 Aber Paulus 38 Die Lutherübersetzung spricht davon, dass die Sünde mächtig wurde, sie trägt also hier die Metaphorik der Machtbeziehung ein, die dann in 6,1–8,39 entfaltet wird. Aber πλεονάζειν/pleonázein bedeutet zunächst eine quantitative Zunahme der Sünde, also ein Wachsen und Sich-Vermehren. In Sir 23,3 findet sich das Gebet darum, dass sich „nicht vermehren (πληθυνθῶσιν/plēthynthō´sin) sollen meine Uneinsichtigkeiten und meine Sünden nicht noch mehr werden sollen (πλεονάσωσιν/pleonásōsin)“. 39 Wolter, Paulus, 359.

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schreibt nicht, dass die Verfehlungen im Plural (wie in 5,16) vermehrt werden, sondern spricht von einer Verfehlung im Singular, denkt also an eine Vermehrung der Sünde im qualitativen Sinn.40 Darüber hinaus sagt Paulus: Die Vermehrung der Sünde bewirkte, dass sie zur Herrschaft kam (ἐβασίλευσεν/ebasíleusen; 5,21). Er spricht hier zum ersten Mal deutlich von der Sünde als einer Macht, die den Menschen beherrscht.41 Paulus formuliert auch nicht modal: „Wie die Sünde sich vermehrte, vermehrte sich die Gnade“, sondern lokal: „Wo sich die Sünde vermehrte, dort wurde die Gnade übergroß“. Er denkt an einen bestimmten Bereich. Nun begann am Sinai die Absonderung Israels von anderen Völkern durch das Gesetz. Dadurch wurde Israel zum Ort, wo sich zunächst die Sünde, dann aber die Gnade vermehren sollte. Die durch das Gesetz vermehrte Sünde wäre dann auch die Absonderung von anderen Völkern, die durch das Sinaigesetz geschaffen wurde. Wahrscheinlich nimmt Paulus aber noch einen weiteren Gedanken vorweg, den er erst in 7,7–13 ausführen wird: Gesetze fördern die Übertretungen, die sie bekämpfen sollen. Das Gesetz wird dabei missbraucht. Eigentlich soll es die Sünde bekämpfen und sie nicht fördern. Auf jeden Fall wird in 5,20 nicht nur der Gesetzesbruch, sondern das Gesetz selbst kritisiert. Das Gesetz gehört hier auf die Seite des Unheils. Es ist neben Sünde und Tod (5,12) in die Welt gekommen. Dadurch, dass Menschen sich an ihm orientierten, hat es die Sünde zur Herrschaft gebracht, während die Gnade Menschen zur Herrschaft bringt (5,17).

Exkurs 9: Der Sinn des Gesetzes nach Gal 3,19 Paulus führt in 5,20 einen Gedanken aus Gal 3,19 weiter. Danach wurde das Gesetz nachträglich „um der Übertretungen willen hinzugefügt“. Dasselbe Wort „hinzufügen“ benutzt Philo auch für die Gesetzgebung Josephs in Ägypten. Er deutet Joseph etymologisch als „Zusatz“ (πρόσθεσις/prósthesis).42 Die Gesetze des Joseph seien „Zusatz“ zum Gesetz Gottes, um die Sünden einzudämmen.43 Falls Paulus an solche zusätzliche Gesetze denkt, würde er das Sinaigesetz in Gal 3,19 auf eine Ebene mit den Gesetzen der Völker stellen. Dies passt gut in den Kontext des Galaterbriefs, warnt Paulus doch in Gal 4,8–11 die Galater vor der Übernahme jüdischer Gesetzesforderungen so, als sei 40 Bestand diese Sünde darin, dass das Volk beim Tanz ums Goldene Kalb von Gott abfiel? Darauf hat Paulus schon in 1,23 angespielt. Aber der Tanz ums Goldene Kalb reagierte nach Ps 106,20 nicht auf die Gesetzgebung, war also nicht durch das Gesetz provoziert worden, sondern war Undank gegenüber der Herausführung aus Ägypten. 41 Lohse, KEK 4, 183, stellt mit Recht fest, dass es hier von der Übertretung „als der konkreten Verletzung göttlichen Gebotes zur Herrschaft der Sünde als den Kosmos knechtender Gewalt kommt (vgl. 5,12)“. Zwar konnte Paulus schon in 3,9 davon sprechen, dass alle Menschen „unter der Sünde“ sind, aber das ist hier gleichbedeutend damit, dass „alle Welt schuldig sei“ (3,19). 42 Pollmann, Motive, 127–180. 43 Philo Jos. 28–31.

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das ein Rückfall ins Heidentum. Die genaue Funktion des Gesetzes in Gal 3,19 ist freilich umstritten: Soll es Übertretungen eindämmen und verhindern? Soll es sie erkennbar machen, sie anklagen oder provozieren? Eine Eindämmungsfunktion würde Philo entsprechen, aber auch Paulus. Sie passt zum Bild vom Gesetz als „Zuchtmeister“ (παιδαγωγός/paidagōgós), der auf Kinder aufpassen und sie bewahren soll (Gal 3,24). In 5,20 kehrt Paulus allerdings solch ein Eindämmen der Sünde ins Gegenteil um. Denn das Gesetz hat hier den Effekt, die Sünde zu „vermehren“. Das ist genau das Gegenteil von eindämmen.

Festzuhalten ist: Von der Sünde wird auch in 3,21–5,21 entsprechend ihren drei Dimensionen differenziert gesprochen: (1) Die Versöhnung mit Gott (5,1–11) überwindet die im ersten Teil aufgedeckte religiöse Ursünde; diese erscheint jetzt als „Feindschaft“, die durch Versöhnung überwunden wird. (2) Die Rechtfertigung des Sünders aufgrund des Sühnetods Jesu rechnet dem Menschen seine unmoralischen Taten nicht zu (3,21–31; 4,6–8). (3) Die Gesetzesangst macht eine existenzielle Orientierung am Gesetz fragwürdig, da das Gesetz nur Zorn anrichtet (4,15). Der Richter, der begnadigt und freispricht, bleibt ein Richter. Erst die Versöhnung mit Gott macht aus dem unbestechlichen Richter einen Gott der Liebe und Versöhnung. Wenn dabei das Gesetz und die Sünde zu Mächten werden und die Sünde mehren (5,20), so weist das auf den nächsten Teil des Römerbriefs. Bevor wir uns ihm zuwenden, müssen wir aber im Blick auf 3,21–5,21 noch die Frage klären, welche Rolle Christus im Rahmen der Rechtfertigungslehre spielt.

5.2.5 Christus als Sühne (Röm 3,25)44 Paulus hat in den ersten Kapiteln des Römerbriefs den Zorn Gottes über die Menschheit beschworen und das Todesurteil über alle verkündigt. Indem Gott dieses Todesurteil stellvertretend an einem einzigen Menschen vollstreckt, demonstriert er seine Gerechtigkeit als Richter. Die Reformatoren haben richtig erkannt: Der Tod Christi wird als „Sühnetod“ dargestellt (3,25). Aber dieser Sühnetod hat zwei Besonderheiten innerhalb antiker Opferanschauungen. Die erste Besonderheit ist, dass Gott selbst diese Sühne schafft. Nach antiker Opferlogik versöhnt der Mensch die erzürnte Gottheit. Hier tritt Gott dagegen in die Rolle des Priesters, der Sühne schafft und die Initiative ergreift: „Gott hat ihn als Sühne durch den Glauben in seinem Blut dahingestellt“ (3,25). Bisher hat er seinen Zorn „zurückgehalten“. Jetzt stellt er als Richter unter Beweis, dass er die Sünden straft und gleichzeitig als Priester die Sünder rettet. Sühne ist auch hier ein Strafersatz, der hinter der erwarteten Strafe zurückbleibt. Dass nur einer sterben muss, ist weit weniger als der Tod, den eigentlich alle verdient haben. 44 Die Ausführungen über die Heilsbedeutung des Todes Jesu sind angelehnt an Theissen, Erleben und Verhalten, 309–325.

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Eine zweite Besonderheit ist, dass der Eine, der stellvertretend für alle den Tod erleidet, zu neuem Leben kommt. Opfertiere kehren nicht ins Leben zurück. Das ist bei Christus anders. Zwar ist in 3,21–26 nicht von der Auferweckung Christi die Rede, dafür aber im anschließenden Schriftbeweis 4,1–25,45 der von Abrahams Glauben zeugt: Dieser Glaube ist Vertrauen in die Macht Gottes, aus dem Tod Leben zu schaffen. In Entsprechung zu ihm glauben die Christen an die Auferweckung Jesu. Diese ist für das Heil entscheidend, wie aus 4,25 hevorgeht: Christus wurde in den Tod „dahingegeben wegen unserer Übertretungen und auferweckt wegen unserer Rechtfertigung“ (4,25). Sein Tod nimmt den Taten ihre unheilvolle Macht, seine Auferweckung rechtfertigt die Person.46 Man könnte gegen die Annahme, dass Jesu Tod den Zorn Gottes überwindet, freilich einwenden, dass 3,21–31 nirgendwo vom Zorn Gottes spricht. Der Zorn Gottes erscheint jedoch indirekt in 3,24–26 in drei Begriffen, in der „Geduld Gottes“, der „Gerechtigkeit Gottes“ und dem „Blut Christi“. Paulus spricht von Sünden, die in der Zeit der Geduld Gottes (seiner ἀνοχή/ anoché) begangen wurden (3,26). Nach 2,4 ist diese Geduld (ἀνοχή/anoché) Gottes die Zurückhaltung des Zorns, der sich im Himmel angehäuft hat. Daher ist auch die Geduld Gottes in 3,26 Aufschub seines Zorns. Auch der Begriff „Gottes Gerechtigkeit“ (3,21) ist mit dem „Zorn Gottes“ verbunden. In 1,16 f stand die „Gerechtigkeit Gottes“ für die heilschaffende Gerechtigkeit eines Königs (iustitia salutifera) und wurde seinem Zorn entgegengesetzt, der sich vom Himmel her offenbart (1,18). In 3,5 wird „Gerechtigkeit Gottes“ als neutrale Straf-Gerechtigkeit des Richters (als iustitia distributiva)  verstanden,47 die auch Zorn umfasst: „Ist Gott dann nicht ungerecht, wenn er Zorn verhängt?“ In 3,21–26 werden beide Bedeutungen verbunden: Die Gerechtigkeit Gottes ist für den einen Menschen Jesus die strafende Gerechtigkeit des Richters, für alle anderen Menschen aber die heilbringende Gerechtigkeit des Priesters, 45 Der Leser ist auf diesen Schriftbeweis durch 3,21 vorbereitet, wenn es dort heißt: Die Offenbarung der Gerechtigkeit wird bezeugt von Gesetz und Propheten (3,21). Damit weist Paulus auf den Schriftbeweis, der sich auf die Abrahamerzählung als Gesetz (Gen 15,6 = 4,3) und David als Propheten (Ps 31,1 fLXX = 4,6–8) beruft. Da sich schon in 1,1–5 der Glaube auf die Auferstehung Jesu bezieht, kann der Leser auch in 3,22.25.26 den Glauben auf die Auferstehung­ beziehen. 46 Die Vorstellung eines stellvertretenden Strafurteils am Gekreuzigten begegnet später noch einmal in 8,3 f: Gott sandte „seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verurteilte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, vom Gesetz ge­ fordert, in uns erfüllt würde …“. Hier trifft das Urteil die Sünde im Fleisch Jesu, Jesus selbst überlebt das Strafurteil: Damit wird offenbart, dass der vernichtende Zorn gegen die Sünde nicht das letzte Wort Gottes ist, sondern seine Liebe zur Person des Sünders. 47 Dieser eingebürgerte Begriff ist unglücklich: iustitia distributiva meint eigentlich Verteilungsgerechtigkeit. Die juridische Gerechtigkeit, die den Schuldigen straft, ist dagegen iustitia correctiva. Ich folge der (unkorrekten) Sprachtradition. Sie ist dann legitim, wenn man einen Richter als jemanden betrachtet, der Strafen fair „verteilt“.

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der Sühne schafft. Beide Bedeutungen werden in 3,26 kombiniert, wenn Paulus schreibt: Gott hat durch Jesu Tod seine Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit erwiesen „damit (1) er selbst gerecht sei und (2) den gerecht mache, der an Jesus glaubt“. Dass (1) Gott selbst gerecht sei, zeigt Gott durch seine Strafgerechtigkeit. Dass er den Glaubenden (2) gerecht macht, zeigt er durch seine Heilsgerechtigkeit. Wahrscheinlich nutzt Paulus bewusst die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Gerechtigkeit“ als Straf- und Heilsgerechtigkeit. Gerechtigkeit umfasst als iustitia distributiva den Zorn (3,5) und ist ihm als iustitia salutifera entgegengesetzt (1,16 f).48 Das Blut bewirkt in 5,8–10 Rettung vor dem Zorn Gottes. Entsprechend ist auch bei der Erlösung durch das „Blut“ Jesu in 3,25 die Überwindung von Gottes Zorn mitgedacht. Jesu Tod wird kultisch gedeutet: Sein Blut ist als ἱλαστήριον/­ hilastē´rion ein Sühnemittel. Es entspricht dem Blut des Sühnopfers, das beim Versöhnungstag durch Berührung mit dem Sühnedeckel oder dem hilastérion Sühne für das Heiligtum bewirkt (Lev 16,15 f). Diese Vorstellung wurde auf den Tod der Märtyrer übertragen, der als „Sühne“ für Israels Sünden den Zorn Gottes zum Stillstand bringt (2Makk 7,38; 4Makk 17,21 f). Analog wird in 3,25 Jesu Tod gedeutet. In dieser Vorstellung vom Sterben der Märtyrer für die Sünden des Volkes sind Vorstellungen aus der paganen Welt mit jüdischen Traditionen zusammengeflossen. Die antiken Helden sterben für das Vaterland, für die Gesetze, für Freunde und Familienangehörige – aber nicht für Sünder und Feinde. Sie sterben für das, was für sie der höchste Wert ist. Nur aus der biblischen Tradition lässt sich erklären, dass es sich bei Jesu Tod um ein Sterben für die Sünden anderer handelt. Wir kennen diese Vorstellung im Alten Testament nur aus Jes 53, wo vom Gottesknecht die Rede ist, der sein Leben für die Vielen dahingibt. Wichtig ist: In der Antike war die Vorstellung eines Sterbens für andere an sich kein Ärgernis. Menschen konnten sich für andere hingeben. Ein Ärgernis war jedoch, dass sich jemand für Sünder und Gottlose dahingibt und dafür den unehrenhaften Kreuzestod stirbt. Für uns ist wichtig: Die drei Begriffe „Geduld“, „Gerechtigkeit“ und „Blut“ sind im Kontext von 3,21–26 mit dem Zorn Gottes verbunden: Geduld ist Aufschub seines Zorns (2,4), seine Gerechtigkeit umschließt seinen Zorn (3,5), Jesu Blut rettet vor seinem Zorn (5,9). Über Jesus ist der aufgestaute Zorn Gottes als tötende Macht ergangen, aber Jesus wurde durch denselben Gott dem Tod entrissen. Deshalb kann Paulus sein Sterben als Liebeshingabe deuten. Das ist paradox: Gott gibt Jesus aus Liebe in den Tod, um die Menschen vor seinem Zorn zu retten (5,8–10). Denn mit der Hingabe Jesu in den Tod hat sich Gott ja schon zur Liebe entschlossen und seinen Zorn überwunden. Dieser biblische Gott ist 48 Paulus konnte vielleicht beide Bedeutungen in 3,25 f verbinden, weil er eine Tradition von einer strafenden (neutralen) Gerechtigkeit aufnahm, um sie zu einer „Heil schaffenden (parteiischen) Gerechtigkeit“ umzudeuten.

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in sich glühende ethische Energie, die den Sünder vernichtet, die sich aber in die Glut seiner Liebe verwandelt. An dieser Stelle muss die Frage noch einmal erörtert werden, welche Rolle der „Glaube“ hat. In 3,21–26 begegnet das Substantiv „Glaube“ zweimal in der Genitivverbindung „Glaube Jesu Christi“ und „Glaube Jesu“ (3,22.26). Entweder ist die Treue Jesu als Genitivus subjectivus gemeint oder der Glaube an Jesus als Genitivus objectivus. Dass πίστις/pístis bei Paulus Treue bedeuten kann, geht aus 3,3 hervor: „Dass aber einige nicht treu waren, was liegt daran? Sollte ihre Untreue Gottes Treue (πίστιν τοῦ θεοῦ/pístin toú theoú) aufheben?“ Muss man also in Analogie dazu den „Glauben Jesu Christi“ als dessen Treue deuten? Jedoch spricht gerade die Analogie in 3,3 gegen diese Deutung. Denn in 3,3 f wird Gott durch den Menschen gerechtfertigt, weil Gott treu ist. Gott ist das Subjekt der Treue und Objekt der Rechtfertigung: Der Mensch rechtfertigt Gott, weil dieser treu ist. Nun dient die „pístis Jesu (Christi)“ in 3,22.24 eindeutig der Rechtfertigung des Menschen. Wenn das „Objekt“ der Rechtfertigung und das Subjekt der pístis aber wie in 3,3 f identisch sind, muss auch in 3,22.24 das Subjekt der­ pístis der Mensch sein. Glaube ist daher eindeutig „Glaube des Menschen an Jesus Christus“ und nicht die „Treue Jesu Christi“ in dessen Leben und Verhalten. Das aber ist für unser Verständnis der Erlösung wichtig: Alles, was Gott und Christus objektiv zur Überwindung der Sünde tun, wird nur dann als Erlösung wirksam, wenn menschlicher Glaube es subjektiv aneignet. Jesus ist eine „Sühne“ nur „durch den Glauben“, der auf diese Sühne vertraut (3,25). Unser Ergebnis ist: Der Tod Jesu bewirkt im Römerbrief Sühne. Dabei ist in 3,21–5,21 von einem objektiven Ereignis die Rede, das im Glauben subjektiv angeeignet und wirksam wird. Paulus betont mit dem (objektiven) Sühnetod Jesu die Universalität des Heils. Wenn Gott die Sünden aller Menschen überwunden hat, ist das Heil für alle zugänglich. Alle haben sich ja von Gott abgewandt. Der Tod Christi entfernt die objektive Schuld über der Völkerwelt, von der die meisten Menschen subjektiv nichts wissen. Aufgrund seiner Deutung des Todes Jesu als Sühne kann Paulus die Universalität des Heils verkünden (3,29). Die Heiden erhalten wie alle Juden eine Chance, sich die objektive Überwindung ihrer Schuld im Glauben subjektiv aneignen zu können. Durch diesen Glauben werden sie den Juden gleichgestellt. Man kann daher nicht den progressiven Paulus des universalistischen Heils gegen den regressiven Paulus ausspielen, der den Sühnetod Jesu predigt. Wie sein abgrundtiefer Pessimismus die Universalität des Unheils begründet – alle Menschen sind Sünder –, so begründet der Sühnetod Jesu die Universalität des Heils: Alle können durch Glauben an dessen Heilswirksamkeit die Sünde überwinden. Mit der universalen Ausweitung des Heils auf alle Menschen verändert sich das Heil qualitativ. Es gilt nicht nur allen Menschen, sondern dem ganzen Menschen. Über einen Freispruch im Gericht hinaus ist es eine Verwandlung, Versöhnung und Erhöhung des Menschen.

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Der ganze Mensch wird erstens verwandelt. Der von Gott freigesprochene Mensch wird durch Ausgießung der Liebe in sein Herz durch den Geist erneuert (5,1–5). Wie Adam Unrecht getan hat, so tut der neue Mensch das Gute (5,12–21). Voraussetzung ist ein neues Sein, die Gleichgestalt mit Christus und die erneuerte Ebenbildlichkeit (8,29). Der Mensch wird zweitens versöhnt (5,6–11). Jedoch versöhnt nicht der Mensch Gott, sondern Gott versöhnt den Menschen mit sich. Gottes Zorn verwandelt sich durch Jesu „Auferstehungsleben“ in Liebe, die das Leben will. Wo Paulus von der Liebe Gottes spricht, die sich im Sterben Jesu zeigt, bringt er daher fast immer einen Hinweis auf seine Auferstehung.49 Der Mensch wird drittens erhöht. Er wird mit Macht ausgestattet. Das Beispiel Abrahams zeigt: Er ist nicht nur der gerechtfertigte Gottlose, sondern auch der an seiner Kinderlosigkeit Verzweifelnde. Der Glaube gibt ihm die Zuversicht, Nachkommen zu haben (ἐνεδυναμώθη τῇ πίστει/enedynamō´thē tē´i pístei) (4,20). Glaube überwindet hier nicht nur die Sünde, sondern auch die Mutlosigkeit. Dieses Motiv kehrt in der Adam-Christus-Typologie wieder: Diejenigen, die durch Christus Gnade erhalten haben, werden „herrschen im Leben durch den einen Jesus Christus“ (5,17). Sie erhalten mit ihm eine Hoheitsstellung. Paulus greift hier die Vorstellung einer Herrschaft der Erwählten mit dem Messias auf.50 Mit den Motiven der Verwandlung durch den Geist, der Versöhnung durch die Liebe Gottes und der Erhöhung durch den Glauben werden Motive aus 6,1–8,39 vorweggenommen. 6,1 ist dennoch ein Neueinsatz. Von 6,1 an wird nämlich ein neues Problem behandelt: Wenn allen Menschen bedingungslos das Heil durch Rechtfertigung angeboten wird (5,18), gibt es ein Dilemma: Warum soll sich der Mensch noch anstrengen, Gutes zu tun, wenn Gott ihn auf jeden Fall freispricht?

49 Vgl. 5,8 mit 5,10; 8,31–39 mit der Auferstehung in 8,34; 2Kor 5,14 mit 5,15; Gal 2,20. 50 Holtz, Gott, 29–32, bringt Argumente für eine universale Auffassung derer, die durch Jesus Christus im Leben herrschen werden. Wenn die Wirkung der Sünde Adams universal ist, die Wirkung der Gnade aber diese unheilvolle Wirkung Adams überbietet – kann sie dann auf eine Gruppe eingeschränkt werden? Das Bild der „Herrschaft“ setzt jedoch Herrscher und Beherrschte voraus. Diejenigen, die Gnade empfangen, sind zudem dieselben, die als Christen Versöhnung empfangen haben (5,11), so Wolter, Paulus, 355. Dennoch dürfte die uni­ versalistische Auslegung im Recht sein. Eindeutig universal ist nämlich 5,18: Alle Menschen werden gerechtfertigt! Das ließe sich sogar in einer Herrschaftsmetaphorik unterbringen: Wenn die Christen im (zukünftigen) Leben Herrscher sind, können andere Menschen dort einfache Bürger sein. Am Ende wird ohnehin alle Herrschaft überwunden sein, weil Gott alles in allem ist (1Kor 15,28).

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5.3 Heil durch Verwandlung und Befreiung vom Gesetz: Die Überwindung des inneren Gebotskonflikts (Röm 6,1–8,39) Paulus antwortet auf dieses Dilemma mit dem dritten Bild einer radikalen Verwandlung des Menschen: Menschen sterben in der Taufe mit Christus. Sie können ebenso wenig sündigen, wie ein Toter ins Leben zurückkehren kann. Die Erlösung durchdringt ihr ganzes Leben. Paulus vertieft sein Gnadenverständnis. Gnade bedeutet nicht nur Freispruch im Gericht, sondern Verwandlung in ein neues Sein. Dieses Heilsverständnis überbietet an Intensität alle bisherigen Aussagen: Die Verwandlung führt am Ende zu einer Vereinigung mit der Liebe Gottes. Aber ebenso wie das Heil alles Bisherige an Intensität überbietet, wird auch das Unheil als Kontrast mit noch dunkleren Farben gemalt.

5.3.1 Effektive Gnade: Christus und Christusmystik als Gnadengeschenk Als Überleitung zu Röm 6–8 hat Paulus das Heil in Bildern eines Wechsels von Macht und Herrschaft dargestellt: „So wie die Sünde geherrscht hat zum Tode, so (soll) auch die Gnade herrschen durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (5,21). Die Herrschaft Gottes erscheint als Herrschaft der Gnade. Wenn Paulus fragt: „Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind?“ (6,15), so bedeutet „unter der Gnade sein“ so viel wie „unter der Herrschaft Christi sein“, denn der Christ hat einen neuen Herrn gefunden: Christus selbst. Im Bild vom Herrenwechsel des Sklaven existiert der alte Sklavenherr (die Sünde) zwar noch, hat aber kein Recht auf seinen ehemaligen Sklaven – so wie ein ehemaliger Sklavenherr keine Rechte mehr an einem Sklaven hatte, wenn dieser einen neuen Herrn hatte. Das Bild von der neuen Ehe einer Frau führt den Gedanken der Trennung von der Vergangenheit weiter: Der alte Ehemann und Herr existiert in diesem Bild nicht mehr. Der Tod trennt die Christen von ihrer Vorzeit. Über die bisherige bildsemantische Analyse hinaus kann man vermuten: Das Bild läuft logisch auf den Tod des Partners hinaus. Dieser müsste entweder das Gesetz oder Gott sein. Aber für Paulus war es undenkbar, dass Gott und das Gesetz „tot“ sind. Er vermeidet diesen tabuisierten Gedanken und springt zurück zum vertrauten Bild des Todes der Christen. Einen weiteren Schritt geht schließlich das Bild von der Adoption zum Sohn. Der Mensch wird zum erbberechtigten Sohn adoptiert, mit Christus dem Leiden ausgesetzt, aber mit ihm auch verherrlicht (8,17) und ist in der Gegenwart

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schon „verherrlicht“ worden (8,30) und dadurch zum Ebenbild des Sohnes geworden (8,29). Die Gnade, die den Menschen effektiv in das Ebenbild Gottes verwandelt, wird am Ende durch Christus in Christi Person verkörpert. Paulus fragt: „Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahin­ gegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (8,32). Er benutzt dabei das Verb χαρίζειν/charízein, das denselben Stamm wie „Gnade“ (χάρις/cháris) hat. Christus ist hier die Gabe Gottes an den Menschen. Christus verwandelt sich in dieser Bilderfolge vom überlegenen Herrn zum gleichberechtigten Sohn und Bruder. Vollendung findet diese Annäherung zwischen Mensch und Christus in einer alles überbietenden Christusmystik. Sie beginnt als Prozess der Verwandlung: Der Christ ist mit Christus gestorben und mit ihm zu einem neuen Leben gelangt (6,1–11). Sie vollendet sich als Vereinigung mit der Liebe Gottes, in der alle Kategorien von Raum und Zeit, von Hohem und Tiefem, Zukünftigem und Gegenwärtigem aufgehoben sind (8,31–39). Diese Christusmystik des Paulus hat eine sakramentale Grundlage. Die in familiären Bildern dargestellte Verwandlung wird durch die Taufe als Sterben mit Christus verwirklicht. Die Taufe repräsentiert in einem vom Ritual geschaffenen Raum christologisch, anthropologisch und kosmologisch eine dreifache Transformation. Sie vergegenwärtigt christologisch die Verwandlung Christi in Tod und Auferstehung. Sie lässt anthropologisch Menschen an diesem Geschehen leiblich teilhaben, wenn sie in der Taufe von einem alten zu einem neuen Menschen mit Christus verwandelt werden (6,1–11). Sie bezieht kosmologisch die Welt in diese Veränderung mit ein, wenn sie den Geist verleiht, der sich in der ganzen Schöpfung nach Erlösung sehnt (8,1–39). Christliches Leben wird durch dieses Ritual zu einer „Schwellenexistenz“ zwischen zwei Welten, eingebettet in einen kosmischen Wandel und sozial erlebbar in einer neuen Gemeinschaft. Die Erlösungsbilder des Paulus werden so zur Grundlage einer „liminalen Theologie“. Sie reflektieren die Schwellenexistenz der Christen, begründen ihre im­ Ritus inszenierte „Antistruktur“ zur bestehenden Gesellschaft und motivieren zu einer Communitas, in der alle Menschen trotz ihrer Ungleichheit in der empirischen Realität vor Gott gleich sind.51 Alle Aussagen über eine Gnade, die den Menschen verwandelt, haben auf jeden Fall in einem rituell geschaffenen und geschützten Gemeinschaftsleben eine Erfahrungsbasis.52 Wenn im Rahmen dieser Heilskonzeption Menschen immer mehr in das Ebenbild des „Sohnes“ verwandelt werden, dann ist diese Gnade effektive Gnade mit Außenhalt in den Sakramenten: Sie vollendet als Heiligung des Lebens den 51 So die von Turner, Ritual, inspirierte Deutung von Strecker, liminale Theologie, 177–211 zu Röm 6,1–11. 52 Theissen, Verkörperung, 165–167: „Rituale als transformative Sakramente“. Ders., Menschenbild.

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Freispruch von Sünden, überbietet als Verwandlung die Rechtfertigung des Menschen und überwindet effektiv seine sündigen Taten. Wenn es in 8,3 f heißt, dass Gott die Sünde im Fleisch seines Sohnes verurteilt hat, damit die Christen die Forderungen des Gesetzes im Geiste erfüllen können, so wird diese Urteilsmacht Gottes auf die Christen übertragen. Denn Paulus ruft ihnen zu: „Wenn ihr … durch den Geist die Taten des Leibes tötet, so werdet ihr leben“ (8,13). Das Urteil Gottes über die Sünde wird hier durch den Geist zum Urteil des Menschen über sich selbst. Dieses Urteil fällt der Mensch nicht in quälender Selbstzerfleischung, sondern in Übereinstimmung mit sich selbst. Paulus sagt nämlich: „Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen“ (8,10). Die „Taten des Leibes“ müssen nicht getötet werden, da der Leib ohnehin schon „tot“ ist, weil Gottes Geist im Menschen wirkt. Je positiver in dieser Weise die Herrschaft der Gnade als ein neues „Sein in Christus“ dargestellt wird, umso negativer muss die Sünde erscheinen: als dunkle Macht und Gegenherrschaft, die das Gesetz zu ihren Zwecken missbraucht. Gerade in diesem Teil  wird deutlich, welch einen kühnen Gedanken Paulus entwickelt, wenn er das Gesetz als tötenden Buchstaben kritisiert.

5.3.2 Sünde als gestörtes Verhältnis zu Gott Die Grundverfehlung in der Gottesbeziehung wird in Röm 6–8 in der Abhängigkeit des Menschen von gottwidrigen Mächten gesehen: als Sklaverei unter Sünde, Gesetz und Tod. Das Heil ist konsequenterweise eine Befreiung. Der Mensch wird wie ein Sklave befreit (6,18), wird wie eine Witwe für eine neue Ehe frei (7,3) und wie ein Sohn zur „Freiheit der Kinder Gottes“ adoptiert (8,21.23). Das Bild vom Herrenwechsel in 6,12–23 gibt auch den folgenden Bildern die Richtung vor. Die Begriffe „Sklaverei“ (δουλεία/douleía) und „Freiheit“ (ἐλευθερία/ eleuthería) kehren mit ihren Ableitungen immer wieder (7,6.25; 8,15.21 und 7,3; 8,2.21). Die verschiedenen Bilder einer Abhängigkeit von der Sünde bringen dabei nicht nur die Eigendynamik böser Handlungen zum Ausdruck, also die Erfahrung, dass eine Untat weitere Untaten nach sich zieht und deren Folgen dem Täter über den Kopf wachsen.53 Die Folgen oder „Früchte“ bösen Handelns werden in 6,21 vielmehr von der Sünde als deren Ursprung klar unterschieden. Da Metaphern die Wirklichkeit erschließen, gilt hier: Wer von der Sünde als Macht 53 Die böse Tat erzeugt in ihrer Tatsphäre Unheil. Der Tod ist der Sünde Sold (6,23).­ Röhser, Metaphorik, 156–165, will so die personifizierende Redewendung von der Sünde bei Paulus erklären. Aber Sünde, Fleisch und Gesetz sind eigenständige Mächte, deren Herrschaft sich nicht nur aus Folgen menschlicher Fehlleistungen ergibt. Umgekehrt ist auch das Pneuma als Gegenmacht zum Fleisch nicht nur die Eigendynamik menschlicher Zuwendung zu Gott, sondern eine eigenständige Macht. Das muss dann auch für Fleisch und Sünde gelten.

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spricht, erfährt sie tatsächlich als eine Macht, von der er abhängig ist, und nicht nur als eigene Tat. Die Abhängigkeit von der Sünde als Macht tritt an die Stelle der Abhängigkeit von Gott. Aus der Ursünde der Abwendung von Gott (­ 1,18–31) wird die Abhängigkeit von der Sünde, aus der sich der Mensch so wenig befreien kann, wie sich ein sexuell missbrauchter Sklave von seinem Herrn befreien kann (worauf 6,19 anspielt). Sünde wird zur Feindschaft gegen Gott (5,10) und zur Tyrannei einer widergöttlichen Macht, die an die Stelle Gottes tritt.54 Sünde ist auch hier an erster Stelle eine Störung der Beziehung zu Gott in einer besonders bedrohlichen Form: Eine andere Beziehung ist an die Stelle der Gottesbeziehung getreten.

5.3.3 Sünde als unmoralische Tat Diese religiöse Ursünde einer Beziehungsstörung zu Gott zeigt sich in konkreten Übertretungen des Gesetzes. Dessen Forderungen werden im Gebot: „Du sollst nicht begehren“ (Ex 20,17 = Röm 7,7) zusammengefasst. Die Objekte des Begehrens im zehnten Gebot werden wie in 13,9 nicht genannt. Begehren ist in sich schon eine Verfehlung. Wenn jedoch „jede Begierde“ geweckt wird (7,8), könnte Paulus an die vielen Objekte denken, die im zehnten Gebot als Objekt des Begehrens genannt werden: Frau, Sklave, Tier und Besitz.55 Aber Paulus spricht in 7,7–25 zweifellos weniger vom Konflikt des Menschen mit seinen Mitmenschen um den Besitz von Frauen, Sklaven und Tieren, sondern von seinem Konflikt mit sich selbst und dem Gesetz. Entscheidend ist, dass er in sich auf ein Begehren trifft, das dem Gesetz widerspricht. Die Sünde wird hier im Vergleich zu ihrer Katalogisierung (1,28–31) und ihrer personalisierten Darstellung in Abraham und Adam (4,1–25; 5,12–21) in einer Kurzformel summiert und als Begierde und Ursprung aller Sünde auf den Begriff gebracht (7,7). Ihre Summierung als Begehren entspricht antiker Affektpsychologie und findet sich auch bei Philo und im 4. Makkabäerbuch.56 Bei den konkreten Übertretungen setzt Paulus folgende Akzente. In 6,12–7,6 treten libidinöse „Begierden“ stärker hervor: Im Bild vom Herrenwechsel des Sklaven soll der Mensch seine Glieder nicht der „Unreinheit“ hingeben (6,19). In Verbindung mit dem Bild von der Zweitehe der Frau ist von „sündigen Leidenschaften“ „in den Gliedern“ die Rede (7,5). Daneben begegnen aber auch aggressive Bilder. Die Sünder kämpfen als Söldner (6,13.23), zwei Gesetze „streiten“ 54 Schottroff, Schreckensherrschaft. 55 Jewett, Hermeneia, 449. 56 Philo Spec. 4,84 f: Die „Begierde […] ist die Quelle aller Übel […] Denn die Leidenschaft, die mit vollem Recht als das Grundübel bezeichnet werden könnte, ist die Begierde“ (4Makk 1,30–2,6). Dazu v. Gemünden, ἐπιθυμία.

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miteinander und führen „in Kriegsgefangenschaft“ (7,23), das Fleisch ist „Feindschaft“ gegen Gott (8,7). Wenn das Unheil in der Abhängigkeit von Gesetz, Sünde und Tod als widergöttlichen Mächten besteht, ist ein Konflikt dieser Mächte mit Gott mitgedacht. Wie sonst im Römerbrief sind auch in 6,1–8,39 Schuld und Leid verbunden. Eine Sehnsucht nach Erlösung von Leid zieht durch die ganze Schöpfung als Seufzen der Schöpfung (8,22), der Christen (8,23) und des Geistes (8,26 f). Dieses dreifache Seufzen sehnt sich nach Überwindung von Sterblichkeit und Leid. Während Paulus in 8,1–17 in dualistischen Gegensätzen von Geist und Fleisch dachte, nimmt er in 8,18–27 im Gegenzug dazu einen Gleichklang in der Schöpfung an. Er ist der Schöpfung in ihrem Leiden eng verbunden. Ausdrücklich betont er, dass sie gegen ihren Willen der Vergänglichkeit unterworfen wurde (8,20). Adams Fall stand am Anfang. Das war Schuld. Aber dass deren Folgen alle Geschöpfe treffen, ist Verhängnis und nicht Schuld.

5.3.4 Sünde als Gesetzesmissbrauch Paulus vertieft in seiner „Verwandlungslehre“ vor allem die dritte Dimension des Sündenverständnisses. Sünde ist eine verfehlte Orientierung am Gesetz, die nicht in seiner Übertretung besteht, sondern damit vereinbar ist, dass der Mensch dem Gesetz gehorchen will. Auch der Stolz auf das Gesetz, auch die Art seiner Durchsetzung im eigenen Leben oder im Leben einer Gemeinschaft kann unheilvoll sein. Der unerlöste Mensch wird dann nicht nur von der Sünde beherrscht, sondern deren Herrschaft wird möglich, weil er „unter dem Gesetz“ steht: „Denn die Sünde wird ja nicht herrschen können über euch, weil ihr ja nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade“ (6,14). Freiheit wird dann zur Freiheit vom Gesetz (7,3). Deshalb kann Paulus fragen: „Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne!“ (7,7). In seiner Verteidigung des Gesetzes in 7,7–23 argumentiert er so: Das Gesetz ist an sich nicht Sünde, wirkt aber in zweifacher Weise mit der Sünde zusammen. Einmal ist das Gesetz der Akteur, der zur Gesetzesübertretung motiviert, das andere Mal ist die Sünde der Akteur, der das Gesetz manipuliert. Einerseits stimuliert das Gesetz die Sünde, andererseits wird es von ihr manipuliert. Beide Formen des Gesetzesmissbrauchs zielen in verschiedene Richtung. Das Gesetz stimuliert „sündige Leidenschaften“ (7,5). In der Antike waren Gesetz und Leidenschaften in der Regel einander entgegengesetzt. Wer sich am Gesetz orientiert, ist gegen Affekte gewappnet. Dieser Konsens wird von Paulus aufgekündigt. Er kann dabei an eine in der Antike belegte Überzeugung anknüpfen, dass Verbote zur Übertretung reizen.57 Solche Überlegungen zielen meist darauf, 57 Wir behandeln die antiken Parallelen zu diesem Topos ausführlicher in Kapitel 7.2; vgl. auch ihre Behandlung bei Haacker, Antinomismus; Wolter, Paulus, 433 f.

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dass eine weise Gesetzgebung dies vermeiden kann. Grundsätzlich wird das Gesetz in der Antike jedoch nicht in Frage gestellt, auch wenn Paulus an einzelne gesetzeskritische Motive im Griechentum und Judentum anknüpfen konnte.58 Paulus stellt aber nicht nur für einzelne Fälle, sondern grundsätzlich fest: Beim Zusammenwirken von Gesetz und Sünde geht die Aktivität vom Gesetz aus. Die Sünde folgt ihm, provoziert durch ein Verbot. Paulus kennt auch den umgekehrten Prozess, dass die Sünde das Gesetz manipuliert. Hier wird die Sünde zum Akteure. Nach Paulus bedient sie sich des Gesetzes, um den Menschen zu betrügen und zu töten (7,11). Modell dafür ist der Sündenfall von Adam und Eva. Sie wurden durch die Verheißung der Schlange, Gut und Böse unterscheiden zu können, verführt. Angedroht war ihnen, dass sie an dem Tag sterben sollten, an dem sie das Gebot übertraten. Aber sie lebten weiter; sie erlitten nur einen geistlichen Tod. Paulus orientiert sich hier mehr am Modell Adams. Eva tritt wie in 5,12–21 ganz zurück. Dort verlangte die AdamChristus-Typologie, dass das Gegenbild zu Adam ein Mann ist, hier schaffen die Aussagen im Ich-Stil eine Transparenz für Paulus, also ebenfalls für einen Mann. Das Motiv der Täuschung stammt aber sicher aus der Verführung Evas durch die Schlange, auf die sich Paulus auch in 2Kor 11,3 mit demselben Verb „betrügen“ bezieht. Paulus wandelt dieses Motiv in 7,11 zu einem allgemein menschlichen Motiv jenseits der Gendergrenze ab.59 Beide Verstrickungen von Gesetz und Sünde führen dazu, dass schon das Auftauchen des Gesetzes als tödliche Bedrohung erscheint, obwohl das Gesetz eigentlich das Leben verheißt: „Ich lebte einst ohne Gesetz, als aber das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig, ich aber starb. Und so fand sich’s, dass das Gebot mir den Tod brachte, das doch zum Leben gegeben war“ (7,9 f). Paulus unterscheidet deshalb eine positive und negative Funktion des Gesetzes als Geist und Buchstaben (7,6). Diese Unterscheidung brachte er zum ersten Mal in 2Kor 3,6. Wahrscheinlich ist der Gegensatz von Geist und Buchstabe seine „Innovation“, denn bisher wurden keine Parallelen dazu gefunden. Paulus verwendet den Topos nicht ganz kohärent: Einerseits sind Christen frei vom Gesetz und dienen deshalb „im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buch 58 Pollmann, Motive. 59 Ein vergleichbares Modell, das Gendergrenzen überschreitet, ist in der Antike Medea. Anhand von Medea wurde der Konflikt zwischen Affekt und Vernunft diskutiert. Auch P ­ aulus hat diesen Topos in 7,14–23 aufgegriffen und (bewusst oder unbewusst) auf den Menschen übertragen. Warum sollte nicht auch Eva zum Modell aller Menschen geworden sein? Zu Medea vgl. Hommel, 7. Kapitel; Theissen, Psychologische Aspekte, 213–223. Einen Bezug zu Eva sieht Krauter, Eva; ders., Röm 7. Er hat darin Recht, dass Eva das Modell für das verführte Ich ist, aber Eva ist nicht dieses Ich; sie spricht nicht in Röm 7. Dagegen bestreitet Wasserman, Death, überhaupt einen Bezug zum Sündenfall in Gen 3 und will die Vorstellung vom Tod der Seele aus Platons Philosophie ableiten. Aber ihre wichtigsten Belege stammen aus Philo, der in Leg. 1,105–108 den Sündenfall Adams und Evas als Tod der Seele auslegt (vgl. ebd., 89–91). Vgl. zur Kritik an ihr Pollmann, Motive, 204–206.

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stabens“ (7,6). Der Geist ist hier Überwindung des Gesetzes, das mit dem „Buchstaben“ identifiziert wird. Christen sind frei von ihm. Andererseits dienen die Christen zwei Gesetzen. In diesen beiden Gesetzen haben sich die positive und negative Seite des Gesetzes verselbständigt zu einem Gesetz in den Gliedern und zu einem Gesetz Gottes für den inneren Menschen (7,22 f). Schließlich spitzt Paulus diese Aufspaltung des Gesetzes zu, wenn er in 8,2 sagt, dass das eine Gesetz Gottes vom anderen Gesetz befreit: „Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“ (8,2). Paulus kennt also drei Denkfiguren: –– Das Heil des Menschen ist Befreiung vom Gesetz als Buchstaben (7,6). –– Es setzt sich in einem Konflikt zwischen zwei Gesetzen durch (7,21–23). –– Es ist Befreiung durch das Gesetz des Lebens vom Gesetz des Todes (8,2). Da das Gesetz des Geistes am Ende in 8,2 befreiende Kraft hat, überwiegt letztendlich eine positive Bewertung des Gesetzes. Auch unter Berücksichtigung dieser Differenzierungen ist der Gedanke einer Befreiung vom Gesetz für einen Juden eine ungeheuerliche Aussage. Denn das Gesetz ist Inbegriff des Heils, Ausdruck der Erwählung und des Bundes Gottes mit Israel. Es gehört zu den Privilegien Israels (9,4). Wie entwickelt Paulus diesen kühnen Gedanken? Er geht in 7,7 zunächst von dem antiken Topos aus, dass Gesetze zur Gebotsübertretung reizen. Was er in 5,20 nur für das Gesetz Israels formuliert hat, dass es die Sünde und Übertretung vermehrt, stellt er mit Hilfe dieses Topos als allgemeine menschliche Erfahrung dar und veranschaulicht sie mit dem Verbot des Begehrens im Dekalog (7,7 = Ex 20,17). Paulus erzählt die Entstehung der Sünde durch das Gesetz dabei zweimal in verschiedener Begrifflichkeit. Zunächst weckt das Gesetz durch sein Verbot des Begehrens in Ex 20,17 jede Begierde (7,8). Es ist schwer vorstellbar, dass diese Begierde auch den Gesetzeseifer umfasst. Aber dann formuliert Paulus denselben Sachverhalt noch einmal ein zweites Mal mit allgemeineren Begriffen: Das Kommen des Gebots ließ die „Sünde“ aufleben (7,9). „Sünde“ ist ein weiter gefasster Begriff als „Begierde“ und kann auch den Gesetzeseifer Israels umfassen.60 Dazu passt, dass danach in Röm 7–8 nicht mehr von „Begierden“, sondern nur noch von „Sünde“ die Rede 60 Oft wird bestritten, dass Paulus den Gesetzeseifer als „Sünde“ betrachtet habe. Direkt bringt das Paulus nicht zum Ausdruck, wohl aber indirekt. In 10,2 spricht er vom Gesetzeseifer, dem „Zelos“ Israels und verheißt in 11,26 f eben diesem Israel Vergebung der „Sünden“. Denn diese Sünden schließen Israels Gesetzeseifer und seine Feindschaft gegen das Evangelium ein (11,28). In 1Thess 2,14–16 kritisiert Paulus Juden, weil sie die Heidenmission behindern, ihn verfolgen und so das Maß ihrer „Sünden“ vollmachen (2,16). Genauso müsste Paulus seine eigene Verfolgertätigkeit als Sünde bewerten. Wenn er dazu eine direkte Aussage macht, betont er in zwei autobiographischen Aussagen, dass seine Berufung „Gnade“ war (Gal 1,15; 1Kor 15,10), Gnade aber ist Überwindung der Sünde: „Wie die Sünde geherrscht hat

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ist (7,11,13.14.17.20.23). Erst im paränetischen Teil begegnet erneut das Verbot des „Begehrens“ und der „Begierden“ des Fleisches (13,9 = Ex 20,17; vgl. 13,14). Trotz seiner Beteiligung am Aufleben der Sünde ist das Gebot „heilig, gerecht und gut“ (7,12). Aber die Sünde hat das an sich gute Gebot benutzt, um den Menschen zu täuschen und ihn zu töten: „Die Sünde, damit sie als Sünde sichtbar werde, hat mir durch das Gute den Tod gebracht, damit die Sünde überaus sündig werde durchs Gebot“ (7,13). Hier ist von einer Sünde die Rede, die bisher „verborgen“ war und erst jetzt als Sünde sichtbar wurde (ἵνα φανῇ ἁμαρτία/ hína phanē´i hamartía). Handelt es sich um jene Gesetzesbrüche, die man erst registriert, wenn sie überhand nehmen? Aber dann könnte man sie vorher nicht für etwas Gutes gehalten haben! Viel wahrscheinlicher ist: Die Sünde hat sich hinter dem Schein des Guten und der Normerfüllung verborgen. Das allein passt zum Täuschungsmotiv (7,11). Nachdem Paulus die Entstehung dieses Konflikts im Präteritum erzählt hat (7,7–13), schildert er ab 7,14 im Präsens den dadurch entstandenen Konflikt.61 Dabei klingt nach, dass es sich um einen objektiven Konflikt handelt, den der Mensch am Anfang nicht durchschaut: Der Mensch „bewirkt“ das Böse, das er eigentlich nicht will. „Bewirken“ (κατεργάζεσθαι/katergázesthai) kann in 7,15.17.18.20 das Resultat einer Handlung meinen und auf einen Widerspruch zwischen Intention und diesem Resultat deuten.62 Solch ein objektiver Konflikt wird aber von Paulus im Laufe dieses Textes eindeutig in einen bewussten subjektiven Konflikt verwandelt. Nicht nur das von ihm gewollte äußere Resultat seines Handelns widerspricht seiner Intention, sondern der Mensch kann seine Intention von vornherein nicht gegen andere innere „Intentionen“ durchsetzen. Dieser bewusst werdende innere Konflikt setzt voraus, dass das Gesetz nicht nur von außen „kommt“ (7,9 vgl. 5,20) und von außen zum Menschen spricht zum Tode, so soll auch die Gnade herrschen durch die Gerechtigkeit“ (5,21). Zwar bezeichnet sich Paulus nicht als „Sünder“ wie es später ein Schüler in seinem Namen tut (1Tim 1,15). Dass Gesetzeseifer Sünde sei, ist u. E. solch ein kühner Gedanke, dass Paulus es schwer fällt, ihn zu artikulieren. 61 Krauter, akrasia, 114, vertritt mit Recht die These, „that Rom 7:7–13 does not deal with the effect of the law on a person who is already in the state of akrasia, but rather with the problem how law contributes to the process that a person becomes acratic.“ 7,7–13 schildert die Entstehung der Sünde als akrasía. Engberg-Pedersen, filosof, 195–197, fügt einen wichtigen Aspekt hinzu: 7,7–13 schildert auch das Bewusstwerden der Sünde als einen Zustand, in dem sich der Mensch dem göttlichen Gebot nicht unterordnen will. Hinzu kommt als dritter Aspekt eine Internalisierung des Gesetzes, so dass es eine pneumatische Realität wird (7,14). 62 Bultmann, Römer 7, beruft sich auf den resultativen Sinn von „bewirken“, um hier einen Konflikt zwischen Intention und Resultat zu sehen, der transsubjektiv und dem Ich nicht bewusst sei. Aber Paulus macht ihn in Röm 7 als Konflikt zwischen Wollen und Tun bewusst, setzt aber voraus, dass er nicht immer bewusst war. Für ders., Theologie, 248, gehört auch der Zelos (Phil 3,4–6; Röm 10,2) zu der in Röm 7,7–25 geschilderten Situation. Jedoch ist es unglücklich, wenn er diesen Eifer als die „durch das Gesetz geweckte ἐπιθυμία“ bezeichnet. Denn Paulus nennt nirgendwo den Gesetzeseifer eine ἐπιθυμία (epithymía), d. h. ein „Begehren“.

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(7,7). Vielmehr wird das Gesetz jetzt zu einer inneren Realität im Menschen.63 Es wird „internalisiert“. Deswegen nennt Paulus es in 7,14 „geistlich“. Als internalisierte Größe schafft es im Menschen einen Zwiespalt zwischen dem, was im Menschen vom Pneuma (= Geist) bestimmt ist und was Sarx (= Fleisch) in ihm ist. Erst wenn der Mensch vom „Geist“ Gottes durchdrungen ist, wird er diesem „geistlichen“ Gesetz entsprechen können (8,3–11). Paulus beschreibt diesen inneren Konflikt in 7,14–23 in der Sprache der antiken Moralpsychologie. Die Antike diskutierte das Problem, dass sich die eigentliche Intention im Menschen nicht durchsetzen kann, als Willensschwäche (ἀκρασία/ akrasía). Wenn Paulus sagt, dass er nicht tut, was er will, verwendet er eine verbreitete Formel für die Unfreiheit des Willens.64 Nachdem er in 7,7–13 erzählt hat, wie der Zustand der „Akrasie“ durch Täuschung entstanden ist – mit der Pointe, dass das Gebot selbst dazu beitrug –, schildert er in 7,14–23, wie er diese Täuschung immer klarer bis zur Erkenntnis einer „Gesetzmäßigkeit“, der höchsten Form von Erkenntnis, durchschaut: „So finde ich nun die ‚Gesetzmäßigkeit‘, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt“ (7,21). Das wirkt auf den ersten Blick wie Akrasie, als sei der hier geschilderte Mensch zu schwach, um seinen Willen gegen andere Antriebe in ihm selbst durchzusetzen. Aber es ist mehr. In Wirklichkeit streiten in ihm zwei einander entgegengesetzte „Willensrichtungen“. Er tut nicht nur, was er nicht will, er tut, was er hasst. Dieser Gegensatz von zwei Willensrichtungen erinnert an die rabbinische Lehre vom „guten und bösen Trieb“,65 die noch im Rahmen hellenistischer Moralpsychologie bleibt. Paulus geht aber auch über solch eine Lehre von zwei Trieben hinaus, wenn er beide Triebe oder Willensrichtungen als zwei Gesetze deutet, die in Konflikt miteinander stehen. Im Sinne antiker Moralpsychologie könnte man sagen, dass „Akrasie“ (ἀκρασία/akrasía)  hier in „Akolasie“ (ἀκολασία/akolasía)  übergeht, also in jene Zügellosigkeit, die unmoralische Ziele verfolgt.66 Doch würde man damit den Aussagen des Paulus nicht gerecht. Denn man befolgt bei unmoralischen Zielen ja kein „Gesetz“, sondern verstößt willentlich gegen das Gesetz. Die Pointe des Paulus ist jedoch, dass der innere Konflikt zwischen Wollen und Tun ein Konflikt zwischen zwei „Gesetzen“ ist: „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Verstand“ (7,23). Un 63 Engberg-Pedersen, filosof, 200: „Paulus placerer altså ikke kun Moseloven uden for jeg-personen, men også i et direkte forhold til jeg-personens to forskellige dele, sådan som de forholder sig til den. Dermed placerer han så at sige Moseloven inde i jeg-personens indre“. [Paulus lokalisiert also das Mosegesetz nicht nur außerhalb des personalen Ichs, sondern setzt es in ein direktes Verhältnis zu den zwei verschiedenen Teilen des Ichs, je nachdem wie sich diese Teile zu ihm verhalten. Damit lokalisiert er sozusagen das Mosegesetz in das Innere des personalen Ichs“.] 64 Philo Prob. 59; Epikt. IV 1,1. Dion Chrys. 14,3: Freiheit ist, „von niemand abhängig sein, sondern einfach tun, was einem gefällt“. 65 Bill. IV/1, 466–483. 66 So mit Recht Wasserman, Death, 89–99.

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ser Fazit ist: Paulus spricht zwar von „Akrasie“, aber er ringt darum, mit den Begriffen hellenistischer Moralpsychologie eine neue Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen: einen Konflikt zwischen zwei Gesetzen. Der Begriff des Gesetzes impliziert, dass es an eine Bezugsgruppe gebunden ist und aufgrund seiner normativen Kraft Gehorsam verlangt. Konflikte mit dem Gesetz sind üblicherweise „normative Konflikte“, bei denen die Norm feststeht und das Problem nur darin besteht, dass der Mensch sie nicht befolgt. Bei diesen Konflikten bleibt die Bezugsgruppe konstant. Davon zu unterscheiden sind „existenzielle Konflikte“ zwischen unvereinbaren normativen Ausrichtungen, in denen der Mensch entscheiden muss, welcher er folgen will. Existenzielle Konflikte treten in pluralistischen Gesellschaften auf, wenn Menschen mit verschiedenen Überzeugungssystemen konfrontiert werden, die sich nicht additiv verbinden lassen, sondern Alternativen darstellen. Diese Alternativen setzen in der Regel verschiedene Gemeinschaften voraus, zwischen denen der Mensch wählen muss. Existenzielle Konflikte führen daher zur Konversion, d. h. zur normativen Neuausrichtung des Lebens und zu einem Wechsel der Bezugsgruppe. Konversionen waren in diesem Sinne in der Antike etwas Neues. Nur Juden, Christen und Philosophen forderten solch eine Umorientierung im Leben.67 Unter ihnen war Paulus eine herausragende Figur: Er ist der Missionar, der selbst eine Kehre um 180 Grad erlebt hat und programmatisch von allen Menschen eine Bekehrung fordert. Auch seine Bekehrung bestand darin, dass er seine soziale Bezugsgruppe wechselte und das verwarf, was er bisher als „Gesetz“ hoch und ­heilig­ gehalten hatte. Die Umorientierung zum Christentum bestand für Heiden (in den Augen des Paulus) in der Abkehr vom polytheistischen Götzendienst und den daraus folgenden Lastern (1,18–32). Man muss daher fragen: Kann Paulus die Bekehrung von Heiden als Abkehr von einer normativen Orientierung verstehen? Sofern Paulus die Laster auf eine falsche religiöse Bindung an viele Götter zurückführt, verlangt er in der Tat eine Loslösung von dem, was für Heiden einmal normativ verpflichtend war. In jedem Fall verlangt er eine Loslösung von der bisherigen Bezugsgruppe und ihren Normen. Aber auch bei ethischen Verhaltensweisen deutet er ihre Bedingtheit durch normative Überzeugungen an. Denn er sagt am Ende seines Lasterkatalogs in 1,24–32: „Sie tun es nicht nur, sondern stimmen auch denen zu, die es tun“ (1,32). Zustimmung zum Fehlverhalten heißt: Einige halten es nach ihren Normen für gut. Aber all das sind nur Andeutungen einer Abkehr von normativen Ausrichtungen bei Heiden. Viel leichter ist es, in den Formulierungen des Paulus die Abkehr eines Juden­ christen von seinem bisherigen Leben zu erkennen, nämlich von einer falschen Orientierung am Gesetz. Das Sich-Rühmen hat Paulus schon in 2,17 und 3,27 als Gesetzesstolz kritisiert. Hier ging es um die Abwertung der Heiden, die das Ge 67 So die klassische These von Nock, Conversion.

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setz nicht besitzen. Den Gesetzeseifer Israels wird er später in 10,2 kritisieren. Beim Eifer geht es nicht nur um die Abwertung der anderen, sondern um ein aggressives Vorgehen gegen alle in Israel, die das Gesetz nicht erfüllen. Dies geschieht nach 10,2 ohne Einsicht (οὐ κατ’ἐπίγνωσιν/ou kat epígnōsin). Ohne Einsicht ist auch das Fehlverhalten in 7,15: „Was ich bewirke, verstehe ich nicht“ (οὐ γινώσκω/ou ginō´skō). Die dann folgenden Ausführungen zeigen, dass Paulus diesen Konflikt zwischen Wollen und Tun immer besser versteht. Denn er deutet ihn als Ausdruck eines zweifachen Dualismus: einerseits eines Konflikts zwischen „zwei Gesetzen“, andererseits eines Konflikts zwischen „Fleisch und Geist“. Der Dualismus von zwei Gesetzen im Inneren des Menschen führt die Unterscheidung von Buchstaben und Geist (7,6) weiter und wird in 8,2 zum Antagonismus von zwei Gesetzen zugespitzt. Auf der einen Seite steht das Gesetz, das zu Gesetzesstolz und Gesetzeseifer verführt, auf der anderen das Gesetz, das davon befreit. Dass hier gesetzeswidrige Impulse als Gegengesetz zum wahren Gesetz begriffen werden, ist das Neue bei Paulus. Ebenso ist neu, dass Paulus das Gesetz „geistlich“ nennt und mit der „fleischlichen“ Natur des Menschen kontrastiert (7,14). Im „Fleisch“ sieht Paulus die Ursache für den tiefen Konflikt zwischen den beiden Gesetzen. Auch dazu macht er widersprüchliche Aussagen: Einerseits ist das Gesetz durch das „Fleisch“ zu schwach, um Leben zu bringen (8,3). Das erinnert an „Akrasie“, als könne sich das Gesetz nicht durchsetzen, wobei „Akrasie“ freilich kein Defizit des Gesetzes wäre, sondern ein Defizit des Menschen. Andererseits ist das Fleisch aktive Feindschaft gegen Gott (8,7). Das erinnert an „Akolasie“, als widersetze es sich der Forderung Gottes. „Fleisch“ meint eine in allen Menschen vorhandene Feindschaft gegen Gott, in jedem Fall aber den Menschen im Unterschied zu Gott (3,20). Bei der Deutung von 7,7–8,11 wird zu wenig beachtet, dass dieser Begriff des „Fleisches“ bei Paulus oft eine ethnische Komponente enthält: Christus stammt nach dem Fleisch von David ab (1,3), er gehört nach dem Fleisch zu Israel (9,5). Abraham ist Vorvater nach dem Fleisch (4,1), Juden sind Verwandte nach dem Fleisch (9,3). Die Beschneidung im „Fleisch“ ist Identitätsmerkmal der Juden (2,28). Die „fleischliche“ Abstammung ist also im Prinzip etwas Gutes. Sie weist auf die Herkunftsund Bezugsgruppe des Paulus: auf das jüdische Volk. Aber Paulus weiß, dass der Mensch auch das Gute missbrauchen kann (7,13). So wie das Gebot an und für sich heilig, gerecht und gut ist (7,12), aber zum tötenden Buchstaben geworden ist, so ist auch die Zugehörigkeit zu Israel „dem Fleische nach“ an und für sich ­etwas Gutes. Aber sie kann im „Eifer“ missbraucht werden. Im negativ konnotierten Begriff des „Fleisches“ in 7,14–25 ist daher ein ethnisches Moment enthalten: Das Gesetz des tötenden Buchstabens, das gegen Gottes Gesetz streitet, ist das Gesetz einer Gemeinschaft, für das ein ethnischer Stolz eifert. Das Gesetz in den Händen der ethnisch programmierten Sarx bewirkt Unheil. Es dient dem Sich-Rühmen „nach dem Fleisch“ (2Kor 11,18), es verführt zum Vertrauen „in

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das Fleisch“ (Phil 3,4), das mit Gesetzeseifer Hand in Hand geht (Phil 3,6). Zwar ist der in Röm 7 geschilderte Konflikt nicht auf den sozialen Konflikt zwischen Israel und den Völkern beschränkt, aber man sollte diese „ethnische“ Dimension des Konflikts nicht ausschließen. Paulus stellt diesen Konflikt dann aber noch einmal in einen umfassenderen Zusammenhang. Er bettet den Konflikt im Innern des Menschen in den Übergang zwischen zwei Welten ein.68 Denn der Geist ist die Kraft der Auferstehung – ist Auswirkung einer neuen Welt in den Christen, in denen der Geist wohnt. In ihnen beginnt die neue Welt schon hier und jetzt (8,11). Paulus sieht Mensch und Welt in einem Übergang zu einer neuen Welt. Mit diesem apokalyptisch begründeten transformativen Menschen- und Weltbild überschreitet Paulus jede antike Moralpsychologie, die mit einer Konstanz von Welt und Mensch rechnet. Für Paulus sind Mensch und Welt in Verwandlung begriffen. Das Gesetz in der alten Welt erscheint dadurch in einem dunkleren Licht als je zuvor – weil es mit dem Gesetz der neuen Welt kontrastiert, in der die Freiheit der Kinder Gottes offenbar werden wird. Das Gesetz in der alten Welt ist der tötende Buchstabe, das Gesetz in der neuen Welt der lebendig machende Geist. Unser Fazit zum Sündenverständnis in 6,1–8,39 ist: Auch hier begegnen wir den drei Dimensionen von Sünde und Unheil: Die Wurzel aller Sünde liegt (1) in der gestörten Gottesbeziehung durch Abhängigkeit von fremden Mächten. Die konkreten Sünden werden (2) summarisch im Begehren zusammengefasst. Der Mensch wird (3) von widergöttlichen Mächten beherrscht. Das Gesetz gehört auf die Seite der Unrechtsmächte Sünde und Tod. Dass der Missbrauch des Gesetzes durch die Sünde erst im Rahmen der Verwandlungslehre klar hervortritt, ist konsequent: Erst in ihr werden der alte und der neue Mensch vor und nach der Verwandlung klar unterschieden. Erst im Rahmen dieser transformativen Sicht des Menschen kann das Gesetz in den Händen des alten Menschen zu einem negativen Instrument werden. Paulus ringt darum, eine Dimension der Sünde aufzudecken, die bisher nicht sichtbar und erkennbar gewesen ist. Diesen Missbrauch erkennt Paulus, weil sich für ihn eine neue Welt geöffnet hat. Durch den Geist ist er Bürger zweier Welten geworden. Weil er schon der neuen Welt angehört, erscheint die alte Welt umso negativer. Wir werden später fragen, inwiefern Paulus mit dieser kritischen Sicht des Gesetzes Erfahrungen seines eigenen Lebens verarbeitet. Jetzt halten wir fest, dass wir auch in der Verwandlungslehre (6,1–8,39) die drei Dimensionen der Sünde wiederfinden: Beziehungszerstörung, unmoralische Tat und einen falschen Umgang mit dem Gesetz: Das Gesetz wird von der Sünde und vom Fleisch missbraucht. Die Sünde erscheint deshalb im Rahmen der Verwandlungslehre größer als je zuvor. Aber auch hier gilt: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.69 68 Das betont mit Recht v. Bendemann, Diastase, 45.61. 69 Hölderlin, Patmos, 350.

Heil durch Verwandlung und Befreiung vom Gesetz(Röm 6,1–8,39)

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5.3.5 Die Christusmystik des Paulus (Röm 6,1–11; 8,31–39) Nirgendwo hat Paulus die Erlösung so intensiv dargestellt wie in Röm 6–8: Sie ist eine Verwandlung des ganzen Menschen. Seine Transformation beginnt mit der Taufe. Der Christ wird in ihr gleichgestaltet mit Jesu Tod (6,5) und Auferstehung. In dieser mystischen Conformitas-Christologie rückt Christus am Anfang ganz auf die Seite des Menschen: Christus und Mensch sind im symbolischen Sterben und Auferstehen eng verbunden (6,1–11). Am Ende rückt Christus im Himmel dagegen als Fürsprecher der Christen ganz auf die Seite des Richters, so dass keine Anklage die Christen gefährden kann. Der Fürsprecher wird dabei nicht in unerreichbare Ferne entrückt. Im Gegenteil: Der Geist ist parallel zum Fürsprecher im Himmel auch im Menschen als Fürsprecher tätig. Das ist ein psychomythischer Parallelismus. Da Paulus dasselbe Wort (ἐντυγχάνειν/entynchánein) für das Wirken dieser beiden Fürsprecher im Menschen und im Himmel benutzt (8,27.34), ist ihm dieser Parallelismus bewusst. Wieder tun sich (wie in 2,16) unbewusste Tiefen auf: Denn der Mensch weiß nicht, wie er beten soll. Der Geist tritt für ihn ein. Er artikuliert, was dem Menschen selbst nicht bewusst ist.70 Die Verwandlung des Menschen umfasst ihn in seiner Totalität bis in unbewusste Tiefen hinein. Paulus entfernt sich damit nicht von seinem jüdischen Glauben, vielmehr steht im Zentrum des monotheistischen Glaubens die Sehnsucht danach, dass der Mensch ein anderer wird und mit ganzem Herzen, ganzer Seele und allen seinen Kräften dem einen und einzigen Gott entspricht (Dtn 6,4). Die Christusmystik des Paulus erfüllt diese Sehnsucht nach Verwandlung des Menschen aus einem alten Menschen (6,6) in einen neuen Menschen. Diese Verwandlung wird in 6,1–8,39 in mystischen Bildern dargestellt, nach denen sich Menschen zunächst mit Christus verwandeln, um immer mehr eins mit ihm zu werden.71 Dabei können wir die drei Stufen der Mystik erkennen:­ purificatio, illuminatio und unio mystica.72 Mystik umfasst eine Befreiung des Menschen von der Welt, seine Verwandlung durch Kontakt mit einer göttlichen 70 In 8,35 f und 38 f liegt ein psychomythischer Parallelismus vor: Der Peristasenkatalog rühmt die Bewährung der Christen in Bedrängnis, Angst, Verfolgung, Hunger, Nacktheit, Gefahr, Schwert. Der Mächtekatalog nennt parallel feindliche Mächte, die überwunden werden: Tod und Leben, Engel und Gewalten. Auch hier finden wir sprachlich dieselbe Aussage: Weder die Leidenssituationen auf Erden noch die Mächte im Himmel können von der Liebe Gottes „trennen“. 71 Die folgenden Gedanken nach Theissen, Paulus und die Mystik. 72 Diese drei Stufen gehen auf Ps.-Dionysios Areopagita zurück, der sie Reinigung (κάθαρσις/ kátharsis), Erleuchtung (φωτισμός/phōtismós) und Vollendung (τελείωσις/teleíōsis) nennt. Dass man sie transkulturell in der Mystik verschiedener Religionen erkennen kann, ist die These von Keller, Christliche Mystik. Wenn wir uns an diesen drei Stufen orientieren, so teilen wir nicht die These, es gäbe eine gleichbleibende mystische Erfahrung jenseits ihrer geschichtlichen Ausprägungen.

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

Realität und seine Vereinigung mit Gott. Diese drei Stufen begegnen in kulturell variabler Form. In Röm 6–8 werden sie mit Hilfe einer Bilderkette mit Metaphern von Tod und Leben und von drei Rollen im antiken Haus dargestellt. Wir erin­ nern an sie in einer Übersicht: Tab. 13: Familiäre Rollen des Oikos als Erlösungsbilder 6,1–11

Sklaven 6,12–23

Ehefrau 7,1–6

Sohn 8,3–17

Tod des

Freiheit von der Sünde

Freiheit vom Gesetz

Freiheit von der Vergänglichkeit

Geburt der

alten ­ Menschen

Erlösung als Herrenwechsel

Erlösung als zweite Ehe

Erlösung als Adoption

Kinder Gottes

6,6

Kampf: Waffen und Sold

Kampf: Konflikt und Gefangenschaft

Kampf: Feindschaft

8,21.23

8,18–30

Besonders der Anfang und das Ende der Erlösungsbilder in Röm 6–8 zielen auf eine Christusmystik. Das einleitende Bild vom Sterben des alten Menschen und seinem Eintritt in ein Leben „wie aus den Toten“ stellt eine mystische Erfahrung als Befreiung des Menschen von dieser „Welt“ oder als Zusammenbruch der erlernten Welt- und Lebensdeutung dar. Es handelt sich um eine „Deautomatisierung“73 all dessen, was wir durch Sozialisation gelernt haben, um unsere Welt zu ordnen, zu deuten und Entscheidungen in ihr zu treffen. Dieser Zusammenbruch ist etwas Destruktives. Mystiker erleben ihn als Absterben von der Welt, sprechen von einem Weg in die Wüste oder einer purificatio. 6,1–11 spricht von solch einem symbolischen Tod in der Taufe. Es ist ein Tod in drei Schritten, die im Text als Kreuzigung des alten Menschen (6,6), als Sterben mit Christus (6,8) und als Begräbnis mit ihm (6,4) erscheinen. Die Metapher der „Kreuzigung“ sagt: Der Getaufte hat die Strafe für seine Sünden hinter sich – denn Kreuzigung ist eine Strafe. Deshalb kann Paulus in Anwendung eines jüdischen Rechtssatz in 6,7 sagen: „Wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde“, oder wörtlich übersetzt: „Er ist gerecht gesprochen von der Sünde“. Das Todesurteil liegt hinter ihm. Gekreuzigt wurde der „alte Mensch“. All das ist eine innere Erfahrung. Dieser Übergang vom „alten Menschen“ zu einem neuen Menschen ist ein psychomythischer Parallismus zum Kontrast zwischen Adam und Christus. Was in der großen Geschichte geschehen ist, wiederholt sich in jedem einzelnen Menschen. 73 Holm, Religionspsychologie, 57–75.

Heil durch Verwandlung und Befreiung vom Gesetz(Röm 6,1–8,39)

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Adam, der „alte Mensch“, wird in jedem Menschen gekreuzigt (6,6) und dafür ein „neuer Mensch“ in „Neuheit des Lebens“ geschaffen. Die Taufsymbolik weist also auf die erste Stufe, die purificatio, als Absage an die Welt. Der purificatio folgt eine illuminatio. Eine solche Erleuchtung wird im dritten Bild der Adoption dargestellt. Der zum Sohn Gottes adoptierte Christ begegnet in seinem Geiste dem Geist Gottes, der eine neue Verwandtschaft mit Gott schafft, so dass er sagen kann: „Abba, Vater“ (8,15). Der Mensch wird hier durch Gottes Geist erleuchtet. Man kann das so deuten: Das „Ich“ erlebt eine Freiheit von jener zufälligen und begrenzten Welt, in die es durch Sozialisation hineingeraten ist. Das ist in sich etwas Positives. Aber im mystischen Erleben kommt der Mensch darüber hinaus in Kontakt mit einer göttlichen Realität, die auf ihn einen verwandelnden Sog ausübt: Paulus spricht von einer schon geschehenen „Verherrlichung“ im Aorist (8,30). Sie entspricht der illuminatio, wie sie Mystiker als positiven Umschlag erfahren, nachdem sie den Weg in die Wüste gegangen sind. Diese Erleuchtung verändert den Menschen. In enger Verbindung mit Jesu Kreuz und Auferstehung wird er ein neuer Mensch. Er ist dem Gesetz gestorben und Christus lebt an seiner Stelle in ihm. Die Deautomatisierung des Welterlebens führt so zu einer Dezentrierung der Person.74 Diese De-zentrierung ist zugleich eine Re-zentrierung: Ein neues Subjekt wird zum Zentrum seines Lebens. Wenn sich der Mensch aus allen irdischen Bindungen innerlich gelöst hat, erfährt er den Geist Gottes und das Wort Gottes als schöpferische Kraft, die ex nihilo neu schafft. Der dritte Schritt nach purificatio und illuminatio ist die unio mystica, in der die Unterschiede zwischen Gott und Mensch aufgehoben werden. Sie wird im abschließenden Hymnus auf die Liebe Gottes in 8,31–39 dargestellt. Über eine Deautomatisierung kulturell erlernter Interpretationsmuster hinaus geschieht dabei eine Deaktivierung ererbter kognitiver Strukturen, die sich in jedem Menschen aufgrund einer langen Evolution entwickelt haben: Die Ordnung von Raum und Zeit, von Ich und Nicht-Ich, von Sein und Nichtsein, von Leben und Tod wird aufgehoben. Paulus spricht von diesen fundamentalen Kategorien des Welterlebens wie von mythischen Mächten (8,31–39).75 Hier werden nicht nur kulturell erlernte Strukturen der gedeuteten Welt aufgehoben, sondern Kategorien, die jeder Strukturierung der Welt zugrunde liegen. Es folgt nicht nur ein Rückgang auf die Zeit vor der Sozialisation, sondern auf die Zeit vor der Schöpfung, bevor Zeit und Raum entstanden sind, bevor Leben und Tod existierten. Paulus erlebt in dieser Mystik aber keine Selbstauflösung des Ich in Gott, keine Entleerung des Bewusstseins von allem, sondern die „Liebe Gottes in Christus Jesus unserem 74 Von „Dezentrierung des Ich“ spricht Vollenweider, Großer Tod, 223. 75 Ähnlich werden in 1Kor 3,22 f zunächst Bindungen an Menschen deaktiviert: Weder Paulus noch Apollos noch Kephas haben Macht über die Christen. Dann folgt eine Verallgemeinerung: Dasselbe gilt von der Welt, von Leben und Tod, von Gegenwart und Zukunft.

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

Herrn“ (8,39). Diese Liebe lässt ihn an Gott als einer Realität jenseits von Tod und Leben, von Raum und Zeit partizipieren. Die Verwandlungslehre konzentriert sich auf die Frage, wie sich der ganze Mensch auf Gott ausrichten kann. Wie kann er die Sünde in sich überwinden? Die Christusmystik ist die Antwort auf diese Frage. Nur der durch die Taufe erneuerte Mensch entspricht Gottes Willen. Diese anthropologische Dimension der Erlösung wird in Röm 6–8 zum zentralen Punkt. Paulus analysiert scharfsinnig die Spaltung des Menschen, den Verlust seiner Ganzheit (7,14–25). Die Spaltung zerreißt ihn. Paulus bringt diese innere Spaltung in 7,25 auf den Punkt: „Nun diene ich mit dem Verstand dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde“. Aber die verlorene Übereinstimmung mit sich selbst wird wiederhergestellt: Die Christen werden gleich sein dem Bild des Sohnes Gottes (8,29). Sie werden mit ihm „verherrlicht“ (8,17.30). Die „Herrlichkeit Gottes“, die ihnen als Sündern fehlte (3,23), wird ihnen zurückgegeben. Christusmystik sagt: Der ganze Mensch wird erlöst und transformiert. Die Universalität des Heils ist dagegen in Röm 6–8 meist nur implizit im Blick. Paulus argumentiert hier mit allgemein menschlichen Bildern des Hauses: Sklave, Frau und Sohn. Er vermeidet alttestamentliche Zitate, rekurriert nur indirekt auf Adam, den Stammvater aller Menschen. Nach dessen Modell wird das Ich in Röm 7 dargestellt. Auf seinen Sündenfall wird ferner in 8,20 angespielt, wenn Paulus sagt, dass die Schöpfung gegen ihren Willen der Vergänglichkeit unterworfen wurde. Die Universalität des Heils bricht dann aber explizit vor allem in Röm 8 durch. Die ganze Schöpfung sehnt sich nach Erlösung: „Denn das ängstliche Harren der Schöpfung wartet darauf, dass die Söhne Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja der Vergänglichkeit unterworfen – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat  –, doch auf Hoffnung: Denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstigt“ (8,19–22). Wenn die Schöpfung zur Freiheit der Kinder Gottes befreit wird, wird sie alle Menschen umfassen.76 Am Ende bleibt die Frage: Können alle Menschen durch diese Christusmystik erfasst werden? Gilt sie nur für die „Erwählten“, die Gott ausersehen und vorherbestimmt hat (8,29 f)? Paulus benutzt in seinem Hymnus auf die Liebe Gottes zum ersten Mal den Begriff der Erwählten: „Wer will die Erwählten Gottes 76 Meint „Schöpfung“ (κτίσις/ktísis) in 8,19–22 die außermenschliche Schöpfung? Nur sie wurde unfreiwillig der Nichtigkeit unterworfen (8,20), alle Menschen wurden dagegen aufgrund ihrer Gedanken „nichtig“ (1,21). Holtz, Gott, 37–40, plädiert für einen Einschluss aller (nicht-christlichen) Menschen (vgl. besonders 8,21), Wolter, Paulus, 509, sogar für den Einschluss der außermenschlichen Natur. Ob Paulus wirklich daran denkt, dass Steine, Bäume und Tiere sich in befreite Menschen verwandeln? Das ist unwahrscheinlich.

Heil durch Erwählung vor jedem Gesetz(Röm 9,1–11,36)

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beschuldigen?“ (8,33, vgl. 16,13). Sofort stellt sich die Frage: Ist nicht vor allem Israel „erwählt“? Wenn nur getaufte Christen zum Heil bestimmt sind, was ist dann mit den Juden, die nicht getauft sind?

5.4 Heil durch Erwählung vor jedem Gesetz: Die Überwindung sozialer Abgrenzung (Röm 9,1–11,36) Dieses Dilemma führt zum vierten Bild des Heils: Heil ist in Erwählung begründet. Israel ist erwählt, aber der Glaube an seine Erwählung wird durch den Unglauben Israels erschüttert. Nach dem Hymnus über die Liebe Gottes, die in einer mystischen Einheit mit dieser Liebe mündet, reißt Paulus in Widerspruch dazu erneut einen unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch auf: Vor Gott ist der Mensch wie ein Tongefäß in der Hand des Töpfers. Gott kann es zum Gebrauch auswählen oder als unnütz verwerfen. Ebenso hat Gott Menschen vor ihrer Geburt zum Heil oder Unheil bestimmt. Diese gemina praedestinatio (die „doppelte Erwählung“ zu Heil und Unheil) wird in direkter Gottesrede verkündigt: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber habe ich gehasst“ (9,13). Paulus musste das so verstehen: Erwählt sind Juden als Nachfahren Jakobs, verworfen die Nachfahren Esaus, zu denen man damals die Araber zählte.77 Bricht hier bei Paulus also erneut der ethnozentrische Glaube durch, dass nur Israel erwählt ist, nicht aber die Nachfahren Esaus, die Nabatäer und Araber? Aber gerade unter den Nabatäern in Arabien hatte Paulus seine Mission der Völker begonnen (Gal 1,17). Hatte er sich damals bewusst denen zugewandt, die er einst als nichterwählt betrachtet hatte? Zielt auch Röm 9–11 nicht auf die Erwählung eines einzigen Volkes, sondern auf eine neue Menschheit, die alle Völker umfasst? Genau das ist unsere These. Paulus überwindet in Röm 9–11 den Ethnozentrismus seines Glaubens. Möglich wird das durch ein radikalisiertes Gnadenverständnis, das über alles vorher im Römerbrief Gesagte hinausgeht. Es kommt erst in Blick, wenn man mit verschiedenen und widersprüchlichen Heilskonzepten bei Paulus in ein und demselben Brief rechnet.

5.4.1 Gnade als paradoxes Erwählen und Erbarmen Gottes Der Begriff „Erwählung“ begegnet in Röm 9–11 viermal (9,11; 11,5.7.28) und steht immer in Gegensatz zum Verwerfen. Daneben begegnet als zweiter Heilsbegriff, das „Erbarmen“ Gottes: ἔλεος und ἐλεεῖν (éleos und eleeín) in 9,15.16.18.23, mit 77 Esau gilt als Stammvater der Araber. Esau steht für Edom (Jer 49,8.10; Ob 6; Mal 1,2 f). Die Nachfolger der Edomiter sind die Nabatäer, die zu den Arabern gehörten. Wenn Paulus in der Nabatäa missionierte, spricht er von „Arabien“ (Gal 1,17).

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

dessen Hilfe Paulus am Ende seine Gedanken in einer universalen Aussage zusammenfasst: „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (11,32). Erwählen und Erbarmen stehen in Spannung zueinander. Das begründet die Dramatik dieses Heilskonzepts. Es besteht auch kein Zweifel, was sich am Ende durchsetzt: Paulus greift auf die Selbstoffenbarung Gottes als Barmherzigen in 9,15 zurück: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (Ex 33,19LXX). Gott ist für ihn in seinem Wesen Barmherzigkeit.78 Sein Erbarmen wird sich am Ende durchsetzen. Unter Berufung darauf entfaltet Paulus in Röm 9–11 seine radikalste Heilslehre. Die Rechtfertigung, von der er in 3,21–5,21 sprach, gilt Menschen, die in ihrem Leben gesündigt haben, die Erwählung aber gilt Menschen vor ihrer Geburt, ehe sie „Gutes noch Böses getan hatten“ (9,11). Gott hält an dieser vorzeitlichen Erwählung fest, auch wenn sich die Erwählten gegen seinen Willen stellen: „Denn unwiderruflich sind Gnadengaben und Berufung, die Gott gewährt“ (11,29). Die Inkongruenz der Gnade wird hier bis ins Paradoxe gesteigert: Sie gilt nicht nur denen, die trotz ihrer Sünden gerechtfertigt werden, sondern sogar denen, die das Angebot ihrer Rechtfertigung abgelehnt haben und „um des Evangeliums willen Feinde Gottes“ sind (11,28). In den drei Heilskonzepten, die Paulus für die christliche Gemeinde entwirft, fällt jeweils ein besonderer Akzent auf je einen Begriff: Gerechtigkeit, Liebe und Erbarmen. Die sich durchsetzende „Gerechtigkeit“ ist das Thema in 3,21–5,21, sie wird programmatisch am Anfang in 3,21 genannt und zusammenfassend in 5,17.21 hervorgehoben. Hier geht es um die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes für Sünder und Heiden. Auf die Vereinigung mit der „Liebe“ Gottes zielt die Verwandlung des ganzen Menschen, durch die der Mensch der Herrschaft von Sünde, Gesetz und Vergänglichkeit entrissen wird. Liebe ist immer Vorzugsliebe. Sie konzentriert sich auf wenige. Mit einem Hymnus auf die Liebe schließt der Abschnitt über die Verwandlung des Menschen (8,31–39). Umgekehrt umfasst das „Erbarmen“ Gottes alle Menschen. Denn im Begriff des Erbarmens ist immer mitgedacht, dass es Menschen gilt, die dieses Erbarmen nicht verdienen. Darin sind alle Menschen gleich, Erwählte und Nichterwählte. Daher schließt das letzte und radikalste Heilskonzept mit einer Aussage über das universale Erbarmen Gottes (11,30–32). Je radikaler der Gnadenbegriff ist, umso radikaler wird freililch auch die Störung der Gottesbeziehung gedacht.

78 In Ex 33,19 offenbart sich Gott als Barmherzigkeit. In Röm 9,15 kann man diese Aussage nicht im Sinne einer universalen Gnade deuten. Die Offenbarung an Mose kontrastiert ja in 9,17 mit der Verstockung des Pharao. Erbarmen bezeichnet hier nur die eine Seite von Gottes Handeln. Zu beachten ist jedoch: Auch der Pharao wird nicht zur Vernichtung bestimmt, sondern zum „Gebrauch“: Er soll dazu dienen, Gottes Namen universal zu verkünden. Erst am Ende in 11,32 setzt sich das Erbarmen Gottes in seinem Handeln universal für alle Menschen durch.

Heil durch Erwählung vor jedem Gesetz(Röm 9,1–11,36)

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5.4.2 Sünde als Beziehungsstörung und Leid Die Störung der Gottesbeziehung besteht in Röm 9–11 darin, dass die Erwählten Gottes sein Evangelium verwerfen. Um des Evangeliums willen sind Juden Feinde Gottes geworden, um der Väter willen sind sie aber unwiderrufbar geliebt „aufgrund von Erwählung (κατὰ δὲ τὴν ἐκλογήν/katá dé tē´n eklogē´n)“ (11,28). In der Regel begründet Erwählungsgewissheit ein elitäres Heilsverständnis. Eine Minderheit ist erwählt, die anderen sind verworfen. Aber Paulus macht gerade diese Lehre zur Grundlage einer universalistischen Heilslehre. Das ist seine große Leistung in Röm 9–11. Paulus problematisiert den Gedanken einer irreversiblen Erwählung schon in Röm 9. Er fragt: Warum beschuldigt Gott uns wegen unseres Unglaubens und unseres Fehlverhaltens, wenn er willkürlich die einen erwählt und die anderen verwirft (9,19)? Eine erste Antwort gibt Paulus im Töpfergleichnis: Ein Töpfer macht aus demselben Ton Gefäße für verschiedenen Gebrauch oder verwirft sie als unbrauchbar. Dabei ist vorausgesetzt, dass schlechte Gefäße irreversibel schlecht sind. Gebrannte Tongefäße können nicht mehr verändert und verbessert werden. Das ist anders im Ölbaumbild, mit dem Paulus später das Töpferbild korrigiert. Doch sagt das Töpferbild durch drei kleine Akzente mehr, als es auf den ersten Blick ausdrücklich sagt. In diesem Bild ist „Erwählung“ nicht Selektion unter bereits existierenden Töpfen, sondern deren Erschaffung. Auch Israel wurde nicht nur „ausgewählt“, sondern es wurde von Gott geschaffen und ist weiterhin sein Geschöpf.79 Ein zweiter Akzent ist: Je besser ein Töpfer ist, desto weniger Ausschussware produziert er. Da man sich Gott als guten Handwerker vorstellen darf, enthält das Bild die Botschaft, dass Gott brauchbare Ware herstellen will. Gottes eigentliche Intention ist folglich Heil, nicht Unheil. Ein dritter Akzent wird durch die Zweideutigkeit des Bildes gesetzt. Die missratenen Gefäße sind einerseits Gefäße für einen unehrenhaften Gebrauch, andererseits Gefäße, die zur Vernichtung bestimmt sind. Bei der Auswertung des Bildes hebt Paulus aber nur hervor, dass Gott missratene Gefäße erträgt. Die zur Vernichtung bestimmten Gefäße sollen sogar indirekt Gottes Barmherzigkeit­ bezeugen. Das Töpfergleichnis sagt somit als Bild weit mehr, als Paulus explizit zur doppelten Prädestination sagt: Ein Töpfer schafft etwas Neues, will gelungene Ware herstellen, erträgt auch missratene Gefäße. Das Bild sendet die Botschaft: Die Erwählung zum Heil ist Gottes eigentliche Intention. Das ist die erste Antwort des Paulus auf die irritierende Vorstellung einer doppelten Prädestination. 79 Gaventa, Calling-Into-Being.

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Eine zweite Antwort gibt Paulus durch Kombination von Schriftstellen, in denen Gott in der ersten Person Singular spricht.80 Er sagt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (9,15 = Ex 33,19LXX). Er verkündigt, dass er seine Erwählung revidiert: „Ich will das mein Volk nennen, das nicht mein Volk war, und meine Geliebte, die nicht meine Geliebte war “ (9,25 = Hos 2,25). „Und es soll geschehen: Anstatt dass zu ihnen gesagt wurde: ‚Ihr seid nicht mein Volk‘, sollen sie ‚Kinder des lebendigen Gottes genannt werden‘“ (9,26 = Hos 2,1LXX). Vorher ist Jakob der Geliebte gewesen, Esau der Verhasste. Für beide gilt jetzt dagegen: Gott macht auch die, die er einst nicht geliebt hat, zu seinen geliebten Kindern. Auch Esau und seine Nachfahren können erwählt werden. Paulus legt hier das Fundament für den Gedanken, dass Gott so souverän ist, sich aller Menschen zu erbarmen, auch derer, die einst seine Feinde waren. Warum hat aber das erwählte Israel weithin das Ziel verfehlt? Warum kam nur ein Rest, die Judenchristen, zum Glauben? Die Antwort in 9,30–33 rehabilitiert Israel: Erwählung verpflichtet nach alttestamentlichem Glauben, dass man durch das Tun der Gebote im Bund bleibt. Israel hatte eine gute Absicht; es war der Meinung, „wie durch Werke“ zum Ziel des Gesetzes zu gelangen. Aber es verkannte, dass Erwählung unabhängig von allem Tun geschieht (9,11) und allein auf der Barmherzigkeit Gottes beruht (9,15). Ihr wird nur der „Glaube“ gerecht. Und diesen Glauben verweigerte Israel, als Gott Christus in Zion zum Stein des Anstoßes und Felsen des Ärgernisses machte. Israel ist daran „angestoßen“. Es ist trotzdem nicht zu Fall gekommen, sondern, wie Paulus später sagt, nur gestrauchelt (11,11). In Röm 10 stellt Paulus dann klar, dass es für alle Menschen in der Gegenwart eine neue Chance gibt: Gott bietet weiterhin das Evangelium an. Er erwartet zwar Gesetzeserfüllung durch Tun des Menschen (10,5), aber da auf diesem Weg niemand zum Ziel kommt, bietet er den Glauben als Zustimmung zum Tun Gottes als Weg zum Heil an. Der Glaube ist dabei weniger Bedingung des Heils als die Art und Weise, wie sich das Heil im Menschen realisiert. Gott wird durch sein Wort im Menschen präsent und schafft in seinem Herzen Heilsgewissheit. Dieses Heil wird allen angeboten: „Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen“ (10,12). Das ist universalistisch gedacht. Paulus muss dann aber noch einmal seine Gedanken korrigieren. Israel nahm nicht nur in der Vergangenheit Anstoß am Gekreuzigten, sondern lehnt auch in der Gegenwart dessen Verkündigung ab. Paulus lässt Gott selbst darüber klagen: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt nach dem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht“ (10,21 = Jes 65,2LXX). Das Angebot des Evangeliums bleibt dennoch bestehen. Aber es vergrößert das Dilemma des Paulus: 80 Vgl. Hübner, Gottes Ich, 15–126: Paulus hat aus der Schrift gerade Stellen mit einem „Ich Gottes“ ausgewählt. Man kann dieses betonte „Ich Gottes“ ein Ego-divinum nennen. Paulus führt in Röm 9–11 einen intensiven Dialog mit Gott, der ihm als „Ich“ gegenübertritt.

Heil durch Erwählung vor jedem Gesetz(Röm 9,1–11,36)

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Wenn nur wenige in Israel dieses Angebot annehmen, sind dann nicht die meisten in Israel verworfen, weil sie auch die durch Kreuz und Auferstehung erneuerte Botschaft nicht annehmen? In 11,1 f widerspricht Paulus dieser Ansicht. Israel kann nicht verworfen sein. Denn auch er ist ein Israelit. Auch er hat zunächst die Botschaft abgelehnt und ist trotzdem ihr Anhänger geworden. Er war zeitweilig verblendet. Die Verstockung Israels deutet er jetzt als eine zeitweilige Betäubung, die einen tieferen Sinn hat: Weil Israel das Evangelium abgelehnt hatte, konnte es allen Völkern gepredigt werden. Dass Heiden durch die Mission des Paulus zum Glauben gekommen sind, reizt rückwirkend wiederum einige in Israel zum Glauben. Das Fazit seiner Überlegungen ist: Paulus radikalisiert den Erwählungsgedanken durch das Motiv des Erbarmens so, dass er Gottes Zuwendung unabhängig vom Verhalten der Menschen macht. „Ganz Israel wird so gerettet“ (11,26). Dann werden Jakob (= Israel) seine Sünden vergeben werden (11,27b = Jes 27,9). Die Sünde Israels ist also die Ablehnung der Erwählung durch die Erwählten selbst. Sie bedeutet für Paulus Leid. Er ist verzweifelt, weil Israel seine Botschaft ablehnt, und will lieber verflucht als von Israel getrennt sein (9,3). Dieser Schatten, der sein Leben verdunkelt, wird noch dunkler, weil Paulus damit die Privilegien Israels kontrastiert. Er zählt sie in zwei parallelen Reihen auf. Zu ihnen gehören „die Sohnschaft (υἱοθεσία/hyiothesía) und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und die Gesetzgebung (νομοθεσία/nomothesía) und der Gottesdienst und die Verheißungen (9,4)“.81 Umrahmt wird die Reihe durch die leibliche Verwandtschaft, die Paulus mit Israel verbindet. Die Israeliten und der Messias sind seine Verwandten κατὰ σάρκα/katá sárka. Alle Aussagen über die Privilegien Israels sind damit auch indirekt Aussagen des Paulus über sich selbst. Was er als Privilegien Israels aufzählt, hat er sich zum Teil in Phil 3,4–6 persönlich zugerechnet. Wenn das Bild von Israel in dieser Einleitung (9,1–5) von tiefer Ambivalenz geprägt ist, so ist auch Paulus gespalten: Israel steht einerseits unter einem Fluch, andererseits unter dem Segen seiner Vorrechte. Dem korrespondiert das Selbstbild des Paulus: Auf der einen Seite ist sein Herz erfüllt von „großer Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass“ (9,2), auf der anderen preist er wegen Israels Privilegien den, „der da ist Gott über alles, gelobt sei er in Ewigkeit. Amen“ (9,5). Man kann wegen dieser Einleitung Röm 9 insgesamt als Klage über das Leid des Paulus lesen. Eine Spaltung geht durch Israel und durch ihn hindurch. Israel gehört sowohl zu den auserwählten „Gefäßen“ als auch zu den „Gefäßen des Zorns“ 81 Je zwei Glieder sind formal verwandt: Sohnschaft und Gesetzgebung durch die Endung -thesía (in υἱοθεσία/hyiothesía und νομοθεσία/nomothesía), Herrlichkeit und Gottesdienst durch den Singular, Bundesschlüsse und Verheißungen durch den Plural. Auf den mittleren Gliedern liegt ein besonderer Akzent. Die Herrlichkeit ging verloren, als sich die Menschen von der Verehrung Gottes abwandten (1,23). Sie fehlt allen Menschen in der Gegenwart (3,23). Aber jetzt kommt ein neuer Gottesdienst in Sicht (12,1–2; 15,7–13; 15,16). In ihm wird die „Herrlichkeit“ Gottes wieder hergestellt, wenn sich Menschen gegenseitig akzeptieren (15,7).

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(9,22 f). Israel wurde durch eine Katastrophe getroffen. Nur ein kleiner Rest wurde gerettet, die Judenchristen. Ohne diesen Rest wäre es Israel wie Sodom und Gomorra ergangen (9,29 = Jes 1,9LXX). Die Situation schreit danach, dass sie gewendet wird. Daher ist es konsequent, wenn Paulus in 10,1 als Fürbitter für Israel auftritt. Im Israelteil ist das Leid an erster Stelle Trauer über Israels Geschick, aber es ist an zweiter Stelle auch Folge der Taten, die aus der Ablehnung des Evangeliums durch Israel folgen. Auch diese Dimension der Sünde als unmoralische Tat gibt es.

5.4.3 Sünde als unmoralische Tat Im Israelteil wird Israel Ungehorsam vorgeworfen (10,16; 11,30 f), den Paulus auf Betäubung (11,8) und Verstockung (11,7.25) zurückführt: Ihre Sünde ist Ablehnung des Evangeliums. Juden verfolgen die Verkünder des Evangeliums. Paulus fürchtet um sein Leben. Seine Gegner wollen ihn umbringen, obwohl er in der Rolle des Freudenboten Erlösung für Zion bringt (10,15). Paulus vergleicht sich deshalb mit Elia, der in Todesgefahr die Offenbarung erhalten hatte, dass sehr viel mehr in Israel treu geblieben seien, als er glaubte (11,2–6). Darüber hinaus könnte er mit dem Rückgriff auf Elia auch dessen Gegensatz zu Ahab und Isebel ansprechen, also einen politischen Konflikt. Denn auch Paulus muss wie Elia gegen politisch bedingten Widerstand seine Botschaft ausrichten. Die Anspielung auf die gegenwärtige Abhängigkeit Israels in 11,10: „Und ihren Rücken beuge allezeit!“ weist in diese Richtung, ist aber allzu vage.

5.4.4 Sünde als Gesetzillusion Paulus wirft Israel aber nicht an erster Stelle unmoralische Taten vor. Wenn er verheißt, dass einmal der Erlöser von Israel „alle Gottlosigkeit abwenden“ und „ihre Sünden“ wegnehmen wird (11,26 f = Jes 59,20 f; Jer 31,33 f; Jes 27,9), meint er weniger Gesetzesverstöße als die Ablehnung des Evangeliums. Paulus bescheinigt ihnen, dass sie „ohne Einsicht“ aus Überzeugung handeln (10,2). Er sieht einen objektiven Konflikt zwischen ihrer Intention und dem, was sie bewirken: Sie „trachten nach dem Gesetz der Gerechtigkeit“, erreichen es aber nicht (9,31). Deshalb betet Paulus in 10,1 f für Israel: „Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott (ζῆλον θεοῦ/zē´lon theoú) haben, aber ohne Einsicht“. Paulus tritt als Entlastungszeuge für Israel auf.82 Die Israeliten eifern blind für Gott, suchen ihre „eigene Gerechtigkeit“, nicht die Gerechtigkeit Gottes (10,3). Wieder ist sein 82 Im Hintergrund dürfte als Modell wieder Mose stehen. Dafür spricht, dass von Mose in 10,5 direkt die Rede ist.

Heil durch Erwählung vor jedem Gesetz(Röm 9,1–11,36)

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Bild von Israel durch persönliche Erfahrungen geprägt. Auch Paulus war einmal von blindem „Eifer“ ergriffen (Phil 3,6), auch er hatte erfahren, dass die Gerechtigkeit „aus Gott“ seiner eigenen Gerechtigkeit entgegengesetzt ist (Phil 3,9). Auch sein Modell von Gerechtigkeit hat zwei Dimensionen, eine theologische und eine soziale: Seine eigene Gerechtigkeit steht theologisch in Gegensatz zur Gerechtigkeit Gottes (oder der Gerechtigkeit „aus Gott“, Phil 3,9), sie ist gleichzeitig die Gerechtigkeit eines stolzen Israeliten, der sich gegenüber anderen Völkern seiner Besonderheit bewusst ist. Die „eigene Gerechtigkeit“, die Israel sucht, ist sowohl der Gerechtigkeit Gottes entgegengesetzt als auch der Gerechtigkeit, die das Evangelium allen Völkern bringen will. Die Parallelität der Aussagen in 10,1–5 mit Phil 3,2–11 zeigt: Wieder kann man Aussagen über Israel auch auf Paulus beziehen.83 Dass das Heil nicht durch Werke erworben werden kann, ist innerhalb eines Heilskonzepts, in dem die Erwählung im Zentrum steht, von vornherein klar: Wenn Gott schon, „ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten“ (9,11), den einen erwählt, den anderen verworfen hat und daher das Heil „nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ liegt (9,16), dann ist es eine Illusion zu meinen, Menschen könnten sich durch ihr Handeln ihr Heil verschaffen. Es ist eine Selbsttäuschung, „die Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben zu suchen, sondern so, als komme sie aus den Werken“ (9,32). Die Existenzorientierung am Gesetz ist hier von vornherein ein Irrweg. Sie wird auch nicht erst dadurch ein Irrweg, dass Israel an Christus als Stein des Ärgernisses Anstoß genommen hat. Das Erwählen und Verwerfen Gottes geht ja all dem voran. Wenn Heil allein in der Erwählung Gottes begründet ist, war das Gesetz zu keinem Zeitpunkt für das Heil entscheidend. Innerhalb des paulinischen Erwählungsglaubens kann das Gesetz deshalb kein „Ende“ finden, weil es zuvor nie eine heilsvermittelnde Instanz gewesen ist – es konnte nur die Illusion erzeugen, man könne durch Werke zum Ziel gelangen. Denn über das Heil wird in diesem Rahmen vor jedem Gesetz und unabhängig von ihm entschieden. Im Rahmen der Gesetzesfrömmigkeit seiner vorchristlichen Zeit geschieht das Heil dagegen mit dem Gesetz, indem der Mensch es erfüllt. Deswegen musste Paulus in Röm 1,18–3,20 nachweisen, dass alle Menschen die Forderungen des Gesetzes kennen, aber nicht halten. Im Rahmen der Gesetzesfrömmigkeit wäre daher ein Ende des Gesetzes unvorstellbar – allenfalls könnte es als von außen kommende Forderung ein Ende finden, wenn Menschen spontan das tun, was das Gesetz fordert. Im Rahmen der Rechtfertigungshoffnung nach der Bekehrung des Paulus geschieht das Heil ohne Gesetz, da es ohne Gesetz weder Übertretung noch Ver 83 Wilckens, EKK 6/2, 221: „Daß Phil 3,9 die nächste Parallele zu Röm 10,3 ist, liegt auf der Hand“. Wilckens hebt als Unterschied hervor, in Phil 3 gehe es um eine persönliche Bekehrung, in Röm 10 um eine Änderung der objektiven Heilsordnung.

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urteilung gibt (4,15; 5,13). Hier kann eine Sehnsucht nach einem „Ende des Gesetzes“ als Sehnsucht nach einer Verwandlung des Gerichts in Liebe und Versöhnung entstehen, bei dem das Gesetz keine Rolle mehr spielt. Da der erste Adam nicht mit dem Gesetz konfrontiert war (5,13 f), müsste auch der neue Adam ohne Gesetz leben können. Im Rahmen der Rechtfertigungslehre wäre daher der Gedanke eines „Endes“ des Gesetzes plausibel. Dieser Gedanke wird in Gal 3,19–4,7 auch tatsächlich entwickelt. Das Gesetz ist hier ein „Aufpasser“ (ein παιδαγωγός/paidagōgós) auf Christus hin (Gal 3,25). Es ist nicht mehr nötig, wenn der Mensch mündig ist. Es hat damit sein Ziel erfüllt und findet somit ein Ende. Von einem Ende des Gesetzes könnte man auch im Rahmen der Verwandlungslehre sprechen. Im Bild von der Ehe (7,1–6) wird die Frau vom „Gesetz des Mannes“ durch dessen Tod frei. Das Gesetz spaltet sich aber dann in zwei Gesetze auf. Das Gesetz des Todes findet ein Ende, das Gesetz des Lebens aber existiert weiterhin für den erneuerten Christen. Die Befreiung vom Gesetz ist nur eine Befreiung vom Gesetz des Buchstabens und des Todes. Die Verwandlung entreißt den Menschen der widergöttlichen Macht des Gesetzes nur, sofern das Gesetz Buchstabe und nicht Geist ist. In Röm 9–11 geht es aber weder um eine Gerechtigkeit mit dem Gesetz, noch um eine Rechtfertigung ohne Gesetz, nicht um eine Befreiung vom Gesetz, sondern um ein Heil vor jedem Gesetz. Ein in der urzeitlichen Erwählung begründetes Heil ist das Ende jedes blinden „Konkurrenz-Eifers“ auf dem Weg zum Gesetz.84 Wenn das Heil in Schöpfung und Erwählung begründet ist, stellt sich nur die Frage, wer erwählt ist und wie die Erwählten dessen gewiss werden können. Für Paulus geschieht diese Offenbarung in Christus. Auf diese Offenbarung zielt das Gesetz. Christus ist daher in diesem Rahmen das „Ziel“ des Gesetzes. Auf ihn hin deuten alle Weissagungen, Hoffnungen und Forderungen. 10,4 ist daher zu übersetzen: „Ziel des Gesetzes ist Christus“, nicht: „Ende des Gesetzes ist Christus“.85 Dennoch bleibt eine Zweideutigkeit. Denn Christus kann nicht in genau derselben Weise „Ziel“ des Gesetzes für Juden- und Heidenchristen sein. Heiden gelangten erst durch Christus zum Gesetz, das im Liebesgebot erfüllt ist (Gal 5,14; Röm 13,8–10). Jetzt erst konnten sie ihr „Ziel“ erkennen. Für Heidenchristen scheidet die Übersetzung von τέλος/télos mit „Ende“ aus, es sei denn, man denkt an die wenigen rituellen Gesetzesforderungen, die für sie nicht mehr gelten. Das wären dann nur Gesetze, die Juden und Heiden trennten, nicht aber das Gesetz überhaupt. 84 Jewett, Hermeneia, 619: „The words, ‚For Christ is the goal of the law‘, serve to explain the misunderstanding about the purpose of the law manifest in the phenomenon of competitive zeal, not to summarize Paul’s doctrine of freedom from the law and justification by faith alone“. Jewett deutet hier u. E. mit Recht an, dass von einem Ende des Gesetzes im Rahmen eines anderen Heilskonzepts (dem der Rechtfertigung) gesprochen werden könnte. 85 Vgl. die Einzelargumente in Kapitel 6.2.3 im Exkurs 12 zu dieser Frage.

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Für Juden muss „Ziel“ dagegen eine andere Bedeutung haben. Denn das Gesetz war immer ihr Ziel gewesen, sie wussten nur nicht, dass in Wirklichkeit Christus dieses Ziel ist, insofern das Gesetz auf Christus weist und in ihm in Erfüllung geht. Für Judenchristen war Christus daher allenfalls das Ende eines verfehlten „Eifers“ um das Gesetz, nicht aber das Ende des Gesetzes überhaupt. Auch wenn das Gesetz für Heiden- und Judenchristen Verschiedenes bedeutete, ist das Gesetz für beide Gruppen ein „Ziel“, insofern im Gesetz Christus verborgen anwesend ist. Für Juden- und Heidenchristen gilt ferner übereinstimmend: Glauben und Tun sind einander entgegengesetzt. Paulus kann im Lichte des Erwählungsgedankens diesen Gegensatz so scharf betonen wie sonst nirgends: „Mose nämlich schreibt von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt: ‚Der Mensch, der das tut, wird dadurch leben‘ (Lev 18,5). Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben sagt: ‚Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?‘  – nämlich um Christus herabzuholen – oder: ‚Wer will hinab in die Tiefe fahren?‘ – nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen –, sondern was sagt sie? ‚Das Wort ist dir nah, in deinem Munde und in deinem Herzen‘ (Dtn 30,12–14). Dies ist das Wort des Glaubens, das wir predigen (10,5–8)“. Das menschliche Tun wird hier zwar nicht wie in 9,6–23 mit der Erwählung Gottes vor allen Zeiten kontrastiert, wohl aber mit einem Handeln Gottes in Räumen jenseits der menschlichen Lebenswelt. Was Gott an Christus tut und getan hat, kann kein Mensch in diesen Räumen tun: Christus aus dem Himmel holen oder von den Toten erwecken. Der Mensch kann das nur im Glauben anerkennen. Innerhalb der Erwählungslehre wird die existenzielle Fehlhaltung gegenüber dem Gesetz also noch einmal radikalisiert: Sie wird zur Gesetzesillusion, als könne man überhaupt durch menschliches Tun zum Heil gelangen, obwohl das Heil im unergründbaren Willen Gottes vor allem Tun des Menschen begründet ist. Hier trifft am ehesten die existenzialtheologische Deutung der Gesetzeskritik des Paulus zu: Das Gesetz verführt zu einer Gesetzlichkeit, mit der man das wahre Leben verfehlt. Der große Unterschied zur existenzialtheologischen Deutung aber liegt in der Begründung: Der Erwählungsgedanke geht von der Entscheidung Gottes, die Existenztheologie von der Entscheidung des Menschen aus.

5.4.5 Christus als Skandalon (Röm 9,33) Wenn Gott vor allen Zeiten die einen erwählt, die anderen verwirft – und sich in der Zeit souverän neu entscheiden kann, so besteht die Heilsbedeutung Christi vor allem darin, diesen Willen Gottes zu „offenbaren“. Auf den ersten Blick scheint im Israelteil die Christologie zurückzutreten. Aber auch in ihm begegnet Christus (1) als Skandalon in Zion (9,33), womit der Gekreuzigte gemeint ist, (2) als Auferstandener, der als Herr und Kyrios bekannt wird (10,9) und (3) als Erlöser, der

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bei seiner Parusie ganz Israel retten wird (11,26). Paulus beruft sich also auf Kreuz, Auferstehung und Parusie und spielt einmal auf die Präexistenz Christi an (10,6).

a) Das Skandalon des Kreuzes Paulus hatte schon früher eine Skandalon-Christologie in Korinth entwickelt (1Kor 1,18–31). Menschliche Weisheit meint, Gott aus der Welt zu erkennen – sei es mit den Griechen aus der Ordnung des Kosmos oder mit den Juden aus der Geschichte. Christus durchkreuzt als „Ärgernis“ solche Erwartungen: Bei Juden widerspricht das Kreuz ihren Vorstellungen von einem Gott, der mit „Zeichen“ seine „Macht“ in der Geschichte zeigt (1Kor 1,22–25). Gewiss leugnet Paulus in dieser Skandalon-Christologie nicht den Gedanken einer Erlösung durch Sühne, aber er betont sehr viel mehr einen anderen Gedanken. Dreimal spricht Paulus in 1Kor 1,27 f von der „Erwählung“ derer, die in der Welt unterlegen sind. In Röm 9–11 vertieft er diesen Erwählungsgedanken (9,11; 11,5.7.28). Und auch im Römerbrief stehen die Gedanken des Paulus in Spannung zur menschlichen Weisheit. Denn die Weisheit Gottes ist unergründlich, seine Urteile in der Geschichte versteht niemand – so wird es am Ende in 11,33–36 heißen.86 Paulus führt in 9,33 die Skandalon-Christologie mit einem Zitat von Jes 28,16 ein, in dem Gott selbst spricht: „Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses (πέτραν σκανδάλου/pétran skandálou)“. Gemeint ist der Kreuzestod Jesu in Jerusalem. An ihm nahmen Juden Anstoß, so dass sie Jesus nicht als Messias anerkannten. Wahrscheinlich hat Paulus auch Ps 68,23 fLXX (in 11,9) als Anspielung auf Christus als Skandalon verstanden. Paulus sagt hier, dass für Juden ihr Kult (= Tisch) „zum skándalon und zur Vergeltung“ wurde.87 Zumindest assoziativ greift das skándalon in 11,9 auf den Stein des Anstoßes in 9,33 zurück. Vielleicht will Paulus mit dieser Assoziation sagen: Den Juden wurde ihr Tempelkult zum Anstoß, weil Christus an die Stelle dieses Kultes getreten ist oder etwas Grundlegendes in ihm geändert hat.88 Aber die Stelle lässt sich nicht eindeutig interpretieren. 86 Barclay, Grace, arbeitet durch Vergleich mit SapSal diese Spannung heraus: „There is no correspondence between God’s action in the world and any comprehensible moral, rational, or natural order in the cosmos“ (108 f). 87 Vgl. Theissen, Kreuz. Meine Unterscheidung der beiden Deutungen des Todes Jesu wurde angeregt durch Becker, Paulus, 217–222. 88 Wilckens, EKK 6/2, 239, vermutet, dass Paulus die Aussage als „Fluch über den Tempel versteht, dessen Sühnekraft erloschen und durch die des Kreuzes Christi ersetzt worden ist“. Das Festhalten am Kult bewirke keine Entlastung, sondern nur „Vernichtung“. Käsemann, HNT, 292, bezieht den „Tisch“ auf den jüdischen Kult, ohne speziell an seine Sühnekraft zu denken. – Direkt sagt Paulus nichts von einer Ablösung des Sühnekults durch Jesu Sühnopfer. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Weg der Christusanhänger und der meisten Juden besteht bei Paulus nicht in verschiedenen Opfervorstellungen (wie im Hebräerbrief), sondern im Kontrast zwischen Glauben und Werken.

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Exkurs 10: Der jüdische Kult als Skandalon Paulus kritisiert in 11,9 f mit Hilfe von Ps 69,3 f den jüdischen Tempelkult als Skandalon. Die Argumente für diese Deutung sind: (1) Paulus kann den Begriff „Tisch“ (τράπεζα/trápeza) kultisch verstehen. Er kontrastiert in 1Kor 10,21 den antiken Opferkult als „Tisch (τράπεζα/trápeza)  der Dämonen“ mit dem „Tisch des Herrn“. So wie Paulus in 1Kor 10,21 heidnischen und christlichen Kult kontrastiert, könnte er in Röm 11,9 den jüdischen Tempelkult Christus entgegensetzen.89 (2) In 9,33 wurde der „Stein des Anstoßes“ von Gott in Zion gelegt. Falls sich in 11,9 der „Tisch“ auf den Jerusalemer Tempel bezöge, wäre auch hier an den Zion gedacht. Auf jeden Fall kommt der Erlöser am Ende aus Zion (11,26). Alle drei Stellen weisen auf Jerusalem und den Tempel: In 9,33 ist Christus selbst das Skandalon, in 11,9 ist es der jüdische Tempelkult. Beides lässt sich so zusammendenken: Weil Juden an ihrem Kult festhalten, erkennen sie nicht, dass er durch Christus verändert wurde. (3) Was war aber das Ärgernis? Nach 9,33 war Christus ein „Stein des Anstoßes (προσκόμματος/proskómmatos) und des Ärgernisses (σκανδάλου/skandálou)“, nach 11,9 wurde der Kult (ihr „Tisch“) für sie ein „Ärgernis (σκάνδαλον/skándalon)“. Paulus mahnt später im Brief, niemand solle „seinem Bruder Anstoß (πρόσκομμα/ próskomma) oder Ärgernis (σκάνδαλον/skándalon) geben“ (14,13), wenn es da­ rum geht, gemeinsam Gott zu verehren (15,7–13). Paulus meint mit Anstoß und Ärgernis etwas, das Gemeinschaft im Gottesdienst verhindert. (4) Paulus zitiert Ps 69 noch einmal in 15,3: „Denn auch Christus hatte nicht an sich selbst Gefallen, sondern wie geschrieben steht: ‚Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen‘ (Ps 69,10). Der Psalm beklagt vorher den Riss in Familie und Volk: „Ich bin fremd geworden meinen Brüdern und unbekannt den Kindern meiner Mutter; denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen“ (Ps  69,9 f). Falls Paulus diesen Kontext vor Augen hat, wäre die kultische Deutung von Ps 69,23 f plausibel.90 Auch Paulus hatte einmal gegen die Christen für das Haus Gottes und die Heiligkeit des Volkes geeifert. Deswegen hatte er sich unter seinen „Brüdern“ und Volksgenossen isoliert. Wenn er alle im Eifer überbieten wollte (Gal 1,13 f), war das ein Programm, sich zu isolieren. (5) Paulus will mit Ps 69,23 f (= 11,9) wie im unmittelbar vorhergehenden Zitat von Dtn 29,3 (= 11,8) die Blindheit der Juden belegen.91 Folgt daraus aber, dass ihn nur die „Verfinsterung der Augen“ in Ps 69,23 f interessiert, nicht aber das skándalon? Das ist unwahrscheinlich. Denn Paulus greift danach erneut das Bild vom Lauf auf. Nach 9,33 war Israel über einen „Stein des Anstoßes“ gestolpert. Jetzt fragt Paulus: „Sind sie gestrauchelt, damit sie fallen? Das sei ferne!“ (11,11). Er mildert also 89 Die LXX nennt den Schaubrottisch im Jerusalemer Tempel τράπεζα/trápeza (Ex 25,23– 30 u. ö.). Er stand vor dem Vorhang, die Bundeslade mit ihrer Sühnefunktion war früher dahinter verborgen, ist aber schon lange verschwunden. Dass der Begriff „Tisch“ (τράπεζα/trápeza) auch in paganen Analogien Opfer- und Gabentische für eine Gottheit bezeichnet, passt dazu, vgl. Horsley, NDIEC 2, 37. 90 So Popkes, David. 91 Das wendet Lohse, KEK 4, 308, gegen die Deutung auf den Kult Israels ein.

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das Bild vom Stein des Anstoßes ab. Dass Israel nach 11,10 nicht sehen konnte und sein Rücken gebeugt war, passt zum Stolpern der Juden: Blinde fallen, weil sie die Steine nicht sehen, an denen sie sich stoßen.92 Wenn durch das Stolpern der Juden Heiden zum Heil kommen und diese Heiden wiederum Juden zum Glauben reizen (11,11), so muss das Ärgernis für Juden darin liegen, dass der Weg für die Heiden frei geworden ist. Die Interpretation von 9,33 ist schwierig. Paulus denkt sicher assoziativ an den Tempelkult auf dem Zion. Er sagt, dieser sei Juden zum Verhängnis und Ärgernis geworden. Das muss damit zusammenhängen, dass Christus den Juden zum Ärgernis wurde und Heiden durch ihn zum Heil kamen. Dazu passt die Fortsetzung in 11,25 f, der letzten Aussage über den Zion: Ärgernis und Betäubung werden dann aufgehoben, wenn die „Fülle der Heiden“ (11,12.25) „hineingehen“ wird. Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass Heiden in den inneren Tempelbezirk hineingehen und am Tempelkult teilnehmen dürfen. Wenn die Christen eine solche Öffnung des Tempels unter Berufung auf Christus erwarteten, dann war Christus gewiss schon dadurch ein „Ärgernis“ für viele Juden.

b) Der Auferstandene und das Wort des Glaubens in Mund und Herz Die Christologie in Röm 9–11 umfasst nicht nur das Skándalon des Kreuzes, sondern auch dessen Überwindung durch die Auferstehung. Darin ist auch hier die verwandelnde Kraft des Christusgeschehens begründet. Paulus greift dabei auf jene Weisheitstheologie zurück, die auch im 1Kor mit der Kreuzestheologie verbunden ist: Das Kreuz ist dort Torheit für die Welt, aber Weisheit Gottes, die von den Herrschern dieser Welt nicht erkannt wird (1Kor 2,6–8). Auch im Israelteil des Römerbriefs wird Dtn 30,12–14 im Lichte von Weisheitsmotiven auf Christus gedeutet (10,6–8), nachdem schon Bar 3,29–38 diese Bibelstelle auf die verschwundene Weisheit gedeutet hat. Obwohl Israel den „Quell der Weisheit“ verlassen habe (Bar 3,12) und auch andere Völker nicht den „Weg zur Weisheit“ erkannt haben (Bar 3,23), hat Gott Israel die Weisheit erneut zugänglich gemacht: Wer ist zum Himmel hinaufgestiegen und holte sie und brachte sie herab aus den Wolken? Wer fuhr über das Meer und fand sie und brachte sie für kostbares Gold? Da ist niemand, der den Weg zu ihr kennt, und keiner, der den Pfad zu ihr gewahrt […] 92 Der „gebeugte Rücken“ könnte eine Anspielung darauf sein, dass Juden politisch abhängig waren. Auch wenn sie mit Hohepriestertum und Tempel eine Teilautonomie bewahren konnten, sind sie außerhalb des inneren Tempelbezirks nicht mehr ihr eigener Herr. In Gal 4,21–31 wird die Feindschaft zwischen den Nachkommen Saras und Hagars damit in Verbindung gebracht, dass Israel abhängig ist und in Sklaverei lebt. Das jetzige Jerusalem lebt „mit seinen Kindern in der Knechtschaft“ (Gal 4,25). Auch hier sieht Paulus (wohl mit Recht) einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung des Christusglaubens und der politischen Abhängigkeit Israels.

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Dieser ist unser Gott, dem keiner gleich erachtet wird. Er hat erkundet jeden Weg zur Erkenntnis und sie gegeben Jakob, seinem Knecht, und Israel seinem Liebling. Danach erschien sie auf Erden und wandelte unter den Menschen. (Bar 3,29–31.36–38)

Bei Paulus treten die Glaubenden aus Juden und Heiden an die Stelle Israels (vgl. Bar 3,36–38). Ihr Bekenntnis verbindet nicht nur Menschen aus allen Völkern, sondern ist zugleich Ausdruck des ganzen Menschen. Paulus betont, wie leicht zugänglich der Glaube ist. Das Wort des Glaubens ist jedem in Herz und Mund nah. In Dtn 30,14 ist mit dem Wort das Wort des Gesetzes gemeint. Paulus ersetzt das Gesetz durch Christus und macht ihn so zum Ziel des Gesetzes: Christus ist dem Menschen so nahe, wie das Gesetz ihm einst nahe war. Nah ist Christus, weil Gott ihn vom Himmel herabgeholt hat, als er ins Leben trat,93 und nach seinem Tod aus der Unterwelt heraufgeholt hat. Paulus verändert dabei die Topologie des Geschehens gegenüber dem Alten Testament. Dtn 30,13 sprach vom Gebiet jenseits des „Meeres“;94 Paulus macht daraus die „Unterwelt“. Dadurch kontrastiert er Himmel und Hölle. Das Christusgeschehen durchbricht die Grenze zwischen ihnen. So wie nun der „Dualismus“ von Himmel und Hölle durch Christus aufgehoben wird, so wird parallel dazu die Spaltung im Menschen überwunden: Wenn er mit seinem Munde Jesus als Herrn bekennt und mit seinem Herzen an seine Auferstehung glaubt, handelt der Mensch in Übereinstimmung mit sich selbst (10,9). Das Wort ist nahe im Bekenntnis des Mundes und im Glauben des Herzens. Herz und Mund, Inneres und Äußeres stimmen überein. Was als

93 Wahrscheinlich denkt Paulus hier an die Inkarnation. Dafür spricht die Reihenfolge: Abstieg vom Himmel, Heraufholen aus der Unterwelt. Weniger wahrscheinlich ist, dass er an Offenbarungsreisen während seines Lebens denkt, vergleichbar den Reisen in die Himmelsund Unterwelt, die in zeitgenössischen Offenbarungsschriften geschildert werden (z. B. im Äthiopischen Henoch). Unwahrscheinlich ist, dass er an die zukünftige Parusie Christi vom Himmel her denkt. 94 Vgl. Dtn 30,13: „Es (= das Gebot) ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun?“ Dieselbe Topologie kehrt in Bar 3,30 f wieder, wo Dtn 30,11–14 auf die Weisheit bezogen wird: „Wer ist übers Meer gefahren und hat sie gefunden und für kostbares Gold hergebracht? Es gibt niemand, der den Weg weiß, wo man die Weisheit findet, noch über den Pfad zu ihr nachdenkt“. Der Gedanke der leichten Zugänglichkeit des Gesetzes ist hier umgeschlagen in das resignative Motiv der unauffindbaren Weisheit. Dieser Pessimismus ist nur möglich, weil Baruch (wie Paulus) alle Hinweise auf das Tun des Gebotes streicht. Dtn 30,11–14 wird dagegen von Philo in Praem. 80–82 optimistisch ausgelegt: Das Gute ist nahe dem Mund, dem Herzen und den Händen. Das wird auf Rede, Gedanken und Handlungen gedeutet. Das Gute kann getan werden. Auch hier wird die Topologie von Dtn 30 beibehalten: Das Gute muss nicht jenseits des Meeres gesucht werden. Die Abwandlung des Meeres zur Unterwelt ist also ein spezifisch paulinischer Zug.

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äußeres Ereignis dargestellt wird – Christi Kommen vom Himmel und sein Abstieg in die Unterwelt –, wird im Glaubenden zu einem inneren Geschehen. Wieder begegnet uns hier ein psychomythischer Parallelismus. Wieder wird deutlich: Die Erlösung zielt auf den ganzen Menschen. Wenn das „Herz“ dabei mit der Unterwelt parallelisiert wird, wird angedeutet, wie viel „Verborgenes“ im Herz wohnt (2,16; 1Kor 4,5; 14,25).

c) Die Parusie Christi und die Rettung von Juden und Heiden Die Heidenmission des Paulus steht für die Universalität der Erlösung. Paulus wurde von jenem Eifer befreit, der das Heil nur auf Israel begrenzen will, und zum Missionar aller Völker berufen. Israel ist für ihn daher ein Testfall für diese Universalität des Heils.95 Ohne die Rettung Israels wäre das Heil nicht wirklich universal. Wenn aber Israel gerettet wird, das sich seiner Erwählung aktiv widersetzt hat, um wieviel mehr muss das für alle anderen Menschen gelten, die vom Evangelium noch nicht gehört haben oder es ablehnen. Eben das behauptet Paulus in 11,12: „Wenn aber schon ihr [sc. der Israeliten] Fall Reichtum für die Welt ist und ihr Schaden Reichtum für die Heiden, wieviel mehr ihre Fülle (πλήρωμα/ plē´rōma)“. Das bedeutet: Wenn schon jetzt die wenigen gläubigen Israeliten viele Heiden zum Heil bringen, wieviel mehr muss die Bekehrung aller Juden zur Rettung von noch weit mehr Heiden führen? Und auch umgekehrt gilt: Wenn schon jetzt die Bekehrung von Heiden einige Israeliten zum Glauben reizt, um wieviel mehr werden sie gerettet, wenn die Fülle der Heiden (πλήρωμα/plē´rōma) „hineingehen“ wird (11,25 f)? Diese Erlösung zielt auf alle Menschen, umfasst sowohl die Fülle Israels als auch die Fülle der Heiden.96 Der Schlusssatz in 11,32 ist auf jeden Fall universalistisch zu verstehen: „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (11,32). Paulus greift mit ihm auf andere universalistische Aussagen im Römerbrief zurück. Dessen erster Teil  schloss mit dem Satz: Das Gesetz verurteilt alle Menschen, „damit alle Welt vor Gott schuldig sei“ (3,19). Seinen zweiten Teil beendete er mit der universalen Aussage, dass „durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen ist, die zum Leben führt“ (5,18). In seinem dritten Teil brachte er gegen Ende die Verheißung, dass die ganze Schöpfung auf die Freiheit der Kinder Gottes hofft und zu dieser Freiheit befreit wird (8,21 f). Alle diese universalistischen Aussagen klingen nach, wenn der Israelteil des Römerbriefs mit einer All-Formel schließt: „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“ (11,36).

95 Holtz, Gott, 56–66: „Die Besonderheit Israels liegt so im Paradigmatischen seiner Gotteserfahrung“ (66). 96 Ebd., 71.

Heil durch Erwählung vor jedem Gesetz(Röm 9,1–11,36)

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Obwohl Röm 9–11 eine Sonderrolle Israels in der Geschichte Gottes mit den Menschen voraussetzt, gibt Paulus dieser Sonderrolle einen universalistischen Sinn. Sie besteht ja gerade darin, Licht für alle Völker zu sein. In Röm 1,18–3,20 hatte Paulus energisch der Ausklammerung von Juden aus dem universalen Unheil widersprochen. In Röm 9–11 bekämpft er ebenso energisch den Ausschluss von Juden aus dem universalen Heil. Er beschwört zu diesem Zweck den universalen Ungehorsam, um mit ihm ein ebenso universales Erbarmen Gottes zu begründen (11,32). Er vertritt einen eschatologischen Universalismus. Alles zielt darauf, dass Gott alles in allem sein wird (1Kor 15,28). Unmittelbar daneben stehen freilich andere Aussagen. Paulus kennt auch einen Dualismus, der auf eine Scheidung der Menschheit hinausläuft.97 Dieser eschatologische Dualismus gehört zur Struktur all seiner Heilskonzepte, denn Heil ist immer die Alternative zum Unheil. Das Gericht nach Werken unterscheidet Böse und Gute (2,6–11), die Rechtfertigung unterscheidet Freispruch und Verdammung (5,18), die Verwandlung kennt den Gegensatz von Fleisch und Geist (8,3–11), die Erwählung Gefäße des Zorns und des Erbarmens (9,22 f). Charakteristisch für den Römerbrief ist, dass Paulus aus dieser Alternative von Heil und Unheil eine Entwicklung vom Unheil zum Heil macht. Denn alle vier Heilskonzepte enden im Römerbrief in universalistischen Aussagen: Niemand ist gerecht (3,10–12). Alle Menschen werden gerechtfertigt (5,18). Die ganze Schöpfung wird verwandelt (8,21 f). Gott erbarmt sich aller (11,32). Dieser eschatologische Universalismus hebt aber den eschatologischen Dualismus nicht auf. In Polemik (3,8) und Paränese (12,19) setzt sich dieser Dualismus immer wieder durch. In anderen Briefen des Paulus voll Mahnungen und Polemik finden wir daher weit mehr Aussagen über einen dualen Ausgang der Geschichte.98 Aber im Römerbrief hat am Ende von Röm 9–11 eine universalistische Weisheitstheologie das letzte Wort: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes …“ (11,33). Christus wird nicht mehr erwähnt. Aber die Frage „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Jes 40,13LXX) zielt auf ihn. Sie wird in 1Kor 2,16 mit Christus beantwortet. Wenn Gott am Ende alles in allem sein wird, wird Jesus ihm seine Herrschaft übertragen haben (1Kor 15,28). Wenn Gott am Ende alles sein wird, dann ist Christus in diesem All anonym anwesend.

97 Holtz, Gott, 66–72. Von diesem eschatologischen Universalismus unterscheidet G. Holtz eine innergeschichtliche Universalisierungstendenz: die Öffnung des Volkes Gottes für alle Menschen. Paulus will Gemeinden gründen, die für alle Menschen offen sind. Aber der Eintritt in sie ist eine Bedingung geknüpft, die man nicht universal voraussetzen kann: an den Glauben an Christus. 98 Konradt, Gericht.

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

5.5 Die Folgen des Heils: Die Paränese des Römerbriefs (Röm 12,1–15,13) Wir sind am Ende unseres Durchgangs durch verschiedene Heilslehren des Römerbriefs angelangt. Im paränetischen Teil zieht Paulus Konsequenzen aus den bisherigen Gedanken. Hier kommt noch einmal sein Hauptanliegen zur Sprache: Gott verlangt, dass sich das ganze Leben an ihm ausrichtet und alle Menschen ihn verehren. Die Paränese beginnt mit der Aufforderung, im ganzen Leben Gottes Willen zu verwirklichen (12,1–2) und endet mit der Aufforderung an alle Völker, zusammen mit Israel Gott zu loben (15,7–13). Alle Heilskonzepte klingen dabei nach, werden aber jetzt paränetisch für das Verhältnis zu anderen Menschen fruchtbar gemacht. Dabei begegnet als durchgehendes Motiv der Glaube als neues Zentrum des Lebens. Paulus erneuert den Humanismus der Gesetzesfrömmigkeit, in dem er als Jude aufgewachsen ist. Dieser antwortet auf Gottes Barmherzigkeit mit guten Taten und vertraut darauf, dass Gott sie akzeptiert. Paulus beruft sich dafür auf die Barmherzigkeit Gottes, damit Christen ihre Leiber „als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist“ hingeben (12,1). Der Tempelkult, den Paulus in 11,25–27 utopisch für alle gottesfürchtigen Heiden öffnet, wird im Alltag zu einem „vernünftigen Gottesdienst“ ohne blutige Opfer – als Gegenstück zum kultischen Opfer des Todes Jesu (3,21–26). Unmittelbar an 12,1 f schließt Paulus Mahnungen an, sich nicht über den anderen zu erheben. Denn in Christus sind alle „ein Leib“ (12,5). Dieses Bild ist ein Höhepunkt in der Folge der Bilder in Röm 9–13: Im Bild vom Töpfer wurden die Gefäße in Erwählte und Verlorene getrennt, im Bild vom Ölbaum gab es eine Hierarchie von Wurzel und Zweigen; im Bild vom Leib Christi aber bilden alle eine Einheit. Das Liebesgebot steht im Zentrum dieser erneuerten Gesetzesfrömmigkeit. Dass Gottes Wille in ihr auf eine Verwandlung des Menschen zielt, legt sich als Rahmen um die allgemeine Paränese (12,1–2 und 13,11–14). Paulus betont am Anfang: Christen stellen sich in ihrem Handeln nicht der Welt gleich, sondern verändern sich (μεταμορφοῦσθε/metamorphoústhe) durch Erneuerung ihres Verstandes (12,2). Am Ende der allgemeinen Paränese betont er: Ihre Veränderung entspricht einer Verwandlung der Welt: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts“ (13,12). Die Verwandlung wird durch das Bild vom „Anziehen“ Christi als Kleid dargestellt: „Zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt“ (13,14). Die Erwählungslehre spielt in der Paränese keine Rolle, wohl aber Israels Sonderrolle, die in seiner Erwählung begründet liegt. Paulus zeigt, dass Israels Verheißungen auf alle Völker ausgeweitet werden. Alle Völker werden sich mit Israel im Lob Gottes vereinen. Alle hoffen auf den Messias (15,7–13). Die Erwählung

Die Pluralität der Heilskonzepte und die Einheit der Heilsgewissheit

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von Juden und Heiden verändert das gegenseitige Verhältnis. Der Abschnitt, der mit der Vision eines gemeinsamen Gottesdienstes endet, beginnt mit der Mahnung: „Nehmet einander an, wie Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes“ (15,7). Das konkrete Beispiel ist der Streit zwischen Starken und Schwachen in Rom (14,1–23). Sein Hintergrund sind verschiedene Einstellungen zu Speise­ fragen zwischen Heiden- und Judenchristen (s. dazu ausführlich Kapitel 6.3). Auch hier wird alles am Glauben gemessen. „Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde“ (14,23). Die Betonung des Glaubens in dieser Paränese zeigt, dass Paulus zu Menschen spricht, die durch Glauben gerechtfertigt sind. Deshalb kann er den Glauben zum Kriterium ethischen Handelns machen. Insofern denkt er hier im Rahmen seiner Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben. Sie setzt voraus, dass Gott der Richter ist, der alle Menschen zur Rechenschaft zieht. Dabei wirken alle Veränderungen im Bild des Richters im vorhergehenden Brief nach: Die Christen werden nach 14,10–12 wohl zur Rechenschaft für ihr Handeln gezogen, aber von keiner Verdammnis bedroht. Das ist im Vergleich zu 2,5–11 eine erstaunliche Wandlung im Bild des Gerichts. Sie ist wie in 8,31–39 mit einer fast mystischen Verbindung mit Christus verbunden, wie sie für die Verwandlungslehre des Paulus charakteristisch ist: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“ (14,8). Menschen, die so mit Christus verbunden sind, befürchten kein Gericht.

5.6 Die Pluralität der Heilskonzepte und die Einheit der Heilsgewissheit Paulus umkreist insgesamt in einer Vielzahl von Heilskonzepten den Wandel vom Unheil zum Heil. Dabei ist wichtig, dass bei der Darstellung des Unheils immer die drei Ebenen der Sünde angesprochen sind: die religiöse Grundverfehlung, die normativen Übertretungen und die existenzielle Fehlorientierung am Gesetz. In einer Tabelle fassen wir die Ergebnisse in Stichworten zusammen (s. Tab. 14). Die Beziehungsstörung zu Gott ist der Ursprung aller Sünde. Das wird auch nicht dadurch relativiert, dass Paulus viele Bilder für diese Ursünde verwendet. Die Abfolge seiner Bilder und Gedanken ist sinnvoll: Die Abwendung von Gott führt zur Vertauschung von Gott und Geschöpf. Die Folge ist, dass sich die Menschen gegen andere Menschen unmenschlich verhalten. Daraus entsteht Feindschaft zwischen Gott und Mensch. Durch diese Feindschaft wird der Mensch von gottwidrigen Mächten abhängig: Er gerät in die „Gefangenschaft“ der Gegenspieler Gottes. Am Ende ist der Mensch so verblendet, dass er wie Israel gegen seine eigene Erwählung handelt. Alle diese Bilder sind miteinander nicht ganz kohärent verbunden. So herrscht zwischen Gott und Mensch Feindschaft in 5,10.­

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

Tab. 14: Die vier Heilskonzepte des Römerbriefs Heil durch Werke 1,18–3,20

Heil durch Rechtfertigung 3,21–5,21

Heil durch Verwandlung 6,1–8,39

Heil durch Erwählung 9,1–11,36

Religiöse Grund­ verfehlung

Abwendung von Gott und Vertauschung von Schöpfer und Geschöpf

Unglauben gegen Gott und Feindschaft zwischen Gott und Mensch

Sklaverei unter der Sünde und Leben unter dem Gesetz

Verwerfung der eigenen Erwählung

Moralische Untaten

Sexuelles und aggressives Verhalten im Lasterkatalog als katalogisierte Sünde

Die Sünde Abra­hams und Adams als in zwei Personen exemplarisch personifizierte Sünde

Das Verbot zu begehren als in einem einzigen Dekaloggebot summierte Sünde

Die Verfolgung der ­Propheten, des Elia und des Paulus als konkretisierte Sünde

Existenzielle Fehlhaltung

Gesetzesstolz, der andere verurteilt, aber die eigene Sünde verdrängt (2,1 f.17)

Gesetzesangst vor einem Gesetz, das nur Zorn bewirkt (4,15)

Gesetzesmissbrauch: In den Händen der Sünde verführt das Gesetz, täuscht und ­ tötet (7,7–13)

Gesetzes­ illusion durch die Erwartung, Heil lasse sich durch Werke erreichen (9,30–33)

Das Verständnis der Gnade

Befristete Gnade: Gott gibt die Möglichkeit zur Umkehr vor seinem Gericht (2,4).

Inkongruente Gnade: Sie wird dem Unwürdigen und Sünder gegeben (4,5; 5,8).

Effektive Gnade: Sie verwandelt den Menschen in Gleichgestalt mit Christus (6,4–11; 8,28–30)

Prädestinierende Gnade: Sie erwählt vor jedem Tun eines Menschen, selbst Feinde Gottes (9,11 f; 11,28)

Sofern der Mensch aber von gottfremden Mächten versklavt wird, erscheint Gott als sein Verbündeter, der ihn befreien will (7,24 f). Solche Widersprüche sprechen nicht dagegen, in der Beziehungsstörung zu Gott den Schlüssel für Unheil und Elend des Menschen zu suchen. Gerade die Pluralität konkurrierender Aussagen zeigt, wie wichtig Paulus diese Dimension der Sünde ist. Das richtige Gottesverhältnis nennt er „Glauben“. Daher ist es nur konsequent, wenn er gegen Ende des Römerbriefs die „Sünde“ kurz und bündig so definiert: „Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde“ (14,23).

Die Pluralität der Heilskonzepte und die Einheit der Heilsgewissheit

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Diese Pluralität der Aussagen finden wir auch in der zweiten Dimension der Sünde: Sünde ist konkret Gesetzesübertretung. Paulus unterscheidet in 1,18 durch Rückgriff auf den Kanon der zwei Tugenden, die Frömmigkeit (εὐσέβεια/eusébeia) und die Gerechtigkeit: Gottlosigkeit (ἀσέβεια/asébeia)  ist Verletzung der Frömmigkeit, also der religiösen Beziehung zu Gott, Ungerechtigkeit ist Verletzung der moralischen Verpflichtungen gegenüber den Mitmenschen. Paulus unterscheidet in diesen zwischenmenschlichen Beziehungen noch einmal sexuelles und aggressives Fehlverhalten (1,24–27 und 1,28–32). In 13,13 nennt er als dritte Gruppe von Verfehlungen „Fressen und Saufen“, was als Übergang zum Problem des Essens von Fleisch und des Trinkens von Wein in Röm 14 sinnvoll ist. Unter den Sünden fällt die Hervorhebung sexueller Sünden in 1,24–27 auf. Sie treten danach im Römerbrief zurück und werden in 3,10–20 nicht einmal mehr angedeutet, obwohl Paulus hier zusammenfassend die Sündhaftigkeit aller Menschen aufweisen will. Sie verschwinden freilich nicht ganz: Das Verbot des Begehrens (7,7) und die Warnung vor Begierde (13,14) umfassen auch sexuelle Sünden. Insgesamt treten im Römerbrief die aggressiven Sünden immer deutlicher hervor. Sie begegnen aus der Perspektive der Opfer im Leidenskatalog. Die Christen erwartet „Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert“ (8,35). Sie werden getötet wie Schlachtschafe (8,36 = Ps 44,23). Paulus fürchtet um sein Leben (11,3; 15,31). Auch hier ist die Gedankenfolge insofern konsequent, als am Anfang ein Lasterkatalog mit vielen Fehlverhaltensweisen steht (1,28–31), dann folgt ein Schritt zum Prinzipiellen – sei es durch Rückgriff auf Abraham und Adam als Urbildern der Gottlosigkeit und Sünde, sei es durch Reduktion aller Gebote auf ein Gebot: „Du sollst nicht begehren!“ (7,7). Die Sünde begegnet also nacheinander als katalogisierte, exem­ plarische und summierte Sünde: katalogisiert in Lasterkatalogen, exemplarisch dargestellt in Abraham und Adam, summiert im Verbot des Begehrens. Am Ende steht eine geschichtlich konkretisierte Sünde: die Ablehnung des Evangeliums durch die Juden als den Trägern der Erwählung und Verheißung, obwohl das Evangelium Vergebung der Sünden anbietet. Auch für konkrete Verfehlungen gilt die letzte Aussage des Paulus zur Sünde: „Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde“ (14,23). Glaube meint dabei nicht nur die Übereinstimmung mit Gott, sondern auch mit sich selbst. Jeder, der ohne sich zu verurteilen, das tut, wovon er überzeugt ist, es sei Gottes Willen, tut keine Sünde. Eine Vielzahl von Gedanken und Motiven finden wir auch in der dritten Dimension der Sünde, die in der existenziellen Einstellung des Menschen zu Gesetz und Geboten besteht. Auch hier kann man eine nachvollziehbare Gedankenfolge entdecken: Gesetzesstolz und Moralismus setzen eine Selbsttäuschung hinsichtlich der eigenen Verfehlungen voraus (2,1.17–24). Dieser Moralismus offenbart, dass die Forderungen des Gesetzes zwar Stolz hervorrufen, aber dem Menschen nicht die Kraft geben, diese zu erfüllen. Das Gesetz bewirkt nur Zorn (4,15). Diese Unfähigkeit des Gesetzes wird dadurch überboten, dass das Gesetz sogar

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

das Böse vermehrt und provoziert (5,20). Oft reizt es durch Verbote, gerade das Verbotene zu tun (7,8). Auch darin zeigt sich im Grunde nur, dass der sündige Mensch die Gebote manipuliert, um seine Sünde zu steigern. Wichtig für uns ist: Man kann auch die Fülle gesetzeskritischer Motive nicht dadurch relativieren, dass sie nicht genau zueinander passen. Paulus tastet vielmehr mit immer neuen Gedanken und Bildern danach, seine kühne Erkenntnis zu artikulieren. Er behauptet, dass das Gesetz selbst auf einen Fehlweg führen kann. Eine Leugnung dieser Tiefendimension der Gesetzeskritik des Paulus würde ihm seine tiefsten Erkenntnisse absprechen. Die Vielfalt seiner sich widersprechenden Gedanken wird missverstanden, wenn man ihretwegen die gesetzeskritischen Aussagen des Paulus relativiert. Man kann eine gewisse Ordnung erkennen. Daher haben wir versucht, die verschiedenen Gedanken des Paulus zur verfehlten Orientierung am Gesetz seinen vier Heilskonzepten zuzuordnen. Die Gesetzesfrömmigkeit lässt den Gesetzesstolz hervortreten. Der Gesetzesstolz urteilt scharf über die Sünden der anderen, übersieht aber die eigenen Verfehlungen. Dieser Moralismus ist eine allgemeine menschliche Fehlhaltung. Unsere Sensibilität für die Verfehlungen der anderen ist weit schärfer als unser Erkenntnisvermögen für eigene Verfehlungen und für die Verfehlungen der eigenen Gruppe. Zur Gesetzesfrömmigkeit gehört aber auch das Vertrauen in Gottes Gnade als „Langmut und Geduld“, mit der er den Menschen eine Chance zur Umkehr gibt. Es handelt sich um eine „befristete Gnade“. Vor dem Gericht schenkt Gott eine Frist, in der der Sünder umkehren kann. Die Rechtfertigungslehre lässt die Gesetzesangst erkennen: Der Mensch steht vor seinem Richter, wird aber nicht verurteilt, sondern aufgrund des stellvertretenden Leidens Christ begnadigt. Ein Richter, der begnadigt und freispricht, bleibt ein Richter. Das Gesetz steht als Forderung zwischen Gott und ihm. Es macht die Übertretung zur Übertretung (4,15; 5,13). Erst wenn Rechtfertigung zur Versöhnung wird, wenn Gott seine Richterrolle verlässt und zum Gott der Liebe wird, wird diese Angst überwunden und der Mensch befähigt, das Gesetz zu erfüllen.99 Diese Angst ist schon mit der Existenz des Gesetzes verbunden – auch wenn keine konkreten Übertretungen vorliegen. Das entsprechende Gnadenverständnis ist dadurch bestimmt, dass Gottes Gabe gerade dem zukommt, der sie nicht verdient: dem Sünder. Gottes Gnade ist inkongruente Gabe. 99 Der Gedanke, dass das Gesetz unfähig ist, die Kraft zu seiner Erfüllung zu geben, findet sich im Römerbrief erst im Rahmen der Verwandlungslehre in 8,3. Aber das Gesetz ist schon nach Gal 3,21 unfähig, Leben zu geben: δυνάμενος/dynámenos in Gal 3,21 erinnert an ἀδύνατον/adýnaton in Röm 8,3, wonach das Gesetz wegen des Fleisches „zu schwach war“, um Leben zu bewirken. Implizit wird dieser Gedanke aber schon im Rahmen der Rechtfertigungslehre (3,21–5,21) entwickelt. Nach 4,15 bewirkt das „Gesetz“ (nur) Zorn, d. h. nur die Verurteilung des Sünders. Mit ihm kontrastiert die „Verheißung“, die Abraham Leben aus den Toten verspricht (4,16–22).

Die Pluralität der Heilskonzepte und die Einheit der Heilsgewissheit

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Wieder ein anderes Motiv der Gesetzeskritik des Paulus ist der Gesetzesmissbrauch im Rahmen der Verwandlungslehre. Sie unterscheidet zwischen altem und neuem Menschen. Das Gesetz erscheint hier neben Sünde und Sarx als Macht, unter die der alte Mensch geraten ist und von der er befreit werden muss (6,14; vorweggenommen schon in 5,20 f). Das Gesetz bringt entweder die Sünde hervor, indem es durch Verbote zum Tun des Verbotenen reizt (7,8), oder es wird von der Sünde missbraucht, indem es den Menschen durch falsche Verheißungen verführt und betrügt (7,11). Das ist in der Biographie des Paulus begründet: Sein Gesetzeseifer hat die Christusanhänger unterdrückt. Er hat das Gute (das Gesetz) durchsetzen wollen und gerade das Böse bewirkt. Aber der alte Mensch kann in einen neuen Menschen verwandelt werden, der gleichgestaltet mit dem Bilde Christi ist (8,29). Die Gnade bewirkt, dass der Mensch dadurch tatsächlich ein anderer wird. Sie ist effektive Gnade. Innerhalb der Erwählungslehre wird die Kritik des Gesetzes schließlich noch einmal radikalisiert und vertieft: Die Orientierung am Gesetz wird zur Gesetzesillusion. Diese Illusion besteht in der Einbildung, man könne durch menschliches Tun zum Heil gelangen, obwohl das Heil allein im unergründbaren Willen Gottes unabhängig von der Existenz und Verhalten der Menschen begründet ist. Es ist ein Wille Gottes vor aller Zeit. Gott aber hat die Freiheit, seinen Willen in der Zeit immer wieder neu zu bestimmen. Sein Erbarmen lässt ihn auch vor allen Zeiten gefasste Urteile des Verwerfens korrigieren. Aber es hält auch an denen fest, die Gott einmal vor allen Zeiten erwählt hat. Seine Gnade ist prädestinierende Gnade. Die Christologie wird innerhalb der vier Heilskonzeptionen in verschiedener Weise aktiviert, um die Wende vom Unheil zum Heil plausibel zu machen – vor allem, um zum Ausdruck zu bringen, dass das Heil den ganzen Menschen und alle Menschen erfasst. Dass der ganze Mensch erfasst wird, zeigt der psychomythische Parallelismus. Objektive mythische Vorgänge werden dabei nicht in innere Vorgänge aufgelöst, finden aber parallel im menschlichen Herzen eine Entsprechung, sodass der ganze Mensch bis in sein Personenzentrum hinein von einem Wandel erfasst wird. Der psychomythische Parallelismus zeigt, dass eine psychologische Auslegung dieser Texte einen Anhalt in den Texten selbst hat. Gleichzeitig werden alle Menschen von der Erlösung erfasst. Die Gesetzesfrömmigkeit fasst alle Menschen unter der Sünde zusammen, die Rechtfertigungsbotschaft gilt allen Menschen, die Verheißung einer Verwandlung umgreift die ganze Welt und die Erwählung gilt sogar denen, die sich gegen Gottes Willen stellen und sein Evangelium ablehnen. Die folgende Tabelle soll diese Ergebnisse in Stichworten zusammenfassen (s. Tab. 15). Die Einseitigkeit der existenzialen Paulusdeutung bestand darin, dass sie den Gesetzeseifer als individualistisches Bemühen deutete, das Heil zu verdienen. Sie übersah dessen Einbettung in einen sozialen Rahmen. Der Eifer für das Gesetz diente der Behauptung des jüdischen Volkes in einer polytheistischen Welt. Eine verfehlte Orientierung am Gesetz zeigte sich dabei nicht nur im Eifer, sondern

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Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien 

Tab. 15: Die Wende vom Unheil zum Heil Heil durch Werke 1,18–3,20

Heil durch Rechtfertigung 3,21–5,21

Heil durch Verwandlung 6,1–8,39

Heil durch ­ Erwählung 9,1–11,36

Die chris­ tologische Wende vom Unheil zum Heil

Richter-­ Christologie: Gott richtet durch Jesus (bei der Parusie) nach dem Evangelium des Paulus (2,16)

HilasterionChristologie: Christi Tod ist Sühne für die Sünden, seine Auferstehung Versöhnung mit Gott ­(3,21–26; ­5,6–11)

ConformitasChristologie: Christen sterben und leben mit Christus und werden sein Ebenbild (6,1–11; 8,28–30)

SkándalonChristologie: Christus ist der Stolperstein für ­Juden, aber bei der Parusie ihre Rettung (9.33; 11,25–31)

Der psycho-­ mythische Parallelismus: umfasst den ganzen Menschen

Parallel ­urteilt ein Gericht im Himmel und im Menschen in seinem Gewissen ­(2,5–11// 12–16)

Parallel ­ geschieht Gottes Liebe durch Christi Tod und durch den Geist im Herzen der Menschen (5,1–5//6–11)

Parallel wirkt Christus als Fürsprecher im Himmel und der Geist im Menschen (8,26 f//31–34)

Parallel ­ verbindet Jesus Himmel und Hölle, das Bekenntnis Mund und Herz (10,6–8//8–13)

Die Uni­ versalität von Unheil und Heil umfasst alle Menschen

Das Gericht geschieht ohne Ansehen der Person über alle, aber nach dem Evange­ lium des Paulus (2,11.16)

Die Rechtfertigung des Sünders überwindet Unterschiede von Juden und Heiden (5,18)

Die Verwandlung der Welt erfasst die ganze Schöpfung und alle Menschen in ihr (8,18–25)

Die Erwählung gilt allen Menschen, ­allen ­ Juden und Heiden, auch wenn sie das Evange­ lium ablehnen (11,25–32)

ebenso im Gesetzesstolz, der bei anderen verdammt, was er bei sich leugnet. Sie zeigt sich in Gesetzesangst, die nur die Forderung hört mit der Androhung von Zorn und Verurteilung, ohne Kraft, es zu erfüllen. Sie zeigt sich im Gesetzesmissbrauch, bei dem das Gesetz die Sünde provoziert und die Sünde duch das Gesetz den Menschen täuscht und tötet. Sie zeigt sich in der Gesetzesillusion, als könne der Mensch das Heil durch Gesetzeswerke erlangen, obwohl es allein in der Erwählung Gottes begründet ist. Der Mensch wird bei Paulus in der Gesetzesfrömmigkeit mit dem Gesetz gerecht, in der Rechtfertigungsbotschaft ohne Gesetz, in der Verwandlungslehre gegen das Gesetz und in der Erwählungslehre vor jedem ­ ritik Gesetz. Die Fülle dieser Motive zeigt, dass Paulus zu einer grundsätzlichen K

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des Gesetzes vorgedrungen ist, die er mit immer neuen Gedanken zum Ausdruck bringt. Die Auslegung des Paulus in der Nachfolge der reformatorischen und existenztheologischen Gesetzeskritik wird also von vielen Motiven gedeckt und ist im Kern berechtigt. Ebenso berechtigt ist aber auch die Sicht der New Perspective: Alle Heilskonzepte des Paulus zielen auf einen Universalismus. Dabei muss man zwischen Eschatologie und Geschichte, Letztem und Vorletztem unterscheiden.100 Die Eschatologie wird durch das Nebeneinander einer universalen und dualen Eschatologie bestimmt. Für Paulus steht fest: Gott wird am Ende alles in allem sein (1Kor 15,28). Aber daneben spricht er von einem doppelten Ausgang des Endgeschehens. Er entwirft verschiedene Heilskonzepte, um sich immer wieder neu zur Gewissheit durchzuringen, dass die duale Eschatologie durch die universale Durchsetzung des Heils überwunden wird. Unheil und Heil sollen am Ende keine Alternative sein. Paulus setzt der Schreckensvision einer universalen Vernichtung aufgrund der Schuld aller Menschen eine ebenso universale Heilsvision entgegen: Gottes Gnade wird sich am Ende bei allen durchsetzen. Von dieser universalen Eschatologie am Ende der Zeiten sind Universalisierungstendenzen in den Gemeinden in der Gegenwart zu unterscheiden: Die im Judentum entstandenen Gemeinden öffnen sich für alle Menschen. Der Glauben wird nicht an Bedingungen wie die Volkszugehörigkeit oder deren rituelle Zeichen gebunden. Aber solch ein sich universalisierender Glauben bleibt auf kleine Gruppen beschränkt. Sie träumen zwar davon, Vorhut einer neuen Menschheit zu sein, sind aber de facto nur eine im Entstehen begriffene, partikulare Gruppe. Wir müssen unser Schema daher noch einmal ergänzen (s. Tab. 16). Die Universalisierungstendenzen in der Gegenwart  – also der Traum von einem Gottesvolk, das Juden und Heiden umfasst – ist das Thema des nächsten sozialgeschichtlichen Kapitels. Paulus verkörperte diesen Traum. Für ihn hat er sich eingesetzt. Für ihn riskiert er sein Leben. Alle Vertreter der New Perspective teilen die Kritik der traditionellen Rechtfertigungslehre, aber sie unterscheiden sich untereinander. Jede der neuen Deutungen hat eine gewisse Nähe zu den vier Heilskonzepten des Paulus. Das Heilskonzept eines Heils durch Werke ist in der Deutung von Jens Christian Maschmeier der Argumentationsrahmen. Paulus werfe Juden keineswegs vor, sie würden synergistisch das Heil auf ein Zusammenwirken von Gott und Mensch zurückführen. „Nicht Synergismus, sondern nicht erfolgender Synergismus“ werfe Paulus ihnen vor.101 Würden sie mit Gesetzeswerken auf die Zuwendung Gottes antworten, wäre das im Alten Bund ein gangbarer Weg zum Heil gewesen. Aber da niemand faktisch die geforderten Werke tut, muss Gott im neuen Bund durch Neuschöpfung des Menschen in Christus Heil schaffen. Erst 100 Im Folgenden übernehmen wir Ergebnisse von Holtz, Gott. 101 Maschmeier, Rechtfertigung, 24.

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Tab. 16: Universale und duale Eschatologie im Römerbrief Heil durch Werke 1,18–3,20

Heil durch Rechtfertigung 3,21–5,21

Heil durch Verwandlung 6,1–8,39

Heil durch ­ Erwählung 9,1–11,36

Universalisierungstendenzen in der Gegenwart

Alle, die von Natur das Gesetz tun und im Herzen beschnitten sind, finden Gnade (2,14.28 f)

Alle Glaubenden werden gerechtfertigt und gehören zu den Kindern Abrahams (1,16 f; 3,26.28; ­4,1–25).

Alle haben die Chance, sich taufen zu lassen und damit am neuen ­ Leben zu partizipieren ­(6,1–11)

Ausdehnung der Erwählung: Die Erwählten aus Israel, dazu die aus den Völkern gelangen zum Ziel (9,6–33)

Duale Eschatolo­ gie mit doppeltem Ausgang

Das Gericht geschieht über Böse und Gute ohne Ansehen der Person (2,6–11)

Das Gesetz ­ bewirkt als Forderung Zorn, als Verheißung Leben (4,14 f)

Der Lohn der Sünde ist der Tod, Gottes Gnade aber gibt Leben (6,23)

Gott hat als Töpfer Gefäße des Zorns und des Erbarmens geschaffen (9,21–23)

Universale Eschatologie mit einheitlichem Ausgang

Universale Verdammnis: Alle Welt ist faktisch schuldig geworden (3,19 f)

Universale Rechtferti­ gung: Alle werden durch Glauben gerecht gesprochen (5,18)

Universale Verwandlung: Die ganze Schöpfung wartet auf Befreiung (8,21 f)

Universales Erbarmen: Gott erbarmt sich über alle, auch über seine Feinde (11,25–32)

jetzt führt „die Nicht-Anerkennung der in Christi Tod überwundenen Folgen der Tora­übertretungen“102 zum Ausschluss aller Werke für das Heil. Im Rahmen der Verwandlungs- und Erwählungslehre lässt sich dieser Gedanke freilich nicht mehr halten: Das „Fleisch“ des Menschen ist nicht erst seit dem Kommen Christi „Feindschaft“ gegen Gott. Die Erwählung erfolgte vor dem Kommen Christi und macht von vornherein jeden „Synergismus“ zur Illusion. Aber zutreffend ist, was Maschmeier zur Rehabilitierung einer synergistischen „Werkgerechtigkeit“ anführt – innerhalb der ersten Heilskonzeption im Römerbrief, dem Heil aus Werken des Gesetzes. Das Heilskonzept einer Rechtfertigung aller durch Glauben entspricht der Paulusdeutung von James D. G. Dunn:103 Der Bundesnomismus Israels wird durch 102 Ebd. 103 Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen weise ich nur auf die beiden Kommentare: Dunn, Galatians; ders., Romans, WBC 38 A/B.

Die Pluralität der Heilskonzepte und die Einheit der Heilsgewissheit

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die Rechtfertigung universalisiert. Durch sie wird Gott zum Gott aller Menschen (3,28 f). Dabei bleibt die Struktur des jüdischen Glaubens erhalten, nur dass jetzt alle Menschen durch Glauben in den Bund eintreten können. Daher sind in diesem Heilskonzept Abraham und Sara vollgültig Glaubende und Modell der Christen. Ihr Glaube muss nur universalisiert werden. Auch wenn Dunn seine Erkenntnisse zuerst am Galaterbrief gewonnen hat, vor allem hinsichtlich der Relativierung der Beschneidung als „identity marker“, so klingt doch deren Relativierung in 4,11 nach. All das ist richtig gesehen, aber unterbewertet vielleicht eins: Die Verwandlungslehre zielt auf mehr als die Universalisierung dessen, was Israel lebte. Die Paulusdeutung von Dunn ist für die Dimension des individuellen Lebens und die Erneuerung und Verwandlung des Menschen freilich offen. Das Heilskonzept der Verwandlung hat vor allem E. P. Sanders inspiriert.104 Er sieht anders als Dunn keine Kontinuität des Bundesnomismus zwischen Judentum und Christentum, sondern stellt eine neue Grundstruktur des Christentums fest. Sie zeige sich besonders in 6,1–8,39 als Christusmystik oder „participationist eschatology“. Der Mensch partizipiere durch Sterben und Leben mit Christus an der großen Verwandlung der Welt. Er werde dabei „effektiv“ ein neuer Mensch „in Christus“, seine Rechtfertigung werde ihm nicht nur imaginär oder „imputativ“ zugerechnet. Die Notwendigkeit der Verwandlung bei Paulus deutet E. P. Sanders als ein Konstrukt: Aufgrund seiner Christusbegegnung habe er alles abwerten müssen, was zu seiner Vorzeit als Jude gehört. Was Paulus daher in Röm 7,7–25 schreibe, sei keine realistische Analyse des Menschen. „Röm 7 beschreibe in Wahrheit überhaupt niemanden  – ausgenommen vielleicht einen Neurotiker“.105 Die Frage ist: Hat Paulus hier die Situation des Menschen verzerrt dargestellt  – oder stellt E. P. Sanders vielleicht Paulus verzerrt dar? Unabhängig davon gilt: Kein anderer hat das Heilskonzept der Verwandlung so treffend­ herausgearbeitet wie E. P. Sanders. Das Heilskonzept der Erwählung schließlich prägt die Paulusdeutung von N. T. Wright. Nach ihm teilt Paulus drei Grundüberzeugungen des Judentums: Monotheismus, Erwählung und Eschatologie, oder der Glaube an den einen Gott, an das eine erwählte Volk Gottes und an die eine Zukunft der Welt Gottes.106 Paulus deutet diese drei Überzeugungen im Lichte des Kommens des Messias und des Geistes: „The promise that one day JHWH would return to the Temple, rescuing his people and bringing justice to the world, turned into the announcement that he had indeed returned, in and as his people’s representative. He was himself, in some sense, the one who built the Temple and the one who would dwell in it“.107 104 Sanders, Paulus, 421–502. 105 Ebd., 128. 106 Vgl. Wright, Faithfulness, 46; 612–618. 107 Ebd., 1041. Wright bringt 2Kor 6,16–18 als Beleg für diese Erwartung, einen Text, den viele für unpaulinisch halten. Wir halten seine paulinische Herkunft für möglich; vielleicht handelt es sich um ein Fragment aus dem in 1Kor 5,9 erwähnten ersten Gemeindebrief.

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Nach Wright hat Gott von vornherein alle Menschen für das Heil im Blick, dann aber Israel erwählt, damit es ein Licht für alle Völker sein soll. Angesichts von dessen Versagen aber habe er den Messias gesandt – durch ihn erfülle sich, wozu Israel schon immer erwählt war: Licht zu sein für die Völker. Wenn wir mit vier Heilskonzepten rechnen, die nicht harmonisiert werden können, folgen wir Heikki Räisänen. Er hat mehr als alle anderen unsere Auslegung geprägt. Wir sehen über ihn hinaus in der Folge der Heilskonzepte im Römerbrief sowohl eine sachliche Logik als auch eine chronologische Folge, welche seine theologische Entwicklung spiegelt. Dennoch sind die Gedanken des Paulus zur Universalisierung und Intensivierung des Heils voll von Widersprüchen. Sie lassen sich nicht auflösen. Paulus arbeitet sich in seiner Theologie an unlösbaren Widersprüchen und Aporien ab, die das menschliche Leben in seiner Grundstruktur prägen. Er scheitert mit jedem Heilskonzept. Aber warum scheitert er? Warum rafft er sich immer wieder zu neuen Gedanken auf? Warum korrigiert er sich immer wieder? All das geschieht nur, weil eine grundlegende Gewissheit seine Gedanken immer wieder sprengt: Der eine und einzige Gott will das Heil des ganzen Menschen und das Heil aller Menschen.

6. Kapitel: Die Universalisierung des Heils für alle Menschen Eine sozialgeschichtliche Lektüre des Römerbriefs

Paulus beginnt seinen Brief als Gesandter des Weltenherrn, der den Auftrag hat, in allen Völkern den „Gehorsam des Glaubens“ zu verbreiten.1 Die Empfänger des Briefes assoziierten beim Begriff „Glauben“ (πίστις/pístis oder fides) Loyalität gegenüber einem Herrscher.2 Die Proklamation Jesu als Weltenherrn nennt Paulus „Evangelium“ (εὐαγγέλιον/euangélion). Dieser Begriff ist auch im Herrscherkult belegt.3 Er hat in vielen Zusammenhängen keine politische Bedeutung, kann aber im Kontext von Herrschaftsaussagen leicht politisiert werden. Dies gilt auch für den Anfang des Römerbriefs, denn hier wird als „Evangelium“ die Einsetzung eines Herrschers aus königlichem Hause verkündigt, der nach seinem Tod zum Sohn Gottes eingesetzt wurde (1,1–4). Dynastisch legitimierte Herrscher, die postmortal zu göttlichem Status erhoben wurden, waren damals vor allem die römischen Kaiser. Paulus setzt ihnen Jesus als Herrscher aus dem Königshaus Davids und aus einem von den Römern unterworfenen Volk entgegen. Allen Menschen, die diesen neuen Universalherrscher durch Glauben anerkennen, bietet er eschatologisches Heil an – für alle Gläubigen, „Juden zuerst und ebenso Griechen“ (1,16). Diese zweigliedrige Formel durchzieht den ganzen Römerbrief. Sie begegnet noch einmal mit Bezug auf das Jüngste Gericht: Gott richtet „zuerst den Juden und ebenso den Griechen“ (2,10). Bei den beiden ersten Verwendungen der Formel hält Paulus am Vorrang der Juden fest, der aber bei den drei Wiederholungen dieser Formel verschwindet, sowohl angesichts des universalen Unheils: „Denn wir haben soeben bewiesen, dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“ (3,9), als auch angesichts des universalen Heils: „Denn es ist der eine Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben und die Heiden durch den Glauben“ (3,30). Das letzte Vorkommen der Formel in 10,12 betont noch einmal die Transzendierung aller Volksgrenzen: „Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist überall derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen“ (10,12). Paulus stellt mit Nachdruck heraus, dass sein Evangelium auf Überwindung aller ethnischer Grenzen unter den Menschen zielt. 1 Jewett, Letter; ders., Romans, 42–46. 2 Strecker, Fides. 3 Vgl. die Kalenderinschrift von Priene (OGIS 458) bei Schreiber, Weihnachtspolitik, 122–127, dazu die „Evangelien“ vom Aufstieg des Vespasian (Jos. Bell. 4,618.656).

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Gegen Ende seines Briefes lässt Paulus freilich erkennen, dass ethnische Unterschiede in der Gemeinde nach wie vor wirksam sind. Deswegen will er Heidenund Judenchristen in ihr versöhnen (11,13–24), deswegen Starke und Schwache zur gegenseitigen Annahme motivieren (15,1), deswegen Juden und Heiden in einem universalen Gottesdienst vereinen (15,7–13). Wenn er von Anfang an wiederholt die Aufhebung dieser Unterschiede proklamiert, so zeigt dies, dass er von vornherein auch praktische Probleme des Zusammenlebens von Menschen verschiedener Ethnien und sozialer Schichten vor Augen hat. Er schreibt für eine Gemeinschaft, die traditionelle Grenzen durchbricht, aber deswegen auch innere Konflikte überwinden muss. Die Verbreitung dieser Gemeinschaft erfolgte damals in Analogie zur Ausbreitung einer homogenen Oberschicht im Imperium Romanum. Diese Oberschicht formierte sich im Laufe der ersten beiden Jahrhunderte zu einer Herrschaftsschicht über alle Volksgrenzen hinweg. Die christlichen Gemeinden bildeten dazu eine Parallelstruktur in den unteren Schichten. Parallelstrukturen sind latente Oppositionen, wenn auch nicht notwendigerweise politischer, sondern sozialer Natur. Das zeigt der Römerbrief. Die rhetorischen Bilder an dessen Anfang sind politisch gefärbt und weisen auf einen die ganze Welt umfassenden Anspruch, der in Konkurrenz zum Imperium Romanum steht. Der Apostel, der diesen Anspruch vertritt, erscheint wie ein Gesandter des Weltenherrschers, also wie ein Vertreter der politischen Oberschicht. Die Bilder der von ihm repräsentierten, universal sich durchsetzenden Macht und Gerechtigkeit werden im Lauf des Briefs aber ab 6,1 durch familiäre Metaphern ersetzt, die eine Veränderung der Lebensform signalisieren. Was als ein umfassender Wandel in der ganzen Welt angekündigt wird, realisiert sich im Alltag der kleinen Leute. Das erste Bild des „Sklaven“, der seinen Herrn wechselt, führt in seiner Bildhälfte eher in die Unterschicht.4 Die politische Befreiung durch den Messias, die in Übereinstimmung mit messianischen Traditionen in 1,5, 4,13 und 5,17 anklingt, wird in Röm 6–8 zu einer Befreiung von Sünde, Gesetz und Vergänglichkeit. Die Bilder von Gott

4 Natürlich gibt es auch Kaisersklaven, die einen vergleichsweise hohen Status hatten. Epikt. I 19,19–22 schildert, wie jemand seinen Sklaven als untauglich an einen kaiserlichen Beamten verkaufte. Dadurch wurde sein Sklave Mitglied der familia Caesaris und wurde nun von seinem ehemaligen Herrn umworben. Auch Philo kennt solche angesehenen Sklaven mit­ hohem Status (Philo Prob. 35). Die Vermischung des Bildes vom Sklaven mit dem Bild des­ Söldners spricht in 6,12 jedoch eher für „normale“ Sklaven mit niedrigem Status. Denn sie hatten die „Sünde“ als Herrn, ehe die „Gerechtigkeit“ ihr neuer Herr wurde (6,16–23). Nach der Regel: ‚Der Status des Herrn bestimmt den Status des Sklaven‘ mussten antike Menschen im Bildbereich den von der „Sünde“ Versklavten spontan einen niedrigen Status zuschreiben, den Sklaven der „Gerechtigkeit“ aber einen hohen Status. Sie werden daher assoziativ an die allerärmsten Sklaven denken, deren Leben mit „Schande“ verbunden war (6,21). In der Sache können sie dabei natürlich auch an hochgestellte Menschen denken. In der Antike wusste man: Freie können Sklaven ihrer Begierde sein (vgl. z. B. Philo Prob. 45).

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als Herrscher und Richter in 1,18–5,21 werden zu Metaphern des Vaters (6,4; 8,15), des Sklaven, der Frau und des Sohnes in seinem Hause, in dem alle einen tief greifenden Wechsel erleben. Die mit diesen Bildern beschriebenen Christen lösen sich von der Welt des „Götzendienstes“, der das öffentliche Leben bestimmt und den sie als Verfehlung ablehnen (1,23). Menschen, die sich ihnen anschließen, werden im Initationsritual der Taufe symbolisch gekreuzigt (6,6) und identifizieren sich dadurch mit Christus, der von der imperialen Elite zu schmachvollem Tod verurteilt wurde. Sie vollziehen damit eine innere „soziale Kündigung“. An anderer Stelle hat Paulus das pointiert so zum Ausdruck gebracht: Er rühmt sich (in einer demonstrativen Selbststigmatisierung) des Kreuzes Christi. Nicht er ist der „Verbrecher“, sondern die Welt ist ihm „gekreuzigt“ (Gal 6,14). Nicht er ist im Unrecht und muss deshalb bestraft werden, sondern die Welt. Nicht die Christen, die mit Christus sterben, gekreuzigt und begraben werden (6,3–6),­ haben sich verlaufen und verirrt, sondern die Welt ist im Unrecht, aus der sie innerlich ausgestiegen sind. Eine solch alternative Lebensform, die alle anderen religiösen Kulte ablehnt, wird notwendigerweise als „soziale“ Opposition erlebt. Auch diese ins „Private“ und „Soziale“ transformierte Erlösungserwartung enthält somit einen latenten Widerspruch zu den existierenden politischen Strukturen, was sich auch daran zeigt, dass die messianische Erwartung eines Herrschers aus Israel, auf den die Völker hoffen, in dieser transformierten Erwartung nicht verschwindet, sondern in 15,12 (= Jes 11,10LXX) wiederkehrt: „Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen“. Daher ist die Frage berechtigt: Enthält die Botschaft des Römerbriefs trotz Verinnerlichung und Spiritualisierung des Heils einen verborgenen politischen Subtext?5 Oder ist der Messias am Ende des Briefs nicht mehr wie an dessen Anfang der vom Evangelium proklamierte Weltenherrscher (1,3 f)? Hat er sich in einen ganz anderen Herrscher­ verwandelt?

6.1 Die soziale Dynamik christlicher Gemeinden und die Entstehung einer trans-ethnischen Identität Die Entwicklung einer urchristlichen Parallelstruktur in den unteren Schichten des Imperium Romanum zur damals entstehenden überregionalen Aristokratie ist durch vier Tendenzen charakterisiert: durch Urbanisierung, Universalisierung, Aufstiegsdynamik und Spiritualisierung.6 Alle diese Tendenzen setzen sich in Konflikten durch.

5 Elliott, Arrogance of Nations. 6 Die vier Tendenzen nach Theissen, Social Setting.

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6.1.1 Urbanisierung Jesu Anhänger in Galiläa waren Fischer und Bauern. Nach seinem Tod verbreiteten sich seine Anhänger vor allem in den Städten der hellenistischen Mittelmeerwelt.7 Paulus trieb die Urbanisierung systematisch voran, indem er seine Missionstätigkeit in Mittelpunktstädten wie der römischen Kolonie Philippi oder in Provinzhauptstädten wie Thessaloniki, Korinth und Ephesus begann. Gerade in diesen Städten traf er auf Menschen, die ihre Interessen eng mit dem römischen Reich verbanden oder als Statthalter zur imperialen Elite gehörten. Diese Elite vertrat in der Regel die konservative Religionspolitik des Imperiums. Daher ist es kein Wunder, dass Paulus in diesen Städten Konflikte mit den lokalen Behörden hatte. So wurde er aus Philippi ausgewiesen, weil er neue „Götter“ einführte (Apg 16,21), und floh aus Thessaloniki, weil man ihm vorwarf, politische Unruhen zu stiften (Apg 17,6 f). Wahrscheinlich hat Paulus aus diesen Konflikten gelernt und konnte sich aufgrund vorsichtigeren Auftretens relativ lange als Prediger in Korinth und ­Ephesus halten. In Korinth klagten ihn die Juden zwar beim Prokonsul Gallio an, dieser lehnte es jedoch ab, ein Verfahren gegen Paulus zu eröffnen, weil er die Vorwürfe gegen ihn als innerjüdische Streitigkeiten betrachtete (Apg 18,12–17). Damit ist angedeutet, dass die Christusanhänger in Korinth (im Unterschied zu jenen in Philippi und Thessaloniki) als Teil der jüdischen Gemeinschaft wahrgenommen wurden. In Ephesus kam es dennoch zu einem tiefgreifenden Konflikt mit der Bevölkerung und den Behörden, der zur Inhaftierung des Paulus führte. Paulus blickt in 2Kor 1,8–11 auf seine Freilassung aus dem Gefängnis zurück, obwohl er mit einem Todesurteil gerechnet hatte. Wieder wurde er von der imperialen Oberschicht  – nur sie konnte Todesurteile verhängen und Delinquenten freisprechen – glimpflich behandelt. In Rom waren die Christusanhänger schon früh mit dem obersten Machtzentrum kollidiert: Kaiser Claudius wies 49 n. Chr. einige Christen als Unruhestifter aus Rom aus. Wahrscheinlich konnte Paulus deshalb erst nach dem Tod des Claudius in Rom auftreten. Er wollte auch hier zur friedlichen Entwicklung der christlichen Gemeinde beitragen, sprach aber in seinem Brief an die römische Gemeinde fast mit präkognitiver Klarsicht von einer schweren Verfolgung mit Worten von Ps 44,23: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe“ (8,36). Das klingt, als hätte er die spätere Verfolgung der römischen Christen unter Nero 64 n. Chr. geahnt.

7 Oakes, Contours.

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6.1.2 Universalisierung In den Städten kamen viele Kulturen und Völkern zusammen. Städte waren im Unterschied zu ländlichen Gemeinden Orte einer beginnenden Universalisierung. Das Urchristentum hatte als innerjüdische Erneuerungsbewegung begonnen, öffnete sich aber bald auch für Heiden. Aus Jerusalem geflohene Anhänger des Stephanus begannen in Antiochien eine programmatische Heidenmission. Sie hatte besonderen Erfolg unter den „Gottesfürchtigen“, d. h. unter den heidnischen Sympathisanten der Synagoge, die vom Monotheismus und von der Ethik der Juden angezogen waren, die aber die Beschneidung und die Speisegebote (noch) nicht übernommen hatten. Zwar schweigt Paulus von diesen „Gottesfürchtigen“ in seinen Briefen, aber die Apostelgeschichte berichtet von ihnen (z. B. Apg 10,35; 13,16). Zudem sind sie inschriftlich in Aphrodisias belegt.8 Dass gerade die Gottesfürchtigen von der christlichen Botschaft angesprochen wurden, ist plausibel. In der Synagoge waren sie Mitglieder zweiter Klasse, in der christlichen Gemeinde aber Gleichberechtigte. Auch diese Universalisierungstendenz führte zu Konflikten. Eine Gegenmission versuchte, die Gemeinden des Paulus zur Übernahme jüdischer Identitätsmerkmale  – v. a. der Beschneidung und der Speisegebote – zu überreden, um sie ins Judentum zu integrieren. Im Galater- und Philipperbrief verteidigt Paulus seine Mission gegen diese ­„Judaisten“ mit scharfer Polemik, im Römerbrief setzt er ihnen eine positive Gegenvision entgegen, die ihre Anliegen aufgreift. Diese Vision zielt auf ein verändertes Judentum, das sich für alle Menschen öffnet und in dem die Gemeinden des Paulus eine Heimat finden können, obwohl sie sich von manchen jüdischen Riten gelöst haben. Der Tempel soll (wie in Mk 11,17 = Jes 56,7) eine Kultstätte für alle Menschen werden und das Zentrum des Judentums bleiben. Dadurch würde dessen Einheit und Identität gewahrt bleiben.

6.1.3 Aufstiegsdynamik Die Christusanhänger erlebten früh einen sozialen Aufstieg. Paulus lokalisiert in den 50er Jahren die große Mehrheit der Christen noch in der Unterschicht (1Kor 1,26–29). Ihre Aufstiegsdynamik belegt der Brief des Plinius ca. 110 n. Chr., der bezeugt, dass sie in allen drei ordines, den drei Ständen, zu finden waren (Plin. epist. XI 96,9). Die drei ordines bestanden aus den Senatoren und Rittern als römischer Herrschaftselite und den Dekurionen oder Ratsmitgliedern der Städte als den lokalen Eliten. Plinius muss zumindest unter den Dekurionen Christen gekannt haben, sonst wäre seine Übertreibungsrhetorik wenig glaubwürdig. Dass er 8 Reynolds/Tannenbaum, Jews and God-fearers.

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Christen in allen drei Ständen vorfand, ist unwahrscheinlich, dennoch lässt sich ihr sozialer Aufstieg nicht leugnen. Ende des 1. Jh. hatten sie sogar eine Angehörige des Kaiserhauses, Flavia Domitilla, für sich gewinnen können. Für diese Bewegung „von unten nach oben“ stellen der Aufbau und die Etablierung der paulinischen Gemeinden eine wichtige Etappe dar. Für Korinth betont Paulus, dass unter den Christusanhängern nur wenige Weise, Reiche und Angesehene waren (1Kor 1,26). Gerade aus dieser Formulierung lässt sich schließen, dass es einige wenige unter ihnen gab. Die soziale Schichtung führte in Korinth zu Konflikten – beim Herrenmahl zwischen denen, die „haben“ und „nichts haben“, bei der Frage der Teilnahme an heidnischen Kultmahlen zum Konflikt zwischen den „Starken“ und „Schwachen“, der ebenfalls einen sozialen Hintergrund haben könnte.9 Obwohl im Römerbrief soziale Unterschiede kein zentrales Thema sind, deutet Paulus sie an dessen Beginn an. Er weiß sich nicht nur Griechen und Barbaren verpflichtet, sondern auch Weisen und Nicht-Weisen (1,14). Später spielt er auf soziale Unterschiede an, wenn er die Gemeinde mahnt, sich zu den Niedrigen zu zählen und nicht für „klug“ zu halten (12,16). Wie wir sehen werden, könnte der Konflikt zwischen „Starken“ und „Schwachen“ auch im Römerbrief eine soziale Komponente haben.

6.1.4 Spiritualisierung Schließlich können wir gerade im Römerbrief eine Tendenz zur Spiritualisierung feststellen.10 Während sich Jesus die Gottesherrschaft als großes Familienmahl vorstellte, kannte Paulus kein Essen und Trinken in ihr (14,17). Der Messias stammt bei ihm als Davidssohn aus königlichem Geschlecht (1,3), aber er befreit nicht Israel von dessen Feinden, sondern alle Menschen von Sünde, Tod und Gesetz. Der Römerbrief sieht die Unerlöstheit der Menschen in allgemeinmenschlichen Problemen. Aber auch solch eine Spiritualisierung musste zu Konflikten führen, da die Heilsverheißungen immer wieder auch wörtlich verstanden werden konnten. So versprach das Christentum Freiheit für alle: Alle sind durch Christus freigekauft, auch die Sklaven – sollte man das so verstehen, dass diese „nur“ von Sünde und Tod befreit waren? Hatte Israel nicht eine Tradition, nach der hebräische Sklaven nach sieben Jahren freigelassen werden mussten (Ex 21,2) und musste die Gemeinde daher nicht auch den Sklaven unter ihren Mitgliedern die Freiheit geben? Tatsächlich ist es zu Freikäufen auf Gemeindekosten gekommen, wie wir aus IgnPol 4,3 erschließen können. Dort wird jedoch von solch einer Praxis abgeraten. Paulus setzt sich im Philemonbrief in einem konkreten 9 Theissen, Soziale Integration; ders., Die Starken und die Schwachen; Zeller, KEK 5, bes. 367–369.379. 10 Wong, Deradicalization.

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Fall in einem Konflikt zwischen einem Sklaven und dessen christlichen Herrn für eine pragmatische Lösung ein: Nach einem Streit mit seinem Herrn sucht der Sklave Onesimus die Vermittlung des Paulus. Paulus rät im Brief an dessen Herrn, er solle Onesimus zukünftig Paulus zur Verfügung stellen. Ohne dass Paulus das direkt sagt, wäre die Folge: Onesimus wäre seinem Herrn entzogen und Paulus hätte einen hoch motivierten neuen Mitarbeiter in seiner Mission.11 Die deuteropaulinischen Briefe (Kol, Eph und die Pastoralbriefe) dagegen dämpfen allzu große Hoffnungen der Sklaven auf Freilassung.12 Diese vier Entwicklungstendenzen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Innerhalb des Judentums bildeten die Jesusanhänger eine Art „Sekte“. Sekten sind Splittergruppen einer bereits bestehenden Religion, die einzelne Traditionen dieser Religion einseitiger und konsequenter realisieren, als es die Mehrheit tut. Anhänger von Sekten müssen daher nicht neu bekehrt, sondern nur davon überzeugt werden, dass sie allein konsequent die Ziele der Religion verwirklichen, von denen sie sich abspalten. Ihrem Selbstverständnis nach beginnen Sekten als „Erneuerungsbewegungen“. So hatte auch die Jesusbewegung innerhalb des Judentums in Israel begonnen. In den heidnischen Städten von Syrien bis Rom aber wollte diese neue Bewegung keinesfalls alte Kulte erneuern, sondern bot hier als ein neuer „Kult“ ein alternatives Heilsangebot zu den bereits bestehenden einheimischen Kulten an.13 Gleichzeitig konnten sich die Christen als Variante des Judentums auf eine uralte Tradition berufen. Das sprach die an, die im Schutz alter Traditionen ihr Leben führen wollten. Geschichtlich gab es dabei im Urchristentum eine Übergangsphase, in der nicht geklärt war, ob die neue Bewegung eine „Erneuerungsbewegung“ innerhalb des Judentums bleiben oder ob diese ein neuer Kult oder eine neue „Religion“ werden würde. Der Römerbrief gehört in diese offene Situation. Paulus selbst strebte eine Reform des Judentums an und erst im Rückblick erkennen wir, dass er dabei faktisch die Verselbständigung der Christusanhänger zu einer neuen Religion vorangetrieben hat. Die neue Gruppe der Christen entstand durch eine intensive Bindung an Christus, also an einen Menschen, den sie als Kyrios der Welt verehrten. Ein solcher Kult hatte im Grunde nur eine Analogie im Erleben der damaligen Menschen, nämlich im römischen Kaiserkult, in dem verstorbene Kaiser – also sterbliche Menschen – durch Apotheose zu einer Gottheit erhoben wurden. Christus wurde so zum Gegenbild des Kaisers. Paulus zitiert in 1,3 f eine von ihm übernommene vorpaulinische Bekenntnisformel. Demnach stammt Jesus aus dem königlichen Haus Davids, wurde aber durch die Auferstehung „in Macht“ (d. h. in Wirklichkeit) zum Sohn Gottes eingesetzt. Wenn Paulus den ca. 56 n. Chr. geschriebenen Römerbrief so einleitet, spielt er auf den Tod des Kaisers Clau 11 Lampe, Sklavenflucht. 12 Merz, Selbstauslegung, 245–267. 13 Stark, Rise of Christianity; Theissen, Kirche oder Sekte?

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dius am 13.10.54 und seine postmortale Divinisierung an. Claudius stammte aus königlichem julisch-claudischen Haus und wurde nach seinem Tod zum­ divus (zu einem göttlichen Wesen) erhoben. Seine Apotheose wurde in Senecas ­Satire „Apocolocyntosis“ („Die Verkürbissung des Claudius“) kritisiert. Dort bittet Claudius um Aufnahme unter die Götter im Himmel, wird aber als unwürdig abgelehnt und in die Unterwelt geschickt.14 Im römischen Kaiserkult erlebten die damaligen Zeitgenossen, wie sich der Götterhimmel durch die Kaiser als den jüngsten Aufsteigern unter den antiken Göttern veränderte.15 Diese Veränderung im Himmel spiegelte eine Veränderung auf Erden wider: die Etablierung des Imperium Romanum unter vielen Völkern. Der Kaiserkult hielt das Vielvölkergemisch des Römischen Reiches zusammen. Die abhängige Bevölkerung brachte durch dessen Ausübung ihre politische Loyalität zum Ausdruck, die herrschende Schicht legitimierte mit ihm ihre eigene Herrschaft. Er wurde von politisch und sozial erfolgreichen Gruppen getragen, z. B. von Freigelassenen, vom Heer und von Klientelfürsten wie Herodes I., der in Caesarea und Sebaste Kaisertempel errichten ließ. Träger des Kaiserkults waren also soziale Gruppen mit Aufwärtsmobilität, neben dem Heer vor allem die traditionellen Lokalaristokratien, die sich im Laufe der Zeit immer mehr in eine überregionale Reichsaristokratie verwandelten. Während politische „Weltherrscher“ damals in die Stellung von Göttern rückten, proklamierte eine kleine religiöse Gruppe im Römischen Reich Christus als alternativen Weltherrscher und schrieb ihm die Unterwerfung aller Mächte im Himmel und auf Erden zu. Der Römerbrief ist ein Dokument dieses Anspruchs. Er will ein „Evangelium“ Gottes durch einen Gesandten verkündigen, der einen Erlösungsauftrag für die ganze Welt hat (1,1–5). Die „Revolution im Himmel“ durch Einsetzung eines Menschen zum Sohn Gottes geschah dabei nicht durch einen Angehörigen der herrschenden Schicht, sondern durch einen Handwerker aus einem unterworfenen Volk, der aus einer königlichen Linie stammte. Seine „Sozialklientel“ fand dieser alternative „Herrscher“ quer durch alle Provinzen und Völker. Die gemeinsame Verehrung Christi schuf ein Netz überregionaler Solidarität – vor allem dort, wo das Römische Reich integrationsschwach war: bei den von lokaler und imperialer Herrschaft ausgeschlossenen Gruppen in den Städten. Diese erlebten zwar, wie das Reich zusammenwuchs, konnten aber nicht in dem Maße wie die Oberschicht an dessen Möglichkeiten und Vorzügen teil­haben und davon profitieren. Wer sich den Anhängern des Gekreuzigten anschloss, gehörte zu einer überregionalen Bewegung. Diese zeichnete sich jedoch nicht durch Loyalität zum Kaiser und dem Römischen Reich aus, sondern durch Bindung an Christus und an dessen himmlisches Reich. So wie die Sozialklientel des Kaisers Menschen aus allen Schichten umfasste, so tat es auch die „Sozial 14 Theissen, Auferstehungsbotschaft. 15 Das Folgende in Anlehnung an ders., Religion, 89 f.

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klientel“ dieses alternativen Weltenherrschers: Seine Gemeinden vereinten Menschen aller sozialen Gruppierungen, wobei die Anhänger aus den Unterschichten zahlreicher waren als diejenigen aus der Oberschicht (1Kor 1,26). Zwischen den Kaisern und ihrer Sozialklientel auf der einen, Christus und seinen Anhängern auf der anderen Seite, bestand eine strukturelle Analogie. In beiden Zusammenhängen fand man Formen überregionaler Solidarität, eine Verheißung positiver Veränderungen im Leben, einen schichtübergreifenden Zusammenhalt und eine Privilegierung gegenüber den anderen, die ohne eine besondere Beziehung zum „Weltenherrn“ lebten. Der Sitz im Leben dieser beiden politischen und religiösen Sozialgebilde aber war verschieden: Dort waren es die herrschende Oberschicht und die von ihr Abhängigen, hier die von der Herrschaft ausgeschlossenen städtischen Gruppen aller Schichten. Die dennoch vorhandene strukturelle Ähnlichkeit der Anhänger musste die beiden sozialen Gruppierungen in einer Gesellschaft, in der politische und religiöse Prozesse verwoben waren, zu Konkurrenten machen. Der Römerbrief lässt das erkennen, indem er einen Königssohn proklamiert, der zum Weltenherrn aufgestiegen war (1,3), und auf dessen Herrschaft alle Völker hoffen (Jes 11,10LXX = Röm 15,12). Dieser Weltenherr aber herrscht nicht durch Truppen und irdische Gerichtsurteile, sondern allein durch sein Evangelium und sein Wort, das den Sünder rechtfertigt und das eine weltweite Gemeinschaft um sich schart, in der ethnische Unterschiede relativiert werden. Der Römerbrief ist das Manifest einer im Entstehen begriffenen Parallelgesellschaft. Wir sehen in ihm das Christentum auf dem Weg zu einer „subkulturellen Universalreligion“.16

6.2 Die Universalisierung ethnischer Traditionen Paulus hat das Selbstverständnis der Christen durch die Universalisierung ethnischer Kategorien geprägt.17 In der ethnographischen Beschreibung des jüdischen Volkes des Tacitus finden wir vier Kategorien: origo, situs, mores und historia, also eine Charakterisierung durch Ursprung, Wohnort, Sitten und Geschichte (Tac. hist. V 2–13). Danach wurde das Judentum zur Zeit des Paulus durch vier Faktoren bestimmt: durch die gemeinsame Abstammung von Abraham, durch den Tempel in Jerusalem als Zentrum des Landes Judäa, durch das Gesetz als Ausdruck ihrer Sitten und durch die gemeinsame geschichtliche­ 16 So Schnelle, Paulus, 174 Anm. 122. 17 Heute ersetzt bei Deutungen des Judentums manchmal „Ethnizität“ die umstrittene Kategorie „Religion“. Religion sei hier noch kein selbständiger Bereich der Kultur, sondern eingebettet in soziale Beziehungen, Ethnizität werde durch kollektive boundary marker und identity marker konstruiert. Vgl. Esler, Conflict, 41–76, über „Ethnicity, Ethnic Conflict, and the Ancient Mediterranean World“. Ders., Judean Ethnic Identity.

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Erinnerung in Gestalt Heiliger Schriften.18 Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. wurde das Gesetz (also die Codifikation ihrer Sitten) zur zentralen Grundlage der Identität des Judentums. Die vier Kategorien, die schon in der Antike als Ethnizitätskriterien galten, finden wir auch im Römerbrief. Paulus hält an der Bedeutung von Abstammung, Tempel, Gesetz und der alttestamentlichen Geschichte für das „Volk Gottes“ fest, kritisiert aber deren partikularistische Deutung: die Begrenzung der Abrahamskindschaft auf die physische Nachkommenschaft, den Ausschluss gläubiger Heiden vom Tempelkult, die separatistische Verwendung des Gesetzes und die Blindheit gegenüber der Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen in einer die Grenzen Israels überschreitenden Bewegung. Alle Merkmale eines Volkes sollen nach Paulus universal neu definiert werden: seine Abstammung, sein Tempel, sein Gesetz und sein Geschichtsbild.

6.2.1 Die Universalisierung der Abstammung Religionen und Nationen sind „imagined communities“.19 Ihre Mitglieder kennen einander nicht, gehören aber in ihrer Vorstellung zusammen. Der Glaube an eine gemeinsame Abstammung gibt vielen Völkern das Bewusstsein einer Verwandtschaft, auch wenn die Mitglieder genetisch nicht verwandt sind. Paulus erkennt das Wesen dieser fiktiven Verwandtschaft mit begrifflicher Klarheit, wenn er sie als Abstammung durch Glauben unabhängig von physischer Abstammung definiert. Heiden werden durch Glauben zu Kindern Abrahams. Der Glaube an die Gemeinschaft wird zum entscheidenden Fundament der Gemeinschaft der Christen. Paulus hat sich im Galater-, wie im Römerbrief in diesem Sinne auf Abraham als Vater der Glaubenden berufen, dabei aber im Römerbrief wichtige Änderungen gegenüber dem Galaterbrief vorgenommen. In Gal 3 bezieht er die Verheißung an Abraham auf einen einzigen Nachkommen, indem er den Nachkommen (σπέρμα/spérma)  im Singular auf Christus deutet (Gal 3,16). Da alle Getauften in Christus eins geworden sind, werden sie Nachkommen Abrahams. Für alle gilt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht 18 Moderne Ethnizitätskonzepte nennen nach Esler, Conflict, 43 f, als Merkmale eines Ethnos: (1) einen gemeinsamen Eigennamen, (2) den Mythos einer gemeinsamen Abstammung, (3) gemeinsame Geschichtserinnerungen, (4) eine gemeinsame Kultur (Sitten, Sprache und Religion), (5) eine Beziehung zu einem Territorium, (6) einen Sinn für Solidarität. Zu den vier Merkmalen bei Tacitus kommen hier zwei weitere hinzu. Aber auch Tacitus thematisiert den Eigennamen „Judäer“ und bringt ihn mit dem Berg Ida auf Kreta zusammen (Tac. hist. V 2), auch er hebt die Solidarität der Juden untereinander hervor (Tac. hist. V 5). 19 Andersen, Imagined Communities, definiert eine Nation als „imaginierte Gemeinschaft“: Kein Mitglied hat jemals auch nur einen Teil der anderen Mitglieder kennen gelernt, aber in allen lebt eine Vorstellung davon, dass sie zusammengehören. Engberg, Impulsore Chresto, 34–37, hat diesen Begriff auf die frühe Kirche übertragen: „The church is an imagined religious community“ (S. 36).

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Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, denn alle sind einer in Christus. Wenn ihr aber Christus angehört, so seid ihr Abrahams Nachkommen und seine Erben nach der Verheißung“ (Gal 3,28). Diese neu definierte Abrahamskindschaft ist mehr als eine Ausweitung des jüdischen Volks, sie ist eine Gemeinschaft, die allein durch Glauben konstituiert wird und deswegen die Grenzen physischer Abstammung überschreiten kann. Durch die Einschränkung der Nachkommenschaft auf Jesus als einzige Person werden im Galaterbrief aber gleichzeitig große Teile des jüdischen Volks von dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. In Gal 4 greift Paulus ein zweites Mal auf Abraham zurück, nun mit einer entgegengesetzten Aussage. Er will nicht die Einheit der Nachkommen Abrahams erklären (Gal 3,28), sondern die Feindschaft zwischen den Kindern der Sklavin Hagar und den Kindern der Freien Sara, zwischen Ismael und Isaak. Paulus identifiziert entgegen jeder Tradition die Kinder Hagars mit den Juden und die Kinder Saras mit den Christen. Zielt das erste Abrahambeispiel in Gal 3 auf eine Einheit aller Menschen in Christus, so zielt das zweite Abrahambeispiel in Gal 4 auf eine Spaltung zwischen Christen und Juden. Zwar klammert Paulus nicht mehr wie in Gal 3 alle Juden aus der Abrahamskindschaft aus, sondern schreibt ihnen eine Abrahamskindschaft zweiten Ranges zu  – sie stammen von der unfreien­ Hagar ab – aber am Ende des Galaterbriefs reserviert er den Begriff „­ Israel Gottes“ wieder exklusiv für die christliche Gemeinde: „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern eine neue Kreatur. Und alle, die sich nach diesem Maßstab (oder „Regel“) richten – Friede und Barmherzigkeit über sie und über das Israel Gottes!“ (Gal 6,16). Die Genitivverbindung „Israel Gottes“ enthält dabei einen kritischen Akzent. Das Israel Gottes wird von einem anderen Israel unterschieden. Eine vergleichbare Entgegensetzung finden wir in 1Kor 10,18, wo vom „Israel nach dem Fleisch“ gesprochen wird, das mit der christlichen Gemeinde kontrastiert wird, die im vorhergehenden Text typologisch durch das Israel des Exodus dargestellt wird. Dieses andere Israel wird durch das Essen von geistlicher Speise und geistlichem Trank charakterisiert (1Kor 10,3 f). Das so mit Gottes Geist verbundene Israel könnte das „Israel Gottes“ in Gal 6,16 im Unterschied zum „Israel nach dem Fleische“ sein.20 Diese Deutung von Gal 6,16 auf Christen entspricht dem Gedankengang im Galaterbrief. Nach Gal 3 sind nur die Christen Erben Abrahams und nach Gal 4 sind nur die Christen Kinder der freien Sara. Der Schlusssegen des Paulus in Gal 6,16 könnte dabei zwei Gruppen unterscheiden: Zunächst gilt er für alle Menschen, die nach der „Regel“ des Paulus leben und Beschneidung und Unbeschnittensein für irrelevant halten. Der Segen wird dann aber ausgeweitet „auch auf das Israel Gottes“. Wenn damit ein weiterer Kreis über die Paulusanhänger hinaus gemeint 20 Vgl. den Gegensatz unter den Kindern Abrahams zwischen den „Kindern des Fleisches“ und den „Kindern Gottes“ in Röm 9,8.

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ist, so wären das alle Judenchristen, die an der Beschneidung festhielten und damit nicht der paulinischen „Regel“ folgten, nach der Heidenchristen unbeschnitten blieben. Paulus hatte in Gal 2,1–10 innerhalb der Christen beide Gruppen als gleichwertig dargestellt, da sie sich auf dem Apostelkonzil gegenseitig anerkannt hatten. Er wäre in Widerspruch mit sich selbst geraten, wenn er den Abschlusssegen auf seine Anhänger beschränkt hätte. Man kann darüber hinaus fragen, ob er so großzügig war, seinen Segen sogar auf seine judenchristlichen Gegner in Galatien auszudehnen. Gehörten auch sie für ihn zum „Israel Gottes“? Wünscht er ihnen die Barmherzigkeit Gottes? Dann hätte er ihre Verfluchung in Gal 1,8 f widerrufen. Das wäre zwar ein sympathischer Zug in einem polemischen Brief, aber wenn Paulus an dieser Stelle seine Anhänger durch Befolgung einer „Regel“ definiert, so denkt er wahrscheinlich beim „Israel Gottes“ an Christen, die einer anderen Regel folgten. Dies mögen die vielen Judenchristen gewesen sein, für die Petrus zuständig war, dem das Apostolat für die Beschneidung anvertraut war. Dieses „Israel Gottes“ respektierte seine Mission ohne Beschneidungsforderung, selbst wenn seine eigenen Missionare beschnitten waren. Solche Missionare sollen die Galater am „Kanon“ des Paulus messen.21 Seine Gegner fallen dagegen in der Sicht des Paulus aus dem auf dem Apostelkonzil gefundenen Vereinbarung heraus. Er würde sie eher wie die „falschen Brüder“ (Gal 2,4) bewerten, ihnen also eine wahre Zugehörigkeit zur Gemeinde und zum „Israel Gottes“ absprechen.

Exkurs 11: Wer ist in Gal 6,16 mit „Israel Gottes“ gemeint? Die Deutung von „Israel Gottes“ auf Christen wird seit G. Schrenk bestritten, der die Ansicht vertritt, Paulus meine hier alle Juden.22 F. Mußner führt für diese Deutung das Argument an, Paulus segne alle, die sich nach seinem Maßstab richten werden. Das Futur lasse offen, wer dazu gehören wird. Auch die jetzt noch ungläubigen Juden könnten es sein. Der Segen „auch über das Israel Gottes“ wirke zudem wie eine Ausweitung über die hinaus, die nach dem Maßstab des Paulus leben. Eine Analogie dazu findet Mußner in der 19. Benediktion des Achtzehngebets (in der babylonischen Rezension): „Lege Frieden, [Heil] und Segen, [Gunst und Liebe und Erbarmen] auf uns und auf ganz Israel, dein Volk“23. Paulus empfehle daher am Abschluss seines Briefes alle Juden dem Erbarmen Gottes. In dieser Ausweitung sei eindeutig „ganz Israel“ als „Volk“ Gottes gemeint. Auch A. Lindemann24 bezieht den Segenswunsch auf zwei Gruppen: Der Friedensgruß gelte den Christen als Kindern Saras, die Barmherzigkeit aber allen Juden als Kindern Hagars. S. Eastman25 teilt Gal 6,16 durch Interpunktion in zwei Sätze: 21 Windsor, Vocation, 55–61, bezieht die Regel des Paulus vor allem auf einen Maßstab, um in die Gemeinde kommende Prediger zu beurteilen. 22 Schrenk, Israel Gottes. Ihm widersprach Dahl, Israel. 23 Nach Mussner, Galaterbrief, 417. Das Achtzehngebet findet sich in Bill. IV/1, 214. 24 Lindemann, Israel, 175 f, 25 Eastman, Israel.

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„Und wie viele nach dieser Regel einhergehen, über sie sei Friede. Und Barmherzigkeit (komme) auch (καί/kaí) über das Israel Gottes“. Eastman stützt die syntaktische Trennung von Friede auf der einen Seite, Barmherzigkeit auf der anderen damit, dass sich die Zusammenstellung von Friede und Barmherzigkeit in keiner geläufigen Segensformel findet. Diese Zusammenstellung ist aber in der Trias „Gnade, Barmherzigkeit und Friede“ enthalten (1Tim 1,2; 2Tim 1,2), daher gibt es keinen Grund, sie in Gal 6,16 auseinanderzureißen. Für eine Einheit des Satzes spricht folgende Überlegung: Wenn das Erbarmen auch über das Israel Gottes kommen soll, muss es erst recht den vorher Genannten gelten, unter denen auch Heiden sind. Zwar bezieht sich Gottes „Barmherzigkeit“ in Röm 9–11 meist auf Israel, aber einmal auch auf alle Menschen (11,32), in 15,9 sogar auf die Heiden. Da „Israel“ bei Paulus eine stark variierende Bedeutung hat, ist seine Übertragung auf die christliche Gemeinde prinzipiell denkbar.26 Wenn ­Paulus zudem in Gal 6,16 und nur hier von einem „Israel Gottes“ spricht, unterscheidet er dieses „Israel Gottes“ von einem anderen Israel – etwa vom „Israel nach dem Fleische“ (1Kor 10,18). Dann aber würde er viele in Israel hier ausklammern. Hinzu kommt, dass im unmittelbaren Kontext von Gal 6,16 die Anhänger des Paulus, die nach seiner „Regel leben“, nicht den Juden insgesamt gegenübergestellt werden, sondern nur den judenchristlichen Gegenmissionaren, die die Beschneidung fordern (Gal 6,12). Darauf basiert die Vermutung, dass Paulus den Galatern mit seiner „Regel“ einen Maßstab an die Hand geben will, mit dem sie zu ihnen kommende Missionare unterscheiden können. Das „Israel Gottes“ wären dann judenchristliche Missionare, die sich nicht nach der „Regel“ des Paulus verhalten, aber von Heidenchristen keine Beschneidung verlangen. Falls dennoch die von Schrenk, Mussner, Lindemann, Eastmann u. a. vertretene Deutung des Israel Gottes auf alle Juden zuträfe, würde schon am Ende des Galaterbriefes die positive Bindung des Paulus an „ganz Israel“ (im Sinne des empirischen Israels) in einer überraschenden Kehrtwendung seiner vorhergehenden Gedanken im Galaterbrief durchbrechen, ohne dass Paulus diese Kehrtwende seinen Lesern signalisiert hat. Wahrscheinlich ist diese gedankliche Wende aber erst nach der Abfassung des Galaterbriefs geschehen. In Röm 9–11 wird sie auf jeden Fall vorausgesetzt.

Sowohl die Einheit von Christen und Juden als auch der Konflikt zwischen ihnen sind mit deren Abstammung von Abraham in Gal 3 und 4 verbunden. Darin zeigt sich eine Aporie jeder universalisierenden Bewegung: Sie will vereinen, schafft aber neue Spaltungen. Deshalb ist die Weiterentwicklung des Abrahambeispiels im Römerbrief aufschlussreich. Sie beleuchtet eben diese Aporie, jedoch in neuer Weise. Das Abrahambeispiel begegnet auch im Römerbrief zweimal. In Röm 4 ist Abraham wie in Gal 3 der Vorfahre der Universalisierung, in Röm 9 ist er wie in Gal 4 der Ursprung einer Spaltung. Auch in Röm 4 bewirkt der Glaube die Universalisierung der Abrahamskindschaft. Aber Paulus deutet jetzt das Wort „Nachkommenschaft“ (τὸ σπέρμα/tó spérma) nicht mehr auf einen einzigen physischen Nachkommen, sondern kollektiv auf alle Nachkommen Abrahams aufgrund ihres Glaubens (4,13.18). Damit revidiert er den Ausschluss ungläubiger 26 Reinbold, Bedeutung, 414, unterscheidet sechs Bedeutungen bei Paulus.

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Juden aus Abrahams Nachkommenschaft, welchen er in Gal 3 postuliert hatte und Abraham wird wieder zum Vater aller Glaubenden aus Heiden und Juden: So sollte er ein Vater werden aller, die glauben, ohne beschnitten zu sein damit auch ihnen der Glaube gerechnet werde zur Gerechtigkeit; und ein Vater der Beschnittenen, (a) derer, die nicht nur beschnitten sind, (b) sondern auch derer, die in den Fußstapfen des Glaubens gehen, den unser Vater Abraham hatte, als er noch nicht beschnitten war (4,11bf).

Die erste Bestimmung (a)  wirkt wie eine Beschränkung auf die Judenchristen, bei denen zur Beschneidung der Glaube hinzutreten muss. Die zweite Bestimmung (b) wirkt wie eine Ausweitung auf alle Glaubenden, da die Abrahamskindschaft alle umfasst, die wie Abraham glauben, als er noch unbeschnitten war.27 Denkt Paulus hier an einen allgemeinen jüdischen Glauben an Gott als Vertrauen auf den, der aus dem Nichts das Sein schafft (4,17)? Handelt Röm 4 also primär von diesem einen und einzigen Gott und wendet diesen Gottesglauben sekundär auch auf den christlichen Glauben an Gottes todüberwindende Macht an?28 Oder denkt Paulus an Abrahams Glauben an Gott nur als Vorabbildung des christlichen Glaubens an Jesus? In jedem Fall begründet der Glaube die Gemeinschaft der Kinder Abrahams. Diese ist weder das Volk Israel, das um einige Proselyten erweitert wurde, noch ein neues Volk, das ein altes Volk ablöste, es ist vielmehr eine neue Menschheit, in der die Kategorien von Volk, Status und Geschlecht nicht mehr gelten. Die Hoffnung auf solch eine vereinte Menschheit ist ein Teil jüdischer Identität. Die Juden sind nach Paulus ein Ethnos mit einer transethnischen Hoffnung. Abraham steht für diese universale Hoffnung. In Röm 4 wird zum ersten Mal im Römerbrief offen ausgesprochen, dass Paulus eine Öffnung des Judentums für alle Völker anstrebt, ohne dass Juden ausgeschlossen sind. Paulus träumt von einer Reform des Judentums, nicht von seiner Überwindung. Wie im Galaterbrief scheint Paulus auch im Römerbrief im zweiten Abrahambeispiel (9,6–13) diese mit Abraham verbundene universale Hoffnung (4,1–25) zurückzunehmen. Erwählung und Verwerfung spalten die Israeliten in Kinder des Fleisches und der Verheißung (9,8). Diese Spaltung entspricht dem Gegensatz zwischen den Kindern H ­ agars und Saras in Gal 4,21–31, dem Streit zwischen den Kindern der Sklavin und der Freien. Nur die Kinder der Freien, nur die Christen, sind im Galaterbrief das „Israel Gottes“. Paulus revidiert diese schroffe Spaltung unter den Nachkommen Abrahams im Römerbrief, obwohl er auch hier die Feindschaft zwischen ihnen betont (11,1–4). Aber er nimmt die Einschränkung des Ehrenna 27 Wolter, EKK 6/1, 292, hat die Unsicherheit der Exegese aus diesem Textbefund erklärt. Er plädiert für Heiden- und Judenchristen. 28 Flebbe, Solus Deus, 163–267.

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mens „Israel Gottes“ auf die Christen in Gal 6,16 zurück: Elia klagt „gegen Israel“ vor Gott über seine Verfolgung (11,2 f). Am Ende wird aber „ganz Israel“ erlöst (11,26). Dann wird auch alle Feindschaft Israels gegen die Heidenchristen überwunden sein. Das ganze Israel, das erlöst werden wird, steht in 11,25 f in Opposition zu dem Israel, das teilweise verstockt war. Es umfasst alle Juden. Vorausgesetzt ist, dass die Verstockung eines Teils von Israel durch Gott aufgehoben wurde.29 Ob Paulus zu „ganz Israel“ an dieser Stelle auch noch die Heidenchristen hinzuzählt, deren „Vollzahl“ inzwischen „hineingegangen“ ist, kann offen bleiben. Entscheidend ist, dass die Bezeichnung der christlichen Gemeinde als „Israel Gottes“ und der damit gegebene Ausschluss der Juden aus dem „Israel Gottes“ (in Gal 6,16) im Römerbrief durch eine Vision Israels ersetzt wird, die alle Juden einschließt: Einmal wird ganz Israel zusammen mit der Vollzahl der Heiden in der Verehrung Gottes vereint sein! Was Paulus unter der „Vollzahl der Heiden“ versteht, bleibt unklar. Wahrscheinlich denkt er an alle, die den einen und einzigen Gott anerkennen – also nicht nur an die wenigen ­Proselyten, die durch Übernahme jüdischer Riten zum Judentum übergetreten sind, sondern auch an alle „Gottesfürchtigen“. Im Galaterbrief gab es dagegen kein Zeichen für eine Überwindung der Spaltung unter den Abrahamskindern. Daraus lässt sich folgern, dass Paulus erst nach dem Galaterbrief zu der Erkenntnis gekommen sein kann, dass die Spaltung unter den Nachfahren Abrahams durch Erlösung von ganz Israel überwunden wird. Zwischen der Abfassung des Galaterbriefes und der des Römerbriefes erfolgte eine Änderung seiner Überzeugungen. Paulus selbst erklärt sie dadurch, dass ihm ein Mysterium offenbart wurde (11,25). Dieses Mysterium einer universalen Gottesverehrung transzendiert die innergeschichtliche Realität. Paulus kündigt aber einen ersten Schritt zur Verwirklichung dieser Vision an: Er will in Jerusalem Heiden als Opfer darbringen und zieht dazu nach Judäa (15,31). Damit kommen wir zum zweiten Ethnizitätskriterium, dem Land, und seinem Zentrum Jerusalem.

6.2.2 Der Traum von der Öffnung des Tempels30 Christen sind an kein Territorium gebunden, sie haben ihre Heimat weder in Judäa noch in Jerusalem. Ihre Heimat ist der Himmel (Phil 3,20). Trotzdem teilten sie bis 70 n. Chr. mit den Juden den Tempel in Jerusalem als ihr gemeinsames Zen 29 Nach Wright, Faithfulness, 1236–1239, wartet Paulus (wie in 2,4 f) auf die Umkehr einiger Israeliten (11,14.23) und hält weiterhin an 9,6 fest: „Nicht alle sind Israeliten, die von Israel abstammen“. Aber Paulus fordert in 11,26 f mit einem AT-Zitat nicht Umkehr, sondern kündigt den Erlöser an, der die Gottlosigkeit von „Jakob“ wegnimmt. Dessen Rettung ist ausschließlich Gottes Akt, basiert nicht auf einer Umkehr von Menschen. „Jakob“ ist Rückverweis auf 9,13:­ Jakob wurde von Gott geliebt. Von Jakob stammen alle Juden ab. Alle Juden gehören daher zu „ganz Israel“ oder zu Jakob. Alle werden gerettet. 30 Vgl. zum Folgenden Theissen, Weissagung; ders., Bedeutung der Tempelprophetie.

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trum. Auch Paulus hatte die Absicht, vor seiner weltweiten Mission dorthin zu reisen. Warum ist ihm der Tempel so wichtig? In der Antike war die Verehrung der Götter identisch mit der Ausübung von rituellen Opfern, die an heiligen Stätten dargebracht wurden. Seitdem die Christusanhänger Heiden in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten, existierte unter ihnen eine wachsende Zahl von Menschen, die keinen Zugang zu einem Tempel hatte. An heidnischen Kulten durften sie nicht mehr teilnehmen, aber auch vom Jerusalemer Tempelkult waren sie ausgeschlossen. Sie lebten nach dem Selbstverständnis des antiken Menschen in einem kultischen Niemandsland. Umso mehr versicherten ihnen führende Christen wie Paulus, dass ihre Gemeinde der wahre Tempel Gottes sei (1Kor 3,16 f), ja, dass jeder Mensch ein „Tempel des heiligen Geistes“ war (1Kor 6,19) und dass sie schon mit ihrem Gott wohlgefälligen Leben einen „vernünftigen Gottesdienst“ vollzogen, indem sie Gott ihre Leiber als unblutige Opfer hingaben (12,1). Die Vorstellung solch kultischer Bilder schloss jedoch keineswegs aus, dass man auch am realen Tempelkult teilnehmen wollte.31 Solch eine Tempelmetaphorik konnte sogar die Sehnsucht nach Teilnahme an einem realen Tempelkult wachhalten. Paulus selbst kehrte mehrmals nach Jerusalem zurück und beteiligte sich am Tempelkult, indem er z. B. die Kosten der Opfer für die Auslösung eines Nasiräatsgelübdes übernahm (Apg 21,23–26). In Mk 11,17 hören wir vom Traum einiger Christen, dass der Tempel eine Gebetsstätte für alle Völker werden solle (Mk 11,17 = Jes 56,7). Vieles spricht dafür, dass der Ausschluss der Heiden vom Tempelkult im 1. Jh. n. Chr. keineswegs unumstritten und selbstverständlich war. Begrenzt wurden Heiden am Tempelkult nach wie vor dadurch beteiligt, dass man Opfergaben von ihnen annahm und diese stellvertretend für sie opferte.32 Die Christusanhänger fielen also aus dem damaligen Judentum nicht heraus, wenn sie Nicht-Juden am Tempelkult beteiligen wollten, auch wenn ihre Öffnungsträume vielen Juden zu weit gingen. Schon Stephanus hatte durch eine Weissagung zum Tempel den Zorn anderer Juden so stark provoziert, dass er von ihnen getötet wurde. Gegen ihn wurde die Anklage erhoben: „Dieser Mensch hört nicht auf, zu reden gegen diese heilige Stätte und das Gesetz. Denn wir haben ihn sagen hören: Dieser Jesus von Nazareth wird diese Stätte zerstören und die Ordnungen ändern, die uns Mose gegeben hat“ (Apg 6,13 f). Das rechtliche Vorgehen gegen Stephanus wirkt wie ein formales Gerichtsverfahren, seine Hinrichtung dagegen wie Lynchjustiz durch eine auf 31 Beides schließt sich nicht aus, wie die Analogie der Qumrangemeinde zeigt. Sie verstand die Gemeinde als einen Tempel und lehnte den Tempel in Jerusalem in seiner jetzigen Form ab, hielt aber grundsätzlich an ihm fest. 32 Krauter, Beteiligung, hat gezeigt: Nicht-Juden konnten für sich opfern lassen. Ihre Opfer für Herrscher und im Auftrag von Herrschern sind gut belegt. Nicht-Juden durften jedoch den inneren Tempelbezirk nicht betreten. Dass die Schlachtopfer von Nicht-Juden umstritten waren, zeigen 4QMMT = 4Q394 Fr. 3 Kol i,8–9 und ein Streit, der am Anfang des jüdischen Kriegs stand: Damals verlangte die antirömische Partei um den Priester Eleazar, „von keinem Fremden Gaben oder Opfer anzunehmen“ (Jos. Bell. 2,409).

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gebrachte Menge. Trotzdem verrät der Bericht keine Empörung über diese Praxis. Im Gegenteil, es treten zwei Zeugen auf, wie es die Tora erfordert (Dtn 17,4–7), gerade so, als vollzöge sich alles nach Recht und Ordnung. Rätselhaft ist die Abwesenheit der Römer, die sich eigentlich das Recht zur Verhängung der Todesstrafe vorbehalten hatten (Joh 18,31). Wegen dieser Unstimmigkeiten muss der Bericht aber nicht unhistorisch sein. Er lässt sich sogar sehr gut erklären, wenn man ein Delikt des Stephanus gegen die Heiligkeit des Tempels annimmt. Stephanus stellte infrage, dass die Heiden für immer vom inneren Tempelbezirk ausgeschlossen bleiben sollten und erneuerte die Vision, dass sie alle den in Jerusalem verehrten Gott anerkennen und auf dem Zion verehren würden. Damit verletzte er den­ status quo. Um den inneren Bezirk waren nämlich Warninschriften angebracht, von denen zwei Fragmente erhalten sind. Ihr Text lautet: Niemand aus einem anderen Stamm (ἀλλογενῆ/allogenē´) darf (den Raum) innerhalb der Schranke und der Umzäunung rings um den Tempel betreten. Wer dabei angetroffen wird, wird selbst verantwortlich sein für den darauf folgenden Tod (ἑαυτῷ αἴτιος ἔσται διὰ τὸ ἐξακολουθεῖν θάνατον/heautō´i aítios éstai diá tó exakoloutheín thánaton; OGIS 598).33

Die Strafandrohung war eindeutig. Der Übertreter des Verbots riskierte sein Leben. Offen blieb, wer die Strafe ausführen sollte. Man konnte die Inschriften im Sinne einer „legal zugelassenen Gemeinschaftsjustiz“ verstehen,34 wonach der Tempelschänder vogelfrei wurde. Wenn er von einer aufgebrachten Menge gesteinigt wurde, hatte er sich selbst den Tod zuzuschreiben. Lynchjustiz war in diesem Fall gesetzeskonform. Die Römer hatten hier gegen ihre allgemeine Tendenz eine „Rechtsenklave“ zugelassen. Das bezeugt auch Josephus, wenn er T ­ itus in seiner Darstellung des Jüdischen Kriegs zu den im Tempel eingeschlossenen Juden sagen lässt: Habt nicht ihr auf dieser Schranke an verschiedenen Stellen mit griechischen und mit unseren eigenen Buchstaben beschriebene Warntafeln aufgestellt, um darauf hinzuweisen, dass niemand über die Brüstung steigen dürfe? Haben nicht wir euch gestattet, diejenigen zu töten, die dennoch hinüberstiegen, selbst wenn der Betreffende ein Römer wäre? (Jos. Bell. 6,125 f).

Wir können erschließen, seit wann diese Inschriften in Gebrauch waren. Nach Jos. Bell. 5,194 waren sie teils in griechischer, teils in lateinischer Schrift geschrieben. Latein wurde erst notwendig, als die Römer Judäa direkt regierten. Die Warn­inschriften dürften daher unter dem ersten römischen Präfekten Coponius (6–8 n. Chr.) aufgestellt worden sein, d. h. erst, seitdem römische Kohorten im Tempel anwesend waren. Anlass zu ihrer Aufstellung war wahrscheinlich ein Er 33 Die folgende Abbildung findet sich bei Küchler, Jerusalem, 348 f Abb. 175; Deissmann, Licht vom Osten, 63. 34 Schwier, Tempel, 59.61.

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Warninschrift an der Schranke zum inneren Tempelbezirk.

eignis in der Regierungszeit des Coponius. Samaritaner waren damals nachts in den Tempel eingedrungen und hatten die Säulenhallen und den „ganzen Tempel“ durch menschliche Leichenknochen verunreinigt. Die Folge war, dass man den Schutz des inneren Tempelbezirks vor „Fremden“ verstärkte und damit laut Josephus von einer vorher existierenden liberaleren Praxis abwich, auch wenn wir diese nicht mehr genau bestimmen können (Jos. Ant. 18,30). In diesem Zuge hat man wohl die Warninschriften angebracht, die jedem Fremden (ἀλλογενής/ allogenē´s) verboten, den inneren Tempelbezirk zu betreten.35 Man wählte für die Ausgeschlossenen den Begriff „Fremde“, weil er auch die Samaritaner umfasste (Lk 17,18), während der Begriff „Heiden“ (ἔθνη/éthnē) die Samaritaner nicht getroffen hätte (vgl. Mt 10,5), weil sie sich je nach Interessenlage zu den Juden zählten oder sich von ihnen abgrenzten (Jos. Ant. 9,291; 11,340). Als Jesus wirkte, lag die Aufstellung der Warninschriften erst zwei Jahrzehnte zurück. Mit ihnen wurde eine ältere liberalere Tradition verschärft. Daher wäre verständlich, 35 Die Inschrift selbst enthält das sonst nicht belegte ἀλλογενής/allogenē´s. Josephus benutzt andere Begriffe; vgl. Jos. Ant. 15,417: ἀλλοεθνής/alloethnē´s; Bell. 5,194: ἀλλόφυλλον/ allóphyllon. Die Inschrift wurde durch die Juden selbst gestaltet, denn die Römer hätten sich selbst kaum als „Fremdstämmige“ abgewertet (vgl. Büchsel, Art. ἀλλογενής). Das Verbot an die Heiden, den inneren Tempelbezirk zu betreten, ist auch sonst gut bezeugt bei Philo Legat. 212; Apg 21,29; Jos. c.Ap. 2,102–104; Bell. 2,341; 5,402, vgl. dazu Schwier, Tempel, 57–61. Die Warninschriften knüpften ganz sicher an eine schon bestehende Tradition an, aber setzten sie wohl gegen Widerstand durch.

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wenn der Ausschluss von Samaritanern und Heiden zur Zeit Jesu noch umstritten war – besonders bei den Anhängern einer Bewegung, welche die verlorenen Schafe Israels sammeln wollte, zu denen auch die Samaritaner gehörten. In Bezug auf Stephanus können wir nun vielleicht besser bestimmen, was er eigentlich verbrochen hat. Er hat wohl kaum versucht, einen Heiden oder Samaritaner in den inneren Tempelbezirk zu bringen – das war lebensgefährlich. Aber er wird verkündigt haben, dass Jesus bei seiner baldigen Wiederkunft den Samaritanern und Heiden Zugang zum Tempel verschaffen und die Ordnung des Tempels erneuern werde. Die Botschaft des Stephanus war wahrscheinlich eine Kombination der Weissagung Jesu vom neuen Tempel mit der Weissagung von den Völkern, die aus allen Windrichtungen in die Gottesherrschaft strömen werden (Mt 8,11 f). Stephanus erwartete eine durch Gott bewirkte Öffnung des Tempels für Heiden und Samaritaner, die aus allen Himmelsrichtungen kommen würden. Er hoffte auf eine „zentripetale“, durch Gott herbeigeführte Mission, die alle Heiden anziehen wird, und noch nicht auf eine „zentrifugale“ Mission, bei der Menschen in alle Himmelsrichtungen hinausgehen und für ihren Glauben werben werden.36 Die von Stephanus erneuerte Tempelprophetie Jesu wurde ihm wahrscheinlich als Verstoß gegen das „Gesetz“ vorgeworfen. Josephus bezeichnet den Ausschluss von Heiden aus dem Tempel als „Gesetz der Heiligkeit“ (Bell. 5,194). Diese Ordnung des Tempels werde Jesus verändern. Religiöse Eiferer konnten die erwartete Aufhebung dieses Gesetzes so interpretieren, als sei durch diese auf die Zukunft bezogene Aussage das Gesetz schon in der Gegenwart verletzt worden. Auch bei den Hebräern, dem aramäisch sprechenden Teil  der Urgemeinde, finden wir Nachwirkungen der Tempelweissagung Jesu. Sie konnte so verstanden werden, als solle ein Tempel aus Menschen an die Stelle des alten Tempels aus Steinen treten.37 Wir können erschließen, dass die Jerusalemer Urgemeinde das Bild vom Tempel tatsächlich auf sich bezogen hat. Paulus spricht in Gal 2,9 nämlich von den drei Säulen der Urgemeinde.38 Die Urgemeinde ist für ihn ein lebendiger Tempel aus Menschen. Die Gemeindeleiter nennt er metaphorisch dessen „Säulen“. Nun standen vor dem Heiligtum in Jerusalem vier Säulen,39 Paulus erwähnt aber nur drei Säulen in der Urgemeinde: den Herrenbruder Jakobus und die Jünger Petrus und Johannes. Diese Diskrepanz zwischen vier zu erwarten 36 Hahn, Mission. 37 So ist für Paulus im Korintherbrief die Gemeinde Gottes ein Tempel Gottes (1Kor 3,16 f). Unmittelbar vorher betont er, dass niemand einen anderen Grund legen könne als Christus. Hier könnte Paulus die Petruspartei gemeint haben: Petrus wurde als der Fels verstanden, auf den die Kirche gebaut worden war (Mt 16,18). Paulus aber setzt an seine Stelle Christus als Fundament der Kirche (1Kor 3,11). 38 Die Metaphorik der Säule steht bei Petrus in Spannung zum Bild des Fundaments. Petrus ist entweder das Fundament auf dem die Kirche gebaut ist (Mt 16,18) oder eine ihrer Säulen. 39 Vgl. die Darstellungen des Tempels Kanael, Art. Münzen und Gewichte, 1254, Nr. 10; Mildenberg, Vestigia Leonis, Tf. LV–LXIII. Die vier Säulen entsprechen den Säulen der Stiftshütte (Ex 26,32; 27,16; 36,36).

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den „Säulen“ und drei Gemeindeleitern ist ein Hinweis darauf, dass es einmal eine vierte Säule gegeben hat: den Zebedaiden Jakobus. Er gehörte nach den Synoptikern zum engsten Kreis der Jünger, bestehend aus Petrus und den beiden Söhnen des Zebedäus, Jakobus und Johannes. Der Zebedaide Jakobus hatte zwischen 41 und 44 n. Chr. den Märtyrertod erlitten (Apg 12,2). Ursprünglich gab es daher in der Tat vier lebendige Säulen in der Urgemeinde, so wie es vier steinerne Säulen im Tempel vor dem Allerheiligsten gab. Die vierte Säule aber war weggebrochen. Wenn die Urgemeinde sich als „lebendigen“ Tempel verstand, deutet sich darin eine behutsame Tempelkritik an. Die Christusanhänger waren innerlich aus dem Tempel ausgezogen und hatten in ihrer Gemeinde einen Ersatz für diesen gefunden. Stephanus und seine Anhänger werden in Apg 6,1 „Hellenisten“ genannt und von den „Hebräern“ unterschieden. Sie waren Juden, die Griechisch sprachen und aus der Diaspora stammten. Diese Hellenisten um Stephanus waren die Vorläufer des Paulus. Er war lange ein Missionar der antiochenischen Gemeinde, die von den Hellenisten gegründet worden war. In dieser Gemeinde waren sein Glauben und sein Denken geprägt worden. Beim Schreiben der drei Kapitel über Israel (Röm 9–11) sind seine Gedanken in Jerusalem und dessen Tempel. Er hofft, dass am Ende der vom Himmel kommende Christus ganz Israel für sich gewinnen wird. Zur Begründung führt er Schriftzitate an: Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde (11,26 = Jes 59,20 mit Jer 31,33).

Paulus nennt eine rätselhafte Vorbedingung für die Parusie des Erlösers. Der Erlöser wird kommen, wenn die „Fülle der Heiden hineingegangen ist“ (11,25). Meint er abstrakt, dass Israel gerettet wird, wenn alle Heiden zum Heil „gelangt sind“? Oder denkt er an etwas Konkretes? Als Paulus diese Zeilen schrieb, bereitete er sich auf eine Reise zum Tempel vor. Er brachte auf dieser Reise Heidenchristen und deren Kollekte mit sich. Hoffte er, dass sich der Tempel für diese Heiden öffnen werde? Dann könnte sein Gedanken gewesen sein: Ganz Israel wird dann gerettet, wenn die Heiden Zugang zum Tempel erhalten und „hineingehen“ können. Wenn er von der „Fülle“ der Heiden spricht, so meint er damit also nicht nur die wenigen, die sich als Proselyten dem Judentum angeschlossen hatten. Er meint alle, die den einen und einzigen Gott verehren – alle gottesfürchtigen Heiden und Heidenchristen.40 40 Laut Stuhlmann, Maß, meint der Begriff „Fülle der Heiden“ (τὸ πλήρωμα τῶν ἐθνῶν/ tó plē´rōma tō´n ethnō´n) eine vorherbestimmte Zahl einzelner Glaubender aus den Völkern. Andererseits meint die „Fülle“ der Juden (τὸ πλήρωμα/tó plē´rōma) in 11,12 alle Juden, die zum Glauben gekommen sind. Wenn die „Fülle der Heiden“ aber nur eine begrenzte Zahl meint,

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Kann aber die geheimnisvolle Wendung vom „Hineingehen“ (εἰσέρχεσθαι bzw. εἰσελθεῖν/eisérchesthai bzw. eiseltheín) wirklich so konkret auf das physische Eintreten in den Tempel gedeutet werden? Vergleichbare Wendungen sind in den Psalmen oft mit dem Tempel verbunden. Der Psalmist dankt Gott: „Ich darf in dein Haus hineingehen (εἰσελεύσομαι/eiseleúsomai) durch deine große Güte und anbeten vor deinem heiligen Tempel in deiner Furcht“ (Ps 5,8LXX, ebenso 65,13LXX). Er betet darum, dass Gott ihn zum heiligen Berg bringt, „dass ich hinein­gehe zum Altar Gottes“ (Ps 42,4LXX). Er hadert mit Gott, weil die Gottlosen so glücklich sind, „bis ich hineinging in das Heiligtum Gottes und merkte auf ihr Ende“ (Ps 72,17LXX). Er fordert die Gemeinde auf: „Dient dem Herrn mit Freuden, geht hinein vor sein Angesicht mit Frohlocken“ (Ps 99,2LXX), oder „Gehet hinein zu seinen Toren mit Danken“ (Ps 99,4LXX), oder: „Wir wollen in seine Wohnung hineingehen und anbeten vor dem Schemel seiner Füße“ (Ps 131,7LXX). Die Warninschriften vor dem inneren Tempelbezirk sprechen vom Hineingehen als εἰσιέναι/eisiénai, παριέναι/pariénai und παρελθεῖν/pareltheín (vgl. Jos. Ant. 15,417, Bell. 5,194 und Philo Legat. 212). Sie sprechen vom Überschreiten (ὑπερβαίνειν/hyperbaínein, Bell. 6,125) oder von einem Hineingehen (εἰσπορεύεσθαι/eisporeúesthai).41 Es ist also durchaus möglich, dass man beim „Hineingehen“ an den Tempel im wörtlichen Sinne dachte – nämlich an jenen inneren Bezirk, der nur den Israeliten zugänglich war. Noch weiter geht später der Hebräerbrief, wenn er schreibt, dass Christus als der Hohepriester bis ins Innere hinter den Vorhang „hineingegangen (εἰσερχομένην/eiserchoménēn)“ ist (Hebr 6,20): „Dahin ist der Vorläufer für uns gegangen (εἰσῆλθεν/eisē´lthen), Jesus, der ein Hohepriester geworden ist in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“ (Hebr 6,20; vgl. Hebr 9,12.24 f). Hier ist nicht nur vom Hineingehen in den inneren Tempelbezirk die Rede, sondern vom Eintreten in das Allerheiligste. Diesen Bereich durfte nur der Hohepriester betreten – und das auch nur einmal im Jahr. Umso erstaunlicher ist, dass der Hebräerbrief allen Christen den „Eingang“ (εἴσοδον/eíshodon) ins Allerheiligste zuspricht (Hebr 10,19).42

wäre schwer verständlich, warum Paulus die Welt bis Spanien missionieren will. Die Deutung auf „alle Völker“ ist wahrscheinlicher (Haacker, ThHK 6, 237; Holtz, Gott, 57–59). Wenn sich deren „Hineingehen“ auf den Tempel bezieht, dürften alle Heiden gemeint sein, die zum Glauben an Gott gekommen sind. Bisher hatten nur Proselyten unter den Heiden Zugang zum Tempel, bald aber sollten alle Gottesfürchtigen (unter ihnen auch Heidenchristen) Zugang zu ihm haben. Das wäre dann die „Vollzahl der Heiden“. 41 Küchler, Jerusalem, 348 f Abb. 175. 42 Man könnte einwenden, εἰσέρχεσθαι/eisérchesthai sei in der Regel mit einer präpositionalen Wendung verbunden, während es in Röm 11,25 absolut stehe. Aber auch in der LXX ist einmal von einem „Hineingehen“ in einen kultischen Raum absolut die Rede: „Und es soll sich Mose allein Gott nähern, sie aber sollen sich nicht nähern. Das Volk aber soll nicht mit ihnen hinaufsteigen. Mose aber ging hinein (εἰσῆλθεν δὲ Μωυσῆς/eisē´lthen dé Mōysē´s) und erzählte dem Volk alle Worte Gottes und seine Forderungen“ (Ex 24,2 f).

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Wenn diese konkrete Deutung von „Hineingehen“ richtig ist, hieße das: Die ersten Christusanhänger hatten die Hoffnung, dass auch glaubende Heiden einst Zugang zum inneren Tempelbezirk erhalten werden. Sie werden sich dann mit „ganz Israel“ vereinen. Die Wendung „ganz Israel“ erinnert an 3Reg 8,14 (= 1Kön 8,14), wo ebenfalls ein Bezug zum Tempel vorhanden ist: Bei der Einweihung des Tempels segnet König Salomo „ganz Israel“ (πάντα Ισραηλ/pánta Israēl) und die „ganze Gemeinde Israel“ (πᾶσα ἐκκλησία Ισραηλ/pása ekklēsía Israēl). Salomo betet dann für die zukünftige Umkehr Israels (1Kön 8,22–53). Könnten diese Erinnerungen in Röm 11 nachklingen, in der Erwartung, „ganz Israel“ werde nach einer Umkehr im Tempel zusammenfinden? Das mag offen bleiben.43 Entscheidend ist, dass Paulus nicht nur in einem übertragenen, spirituellen Sinne an ein Hineingehen der Heiden ins Heil denkt, sondern konkret an den Zugang zum inneren Tempelbezirk.44 Paulus untermauert seinen Gedanken durch ein Zitat aus Jes 59,20: „Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben wird: ‚Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob‘“. Im Jesajabuch folgt eine Weissagung, dass die verstreuten Israeliten zum Zion strömen, um „Opfer auf meinem Altar“ zu bringen, „denn ich will das Haus meiner Herrlichkeit zieren“ (Jes 60,7). Ob Paulus diesen Textzusammenhang vor Augen hat, ist nicht sicher, aber unabhängig davon ist oft bezeugt, dass aus Zion Heil und Rettung kommt:

43 Der Ausdruck „ganz Israel“ ist nicht mit bestimmten Situationen und Motiven verbunden. In 2Chr 6,3 ist zweimal von der „ganzen Gemeinde Israel“ die Rede. Weitere Belege sind: Die Worte Gottes sind zu ganz Israel gesprochen (Dtn 1,1; 5,1; 31,1); „ganz Israel“ versammelt sich (1Sam 7,5; 1 Kön 12,1), trauert (1Sam 25,1; 28,3; 1Makk 2,70), treibt Abgötterei (Ri 8,27) und übertritt Gottes Gesetz (2Chr 12,1; Dan 9,11). Er kann in 11,26 nur ganz Israel meinen – nicht nur die Erwählten darin, das würde dem widersprechen, dass die ausgebrochenen Zweige wieder eingesetzt werden (Cranfield, ICC 2, 577). 44 Das „Hineingehen“ gilt meist als Bild für den „Eingang in die Heilsgemeinde“ ­(Theobald, SKK.NT 6/1, 303; vgl. Wilckens, EKK 6/2, 254) oder den „Heilsbereich“ (Kuss, RNT 6/3, 812). Manche vermuten, Paulus nehme hier die Wendung vom Eingehen in das Reich Gottes auf ­(Michel, KEK 4, 355, Cranfield, ICC 2, 576, Lohse, KEK 4, 319). Aber Paulus spricht sonst vom „Erben“ des Reich Gottes (Gal 5,21; 1Kor 6,9 f; 15,50), nie vom Hineingehen (vgl. ferner Röm 14,17; 1Kor 4,20; 15,24; 1Thess 2,12). Dafür greift er Motive der Völkerwallfahrt auf­ (Käsemann, HNT 8a, 302; Zeller, KEK 5, 198; Haacker, ThHK 6, 238), auch wenn er die übliche Reihenfolge austauscht. Nicht die Wiederherstellung Israels löst den Ansturm der Völker aus, sondern dem Kommen der Völker folgt die Rettung Israels. Da die Völkerwallfahrt den Zion zum Ziel hat (Jes 2,2–4; 56,6–8; 60,1–22; Mi 4,1–8; Zeph 3,8–20; Sach 2,14–17), liegt ein konkretes Verständnis des „Hineingehens“ nahe. Auch Wilk, Rahmen, 238 Anm. 28, betont, dass Paulus „das Verb εἰσέρχομαι/eisérchomai nie als terminus technicus für die Heilsvollendung benutzt, sondern stets im eigentlichen Wortsinn (vgl. 5,12; 1Kor 14,23 f.). Nimmt man diesen Wortsinn für εἰσέλθῃ/eisélthēi in Röm 11,25 an, dann muss der Ort des Einzugs aus dem Kontext erschlossen werden. Dafür kommt in erster Linie der in 11,26c genannte ‚Zion‘ in Betracht“. Wilk hat hier u. E. richtig beobachtet. Röm 5,12 würden wir freilich nicht für den „eigentlichen Wortsinn“ anführen. Dass der Tod in die Welt kommt, ist eine verblasste Metapher.

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Ach, dass Hilfe aus Zion über Israel käme und der Herr sein gefangenes Volk ­erlöste! (Ps 14,7; 53,7) Er sende dir Hilfe vom Heiligtum und stärke dich aus Zion! (Ps 20,3) Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes. Unser Gott kommt und schweiget nicht. (Ps 50,2 f)

Natürlich könnten spätere Generationen beim Zion als Wohnstätte Gottes auch an einen himmlischen Zion gedacht haben. Das wird oft auch für die Interpretation von 11,26 angenommen. Aber u. E. ist wahrscheinlicher, dass Paulus hier an den Zion auf Erden dachte. Dafür spricht eine auffällige Abweichung vom alttestamentlichen Zitat. Dort steht im hebräischen Text, dass der Erlöser „für Zion“ kommt (Jes 59,20). Die LXX übersetzt, „er wird wegen Zion (ἕνεκεν Σιων/héneken Ziōn) kommen“.45 Dass der Erlöser bei Paulus abweichend vom hebräischen und griechischen Text, aber in Übereinstimmung mit einer verbreiteten Wendung „aus Zion“ kommt (11,26), kann konkret so verstanden werden, dass er aus dem Allerheiligsten in den Tempel kommt, d. h. aus jenem Ort, wo Gott anwesend ist.46 Von dort kommend wird er den Israeliten begegnen. Bei der Erwähnung des Zion in 9,33 (= Jes 28,16) denkt Paulus jedenfalls eindeutig an den irdischen Zion. Nur dort kann man auf einen Stein des Anstoßes und Felsen des Ärgernisses stoßen. Dann denkt er wahrscheinlich auch in 11,26 an den Tempelberg, selbst wenn er im Prinzip ein himmlisches Jerusalem kennt, das er aber in Gal 4,26 nicht „Zion“ nennt. Das „Hineingehen“ muss sich dann auf denselben Ort beziehen, aus dem der Erlöser herauskommt: Die Vollzahl der Heiden geht in den Tempel hinein, aus dem der Erlöser kommt. Er kommt aus dem Allerheiligsten und öffnet den Tempel für die Fülle der Heiden. Dass Paulus sich den auferstandenen Christus im Tempel vorstellen kann, ergibt sich aus 2Kor 3,16. Paulus deutet hier Ex 34,29–35LXX:47 Als Mose vom Sinai herabstieg, glänzte sein Angesicht, weil er mit Gott geredet hatte, so dass sich Aaron und „alle Ältesten Israels“ (Ex 4,30LXX) vor ihm fürchteten. Nachdem er ihnen verkündigt hatte, was Gott zu ihm geredet hatte, legte er eine Decke auf 45 Schaller, Textgestalt, bestreitet, dass die Änderung von ἕνεκεν Σιων/héneken Ziōn in ἐκ Σιων/ek Ziōn auf Paulus zurückgeht. Paulus folge hier einer vorgegebenen LXX-Textvariante. Hebr. le Ziōn müsse eigentlich mit griechisch ἐν oder εἰς/en oder eis übersetzt werden, in der LXX werde aber oft εἰς Ζιων/eis Ziōn und ἐκ Ζιων/ek Ziōn ausgetauscht. Keller, Gottes Treue, 264–271, hält es für wahrscheinlich, dass Paulus selbst das Zitat zu „aus Zion“ abgeändert hat, lehnt aber ein konkretes Verständnis dieser Ortsbestimmung ab. 46 Auch Sänger, Verkündigung, 169 f, rechnet mit einer Abänderung des Zitats durch Paulus selbst und versteht „aus Zion“ konkret: „Christus wird bei der Parusie vom Zion aus erscheinen. Dabei muß nicht notwendigerweise an das himmlische Jerusalem (Gal 4,26) gedacht werden. Ebenso gut ist möglich, daß der Apostel die Offenbarung Christi bei seiner Parusie vom irdischen Jerusalem vor Augen hat, zumal dieser Bezug auch in Röm 9,33 vorliegt“ (S. 170). 47 Die folgende Deutung von 2Kor 3,16–18 als eine Darstellung der möglichen Bekehrung Israels zu Christus entspricht Schmeller, Korinther, 220 f.

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sein Angesicht, „bis er wieder hineinging (εἰσέλθῃ/eisélthēi)“ (Ex 34,35). Paulus macht aus dem „Hineingehen“ ein „Sich Bekehren zum Herrn“, er verändert „εἰσεπορεύετο […] ἔναντι κυρίου/eiseporeúeto[…] énanti kyríou“ (Ex 34,34LXX) in „ἐπιστρέψῃ πρὸς κύριον/epistrépsēi prós kýrion“ (2Kor 3,16). Aufgrund dieser Bekehrung begegnet Mose dem „Kyrios“. Der Kyrios ist Jesus, der im Zelt der Begegnung präsent ist. Paulus identifiziert ihn mit dem Geist des Herrn (2Kor 3,17). Einige inhaltliche Berührungspunkte zwischen 1Kor 3,16 f und Röm 11,25 f sind aufschlussreich: Der Kontakt zum Herrn geschieht durch die Bekehrung des Moses. Dem entspricht eine in 11,28 vorausgesetzte wunderbare Bekehrung Israels, die teilweise „Verstockung“ Israels geht zu Ende (11,25). Der Verstockung entspricht in 2Kor 3,15 f die „Decke“ auf den Herzen der Israeliten. Entscheidend ist hier wie dort ein „Hineingehen“: Mose geht in das Zelt der Begegnung (als Vorabbildung des Tempels) hinein, entsprechend geht in 11,25 die Vollzahl der Heiden in den Tempel „hinein“. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Nach 2Kor 3,16 wendet sich Mose zum Herrn und bewegt sich auf ihn zu, in Röm 11,26 kommt dagegen der Erlöser „aus Zion“. All diese Berührungspunkte sollen nicht zu der Behauptung führen, dass sich beide Stellen auf denselben Sachverhalt beziehen. Sie sollen nur zeigen: Wer sich den Kyrios Jesus im Zelt der Begegnung vorstellt, zu dem andere Israeliten keinen Zugang haben, der kann sich auch vorstellen, dass Jesus bei seiner ­Parusie aus dem Innern des Tempels kommt, aus jenem Raum, den kein Israelit betreten durfte. Eine indirekte Unterstützung für unsere Annahme findet sich ferner in Apg 22,17–21. Paulus erzählt in seiner Verteidigungsrede im Tempel, er habe nach seiner Bekehrung im Tempel gebetet und in Ekstase Jesus dort „gesehen“ und von ihm den Auftrag erhalten, die Heiden in der Ferne zu missionieren. Auch hier ist der auferstandene Jesus im Tempel anwesend. Unabhängig von der Historizität der Erzählung zeigt diese, dass man sich im Umfeld des Paulus erzählt hat, dass Paulus im Tempel mit Jesus Kontakt aufnehmen konnte und von ihm zu den Heiden geschickt wurde. Eine Verbindung von Tempel und Heiden zeigt auch ein christlicher Zusatz in TestBen 9,4. Danach wird der Geist Gottes aus dem Allerheiligsten kommen und den Tempel für die Heiden zugänglich machen: „Und der Vorhang des Tempels wird zerreißen. Und der Geist Gottes wird zu den Heiden übergehen wie ausgegossenes Feuer“. Hier ist es nicht Christus, sondern der Geist, der aus dem Tempel kommt und ihn für die Heiden zugänglich macht. Aber auch in 2Kor 3,16 wurde Christus mit dem Geist identifiziert. Die Pfingstgeschichte zeigt ebenfalls die Erwartung, dass Menschen aus allen Völkern durch die Geistausgießung im Tempel Zugang zu Gott finden (Apg 2,1–13). Wenn der Erlöser aus dem Allerheiligsten im Tempel heraustreten wird, wäre auch verständlich, warum Paulus im Anschluss an seinen Gedankengang verheißen kann: „Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde“ (11,26 f = Jes 59,20/Jer 31,33).

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Christus kommt von dem Ort im Heiligtum, an dem Sühne für Israel geschaffen wird. Christus ist dort an die Stelle des Sühnealtars im Allerheiligsten getreten – dort, wo schon immer Sühne für die Sünden Israels durch Gott gewirkt wurde. Das wirft im Rückblick Licht auf 3,21–26 (s. o. Kapitel 4.1.3a). Dort hatte Paulus von der Erlösung als „Sühne“ durch Christi Blut gesprochen (3,25) – in assoziativer Anspielung auf den „Sühnedeckel“ im Heiligtum. Jesus übernimmt dort die Funktion der Opfer am Versöhnungstag. Für Paulus geschieht die Sühne freilich nicht durch rituelle Akte, sondern „durch Glauben“ (διὰ πίστεως/diá písteōs), d. h. sie wird nur für diejenigen wirksam, die an Christus glauben.48 Dies ist eine Ausweitung der Sühnefunktion der Opfer über Israel hinaus, denn Gott rechtfertigt nicht nur die Juden, sondern auch die Heiden aus Glauben und durch Glauben (3,30). Dass der Tempel bei Paulus in 3,25 gedanklich im Hintergrund steht, ist auch deshalb wahrscheinlich, weil Paulus später seine Gedanken zur Rechtfertigung folgendermaßen zusammenfasst: „So haben wir nun „Zugang“ (προσαγωγήν/­ prosagogē´n) im Glauben zu dieser Gnade“ (5,2). Dieser „Zugang“ meint zwar bildlich den Zugang zu Gottes Gnade, weckt aber Assoziationen an den Zugang zum Tempel. Für 11,26 f bedeutet das: Wenn „ganz Israel“ einst Christus begegnet, dann kommt dieser Christus aus dem Tempel und gewinnt Israel für den Glauben an ihn. Und durch eben diesen Glauben wird für Israel Sühne und Sündenvergebung wirksam. Subjekt dieser Sühne ist Gott selbst, der sagt: „Und das ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehme“ (11,27). Diese Aussage stimmt mit 3,25 überein. Damit kommen wir der Frage näher, was Paulus eigentlich beabsichtigte, als er zu seiner letzten Reise nach Jerusalem aufbrach. Paulus wollte die Einheit von Juden- und Heidenchristen durch eine Unterstützungsaktion für die Jerusalemer Judenchristen demonstrieren und noch einmal seinen Erfolg beim Apostelkonzil wiederholen. Damals hatte er die auseinanderdriftenden Gemeinden in Antiochien und Jerusalem wieder zusammengeführt und die Anerkennung der antiochenischen Heidenmission durchgesetzt. Durch Verzicht auf jüdische Identitätsmerkmale für Heidenchristen geschah damals der entscheidende Schritt zur Gründung einer religiösen Gemeinschaft mit transethnischer Identität. Inzwischen hatte Paulus seine Heidenmission ohne Unterstützung durch die antiochenische Gemeinde weiter geführt. Das Auftreten von judenchristlichen Gegenmissionaren hatte die von ihm gegründeten Gemeinden durch Konflikte erschüttert. In Galatien und Philippi hatten die Gegenmissionare die Gemeinden durch Übernahme ritueller Identitätszeichen ins Judentum zurückholen 48 Die Beziehung der präpositionalen Wendung auf das folgende Substantiv, so dass man übersetzen müsste, die Sühne geschehe „durch [den] Glauben an sein Blut“ ist unwahrscheinlich. Das zeigen die Analogien in Röm 3,22; Gal 3,26 und Eph 3,17, bei denen sich diese­ Wendung auf das vorhergehende Substantiv bezieht (Wolter, EKK 6/1, 248). Gemeint ist: Es geschieht Sühne, die durch den Glauben an Christus wirksam wird.

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wollen, in Korinth wollten sie zumindest deren spirituelle Zugehörigkeit zu Israel verstärken.49 Im Römerbrief antwortet Paulus den „Judaisten“ mit einem umfassenden Gegenprogramm. Auch er möchte seine Gemeinden (wieder) mit dem Judentum vereinen, jedoch nicht durch deren Rückkehr zum traditionellen Judentum, sondern durch eine Reform des Judentums: Der Tempel soll für alle Heiden, die Gott verehren wollen, geöffnet werden. Paulus wollte mit seiner Reise nach Jerusalem also die tiefere Ursache der Gegenmission überwinden, indem er in Jerusalem noch einmal für die Anerkennung seiner Mission und seiner Gemeinden sowie für die Hoffnung auf Öffnng des Judentums und des Tempels wirbt. Damit wollte er sein Missionswerk im Osten des Reiches absichern, ehe er es im Westen vollenden wollte. Paulus hatte beim Apostelkonzil sicher auch deswegen großen Erfolg gehabt, weil er und Barnabas nicht mit leeren Händen nach Jerusalem gekommen waren. Nach Apg 11,27–30 hatten sie schon vorher eine Kollekte nach Jerusalem gebracht, um der Gemeinde während einer großen Hungersnot zu helfen. Wahrscheinlich aber hatten Paulus und Barnabas diese Kollekte erst zum Apostelkonzil mitgebracht.50 Auf jeden Fall trafen sie auf dem Apostelkonzil die Abmachung, dass sie ihre finanzielle Unterstützung der Jerusalemer Gemeinde fortsetzen würden (Gal 2,10). Schon das zeigt, welch große Bedeutung ihre Zuwendungen für die Gemeinde hatte. Diese waren ein diplomatisches Mittel, um die Empfänger für die Anliegen des Spenders aufgeschlossen zu machen. Was beim Apostelkonzil so erfolgreich gewesen war, wollte Paulus bei einem erneuten Besuch in Jerusalem wiederholen. Deshalb wollte er nur dann die Kollekte überbringen, wenn sie groß genug war, um einen nachhaltigen Eindruck bei den Empfängern zu b ­ ewirken (1Kor 16,4). Deren Annahme der Kollekte würde sie nach antiker Geschenklogik den Spendern gegenüber zu einer Gegenleistung verpflichten. Aber Paulus vertraute nicht nur auf das Geld, das er für sie gesammelt hatte, sondern hoffte auf eine wunderbare Öffnung des Tempels für alle Heidenchristen. Er bringt diese Hoffnung in Bildern und Metaphern zum Ausdruck. Er hat die Absicht, bei seiner Jerusalemreise die Heiden als Opfer darzubringen. Die Aussage dazu in 15,16 ist mehrdeutig: Paulus will „ein Diener (λειτουργός/ leitour­gós) Jesu Christi unter den Heiden sein, um das Evangelium Gottes als Priester auszurichten, damit die Heiden ein Opfer werden, das Gott wohlgefällig ist“. Es ist ihm wichtig, dass er in einem priesterlichen Dienst (ἱερουργοῦντα/ hierourgoúnta) die Heiden darbringen will. In der Wendung „Darbringung der 49 Vgl. Theissen, Gegenmission, 277–306. 50 Vermutlich hat die Apg die Reise zum Apostelkonzil verdoppelt: Paulus und Barnabas brachten zum Apostelkonzil die Kollekte und verhandelten gleichzeitig über die Heidenmission. Lukas macht aus den beiden Zwecken ein und derselben Reise zwei getrennte Reisen (Apg 11,30 und 15,1–4). Die Verdoppelung der Reise kann unbewusst geschehen sein. Für Lukas war der Gedanke unerträglich, dass die Antiochener durch eine Geldspende diplomatischen Einfluss in Jerusalem ausgeübt hatten. Vgl. Theissen, Kirchenpolitiker.

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Heiden“ (προσφορὰ τῶν ἐθνῶν/prosphorá tō´n ethnō´n in 15,16) könnte der Genitiv „Heiden“ zwar auch als Genitivus subjectivus verstanden werden. Dann wäre gesagt, Paulus überbringe die Kollekte als ein Opfer, das durch die Heiden gesammelt wurde und das er stellvertretend für sie überreicht. Wahrscheinlich aber handelt es sich um einen Genitivus objectivus: Paulus überbringt die Heiden als Opfer. Da die Opfergabe durch den „Geist“ geheiligt ist, denkt Paulus hier wohl eher an Menschen, denn nur in ihnen wohnt der Geist des Herrn, nicht im Geld.51 Außerdem wurde die Kollekte im Römerbrief bisher noch nicht erwähnt. Ein Leser oder Hörer des Römerbriefs konnte Paulus’ Aussage daher nicht auf sie beziehen. Von der Kollekte spricht er erst in 15,25 und verwendet im Zusammenhang damit ein anderes Vokabular. Die Darbringung der Heiden vollzieht Paulus als „Liturg“ (λειτουργός/leitourgós) in einem priesterlichen Dienst (15,16). Bei seiner Überbringung der Kollekte ist er dagegen Diener (διάκονος/diákonos) zur Schaffung von Gemeinschaft (κοινωνία/koinōnía). Einen Priesterdienst kann man im strengen Sinne nur im Tempel ausüben. Wenn Paulus die Heidenchristen als „Opfergabe“ Gott darbringen will, träumt er davon, dass die Heiden ebenfalls Zugang zum Tempel erhalten. Bestätigt wird diese Deutung durch eine in früheren Zeiten geäußerte Hoffnung, die Paulus mit seiner Reise nach Jerusalem in Begleitung von Heidenchristen aufgreift. Danach werden die Völker einmal zum Zion wallfahren,52 sie werden die Juden aus der Diaspora zurückbringen und dabei Gott den Reichtum der Völker als Weihegeschenke überbringen (Jes 66,18–20; 60,4–7): Ich … komme, um alle Völker und Zungen zu versammeln, dass sie kommen und meine Herrlichkeit sehen. Und ich will ein Zeichen unter ihnen aufrichten und einige von ihnen, die errettet sind, zu den Völkern senden … und zu den fernen Inseln, wo man nichts von mir gehört hat53 51 Außerdem unterscheidet er seinen Priesterdienst vor Gott als λειτουργός/leitourgós Jesu Christi (15,16) von seinem Dienst an der Jerusalemer Gemeinde als διάκονος/diákonos der die Kollekte überbringt (15,25). Die meisten Exegeten plädieren für Heiden als Opfer, vgl. Jewett, Romans, 907 f; Lohse, Kek 4, 394; Cranfield, ICC 2, 756; Zeller, KEK 5, 238. 52 Zwei Erwartungen finden sich nebeneinander: die Völkerwallfahrt zum Zion und die Sammlung Israels. Zur Völkerwallfahrt vgl. 1Kön 8,41–43; Ps 86,9; Jes 2,1–5; 60,1–7; ­66,18–21; Jer 16,19; Sach 8,20–23; Mi 4,1–5; PsSal 17,31. Zur Sammlung Israels vgl. Jes 27,13; 35,10; 51,11; Jer 3,18; 31,10–14; 50,4–7; Mi 7,12; Ps 107,3; Ps 126; Tob 14,5; PsSal 11; Bar 4,36 f, ­5,1–9; TestBen 9,2; 1Hen 57,1; 2Makk 2,18; Philo Praem. 164–172. Beide Vorstellungen verbinden sich manchmal: Die Sammlung Israels (Tob 14,5) ist Auslöser für die Bekehrung aller Völker (Tob 14,6). Heiden bringen bei ihrer Wallfahrt nach Jerusalem Juden mit (Jes 66, 20; PsSal 17,31). Zeller, Logion, meint, Paulus verbinde beide Erwartungen in neuer Weise: Wenn die Heiden Zugang zum Tempel haben werden, dann wird sich ganz Israel bekehren und gerettet werden. 53 Vgl. Jes 52,15LXX in Röm 15,21.

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und die meine Herrlichkeit nicht gesehen haben; und sie sollen meine Herrlichkeit unter den Völkern verkündigen. Und sie werden alle eure Brüder aus allen Völkern herbringen dem Herrn als Weihgeschenk auf Rossen und Wagen, in Sänften, auf Maultieren und Dromedaren nach Jerusalem zu meinem heiligen Berge, spricht der Herr, gleichwie Israel die Opfergaben in reinen Gefäßen zum Haus des Herrn bringt. Und ich will auch aus ihnen Priester und Leviten nehmen, spricht der Herr. (Jes 66,18–21)

Paulus nimmt als Jude Heidenchristen mit nach Jerusalem,54 während die Tradition der Völkerwallfahrt besagt, dass die Heiden Juden aus der Diaspora mitbringen: „Heiden kommen von den Enden der Erde, um seine Herrlichkeit zu sehen, als Gaben darbringend seine ermüdeten Söhne“ (PsSal 17,31). Hat Paulus seine letzte Reise vielleicht als solch eine Wallfahrt der Heiden verstanden? Bringen Heidenchristen ihn und andere Judenchristen zurück zum Tempel? Dagegen spricht, dass er in 1Kor 16,3 f davon ausgeht, dass die Korinther die Kollekte ohne ihn nach Jerusalem bringen könnten. Sollte Paulus seine letzte Reise im Lichte der Völkerwallfahrt zum Zion gesehen haben, wären dort die Heidenchristen in die Rolle der Juden getreten und er in die Rolle der Heiden. Solch einen Rollenwechsel hat Paulus bereits schon einmal vollzogen und propagiert: Die (Heiden-) Christen sind bei ihm die Kinder Saras, die Juden dagegen die Kinder Hagars (Gal 4,21–31). Die Kollekte verstand Paulus vielleicht als einen Teil jener Schätze, die einmal von den Völkern nach Jerusalem gebracht werden sollen (Jes 60,4–7).55 Aber an erster Stelle war sie ein Dank der Heidenchristen an die Judenchristen und eine Unterstützung für eine arme Gemeinde. Auf jeden Fall sollen die mit Paulus nach Jerusalem reisenden Heidenchristen eine Vorhut für die „Fülle der Heiden“ sein, die bald in den Tempel „hinein­ gehen“ soll (11,25). Es ist sogar anzunehmen, dass sich Paulus eine wunderbare Begegnung mit Jesus Christus erhofft, der vom Himmel her im Tempel erscheinen und alle Juden für sich gewinnen wird. Das bedeutet nicht, dass er erwartet, dass diese Erscheinung bei seinem bevorstehenden Jerusalembesuch geschehen wird – denn die erwartete Parusie ist ein „Mysterium“ für ihn, Gott allein bestimmt darüber, wann sie eintritt – aber prinzipiell lebte er mit dieser Er-

54 Auch in dieser Hinsicht wiederholt Paulus sein erfolgreiches Vorgehen beim Apostelkonzil. Damals hatte er Titus als unbeschnittenen Heidenchristen mit nach Jerusalem genommen, um nicht nur eine prinzipielle Abmachung über die Gemeinschaft von Juden- und Heidenchristen zu treffen, sondern um diese gleich praktizieren und demonstrieren zu können. Nach Jerusalem brachte er zumindest Trophimus als Heidenchristen mit (Apg 21,29) – vielleicht in der Erwartung, der Tempel könne sich für ihn auf eine wunderbare Weise öffnen. 55 Diese Deutung der Kollekte aus der Tradition der Völkerwallfahrt wurde vor allem von Georgi, Kollekte, vertreten. Sie schließt andere Deutungen nicht aus.

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wartung und stand damit im Judentum nicht isoliert da.56 Stephanus erwartete erst mit der Parusie Christi eine Änderung der Tempelordnung, aber Paulus ging über diese Vorstellung hinaus. Er erwartete, dass eine vorherbestimmte Zahl an Heiden schon vor der Parusie in den Tempel „hineingehen“ werde. Im Tribunal gegen Stephanus wurde diesem die zukünftige Veränderung der Tempelgesetze vorgeworfen, Paulus dagegen deren Verletzung in der Gegenwart.57 Vor dem Hintergrund solcher Erwartungen wird verständlich, warum Paulus in Jerusalem Aufsehen erregte, als er in Begleitung des Trophimus, eines Heidenchristen aus Ephesus, gesehen wurde. Juden aus Ephesus hatten Trophimus erkannt (Apg 21,29). Paulus wird beschuldigt, ihn verbotenenerweise in den Tempel hineingeführt zu haben (εἰσήγαγεν/eisē´gagen), obwohl ihm die Warn­ inschriften bekannt waren. Zwar war die Beschuldigung in diesem Fall unberechtigt, doch entsprachen die Träume des Paulus und der anderen Christen genau dem, was hier als ihr Verbrechen betrachtet wurde. In 15,16 hatte er offen über seinen „Traum“ geschrieben, Heiden als lebendige Opfer in Jerusalem darzubringen. Paulus hatte lange in Ephesus gewirkt, sodass seine Utopie eines für die Heiden offenen Tempels dort wohl bekannt war – auch unter den dortigen Juden.58 Die Erwartung einer Öffnung des Tempels teilte Paulus zudem mit anderen Christen (Mk 11,17). Die Apg stellt in der Pfingsterzählung den Zusammenhang zwischen Tempel und der Universalisierung der christlichen Botschaft dar. Im Tempel manifestiert sich Gottes Geist und öffnet das Gottesvolk für alle Völker (Apg 2,1–13). Direkt bezeugt sind ferner Gerüchte über Paulus in Jerusalem, die besagen, dass Paulus „alle Juden, die unter den Heiden wohnen, den Abfall von Mose lehrt und sagt, sie sollen ihre Kinder nicht beschneiden und auch nicht nach den Ordnungen (ἔθεσιν/éthesin) leben“ (Apg 21,21). Solch einem Verächter der traditionellen Ordnungen ist auch zuzutrauen, dass er das Tempelgesetz bricht! Paulus wäre daher fast wie Stephanus Opfer spontaner „Gemeinschaftsjustiz“ geworden, hätten die Römer ihn nicht in Schutzhaft genommen und nach Caesarea in Sicherheit gebracht. Auch in der Vorstellung des Paulus lebte die Tempelweissagung Jesu weiter. Radikaler als alle vor ihm verband er sie mit der Hoffnung auf eine Gemeinschaft, in der Heiden und Juden gleichberechtigt sein würden. Paulus 56 Philo verbindet mit Tempel und Festen universalistische Vorstellungen. Vgl. dazu Holtz, Gott, 411–416, zur Universalisierung der Tempelwallfahrt; ebd., 425–451 zur Universalisierung von Tempelopfern und Festen. 57 Kannte Paulus das Tempelwort Jesu? Einmal bringt er ein Bild vom Ersatz eines irdischen Hauses durch ein neues himmlisches Haus – in metaphorischer Übertragung auf Tod und e­ wiges Leben: „Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel“ (2Kor 5,1). Hier könnte das zweigliedrige Tempelwort nachwirken, das zwei Tempel kontrastiert, von denen der eine „mit Händen gemacht“ und der andere „nicht mit Händen gemacht“ ist (Mk 14,58). 58 Eine Abschrift des Römerbriefs war wahrscheinlich im Besitz der Gemeinde in Ephesus. Aus ihm konnte sie entnehmen, wovon Paulus träumte, als er nach Jerusalem aufbrach.

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blieb, wenn die hier vorgelegte These zutrifft, im Judentum beheimatet – mehr, als man gemeinhin annimmt. Er kritisierte zwar das Gesetz, wollte aber dessen Kern, das Liebesgebot, erfüllen. Er sah im Tempel ein heiliges Zentrum des jüdischen Glaubens, wollte ihn jedoch für alle Menschen öffnen. Erst mit dessen Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. wurde ein weiterer Schritt zur Trennung von Juden und Christen vollzogen: Sie verloren ein Kultzentrum, von dem die Heidenchristen immer nur hatten träumen können, dass sie einmal den Zugang zu ihm erhalten würden. Paulus hofft also beim Schreiben des Römerbriefs auf eine Reform des Judentums – auf das Wunder der Öffnung des Tempels für die „Vollzahl der Heiden“ (11,25). Diese These führt die sozial orientierte Auslegung der New Perspective weiter und konkretisiert sie im Bereich der visible religion. Ziel der Mission des Paulus ist die Vereinigung aller Völker in der Verehrung des einen und einzigen Gottes – sowohl in der Diaspora „unter den Heiden“ (15,9 = Ps 17,50LXX) als auch in Jerusalem „zusammen mit seinem Volk“ (15,10 = Dtn 32,43LXX). Von Jerusalem wird der Messias, auf den die Völker hoffen, aus dem Stamm Isais kommen (15,12 = Jes 11,10LXX). Mit dieser Aussicht schließt Paulus den Hauptteil des Römerbriefs in 15,7–13 ab, bevor er seine Reise nach Jerusalem ankündigt, um dort die Heiden als „Opfergabe“ darzubringen (15,16). Paulus bringt damit in mythologischer Form einen großartigen Gedanken zum Ausdruck: Die Öffnung einer Religion für andere Völker und Religionen muss aus der Mitte einer Religion heraus geschehen – so wie der zur Parusie kommende Christus aus dem Zentralheiligtum des Judentums heraus die Juden für eine Öffnung ihrer Gottesverehrung für alle Völker gewinnen wird. Man kann diese Öffnung nicht durch Programme herbeizwingen, man kann sie nur erhoffen und man kann darauf vorbereiten. In jedem Fall aber wird sie eine Vergebung der Sünden umfassen. Jede Feindschaft einer Religion gegen andere Religionen und religiöse Gruppen ist Sünde. In eben dieser Hoffnung ist auch die Angst des Paulus begründet, er könne in Jerusalem umkommen. Denn die Tempelinschriften drohten jedem den Tod an, der als Fremder den inneren Tempelbezirk betrat. Das konnte bei fanatischen Zelos-Anhängern auf jede Person ausgedehnt werden, die dafür eintrat, Fremden den Zugang zum Tempel einzuräumen. Die Universalisierung der Hoffnung führt hier notwendig zu einem inneren Konflikt: Paulus muss angesichts der tödlichen Bedrohung seiner Existenz in Jerusalem seine Angst bewältigen, um nach Jerusalem zu reisen.

6.2.3 Die Universalisierung des Gesetzes Das Gesetz wurde schon im Judentum teils partikularistisch, teils universalistisch gedeutet. Für den Aristeasbrief ist es ein Schutzwall, der die Juden umgibt, um sie vor heidnischem Wesen zu bewahren. Er schildert diese separatistische Funk-

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tion des Gesetzes so, als sei das Gesetz ein Tempel aus Geboten, zu dem Fremde keinen Zutritt haben: Da nun der Gesetzgeber als Weiser, der von Gott zur Erkenntnis aller Dinge befähigt wurde, (dies) alles klar erkannte, umgab er uns mit undurchdringlichen Wällen und eisernen Mauern, damit wir uns mit keinem anderen Volk irgendwie vermischen, (sondern) rein an Leib und Seele bleiben und  – befreit von den törichten Lehren – den einzigen und gewaltigen Gott überall in der ganzen Schöpfung verehren (Arist. 139). Damit wir nun nicht besudelt und durch schlechten Umgang verdorben werden, umgab er uns von allen Seiten mit Reinheitsgeboten in Bezug auf Speisen und Getränke und Berühren, Hören und Sehen (Arist. 142).

Ganz anders urteilt Philo von Alexandrien. Für ihn sind die Juden die wahren Kosmopoliten. Ihr Gesetz ist mit dem Naturgesetz identisch. Er beruft sich dafür auf die Erzväter Israels. Abraham, Isaak und Jakob haben schon vor dem Erlass des Gesetzes am Sinai den Willen Gottes erfüllt, als seien sie von Natur durch das Gesetz selbst belehrt worden: Denn die beseelten und vernünftigen Gesetze sind in jenen Männern verkörpert, die er aus zwei Gründen verherrlicht hat: weil er erstens zeigen wollte, dass die gegebenen Verordnungen mit der Natur in Einklang stehen, zweitens, dass es den Gutwil­ ligen nicht viel Mühe machen kann, nach den geschriebenen Gesetzen überhaupt zu leben, da die Früheren, bevor noch die besonderen Gesetze überhaupt aufgeschrieben waren, leicht und gern nach der ungeschriebenen Gesetzgebung gelebt haben, so dass man wohl sagen muss, dass die gegebenen Gesetze nichts anderes sind als Kommentare zum Leben der Alten, die uns ihre Taten und Worte künden […] (Philo Abr. 5–6).

Philos Gedanken zeigen, dass auch im Judentum Tendenzen zu einer Öffnung für alle Menschen spürbar sind – inklusive einer Kritik an der abgrenzenden Funktion des Gesetzes. Der erste Universalisierungsversuch des Judentums wurde im 2.  Jh. v. Chr. von einer schmalen städtischen Oberschicht Jerusalems getragen. Die hellenistischen Reformer identifizierten im Jahr 175 v. Chr. den einen und einzigen Gott mit „Zeus Olympios“. Ihr Programm kennen wir aus der Darstellung ihrer Gegner in 1Makk 1,11: „Wir wollen einen Bund mit den fremden Völkern schließen, die rings um uns herum leben; denn seit wir uns von ihnen abgesondert haben, geht es uns schlecht“. Es handelt sich bei der Bewegung der Reformer um eine echte innerjüdische Umkehrbewegung. Wahrscheinlich klingen ihre Gedanken auch in der Darstellung des Judentums in Strabos Geographica (XVI 2,35–38) nach. Strabo lobt dort Mose, weil er die Verehrung von Göttern in Tiergestalt und in Menschengestalt abgelehnt und dafür die bilderlose Gottesverehrung des universalen Gottes eingeführt habe. Mose selbst habe in Frieden mit den umgeben-

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den Völkern gelebt. Aber dann seien seine Nachfolger von diesem verheißungsvollen Anfang abgefallen:59 Seine Nachfolger blieben eine Zeitlang bei denselben Gebräuchen, denn sie waren rechtschaffene und wahrhaft gottesfürchtige Männer. Hernach aber gelangten zur Priesterwürde erst abergläubische, dann herrschsüchtige Menschen (τυραννικῶν ἀνθρώπων/tyrannikō´n anthrō´pōn). Die Folge des Aberglaubens war, dass nun Enthaltung des Genusses gewisser Speisen […] ferner Beschneidung der männlichen, Exzision der weiblichen Individuen und anderes der Art unter ihnen zur Sitte wurde. Aus der Herrschaft der Gewalttätigen (τυραννίδων/tyrannídōn) ergab sich eine Raubpolitik. Denn die (ihnen gegenüber) Abtrünnigen schädigten das eigene und angrenzende Gebiet, die den Herrschern Treugebliebenen rissen fremdes Land an sich und unterwarfen einen großen Teil Syriens und Phöniziens (Strab. geographica XVI 2,37).60

Teile des jüdischen Gesetzes werden hier kritisiert, weil sie sekundär hinzugefügt worden waren. Wie das in 1Makk 1,11 greifbare Programm der Reformer richtet sich die Kritik Strabos gegen die separatistische Wirkung des Gesetzes. Als separatistisch gelten vor allem die jüdischen Identitätszeichen: Die „Beschneidung“ (wobei Strabo nicht gut informiert ist, wenn er für Frauen eine Ekzision voraussetzt) und die „Speisevorschriften“. Sie gelten als „Abfall“ von der wahren Religion des Moses und werden auf abergläubische Priester zurückgeführt. Zu diesen Priestern gehören gewalttätige Tyrannen, die Eroberungskriege führen. Dabei handelt es sich um die Hasmonäer, wie sich die Makkabäer nach ihrem Ahnherrn nannten.61 Strabo kritisiert aber nicht nur sie, sondern auch die Raubpolitik einiger Menschen, die sich von ihnen abgespalten haben. Diese „Abtrünnigen“ könnten die Reformer sein, die sich den Makkabäern widersetzt haben. Strabo hätte sich insofern geirrt, als der Makkabäeraufstand erst in Reaktion auf die Reformer entstanden ist. Strabo könnte aber auch an eine spätere Widerstandsbewegung gegen die Hasmonäerherrschaft in deren eigenem Land und in den ihnen benachbarten Gebieten denken, z. B. an die „Pharisäer“, die Alexander Jannaeus bekämpft hatte. Dieser erste Universalisierungsversuch des Judentums durch eine kleine städtische Oberschicht scheiterte, weil sich gegen ihn der fundamentalistische Aufstand der Makkabäer auf dem Land erhob und die damals artikulierte Gesetzeskritik nur verborgen nachwirken konnte. Es gibt deshalb nur wenige gesetzeskritische Motive im Judentum vor und neben Paulus. In den wenigen Texten, in denen sie erscheinen, wird die Gesetzeskritik jedes Mal scharf zurückgewiesen und unterdrückt. Paulus konnte an diese unterdrückte Gesetzeskritik anknüpfen. Die be 59 Pollmann, Motive, 68–69. 60 Übersetzung angelehnt an Hengel, Judentum und Hellenismus, 470. Vgl. Strab. geographica, XVI 2,37, in: Stern, Authors, 295. 61 Vgl. Hengel, Judentum und Hellenismus, 470 f.

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legbaren gesetzeskritischen Motive sind dabei sachlich sehr verschieden, stehen historisch in keinem direkten Zusammenhang und finden sich weit zerstreut in verschiedenen Schriften. Umso auffälliger ist, dass sie in den paulinischen Briefen alle auf engem Raum kombiniert werden. Die beeindruckendste Gesetzeskritik im damaligen Judentum findet sich in der Darstellung des Josephus von der Rebellion des Simri gegen das tyrannische Gesetz des Mose, das ihm verbietet, eine ausländische Frau zu heiraten (Jos. Ant. 4,145–149; Num 25).62 Seine Rebellion wird von Mose in moderater Weise zurückgewiesen, von Pinehas dagegen mit Gewalt bekämpft. Pinehas ermordete Simri und seine Frau ohne Gerichtsverfahren und wurde dadurch zum Urbild des Eiferers für das Gesetz. In der Kritik des Simri am Gesetz wirken die Akkulturationstendenzen der hellenistischen Reformer in Jerusalem nach, die in den Augen ihrer Gegner ein Abfall vom Judentum waren. Möglicherweise wurden den hellenistischen Reformern Positionen unterstellt, die denen des Simri nahe kommen: Das Gesetz sei tyrannisch, es sei ein Herrschaftsmittel des Moses und eines freien Mannes nicht würdig. Auf jeden Fall klingen darin Motive und Argumente sophistischer Gesetzeskritik an. Diese Gesetzeskritik des Simri bleibt­ jedoch nur eine vereinzelte Stimme im Judentum. Ein fast entgegengesetztes gesetzeskritisches Motiv finden wir in der Klage des Esra über die Unerfüllbarkeit des Gesetzes im 4Esr.63 Simri wandte seine Agression gegen das Gesetz; Esra aber wendet sie gegen sich selbst. Esra trauert um die Zerstörung des ersten Tempels im Jahr 587 v. Chr., meint aber die Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. Seine Klage gipfelt in einem Gebet (4Esr 8,20–36), das mit den Worten schließt: Denn wir und die vor uns haben Werke der Vergänglichkeit getan, du aber bist wegen uns, die gesündigt haben, der Barmherzige genannt worden. Denn wenn du unser dich erbarmen willst, die wir keine guten Werke haben, so wirst du der Erbarmer genannt werden. Denn die Gerechten, die viele Werke bei dir liegen haben, können aus ihren eigenen Werken Lohn empfangen. Oder was ist denn der Mensch, dass du ihm zürnest, oder das vergängliche Geschlecht, dass du darüber grollest? Denn in Wahrheit, von den Geborenen ist keiner, der kein Unrecht getan hat und von den Gewordenen keiner, der nicht gesündigt hat. Darin eben wird deine Güte, Herr, gezeigt, wenn du derer dich erbarmst, die keinen Vorrat von Werken haben (4Esr 8,31–36).

Der in diesem Gebet zum Ausdruck kommende Sündenpessimismus wird vom Engel Uriel zurückgewiesen: Esra solle sich nicht zu den Ungerechten zählen. Auch im 4Esr wurzelt das Problem der Unerfüllbarkeit des Gesetzes in Israels Verhältnis zu den anderen Völkern. Denn Esra verzweifelt daran, dass die Juden durch ihre Gesetzeserfüllung keinen Vorteil hatten, sondern hinnehmen muss 62 Zum Folgenden Pollmann, Motive, 25–65. 63 Ebd., 67–97.

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ten, dass Völker, die das Gesetz weder kennen noch halten, sie beherrschen. Auch der Sündenpessimismus des 4Esr steht nicht isoliert da. Er hat historisch in pessimistischen Aussagen über den Menschen in den Qumrantexten eine Analogie – hier dient er freilich als Kontrast, um den Status der Erwählten umso mehr leuchten zu lassen. Einzigartig am Sündenpessimismus des 4Esr ist, dass er in 4Esr 8,31–36 zu einer Gesetzeskritik führt, die jedoch sofort vom Engel Uriel zurückgewiesen wird. Ein drittes gesetzeskritisches Motiv begegnet bei Philo in seiner Kritik einiger anonymer radikaler Allegoristen, die das Gesetz in einem spirituellen Sinne verstehen und deshalb seine wörtliche Praktizierung für überflüssig halten:64 Es gibt nämlich Leute, die in der Annahme, die verkündeten Gesetze seien nur Symbole von Gedachtem, letzterem (dem Gedachten) mit höchstem Eifer nachgehen, erstere leichtsinnig vernachlässigen; diese muss ich wegen ihrer Leichtfertigkeit tadeln. Denn sie hätten an Zwiefaches denken sollen: sowohl das Unsichtbare (den Sinn) recht genau zu erforschen, alsdann auch das Offene (den Wortlaut) tadellos zu beachten. Jetzt leben sie aber in Wahrheit so, als wären sie in der Einsamkeit für sich, oder als wären sie körperlose Seelen geworden, als wüssten sie nichts von Stadt, Dorf, Haus, überhaupt von menschlicher Gesellschaft, sehen über das hinweg, was die Allgemeinheit billigt, und suchen die nackte Wahrheit für sich allein zu erforschen. Sie belehrt die Heilige Schrift, auf eine gute Meinung zu achten und nichts von den Satzungen aufzuheben, die gottbegnadete, uns überlegene Männer gegeben haben (Philo Migr. 89 f).

Die hier zum Ausdruck kommende Spiritualisierung der Gebote wird von Philo scharf zurückgewiesen. Er kritisiert, sie verkenne die Gemeinschaftsbindung der Religion. Auch diese Allegoristen sind kein isoliertes Phänomen. Tendenzen zu einer spirituellen Auffassung der Tora waren im Diasporajudentum verbreitet. Bei den von Philo bekämpften „radikalen Allegoristen“ wird die spirituelle Auffassung der Gesetze gegen deren wörtliche Befolgung ausgespielt. Auch hier können wir annehmen, dass diese Allegoristen das Zusammenleben von Juden und Heiden erleichtern wollten. Wenn man trennende Riten nur noch im übertragenen Sinne „im Geist“ vollzieht, behindern sie nicht mehr die Kontaktaufnahme mit Nicht-Juden im alltäglichen Verkehr. Auch Paulus kennt solch eine spiritualisierende Auffassung des Gesetzes: Die Beschneidung kann er in 2,25 als unsichtbare Beschneidung des Herzens deuten, als Bild für die Bekehrung. An einer anderen Stelle stellt Philo Joseph als Gesetzgeber in Ägypten dar (Philo Ios. 28–31) und charakterisiert dessen Gesetze als „Zu-Satz“ (πρόσθεσις/ prósthesis) zum natürlichen, lebendigen und ungeschriebenen Gesetz.65 Es ist ein Zusatz zu jenem Gesetz, das die Patriarchen schon praktiziert hatten, als das Sinaigesetz noch nicht offenbart worden war. Diese zusätzlichen Gesetze sind die 64 Ebd., 99–126. 65 Ebd., 127–179.

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von Joseph für die Ägypter erlassenen Gesetze. Die Kritik des Philo an ihnen betrifft daher nur Gesetze der heidnischen Völker – also nicht das jüdische Gesetz selbst. Diese Kritik wird nicht zurückgewiesen und fällt auch vergleichsweise mild aus. Diese Gesetze dienten nur der Eindämmung der Sünde. Die Abwertung eines zeitlich erst später eingeführten Gesetzes gegenüber einem ursprünglichen Zustand vor dem Erlass des Gesetzes ist in jüdischen und antiken Texten gut bezeugt. Die Schöpfungsordnung konnte schon durch Jesus (Mk 10,5–9) gegen spätere Gesetze des Moses ausgespielt werden. Paulus selbst sagt, das Gesetz sei sekundär zur Verheißung „hinzugefügt“ worden und benutzt dabei das Verb (προσετέθη/prosetéthē), das dem Substantiv „Zusatz“ (πρόσθεσις/prósthesis) zugrunde liegt (Gal 3,19). Für ihn steht das jüdische Gesetz auf derselben Stufe wie die von Joseph zusätzlich erlassenen Gesetze für die Ägypter. Diese wenigen verstreuten gesetzeskritischen Gedanken werden alle zurückgewiesen oder – wie im zuletzt genannten Fall – nicht auf die Tora, sondern auf die heidnischen Gesetze bezogen. Sie alle finden sich bei Paulus auf engem Raum im Galater- und Römerbrief zusammen. Paulus muss sie aus ganz verschiedenen jüdischen Traditionen wie ein Magnet an sich gezogen haben. Dabei verwandeln sich die Motive und ihr Stellenwert: Paulus weist die gesetzeskritischen Motive nicht mehr als unberechtigt zurück, sondern identifiziert sich mit ihnen. Er radikalisiert die in ihnen enthaltene Gesetzeskritik in zweifacher Hinsicht, indem er nicht nur den Gesetzesbruch, sondern auch die Gesetzeserfüllung kritisiert. Vor dem Hintergrund dieser gesetzeskritischen Motive im Judentum muss man Paulus als Gesetzeskritiker darstellen.66 Durch seine Gesetzeskritik hat er gewirkt. Seine Größe aber bestand darin, dass er nicht nur das Gesetz kritisierte, sondern gleichzeitig im Kern an ihm festhielt. Dies führte zu den bekannten Widersprüchen in seinen Aussagen über das Gesetz. So kennt Paulus ein Gesetz, dessen „Werk“ allen Menschen ins Herz geschrieben ist. Die Vorstellung eines solchen natürlichen Gesetzes, wie es Philo den Pa 66 Wichtig ist, dass die gesetzeskritischen Motive in breite Mentalitätsströme im Judentum eingebettet sind. Sie lassen sich nicht als wenig repräsentative Fragmente relativieren. Zwar finden wir den gesetzeskritischen Impetus nur an den zitierten Stellen, in geschichtlich verwandten Texten finden wir aber Motive, die hin und wieder gesetzeskritisch zugespitzt wurden. Der Nachweis der Einbettung dieser vier kleinen Texte in breitere Mentalitätsströme im Judentum löst im Übrigen ein chronologisches und traditionsgeschichtliches Problem: Philo ist nur wenig älter als Paulus; dass seine Schriften Paulus beeinflusst haben, ist jedoch unwahrscheinlich. Wenn er Zeuge breiterer traditionsgeschichtlicher Zusammenhänge ist, kann man mit mittelbaren Berührungen zwischen ihm und Paulus rechnen. Dasselbe gilt für die Schriften des Josephus und 4Esr, die erst nach dem Tode des Paulus entstanden sind. Wenn sie ­ältere Einstellungen und Traditionen wiedergeben, könnte auch Paulus sie gekannt haben. Die innerjüdischen Strömungen sind ferner immer in allgemeine antike Traditionen eingebettet: in die sophistische Gesetzeskritik, in ein Bewusstsein der Unvollkommenheit des Menschen, in allegorisierende Auslegungen religiöser Traditionen und eine Hochschätzung des Alten und Ursprünglichen. Vgl. die Nachweise dieser breiten Einbettung bei Pollmann, Motive.

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triarchen zuschrieb (Philo Abr. 5–6), weitet Paulus in ähnlicher Weise wie Philo auf alle Menschen aus.67 Er postuliert, dass alle Menschen von Natur aus wissen, was Gott fordert. Der Singular „Werk“ könnte dabei auf den Dekalog oder zentrale Gebote weisen (2,15). Paulus bezieht sich am Anfang des Römerbriefs in der Tat auf den in der paganen Welt verbreiteten „Kanon der zwei Tugenden“: Frömmigkeit gegenüber Gott und Gerechtigkeit unter den Menschen. Für Paulus steht fest, dass alle Menschen dagegen verstoßen, wenn sie „Gottlosigkeit“ und „Ungerechtigkeit“ praktizieren (1,18–32). Die Universalisierung des Gesetzes zu einem in jedem Menschen vorhandenen Naturgesetz ist aber für ihn mit der Wahrnehmung eines vertieften inneren Konflikts verbunden: Im Inneren klagen­ Gedanken jeden Menschen an – bezeugt vom Gewissen, das um die schlechten Taten weiß (2,15). In direktem Widerspruch zur Annahme solch eines Naturgesetzes steht bei Paulus die Vorstellung, dass es eine Zeit ohne Gesetz gegeben hat. Auch für Paulus wurde das Gesetz erst am Sinai erlassen. Es dient vor allem dazu, die Sünden zu vermehren (5,20). Wahrscheinlich denkt Paulus daran, dass erst das Gesetz die Trennung der Juden von den Heiden begründet. Das musste zu erhöhten moralischen Anforderungen an jeden einzelnen Juden führen – über den inneren Gesetzeskonflikt hinaus, den Paulus in jedem Menschen annimmt. Paulus hat mit dem Gedanken des natürlichen Gesetzes in allen Menschen die universale soziale Funktion des Gesetzes betont, mit dem Gedanken eines erst am Sinai gegebenen Gesetzes dagegen seine separatistische Funktion. Für die Abgrenzung des Judentums von allem heidnischen Wesen hatte er sich in seiner Zelos-Phase intensiv eingesetzt. Schließlich kennt Paulus noch ein Gesetz Christi, das an kein partikulares Volk gebunden ist, sondern das in den christlichen Gemeinden praktiziert wird: „Einer trage des anderen Last. So werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal 6,2). Dieses Gesetz ist Erfüllung des Sinaigesetzes, denn das Nächstenliebegebot in diesem Sinaigesetz erfüllt das ganze Gesetz (Gal 5,14; Röm 13,8–10). Diese verschiedenen Aussagen über das Gesetz bei Paulus lassen sich nicht systematisieren, doch spürt man einen Zusammenhang: Ein ursprüngliches natürliches Gesetz war einst allen Menschen zugänglich und wurde verdunkelt. Der Erlass des Gesetzes am Sinai konnte es nicht retten, obwohl das Gesetz an sich gerecht, heilig und gut ist, aber faktisch erhöhte es nur seinen Missbrauch durch sündige Menschen, die es wie Paulus vor seiner Bekehrung zur Abgrenzung gegen andere Menschen nutzten. In Christus aber wird das ganze Gesetz im Liebesgebot erfüllt. In dieser Form öffnet es die Tür zu anderen Menschen und wird in der Gegenwart universal allen zugänglich. Christus ist dadurch das Ziel und die

67 Sterling, „A Law to Themselves“, 47, spricht bei Philo und Paulus von einem „limited universalism“. Damit ist gemeint: Alle haben zwar eine Chance, Gott und sein Gesetz zu verstehen, aber sie wird nur von wenigen ergriffen.

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Erfüllung des Gesetzes. Da diese Deutung von 10,4 bis heute umstritten ist, stellen wir die Argumente in einem Exkurs zusammen.

Exkurs 12: Τέλος/télos als „Ende“ oder „Ziel“ des Gesetzes68 Jedes Ziel ist ein „Endpunkt“.69 Bei einem „Ziel“ ist immer ein „Ende“ mitbedacht, beim

„Ende“ aber nicht immer ein „Ziel“. Daher sind Positionen, die Ziel und Ende verbinden wollen, im Grunde ein Plädoyer für die Deutung von τέλος/télos als „Ziel“. Folgende Argumente sprechen für das Verständnis von τέλος/télos als Ziel:

(1) Der Kontext wird durch eine Lauf-Metaphorik bestimmt, die zuerst in 9,16, dann in 9,30–10,4 und 11,11 begegnet. Der Lauf muss ein „Ziel“ haben. Dieses Ziel ist das „Gesetz“: Israel „ist nicht zum Gesetz gelangt“ (9,31). Zum Lauf passt der „Stolperstein“ (9,32 f). Dennoch „stolpert“ die Auslegung über ihn: Kann Christus zugleich der Stein auf dem Weg und dessen Ziel sein? Beides wäre folgendermaßen vereinbar: Juden waren am Ziel, weil Christus unter ihnen lebte, doch erkannten sie ihn nicht und verfehlten damit ihr Ziel. Sie stolperten über ihn, indem sie ihn nicht erkannten.70 Wenn das Gesetz das von Israel verfehlte Ziel ist (9,30), das „τέλος (télos) des Gesetzes“ aber Christus, dann wird damit gesagt: Christus ist im Gesetz als dessen Ziel und Zweck verborgen präsent. Einige erkennen ihn als Ziel des Gesetzes, andere nicht. (2) Die Wendung τέλος εἰς/télos eis ist anders als die Wendung εἰς τέλος/eis télos sehr selten und meint in Hebr 6,8 ein „Ende als Verbrennen“ (τέλος εἰς καῦσιν/télos eis kaúsin). Was verbrannt ist, existiert nicht mehr. Das spricht eher für die Bedeutung „Ende“. Aber in Röm 10,4 wird mit τέλος … εἰς δικαιοσύνην/télos … eis­ dikaiosýnēn eine positive Aussage gemacht: „Christus ist ein Ende oder Ziel des Gesetzes zur Gerechtigkeit für einen jeden der glaubt“. Was gerecht ist, existiert weiter. Das spricht für eine Bedeutung von τέλος/télos als „Ziel“. (3) Die Aussage muss inhaltlich auch für Heidenchristen gelten, denn Paulus kritisiert zwar nur den falschen Eifer Israels, macht aber dann eine Aussage über „jeden Glaubenden“ (10,4), d. h. über Juden- und Heidenchristen (10,12). In 9,33 wird Jes 28,16 in Übereinstimmung mit der LXX wörtlich so zitiert: „Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden“ (ὁ πιστεύων ἐπ’ αὐτῷ/ho pisteúōn ep’ autō´i). In 10,11 ergänzt Paulus bei der Wiederholung von Jes 28,16: „Ein jeder, der glaubt“ (πᾶς ὁ πιστεύων/pás ho pisteúōn). Er macht damit explizit klar, dass auch für Heiden 68 Luther übersetzt in „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ § 6, Röm 10,4 so: „Christus ist das ende und die fülle aller gebot denen, die ynn yhn glauben“ (Luther, Freiheit, WA7, 23). Zur Auslegungsgeschichte und für die finale Deutung von τέλος/télos; vgl. Badenas, Christ. 69 Wolter, Art. Christus, will sich nicht auf die Alternative Ende oder Ziel festlegen. Jos. Bell. 7,153 zeige, wie beides verbunden sein können: „Das télos des Festzuges war [der Platz] beim Tempel des Jupiter Capitolinus; dort angelangt, blieben sie stehen“. Eindeutige Aussagen, dass das Gesetz sachlich ein Ende hat, sind im Galaterbrief zu finden. Da der Römerbrief aber eine veränderte Sicht des Gesetzes und Israels zeigt, dürfen Aussagen aus dem Galaterbrief nicht einfach auf den Römerbrief übertragen werden. 70 Analog kennt Paulus auch bei den „Herrschern dieser Welt“, dass sie Christus dadurch verfehlten, dass sie ihn nicht erkannten (1Kor 2,8).

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christen der Satz gelten muss, das τέλος/télos des Gesetzes sei Christus. Mit dem jüdischen Gesetz kamen Heidenchristen erst durch den christlichen Glauben in Kontakt. Wie soll für sie durch den Glauben ein Ende finden, was sie erst durch diesen Glauben kennen gelernt haben? Die Bedeutung „Ende“ trifft auf sie nicht zu, wohl aber die Bedeutung „Ziel“. (4) Im folgenden Kontext (10,5–13) tritt Christus in Dtn 30,11–14 an die Stelle des Gesetzes. Paulus streicht in diesem Schriftzitat dreimal einen Hinweis auf ein Tun des Menschen: „Es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust“ (Dtn 30,14). Wenn Gott Christus aus dem Himmel holt und aus der Unterwelt herausführt, so kann das kein Mensch tun, sondern er kann nur Gottes Tun in seinem Glauben anerkennen. Damit erlangt er Gerechtigkeit aus Glauben (10,6). Die damit kontrastierende „Gerechtigkeit aus dem Gesetz“ verlangt dagegen ein Tun (Lev 18,5 = 10,5). Wenn aber nur göttliches Tun retten kann, ist die Hoffnung auf Heil durch eigenes Tun eine Illusion. Paulus macht durch seine Streichungen aus den Worten des Mose: „Das Wort ist dir nahe in deinem Munde und in deinem Herzen“ (10,8), die im Alten Testament dreimal ein Tun fordern (Dtn 30,12.13.14), eine Botschaft von Christus, der ausschließlich Glauben verlangt. (5) Die Kontrastierung von Gerechtigkeit aus dem Gesetz (10,5 = Lev 18,5) und Glaubensgerechtigkeit (10,6–8 = Dtn 30,12–14) hätte die Konsequenz, dass Mose eine Gesetzeserfüllung lehrt, die in Christus ein „Ende“ gefunden hat. Wenn das Ziel des Gesetzes Christus ist, würde das Gebot des Mose in Lev 18,5: „Der Mensch, der sie (die Gebote) tut, wird durch sie leben“ (= 10,5) auf einen Irrweg führen. Doch derselbe Mose deckt in Dtn 30,12–14 (10,6–12) eben diesen Irrweg auf. Über den Weg der Gesetzeserfüllung schreibt Mose, hier aber spricht er im Namen der „Gerechtigkeit aus Glauben“. Dort sind seine Worte tötender Buchstabe, hier sind sie Leben schaffender Geist. Dort führen sie in die Irre, hier öffnen sie den Weg zum Leben. In diesen Widersprüchen zeigt sich jene Zerrissenheit, die Röm 9–11 kennzeichnet und allein durch Christus überwunden wird. – Um das finale Verständnis von τέλος/télos ohne solch ein ambivalentes Verständnis von Mose aufrechtzuerhalten, werden in der Exegese zwei harm­losere Möglichkeiten diskutiert. Die eine bezieht die Aussage des Mose über die Gesetzesgerechtigkeit auf Christus: Christus sei der Mensch, der die Gebote tut und der durch sie leben wird (Lev 18,5).71 Die andere Lösung bezieht diese Aussage des Mose auf die jüdische Lebensform. Juden sollen die Gebote des Mose praktizieren und „in ihnen leben“. „Leben“ wäre dann nicht das ewige Leben, sondern das irdische Leben nach mosaischen Gesetzen.72 Dagegen schlagen wir vor, dass Paulus sich sowohl für die Gesetzesgerechtigkeit als auch für die Glaubensgerechtigkeit auf Mose beruft: Zuerst hat Mose in Lev 18,5 als „tötenden Buchstaben“ geschrieben, dass Gebotserfüllung das Leben bringt, später aber korrigiert er sich in Dtn 30,12–14, indem er mündlich verkündigt, dass allein der Glaube das Heil bringt. 71 Diese christologische Deutung von Vers 10,5 beruft sich darauf, dass dieser Vers mit einem kausalen γάρ/gár als Begründung an 10,4 anschließt. Sie wird u. a. vertreten von Cranfield, ICC 2, 520–521. 72 In diese Richtung gehen die Deutungen von Lindemann, Gerechtigkeit, 241; Burchard, Glaubensgerechtigkeit, 260; Avemarie, Ungehorsam, 313–315.

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(6) Die nächste Analogie zur Wendung vom télos des Gesetzes findet sich bei Plutarch: „Gerechtigkeit ist das Ziel des Gesetzes (δίκη μὲν οὖν νόμου τέλος ἐστί/díkē mén oún nómou télos estí), das Gesetz aber ist das Werk des Herrschers, der Herrscher aber ist das Bild Gottes, der das All ordnet“ (mor. 780e). Hier bedeutet τέλος/télos eindeutig Ziel.73 Paulus lehnt sich zudem an eine verbreitete Formel an. Die antike Philosophie sprach vom τέλος/télos als Bestimmung des Menschen.74 Epikur schrieb eine Ethik unter dem Titel „Über das télos“ (vgl. Epikt. II 21). Zenon definierte: „Das Ziel (τέλος/télos) besteht darin, den Göttern zu folgen“ (so in Epikt. I 20,15). Sein Schüler Chrysipp definierte das Lebensziel (τέλος/télos) als ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur (SVF 3, frg. 4). Diese Formel wurde ­immer wieder neu variiert. Nach Antipatros aus Tarsos (2. Jh. v. Chr.) ist das Lebensziel, „zu leben, indem man mit Beständigkeit die naturgemäßen Dinge auswählt und die naturwidrigen verwirft“ (SVF 3, frg. 57). Für Juden war die Bestimmung des Lebens das Gesetz, das sie durch ihr Tun erreichen wollten (9,31), so wie antike Philosophen durch vernünftiges Handeln ihr Lebensziel verwirklichen wollten. Paulus formuliert in diesem Sinne in 10,4 einen allgemeinen Grundsatz, der die wahre „Gerechtigkeit“ definieren soll, mit der der Mensch Gottes Willen entspricht. Er könnte Formulierungen aus dem antiken Diskurs über das Lebensziel im Ohr haben. Dass ein Philosoph aus seiner Heimatstadt, Antipatros von Tarsos, an diesem Diskurs beteiligt war, kann Zufall sein, denn der Diskurs über das Lebensziel war weit verbreitet. (7) Der Römerbrief enthält positive und negative Aussagen über das Gesetz. Die letzte grundsätzliche Feststellung im vorhergehenden Teil  zur Verwandlungslehre (Röm 6–8) spricht davon, dass Christen die „Forderung des Gesetzes“ erfüllen (πληρωθῇ/plērōthē´i) (8,4), die erste folgende Aussage innerhalb der Paränese (12,1–15,13) sieht das Gesetz im Liebesgebot erfüllt (πεπλήρωκεν/peplē´rōken) (13,8–10). Das Verb „erfüllen“ verleiht den Aussagen über das Gesetz vor und nach 10,4 den finalen Sinn eines Ziels menschlicher Bemühungen. Auch passt diese Bedeutung zu anderen positiven Aussagen über das Gesetz (3,21; 7,12.14). Am Rande sei vermerkt: Im unmittelbaren Kontext vorher klingt τέλος/télos in συντελῶν/syntelō´n an. Gott richtet ein Wort auf Erden aus, das vollendet und scheidet (9,28 = Jes 10,22 fLXX). Auch das legt assoziativ für τέλος/télos in 10,4 eine teleologische Deutung im Sinne von „vollenden“ nahe. Der Galaterbrief urteilt dagegen eindeutig anders: Paulus setzt in Gal 3,19–4,7 ein Ende des Gesetzes voraus. Das Gesetz ist nur um der Sünden willen gegeben, bis der verheißene Nachkomme kommt. Das Bild vom Zuchtmeister auf Christus hin (παιδαγωγός […] εἰς Χριστόν/paidagōgós […] eis Christón) in Gal 3,24 spricht gegen die Bedeutung, Christus sei im Galaterbrief das Ziel des Gesetzes, denn sobald der Mensch mündig ist (Gal 4,1), untersteht er nicht mehr seinen „Zuchtmeistern“. Diese hat er dann hinter sich gelas 73 Leider gibt es keine klaren Parallelen für τέλος νόμου/télos nómou im Sinne von Ende, die man zur Gegenprobe heranziehen könnte. Dennoch ist eine terminative Bedeutung nicht ausgeschlossen. Plato spricht z. B. davon, dass einige Regelungen am Ende der Gesetzgebung erfolgen sollen (πρὸς γὰρ τέλει νομοθεσίας/prós gár télei nomothesías; Plat. leg. 768c). 74 Delling, Telos-Aussagen. Vgl. Flashar (Hg.), Hellenistische Philosophie, 612 f.632.834 f. 640 (zu Antipatros von Tarsos), 656 f (zu Panaitios), 664.690 f (zu Poseidonios), 955 f (zu Antiochos von Askalon), 1039–1041 (zu Cicero).

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sen. Ebenso betont Paulus in Gal 2,19 f, dass er dem Gesetz abgestorben ist, dafür aber jetzt Christus in ihm lebt. Wenn Christus in 10,4 dennoch als Ziel des Gesetzes verstanden wird, so passt das gut zur positiveren Sicht des Gesetzes und ­Israels im Römerbrief im Unterschied zum Galaterbrief. Zwischen dem Galater- und dem Römerbrief muss Paulus seine Überzeugungen geändert haben. Eine Aussage wie die vom Fluch des Gesetzes (Gal 3,13) fehlt im Römerbrief.

6.2.4 Die Universalisierung der Geschichte Das vierte Ethnizitätsmerkmal in Tac. hist. V 2–13 ist die historia, das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte. Diese ist für Juden in ihren heiligen Schriften festgehalten. Alle, die sich in diese Geschichte einreihen und ihre „heiligen Schriften“ teilen, bilden eine Erzählgemeinschaft. Paulus erschließt diese Schriften in neuer Weise, indem er die Erinnerungen Israels zu Erinnerungen aller Menschen ausweitet. Auch in seinen Briefen an die heidenchristlichen Gemeinden beruft er sich auf Adam, Abraham, den Exodus, die Gesetzgebung am Sinai und die Weissagung des Messias durch die Propheten. Er treibt erfolgreich eine universalisierende „Geschichtspolitik“. Wie gelingt es ihm, eine imaginierte gemeinsame Geschichte aller Menschen herzustellen? Die Erinnerungen einzelner Völker zeigen den Weg dazu. Sie sind in der Regel ethnozentrische Erinnerungen, die festhalten, was Nachbarn dem eigenen Volk an Leid zugefügt haben und wie man sich dagegen gewehrt hat. Sie sind voll von Konflikten und Aggressionen. Sie erschweren den Weg zu einer universalen Erinnerung, die von allen Menschen geteilt werden kann. Auch das Alte Testament ist auf ein Volk konzentriert und zeugt von dessen Konflikten mit anderen Völkern. Paulus greift auf diese Konfliktgeschichten zurück, wenn er z. B. von der Feindschaft der Nachfahren der Hagar und der Sara spricht, die traditionell auf die Feindschaft zwischen Arabern und Juden gedeutet wurde. Aber diese ethnischen Erinnerungen halten auch fest, was ein Volk hat zusammenrücken lassen. Meist ist es eine große Gefahr von außen. Das gilt besonders für die beiden antiken Völker, deren Erinnerungen in die Geschichte Europas eingegangen sind, nämlich für die Griechen und Juden. Ihr Geschichtsbewusstsein ist durch Erzählungen ihrer Selbstbehauptung gegen übermächtige Imperien bestimmt. Im Zentrum der kollektiven Erinnerung der Griechen stand der Sieg gegen die Perser, im Zentrum der kollektiven Erinnerung Israels der Exodus aus Ägypten und die Rückkehr aus Babylon. Gemeinsam erinnerte Gefahren haben aus den griechischen und jüdischen Städten und Stämmen das Volk der Griechen bzw. der Juden gemacht. Genau solche gemeinsamen Gefahren unterstreicht Paulus, er stellt sie aber in einen großen universalen Rahmen. Paulus konstruiert eine gemeinsame Gefahr für alle Menschen. Alle sind bedroht durch gemeinsame Feinde: durch Sünde,

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Gesetz und Tod. Alle Menschen sind schuldig und von ewiger Verurteilung bedroht. Paulus macht drei Anläufe in drei Darstellungen, um diese Behauptung zu deuten und zu erklären. Eine erste Darstellung in 1,18–3,20 führt die universale Sünde auf die Abkehr von dem einen und einzigen Gott zurück und schildert quasi „empirisch“ die Verlorenheit der Menschen in einem Katalog ihrer Verfehlungen (1,24–32; 3,10–18). Die zweite Darstellung in 5,12–21 führt die Todverfallenheit aller Menschen mythologisch auf die Ursünde Adams zurück. Die Universalität der Sünde wird im Stammvater aller Menschen exemplarisch dargestellt. Da alle Menschen von ihm abstammen, hat sich das Unheil von ihm aus ausgebreitet. Die dritte Darstellung ist die Ich-Erzählung in 7,7–25 von einem verlorenen Menschen, der das tut, was er eigentlich hasst. Hier wird die Sünde anthropologisch in ihrer innerpersonalen Struktur so analysiert, dass sich jeder Leser mit diesem Ich identifizieren muss. Sünde wird hier summarisch in dem einen Verbot des Begehrens zusammengefasst. Paulus universalisiert die Faktoren, die den Menschen ins Unheil reißen: das Gesetz, die Sarx und die Sünde. Paulus entwirft aber nicht nur eine universale Unheilsgeschichte, sondern lässt mitten in dieser Geschichte ein Licht erstrahlen, das auf eine universale Erlösung der Menschen in der Gegenwart hinweist. Überall in der Geschichte Israels entdeckt er Hinweise auf diese universale Erlösung in Gestalt von Verheißungen, Vorabbildungen und Beispielen. Die Geschichte weist in eine gemeinsame Zukunft. Das ist ein Grund dafür, dass er das Alte Testament nur selten allegorisch auslegt. Nur einmal deutet er den Ochsen von Dtn 25,4 allegorisch auf die Apostel (1Kor 9,9). Der „Ochse“, dem man beim Dreschen das Maul nicht verbinden soll, ist dabei kein konkreter Ochse aus der Geschichte, sondern steht zeitlos für alle Arbeitstiere. In der Regel liest Paulus dagegen das Alte Testament so, dass er in ihm Entsprechungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart entdeckt. Selbst dort, wo er von einer Allegorie spricht (Gal 4,24), deutet er Hagar und Sara auf zwei Bünde, die nicht wie das himmlische und irdische Jerusalem zeitlos nebeneinander existieren, sondern zeitlich aufeinander folgen. Die Suche nach solchen Entsprechungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheidet das typologische Denken von der Allegorie. Die Typologie ist daher keine Form der Allegorie, vielmehr kann man beide gut unterscheiden. Die Allegorie überschreitet getrennte Seinsbereiche: Ein Tier (der Ochse) wird auf einen Menschen (den Apostel) gedeutet. Die Typologie bleibt dagegen innerhalb desselben Seinsbereichs: Menschen sind Präfigurationen zukünftiger Menschen. Für die Typologie ist darüber hinaus die zeitliche Dimension konstitutiv.75 75 Vgl. Vielhauer, Paulus. Luz, Geschichtsverständnis, 134, sieht das Entscheidende des Geschichtsverständnis des Paulus darin, dass „die Schrift die Menschen der Gegenwart (‚uns‘) anredet und zu ‚unserer‘ Belehrung geschrieben ist“. Die Gegenüberstellung verschiedener Formen der Bezugnahme auf das Alte Testament zeigt jedoch auch: Bei Paulus dominieren For-

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Die Universalisierung des Heils für alle Menschen 

Tab. 17: Schriftinterpretation mit und ohne Zeitdifferenz im Römerbrief Interpretation mit Zeitdifferenz

Zeitlose Interpretationen

Verheißung und Erfüllung Messianische Verheißungen im Alten Testament (Röm 1,2) sind eine Hoffnung für alle Heiden (Röm 15,12 = Jes 11,10LXX)

Gebote Gesetz und Liebesgebot (Röm 13,8–10; Gal 5,14) sind universale Normen (Röm 2,15), und gelten gegenüber allen (1Thess 3,12).

Typologie Adam – Christus: stehen sich als irdischer Adam und himmlischer Christus gegenüber (1Kor 15,22.44b–49) oder durch ihr verfehltes und gerechtes Handeln (Röm 5,12–21)

Allegorie Zeitlose allegorische Deutungen fehlen bei Paulus weitgehend. Die beiden folgenden Beispiele sind Ausnahmen:

Abraham – Christen: Der Glaube Abrahams ist Vertrauen in die todüberwindende Macht Gottes (Röm 4) und gleichzeitig der Glaube der Heidenchristen an die Auferweckung Christi

Gal 4,24: Die beiden Söhne Abrahams bedeuten allegorisch zwei Bundesschlüsse. Diese Deutung ist aber eher eine Typologie.

Paradigmenreihe Kinder des Fleisches und der Ver­ heißung: Isaak und Ismael Jakob und Esau, Mose und Pharao, Volk und Nicht-Volk (Röm 9,6–29)

Einzelparadigmen Elia (Röm 11,2 f)

Heilsgeschichtliche Deutung Gal 3; Röm 5,20: Das Gesetz ist nur in einer Zwischenphase vom Sinai bis zum Messias wirksam.

Alttestamentliche Sprache im Hymnus über die Weisheit Gottes Röm 11,33–36 mit Bezügen auf Jes 40,13LXX; Hiob 41,3

1Kor 9,9: Ochse in Dtn 25,4 = Apostel

Wir stellen beide Möglichkeiten in einer Tabelle nebeneinander, um zu zeigen, dass bei Paulus die Bedeutung des Alten Testaments in vielfacher Hinsicht entweder mit Berücksichtigung der Zeitdifferenz oder ohne deren Berücksichtung men, die eine geschichtliche Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart voraussetzen, vor Formen, die den Texten eine zeitlose Wahrheit entnehmen. Paulus hat kein umfassendes Geschichtsverständnis, aber seine Prämisse ist „die Entsprechung von Gottes Handeln in Vergangenheit und Gegenwart“ (Luz, ebd. 83).

Die lokale Verwirklichung universaler Gottesverehrung(Röm 14,1–15,13)

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geschieht. Das Alte Testament erschließt für ihn die Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart, aber auch einen Raum zeitloser Wahrheiten (s. Tab. 17). So entdeckt Paulus überall in der Geschichte Israels eine Öffnung dieser Geschichte für eine universale Geschichte, die alle Völker umfasst. Die Geschichte Israels zielt auf die gesamte Menschheit! Dies geschieht durch eine Verbindung von universaler Unheilsgeschichte und der Hoffnung auf universale Erlösung in der partikularen Heilsgeschichte Israels. Wenn man die „Geschichtspolitik“ des Paulus im Römerbrief auf eine Formel bringen will, könnte man sagen: Der Messias befreit nicht das jüdische Land von Feinden, sondern die Menschheit von Sünde, Gesetz und Tod. Paulus repräsentiert mit seiner universalisierenden Theologie wohl am profiliertesten eine zweite Universalisierungsreform des Judentums. Die erste war von den oberen Schichten in Jerusalem ausgegangen und Anfang des 2. Jh. v. Chr. gescheitert, als sich das Volk auf dem Lande im Makkabäeraufstand gegen die Oberschicht durchgesetzt hatte. Anders verlief die zweite Universalisierungsreform im 1.  Jh. n. Chr. Sie hatte ihren Ursprung auf dem Land, wurde durch einen galiläischen Propheten und Charismatiker angeregt und fand auch Unterstützung im Volk, scheiterte allerdings im Judentum. Aber sie hatte außerhalb Israels Erfolg, wofür die Mission des Paulus steht. Sie begann auch dort oft in den unteren Schichten und gewann immer mehr auch Mitglieder in den oberen Schichten. Sie setzte sich nicht mithilfe von Waffengewalt durch, sondern durch die Kraft ihrer Überzeugungen.

6.3 Die lokale Verwirklichung universaler Gottesverehrung: Toleranz zwischen „Starken und Schwachen“ in Rom (Röm 14,1–15,13) Ob die von Paulus angestrebte Universalisierungsreform in den Gemeinden eine Chance hatte, musste sich daran erweisen, ob in ihnen Menschen aus verschiedenen kulturellen und religiösen Traditionen zusammenleben konnten. Diese Frage steht hinter dem Konflikt zwischen „Starken und Schwachen“ in 1Kor 8­ ,1–11,1 und Röm 14,1–15,13. Keinem praktischen Problem räumt Paulus in seinen Briefen so viel Raum ein. Viele Einzelheiten bei diesem Streit sind nicht geklärt. Ein kurzer Überblick zeigt, wie viele verschiedene Deutungen der „Starken und Schwachen“ für den Römerbrief diskutiert werden.76

76 Die folgende, nur leicht ergänzte Tabelle nach Larsen, Romerbrevet, 280.

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Die Universalisierung des Heils für alle Menschen 

Tab. 18: Die Deutungen von Starken und Schwachen Ethnizität

Starke

Schwache

Exegetische ­ Vertreter

1. Juden vs. Juden

Christusanhänger unter den Juden

Nicht an Christus glaubende Juden

Nanos, Mystery (1996)

2. Heiden vs. Heiden

Heidenchristen

Heidenchristliche Asketen

Rauer, Die Schwachen (1923)

Heiden­christen ohne jüdische ­ Sozialisation

Heiden­christen mit jüdischer ­ Sozialisation

Das, Solving (2007)

3. Heiden vs. Juden

Heidenchristen

Judenchristen

Watson, Judaism (1986)

4. Aus Juden und Heiden gemischte Gruppen

Sozial gut gestellte Heidenchristen und Judenchristen

Sozial niedrig ­ gestellte Gottes­ fürchtige und ­ Judenchristen

Reasoner, Strong (1999)

Die Mehrheit der Exegeten deutet den Gegensatz von Starken und Schwachen als Konflikt zwischen einer vorwiegend heidenchristlichen und vorwiegend judenchristlichen Gruppe.77 Eine eindeutige Zuordnung ist schon deshalb nicht möglich, weil sich Paulus zu den Starken rechnet (15,1), aber selbst eindeutig Judenchrist ist. Hinzu kommt, dass sich ein generelles Fleischverbot nicht allein aus judenchristlichen Traditionen erklären lässt. Wir versuchen eine Klärung, indem wir nach der Herkunft der Gruppenbezeichnungen „Starke und Schwache“ fragen, dann deren Konflikt in Korinth und Rom vergleichen und schließlich die u. E. entscheidende Frage stellen, wie es zu einer Generalisierung jüdischer Speise­tabus in Rom hat kommen können. Die Antwort auf diese Frage könnte die vorherrschende Deutung auf Juden- und Heidenchristen in neuer Weise unterstützen.

6.3.1 Die Gruppenbezeichnung „Starke und Schwache“ Die Gruppenbezeichnung „die Schwachen“ (οἱ ἀσθενεῖς/hoi astheneís) begegnet nur in Korinth (1Kor 8,9; 9,22), eine entsprechende Bezeichnung „die Starken“ lässt sich dort dagegen nur postulieren.78 Der Römerbrief aber kennt eine Gegen 77 So z. B. Gäckle, Die Starken und die Schwachen; Barclay, Faith. 78 Vielleicht greift Paulus mit der rhetorischen Frage: „Sind wir stärker (ἰσχυρότεροι/ischyróteroi) als er (d. h. Gott)?“ in 1Kor 10,22 kritisch eine Selbstbezeichnung der korinthischen „Starken“ auf. Paulus kann sich selbst als „schwach“ im Unterschied zu den „Starken“ (ἰσχυροί/

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überstellung von „den Mächtigen“ und „den Machtlosen“ in der Gemeinde (15,1). Der Gebrauch des bestimmten Artikels weist hier auf eine feste Terminologie, die auf die römische Gesellschaft passen würde, denn die potentes sind in Rom Personen mit Reichtum und Macht, die „Schwachen“ sind als inferiores oder tenuiores die Mittellosen.79 Solch ein allgemeiner Sprachgebrauch ist auch Paulus vertraut. In 1Kor 1,26 spricht er von den Weisen, Mächtigen80 und Angesehenen der Welt. Die Mächtigen (δυνατοί/dynatoí) stehen in Gegensatz zu dem, was in der Welt schwach und verachtet ist. Aber gerade das, was in ihr schwach und verachtet ist (τὰ ἀσθενῆ/tá asthenē´ und τὰ ἐξουθενημένα/tá exouthenēména), hat Gott erwählt (1Kor 1,26 f). Die allgemeinen sozialen Kategorien der „Welt“ können bei Paulus zugleich Statusgruppen innerhalb der Gemeinde bezeichnen. Im Römerbrief ist sogar nur diese innergemeindliche Verwendung der Begriffe von Starken und Schwachen greifbar. Paulus spricht dort von einem Christen, der im Glauben schwach ist (τὸν δὲ ἀσθενοῦντα τῇ πίστει/tón dé asthenoúnta tē´i pístei; 14,1 f; vgl. 14, 21 v.l.) und deshalb von anderen verachtet wird: „Wer isst, soll den, der nicht isst, nicht verachten (μὴ ἐξουθενείτω/mē´ exoutheneítō)“ (14,3 vgl. 14,10). Das Schwach- und Verachtetsein in der Gemeinde könnte freilich mit dem Status der Menschen in der Gesellschaft außerhalb der Gemeinde übereinstimmen, denn es ist schwer vorstellbar, dass es sich um eine selbstgewählte Selbstbezeichnung handelt. Wer erklärt sich schon selbst für „schwach“? Solche abwertenden Bezeichnungen kommen in der Regel von außen, werden aber manchmal von den abgewerteten Menschen übernommen.81 Gerade für Rom ist nun das Attribut „schwach“ als Selbstbezeichnung eines Sympathisanten des Judentums belegt. Von einem Römer hören wir das Geständnis, er gehöre zu den Schwächeren, die den Sabbat halten: sum paulo infirmor, unus multorem (Hor. sat. 1,9.68–72). Auch die „Schwachen“ in der christlichen Gemeinde Roms beachteten Tabutage ischyroí) in Korinth abwerten (1Kor 4,10). Die „Starken“ in Korinth haben sich aber selbst vor allem dadurch charakterisiert, dass sie die „Erkenntnis“ (γνῶσις/gnō´sis) haben (1Kor 8,1.10 f). 79 Reasoner, Strong, 45–63, plädiert für eine soziale Bedeutung des Gegensatzes von Mächtigen und Machtlosen und bringt Belege für die allgemeine Verbreitung dieser Begriffe: Seneca fürchtet u. a. das, was einem durch die Gewalt eines Mächtigeren angetan wird (per vim potentioris, Sen. epist. II 14,3). Die collegia tenuiorum begegnen schon bei Plinius Anfang des 2. Jh.s: Trajan erlaubt in einem Reskript die Duldung einer Armenkasse ad sustinendum tenuiorum inopiam (Plin. epist. X 93,1). Die meisten Belege stammen aber aus späterer Zeit. 80 Sänger, 1Kor 1,26, hat gezeigt, dass die Mächtigen auch Reiche umfassen. 81 Reasoner, Strong, 55–58, plädiert mit guten Argumenten dafür, dass die Gruppenbezeichnungen Starke und Schwache aus der römischen Gemeinde stammen. Gäckle, Die Starken und die Schwachen, 437–449, meint dagegen, Paulus selbst habe die Begriffe, „Starke“ und „Schwache“ in die Diskussion in Rom eingeführt. Sie kommen für den Leser nicht unvorbereitet, weil Paulus schon in 12,3 nach dem „Maß des Glaubens“ Stärkere und Schwächere unterschieden und gemahnt hat, sich nicht übereinander zu erheben (S. 447). Aber Paulus knüpft an eine Terminologie an, die er in der Gemeinde vorfand. Er muss sie in 14,1 f; 15,1 nicht erst erläutern. Hätte Paulus eine Gruppe eigenmächtig als „Schwache“ abgestempelt, hätte er sie kaum für seine Sache gewinnen können.

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wie den Sabbat (14,6). Daher ist es nicht unmöglich, dass sich in der römischen Gemeinde einige Mitglieder als „schwach“ bezeichnet haben, weil sie zuvor von anderen Mitgliedern als „Schwache“ abgewertet wurden. „Schwach“ (infirmis) deutet im antiken Selbstverständnis auf einen Mangel, der durch Erziehung und Einsicht behoben werden muss. Auch Paulus hält den Schwachen für jemanden, der sich verändern muss – trotz aller Mahnungen, den schwachen Bruder so zu akzeptieren, wie er ist. Gerade im Römerbrief identifiziert er sich mit den Starken, wenn er sagt: „Wir, die Starken“ (15,1).

6.3.2 Vergleich der Konflikte in Korinth und Rom In Korinth und Rom handelt es sich trotz der vergleichbaren Gruppenbezeichnungen nicht um denselben Konflikt.82 In Korinth stritt man um Götzenopferfleisch, in Rom um eine generelle Fleisch- und Weinabstinenz (14,2.21). In Korinth stellte der Festkalender kein Problem dar, in Rom war er umstritten (14,5). In Korinth argumentierte Paulus mit dem „Gewissen“, in Rom mit dem „Glauben“. Umgekehrt fehlt in 1Kor 8–10 die Berufung auf den „Glauben“, in Röm 15 f dafür die Berufung auf das „Gewissen“. Die Unterschiede sind so groß, dass die Ausführungen in Röm 14,1–15,13 keine Übertragungen aus der korinthischen Gemeindesituation auf die für Paulus unbekannte römische Gemeinde sein können.83 Sein Brief wäre bei den römischen Adressaten unglaubwürdig gewesen, wenn er in einen Konflikt interveniert hätte, den er nur in seiner Phantasie konstruiert hatte. In beiden Gemeinden war das Problem durch das Nebeneinander jüdischer und paganer Traditionen entstanden, es lässt sich aber weder hier noch dort ausschließlich dadurch erklären. In Korinth tritt in der Argumentation des Paulus der ungestörte Kontakt zur paganen Umwelt stärker hervor. Das zeigen die Beispiele wie das Essen im Tempel (1Kor 8,10), die Teilnahme an heidnischen Kultmahlen (1Kor 10,19–22) oder die Einladungen durch heidnische Gastgeber (1Kor 10,27–30). Paulus schließt dort mit einem Appell an die Gemeindeglieder, nach außen wie nach innen hin keinen Anstoß zu geben: „Ob ihr nun esst oder trinkt oder was ihr auch tut, das tut alles zu Gottes Ehre. Erregt keinen Anstoß (ἀπρόσκοποι/apróskopoi), weder bei den Juden noch bei den Griechen noch bei der Gemeinde Gottes“ (1Kor 10,32). Das Vorbild dafür, sich selbst nicht zu Gefallen zu leben, soll Jesus und dessen Nachahmer Paulus sein (1Kor 10,33). Im Römerbrief tritt dagegen stärker der innergemeindliche Frieden hervor. Die Christen sollen ihrem Bruder keinen Anstoß geben (προσκόπτει/proskóptei) (14,20 f). Auch wenn die Wirkung auf die Außenwelt im Blick ist (14,16.18), geht 82 Gäckle, Die Starken und die Schwachen, 437–444, mit einer Synopse der Texte und einem Vergleich. 83 Karris, Romans 14:1–15:13.

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es zunächst darum, dass sich Starke und Schwache gegenseitig nach Jesu Vorbild in der Gemeinde akzeptieren (15,7). Jesus soll dafür ein Vorbild sein, weil er ein „Diener der Beschneidung“ (διάκονον … περιτομῆς/diákonon peritomē´s) geworden ist (15,8). Diese Aussage legt nahe, dass Paulus die Schwachen als Judenchristen betrachtet, denen sich die Starken anpassen sollen. Da er ausdrücklich die „Beschneidung“ nennt, denkt er auch nicht nur an gottesfürchtige Sympathisanten des Judentums.84 Die Heidenchristen wiederum sollen Gott wegen seiner Barmherzigkeit loben  – und ihre Rücksichtnahme auf Judenchristen als Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes verstehen (15,9).85 Daraus kann man erschließen, dass Paulus die Starken für Heidenchristen hält. Diese Einordnung der Schwachen als Judenchristen und der Starken als Heidenchristen wird durch den nächsten Abschnitt des Römerbriefs verstärkt, in dem Paulus seine Reise nach Jerusalem ankündigt. Paulus beginnt mit einer Selbstrelativierung: Eigentlich hätten sich die Adressaten gegenseitig selbst ermahnen können. Wenn er sie ermahne, so wolle er sie damit an seinen besonderen Auftrag erinnern (15,15). Der bestehe darin, Heidenchristen nach Jerusalem zu bringen. Die Verbindung dieser Reiseankündigung mit der vorhergehenden Paränese zeigt, dass Paulus auch bei dieser Paränese die Beziehung von Juden und Heiden bzw. von Juden- und Heidenchristen vor Augen hat. Nur darum kann er seine persönliche Aufgabe, Heidenchristen nach Jerusalem zu bringen, mit der Ermahnung um Rücksichtnahme von Starken und Schwachen so eng verbinden. Obwohl Differenzen zwischen jüdischen und heidnischen Traditionen die Konflikte in Korinth und Rom verursacht haben, lassen sich diese Konflikte weder hier noch dort allein daraus ableiten. In Korinth aßen einige Schwache „aus Gewohnheit“ rituell geschlachtetes Fleisch (1Kor 8,7), taten es aber mit schlechtem Gewissen. Es muss sich um Heidenchristen gehandelt haben, die ihre bisherigen Essgewohnheiten fortsetzten, aber mit ihnen innerlich in Konflikt geraten waren, weil sie als Christen die aus dem Judentum stammende Abgrenzung vom heidnischen Kult übernommen hatten.86 Der Konflikt hatte dazu eine schicht 84 Anders Das, Solving, 70–114. Auch Sänger, Gottlosigkeit, 123 Anm. 5, denkt an Gottesfürchtige. Richtig ist: Wir hören zwar in Röm 14,1–15,13 nichts „von der Beschneidung als einem innergemeindlichen Problem“, wohl aber begegnet das Wort nach 1,25–29 und 4,10–12 zum ersten und einzigen Mal erneut in 15,8. Wenn Abraham in 4,19 gelobt wird, weil er nicht „schwach“ im Glauben an die Verheißung war, so denkt Paulus vielleicht schon hier an die Schwachen (vgl. die übereinstimmende Wendung „ἀσθενεῖν τῇ πίστει/astheneín tē´i pístei“ in 4,19 und 14,1). Aber Abraham hatte sich anders als die Gottesfürchtigen beschneiden lassen. Wenn man dem Abrahambeispiel also eine Beziehung zu den „Schwachen“ zuschreibt, spricht es eher für deren judenchristlichen Charakter. 85 Diese Aufforderung an die Heidenchristen im A.c.I. ist syntaktisch entweder von „ich sage“ abhängig (15,8) oder von der „Erfüllung der Verheißungen“, die darin besteht, dass die Heiden Gott loben. 86 Die Hypothese von Barrett, Idols, dass die Ablehnung von Götzenopferfleisch darauf zurückgeht, dass Petrus bei seinem Besuch in Korinth (der nur indirekt aus 1Kor 9,5 erschlos-

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spezifische Komponente: Die einfachen Menschen aßen im Alltag kaum Fleisch, für sie war Fleisch mit Götterfesten und öffentlichen Fleischverteilungen – also fest mit dem „Götzendienst“ – verbunden. Die besser gestellten Kreise konnten sich dagegen individuell Fleisch auf dem Markt besorgen, das nicht unbedingt durch Götzendienst „kontaminiert“ war.87 Unter ihnen herrschte die „Erkenntnis“, dass man alles Fleisch unbesorgt essen kann.

6.3.3 Die Generalisierung des Fleischverbots unter den Schwachen in Rom Unerklärt ist bisher, warum die „Schwachen“ in Rom (im Unterschied zu den Schwachen in Korinth) nicht nur das Götzenopferfleisch ablehnten, sondern alles Fleisch generell, dazu auch allen Wein. Solch generalisierte asketische Speisegebote konnten nicht aus der Bibel abgeleitet werden, denn Fleisch (Dtn 12,15) und Wein (Jes 25,6) waren dort erlaubt. Eine Verschärfung jüdischer Speise­gebote war allenfalls situativ vorstellbar. So diente der Verzicht auf Fleisch dazu, jüdische Speisegebote auf Reisen oder in einer heidnischen Umgebung einzuhalten (Jdt 10,5; Jos. Vita 14; Dan 1,8–17). In Rom finden wir aber eine grundsätzliche Fleischund Weinabstinenz. Gewiss wird Fleisch nach Gen 9,2 f erst nach der Sintflut als Nahrung freigegeben – mit der Auflage, kein Blut zu verzehren, weil Blut der Sitz des Lebens ist. Wer leben will wie im Paradies, muss also Fleischgenuss ablehnen. Wer das Blutverbot strikt beachten will, isst am besten gar kein Fleisch.88 Solche Gedanken waren im Einklang mit heidnischen Vorstellungen: Ovid träumte vom Goldenen Zeitalter als einer Zeit ohne Fleischkonsum und Tieropfer (Ov. met. 15,96–142). Aber wir finden im Römerbrief keinen Hinweis auf solche Traditionen, können deren Wirken aber auch nicht sicher ausschließen. Der Vegetarismus der Schwachen in Rom steht einigen heidnischen Traditio­ nen nahe.89 Seneca berichtet, dass er unter dem Einfluss seines pythagoräischen Lehrers Sotion eine Zeit lang vegetarisch lebte: sen werden kann) das Aposteldekret eingeführt hat, hat ein Wahrheitsmoment: Auch Judenchristen gehörten zu den „Schwachen“. 87 Theissen, Die Starken und die Schwachen. Eine Auseinandersetzung mit der Kritik an meiner sozialgeschichtlichen Deutung ist: ders., Social Structure; ders., Social Conflicts. 88 Ein Echo radikaler biblischer Träume finden wir in EvPhil 15: „Bevor Christus gekommen war, gab es kein Brot in der Welt, geradeso wie das Paradies, der Ort, wo Adam war, viele Bäume zur Nahrung für die Tiere, aber kein Korn zur Nahrung für den Menschen aufwies. Der Mensch ernährte sich wie die Tiere. Aber als Christus, der vollkommene Mensch, kam, da brachte er Brot vom Himmel, damit der Mensch sich nähre mit der Nahrung des Menschen“ (Übers. H. M. Schenke, in: Schneemelcher, Apokryphen, 156 f). Hier wird alle zubereitete Nahrung für die Urzeit ausgeschlossen. Es gab damals kein Brot, geschweige denn Fleisch. 89 Rauer, Die ‚Schwachen‘, hat mit Recht pagane Einflüsse in Rom vermutet; sie lassen sich jedoch nicht mit der Gnosis in Verbindung bringen.

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Aufgrund dieser Hinweise begann ich damit, mich tierischer Nahrung zu enthalten, und nach einem Jahr war es mir nicht nur selbstverständliche Gewohnheit, sondern auch angenehm […]. Du fragst, warum ich damit aufgehört habe? In die erste Zeit der Regierung des Kaisers Tiberius fiel meine Jugend: Ausländische Kulte wurden damals entfernt, aber zu den Beweisen des Aberglaubens wurde auch gerechnet, sich des Genusses gewisser Tiere zu enthalten. Auf Bitten des Vaters – er fürchtete verleumderische Anklage nicht, aber hasste die Philosophie – kehrte ich also zu der früheren Gewohnheit zurück; und ohne Mühe überredete er mich dazu, wieder besser zu essen […] (Sen. epist. 108,22).

Waren vielleicht auch die Schwachen in Rom durch die Pythagoräer beeinflusst wie Seneca in seiner Jugend? Wenn sich die Seele der Menschen nach ihrem Tod erneut in Tieren inkarniert, dann war es natürlich ein Frevel, Tiere zu essen (Sen. ep. 108,17–21). Pythagoras soll nach Diogenes Laertius „sogar schon das Töten von Tieren verboten (haben), geschweige denn, dass er den Genuss ihres Fleisches gutgeheißen hätte, da sie doch in Bezug auf Seele und Leben mit uns ganz gleichberechtigt wären“ (Diog. Laert. 8,13). Aber nichts im Römerbrief weist auf einen solchen Hintergrund. Man könnte allenfalls einen allgemeinen Vegetarismus als Erklärung in Betracht ziehen. Diogenes Laertius meint nämlich, P ­ ythagoras habe in Wirklichkeit nur zur Genügsamkeit beim Essen erziehen wollen. Dafür brauchte man nicht den Glauben an die Seelenwanderung. So neigte auch der römische stoische Philosoph Musonius (geb. vor 30–ca.100 n. Chr.) aus asketischen und medizinischen Gründen zum Vegetarismus (Lehrgespräche 18). Auch sonst finden wir in der Antike vergleichbare Tendenzen. Der mittelplatonische Schriftsteller Plutarch (ca. 45–vor 125 n. Chr.) schätzte vegetarisches Essen als Ausdruck einer friedfertigen Gesinnung des Menschen und der Barmherzigkeit gegenüber den Tieren (Plut. mor. 959 f). Der Neupythagoräer Apollonius von Tyana übte Fleisch- und Weinaskese als Vorbereitung für den Offenbarungsempfang (Philostr. Ap. II 37). Fleischgenuss wurde also aus einer Vielfalt von ­meta­physischen, ethischen, medizinischen und religiösen Gründen abgelehnt oder eingeschränkt. Dennoch befriedigen diese Erklärungsversuche nicht. Wo die genannten Überzeugungen in der antiken Literatur begegnen, sind sie in der Oberschicht lokalisiert. Wollen wir die Lebenswirklichkeit der kleinen Leute erreichen, so müssen wir auf die Real- und Sozialgeschichte Roms zurückgreifen. Einfache Menschen in Rom hatten in ihren gemieteten Wohnungen keine Möglichkeit, warme Mahlzeiten vorzubereiten, denn diese mehrstöckigen Häuser hatten keine Kamine. Sie mussten in Imbissstuben (popinae) gehen, um warm essen zu können.90 Dort aßen sie in der Regel nur vegetarisch. Fleisch war für besondere Gelegenheiten reserviert.91 Von Tiberius bis Vespasian sind nun immer wieder Verordnungen 90 Weeber, Art. Imbißstube. 91 Vgl. ders., Art. Gaststätte, 130 f „Auch in den popinae (Speise-G.) war die Speisenkarte recht übersichtlich. Es gibt vegetarische Kost wie Erbsen, Bohnen, Zwiebeln, Gurken, Eier und

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von Kaisern belegt, die diesen Fleischkonsum in den popinae verboten. Tiberius gab den Aedilen den Auftrag, „alle Küchen und Wirtschaften in ihrem Betrieb soweit einzuschränken, dass nicht einmal Gebäck zum Verkauf ausgestellt werden durfte“ (Suet. Tib. 34). Claudius soll diese Verbote anfangs zwar gelockert haben (Suet. Claud. 38), kehrte aber später zu einer restriktiven Politik zurück. Er ließ weiterhin die Schankstuben schließen, wo die Leute zusammenzukommen und zu trinken pflegen, und befahl außerdem, dass weder gekochtes Fleisch noch heißes Wasser verkauft werden dürfe; und er ließ einige, welche sich an diese Vorschriften nicht kehrten, bestrafen (Cass. Dio LX 6,7). Nero setzte diese Politik fort: Die öffentlichen Festessen wurden auf kleine Imbisse beschränkt; es war verboten, in den Schenken, wo man vorher jede Mahlzeit hatte erhalten können, irgendetwas Gekochtes außer Hülsenfrüchte und Gemüse zum Verkauf anzubieten (Suet. Nero 16).

Gleich nach dieser Notiz erwähnt Sueton das Vorgehen Neros gegen die Christen: „Über die Christen, Menschen, die sich einem neuen und gefährlichen Aberglauben ergeben hatten, wurde die Todesstrafe verhängt“ (Suet. Nero 16). Die assoziative Verbindung des Verbots von Fleischgerichten in den Imbissstuben mit dem Vorgehen gegen die Christen (Suet. Nero 16) deutet ein Motiv der Kaiser an: Käse, daneben Früchte der Jahreszeit wie Äpfel, Pflaumen, Trauben, Beeren und Kastanien­ (Ps.-Verg. Copa 17 ff.; Macrob. Sat. VII 14.1), ein paar Fleischgerichte für die etwas wohlhabenderen Gäste (Juv. XI 81; Hor. epist. I 14.21) sowie Süßigkeiten in Form von Kuchen und anderem Backwerk (Plaut. Poen. 41 ff)“. Horaz spricht in Hor. epist. I 14,21 von der „fornix […] et uncta popinae“, also von der Kneipe und den Kostbarkeiten der popinae, die eine Sehnsucht nach dem Stadtleben hervorrufen. Umstritten ist, ob und wie Fleischkonsum im Alltag außerhalb von Festen ein Indiz für soziale Schichtung ist, wie Theissen, Die Starken und die Schwachen, vertreten hat. Megitt, Poverty, 108–112, hat dagegen mit Recht auf den Fleischkonsum in den Tavernen hingewiesen, der auch für einfache Menschen zugänglich war. Er übersah aber zwei Fakten: In den Tavernen wurde in Rom der Fleischkonsum immer wieder von den Kaisern verboten. Wenn Paulus in 1Kor 10,25 voraussetzt, dass Fleisch auf dem Macellum gekauft und in privaten Gastmählern angeboten wird, so ist hier das Macellum ein Ort für bessere Ansprüche und gehobene Schichten, vgl. de Ruyt, Macellum, 372: „Ainsi nous apparaît le macellum, marché d’alimentation de luxe, bien différent de nos marchés contemporains. On comprendra mieux à présent pourquoi les Romains, dès la République, l’avaient surnommé Forum Cuppe­ dinis, le marché de la gourmandise, ou pire, forum cupidinis, le marché de la tentation!“ Dabei ist zu bedenken, dass private Gastmähler ohnehin ein Privileg der Bessergestellten waren. So Weeber, Art. Gaststätte, 128–133, bes. 129. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass auch einfache Menschen auf dem Macellum im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas einkauften. Vgl. zum Problem Theissen, Social Structure; ders., Social Conflicts, bes. 381–386. Die zweite umstrittene Frage ist, wie weit Fleisch, das auf dem Macellum gekauft war, rituell geschlachtet war. Koch, ἐν μακέλλῳ, bes. 189 f, hat klar gestellt, dass der archäologische Befund von Pompeii vorschnell verallgemeinert wurde, wo tatsächlich eine Opferstätte im Macellum stand. Das war nicht überall der Fall. Aber auch in Pompeii war nicht alles zum Kauf angebotene Fleisch rituell geschlachtet. Die in 1Kor 10,25 vorausgesetzte Situation, dass für einen Käufer nicht ohne Weiteres erkennbar war, ob auf dem Macellum gekauftes Fleisch Opferfleisch war, entspricht also der Realität. Vgl. ferner Koch, Seid unanstößig.

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Sie wollten damit wohl Versammlungen unterbinden, in denen sich politisch verdächtige Gruppen unter dem Vorwand privater Feiern sammeln konnten. Dass verschiedene Kaiser bis hin zu Vespasian92 immer wieder das Fleischessen in den Imbissstuben verboten haben, weist aber auf ein grundsätzliches Problem unabhängig von den politischen Zielen einzelner Herrscher hin. Die Verbote richten sich nicht nur gegen bestimmte Gruppen. Die wiederholten Erlässe der Kaiser dokumentieren zugleich, dass sich ihr Fleischverbot für Imbissstuben nicht durchsetzen ließ. Juvenal bezeugt z. B., dass dort Geburtstage mit Fleischverzehr gefeiert wurden (Iuv. 11,81 f).93 Folgendes kann für die für uns relevante Zeit also festgehalten werden: Das Verzehren von Fleischgerichten war in den unteren Schichten selten, es war für sie nur in den popinae möglich, wurde aber dort durch kaiserliche Edikte wiederholt verboten. Für die fünfziger Jahre, in denen der Römerbrief entstand, sind Verbote des Claudius und des Nero bezeugt – in Rom war der öffentliche Fleischkonsum ein Politikum. Wenn philosophische Motive für den Vegetarismus der Unterschichten eine Rolle gespielt haben sollten, so allenfalls in dem Sinne, dass die Unterschichten manchmal Verhaltensweisen der Oberschichten nachahmten. Das alles legt folgende Überlegung nahe: Die „Gastronomiegesetze“ der Kaiser könnten der Anlass für die Generalisierung des Fleischtabus in einigen christlichen Gruppen in Rom gewesen sein. 49 n. Chr. hatte Claudius die Judenchristen aus Rom verbannt, weil sie in den jüdischen Gemeinden Unruhe gestiftet hatten. Zurück blieben die Heidenchristen und einige Judenchristen. Das Verbot des Fleischessens in den Tavernen traf nicht nur bestimmte Fleischsorten, sondern Fleisch generell. Die bessergestellten Christen konnten weiterhin zu Hause Fleisch essen, die armen Christen aber waren auf die Tavernen angewiesen – abgesehen von öffentlichen Fleischverteilungen, die mit heidnischem Kult verbunden waren und für sie deshalb von vornherein ausfielen. Dann aber ergibt es Sinn, dass Paulus die Schwachen, die Fleischverzehr ablehnen, „Ohnmächtige“ oder „Arme“ (ἀδύνατοι/adýnatoi) nennt  – sie also mit allgemeinen sozialen Kategorien bezeichnet. Die ärmeren Judenchristen hielten sich nach dem Claudiusedikt strikt an die kaiserliche Verbotspolitik und wollten politisch nicht auffallen, weil sie durch die Vertreibung ihrer Glaubensgenossen einge 92 Für Vespasian ist bezeugt: „Er ließ in den Kneipen nichts Gekochtes außer Bohnen verkaufen“ (Cass. Dio LXV 10,3). 93 Juvenal (ca. 67–ca. 150 n. Chr.) spricht von „Schweinefleisch in der warmen Gaststube“, aber kontrastiert dieses Essen mit vergangenen Festen: „Getrocknete Schweinerücken, die von weiten Sparren herabhängen, war es einst Brauch, für Festtage aufzuheben und zur Geburtstagsfeier den Verwandten Speck vorzusetzen, wozu noch frisches Fleisch kam, wenn ein Opfertier es lieferte“ (Iuv. XI 82–85). Gegen Ende des 1. und Anfang des 2. Jh.s wurde Fleisch ein Teil des alltäglichen Lebens. Daraus können wir schließen, dass die kleinen Leute vorher Fleisch in den Imbissstuben nur zu speziellen Gelegenheiten wie Geburtstagen aßen und dass frisches Fleisch Opferfleisch war.

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schüchtert waren. Aus diesem Grund beachteten sie auch den jüdischen Festkalender. Sie wollten auf keinen Fall neue Konflikte in der Synagoge provozieren. Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Rom hatte zudem wie in Korinth eine schichtspezifische Komponente.94 Dass sich Paulus nachdrücklich mit den „Mächtigen“, den δυνατοί/dynatoí, identifiziert, wäre verständlich. Er gehörte als römischer Bürger in Rom zu den Menschen mit leicht gehobenem Status. In der christlichen Gemeinde besaß dagegen allenfalls eine Minderheit das römische Bürgerrecht. Wenn wir in den Schwachen einfache Judenchristen in Rom sehen, die, durch die Ausweisungsdrohung durch das Claudiusedikt eingeschüchtert, die kaiserlichen Verbote von Fleischgenuss in den Imbissstuben befolgten, können wir verstehen, warum Paulus das Vorbild des leidenden Christus beschwört, um Starke zur Rücksicht gegenüber den Schwachen zu motivieren (15,1–6). Die „Schwachen“ haben als Judenchristen mehr gelitten als die heidenchristlichen „Starken“. Sie trugen stellvertretend die „Schmähungen“, die sich immer wieder gegen die Juden richteten (vgl. 2,24), und sie hatten auch anstelle der anderen Christen gelitten, die keine Juden waren. Die profiliertesten Vertreter dieser Judenchristen waren aus Rom vertrieben worden. Das Wort „schmähen“ (ὀνειδίζειν/oneidízein) begegnet auch an anderen Orten im Zusammenhang mit Verfolgungen (Mt 5,11//Lk 6,22; 1Petr 4,14). Paulus fordert die „Starken“ auf, in den judenchristlichen Schwachen Christus zu entdecken, der die Schmähungen anderer ertragen hat. Er ermahnt sie, sich Christus zum Vorbild zu nehmen und zugunsten der Schwachen zu leben, d. h. deren abweichende Gewohnheiten zu respektieren. Beide Gruppen sollen sich gegenseitig annehmen (15,7). In 15,7 f wird aber deutlich, dass sich Paulus vor allem für die Schwachen einsetzt. Christus war ein „Diener der Beschneidung“, ebenso sollen die Heidenchristen den Judenchristen dienen. Das Ziel ist eine Gottesverehrung, die beide Gruppen vereint. Unsere Hypothese ist also folgende: Beim Vegetarismus der „Schwachen“ haben jüdische Speisegebote nachgewirkt, die aber erst aufgrund der Gastronomiegesetze der Kaiser von den in Rom zurückgebliebenen Judenchristen verallgemeinert wurden. Auch Paulus setzt einen jüdischen Hintergrund der Fleischaskese voraus. Er erklärt alle Speisen für rein und benutzt dabei die nur im Judentum belegte Bedeutung von κοινόν/koinón im Sinne von „unrein“ (vgl. 14,14 mit 20). Er nimmt die Perspektive des „Schwachen“ ein, wenn er von Speisen spricht, die nur für denjenigen unrein sind, der sie für unrein hält. Für ihn sind die Schwachen also Judenchristen. Vielleicht spielt er mit der Mahnung, „es soll doch nicht verlästert werden, was ihr Gutes habt“ (14,16), darauf an, dass das „Gute“, d. h. entweder die Freiheit von Speisetabus der Starken oder deren Observanz bei den Schwachen, in der Umwelt nicht als anstößig erlebt werden sollte. Von einem 94 Auch Reasoner, Strong, schreibt dem Konflikt in Rom einen schichtbedingten Charakter zu.

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„Lästern“ spricht Paulus auch in 2,24 als Ausdruck antiker Judenfeindschaft. Auch seine Mahnung, „bei Gott wohlgefällig und bei Menschen geachtet zu sein“ (14,18), hat die Rücksicht auf die Reaktion der Umwelt im Blick. Paulus fürchtet schlechtes Gerede über die Christen aufgrund ihres Speiseverhaltens. Hier könnten die Gastronomiegesetze der Kaiser im Hintergrund stehen. Aber diese Gesetze waren u. E. allenfalls der Anlass für die Generalisierung der Speiseaskese. Die objektiven Bedingungen eines Verhaltens und seine subjektive Begründung sind zu unterscheiden. Es ist unwahrscheinlich, dass die „Schwachen“ ihren „Vegetarismus“ nur mit der politischen Situation begründet haben. Es gab in der Antike edlere Motive für vegetarisches Verhalten als Furcht vor Pressionen. Die „Schwachen“ machten aus der Not eine Tugend. In ihren Augen war ihr Verhalten wahrscheinlich Ausdruck asketischer Selbstkontrolle in einer vergehenden Welt. Denn Paulus warnt unmittelbar vor seinen Mahnungen an Starke und Schwache vor „Fressen und Saufen“ und spricht damit ein Problem an, das im Lasterkatalog am Anfang des Briefes keine Rolle spielte (vgl. 13,13 f mit 1,29–31). Er hat in 13,11–14 das sofort danach angesprochene Problem des Fleisch- und Gemüse­ essens in Rom im Blick. Nach seiner Mahnung, den schwachen Bruder wegen seines Vegetarismus zu respektieren, betont er grundsätzlich, das Gottesreich bestehe nicht in Speise und Trank (14,17). Damit widerspricht er der Jesusüberlieferung, die von einem Festmahl mit Abraham, Isaak und Jakob im Gottesreich träumt (Mt 8,11 f; vgl. Mk 14,25). Für Paulus und die Schwachen in Rom herrschen dagegen im Gottesreich nur „Gerechtigkeit, Friede und Freude“ (14,17). Vielleicht haben auch die „Schwachen“ ihre Askese mit solchen eschatologischen Motiven begründet – in der Welt Gottes spiele das Essen keine Rolle mehr. Vielleicht lehnten sie daher jedes Fleisch ab und vermieden jeden Wein. Es ging ihnen gewiss nicht nur um „Gewissensskrupel“ beim Kontakt mit der heidnischen Welt oder um Angst vor Pressionen, sie deuteten ihren Vegetarismus und ihren Alkoholverzicht vielmehr als Ausdruck von Selbstbestimmung und Selbstkontrolle sowie als Vorbereitung auf das himmlische Gottesreich und als Konsequenz ihres Glaubens. Mit Überzeugung vertraten sie ihr asketisches Programm: Der „Glaube“ selbst motivierte ihr asketisches Verhalten. Daher kann Paulus sie am Ende des Abschnitts segnen: Mit der „Freude und dem Frieden“ des Gottesreichs (14,17) werde Gott sie „im Glauben“ erfüllen – und damit die ihnen unterstellte Schwäche des Glaubens überwinden (15,13). Die Schwachen traten in der Gemeinde selbstbewusst für ihre Meinung auf. Ein Hinweis dafür ist, dass sie die anderen sogar „verurteilen“ konnten, weil sie nicht vegetarisch aßen (14,3). Die „Starken“ werden die „Schwachen“ freilich anders beurteilt haben. Paulus mahnt sie wiederholt, die Schwachen nicht zu „verachten“ (14,3 und 14,10). Er nennt, anders als in Korinth, nicht ihr „Gewissen“ schwach (1Kor 8,7), sondern ihren „Glauben“ (14,1). Auch das kann unsere Hypothese erklären: Die Starken unterstellten den Schwachen, dass sie nicht mutig genug seien, sich über das Verbot der Kaiser, in Tavernen Fleisch zu essen, einfach hinwegzusetzen. Die

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Fleischverbote der Kaiser wurden ja nie konsequent durchgeführt, wie wir gesehen haben. Man konnte sich in der Realität über sie hinwegsetzen. Auch konnten bessergestellte Menschen, unter ihnen auch die Christen, die nicht in Mietskasernen wohnten, sich ohne Probleme zu Hause Fleisch zubereiten und hatten es somit leicht, die anderen wegen ihrer Ängstlichkeit bezüglich des Fleischessens zu verachten. Wenn das so ist, enthält die Staatsparänese des Paulus (13,1–7) vielleicht eine verdeckte Bezugnahme auf den Streit zwischen Starken und Schwachen: Mit seiner Mahnung zur Loyalität gegenüber dem Staat stützt Paulus ja indirekt die Schwachen. Sie tun nur das, wozu alle verpflichtet sind  – nicht nur Christen, sondern alle Menschen. Die Einhaltung von Speisevorschriften in Tavernen gehört zu dem, was sie dem Staat schulden, untereinander aber sollen sie einander nichts schuldig bleiben, als dass sie einander lieben (13,8). In der konkreten Paränese wird Paulus das dahingehend konkretisieren, dass sie einander wegen Speisefragen nicht verurteilen sollen (14,13). Darin zeige sich ihre Liebe (14,15). Es wäre auch kein Zufall, dass Paulus nach der Staatsparänese Essen und Trinken anspricht (13,13). Wer sich so asketisch wie die Schwachen verhält, handelt im Geiste Christi. Ist man einmal auf diese möglichen Bezüge im Text aufmerksam geworden, entdeckt man sie auch vor der Staatsparänese im Text. Schon dort hatte Paulus auf ein unterschiedliches „Maß“ des Glaubens in der Gemeinde verwiesen (12,3.6): Keiner soll sich über den anderen erheben, weil er meint, den Glauben in größerem Maße zu haben. Es entsteht der Eindruck, als wolle Paulus schon hier für Rücksicht auf die „Schwachen im Glauben“ werben und die korrigieren, die sich als „Starke im Glauben“ über sie erheben (12,3). Auch die Mahnung, sich zu den Niedrigen zu halten, könnte in diese Richtung gehen (12,16). Dass Paulus mit seiner allgemeinen Paränese die konkrete Paränese indirekt vorbereitet, hat viel für sich. Wenn das Problem von Starken und Schwachen noch aktuell war, konnten die Empfänger solche „zarten“ Hinweise sehr wohl verstehen. Damit sind wir schon bei der Argumentation des Paulus.

6.3.4 Die Argumentation des Paulus Paulus greift in seinen Briefen geschickt die schon vorhandenen Motive und Begründungen in den Gemeinden in Korinth und Rom auf. Wie wir gesehen haben, wirken beide Male jüdische Traditionen nach – in Korinth, weil die Heidenchristen jüdische Speisegebote durch ihre Konversion übernahmen und auf die Ablehnung von Götzenopferfleisch reduzierten, in Rom, weil die Judenchristen sie als jüdische Tradition aufgrund der politischen Situation generalisierten. Für beide Gemeinden gilt: Innerhalb der christlichen Gemeinde konnten jüdische Speisetraditionen nicht mehr als jüdische Identitätszeichen praktiziert werden, um sich damit zur Herkunft aus dem Judentum zu bekennen – das hätte die Gemeinde

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gespalten. Wollte man Speisegebote weiter praktizieren, musste man sie neu und anders begründen, so dass auch Heidenchristen sie akzeptieren konnten. Diese Neubegründung geschah in Korinth und Rom in unterschiedlicher Weise – und wurde von Paulus aufgegriffen und in seinen Briefen weiter geführt. In Korinth plädierte Paulus mit religiösen Argumenten dafür, die Abgrenzung zum heidnischen Kult als geringsten gemeinsamen Nenner beider Gruppen festzuhalten. Er bestimmte, dass alles erlaubt sei, was nicht als Teilnahme an der Verehrung von Göttern gedeutet werden konnte. Nur das Essen von Opferfleisch, das als kultische Handlung erlebt werden konnte, wurde daher abgelehnt. Damit blieb von allen Speisetabus nur das Verbot, rituell geschlachtetes Fleisch in bestimmten Situationen zu essen. Traditionelle Speisegebote wurden hier auf ein einziges negatives Identitätssymbol reduziert, das aber eine wichtige identitätsstiftende Aussage enthielt: Wir sind keine Heiden, die Götter verehren. Als Detektor für die Abgrenzung vom Heidentum diente „das Gewissen“, d. h. das Bewusstsein des Einzelnen, dass eine kultische Handlung – sei es in einem Tempel (1Kor 8,10), sei es in einem privaten Rahmen (1Kor 10,27–30)  – als „Götzendienst“ einzuordnen ist. Wer mit heidnischen Riten in Berührung kam und dabei unsicher war, ob er an solch einem Ritus überhaupt teilnehmen durfte, dessen „Gewissen“ galt als befleckt und „schwach“ (1Kor 8,7). Mehrheitlich waren diese Schwachen wohl Heidenchristen, die nach ihrer Hinwendung zum Christentum mit schlechtem Gewissen weiterhin rituell geschlachtetes Fleisch aßen. In Rom nahm die Entwicklung einen anderen Verlauf. Hier wurden die tradi­ tionellen Speisetraditionen moralisch als Ausdruck von eschatologisch motivierter Selbstdisziplin und Askese neu begründet – unabhängig davon, dass das kaiserliche Fleischverbot für Tavernen diese Generalisierung des Fleischverbots veranlasst hatte und diesen grundsätzlichen Vegetarismus daher von außen immer wieder unterstützte und opportun erscheinen ließ. Wenn das Gottesreich frei von Essen und Trinken ist, konnte man schon in Vorbereitung darauf Askese üben – Fleisch und Wein wurden als Verführung zur Maßlosigkeit abgelehnt. Die jüdischen Speiseverbote wurden daher nicht auf ein einziges Verbot reduziert, sondern expandiert und asketisch begründet. Mit einem asketischen Lebensstil konnten Christen ihre Verachtung für die „Sauf- und Fresskultur“ der Antike zum Ausdruck bringen. Bei der Darstellung der „Therapeuten“ und ihrer Ablehnung von Fleisch und Wein ist dieses Motiv bei Philo (Contempl. 40–63) deutlich zu spüren. Er schildert mit moralischer Empörungslust, wie sich Menschen bei Gelagen wie Tiere benehmen. Askese konnte hier als ein moralisches Gegenprogramm dienen. Maßstab dafür war für die Christen in Rom der „Glaube“, die πίστις/pistis: Jeder soll nach seiner eigenen Überzeugung leben. Verwerflich ist alles, was nicht aus Glauben geschieht (14,23). Da Paulus nicht mit dem Gewissen der Schwachen wie in 1Kor 8,1–11,1 argumentiert, sondern mit dem „Glauben“, können wir vermuten, dass die „Schwachen“ in Rom ihre Askese als Ausdruck ihres Glaubens positiv gedeutet haben. Es wären dann die „Starken“, die ihnen einen

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„schwachen“ Glauben zuschrieben und mit dem Attribut „schwach“ den pädagogischen Appell verbanden, diese Schwäche zu überwinden. Paulus meint dagegen: Aus ihrem Glauben heraus sollten alle mit Überzeugung ihre Lebensform leben – und anderen zubilligen, dass diese sich aufgrund ihres Glaubens anders als sie selbst verhielten. Die Ausführungen in 14,1–15,13 sind aber nicht nur Mahnungen an die römische Gemeinde, sondern auch Teil  der Selbstvorstellung und Selbstverteidigung des Paulus vor dieser Gemeinde. Ausdrücklich betont er, dass sich die Christen in Rom die Ermahnungen, die er ihnen im Römerbrief mitteilt, eigentlich selbst hätten geben können: „Ich habe es aber dennoch gewagt und euch manches geschrieben, um euch zu erinnern kraft der Gnade, die mir von Gott gegeben ist“ (15,15). Er bringt sich hier mit Gottes besonderen Auftrag für ihn selbst ins Spiel. Er muss damit rechnen, dass auch in Rom bekannt geworden war, dass er früher in Speisefragen wenig kompromissbereit gewesen war. In Antiochien hatte er eine Gemeinde gespalten, weil er gegen die Meinung von Petrus und Barnabas auf einer konsequenten Freiheit der Heidenchristen von allen Speisegeboten insistiert hatte. Petrus und Barnabas könnten als Zeugen dieses Streits das Bild eines konfliktverschärfenden Paulus verbreitet haben. In 14,1–15,13 gibt Paulus Gelegenheit, damals entstandene und möglicherweise bis nach Rom gelangte Eindrücke zu korrigieren. Er betont seine Toleranz gegenüber verschiedenen Speisegewohnheiten. Jeder Mensch soll für sich selbst verantwortlich sein und das tun, was seiner Überzeugung entspricht. Keiner soll Zwang auf andere ausüben. Diese Grundsätze entsprachen im Grunde auch seiner Haltung im antiochenischen Streit. Denn hier hatte er Anstoß daran genommen, dass Petrus die Heiden „zwingen“ wollte, jüdische Sitten zu übernehmen (Gal 2,14). Der antiochenische Speisekonflikt hätte aber einfacher gelöst werden können, hätte Paulus schon damals ähnliche Grundsätze vertreten wie später im Römerbrief in ­14,1–15,13 und wäre er schon damals um des Friedens willen bereit gewesen, auf das Essen tabuisierter Speise zu verzichten. Aber damals war er noch nicht so weit, um das zu sagen, was er den Römern mitteilt: „Es ist besser, du isst kein Fleisch und trinkst keinen Wein und tust nichts, woran sich dein Bruder stößt“ (14,21). Gerade diese Toleranz ist Voraussetzung dafür, dass in einer Gemeinde mit verschiedenen kulturellen und religiösen Traditionen alle Gläubigen zusammen Gott verehren können. Auch wenn die Probleme in Korinth und in Rom inhaltlich verschieden waren, vertritt Paulus für beide dasselbe Lösungsmuster der Rücksichtnahme. Neu ist im Römerbrief, dass Paulus sich weniger einseitig auf die Seite der Schwachen stellt und nicht nur von den Starken Rechtsverzicht verlangt. Er identifiziert sich vielmehr in 15,1 eindeutig auch mit den Starken. In Röm 14 richtet er seine Mahnungen in ausgewogener Weise symmetrisch an beide Seiten. Die korrespondierenden Aussagen seien im folgenden Text in Spalten gegenübergestellt:

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Tab. 19: Die Aussagen über Starke und Schwache in Röm 14,1–6 Röm 14

Starke

Schwache

V. 2

Der eine glaubt, er dürfe alles ­ essen;

wer aber schwach ist, der isst kein Fleisch.

V. 3

Wer isst, der verachte den nicht, der nicht isst;

und wer nicht isst, der richte den nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen.

V. 4

Wer bist du, dass du einen fremden (Haus-)Sklaven richtest? Er steht oder fällt seinem eigenen Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn aufrecht halten

V. 5 der andere aber hält alle Tage für gleich. V. 6

Wer isst, der isst im Blick auf den Herrn, denn er dankt Gott.

Der eine hält einen Tag für höher als den anderen;

und wer nicht isst, der isst im Blick auf den Herrn nicht und dankt Gott auch.

Für die Zunahme an Symmetrie gegenüber dem Korintherbrief gibt es eine einfache Erklärung: Paulus hat aus dem Konflikt in Korinth gelernt, dass es nicht gut ist, für eine Seite Partei zu ergreifen. Und so kann er nachträglich die Einseitigkeit seines ersten Briefs an die Korinther korrigieren: Er signalisiert der korinthischen Gemeinde mit dem in Korinth entstandenen Römerbrief, auch in Korinth werde nicht nur von den „Starken“ Rechtsverzicht und Anpassung an die Schwachen verlangt, sondern von beiden Seiten. Bei seinen Vorschlägen verbindet ­Paulus drei komplementäre Motive: Vernunft, Liebe und Glaube. Alle verbindet er eng mit dem Vorbild Christi. Paulus appelliert an die Vernunft im Sinne einer Überzeugung, die ein jeder hat. Jeder soll in seinem „eigenen Sinn“ (τῷ ἰδίῳ νοΐ/tōi idíōi voí) voll von seinem Verhalten überzeugt sein (14,5). „Sinn“ oder „Verstand“ meint die eigene Meinung, die eigene Überzeugung, die eigene Ansicht oder das eigene Denken. Wie wichtig Paulus die eigene Überzeugung ist, geht im Text aus einer kleinen Verschiebung zwischen Bild und Gedanken hervor. Im Bild sagt Paulus, dass jeder Sklave „seinem eigenen Herrn“ (τῷ ἰδίῳ κυρίῳ/tōi idíōi kyríōi) steht oder fällt (14,4). Da er ausdrücklich von einem „fremden Sklaven“ spricht (14,4), denkt Paulus an verschiedene Herren. Nur dann überzeugt sein Appell, dass jeder nur seinem eigenen Herrn Rechenschaft ablegen muss, ohne einen fremden Sklaven zu kritisieren und

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Die Universalisierung des Heils für alle Menschen 

zu verurteilen. Der Leser denkt aber an den einen Kyrios Jesus oder Gott. Beide werden ja im Kontext vorher und nachher „Kyrios“ genannt.95 ­Paulus bringt freilich nicht gleich diesen einleuchtenden Gedanken, dass alle Christen ein und denselben Herrn haben. Er spricht zunächst davon, dass jeder von seinem „eigenen Sinn (Verstand)“ (τῷ ἰδίω νοΐ/tōi idíōi voí) überzeugt sein soll (14,5). Die Bindung an verschiedene Herren, denen die Christen Rechenschaft ablegen müssen, meint also zunächst eine Bindung an verschiedene Überzeugungen. Deren Verpflichtungsgehalt ist für jeden einzelnen so groß, dass Paulus von dieser Verpflichtung im Bild wie von einer Bindung an den Kyrios Gott oder Christus sprechen kann. Damit wird die abweichende Überzeugung hoch aufgewertet. Danach erst appelliert er daran, dass alle Christen nur einen Herrn haben, vor dem sie individuell Rechenschaft ablegen müssen (14,10–12). Paulus begründet damit, dass man darauf verzichten muss, sich gegenseitig zu verurteilen. Er entwirft ein Gegenbild zu jenem Moralisten, den er in 2,17–24 karikiert hatte, der sich die Rolle Gottes anmaßt und andere Menschen verurteilt, obwohl er eben das tut, was er beim anderen verurteilt. Die Liebe stand im Zentrum der allgemeinen Paränese (12,9; 13,8–10). Nur einmal argumentiert Paulus in der konkreten Paränese mit ihr: „Wenn aber dein Bruder wegen deiner Speise betrübt wird, so handelst du nicht mehr nach der Liebe. Bringe nicht durch deine Speise den ins Verderben, für den Christus gestorben ist“ (14,15). Liebe besteht darin, dass jeder Mensch Rücksicht auf seinen Mitmenschen nehmen soll. Man soll keinen Anstoß erregen. Dieses Liebesmotiv unterscheidet Paulus von der stoischen Ethik, die mit Recht zum Verständnis der paulinischen Argumentation in 14,1–15,13 herangezogen wurde.96 Paulus unterscheide wie die Stoiker das, was gut und böse ist, von den Dingen die neutral oder „Adiaphora“ sind. Für Stoiker ist allein die Tugend „gut“, alles andere ist ein Adiaphoron wie Reichtum, Gesundheit, Kraft und Ruhm (vgl. Diog. Laert. VII, 102–104). All das kann man sowohl zum Guten als auch zum Bösen einsetzen. Für Paulus aber ist das „Gute“ (14,16; 15,2) anders als für die Stoiker nicht die Tugend, sondern der Glaube an Christus. Alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde (14,23). Gemessen an diesem Glauben sind verschiedene kulturelle Traditionen wie Speisegebote unwichtig. Der Unterschied zur stoischen Ethik liegt darin: Wenn die „Gnostiker“ in Korinth ihrer Einsicht (oder ihrer „Gnosis“) folgten, so wäre es konsequent, wenn sie alles Fleisch unbedenklich äßen. Aber­ Paulus verlangt, dass sie auch das, was sie nach ihren Maßstäben als das Gute erkannt haben, noch eimal daran messen, wie es auf andere Menschen mit anderen Maßstäben wirkt. Eine solche Überprüfung der eigenen Entscheidung an den Maßstäben des anderen, ist der antiken Einsichtsethik fremd.97 95 Kyrios begegnet vor 14,1–5 in 12,11.19; 13,14, nachher in 14,6.8.11.14. 96 Engberg-Pedersen, Everything is Clean; Barclay, Faith, 199 f. 97 Wagner, Gewissen, 316, kommt bei einem Vergleich zwischen dem Gewissen bei­ Seneca, Philo und Paulus zu dem Ergebnis, „dass das interaktive Gewissen bei Paulus, insbeson-

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Neu gegenüber dem Korintherbrief ist der Verzicht auf die Argumentation mit dem „Gewissen“ des anderen Menschen. Es geht in Rom nicht um eine ängstliche Abgrenzung von einer Welt, mit deren Unreinheit und Götzendienst man sich infizieren könnte. An die Stelle des Gewissens tritt der Glaube. Glauben bedeutet, mit sich im Reinen zu sein: „Den Glauben, den du hast, behalte bei dir selbst vor Gott. Selig ist, der sich selbst nicht zu verurteilen braucht, wenn er sich prüft“ (14,22). Der Glaube impliziert hier Übereinstimmung mit sich selbst. „Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde“ (14,23). Das ist ein Gegenbild zu dem Menschen, der das Gute zwar weiß, aber dessen Gedanken im inneren Forum des Gewissens als Ankläger und Verteidiger auftreten (2,15). Im Glauben handelt der Mensch ohne Skrupel – gleichgültig ob er Fleisch isst oder nicht. Ein solcher Mensch entspricht Gott mit seinem ganzen Sein und stimmt darin mit sich selbst überein. Modell für das Verhalten der gegenseitigen Rücksichtnahme ist Christus. In Röm 15,1–9 stellt Paulus ihn als Vorbild hin, in 1Kor 9,19–23 bezeichnet Paulus sich selbst als Nachahmer Christi, der die Menschen dazu auffordert, seinem Beispiel zu folgen (1Kor 11,1). In Röm 14,1–15,13 wechselt Christus dabei die Rolle. Wir erkennen drei Rollen: (1) Am Anfang der Paränese zu Schwachen und Starken wird die enge Verbundenheit der Christen mit dem gegenwärtigen Christus betont: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“ (14,8). Hier klingt die Christusmystik von Röm 6,1–11 und 8,31–39 nach. Sie ist jedoch abgemildert, die Christen sind nicht eins mit Christus, sondern leben in Hingabe an ihn, er ist ihr Herr. (2) Ebenso ist aber auch der irdische Jesus ein Modell: In 14,14 ist er der Lehrer, durch den Paulus die Gewissheit hat, dass alle Dinge rein sind  – wahrscheinlich eine Nachwirkung des Jesuswortes über „Rein und Unrein“ (Mk 7,15).98 In 15,1–9 ist er dagegen durch sein Leiden der Außenseiter, der dere das interaktive Gewissen im interpersonalen Bereich eine Innovation im antiken Gewissensdiskurs darstellt“. Unter „interaktivem Gewissen“ wird dabei verstanden, dass das eigene Gewissensurteil interaktiv auf das Gewissensurteil anderer Rücksicht nimmt. 98 Theobald, EdF 294, 100 f, meint, Röm 14,14 greife nicht auf ein Jesuswort zurück, sondern formuliere wie 1Tim 4,4 und Tit 1,15 eine allgemeine schöpfungstheologische Überzeugung. Der irdische Jesus sei nach Paulus dem Gesetz unterstellt, könne daher anders als der Erhöhte die im Gesetz begründete Unterscheidung von Rein und Unrein nicht aufheben. Aber Paulus führt auf den „Kyrios“ auch das Ehescheidungsverbot zurück, mit dem die Erlaubnis des Gesetzes zur Ehescheidung aufgehoben wird (1Kor 7,10 f). Er führt seine Überzeugung auch in Röm 14,14 explizit auf den „Herrn Jesus“ zurück. Vielleicht weiß er, dass der genaue Sinn dieses Jesuswortes umstritten ist, sodass er nicht den Wortlaut, wohl aber die Gewissheit seines Sinnes auf Jesus zurückführt. Gerade bei allgemein einsichtigen Maximen müssen wir im Urchristentum mit einer „verdeckten Authentizität“ von Jesusworten rechnen. Das bekannteste Beispiel sind die anonym überlieferten Mahnungen zur Feindesliebe in Did 1,3b–4, die auf Jesus zurückgehen dürften, hier aber als Lehre der Apostel erscheinen. Vgl. Theissen, ­Jesusüberlieferung.

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die Schmähungen ertragen muss, die eigentlich Gott oder anderen galten. Er ist der Sündenbock, der der Gemeinschaft dadurch dient, dass er deren negative Aggressionen auf sich zieht und sie trägt. (3) In einer dritten Rolle begegnet er dann aber noch einmal als der zukünftige Christus: In 15,12 ist er der mächtige Messias, auf den sich die positiven Erwartungen aller Völker richten. Aus dem stigmatisierten Sündenbock ist der Erlöser geworden. Mit diesem Christus in seinen verschiedenen Rollen sollen sich die Christen identifizieren. Mit ihm sollen sie im Leben und Sterben verbunden sein. Die Starken sollen sich mit den Schwachen identifizieren, die stellvertretend auch für sie Pressionen gegen die Christen erlitten haben. Dadurch werden sie fähig zum gemeinsamen Gottesdienst – dann, wenn sie in dem geschundenen Menschen, der als Prügelknabe diente, den Weltenherrn entdecken, dem sie alle verpflichtet sind. Wir hatten zu Beginn dieses Kapitels gefragt, ob der am Anfang im „Evangelium“ proklamierte Weltenherr am Ende des Römerbriefs noch der machtvolle Weltenherr ist. Jetzt können wir sagen: Er hat sich verändert. Seine Weltherrschaft zeigt sich in der gemeinsamen Gottesverehrung aller Völker. Eben dadurch wird die oppositionelle Parallelstruktur zwischen dem Reich Christi und dem Imperium Romanum deutlich, denn es ist ein Politikum, wenn im Gottesdienst alle Menschen gleichwertig sind – unabhängig davon, aus welcher Schicht sie stammen. Im Römischen Reich wurde dagegen zwischen den verschiedenen unterworfenen Völkern und der herrschenden Schicht unterschieden, in der sich eine immer größere Homogenität entwickelte und politisch angestrebt wurde. So entwickelte sich im Römischen Reich einerseits eine "internationale" Reichs­ aristo­kra­tie und andererseits eine „internationale“ Gemeinschaft mit oppositioneller Kultur in den unteren und mittleren Schichten. Warum ist Paulus dieses Problem der Starken und Schwachen so wichtig? Im friedlichen Zusammenleben von Menschen aus jüdischen und heidnischen Traditionen in den Gemeinden sieht Paulus eine Vorwegnahme der Verehrung des einen und einzigen Gottes durch alle Menschen. Wenn das nicht zeichenhaft und lokal im Zusammenleben von Starken und Schwachen möglich ist, wie sollte es weltweit – in Jerusalem, wie in allen anderen Synagogen der Diaspora – in einem sich öffnenden Judentum möglich werden? Daher ist es konsequent, wenn Paulus im Römerbrief nach seinen Mahnungen an Starke und Schwache in 15,7–13 die Vision einer universalen Gottesverehrung von Juden und Heiden beschwört, die mit dem Kommen des Messias (15,12 = Jes 11,10LXX) möglich werden soll. Und ebenso ist es konsequent, wenn er von seiner bevorstehenden Reise nach Jerusalem berichtet, wo er Heiden als „Opfergabe“ darbringen will.

7. Kapitel: Die Transformation des ganzen Menschen Eine psychologische Lektüre des Römerbriefs

Paulus schreibt den Römerbrief im Bewußtsein seines möglichen Todes. Am Ende des Briefes bittet er die römische Gemeinde, für ihn zu beten, damit er vor seinen Gegnern unter den nichtchristlichen Juden gerettet werde.1 Durch diese Todesnähe ist der Römerbrief ein ganz persönliches Bekenntnis des Paulus zu seinem Evangelium geworden. Den möglichen Tod vor Augen, fasst er in einem Rechenschaftsbericht2 zusammen, was ihm im Laufe seines Lebens am christlichen Glauben wichtig geworden ist. Der Römerbrief wirkt zwar wie ein Traktat, an vielen Stellen wird aber deutlich, dass Paulus in ihm sein eigenes Leben verarbeitet. Dieser abstrakte Brief ist vielleicht sein persönlichstes Schreiben. Am Anfang des Briefes gibt er dem Leser für dessen Bekenntnischarakter deutliche Signale. Bei seiner Selbstvorstellung im Präskript betont Paulus, dass ihm persönlich das Evangelium für alle Völker anvertraut wurde. Er wurde von Gott für diese Aufgabe „berufen“ und „ausgesondert“ (1,1) und erhielt durch den Auferstandenen selbst den Auftrag, ein Apostel für alle Völker zu werden (1,5). Paulus begründet hier seinen Auftrag mit seiner Damaskuserfahrung. Auch in Gal 1,15 hatte er mit denselben Worten betont, er sei vor Damaskus von Gott zum Apostel der Völker „ausgesondert“ und „berufen“ worden. Damit stellt er seine Beauftragung (mit Anspielung auf Jes 49,1 und Jer 1,5) als Prophetenberufung dar. Das Evangelium, mit dem er beauftragt wurde, fasst er mit Hilfe einer traditionellen Formel zusammen: Christus war Sohn Davids und wurde durch seine Auferstehung zum Sohn Gottes (1,3 f). Viele Exegeten vermuten hier eine Formel, mit der auch andere Christinnen und Christen das Evangelium zusammenfassten. In 1,16 f formuliert Paulus noch einmal den Inhalt seines Evangeliums als Thema des Römerbriefs, jetzt als persönliches Bekenntnis, wenn er schreibt: „Ich schäme mich (ἐπαισχύνομαι/epaischýnomai) des Evangeliums nicht“. Das ist urchristliche Bekenntnissprache,3 wie sie auch in Mk 8,38 und 2Tim 1,8 verwen 1 Zum Folgenden vgl. Theissen, Gesetz und Ich, 286–303. 2 Man kann den Römerbrief das potenzielle „Testament“ des Paulus nennen, da er darin auch für den Fall seines Todes seine Theologie zusammenfasst. So Bornkamm, Römerbrief, und die Weiterführung seines Ansatzes bei Reichert, Gratwanderung. Paulus hofft aber, weiterzuleben. Der Römerbrief ist daher in jedem Fall „Rechenschaft vom Evangelium“ (Lohse, KEK 4, 45), darüber hinaus aber auch Programm seiner Mission. 3 Vgl. Horstmann, Art. αἰσχύνομαι, 101; Barrett, Gospel; ders., BNTC 28; Käsemann, HNT 8a, 19; Lohse, KEK 4, 76; Michel, Sprachgebrauch, bes. 47 f; ders., KEK 4, 86; Dunn,

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Die Transformation des ganzen Menschen

det wird. In Mk 8,38 ruft Jesus seine Schüler in die Kreuzesnachfolge und weist sie auf die Konsequenzen hin: „Wer sich meiner und meiner Worte schämt vor dieser ehebrecherischen und sündigen Generation, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommt in der Herrlichkeit …“.4 Markus hat hier Petrus im Blick, der sich nach Jesu Verhaftung nicht zu Jesus bekannte, sondern ihn aus Furcht, selbst verhaftet zu werden, verleugnete (Mk 14,66–72). In Lk 12,8 f//Mt 10,32 f, einer Variante von Mk 8,38, wird dem Bekennen (ὁμολογεῖν/ homologeín) explizit das Verleugnen (ἀρνεῖσθαι/arneísthai) Jesu vor den Menschen entgegengestellt.5 Sich nicht zu schämen meint also ein Bekennen in einer gefährlichen Situation. Wenn Paulus daher das Thema seines Briefes mit der Formulierung einleitet: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“, so spricht er ein Bekenntnis6 und deutet an, dass seine Botschaft umstritten ist.7 Paulus bekennt sich zu seinem Evangelium, obwohl er dadurch in Jerusalem bedroht ist. Es widerspricht dem antiken Ehrenkodex von Scham und Ehre – sei es durch die Predigt des Gekreuzigten, der einen ehrlosen Tod am Kreuz gestorben ist, sei es dadurch, dass es sich an Barbaren und Unweise richtet, mit denen sich der Weise sonst nicht abgibt, sei es durch seine paradoxe These, dass Gott wie ein ungerechter Richter den Sünder freispricht. Paulus betont ferner eine Besonderheit, die sein Evangelium in 1,16 f über das in 1,3 f zitierte Evangelium hinaus unverwechselbar charakterisiert: Es ist eine rettende Macht des Glaubens – der Glaube allein ist für das Heil entscheidend. Dies gilt sowohl für Juden als auch für Heiden. In 2,16 kann Paulus sogar sagen: Gott wird nach „meinem“ Evangelium das Verborgene der Menschen richten. Nur im Römerbrief identifiziert WBC 38A; Fitzmyer, AncB 33, 255; Leenhardt, CNT 6, 28 Anm. 5; Zeller, RNT 6, 42. Als alles andere als sicher wird diese Deutung jedoch von Légasse, LeDiv 10, 94, eingeschätzt. 4 Übers. Ebner, Markusevangelium, 90 f. 5 Vgl. Lührmann, Markusevangelium, 153. Lk 12,4–7 thematisiert Todesgefahr, Lk 12,8 f unmittelbar danach eine Gerichtssituation. 6 Vgl. Stuhlmacher, Gerechtigkeit, 78: „Positiv könnte Paulus auch sagen: ὁμολογῶ τὸ εὐαγγέλιον/homologō´ tó euangélion“, d. h. „ich bekenne das Evangelium“ statt „schäme nicht nicht des Evangeliums (οὐ […] ἐπαισχύνομαι/ou […] epaischýnomai). 7 Es geht nach Barrett, BNTC 28, in 1,16 nicht nur um die schwierigen Umstände der Verkündigung, sondern um den Inhalt der Botschaft: „The point however is not simply the psychological one that in intimidating circumstances Paul has the courage to maintain his­ position. The Gospel itself is the shameful story of one who was crucified in weakness (2 Cor. XIII.4), one from whom even his followers, without regard to their own situation, might have turned away, ashamed to acknowledge him“. Jewett, Hermeneia, 136 f, findet in 1,16 den Schlüssel zu seiner Interpretation des Römerbriefs, der die Spanienreise vorbereiten und in interethnischen Konflikten in der römischen Gemeinde vermitteln soll: Spanien galt als von Barbaren bewohnte Provinz, über die sich ein civis romanus erhaben fühlte. Schon in 1,14 stellt sich Paulus deshalb als Schuldner von Griechen und Barbaren (u. a. der Spanier), von Gebildeten und Ungebildeten vor. Jewett vertritt die These, Paulus bekämpfe mit seiner Theologie der Rechtfertigung interethnische Abwertungen, die ein Ausdruck des antiken Systems von Ehre und Scham seien (ebd.).

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er das Evangelium so deutlich als seine persönliche Botschaft.8 Weil Paulus die Themenangabe des Römerbriefs in 1,16 f als persönliches Bekenntnis formuliert, dürfen und sollen wir den ganzen Brief als Bekenntnis lesen, in dem er Einblick gibt in das, was ihm im Blick auf sich selbst und seine Beziehung zu den Adressatinnen und Adressaten wichtig ist. Wir lesen daher den Römerbrief im Folgenden in dreifacher Weise psychologisch: –– prospektiv als Ausdruck seiner Wünsche und Pläne, aber auch seiner Risikobereitschaft und seiner Befürchtungen im Blick auf seine Reise nach Jerusalem, –– retrospektiv als Bilanz seines Lebens und Rückblick auf seine theologische Entwicklung, –– introspektiv als Ausdruck einer intensiven Selbstreflexion in Gestalt allgemei­ ner Aussagen über den Menschen vor allem in Röm 7. Bei dieser historisch-psychologischen Lektüre des Römerbriefs darf nie vergessen werden, dass sich Paulus in diesem Brief einer ihm unbekannten Gemeinde vorstellt und von ihr als Autorität und Apostel anerkannt werden will. Er stellt sich ihnen so dar, wie er von ihr gesehen werden will. Manchen Gedanken mit stark persönlichem Hintergrund gibt er dabei eine allgemein gültige Form, so dass wir erst durch Exegese diesen Hintergrund erkennen können. In ­7,7–25 stilisiert er sich beispielsweise selbst als Erlösten, der eine tiefe innere Spaltung überwunden hat und dadurch ein vorbildliches Modell des Menschen geworden ist, der sich mit seinem ganzen Sein auf Gott ausrichtet. In 9–11 stellt er sich dagegen in den persönlichen Einleitungssätzen der drei Kapitel (9,1–5; 10,1 und 11,1) betont als Israeliten dar, der durch sein Wirken das universalistische Versprechen der Heilsgeschichte einlösen will. Seine Botschaft und sein Wirken sollen dazu führen, dass alle Menschen mit ihrem ganzen Dasein Gott verehren. Der Römerbrief zeigt: Er will diese Botschaft mit seiner persönlichen Existenz verkörpern und dadurch seine Leserinnen und Leser für seine Botschaft gewinnen. Immer geht es dabei auch darum, dass er von ihnen als Autori­ tät anerkannt wird.

8 Dieser Satz ist kaum als Glosse auszuscheiden. Er sagt, dass Paulus sich dessen bewusst ist, eine besondere Form des Evangeliums zu vertreten: Das Evangelium vom Freispruch der Sünder, auch vom Freispruch der Heiden, wenn diese in 2,12–16 aufgrund eines „natürlichen Gesetzes“ gerichtet werden. Gerade hier ist es sinnvoll, wenn er sein Evangelium betont; charakteristisch ist dafür, dass er mit dessen Verkündigung an die Heiden beauftragt ist. Indirekt kündigt er aber schon hier an, dass für alle Juden dasselbe Evangelium gilt – nach Röm 11,26 sogar für ungläubige Juden.

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7.1 Risikobereitschaft und Furcht des Paulus9 Eine prospektive Lektüre des Römerbriefs Am Ende des Römerbriefs artikuliert Paulus gegenüber der ihm unbekannten römischen Gemeinde seine Furcht und seine Risikobereitschaft, aber auch seine Sehnsucht nach Ruhe. Die Einleitung mit παρακαλῶ/parakalō´ gibt dem Abschnitt einen besonderen Akzent:10 Ich bitte euch (παρακαλῶ/parakalō´), meine Brüder, unter Anrufung unseres Herrn Jesu Christi und der Liebe des Geistes, dass ihr mit mir in den Gebeten für mich vor Gott ringt (!), damit ich gerettet werde vor den Ungehorsamen in Judäa, und damit mein Dienst, der mich nach Jerusalem führt [nämlich die Kollekte], den Heiligen [d. h. der Jerusalemer Christengemeinde] wohlgefällig werde, damit ich, wenn es Gottes Wille ist, voll Freude zu euch kommen und mit euch eine Zeit der Ruhe verbringen kann (Röm 15,30–32).11

Als Paulus diese Zeilen schreibt, steht sein Aufbruch nach Jerusalem unmittelbar bevor: Dort will er die Kollekte für die Armen Jerusalems übergeben,12 kann aber nicht sicher sein, ob sie von den Judenchristen angenommen werden wird – zu umstritten ist seine gesetzesfreie Heidenmission. „Schwerste Befürchtungen“13 sprechen aus seinen Formulierungen „dass ihr mit mir in den Gebeten für mich vor Gott ringt (συναγωνίσασθαι/synagōnísasthai)“14 und „damit ich gerettet werde“ – er ist sich nicht sicher, ob er unversehrt aus Jerusalem zurückkehren wird. Wir wissen aus der Apostelgeschichte, dass seine Furcht berechtigt war: Er 9 Nach v. Gemünden, Todesangst. 10 Nach C. J. Bjerkelund kommt in antiken und paulinischen Briefen (gerade am Ende eines Briefes) in Sätzen, die wie 15,30 f mit παρακαλῶ/parakalō´ eingeleitet werden „die eigentliche Absicht und das Anliegen des Briefschreibers […] zum Ausdruck“ (Bjerkelund, Parakalo; vgl. Jervell, Brief, 65). 11 Übers. Theobald, Studien, 18. 12 Paulus hatte sich auf dem Apostelkonvent zur Kollekte für die Urgemeinde verpflichtet (Gal 2,10). Nach 15,26 geht die Geldsammlung auf den Beschluss Makedoniens und Achajas zurück. Paulus verschweigt hier sein Engagement für die Kollekte (2Kor 8 f). 13 Käsemann, HNT 8a, 391. 14 Die Übersetzung von Bartlett, WeBC, 136: „to join me in earnest prayers to God on my behalf “ ist zu schwach. Der Agon ist nicht auf einen Gebetskampf zu beschränken. Pfitzner, Agon Motif, 121 f, betont im Hinblick auf die hellenistisch-jüdischen Quellen und die Situation des Paulus: „The Apostle is about to travel to Jerusalem conscious of the fact that a twofold struggle awaits him there, on the one side with the Jews who hate him as a deserter of the faith of the Fathers, and on the other side with the Jewish Christians of whose support and acceptance he can not even yet be certain. He is thus about to enter into another phase of his apostolic Agon, and it is with this oncoming conflict in mind that he calls on the Romans to wrestle with him“. Weiss, KEK 4, 596, weist auf den Kampf gegen feindliche und gefährliche Gewalten hin, in dem sich der Apostel befindet, und in dem sie ihm zur Seite stehen sollen in ihren Gebeten.

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wurde in Jerusalem durch die Römer verhaftet und von einem Mordanschlag jüdischer Fanatiker bedroht (Apg 21–26). Erst am Ende seines Briefes – es folgen nur noch Mahnungen und Grüße – wagt Paulus, seine Bedrohungssituation zu enthüllen. Vorher hatte er behutsam einen vertrauensvollen Kontakt zu der ihm unbekannten römischen Gemeinde hergestellt: Er legte ihr seine Theologie dar und stellte Verzerrungen seiner Botschaft durch seine Gegner richtig.15 Wenn er seine bedrohliche Lage gegenüber Fremden im Erstkontakt erst am Schluss enthüllt, so ist das ein Hinweis darauf, wie groß er seine Bedrohung einschätzt.16 Nicht nur das Scheitern seines Lebenswerks droht in Jerusalem, sondern sogar der Verlust seines Lebens.17 Er ist sich nicht sicher, ob er jemals nach Rom reisen wird.18 Aus seiner inständigen Bitte, für seine Errettung mit ihm im Gebet zu ringen, spricht Furcht: Paulus ist sich dessen bewußt, dass er einer „lebensgefährliche[n] Situation“19 entgegengeht. Wenn er so auch gegenüber der römischen Gemeinde seine Risikobereitschaft demonstriert, so ist das sinnvoll, will er sie doch davon überzeugen, dass er mit ihrer Unterstützung das Evangelium bis nach Spanien verbreiten will. Das erfordert Mut. Im Folgenden stellen wir zunächst etwas genauer die Situation des Paulus, sei­ nen Erfahrungshintergrund und die Lage in Palästina dar. Danach gehen wir den Römerbrief auf Hinweise durch, in denen eine bewusste Furcht oder unbewusste Angst des Paulus spürbar werden. Paulus spricht vor dem Briefschluss zwar nie direkt davon, gleichwohl gibt es im Römerbrief deutliche Hinweise auf ein allgemeines Gefühl einer tödlichen Bedrohung, die in dessen Verlauf immer deutlicher werden.

7.1.1 Die persönliche Situation des Paulus Als Paulus vor seinem Aufbruch nach Jerusalem seinen Brief an die Römer schrieb, wußte er sehr gut, dass er Gegner unter den Judenchristen und den nichtchristlichen Juden hat. In seinen Missionsgebieten, besonders in Galatien, wurde heftig gegen ihn und seine Theologie agitiert.20 Bei den Galatern hatten seine Gegner möglicherweise Erfolg – auf jeden Fall scheint der Kontakt des Paulus zur galati 15 Vgl. 3,1–8; 6,1–8,11; 9,1–5. 16 Reichert, Gratwanderung, 78. 17 Das legt v. a. die Formulierung „damit ich gerettet werde (ἵνα ῥυσθῶ/hína rhysthō´)“ nahe: „ῥύεσθαι […] denotes deliverance from serious danger or evil (so that here the thought that Paul’s life may well be in danger is suggested)“, so Cranfield, ICC 2, 778. Zum Ganzen vgl. Jervell, Brief; Georgi, Kollekte 85; Bormann, Erfahrung, 206. 18 Reichert, Gratwanderung, 78–82. 19 Rubel, Paulus und Rom, 61. 20 Vgl. Theobald, Studien, 17. Nicht nur in Galatien, auch in Korinth (2Kor 10–13) und Philippi (Phil 3,2–21) waren konkurrierende judenchristliche Missionare aufgetreten. In der Pro-

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schen Gemeinde nach seinem hochpolemischem Brief an diese abgebrochen zu sein.21 Auch die Beziehungen des Paulus zu Jerusalem scheinen sich seit dem Apostelkonzil verschlechtert zu haben: Konnte Paulus mit den Jerusalemern beim Apostelkonzil eine Anerkennung seiner beschneidungsfreien Heidenmission erzielen und die Einigung per Handschlag zum Zeichen der κοινωνία (koinōnía) besiegeln, so haben sich die Fronten danach verhärtet22 – die judaistischen Gegner des Paulus scheinen an Einfluss gewonnen zu haben.23 Das zeigt der Galaterbrief,24 aber auch das Gerücht über Paulus, das nach Jerusalem gedrungen war,25 er lehre alle Juden, die unter den Heiden leben, den Abfall von Mose und veranlasse sie, ihre Kinder nicht mehr beschneiden zu lassen und nicht mehr nach den mo­saischen Gesetzen zu leben (Apg 21,21). Viele Juden, die in Palästina für den Glauben an Christus gewonnen werden konnten und „Eiferer für das Gesetz“ (ζηλωταὶ τοῦ νόμου/zēlōtaí toú nómou) waren (Apg 21,20), scheinen geneigt gewesen zu sein, diesem Gerücht Glauben zu schenken.26 Mit schwachem Rückhalt in der Jerusalemer Gemeinde hatte Paulus keinerlei Schutz vor möglichen Anschlägen nichtchristlicher Juden Judäas zu erwarten,27 die ihm Apostasie vorwarfen.28 Diese sind letztlich gemeint, wenn Paulus die römischen Christen um Gebete bittet, damit er vor „den Ungehorsamen in Judäa“29 gerettet werde, vor den Juden, die das Evangelium nicht angenommen haben.30 Nun war Paulus nach eigener Aussage einst selbst ein „Eiferer“ gewesen, der vom Zelos-Ideal ergriffen war und die „Ekklesia Gottes verfolgt“ hatte,31 er war also gewalttätig gegen Andersdenkende vorgegangen. Modell für seinen aggressiven Gesetzeseifer war Pinehas gewesen,32 der den Juden Simri und dessen Frau getötet hatte, da sich Simri trotz des Verbots von Mischehen im Gesetz nicht von vinz Asia, genauer wohl in Ephesus, kam es zu Spannungen zwischen Paulus und den Juden der dortigen Synagoge. Diese Konflikte sollten Paulus schließlich bei seinem Jerusalembesuch zum Verhängnis werden (Apg 19,8–10; 21,27–36). 21 Koch, Christsein, 337 f. 22 Theobald, SKK NT 6/1, 16. 23 Schnelle, Paulus, 335. 24 Vgl. den antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–14). Paulus erwähnt im Galaterbrief nirgends, dass Petrus seine Einwände gegen die judaistischen Gegner in Galatien teilt (Pokorny/ Heckel, Einleitung, 228). 25 In Apg 21,21 ist Paulus schon in Jerusalem, die hier vorgestellte Zeit liegt also später als die Zeit, in der Paulus den Römerbrief schrieb. 26 Porter, Paul, 177. 27 Reichert, Gratwanderung, 78; vgl. Rubel, Paulus und Rom, 61 f. 28 Ders., 62. In Dtn 13 sind drastische Strafmaßnahmen gegen Apostaten formuliert. 29 Vgl. schon in 10,21 die Rede von einem ungehorsamen Volk (ὁ λαὸς ἀπειθοῦν καὶ ἀντιλέγων/ho laós apeithoún kaí antilégōn). 30 10,16, vgl. auch Schlier, HThK 6, 438. 31 1Kor 15,9; Gal 1,13 f.23; Phil 3,6, vgl. Apg 8,3; 9,1–2.21; 22,3 f; 26,11. 32 Sir 45,23 f; 1Makk 2,26.54; Philo Leg. 3,242; Ebr. 76; Post. 182 f.; Mos. 1,301–304; Spec. 1,56 f; Mut. 108, vgl. zu Philo: v. Gemünden, Friede, 84–93.

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seiner ausländischen Frau trennen wollte.33 Der Prophet Elia34 und die Makka­ bäer35 reihen sich in diese Tradition gewalttätigen Eiferns ein36 – und so eben auch der vorchristliche Paulus.37 Paulus wusste aus eigener Erfahrung um die Aggressivität des Zelos-Ideals und auch, wie man in diesen Kreisen mit „Abweichlern“ umging. Er wusste folglich genau, was er bei seinem Jerusalembesuch riskierte. In der Tat plante nach Lukas eine Gruppe von vierzig Verschwörern, Paulus umzubringen.38 Es handelt sich bei ihnen wohl auch um Anhänger des ZelosIdeals, die, ihrem Vorbild Pinehas folgend, Attentate gegen diejenigen verübten, welche die Reinheit Israels, seines Glaubens und seines Tempels bedrohten.39 Dass sie Paulus im Visier hatten, ist leicht nachvollziehbar. Die Entschlossenheit dieser Verschwörer kommt in der Selbstverfluchung zum Ausdruck, weder zu essen noch zu trinken, bis sie ihn umgebracht hätten.40 Das Attentat konnte durch den Neffen des Paulus verhindert werden, der von dem Plan erfahren hatte.41 Aufschlussreich ist, dass der Neffe des Paulus überhaupt von dem Attentatsplan erfuhr. Stand er selbst zelotischen Kreisen nahe oder gehörte er zu ihnen?42 Diese Episode aus der Apostelgeschichte ist ein Beleg dafür, dass die Furcht des Paulus, in Jerusalem zu Tode zu kommen, berechtigt war. 33 Num 25; Ps 106,28–31. Eine Ehe wäre nach dem jüdischen Gesetz nur nach einer Konversion der Frau zum Judentum statthaft gewesen. 34 1Kön 18 f, bes. 19,10.14; 1Makk 2,58. 35 1Makk 2,24–27; 1Makk 2,49–70. 36 1Makk 2 verbindet explizit das Eifern des Mattathias mit dem des Pinehas und dem des Elia. Im Targum Ps-Jonathan (Ps-Jonathan zu Ex 6,18) wird Pinehas mit Elia identifiziert. 1Makk 2,52 reiht auch Abraham wegen der Bindung Isaaks (Gen 22,1–18) in die Tradition des Zelos-Ideals ein. Zum Zelos-Ideal vgl. weiter Philo Leg. 1,54 f; Ps.-Philo Lib. Ant. 47,7 (übers. Chr. Dietzfelbinger). 37 Vgl. dazu Wolter, Paulus, 20 f. 38 Apg 23,12–22. Die konkreten Details sprechen dafür, dass der Erzählung des Lukas histo­ rische Informationen zugrunde liegen dürften, so Hengel, Historiker, 173–175; Marguerat, Actes des Apôtres, 296 Anm. 3 („historiquement plausible“); ferner: Wikenhauser, Apostel­ geschichte. Nach Omerzu, Prozeß, 398–400.418 f, rekurriert Lukas hier auf Tradition, die durch das Gelübde der Juden und die Dialogform „szenisch ausgeweitet“ (418) wurde. Schmithals, Apostelgeschichte, 209, wertet dagegen Apg 23,12–22 als „originale […] Erzählung des […]­ Lukas […], der keine historischen Informationen zugrunde liegen dürften […]“. 39 Roloff, Apostelgeschichte, 331. 40 Solche Selbstverfluchungen sind von „Eiferern“ in rabbinischen Schriften bezeugt, vgl. Bill. II, 767. Zur gegenseitigen Verpflichtung durch Verwünschung s. 1Hen 6,4–5, wo sich die gefallenen Engel gegen die Menschen verschwören. Philo kennt in Leg. 2,13 auch Menschen, die den Eid als Vorwand nehmen, um Verbrechen auszuüben. 41 Apg 23,16–22. 42 Vgl. Roloff, Apostelgeschichte, 331: „Daß der Neffe […] darum in das Komplott eingeweiht war, weil er selbst zelotischen Kreisen nahestand, wird man angesichts der Verwurzelung der Familie des Paulus im streng gesetzestreuen Judentum (22,3; vgl. Phil 3,5 f)  annehmen dürfen, sowie auch, dass bei dem jungen Mann die familiäre Bindung über den Gesetzeseifer gesiegt hat“.

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Erst am Ende des Römerbriefs enthüllt Paulus seine Furcht, und das geschieht auch fast nebenbei und ist sehr knapp gehalten. Paulus fasst sich kurz, weil er trotz aller Gefahren hofft, dass sein Aufenthalt in Jerusalem gut ausgehen möge.43 Dennoch überwiegt eine skeptische Situationseinschätzung:44 So ist erstens auffällig, dass Paulus die ihm fremden römischen Christen zur Fürbitte auffordert, obwohl sie nichts mit der Kollekte zu tun haben. Zweitens bittet Paulus in 15,31 nicht um die Abwendung der Gefährdung in Jerusalem, sondern um die Errettung aus ihr.45 Drittens verrät das Bild des Kampfes (Agon) eine dramatische Sicht seiner Situation.46 Viertens begründet Paulus seine erneute Verzögerung des Besuchs in Rom nicht mit der Wichtigkeit der Kollekte, sondern spielt deren Bedeutung47 und seinen Einsatz dafür eher herunter. Das alles ergibt nur dann Sinn, wenn bei Paulus „der Gedanke an ein mögliches Scheitern dominiert“48 – auch wenn er hofft, dass sich alles doch noch zum Guten wenden könne. Seine Risikobereitschaft wird die römischen Adressaten beeindruckt haben. Denn auch die vor ihm liegenden Reisen nach Rom und Spanien waren nicht ohne Risiko. Angesichts der überwiegend pessimistischen Einschätzung seiner Situation ist es verständlich, dass Paulus beim Verfassen des Römerbriefs mit ambivalenten Gefühlen, mit Hoffnung und Furcht, an diese Reise nach Jerusalem denkt.­ Günther Bornkamm hat den Römerbrief als ein Schreiben interpretiert, das durch den Verlauf der Ereignisse zu seinem Testament wurde, ohne dass Paulus ihn ursprünglich als Testament konzipiert hatte.49 Paulus war sich auf jeden Fall dessen bewusst, dass sein erster Kontakt mit den römischen Christen möglicherweise gleichzeitig sein letzter sein könnte.50 43 Reichert, Gratwanderung, 82, nennt zwei Gründe für die „auf den erwünschten, positiven Verlauf der Ereignisse zielende Textstrategie“ und dafür, dass Paulus in Röm 15,31b keinen Grund für seine „angedeutete Skepsis hinsichtlich der Annahme der Kollekte nennt“: Erstens wäre es im Fall einer Einigung mit den Jerusalemer Christen für Paulus riskant gewesen, wenn er vorher die bestehenden Spannungen gegenüber den außenstehenden Römern ausgebreitet hätte. Diese Äußerungen hätten auch nach einem positiven Verlauf in Jerusalem noch im Raum gestanden und er hätte sie nicht einfach wieder zurücknehmen können. Zweitens hätte ein „deutlicheres Eingeständnis der Gefährdung, in die sich Paulus […] begibt, […] eine Begründung der Entscheidung des Verfassers für die Jerusalemreise“ nötig gemacht, noch dazu, wenn durch seinen Jerusalembesuch der Besuch Roms für Paulus an die zweite Stelle rückt und eventuell sogar ganz gefährdet ist. 44 Das Folgende nach ebd., 78–82. 45 Vgl. auch Cranfield, ICC 2, 778; Rubel, Paulus und Rom, 62. 46 Reichert, Gratwanderung, 79: „Bei einer tendenziell optimistischen Einschätzung müsste das [gemeint ist der Rückgriff auf die Kampfmetaphorik, P.v.G.] als völlig unmotivierte Dramatisierung erscheinen“. 47 Paulus betont den karitativen Zweck der Kollekte und erwähnt die Vereinbarung beim Apostelkonvent (Gal 2,10) nicht, s. ebd. 48 Ebd. 49 Bornkamm, Römerbrief. Der weitere geschichtliche Verlauf hat den Römerbrief tatsächlich zum literarischen Testament des Paulus werden lassen, vgl. Käsemann, HNT 8a, 389. 50 Reichert, Gratwanderung, 82.

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Trotz der Bedrohungen durch religiöse „Eiferer“ kam es für Paulus nicht infrage, das für ihn gefährliche Palästina zu meiden und direkt nach Rom zu reisen. Er fühlte sich verpflichtet, die beim Apostelkonzil vereinbarte Kollekte persönlich abzuliefern und damit zu demonstrieren, dass er seine Zusagen einhielt. Seine persönliche Anwesenheit unterstreicht den materiellen und symbolischen Wert der Kollekte – gegenüber den Jerusalemern wie gegenüber den Spendern aus seinen Gemeinden. Obwohl viele von ihnen selbst nur wenig besaßen, hatte er eine angemessene Summe eingesammelt.51 Die Spende sollte Ausdruck der Einheit der Kirche sein und sicher und zuverlässig (15,27 f)  in Jerusalem ankommen.52 Möglicherweise hoffte Paulus auch, mit der Kollekte gute Stimmung für sich und seine Sache in Jerusalem machen zu können und – wie einst beim Apostelkonzil53 – jetzt erneut der Verständigung zwischen Juden- und Heidenchristen den Weg zu ebnen. Es sei daran erinnert (vgl. 6.2.2): Vermutlich hoffte­ Paulus auf eine wunderbare Erscheinung Christi (11,25–27), wie sie ihm einst vor ­Damaskus widerfahren war. Ihm, dem Verfolger der Christengemeinde, erschien damals Christus und brachte die große Wende in sein Leben. Sollte Christus nicht auch den gegenüber ihm und der Heidenmission feindselig eingestellten Juden und Judenchristen vom himmlischen (oder vom irdischen) Zion her erscheinen können, um eine Wende zur Rettung von ganz Israel herbeizuführen? Dann würde sich der Tempel für einen gemeinsamen Gottesdienst von Juden- und Heidenchristen öffnen. Wenn Paulus davon träumte, hätte seine Todesfurcht bei seiner letzten Reise nach Jerusalem einen realen Grund gehabt. Schon bei seinem ersten Besuch in Jerusalem wollten ihn dort ansässige griechischsprachige Juden töten (Apg 9,29). Seine zweite Reise nach Jerusalem (Gal 1,1–10; Apg 15) schien in dieser Hinsicht unproblematisch gewesen zu sein. Aber seine letzte Reise war wieder mit Gefahr für Leib und Leben verbunden. Denn jeder, der Heiden den Zugang zum inneren Tempelbezirk ermöglichen wollte, kam damit in die Nähe eines mit Todesstrafe bedrohte Vergehens. Es war streng verboten, einen Heiden in den Tempel zu bringen. Jeder konnte die Warninschrif 51 Zunächst stand es für Paulus gar nicht fest, dass er nach Jerusalem reisen muss. L ­ égasse, Paul, 191, spricht vom Zögern des Paulus, nach Jerusalem zu reisen: Nach 1Kor 16,3 sollen mehrere von den Korinthern bestimmte Personen mit Empfehlungsbriefen des Paulus die Kollekte überbringen. Doch schon in 1Kor 16,4 deutet Paulus an, dass er sich vorstellen könne, auch selbst nach Jerusalem zu reisen. In diesem Fall sollten sich die Überbringer der Kollekte ihm anschließen. Lindemann, Korintherbrief, 378 unterstreicht, dass der Formulierung in 1Kor 16,4 („wenn es angemessen ist“) nicht zu entnehmen ist, welche Gründe für eine Reise des Paulus nach Jerusalem sprechen. Zumeist wird angenommen, dass Paulus seine Entscheidung von der Höhe der Kollekte abhängig macht, vgl. Zeller, RNT 6, 534. Als Paulus etwas später 2Kor 1,16 schreibt, ist für ihn klar, dass er nach Judäa, also nach Jerusalem, reisen will, was er in 15,25 direkt anspricht. 52 Jervell, Brief, 67 f. 53 G. Theißen nimmt an, dass Paulus schon zum Apostelkonzil mit einer Kollekte angereist war und sie für seine kirchenpolitische Diplomatie eingesetzt hat: Theissen, Social Setting.

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ten lesen, die drohten, dass jeder Fremde, der den inneren Tempelbezirk betrat „selbst verantwortlich sei für den darauf folgenden Tod“ (OGIS 598)54. Wie Paulus zum Apostelkonzil Titus als lebendigen Beleg für den Verzicht auf die Beschneidung mitgebracht hatte (Gal 2,3), so brachte er bei seiner letzten Jerusalemreise Trophimos aus Ephesus mit. Vielleicht sollte Trophimus ein lebendiger Beleg dafür werden, dass Heidenchristen auch zum Tempel zugelassen sind. Eben diese Absicht wurde Paulus in der Apostelgeschichte von seinen Gegnern unterstellt (Apg 21,29). Paulus löste einen Tumult aus. Er wurde von Römern in Schutzhaft genommen. Fromme Fanatiker versuchten, ihn trotzdem zu töten (Apg 23,12–22).

7.1.2 Hinweise zur Furcht des Paulus im Römerbrief Lesen wir den Römerbrief unter dem Aspekt der Furcht und Risikobereitschaft des Paulus, wie er sie in 15,30–32 offenbart, so erscheinen einige Abschnitte in neuem Licht: Paulus bittet hier am Ende des Briefs darum, dass die Römer mit ihm im Gebet vor Gott ringen sollten (συν-αγωνίσασθαι/syn-agōnísasthai), und hofft, dass er sich in Rom mit ihnen ausruhen könne (συν-αναπαύσωμαι/syn-anapaúsōmai). Eine entsprechende Formulierung mit σύν (sýn) finden wir auch ganz zu Beginn des Römerbriefs im Proömium. Dort drückt Paulus seine Sehnsucht aus, zusammen mit den römischen Christen durch den beiderseitigen Glauben „getröstet bzw. ermuntert“ zu werden (συμ-παρακληθῆναι/sym-paraklēthē´nai 1,1255  – der Begriff begegnet im Neuen Testament nur hier als Kompositum, das hebt die Wortwahl hervor). In 2Kor 1,4 f verwendet Paulus den gleichen Wortstamm, um vom Trost nach einer überwundenen Todesgefahr zu sprechen.56 In Ephesus57 hatte Paulus eine Lebensgefahr überstanden (2Kor 1­ ,8–11),58 mög­licherweise bei Verfolgungen,59 vielleicht in einem Prozess mit möglichem Todes­urteil.60 Der Trost 54 Abbildungen dieser Inschriften bei Küchler, Jerusalem, 348 f Abb. 175; Vgl. oben S. 314. 55 παρακληθῆναι/paraklēthē´nai kann die Bedeutung von „getröstet werden“ (so Lagrange, EtB, 15) oder „ermuntert werden“ haben (Schmithals, Römerbrief, 55); das mahnende Verständnis von παρακαλεῖν/parakaleín passt weniger gut, vgl Cranfield, ICC 1, 81: „It seems more probable […] that παρακαλεῖν here has its sense of ‚comfort‘, ‚encourage‘, than that it ­means ‚exhort‘“. 56 In 2Kor 1 ist es explizit Gott, der tröstet, Röm 1 spricht dagegen vom gegenseitigem Trost bzw. gegenseitiger Ermutigung. 57 Vgl. 1Kor 16,19. 58 Das Verb ῥύεσθαι/rhýesthai, mit dem er in 2Kor 1,10 von seiner Errettung handelt, begegnet auch in Röm 15,31, dort im Konjunktiv Aorist Passiv. 59 Vielhauer, Geschichte, 144. 60 2Kor 1,9 spricht Paulus von einem Todesurteil: ἀπόκριμα τοῦ θανάτου/apókrima toú­ thanátou). Ἀπόκριμα/apókrima ist terminus technicus für einen offiziellen Bescheid, eine Entscheidung (Bultmann, Korinther, 32 Anm. 9).

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bzw. die Ermutigung (παράκλησις/paráklēsis), so hat R ­ udolf Bultmann heraus­ gearbeitet,61 besteht für Paulus gleichwohl nicht nur in seiner faktischen Errettung aus der Todesgefahr, sondern auch in deren kognitiven Verarbeitung durch sei­nen Glauben: Trost und Ermutigung erwachsen ihm aus der Deutung der Bedrängnis als Teilhabe an den Leiden Christi (παθήματα τοῦ Χριστοῦ/pathē´mata toú Christoú, 2Kor 1,5). Auch in Röm 1,12 soll die gegenseitige Tröstung bzw. Ermutigung durch den Glauben erfolgen und das impliziert eine kognitive Auseinandersetzung mit seiner Errettung aus der Todesgefahr. Ebenso müssen die römischen Christen aus einer Todesgefahr errettet worden sein – das legt die Formulierung mit σύν (sýn) in 1,12 nahe. Möglicherweise waren einige von ihnen bei der Vertreibung der Christen aus Rom unter Claudius in Gefahr geraten.62 Paulus könnte durch Priska und Aquila davon erfahren haben – von zwei unter Claudius vertriebenen römischen Christen, die er nach Apg 18,2 in Korinth traf und mit denen er in der Folge eng zusammenarbeitete. Priska und Aquila könnten Paulus von den Gefahren für die Christusanhänger in Rom erzählt haben, sodass Paulus in 1,12 einen mit den römischen Christen gemeinsamen Erfahrungshintergrund voraussetzen kann.63 In Gedanken nimmt Paulus in 1,12 seinen Besuch in Rom vorweg: Er hofft, dass die römischen Christen und er sich gegenseitig trösten werden, wenn er die bevorstehende gefährliche Bedrohung überstanden haben wird. Ungewöhnlich ist, dass Paulus im Proömium nicht nur für die Gemeinde betet, sondern auch berichtet, er würde ständig darum beten, dass er zu den römischen Christen gelangen werde.64 Das klingt so, als sei dies alles andere als selbstverständlich. Gehen wir weiter im Römerbrief: Wenn Paulus in 1,16 f dessen Themenangabe durch die Formulierung einleitet: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“, so ist dies urchristliche Bekenntnissprache, die eine Situation der Gefährdung voraussetzt (vgl. Mk 8,38; Lk 12,8 f//Mt 10,32 f).65 Hier wird diese Gefährdung nur angedeutet, im Laufe des Römerbriefs wird sie aber schrittweise enthüllt: Zunächst indirekt als Gefährdung aller Menschen (1,18–3,20), dann als Gefährdung speziell der Christen (8,35 f), ferner als Gefährdung einzelner Menschen wie die des 61 Ebd., 26–31. 62 Vgl. Suet. Claud. 25,4: „Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit“ (GLAJJ 2, 118 Nr. 307) – „die Juden [wahrscheinlich ist das einschränkend gemeint, im Sinne von: diejenigen Juden; P.v.G.], die auf Anstiften eines Chrestus beständig Unruhe machten, vertrieb er aus Rom“. 63 Ein zweites Motiv nennt G. Rubel: Nach seiner Auffassung verwendet Paulus das συμ-παρακληθῆναι/sym-paraklēthē´nai in 1,12, da er „nicht als überlegener Apostel“ erscheinen will (Rubel, Paulus und Rom, 27). 64 Wolter, EKK 6/1, 43. 65 Vgl. Horstmann, Art. αἰσχύνομαι, 101; Barrett, Gospel; ders., BNTC 28; Käsemann, HNT 8a, 19; Lohse, KEK 4, 76; Michel, Sprachgebrauch, bes. 47 f; ders., KEK 4, 86; Dunn, WBC 38A; Fitzmyer, AncB 33, 255; Leenhardt, CNT 6, 28 Anm. 5; Zeller, RNT 6, 42. Als alles­ andere als sicher wird diese Deutung jedoch von Légasse, LeDiv 10, 94 eingeschätzt.

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Propheten Elia (11,2–4), bis Paulus am Ende des Briefes ganz konkret seine persönliche Gefährdung offen anspricht. Der Themaangabe in 1,16 f folgt ein erster Teil, in dem Paulus in einer großen Gerichtsrede die Sündhaftigkeit und Gefährdung aller Menschen thematisiert (1,18–3,20): Sie ist Offenbarung des Zornes Gottes über alle Menschen – Heiden wie Juden. Das von ihm entworfene Bedrohungsszenario ist von apokalyptischem Denken geprägt. In diesem Zusammenhang finden wir in 1,29–31 einen Lasterkatalog, der zwar vornehmlich die Heiden, trotzdem aber auch die Juden im Blick hat.66 Er spricht von Menschen „voll von Neid, Mord, Streit, List, Bösartigkeit“, von „Ohrenbläsern“ und „Verleumdern“67 (1,29 f). Im Vergleich zu anderen paulinischen Lasterkatalogen ist dieser Lasterkatalog besonders dunkel gefärbt, denn in 1,29 begegnet auffälligerweise auch der Begriff Mord (φόνος/phónos), den wir in keinem anderen paulinischen Lasterkatalog finden68 – ausgenommen einer varia lectio in Gal 5,21, die wohl aufgrund des griechischen Wortspiels φθόνοι – φόνοι/ phthónoi – phónoi (Neid – Mörder) an dieser Stelle sekundär eingedrungen ist.69 Auch in den jüdischen Lasterkatalogen ist der Begriff Mord (φόνος/phónos) nicht

66 Vgl. Haacker, ThHK 6, 54: „Der Lasterkatalog […] benennt keineswegs nur typisch heidnische Lebensgewohnheiten. So bahnt sich der Übergang zur jüdischen Adresse der Argumentation an“. Dass Paulus auch die Juden im Blick hat, zeigt schließlich 2,1–24 – ein Abschnitt, der an die Juden gerichtet ist: Darin macht Paulus ausdrücklich klar, dass die Juden dasselbe tun wie die Heiden, die die Juden verurteilen (2,3). 67 Ebd., 46 übersetzt hier mit „Denunzianten“, s. u. 68 Vgl. Röm 13,13; 1Kor 5,10.11; 6,9 f; 2Kor 12,20 f; Gal 5,19–21 (nur in Gal 5,21 findet sich sekundär in einigen Handschriften φόνοι/phónoi); auch in den Lasterkatalogen der Deutero- und Tritopaulinen fehlt „Mord“, vgl. Eph 4,17–19; Kol 3,5–9; 1Tim 6,4; Tit 3,3; vgl. weiter 1Petr 2,1; 4,3; 1Clem 3,2; 35,5; 2Clem 4,3. Hängt das „nur“ damit zusammen, dass diese Laster­ kataloge an Christen gerichtet sind? „Mord“ taucht – anders als in Lasterkatalogen – jedoch angeregt vom Dekalog regelmäßig in Gebotsreihen auf. Eine solche steht hinter dem Makarismus in Sib 4,24–39, wo diejenigen glücklich genannt werden, die Gott lieben, indem sie ihn­ lobpreisen, bevor sie trinken und essen, den Götzendienst meiden, keinen frevelhaften Mord begehen, nicht nach unehrlichem Gewinn streben, Ehebruch und Homophilie unterlassen, vgl. Holtz, Gott, 238 (Hervorhebung von P.v.G.). Der Mord taucht als „Blutvergießen“ auch im ältesten literarischen rabbinischen Beleg für die noachidischen Gebote zwischen „Unzucht“ und „Raub“ auf, vgl. tAZ 8,4 und Müller, Tora, 25. Die Datierung der noachidischen Gebote ist aber umstritten, vgl. Holtz, Gott, 238 Anm. 185. Sie weist ebd., 239, darauf hin, dass in Röm 1,29 πλεονεξία/pleonexía (Habsucht) und φόνος/phónos (Mord) ein Pendant in diesem „noachidischen“ Gebotskomplex haben. Da die noachidischen Gebote für alle Menschen gelten, kann das als weiterer Hinweis dafür betrachtet werden, dass Paulus bei dem Lasterkatalog an Heiden und Juden denkt (vgl. Haacker, ThHK 6, 54). 69 Zur Paranomasie φθόνοι – φόνοι/phthónoi – phónoi vgl. Eur. Tro. 768 f. Das Wortspiel wurde in der Antike häufig zitiert (Betz, Galaterbrief, 484 Anm. 117). Als sekundärer Zusatz wird φόνοι/phónoi auch gewertet in: Metzger, Commentary, 597 f. Als varia lectio auch 1 Petr 2,1 (B [03]). „Mord“ (φόνος/phónos) nennen jedoch die Lasterkataloge in Mk 7,21 f par. Mt 15,19; 1 Petr 4,15 und in Apk 9,21; 21,8; 22,15. Er begegnet auch im Rahmen der Zwei-WegeLehre in Did 5,1 f.

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selbstverständlich.70 Er findet sich aber im Lasterkatalog in SapSal 14,23–26.71 Diese Schrift, so wird immer wieder vermutet, könnte ein literarisches Vorbild für die Ausführungen des Paulus gewesen sein.72 Lesen wir nur deshalb in 1,29 von Mord (φόνος/phónos)? Oder nicht auch, weil Paulus (evtl. angeregt von SapSal 14,25) an seine gefährlichen Gegner in Palästina denkt? Oder hat Paulus vor allem die Oberschicht in Rom vor Augen? Unter den Kaisern Tiberius, Gaius Caligula und Claudius war es immer wieder zu „Säuberungen“ gekommen.73 Auch die Kaiser Gaius Caligula und Claudius waren keines natürlichen Todes gestorben. Am Ende der großen Gerichtsrede (1,18–3,20) bietet Paulus eine Zusammenfassung, in der er die Universalität der Sünde bekräftigt (3,9–20). Er fasst als ihr Ergebnis zusammen, dass auch die Juden74 und damit wirklich alle Menschen, Juden wie Griechen, unter der Herrschaft der Sünde stehen (3,9). Paulus belegt diese These mit Schriftzitaten (3,10–18). Mosaikhaft reiht er75 fragmentarische Stellen aus dem Buch Kohelet,76 den Psalmen,77 Jesaja und den Proverbien78 aneinander, um nachzuweisen, dass die ganze Welt vor Gott schuldig ist. Kein Mensch kann vor Gott gerecht werden, auch nicht durch Gesetzeswerke (3,19 f) – alle sind Sünder und vom Zorn Gottes bedroht. Den pessimistischen Ton über die Menschen schlägt schon das erste Zitat aus dem Buch Kohelet an: „Es gibt keinen Gerechten, keinen einzigen“.79 Dies wird 70 „Mord“ fehlt z. B. in TestRub 3,3–8 und in Philo Cher. 92; Sacr. 22. Unklar ist das Verständnis von „die heimlich die Seelen der Menschen stehlen“ in 2Hen 10,5, vgl. dazu Niebuhr, Gesetz, 189 Anm. 112. 71 Vgl. SapSal 14,25: „Blut und Mord (φόνος/phónos), Diebstahl und Betrug …“. 72 Wilckens, EKK 6/1, 96 mit Anm.  141; vgl. Weiser, Timotheus, 243 mit Anm.  355; Vögtle, Tugend- und Lasterkataloge, 227–232; Langerbeck, Paulus, 96–99. Ein stringenter Beweis, so notiert zu Recht Wilckens, ebd., lasse sich für diese Vermutung jedoch nicht anführen. H. Daxer denkt an den „Niederschlag eines Teils der mündlich tradierten spätjüdischchristlichen Sittenlehre“ (Daxer, Römer, 24–58, bes. 58). 73 Der bedrohlich wirkende Begriff „Verleumder“ (κατάλαλοι/katálaloi) in Röm 1,30 lässt an das „in der Kaiserzeit aufblühende Denunziantenwesen“ denken, besonders an die gefürchtete Anzeige wegen Majestätsverbrechen (Haacker, ThHK 6, 55). Verleumdungen (καταλαλιαί/­ katalaliaí) finden sich auch im Lasterkatalog in 2Kor 12,20 und in 1Petr 2,1, 1Clem 30,1.3 sowie als Warnung vor dem Verleumden in Jak 4,11 (μὴ καταλαλεῖτε/mē´ katalaleíte). Die Verleumdung ist ein in der Paränese „traditionell“ erwähntes Laster (Lindemann, Clemensbriefe, 96; Niebuhr, Gesetz, 189 Anm. 114), deshalb ist seine Erwähnung in Röm 1,30 nicht so auffallend wie die von „Mord“. Die existentiell bedrohliche Konnotation kann für Paulus gleichwohl mitschwingen. 74 3,9a: „Sind wir im Vorteil?“ 75 Manche vermuten aus einem Florilegium, so Käsemann, HNT 8a, 81, vgl. die Zusammenstellung bei Koch, Schrift, 180 Anm. 52. Dagegen neben anderen: Lohse, KEK 4, 123 (fester Platz der Zitatenkombination in der mündlichen Unterweisung des Paulus). 76 Pred 7,20. 77 Ps 13,1–3LXX; 5,10c.dLXX; 139,4bLXX; Ps 9,28LXX (10,7aMT); Ps 35,2b LXX, vgl. dazu: Koch, Schrift, 179–182. 78 Jes 59,7 f; Prov 1,16. 79 3,10, Übers. Zeller, RNT 6, 76, Zitat aus Pred 7,20.

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durch die Klagen aus Ps 13,1–3LXX80 über den Unverstand und die Gottlosigkeit der Menschen aufgenommen und mit den Worten zusammengefasst: „Es gibt keinen, der das Gute tut, es gibt keinen einzigen“ (3,12 = Ps 13,3aLXX). Paulus klagt dann mit Worten des Psalters: „Ein offenes Grab ist ihr Rachen, mit ihren Zungen übten sie Betrug, Schlangengift ist unter ihren Lippen, ihr Mund strotzt von Fluch und Bitterkeit“.81 Paulus kritisiert hier Wortsünden. Anschaulich sind sie mit Rachen, Zunge, Lippen und Mund verbunden, also eng mit menschlichen Körperteilen – später wird Paulus von der Sünde „in meinen Gliedern“ schreiben (7,23).82 Andere Sünden, etwa sexuelles Fehlverhalten, das in 1,24–27 noch einen breiten Raum einnimmt, oder Habgier (1,29), werden nicht mehr genannt. Jetzt, da Paulus in seinem Resümee alle Menschen (nicht in erster Linie die Heiden wie in Röm 1) im Blick hat, sondern darlegen will, dass auch die Juden (und damit alle) unter der Herrschaft der Sünde stehen (3,9),83 beginnt er mit Wortsünden. Schon im Alten Testament und seiner Umwelt wusste man um den Zusammenhang von Wort und Tat.84 Deshalb ist der Übergang von Wort- zu Tatsünden (3,15–17) konsequent: „Schnell sind ihre Füße, Blut zu vergießen, Zerstörung und Elend sind auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens ignorieren sie“.85 Paulus zitiert hier (leicht verändernd und verkürzend) Jes 59,7 f. Danach fasst er seine Anklage aller Menschen mit einem Zitat aus Ps 35,2bLXX (= 3,18) zusammen: „Keine Gottesfurcht gilt vor ihren Augen“.86 Dieser Abschnitt enthält lediglich zwei Zitate, die nicht aus den Psalmen stammen: das einleitende pessimistische Zitat aus dem Buch Kohelet: „Es gibt keinen Gerechten, keinen einzigen“ (3,10), und das Wort aus Jes 59,7 f von den Füßen, die schnell sind, Blut zu vergießen, und den Weg des Friedens ignorieren ­(3,15–17). Pred 7,20 ist durch die Formulierung „Es gibt keinen“ (οὐκ ἔστιν/ouk éstin) mit dem folgenden Psalmzitat verbunden, nicht so das Zitat aus Jes 59,7 f. Es ist zudem das einzige Prophetenzitat im Schriftbeweis des Paulus. Er hat hier die Juden vor Augen,87 denn er will beweisen, dass alle Menschen und damit auch sie Sünder sind. Hat Paulus dieses Prophetenzitat hier eingefügt, da er sich selbst als ein Freudenbote nach Jes 52 versteht, der mit seinen Füßen nach Jerusalem eilt, um 80 Ps 14,1–3MT. 81 3,13–14, vgl. Ps 5,10LXX; 139,4LXX; 10,7 (Ps 10,7 mit leichten Veränderungen). 82 Theobald, SKK NT 6/1, 91. Paulus spricht in 7,23 vom „Gesetz der Sünde in meinen Gliedern“. 83 Vgl. Lagrange, EtB, 70 (ad Röm 3,10–18): „Les termes […] pourraient s’appliquer à tous les hommes; mais […] ce sont bien les Israélites qui sont en cause, comme Paul le dira au V.19“. 84 Worte können Zorn auslösen und zu Mord führen (2Makk 10,35; Sir 22,24; Philo Leg. 3,104–107; Plat. leg. 866d–867c). Zum Zusammenhang Zorn – Mord vgl. nur Sir 8,16; TestSim 2,11 f; TestSeb 4,11; TestDan 1,6 f; Plut. mor. 782C. 85 Übers. Zeller, RNT 6, 76. 86 Übers. Käsemann, HNT 8a, 80. 87 Lagrange, EtB, 70 (ad Röm 3,15–17): „Ces reproches s’adressent certainement aux­ Israélites coupables“.

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ihm Frieden und Heil zu verkündigen? Denn in dieser Rolle stellt er sich später in 10,15 dar.88 Dass er mit seiner Evangeliumsbotschaft tatsächlich nicht unbedingt Frieden bringt, sondern oft genug als „Unruhestifter“ wirkt, erklärt vielleicht, warum er in 10,15b das Motiv der Friedensverkündigung von Jes 52,7 übergeht. Schon im Lasterkatalog von 1,29 f war von Mord und Streit, von Ohrenbläsern und Verleumdern die Rede. Wenn sich Paulus im Abschluss der großen Gerichtsrede in Röm 3 auf allgemeine Wortsünden und ihre gewalttätigen Konsequenzen konzentriert, ist das auch dadurch bedingt, dass er sich unmittelbar vorher in 3,1–8 mit sehr konkreten Verleumdungen, mit „lästerlicher“ anti­paulinischer Polemik auseinandersetzt (vgl. βλασφημεῖν/blasphēmeín in 3,8). Seine Gegner unterstellen ihm, dazu aufzufordern, das Böse zu tun, damit das Gute käme (3,8), und den heilsgeschichtlichen Vorrang Israels89 zu leugnen (3,1 f).90 In Palästina gab es viele Menschen, die solch einer antipaulinischen Polemik zustimmen würden. Paulus lässt schon hier durchblicken: Solche Wortsünden können gewalttätige Konsequenzen haben. Deshalb kann man fragen: Formuliert Paulus in 3,10–18 nur „sein Erschrecken vor den Abgründen der Menschheit, für die ihm erst das Kreuz Jesu die Augen geöffnet hat“ (Theobald)?91 Ist dieses Erschrecken auch ein Widerhall der Bedrohung durch seine Verleumder und Gegner, die Paulus angesichts seiner bevorstehenden Reise nach Jerusalem bewusst vor Augen steht? Oder muss man noch weiter ausholen? Wenn Paulus hier alle Menschen, insbesondere aber die Juden, wegen ihrer Neigung zur Gewalt anklagt – muss er sich darin nicht auch selbst einschließen, er, der vor seiner Bekehrung zu den gewaltbereiten Verfolgern der christlichen Gemeinde gehört hat? So weit hat Paulus explizit nur die allgemeine Gewalttätigkeit der Menschen im Blick. Nur Anspielungen verraten, dass er dabei vielleicht bereits an konkrete Gefährdungen denkt. In Röm 6–8 kommen dagegen am Ende des Abschnitts Gedanken über eine spezielle Gefährdung der Christen zur Sprache. Bereits die Einleitung dieses Teils bereitet darauf vor. Röm 6–8 beginnt nämlich mit der­ 88 In Jes 52,7 wird Zion die baldige Ankunft des Freudenboten, der gute Botschaft bringt, angekündigt. Im Unterschied zum Singular im Alten Testament schreibt Paulus von Freudenboten (im Plural!) und hat die urchristlichen Verkündiger des Evangeliums im Blick (Haacker, ThHK 6, 214). Als solchen sieht er sich selbst: Er gehört zu den Freudenboten, die Jerusalem eine frohe Botschaft bringen. 89 Schlier, HThK 6, 91 f. 90 Die von außen an Paulus gestellte Frage kann und wird auch eine innere Frage des ­Paulus gewesen sein, wie Röm 9–11 deutlich wird. Diese beiden Möglichkeiten schließen einander nicht aus. 91 Theobald, SKK.NT 6/1, 90 (Hervorhebung P. v. G.) Theobald betont im Blick auf 3,10–18: „[…] kein pessimistisches Naturell, wie es Kohelet vielleicht zu eigen war, hat ihn [sc. Paulus] 3,10–18 gestalten lassen“. Wenn Theobald hier eine durch die Kreuzestheologie ermöglichte Erkenntnis des Paulus sieht, so widerspricht das nicht unserer Deutung, die auf die Lebenserfahrung des Paulus zurückgreift. Denn Paulus deutete sein Leben im Zeichen des Kreuzes.

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Deutung der Taufe als einer Taufe in den Tod Jesu Christi (6,1–11). Ist es ein Zufall, dass wir diese Interpretation der Taufe in keinem der anderen Paulusbriefe,92 sondern gerade hier im Römerbrief finden? In den Evangelien wird der Märtyrertod mit dem Bild der „Taufe“ bezeichnet. In Mk 10,38 antwortet Jesus den Söhnen des Zebedäus, die in seiner Herrlichkeit zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen wollen: „Könnt ihr den Becher trinken, den ich trinke, oder mit der Taufe getauft werden, mit der ich getauft werde?“ Und er weissagt ihnen das Martyrium: „Den Becher, den ich trinke, werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, werdet ihr getauft werden“ (Mk 10,39).93 Paulus hat durch seine Taufe (Apg 9,18) den Tod, von dem er in Röm 6 schreibt, schon hinter sich. Werden ihm vor seinem Aufbruch nach Jerusalem diese Todeserfahrung und die enge Verbundenheit mit dem Märtyrertod Christi durch die Taufe besonders wichtig?94 Den mit Röm 6 eröffneten Teil schließt Paulus mit einem volltönenden hymnischen Text (8,31–39):95 „Was sollen wir nun dazu sagen? Wenn Gott für uns ist, wer [kann] wider uns sein?“ Die rhetorische Frage zielt klar auf ein: „Niemand!“ – die „Auserwählten“, die Christen, haben nichts zu fürchten! Im göttlichen Gericht im Himmel sitzt Christus als ihr Fürsprecher „zur Rechten Gottes“ (8,34). In 8,35 f wendet Paulus dann seinen Blick vom Himmel auf die Erde und fragt u. a. im Blick auf Verfolgungen: „Wer kann uns trennen von der Liebe Christi?“ Auch diese Frage ist rhetorisch und zielt wieder auf ein: „Niemand!“ Paulus zählt nun eine Reihe von Leiden auf, die es nicht vermögen, die Christen von der Liebe Christi zu trennen: Hier folgt nun – mitten in einem hymnisch anmutenden Text – ein Peristasenkatalog, d. h. eine katalogartige Aufzählung von Leiden und Verfolgungen, von denen er fast wie von personifizierten Mächten spricht:96 92 Von der Taufe ist jedoch in den Paulusbriefen neben dem Römerbrief nur im 1. Korintherbrief und im Galaterbrief die Rede. 93 Das Bild der Todestaufe in Mk 10,38 f beruht offenbar auf einer „sehr frühen christlichen Vorstellung“, so Schmithals, Markus, 467, mit Braumann, Leidenskelch, 183, und ders., Taufverkündigung. Sowohl in Röm 6,3–11 als auch in Mk 10,38 f ist das Sterben mit Christus im Blick (vgl. Lk 12,50), das „sich leicht auf das äußere Leidensgeschick übertragen“ lässt (Schmithals, Markus, 467). Vom Märtyrertod des Jakobus lesen wir explizit in Apg 12,2; der seines Bruders Johannes lässt sich aus Mk 10,38 f erschließen, wenn es sich um ein vaticinium ex eventu handelt (so Klostermann, Markusevangelium, 107). 94 Als weitere Punkte könnte man im Hinblick auf den Römerbrief noch anführen: Der­ Gedanke, dass die Sünde durch das Gesetz tötet (7,5.7–13), ist einerseits Erinnerung an die vorchristliche Zeit des Paulus, andererseits beschwört es die ihm drohende Gefahr: Er ist in Todesgefahr, weil er von Menschen bedroht ist, die das Gesetz zur Rechtfertigung ihrer Aggression gegen ihn benutzen. Die Spaltung des Gesetzes in ein Gesetz des Todes und des Lebens (8,2) wird auf dem Hintergrund der Todeserwartung des Paulus (durch gesetzesstrenge Kreise) verständlicher; ebenso, dass alles Trachten des Fleisches „Tod“ ist (8,6). 95 Zeller, RNT 6, 165, spricht von „einer volltönenden Coda“. 96 Die Personifikation von Peristasen ist in der Diatribe geläufig, vgl. Ebner, Leidenslisten, 368 Anm. 16 und allgemein: Bultmann, Diatribe, 12.

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Wer kann uns trennen von der Liebe Christi? Bedrängnis, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: Deinetwegen werden wir getötet den ganzen Tag, wie Schlachtschafe wurden wir gewertet (Ps 44,23).97

Vergleichen wir diesen Peristasenkatalog des Paulus mit den anderen in seinen Briefen, so fällt das letzte Glied von 8,35 auf: „Schwert“ (μάχαιρα/máchaira) ist der einzige Begriff, der neu hinzugekommen ist. Er fehlt in allen anderen paulinischen Peristasenkatalogen.98 Die Aufzählung weist zudem eine Steigerung auf, die mit diesem Begriff ihre Klimax erreicht: Paulus geht von allgemeineren großräumig gedachten Notständen wie Trübsal, Angst und Verfolgung „zu den hautnahen Peristasen“, Hunger und Nacktheit, über, thematisiert sodann mit „Gefahr“ die drohende Lebensgefahr und deutet am Ende „darauf hin, dass mit μάχαιρα das Äußerste vor Augen steht: der Tod“.99 Die Peristasen erreichen ihren Höhepunkt also im Schwert, d. h. im gewaltsamen Tod.100 Zwar spricht Paulus in 8,31–35 in der ersten Person Plural, er redet also von den Christen allgemein,101 das schließt aber nicht aus, dass ihm beim Schreiben auch seine eigene Gefährdung im Hinblick auf Jerusalem bewusst gewesen sein dürfte. Vor allem, wenn wir bedenken, dass die (profanen) Peristasenkataloge der Diatribe102 die Funktion haben, den Menschen den Tod vor Augen zu halten und sie zur praemeditatio mortis anzuregen.103 Das dürfte auch für 8,35 gelten.104 Nun begegnen in 8,35 sieben Peristasen und der Begriff „Schwert“ (μάχαιρα/máchaira), der, wie bereits angeführt, in den anderen paulinischen Lasterkatalogen fehlt. Die Sie 97 Übers. Zeller, RNT 6, 149. 98 Die folgende Deutung des Peristasenkatalogs schließt sich an Ebner, Leidenslisten, 371, an. 99 Jeweils Ebner, Leidenslisten, 371. 100 In den Katalogen der Diatribe und des Alten Testaments begegnet der Terminus „Schwert“ als Metonymie: Das Konkretum „Schwert“ steht für den gewaltsamen Tod, wobei die Kataloge der Diatriben an die Strafen einer übergeordneten Instanz (eines Tyrannen oder Kaisers) denken, die alttestamentlichen Kataloge dagegen v. a. an den Tod durch Feinde (Ebner, ebd., 371 f mit Anm. 29). Zu μάχαιρα/máchaira als „prägnante Bezeichnung“ der Hinrichtung vgl. Michaelis, Art. μάχαιρα, 531, Z. 15 f. 101 Bis auf 2Kor 11,27 sind die Peristasen – anders als in 8,35 – in den anderen paulinischen Peristasenkatalogen immer im Plural. Aus dieser Beobachtung wie auch aus dem Umstand, dass Paulus in 8,35 anders als sonst die Peristasen nicht mit „in“ (ἐν/en), sondern als Alternativen mit „oder“ (ἤ/ē´) verknüpft, schließt Ebner, Leidenslisten, 372, dass Paulus „dem Peristasenkatalog Röm 8,35 den biographischen Bezug […] nehmen und seine Motive […] generalisieren“ will. 102 Die Peristasenkataloge der Diatribe sind meist auf den Tod ausgerichtet. Entweder steht das Sterben am Beginn der Liste (Epikt. I 4,24; 11,33; II 1,35 f; 19,18) oder – wie in Röm 8,35 – am Ende der Liste (Sen. epist. X 82,10; M. Aur. VI 2), bisweilen aber sogar am Anfang und Ende der Liste (Epikt. I 1,21–25). 103 S. Vollenweider bestimmt die Prämeditation als Sitz im Leben der stoischen Peristasenkataloge (Vollenweider, Freiheit, 51 mit Anm. 112; vgl. weiter ebd., 51–53). 104 Ebner, Leidenslisten, 373.

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benzahl tritt im Alten Testament und in frühjüdischen, besonders in weisheitlichen Schriften bezeichnenderweise in Straflisten auf: Siebenfach bzw. mit sieben Strafen bestraft dort Gott die Gottlosen, während die Gerechten verschont bleiben.105 In diesem Kontext spielt die weisheitliche Sentenz eine große Rolle, die besagt, dass Gott denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt.106 Da Paulus im direkt vorangehenden Abschnitt diese Sentenz zitiert (8,28), liegt es nahe anzunehmen, dass Paulus sich hier auch mit der Vorstellung auseinandersetzt, die Peristasen seien gerechte Strafen für den Gottlosen.107 In 8,36 deutet Paulus den im Tod (wörtlich: „Schwert“) gipfelnden Peristasenkatalog ferner durch ein Zitat aus Ps 43,23LXX: „Deinetwegen werden wir getötet den ganzen Tag, wie Schlachtschafe wurden wir gewertet“.108 In den Makkabäerbüchern sind es die Märtyrer, die um der Gebote JHWHs willen getötet werden (2Makk 7,9). In der rabbinischen Literatur wird der hier von Paulus zitierte Ps 43,23 immer wieder auf den Tod von Märtyrern bezogen.109 Paulus weist also die weisheitliche Vorstellung, dass Gott die Gerechten verschont, durch Rekurs auf die apokalyptische Tradition zurück, die um den gewaltsamen Tod gerade der Gerechten weiß.110 Wird im Alten Testament und der jüdischen Literatur das „deinetwegen werden wir getötet“ auf JHWH bezogen, so wird es bei Paulus auf Jesus Christus bezogen: Um Christi willen kommen die Peristasen über die Christen und über Paulus. Möglicherweise denkt Paulus dabei an Gewalt- und Verfolgungserfahrungen von Christen bei ihrer Vertreibung aus Rom unter Claudius.111 Sicher aber hat ­Paulus bei der Aufzählung der Peristasen die Widrigkeiten im Blick, die er selbst als Christ erfahren hat.112 In Röm 8 liegen die dort genannten Peristasen in der Zukunft und werden gesteigert bis zum gewaltsamen Tod. Steht dahinter auch eine dunkle Befürchtung des Apostels im Hinblick auf seine Reise nach Jerusalem? 8,35 f spricht explizit zwar nur von der Gefährdung der Christen im Allgemeinen, es liegt aber nahe, dass Paulus auch an seine eigene Gefährdung denkt. Oder zeigt Paulus hier prophetische Fähigkeiten auch im Blick auf die römische Gemeinde? Diese wurde ca. sieben Jahre nach der Entstehung des Römerbriefs von Nero blutig verfolgt. Christen wurden als vermeintliche Brandstifter gekreuzigt und verbrannt. Wenn Paulus vom „Schwert“ spricht, könnte er an eine edlere Hinrichtungsart denken, die für römische Bürger reserviert war: die H ­ inrichtung durch 105 Vgl. ebd., 383 und 384 mit Anm. 97. 106 Ebd., 384 mit Anm. 94; Ps 145,20 („alle, die ihn lieben, behütet der Herr“); TestBen 4,5 („Dem, der Gott liebt, gibt er Hilfe“). 107 Ebd., 385. 108 Übers. Zeller, RNT 6, 149. 109 Bill. III, 259 f. 110 Lohse, KEK 4, 241. 111 So erwägend Barrett, BNTC 162. 112 1Kor 4,10–13; 2Kor 4,8–12; 6,4–10; 11,23–27, vgl. Barrett, ebd.; Wilckens, EKK 6/2, 175 mit Anm. 766.

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­ nthauptung. Aber darum geht es hier nicht, denn: Bedroht sind alle Christen, E nicht nur der römische Bürger Paulus. Etwas konkreter, jedoch noch immer indirekt spricht Paulus im Israelteil in Röm 9–11 über seine Gefährdung, indem er sich mit Elia vergleicht. Paulus ist in diesem Teil von dem Problem umgetrieben, dass sich die Juden mehrheitlich nicht dem Evangelium von Gottes Sohn (1,3) geöffnet haben. Er beantwortet jetzt die Frage nach den Verheißungen Gottes, die er in 3,1–3 angesprochen, aber bislang unbeantwortet gelassen hat.113 Unmittelbar nachdem Paulus in 8,35 f die Gefährdung aller Christen durch den Tod beschworen hat, schreibt er in der Einleitung des Israelteils von der großen Trauer und dem unaufhörlichen Schmerz, der sein Herz angesichts der Distanz der Mehrheit der Juden gegenüber dem Evangelium erfüllt (9,2).114 Er spricht dabei in hypothetischer Weise von seinem eigenen Tod: „Ich selber wünschte, verflucht (ἀνάθεμα/anáthema) und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch …“.115 Der Wunsch116 ist im Irrealis formuliert, ist also unerfüllbar,117 und doch macht Paulus durch seine Äußerung in 9,3 deutlich, dass er bereit wäre, für Israel zu sterben, wenn das etwas Positives bewirken könnte. Sein Vorbild für diese Bereitschaft zur Lebenshingabe für das Volk ist wohl Mose, der nach dem Abfall des Volkes zum Goldenen Kalb bittet: „Ach, dieses Volk hat eine große Sünde begangen. Götter aus Gold haben sie sich gemacht. Doch jetzt nimm ihre Sünde von ihnen! Wenn nicht, dann streich mich aus dem Buch, das du angelegt hast!“ (Ex 32,31 f).118 Die Vorstellung der Lebenshingabe für die Sünder bzw. das sündige Volk finden wir auch im Zusammenhang mit dem Gottesknecht in Deuterojesaja (Jes 53,4–6)119 und dem Sterben der makkabäischen Märtyrer (4Makk 17,21 f),120 113 Er setzt sich mit dem Vorwurf der Feindschaft gegen die Juden und damit gegen das eigene Volk auseinander (vgl. Apg 28,17; Haacker, ThHK 6, 180). 114 Die Distanz der Mehrheit der Juden gegenüber dem Evangelium von Jesus Christus wird in 9,2 nicht explizit erwähnt  – offensichtlich wird diese Tatsache als bekannt vorausgesetzt (Haacker, ebd., 181). 115 9,3, Übers. Theissen, Auseinandersetzung, 312. 116 Oder die Bitte; εὔχομαι/eúchomai kann sowohl „wünschen“ als auch „beten“ bedeuten. Das Verständnis im Sinn von „wünschen“ ist häufiger (BDR § 359,5) und nach Barrett, BNTC 165 für 9,3 vorzuziehen. 117 Ebd.: „The grammatical construction of the sentence shows that Paul recognizes that his wish is scarcely capable of fulfillment. The verb is in the imperfect, the so-called desiderative imperfect […]“. 118 Gott hat jedoch diese Bitte des Mose abgelehnt (Ex 32,33). 119 Dunn, WBC 38B, 865 f. Die Vermutung, dass Paulus sich in der Rolle des Gottesknechtes gesehen haben könnte, wird jedoch von vielen bestritten (Schlier, HThK 6, 433; Zeller, RNT 6, 239). 120 Vgl. auch 2Makk 7,30–38; 4Makk 6,27–29. Die Datierung des 4Makk ist jedoch unsicher. Zur Lebenshingabe vgl. auch AssMos 9,6 f; 10,1: Durch das Lebensopfer des „Taxo“ und seiner Söhne wird der Zorn Gottes von Israel weg auf die Feinde verlagert. Dann wird Gottes Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, vgl. weiter Jos. Bell. 5,419. In der rabbinischen

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ja sogar im Hinblick auf Jesu Tod im Römerbrief (3,25; 5,8; 8,32).121 Die Vorstellung der Lebenshingabe für das Volk war also vorgeprägt – Paulus greift sie in diesem emotional für ihn so ungemein wichtigen Abschnitt auf,122 in dem es um seine Beziehung zu seinem Volk geht. Es ist nicht auszuschließen, dass er hiermit seiner Bereitschaft zum Martyrium, ja sogar dem Verlust seines eigenen Heils zugunsten seines Volkes Ausdruck verliehen hat.123 Die Distanz der großen Mehrheit der Juden zum Evangelium lässt Paulus in 11,1 fragen: „Hat Gott sein Volk etwa verstoßen?“124 Und er antwortet auf diese rhetorische Frage mit einer Verneinung: „Das sei ferne!“ und verweist dabei überraschenderweise125 auf sich: „Denn auch ich selbst bin ein Israelit, aus dem Samen Abrahams, aus dem Stamm Benjamins!“ Da er selbst nicht verstoßen ist, ist seine Person ein lebendiger Beweis für Gottes Heilswillen.126 Folglich gilt: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erkannt hat“ (11,2a).127 Nach der zweimaligen verneinende Antwort auf die Frage (in 11,1b und 2a), ob Gott sein Volk verstoßen habe, „könnte man vermuten, dass der Gedankengang nun abgeschlosLiteratur gibt es die feste Formel: „Ich will eine Sühne sein für“, vgl. Bill. II, 280.282; Bill. III, 261. Im römischen Kontext gibt es mit den Deciern eine partielle Analogie: Ihre bewusste Lebenshingabe in der Schlacht wurde als kultischer Akt („devotio“) zelebriert (Sen. epist. VII 67,9:­ Seneca spielt dort auf Liv. VIII 6,9–10 und 10,28 an; vgl. ferner Cic. fin. 2,61; Tusc. 1,89). Der römische Feldherr bietet sich den Göttern als Opfer an. Fällt er im Kampf von feindlicher Hand, so haben die Götter sein Opfer angenommen und sind ihrerseits verpflichtet, den Feind zu vernichten. Das Denkmodell konnte auch auf andere, nichtmilitärische Kontexte übertragen werden (vgl. Eisenhut, Art. Devotio, 1501; Haacker, ThHK 6, 182). 121 Haacker, ebd., 181 verweist auf die Ähnlichkeit zwischen dem ἀνάθεμαι εἶναι […] ὑπέρ/anáthema eínai […] hypér) in 9,3 (in Bezug auf Paulus) und der Formulierung γενόμενος ὑπὲρ ἡμῶν κατάρα/genómenos hypér hēmō´n katára in Gal 3,13 (in Bezug auf Christus). Dass Paulus Jesus als Modell hatte, bedeutet nicht, dass er sich als Heilsmittler mit Jesus vergleicht, wie Windisch, Paulus, 32 nahe legt, oder gar dass er Jesus überbieten will, der zwar gestorben ist, sich aber selbst nicht von seinem Volk getrennt hat (mit Haacker, ThHK 6, 182). Da ­Paulus unmöglich die Rolle des Erlösers übernehmen kann, ist sein Wunsch irreal (Theissen, Auseinandersetzung, 312). 122 Vgl. Käsemann, HNT 8a, 248: „Selbst 1,9–15 und 15,14–33 sind nicht derart gefühlsbetont“ wie Röm 9–11. Theissen, Auseinandersetzung, 311 f mit Anm. 3, spricht von einer hohen Ichbeteiligung, in der Röm 9–11 geschrieben sei. 123 Vgl. Haacker, ThHK 6, 182: „Historisch ist nicht auszuschließen, dass Paulus mit seiner letzte Reise nach Jerusalem ein dortiges Martyrium bewußt in Kauf genommen, wenn nicht geradezu gesucht hat (trotz Röm 15,31a; vgl. Apg 20,23; 21,11–14)“. 124 Paulus lehnt sich in der Formulierung in 11,1.2 an Ps 93,14LXX, ein Klagegebet des Ein­ zelnen, an. Paulus ändert jedoch die Bekenntnisaussage im Futur („Gott wird sein Volk nicht verstoßen [ἀπώσεται/apō´setai]“) in eine im Aorist gehaltene Frage: „Hat Gott sein Volk etwa verstoßen (ἀπώσατο/apō´sato)“ (11,1)? bzw. in die Aussage: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen (ἀπώσατο/apō´sato)“ (11,2). 125 Vgl. Lindemann, Israel, 181. 126 Zu 11,1b als Beweis der These vgl. Käsemann, HNT 8a, 289; Lohse, KEK 4, 305; Öhler, Elia, 255, anders: Zeller, Juden, 127; ders., RNT 6, 191. 127 Vgl. dazu Lindemann, Paulus und Elia, 205.

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sen“128 und die Eingangsfrage widerlegt sei. Doch Paulus setzt in 11,2b neu an und untermauert seine Argumentation mit einem Rekurs auf die Schrift. Er verweist auf die Eliaerzählung, was insofern auffällt, als 11,3 f der einzige Text bei Paulus ist, „in dem eine Geschichtsüberlieferung aufgenommen wird, die zeitlich nach der Väter- und Exodusüberlieferung liegt“.129 „Wisst ihr nicht“, schreibt Paulus, „was die Schrift (im Abschnitt über) Elija sagt, wie er vor Gott Klage führt gegen Israel: ‚Herr, Deine Propheten haben sie getötet, Deine Altäre zertrümmert, und ich bin hier allein übrig geblieben, und sie trachten mir nach dem Leben‘“.130 Doch der auf diese Klage antwortende Gottesspruch stellt klar: „Ich habe mir 7000 Mann übriggelassen, die nicht vor Baal das Knie gebeugt haben“.131 ­Paulus folgert ­daraus: „So ist auch in der Gegenwart ein Rest nach der Gnadenwahl geblieben“.132 In 11,5 zieht Paulus explizit eine Parallele zur Gegenwart. In 11,1c hatte er bei der Frage, ob Gott sein Volk verstoßen habe, auf sich allein als „Gegenargument“ verwiesen. In 11,3 klagt Elia, dass „er allein“ übrig geblieben sei. Das legt nahe, dass Paulus sich hier in Elia wiederfindet133 und erklärt vielleicht, warum Paulus den Verweis auf Elia hier anführt. Die Ausgangsfrage (11,1) wurde bereits vorher schon zweimal widerlegt. Die Elia-Typologie wäre nicht nötig gewesen, um auf die Judenchristen als eschatologischen Rest hinzuweisen. Ein einfacher Hinweis auf diesen Rest hätte genügt. Dass Paulus hier dennoch auf Elia eingeht, dürfte mit der „Lage des Apostels“ zu tun haben: „Seine Situation ist der Elias vergleichbar“.134 Paulus rekurriert auf Elia also „nicht nur zu argumentativen Zwecken, sondern […] zur Selbstreflexion“.135 Worin sind Elia und Paulus vergleichbar? Drei typologische Entsprechungen lassen sich ausmachen:136 128 Ebd., 206. 129 Koch, Schrift, 306. 130 Übers. Wilckens, EKK 6/2, 234. 131 11,4b. Paulus ändert hier das „ich will übrig lassen“ in 1Kön 19,18 des MT bzw. das καὶ καταλείψεις der LXX (L liest καταλείψω/kataleípsō) in κατέλιπον ἐμαυτῷ/katélipon emautō´i („ich habe mir übrig gelassen“). Siehe dazu unten. 132 11,5, Übers. Zeller, RNT 6, 190. 133 Vgl. Lindemann, Paulus und Elia, 207: „Paulus [sieht] sich hier selber in Analogie zu Elia“. Anders Müller, Gerechtigkeit, 45, der die Ansicht vertritt, Paulus stehe in 11,2 f die eschatologische Gestalt des Elia redivivus vor Augen, der als Garant für die Wiederherstellung des Gottesvolkes fungiert. Kritisch dazu: Steck, Israel, 278 Anm. 2: „die betonte Hervorhebung der Prophetentötung und die Entsprechung des Paulusgeschicks zu dem Elias läuft jedenfalls nicht über den endzeitlichen Elia“. 134 So Käsemann, HNT 8a, 291. 135 So Starnitzke, Struktur, 342. 136 Das Folgende v. a. in Anlehnung an Theissen, Gesetz und Ich, 299 f; ders., Auseinandersetzung, 319 f. Bisweilen wird bestritten, dass in Röm 11 eine Typologie vorliegt. Luz, Geschichtsverständnis, 81, meint z. B., dass die „charakteristische Überhöhung oder Antithetik“ hier fehle. Das träfe nur zu, wenn letztere konstitutive Merkmale der Typologie wären. In der Typologiedefinition von K.-H. Ostmeyer fehlen sie jedoch: Ostmeyer, Art. Typologie, 677 f; ders., Taufe.

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(1) Elias Leben ist bedroht und er ist in Todesangst (1Kön 19,1.3). Er klagt Israel vor Gott an:137 „Deine Altäre haben sie zerstört und deine Propheten getötet mit dem Schwert“ (1Kön 19,10).138 Paulus übernimmt in 11,3 die Anklage des Elia, stellt jedoch die Textfolge um und beginnt mit der Klage: „Deine Propheten haben sie getötet“, um danach die Zerstörung der Altäre folgen zu lassen. Offensichtlich nennt er139 das drängendere Problem zuerst: die Tötung der Propheten.140 Dass diese „mit dem Schwert“ getötet wurden, erwähnt Paulus nicht. Übergeht er das, weil die jüdische Todesstrafe die Steinigung war? Oder weil in Jerusalem Propheten immer wieder in verschiedener Weise getötet worden sind?141 Will er 137 Ἐντυγχάνειν τινὶ κατὰ τινος/entynchánein tiní katá tinos meint: „jemanden gegen einen Dritten anrufen“ (vgl. Bauer/Aland, Wörterbuch, 545), „gegen jemanden vorstellig werden“ und bedeutet hier folglich: „bei Gott anklagen“ (Schlier, HThK 6, 323; vgl. Öhler, Elia, 255: „Beschwerde bei Gott über Israel“). In ShirR 1,6 wird Elia wegen seiner Anklage Israels vor Gott kritisiert, vgl. auch Oswald, Art. Elia, 503 Z. 14–16. Öhler, Elia, 256, sieht in Elias Anklage­ Israels ein Argument gegen die typologische Entsprechung Elia – Paulus: Während Elia Israel anklage, trete Paulus für Israel auf. Dagegen kann man einwenden: Ist für Paulus eine ambivalente Haltung nicht naheliegender? Einerseits tritt er für Israel ein, andererseits unterstellt man ihm scharfe Kritik an Israel. Einerseits fürchtet er sich und aktiviert in diesem Zusammenhang die Prophetenmordtradition, andererseits hofft er auf das Heil Israels. Letzteres würde auch seine bedrohte Situation „entschärfen“ (vgl. Theissen, Auseinandersetzung, 238: „Wenn Paulus wegen seiner vielen Feinde in Judäa Angst um sein Leben hat, dann schwindet die Angst, wenn deren Feindschaft nicht das letzte Wort hat“). 138 Übers. Theissen, ebd., 319, vgl. auch 1Kön 19,14. 1Kön 19,10 und 19,14 sind im MT identisch, im LXX-Text wird in 1Kön 19,14 καθεῖλαν/katheílan statt κατέσκαψαν/katéskapsan wie in 1Kön 19,10 verwendet, vgl. Koch, Schrift, 74 Anm. 82. Die Untersuchung von Ph. Hugo zu den Elia-Erzählungen hat ergeben, dass im Allgemeinen die hebräische Vorlage der LXX als älter einzustufen ist als der proto-masoretische Text, der vom MT bezeugt wird (Hugo, Visages, 324). 139 Die Umstellung und die Auslassung „mit dem Schwert“ geht auf Paulus zurück, vgl. Stanley, Significance, 48. Paulus scheint sich aber, so das Ergebnis der Untersuchung von Stanley, ebd., 52 f, auf eine ältere griechische Version bezogen zu haben als die, die uns heute aufgrund von Handschriften zugänglich ist. 140 Vgl. Käsemann, HNT 8a, 290: „Der Prophetenmord wird […] um der über dem Apostel hängenden Gefahr willen vorangestellt“. Der selbstkritische Vorwurf, dass das ungläubige Israel die „Propheten getötet“ habe, wurzelt in der jüdischen Tradition. Er begegnet schon in Q (Lk 11,49–51; 13,34 f), bei Mk (Mk 12,1–9), in der Apg (Apg 7,52) und ist auch Paulus vertraut (1Thess 2,15). 141 Vgl. Lk 13,34 („Jerusalem, Jerusalem du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind“); 2Chr 24,21 (Steinigung des Secharja ben Jojada); VitProph II,1, ParJer 9,21 und Tertullian, Scorpiace 8 (Steinigung des Jeremia); im Neuen Testament vgl. noch Apg 7,58 f; Mt 21,35. F. Bovon sieht eine Verbindung zwischen dem Paar „Propheten“ – „Boten“ in Lk 13,34a und dem Paar „Propheten“ – „Apostel“ in Lk 11,49: Erstere seien die Propheten des alten Bundes, letztere die Zeugen des neuen Bundes; gemeint sind nicht nur die Apostel (Bovon, L’Evangile, 403). In der Prophetenmordtradition muss nicht expliziert werden, wie die Propheten getötet werden (vgl. Neh 9,26: nur getötet). Im Alten Testament werden jedoch, wenn auch sehr selten, Prophetentötungen durch das Schwert erwähnt, vgl. Jer 2,30b (Propheten werden durch das Schwert aufgefressen) und Jer 26,23 (Uria ben Schemaja wird durch das Schwert getötet). Hebr 11,37 zählt auf: „gesteinigt, zersägt, durchs Schwert getötet“; vgl. Schoeps, Prophetenmorde, 21.

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Raum für Assoziationen an unterschiedliche Todesarten schaffen?142 Die Zerstörung der Altäre Gottes, die Paulus – anders als Elia – erst an zweiter Stelle nennt, könnte die Zerstörung christlicher Gemeinden und ihres Gottesdienstes meinen.143 Das muss aber unsicher bleiben.144 Die Bitte des Paulus am Ende des Römerbriefs, für ihn zu beten, damit er von den Ungläubigen in Judäa errettet werde (Röm 15,30 f), macht auf jeden Fall deutlich, dass Paulus sein Leben als bedroht empfindet. Er ist wie einstmals Elia gefährdet und in Furcht angesichts der Bedrohung seines Lebens. (2) Paulus übernimmt – trotz abweichenden Wortlautes – ohne Abstriche den Inhalt der Klage Elias, er allein sei „übriggeblieben“ und man trachte ihm nach dem Leben.145 Dem entspricht, dass Paulus in 11,1bc ganz auf seine Person fokussiert argumentiert: Die Frage, ob Gott etwa sein Volk verstoßen habe, pariert er, indem er auf sich, den Israeliten, aus dem Samen Abrahams vom Stamm Benjamin verweist.146 Andere Judenchristen nennt er nicht, obwohl die Erwähnung eine größere Anzahl von Judenchristen seiner Argumentation in 11,1 eine höhere Durchschlagskraft gegeben hätte.147 Deshalb liegt es nahe, dass sich die „egozentrische Argumentation des Paulus“148 durch das Modell „Elia“ erklären lässt, welcher der Überzeugung war, allein „übriggeblieben“ zu sein.149 Noch eine dritte Entsprechung können wir ausmachen: (3) Gott reagiert auf Elias Klage, er allein sei übrig geblieben, im masoretischen Text mit der Offenbarung: „Und ich werde in Israel 7000 übrig lassen, alle Knie, die sich nicht gebeugt haben vor Baal“ (1Kön 19,18). Im Text der Septuaginta heißt 142 Lindemann, Paulus und Elia, 207 fragt z. B., ob Paulus bei der „Tötung der Propheten“ etwa „an die Kreuzigung Jesu oder an Ereignisse wie die Steinigung des Stephanus“ dachte. 143 So die Erwägung von Theissen, Auseinandersetzung, 319. 144 Koch, Schrift, 74 Anm. 83 meint, der Vorwurf der „Zerstörung der Altäre“ sei „längst inaktuell“ geworden. Aber warum hat Paulus ihn dann nicht ausgelassen, wie er die Einleitung unseres Abschnittes ausgelassen hat? 145 Lindemann, Paulus und Elia, 207 mit Anm. 33; Koch, Schrift, 77; vgl. die Übersicht bei Stanley, Significance, 47. 146 Wenn Paulus in 11,1b schreibt, dass er ein Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamm Benjamins ist, so kann auch hier eine Entsprechung zu Elia gesehen werden. Denn nach rabbinischen Texten gehörte Elia zum Stamm Benjamin (vgl. Bill. IV/1, 784). Ob Paulus die Tradition der benjaminitischen Herkunft Elias kannte und darauf Bezug nahm, muss jedoch offen bleiben (vgl. Haacker, ThHK 6, 221 f.). 147 Überzeugender wäre in 11,1 ein Verweis auf die vielen Judenchristen gewesen, anstatt nur auf die eine Person des Apostels zu verweisen. Schon in 9,27–29 hatte Paulus von den Juden­ christen als Rest gesprochen, der gerettet wird; vgl. Theissen, Auseinandersetzung, 320 Anm. 17. 148 Starnitzke, Struktur, 340, spricht im Blick auf 11,1b.c von einer „ausgesprochen selbstzentrierte[n] […] egozentrische[n] […] Argumentation“ des Paulus. 149 Theissen, Auseinandersetzung, 335, nennt noch einen weiteren Grund für die Konzentration auf die Person des Paulus in 11,1: Da sich (allein) der Judenchrist Paulus vom Verfolger zum Missionar bekehrt hat, könnte er an seiner Person zeigen, „dass Juden, die als ungehorsames und widerspenstiges Volk (10,21) die Botschaft abgelehnt hatten, nicht endgültig verstoßen sind“.

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es nicht „ich“ (Gott), sondern „Du wirst (sollst) in Israel 7000 übrig lassen …“.150 Im hebräischen und griechischen Text liegt das Verheißene noch in der Zukunft. Paulus übernimmt die Klage Elias, er allein sei übrig geblieben (11,3), und leitet sie mit der Anrede „Herr“ (κύριε)151 ein. Die Antwort Gottes152 an Elia erscheint bei Paulus jedoch in der Vergangenheitsform: „Ich habe mir 7000 Mann übrig­ gelassen, die nicht vor Baal das Knie gebeugt haben“.153 Dem Römerbrief zufolge hat Gott also bereits Tatsachen geschaffen: Die Siebentausend, die „ihre Knie nicht gebeugt haben vor Baal“, existieren schon in der Gegenwart.154 Aufgrund des Vorbilds des Elia kann Paulus Mut schöpfen und seine Angst reduzieren: Auch Elia meinte, ganz alleine und verloren zu sein – und doch, so offenbart ihm Gott, steht er so wenig alleine wie Paulus: Es gibt viele Menschen, die auf seiner Seite stehen (11,4). Nur Gott weiß von ihnen. Das passt auf die Offenbarung, die­ Paulus nach 11,25 zuteil wurde: Dort eröffnet er seinen Adressaten den Inhalt der Offenbarung: Das Geheimnis (μυστήριον/mystē´rion), dass Gott allen und nicht nur einem Rest gnädig sein werde. Die Offenbarung dieses Geheimnisses entspricht eindeutig der Offenbarung, die Elia empfing. Gemeinsam ist beiden, dass sehr viel mehr Menschen als Elia bzw. Paulus übrig geblieben sind – dort 7000, hier ganz Israel. Gewissheit davon aber erhielten Elia und Paulus kontrafaktisch durch eine Offenbarung Gottes. Gleichwohl finden wir nur partielle typologische Entsprechungen zwischen Paulus und Elia: Den „Eifer“ Elias „für den Herrn“, von dem in 1Kön 19,10LXX die Rede ist,155 übergeht Paulus – möglicherweise, weil der vorchristliche Paulus einst selbst ein „Eiferer“ war (Gal 1,14; Phil 3,6), der Elia und Pinehas als Leitbilder hatte. War er einst stolz darauf – so erachtet er es jetzt als Schaden (Phil 3,5–11). Die Auslassung könnte darauf hinweisen, dass sich Paulus jetzt als Verfolgten sieht und nicht als „Eiferer“. Auch die Antwort Gottes an Elia bietet Paulus nicht vollständig. Im Römerbrief fehlt die Ankündigung von Strafaktionen. Ebensowenig hat Paulus die Formulierung in der zweiten Person Singular „Du wirst/sollst 7000 Männer übrig 150 Καὶ καταλείψεις/kaí kataleípseis (1Kön 19,18LXX nach BA); L liest dagegen: καταλείψω/ kataleípsō vgl. die Übersicht in: Stanley, Significance, 48. 151 Die Anrede fehlt in 1Kön 19,10.14. 152 Χρηματισμός/chrēmatismós stammt aus der Gerichts- und Verwaltungssprache. Es bezeichnet dort u. a. die amtliche Entscheidung, die auf eine Eingabe hin getroffen wird (­ Preisigke, Fachwörter, 184; Haacker, ThHK 6, 222). 153 11,4b (κατέλιπον ἐμαυτῷ/katélipon emautō´i). Statt der zweiten Person Singular der LXX („du wirst/sollst übrig lassen“) lesen wir bei Paulus (vgl. den MT; dazu Koch, Schrift, 76 mit Anm. 92) eine Formulierung in der ersten Person, die durch das „mir“ (ἐμαυτῷ/emautō´i) besonders betont ist. Damit ist Gott der Agierende und steht im Zentrum. 154 Lindemann, Paulus und Elia, 208. 155 Καὶ εἶπεν Ηλιου Ζηλῶν ἐζήλωκα τῷ κυρίῳ παντοκράτορι/kaí eípen Ēliou Zēlō´n ezē´lōka tōi kyríōi pantokrátori („Und Elia sprach: Ich habe leidenschaftlich geeifert für den Herrn, den Allherrscher“), vgl. 1Kön 19,10LXX.

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lassen“ übernommen.156 Eine Erklärung dafür könnte sein, dass durch diese Formulierung das Bild von Paulus als „Eiferer“ evoziert worden wäre. Paulus übergeht die Strafaktionen und bietet nur den heilvollen Teil  von Gottes Antwort, nämlich dass Elia schon jetzt nicht allein ist! Gott hat schon siebentausend übriggelassen,157 ja, er wird sogar noch weiter gehen – „ganz Israel“ wird letztlich gerettet werden (Röm 11,25–27). Mit dieser Rettung ganz Israels vor Augen ist Paulus zu einer hoffnungsvollen Erwartung vorgedrungen: Wie in Röm 15,30 f deutlich wird, sieht Paulus voll Risikobereitschaft, aber auch voll Angst um sein Lebenswerk und sein Leben auf seine anstehende Reise nach Jerusalem. Gerade in Palästina können ihm mit seiner beschneidungsfreien Heidenmission leidenschaftliche Gegnerschaft, ja tödlicher Fanatismus entgegenschlagen. Bei seinen theologischen Ausführungen an die römischen Christen ist – im Laufe des Briefes zunehmend deutlicher – etwas von der Bedrohungssituation des Paulus zu spüren. Er lässt sich jedoch von seiner Angst nicht mitreißen und wird auch nicht durch Panik unfähig zum Nachdenken und zur Argumentation. Ganz im Gegenteil: Er schreibt einen wohldisponierten, differenziert argumentierenden ausführlichen Brief an die Römer in dem Bewusstsein, dass seine erste Kommunikation mit ihnen auch seine letzte sein kann. Er schreibt seine theologische Rechenschaft nieder, die später sein Testament wurde. Und indem er es schreibt, setzt er sich mit den großen Themen seiner Theologie auseinander – immer auch in einem inneren Gespräch mit den Vorbehalten und Angriffen seiner Gegner. Dabei ist die Theologie für Paulus kein von ihm selbst abgehobenes theoretisches System, sondern tief in seinem Leben verwurzelt und in seinem Glauben an den verankert, den Gott auferweckt hat und der ihm vor Damaskus erschienen ist. Große Strapazen und Leiden hat er für ihn und die Verkündigung seines Evangeliums auf sich genommen. Wenn er nun angesichts der Bedrohung, die besonders in Jerusalem über ihm schwebt, seine Theologie entfaltet, setzt er sich, so unsere These, an vielen Stellen indirekt auch kognitiv mit seiner Bedrohungssituation auseinander.158 So kann schon in der Rede vom Zorn Gottes ein allgemeines Bedrohungsgefühl des Paulus mitschwingen. Wenn er vom Mitsterben mit Christus in der Taufe schreibt, kann dies von seiner tief empfundenen und nun noch tiefer verstandenen engen Verbindung zu Christus in Grenzsituationen des Lebens zeugen. Intensiv setzt sich Paulus in Röm 9–11 angesichts seiner jüdischen und judenchristlichen Gegner mit dem Geschick Israels auseinander und kommt zu dem Schluss, dass Gott wunderbarerweise zu seinem Verheißungswort steht und sein erwähltes Volk nicht verstoßen hat (11,1 f). In Röm 156 Statt der 2. Person Singular in 1Kön 19,18LXX („Du wirst/sollst übrig lassen“) bietet 11,4 „Gott“ als Subjekt: Gott hat übrig gelassen. 157 Die Zahl 7000 ist wohl nicht zufällig gewählt, da „sieben“ im Judentum eine heilige Zahl ist, vgl. Würthwein, 1Kön 17–2Kön 25, 231. 158 Vgl. die Bemerkung von Bultmann, Korinther, 28, zu 2Kor 2,4.

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11,25b–27 schreibt er von dem Mysterium, dass ganz Israel gerettet werden wird. Man kann den Römerbrief daher als einen „groß angelegte[n] Versuch des Paulus“ um eine „rational nachvollziehbare und um Verständigung bemühte“ Auseinandersetzung mit seinem Glauben159 angesichts einer angstauslösenden Situation interpretieren, einem Glauben, über den er „Rechenschaft […] zu geben“160 sucht, bevor er den als nötig erachteten Schritt in eine neue, gefährliche Etappe seines Lebens wagt. Sein Ringen mündet in Röm 11 in einen Hymnus auf Gott, dessen Entscheidungen unergründlich und dessen Wege unerforschlich sind, der Ursprung, Mitte und Ziel des Daseins ist: „Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist das All. Ihm gehört die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen“.161 Der aufmerksame Leser ist nach all dem nicht unvorbereitet, wenn Paulus die römische Gemeinde am Ende des Briefes bittet: „dass ihr mir kämpfen helft durch eure Gebete für mich bei Gott, damit ich errettet werde von den Ungläubigen in Judäa und mein Dienst, den ich für Jerusalem tue, den Heiligen willkommen sei, damit ich mit Freuden zu euch komme nach Gottes Willen und mich mit euch erquicke“ (Röm 15,30–32). Wir können als ein erstes Resultat festhalten: Paulus schreibt den Brief an die Römer im Wissen um seinen möglichen Tod. Daher kann man ihn mit Recht sein „Testament“ nennen, auch wenn der Brief gegen seinen Willen und entgegen seinen Hoffnungen zu seinem Testament geworden ist. Für Paulus selbst war er eher ein Rechenschaftsbericht. Gegenüber der römischen Gemeinde aber demonstriert er den Mut des Paulus und seine­ Bereitschaft, um des Evangeliums willen auch sein Leben zu riskieren – sei es in Jerusalem, in Rom oder in Spanien.

7.2 Die Entwicklung des Paulus Eine retrospektive Lektüre des Römerbriefs162 Im Römerbrief ist das Evangelium zugleich die öffentliche Proklamation eines Weltenherrschers (1,1–5) und ein persönliches Bekenntnis des Paulus (1,16 f). Was liegt näher als die Annahme, dass Paulus die große Weltenwende im Lichte seiner persönlichen Wende deutet? Wir vertreten im Folgenden die These, dass er in diesem Brief seine vier Heilskonzepte in der Reihenfolge durcharbeitet, in 159 Theobald, SKK.NT 6/2, 319. 160 Ebd. 161 11,36, Übers. Theobald, ebd., 317. 162 Dieses Kapitel basiert auf einem Vortrag, der 2010 in Japan und 2012 in Wien gehalten wurde (Theissen, Gesetzesfrömmigkeit). Er vertritt die These einer Korrespondenz zwischen dem Aufbau des Römerbriefs in Kapitel 1–11 und der theologischen Entwicklung des Paulus. Dazu kommt ein Vortrag vor der SBL in Wien am 26.7.2007 (ders., Letter), der zeigen will, dass Paulus im Römerbrief nacheinander mit verschiedenen Strömungen im Judentum in einen Dialog tritt.

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der sie für sein Leben wichtig geworden waren. Diese These widerspricht zwar einer verbreiteten „antipsychologischen“ Einstellung in der Exegese, hat aber konsensfähige Elemente. Konsens ist, dass Paulus in seinen jungen Jahren eine ausgesprochene Gesetzesfrömmigkeit vertrat und dass er am Schluss, als er sich auf seine Jerusalemreise vorbereitete, seine Erwählungslehre entfaltete. Anfang und Ende seiner Entwicklung stehen somit fest und entsprechen dem Aufbau des Römerbriefs.163 Dann aber liegt es nahe, dass auch die Gedanken zwischen Röm 1–3 und 9–11, also die Kapitel 4–8, Niederschlag seiner persönlichen Entwicklung sein könnten. Dafür spricht nicht zuletzt, dass der Galaterbrief als verborgenes Skript des Römerbriefs mit einem biographischen Rückblick auf Leben und Denken des Paulus beginnt. Er deckt die Zeit bis zum antiochenischen Konflikt ab. Die programmatische Formulierung der Rechtfertigungslehre in Gal 2,15–21 bildet einen Übergang: Sie knüpft an die Situation des antiochenischen Konflikts an, spricht aber in den gegenwärtigen Konflikt in Galatien hinein. Wurde Paulus vielleicht durch den biographischen Rückblick im Galaterbrief inspiriert, auch im Römerbrief seine Gedanken in einer umfassenderen biographischen Retrospektive zu entfalten? Natürlich schildert Paulus dabei seine verschiedenen Heilskonzepte im Rückblick immer in einer (Um-)Deutung, so wie er sie zur Abfassungszeit des Römerbriefs sieht. Selbstverständlich entfaltet er sie so, wie sie bei seinen Leserinnen und Lesern wirken sollen. Auch greift er in jeder seiner Heilslehren immer wieder neu auf die grundlegende Wende in seinem Leben zurück, wenn er Unheil und Heil kontrastiert. Genau das entspricht seinem Leben. Sein ganzes Leben lang hat Paulus in immer neuen Anläufen seine Wende von einem fundamentalistischen Verfolger zu einem universalistischen Prediger verarbeitet.164 Leben und Denken bilden bei ihm eine Einheit.

7.2.1 Heil aufgrund von Werken Im ersten Teil des Römerbriefs stellt Paulus ein Heilskonzept dar, das er im Rückblick als nicht realisierbar beurteilt: Heil basiert auf ethischem Handeln; gute Werke machen gerecht. Wir wissen nur wenig über diese Gesetzesfrömmigkeit seiner vorchristlichen Zeit. Paulus kam aus Tarsos in der Diaspora nach Jerusalem, um das jüdische Gesetz zu studieren. Wahrscheinlich kam er erst in­ Palästina mit dem Pharisäismus in Berührung. In Phil 3,4–6 zählt er nämlich drei Merkmale seiner vorchristlichen Existenz auf, die er mit seiner Geburt verbindet, und unterscheidet sie von Merkmalen, die er im Laufe seines Lebens er 163 Zur Gesetzesfrömmigkeit vgl. 1,18–3,20; zur Erwählungslehre vgl. 9,1–11,36. 164 Wengst, Völker, 69–100, stellt seiner Auslegung des Römerbriefs mit Recht eine Deutung der Wende des Paulus vom „Eiferer um Gott“ zum „Apostel der Völker“ voraus. Auch er sieht im Römerbrief eine Aufarbeitung dieser Wende.

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worben hat. Es entzog sich seiner Entscheidung, dass er (1) „am achten Tag beschnitten“ wurde, (2) Benjaminit „aus dem Volk Israel“ war und (3) als „Hebräer von Hebräern“ abstammte, d. h. dass seine Familie in Kontakt mit dem palästinischen Stammland stand und bewusst jüdisch lebte.165 Dann folgen drei Merkmale mit einer präpositionalen Bestimmung – „nach dem Gesetz“, „nach Eifer“, „nach der ­Gerechtigkeit“. Paulus war „nach dem Gesetz“ Pharisäer. Die Bestimmung „nach dem Gesetz“ (κατὰ νόμον/katá nómon) steht in Gegensatz zu „nach der Natur“ (κατὰ φύσιν/ katá phýsin) oder „von Geburt an“. Daraus lässt sich erschließen, dass Paulus, wenn er „nach dem Gesetz“ Pharisäer war, es nicht durch Geburt war.166 Paulus wurde vielmehr erst Pharisäer, als er in Jerusalem das Gesetz studierte.167 Dafür spricht auch, dass wir keine Pharisäer außerhalb Palästinas nachweisen können.168 Die strengere pharisäische Gesetzespraxis konnte man nur im Heiligen Lande praktizieren. Auch die weiteren mit „nach“ (κατά/katá) eingeleiteten Bestimmungen weisen auf bewusste Entscheidungen und Entwicklungen des Paulus. Paulus hat zweitens „nach Eifer (κατὰ ζῆλος/katá zē´los) die Gemeinde verfolgt“, d. h. er hat eine Minorität, die in seinen Augen die Heiligkeit des Volkes bedrohte, unter Druck gesetzt, damit sie das Gesetz erfüllte. Damit stellte er sich in die Tradition derer, die im Makkabäeraufstand das Judentum vor einer Anpassung an den Hellenismus bewahrt hatten. Wie für die Makkabäer war also­ Pinehas auch für Paulus ein Vorbild für sein „Eifern“ (Num 25). Paulus musste die Christusanhänger verdächtigt haben, das jüdische Gesetz und die Abgrenzung zu den Heiden aufzulösen. Sein Zelos-Ideal war auf jeden Fall Ergebnis einer Entwicklung. Man wird nicht als Eiferer geboren. Paulus ergänzt als drittes Merkmal, er sei „untadelig nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert (κατὰ δικαιοσύνην τὴν ἐν νόμῳ/katá dikaiosýnēn tē´n en nómōi)“ gewesen. Weil er für das Gesetz eiferte, meinte er, die Forderungen des 165 Tiwald, Hebräer, 144–154, hat nachgewiesen, dass „Hebräer“ im Diasporajudentum auf eine Beziehung zu Palästina weist und nicht in erster Linie auf die Kenntnis der hebräischen Sprache. 166 Oft wird zwar angenommen, dass Paulus aus einer pharisäischen Familie stammt, weil der lukanische Paulus sagt, er sei ein Sohn von Pharisäern (Apg 23,6). Das kann aber auch bedeuten, er sei deren Schüler gewesen (vgl. Lk 11,19//Mt 12,27). Wichtiger ist: Während Paulus bei seiner Herkunft als Hebräer ausdrücklich sagt, er stamme auch von Hebräern ab, sagt er bei seinem Pharisäertum eben nicht „er stamme von Pharisäern ab“, sondern, er sei Pharisäer „nach dem Gesetz“. Auch Stemberger, Pharisäer, 112, hält es für möglich, dass Paulus erst in Palästina mit der pharisäischen Bewegung in Berührung gekommen ist. 167 Ähnliches finden wir in dem stilisierten Selbstbericht des Josephus: Im Alter von 16–19 Jahren habe er nach Prüfung verschiedener religiöser Glaubensrichtungen mit Bannus als Lehrer zusammengelebt (Jos. Vita 9–10). Josephus ist jedoch mit seiner ersten Wahl nicht zufrieden; er trennt sich von seinem Lehrer Bannus und schließt sich den Pharisäern an. Könnte nicht auch Paulus es in seiner Jugend mit verschiedenen Glaubensrichtungen versucht haben? 168 Tiwald, Hebräer, 48 f.

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Gesetzes vorbildlich zu erfüllen. Wir hören an dieser Stelle nichts von Zweifeln an einem unerfüllbaren Gesetz. Die Bekehrung vor Damaskus traf jemanden, der stolz auf sein Gesetz und seine Tradition war. Phil 3,2–11 zeigt also, dass Paulus nicht als Pharisäer und Eiferer geboren wurde, sondern dass er sich im Laufe seines Lebens dazu entwickelte. Gal 2,13– 16 lässt darüber hinaus erkennen, dass diese Entwicklung eine längere Umorientierung voraussetzt. Paulus schreibt nämlich dort: „Denn ihr habt ja gehört von meinem Leben früher im Judentum, wie ich über die Maßen die Gemeinde Gottes verfolgte und sie zu zerstören suchte und übertraf im Judentum viele meiner Altersgenossen in meinem Volk weit und eiferte über die Maßen für die Satzungen der Väter“ (Gal 1,13 f). In dem Satz: „Ich übertraf (προέκοπτον/proékopton) viele andere im Judentum“ (Gal 1,14), benutzt Paulus einen technischen Begriff für Fortschritt (προκοπή oder προκόπτειν/prokopē´ oder prokóptein). Er bezeichnet den Fortschritt, den jemand in einer Philosophie oder einer Religion im Vergleich zu anderen macht.169 Die Vergleichsgruppe könnten alle Juden sein, dann wäre dieser „Fortschritt“ mit seinem Anschluss an den Pharisäismus identisch. Paulus bezieht sich aber nicht auf alle Juden oder alle Altersgenossen, sondern nur auf „viele Altersgenossen in meinem Volk“. Das können nur die Altersgenossen sein, die wie er im Pharisäismus das wahre Judentum suchten. Der „Fortschritt“ über ihr Judentum hinaus wäre dann der Eifer für die väterlichen Satzungen, der sich in der Verfolgung der christlichen Gemeinde zeigte. Durch diesen „Eifer“ überbot Paulus in der Tat andere Pharisäer. Dafür, dass er sich in Jerusalem nicht von Anfang an den Eiferern anschloss, spricht, dass die Apg Gamaliel als seinen Lehrer nennt (Apg 22,3) und diesem eine verständnisvolle Haltung gegenüber Christusanhängern zuschreibt (Apg 5,33–40). Wenn das einen historischen Kern hat, hätte er einen moderaten und toleranten Lehrer gehabt. Auch das spricht dafür, dass er sich erst in einem zweiten Schritt vom Pharisäer zu einem Zelos-Anhänger radikalisiert hat, der gewalttätig gegen andere vorzugehen bereit war. Wir wissen zudem, dass nicht alle Pharisäer so radikal dachten wie er, sondern nur eine kleine Minderheit wie z. B. die Anhänger des Judas Galilaios und des Zadduk, die sich von den anderen Pharisäern getrennt hatten. Sie propagierten den Aufstand gegen die Römer und beriefen sich dafür wahrscheinlich auf das Ideal des Eifers.170 Nicht jeder, der diesem Ideal folgte, war deswegen ein Wider 169 Epikt. diss. I 4: Περὶ προκοπῆς/Perí prokopē´s (Über den Fortschritt). Philo kennt eine Entwicklung von von der „guten Anlage“ durch προκοπή/prokopē´ zur „vollkommenen Tugend“ (Leg. 3,249); vgl. Stählin, Art. προκοπή. Auch Paulus kennt den Begriff (Phil 1,12.25). 170 Hengel, Zeloten. Die Anhänger des Judas Galilaios werden bei Josephus nicht Zeloten genannt, eine Gruppe mit diesem Namen begegnet vielmehr erst als eine kleine, sich im Tempel verschanzende Sondergruppe im jüdischen Krieg. Die Rücksichtslosigkeit gegen Verwandte, die Josephus der Widerstandsbewegung des Judas Galilaios zuschreibt, lässt sich aber nur durch das Zelos-Ideal erklären (Jos. Ant. 18,23).

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standskämpfer gegen die Römer. Der Gedanke des „Eiferns“ war weiter verbreitet. Er wandte sich nämlich nicht direkt gegen die Ausländer, sondern an erster Stelle gegen Israeliten, die sich ausländischen Sitten anpassen wollten. Gal 1,13 f ist auf jeden Fall ein Indiz dafür, dass Paulus seine Zuwendung zum Pharisäertum in einem zweiten Schritt durch das Ideal des „Eifers“ überboten hat.171 Wenn Paulus bei seiner letzten Jerusalemreise durch einen Neffen vor einem Mordplan zelo­ tischer Kreise gegen ihn gewarnt wurde (Apg 23,16), legt das die Vermutung nahe, dass seine Familienmitglieder Kontakt zu diesen Kreisen hatten. Es wäre kein Wunder, da Paulus einst selbst zu ihnen gehört hatte. Daher dürfte die ehemalige Tötungsbereitschaft des Paulus nicht nur eine nachgedunkelte konstruierte Darstellung seiner Vorzeit sein, auch wenn ein Bekehrter umso heiliger wirkt, je finsterer seine Vorzeit dargestellt wird. Da Paulus sich selbst zum Zelos-­Ideal bekannt hat, müssen wir bei ihm auch eine Tötungsbereitschaft um der vermeintlich guten Sache willen annehmen. Er selbst sagt, dass er die Gemeinde „zerstören“ wollte (Gal 1,13) und dafür bekannt war, dass er den Glauben „zerstören“ wollte (Gal 1,23). Das Stichwort „zerstören“ (πορθεῖν/portheín) begegnet auch in Apg 9,21. Die Apostelgeschichte assoziiert damit die Gefangennahme (Apg 9,21; 22,4; 26,10), die Geißelung (Apg 22,19) und die Zustimmung zur Tötung eines Christen (Apg 8,1; 22,20), ja, an einer Stelle sogar die Mitverantwortung für die Tötung von Christen durch Stimmabgabe (Apg 26,10). Das mag im Hinblick auf Paulus nicht zutreffen, da Paulus keinen Sitz und keine Stimme in einem Gremium hatte, das die Todesstrafe verhängen konnte. Er könnte jedoch an außerlegalen Mordplänen beteiligt gewesen sein – vergleichbar den späteren Mordplänen allzu frommer Kreise gegen ihn. Entscheidend ist Folgendes: Wenn Paulus vom Zelos-Ideal ergriffen war, muss in seinem Inneren die Vorstellung lebendig gewesen sein, die mit der Tötung von Dissidenten einverstanden war – unabhängig davon, wie viel er letztlich davon in die Tat umgesetzt hatte. Theologische Darstellungen des Paulus haben an diesem Punkte häufig eine Tendenz zur Verharmlosung.172 Die vorchristliche Entwicklung des Paulus könnte so verlaufen sein: Er war schon in seinem Elternhaus in der Diaspora ein bewusster Jude geworden, kam auf der Suche nach seiner jüdischen Identität nach Jerusalem, schloss sich dort 171 Es gibt Hinweise auf eine Berufungsgewissheit des Paulus noch vor seinem Damaskuserlebnis. In Gal 1,15 betont er, er sei vom Mutterleib an von Gott ausgesondert gewesen. Damit spielt er auf Prophetenberufungen an (Jes 49,1; Jer 1,5). Dafür spricht auch Gal 5,11: „Ich aber, liebe Brüder, wenn ich die Beschneidung noch predige, warum leide ich dann Verfolgung? Dann wäre das Ärgernis des Kreuzes aufgehoben“. Paulus nimmt hier möglicherweise auf seine Zeit als Pharisäer Bezug, als er für die Beschneidung eintrat. „Predigen“ (κηρύσσειν/kērýssein) ist in der Regel Missionspredigt und setzt ein Sendungsbewusstsein voraus. So ruft Paulus in Röm 10,15 aus: „Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden?“ 172 Gnilka, Paulus von Tarsos, 39, spricht von einem „Verfolgerbild, das man sich später gemacht hat“ und rechnet nur damit, dass er mit Synagogalstrafen wie der Geißelung, die er als christlicher Missionar selbst erlitten hat, gegen Christen vorgegangen ist.

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zunächst einem pharisäischen Lehrer und innerhalb des Pharisäismus später dann den „Eiferern“ an. Deren Eifer war kein Eifer für individuelle Gesetzeserfüllung, also für das, was man im Protestantismus „Werkgerechtigkeit“ nennt, sondern für die kollektive Gesetzestreue des Volks. Nach Aussagen von Paulus teilten nicht alle Juden seinen Eifer. Wenn er betont, er habe alle darin überboten, stellt er sich als Ausnahme dar, was wohl eine etwas übertriebene Selbststilisierung war. Wenn er später allen Juden unterstellt, sie seien vom „Eifer“ ergriffen (Röm 10,2), generalisiert er Merkmale seines jüdischen Milieus in einer begrenzten Phase seines Lebens zu Merkmalen des Judentums schlechthin. Das Ideal des Eifers impliziert einen aktivistischen Synergismus: Juden müssen selbst aktiv werden, damit Gott ihnen hilft. Das war die Botschaft des Judas Galilaios und einer kleinen Minderheit (Jos. Ant. 18,4 f). Insgesamt war das Judentum dagegen sehr viel stärker durch die Überzeugung vom Vorrang der Gnade Gottes vor allem Tun des Menschen bestimmt. Vielleicht hat die Bekehrung des Paulus zum Pharisäismus in Röm 7,9–11 eine Spur hinterlassen. Paulus schreibt dort: „Ich lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig, ich aber starb. Und so fand sich, dass das Gebot mir den Tod brachte, das doch zum Leben gegeben war. Denn die Sünde nahm das Gebot zum Anlass und betrog mich und tötete mich durch das Gesetz“. Wenn man diese Deutung für möglich hält, muss man voraussetzen, dass Paulus seine vorpharisäische Zeit als Zeit „ohne Gesetz“ wahrnehmen konnte, als sei er erst im Pharisäertum im eigentlichen Sinne mit dem Gesetz konfrontiert worden. Er hätte dann schon seine erste „Bekehrung“ in einem Schwarz-Weiß-­ Denken umgedeutet. Denn natürlich war jeder Jude von Geburt an vom Gesetz umgeben und mit ihm konfrontiert. Der dann in 7,11 genannte Betrug der Sünde (nach deren Aufleben) hätte darin bestanden, dass er zum Eiferer wurde, der meinte, das Gesetz zu erfüllen, obwohl er sich mit eben diesem Eifer gegen Gottes Willen stellte. Eine andere Spur seiner ersten „Bekehrung“ könnte in 2Kor 3,4–18 enthalten sein: Mose erscheint hier als Modell der Bekehrung, wenn er sich „zum Herrn wendet“ (ἐπιστρέψῃ/epistrépsēi) (2Kor 3,16). Das hier verwendete Wort bedeutet „bekehren“ (1Thess 1,9). Wieder begegnet ein Täuschungsmotiv: Mose verbirgt durch eine Decke über seinem Antlitz, dass seine Herrlichkeit vergänglich ist. Könnte darin die Erfahrung nachklingen, dass auch Paulus einmal durch seinen Eifer für das Gesetz des Moses auf einen falschen Weg geriet? Beide Stellen können eine „Bekehrung“ des Paulus zum Fundamentalismus zwar nicht beweisen, werden aber im Licht seiner Hinwendung zum „Eifern“ gut verständlich. Wenn Paulus im ersten Teil  des Römerbriefs ein Heilskonzept zurückweist, nach dem Heil durch Rechtfertigung aufgrund von Werken geschieht, konstruiert er u. E. also kein völlig verzerrtes Bild vom Judentum. Vielmehr setzt er sich mit einer Mentalität auseinander, die in der Diaspora und in Palästina tatsächlich in bestimmten Gruppen vorhanden war. 1,18–2,16 ist an vielen Stel-

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len transparent für Probleme von Juden in der Diaspora. Paulus diskutiert hier den jüdischen Monotheismus in Kontrast zum heidnischen Polytheismus. Er erkennt an, dass man monotheistischer Erkenntnis auch bei den Heiden begegnet, diese bei ihnen jedoch nicht zur Verehrung des einen und einzigen Gottes führt. ­Josephus kritisiert in ähnlicher Weise die heidnischen Philosophen (Jos. c.Ap. 2,169). Ferner betont Paulus das allgemeine moralische Gewissen aller Menschen, das der Juden und das der Heiden. Moralisches Handeln hatte im Diaspora­judentum einen hohen Stellenwert und verlieh ihm Selbstbewusstsein im Vergleich zu Nichtjuden – auch wenn wir diese Abwertung von Nichtjuden heute als negatives Identitätskonstrukt durchschauen, das nicht der Realität entsprach. In seiner Apologie stellt Josephus die jüdische Religion für heidnische Leser auf jeden Fall selbstbewusst als Gesetzesreligion dar.173 Mose ist ihr Gesetzgeber. Diejenigen, die das Gesetz halten, werden mit einem Leben nach dem Tod belohnt (c.Ap. 2,218). Paulus verzerrt also das Judentum nicht, wenn er es als Gesetzesreligion darstellt. Es versteht sich selbst als eine ethische Religion, die auf dem Gesetz des Moses basiert und andere Religionen an Menschlichkeit übertrifft (c.Ap. 2,157–219). Bei Josephus findet sich unbefangen das, was Paulus „sich Rühmen“ nennt: Josephus ist stolz auf das jüdische Gesetz und weiß sich den Heiden überlegen.174 Zwar fehlt der Gedanke der Erwählung und des Bundes in der Darstellung des Josephus in Contra Apionem. Man könnte daher einwenden, was Josephus schildert, sei nur ein Bild für Außenstehende. Aber Bilder, in denen sich eine Gruppe deutet und für Außenstehende darstellt, sind Teil ihrer sozialen Binnenwahrnehmung. Zumindest einige Juden müssen den Wunsch gehabt haben, den Beschreibungen zu entsprechen, die sie von sich gaben. Im Wettstreit mit Nichtjuden wollten sie eine ethische, am Gesetz orientierte Religion leben und den ethischen Konsens ihrer Umwelt durch ihre Praxis überbieten. Das lässt sich als ein humanes Judentum verstehen, das jede religiöse Verehrung an ethischen Kriterien misst. Paulus war solch einer Mentalität wahrscheinlich schon in der Diaspora begegnet. Als Paulus nach Jerusalem kam, studierte er bei einem pharisäischen Lehrer das Gesetz. Wahrscheinlich ist die Darstellung des selbstbewussten jüdischen Schriftgelehrten in 2,17–24 ein Echo damaliger Erfahrungen, das sich hier in retrospektiver Überzeichnung findet. Paulus begegnete Lehrern, die sich stolz einen Juden nannten, sich auf das Gesetz verließen, sich Gottes rühmten und 173 Vgl. Spilsbury, Josephus, 259, spricht von einem „patronal nomism“: „people enjoy­ gratitude in the practice of their lives for the divine benefaction which is God’s law“. 174 Auch in anderen Texten aus der Diaspora finden wir diese ethische Gesetzesfrömmigkeit, so im Slawischen Henoch (vgl. Bauckham, Apocalypses, 151–156: 3Hen ist Zeugnis einer „legalistic work-righteousness“) und in der Apokalypse des Zephanja (ebd., 156–160: „In der Apokalypse des Zephanja gehören die Gerechten aufgrund ihrer Gerechtigkeit zum Gottesvolk“). S. Böttrich, Henochbuch; ders., Weltweisheit. Böttrich arbeitet die universalistische Tendenz dieser Schrift heraus.

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überzeugt waren, dessen Willen aus der Tora zu kennen und prüfen zu können, was das Beste sei; sie hielten die anderen für Blinde und sich selbst für ein Licht derer, die in der Finsternis sind. Hier gibt Paulus indirekt wohl auch Elemente seines eigenen Selbstverständnisses vor seiner Bekehrung wieder, zu denen Gesetzesstolz und ein sich Rühmen (d. h. in diesem Kontext eine Abwertung von Nichtjuden) gehörten. Paulus stellt im Rückblick fest, dass das Verhalten solcher Lehrer oft ihrer eigenen Lehre widersprach und führt darauf die Judenfeindschaft der Antike zurück (2,24). Wenn er diesen idealtypischen Lehrer als Heuchler darstellt, bedient er sich einer Kritik an den Pharisäern, die uns aus der Jesusüberlieferung bekannt ist und in Palästina historisch vorstellbar war (vgl. QLk ­11,39–44). Sofern sich Paulus mit diesem Lehrer identifiziert, kann man sagen, er habe rückblickend durchschaut, dass er sich durch die Verurteilung von Nichtjuden über seine eigenen individuellen Gebotskonflikte hinweg getäuscht hat: Er hatte bei anderen verurteilt, was er auch bei sich selbst hätte verurteilen müssen (2,1 f). In Jerusalem hatte sich Paulus nach seinen Anfängen im Pharisäismus vorübergehend radikalisiert: Er wollte nicht nur die Heiden durch Gesetzestreue überbieten, sondern dazu auch seine jüdischen Altersgenossen durch Gesetzeseifer. Eine Zeit lang wurde er zu einem Fundamentalisten mit latenter Gewaltbereitschaft. Auch in 1,18–3,20 kann man diese Radikalisierung spüren. Was er dem gesetzesstolzen jüdischen Lehrer in 2,17–24 an Fehlverhalten unterstellt hatte, wird nämlich weit überboten durch die aggressiven Sünden, die Paulus in 3,10–20 allen Menschen vorwirft: „Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist lauter Schaden und Jammer. Und den Weg des Friedens kennen sie nicht“ (3,15–17 = Jes 59,7 f). In 1,29 hatte er Heiden beschuldigt, voll Neid, Mord, Streit und List zu sein. In 3,9–17 stellt er klar, dass Juden nicht besser sind. Ausdrücklich schließt er alle Juden und damit sich selbst ein. Sein Urteil trifft alle, die unter dem Gesetz sind, damit die ganze Welt schuldig sei (3,19).175 Paulus wird bei seiner Darstellung gewaltbereiter Menschen an Juden in Palästina denken. Nur hier ist militanter Widerstand von Juden belegt. Vielleicht weist ein kleines Indiz darauf hin, dass Paulus sich unter diese gewalttätigen Menschen einreiht: Er spricht von den Füßen, die eilen, Blut zu vergießen. Später wird er sich mit demselben Bild die entgegengesetzte Rolle zuschreiben, wenn er von sich sagt: „Wie lieblich sind die Füße derer, die Heil verkündigen“ (10,15 = Jes 52,7). Zwischen beiden Aussagen liegt seine Bekehrung. 175 Paulus hat in 3,10–20 die Feindklagen über die Heiden in eine Selbstanklage aller Menschen verwandelt. Deswegen schickt er Pred 7,20 in 3,10 voraus: „Da ist keiner der gerecht ist, auch nicht einer“ (vgl. Holtz, Gott, 19). Oft wird vermutet, Paulus greife hier auf eine vorgegebene Florilegiensammlung zurück (vgl. Iust. Mart. dial. 27,3). Die Zusammenstellung der Zitate passt aber so gut in den Kontext, dass Paulus wohl selbst den Text komponiert hat. So Wolter, EKK 6/1,229 f.

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Paulus hat das Judentum in drei Varianten kennengelernt: als ethisches Diasporajudentum, als moderates Pharisäertum und als militanten „zelotischen“ Fundamentalismus. Seine Bekehrung zum Christusanhänger war im Grunde Rückkehr nach vorübergehender Radikalisierung zu einer moderaten Variante des Judentums  – mit einer vertieften jüdischen Selbstkritik und der Erkenntnis, dass alle Menschen Sünder sind: Juden und Heiden sind in gleicher Weise verloren. Paulus begründet hier seinen Universalismus der Schuld, wonach alle Menschen dadurch gleich sind, dass sie unterschiedslos vor Gott schuldig sind, durch eine verschärfte jüdische Selbstkritik. Unser Fazit ist: Im ersten Teil des Römerbriefes knüpft Paulus an die Gesetzesfrömmigkeit seiner vorchristlichen Zeit an. Es ist ein moderates Judentum, das Heiden in der ethischen Lebensführung überbieten will. Heiden sind in diesem ersten Teil wie in der Diaspora immer präsent – durch ihren Polytheismus ­(1,18–31), durch eine allgemeine Gewissenserfahrung (2,12–16) und durch ihre Kritik am Judentum (2,24). Paulus karikiert das pharisäische Judentum, das er dann in Palästina kennen lernte, in Gestalt eines jüdischen Lehrers (2,17–24). Am Ende der Gerichtspredigt hat er in 3,9–17 wohl zur Gewalt bereite Gruppen im palästinischen Judentum im Blick, denen er sich vorübergehend selbst angeschlossen hatte. Paulus schildert all diese Varianten des Judentums im Lichte stereotyper Wahrnehmungsmuster: Er beschuldigt jüdische Lehrer der Heuchelei (2,17–24) und unterstellt Juden Bereitschaft zur Gewalt (3,9–17), aber findet alle diese Vergehen auch unter den Heiden. Wenn die Reihenfolge seiner Gedanken in 1,18–3,20 seiner biographischen Entwicklung entspricht, die ihn von einem ethischen Diasporajudentum über ein moderates Pharisäertum zu einem militanten Zelos-Ideal führte, so ist das vielleicht Zufall. Sachlich ergibt diese Folge in jedem Fall ein Crescendo. Daran, dass die Gesetzesfrömmigkeit in allen hier sichtbar werdenden Variationen sein Ausgangspunkt war, besteht kein Zweifel. Entscheidend ist seine Aussage, die er in dieser Schärfe erst treffen konnte, nachdem er sich von dieser Gesetzesfrömmigkeit gelöst hatte: Über allen Menschen, Juden und Heiden, häuft sich wie eine dunkle Gewitterwand der Zorn Gottes an, weil sich alle von ihm abgewandt haben.

7.2.2 Heil aufgrund von Glauben Zur Abwendung des drohenden universalen Unheils über alle Menschen entfaltet Paulus in 3,21–26 sein Evangelium als Erlösungsbotschaft. Der Zorn Gottes über die Sünde trifft stellvertretend für alle einen einzelnen Menschen. Die Sünden des Menschen bleiben so nicht ungestraft. Gott aber rettet die Person Jesu aus dem Tode und zeigt damit, dass er die Sünde, aber nicht den Sünder verurteilt. Gott selbst revidiert die über Christus verhängte stellvertretende Strafe. So demonstriert er, dass seine Liebe seinen Zorn überwindet und Heil schafft (5,5–11).

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Dieses Heil wird durch Glauben erlangt. Paulus beruft sich dafür auf die Schrift: „Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“ (3,21). Paulus greift hier seine Selbstvorstellung im Präskript des Briefes auf. Schon dort hatte er das Evangelium als eine in heiligen Schriften angekündigte Offenbarung eingeführt und betont, dass es ihm ganz persönlich aufgetragen ist. Sein Inhalt, Christus als Davidssohn und Sohn Gottes (1,3 f), war von einem Konsens im Urchristentum getragen. Erst in 3,21–31 betont Paulus, was sein ihm aufgetragenes Evangelium so umstritten macht: Erstens seine Gesetzeskritik, dass die Gerechtigkeit Gottes ohne Gesetz (3,21) und ohne Werke des Gesetzes (3,28) offenbart wird. Und zweitens die Universalität seines Evangeliums, dass Gott sich in ihm als Gott von Juden und Heiden erweist (3,29). Beides ist eng mit Paulus verbunden. Er vertrat als erster im Urchristentum die These einer Gerechtigkeit ohne Gesetzeswerke, dass der Wert eines Menschen nicht danach gemessen wird, wie das Gesetz ihn beurteilt, und ermöglichte dadurch den Durchbruch zur universalen H ­ eidenmission. Wenn Paulus in 3,21–24 davon spricht, dass die Gerechtigkeit Gottes jetzt ohne Gesetz (χώρις νόμου/chō´ris nómou) „durch Glauben an Christus Jesus“ (διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ/diá písteōs Iēsoú Christoú) und durch seine Gnade (τῇ αὐτοῦ χάριτι/tē´i autoú cháriti) offenbart wird, so ist sein Damaskuserlebnis dafür die Grundlage. Denn er sagt in 3,21–24 in allgemeiner Form nur das, was er an anderer Stelle von sich persönlich gesagt hat: Nach Phil 3,9 hat er durch seine Bekehrung eine Gerechtigkeit erhalten, die nicht aus dem Gesetz (ἐκ νόμου/ek­ nómou) kommt, sondern „durch Glauben an Christus“ (διὰ πίστεως Χριστοῦ/diá písteōs Christoú). Nach Gal 1,15 und 1Kor 15,10 geht seine Berufung auf Gnade (χάρις/cháris) zurück. Da Paulus in 3,21–26 in Anlehnung an vorgeprägte Formeln formuliert, fallen diejenigen Übereinstimmungen umso mehr auf, mit denen er die allgemeine Wende vom Unheil zum Heil für alle Menschen mit seiner persönlichen Lebenswende parallelisiert. Die Fortsetzung in 3,27–31 bestätigt, dass seine Rechtfertigungslehre eine persönliche Offenbarung an ihn voraussetzt. Seine allgemeine Überzeugung, „dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke durch Glauben“ (3,28), formulierte er schon einmal in Gal 2,16 – dort als seine ganz persönliche Überzeugung, die er Petrus in einer Ich-Aussage entgegenhält. Er begründet seine Überzeugung in 3,29 f damit, dass Gott nicht nur der Gott der Juden, sondern auch der Heiden ist. Auch die Ausweitung des Evangeliums auf alle Heiden ist mit seinem Damaskuserlebnis gegeben, bei dem er berufen wurde, Jesus, den Sohn Gottes, den Heiden zu verkündigen (Gal 1,15 f). Dieser persönliche Hintergrund seiner Rechtfertigungslehre wird nicht nur durch den Vergleich mit seinen persönlichen Aussagen in anderen Briefen, sondern auch im Römerbrief selbst transparent. Paulus bezieht sich mit dem „Offenbarwerden“ der Gerechtigkeit Gottes (3,21) auf das „Evangelium“ zurück, in dem

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die „Gerechtigkeit Gottes“ für jeden Glaubenden „offenbart“ wird (1,16 f).176 Dieses „Evangelium“ wiederum weist zurück auf seine Berufung zum Apostel für die Heiden (1,1–5). Wenn wir diesen Hinweisen im Römerbrief folgen, müssen wir den Ursprung seiner Rechtfertigungslehre (in 3,21–5,21) in seiner Berufung und Bekehrung suchen. Seit William Wrede und Albert Schweitzer ist das freilich umstritten. Seit Wrede und Schweitzer wird die Ansicht vertreten, dass die Rechtfertigungslehre nicht im Damaskuserlebnis des Paulus begründet sei, sondern in der Auseinandersetzung des Paulus mit seinen Gegnern während seiner Europamission. Erst in der Zeit des Galater- und Philipperbriefs sei seine Gesetzeskritik entstanden, sie fehle daher im ältesten Paulusbrief, dem 1. Thessalonicherbrief. Seine weitere Entwicklung wird dann unterschiedlich gedeutet: Paulus habe entweder am Anfang eine spiritualisierende Gesetzesinterpretation vertreten, die er im antiochenischen Konflikt sekundär zur Gesetzeskritik zugespitzt habe,177 oder Erlösung sei für ihn ursprünglich die Befreiung von Tod, Sünde und Sarx gewesen und erst in Abwehr judaistischer Gegner in Galatien auch die Befreiung vom Gesetz.178 Nach einer alternativen Sicht zu dieser Entwicklungsthese hat die Rechtfertigungslehre ihren Ursprung in der Bekehrung des Paulus. Sie entspricht dem Selbstverständnis des Paulus, das er in Phil 3,2–11 artikuliert. Da Paulus seine Verfolgung der Gemeinde durch Gesetzeseifer begründet hat, müsse die Wende vom Verfolger dieser Gemeinde zu ihrem Missionar mit einem Bruch mit dem Gesetz verbunden gewesen sein. Schon seit Damaskus seien Gesetz und Christus für Paulus Gegensätze gewesen. Spätere Konflikte hätten ihm allenfalls dazu gedient, seine grundlegende Erfahrung begrifflich zu entfalten.179 Sicher ist, dass Paulus in allen seinen Aussagen über seine Berufung durchgehend Gottes Gnade in ihr wirken sah.180 Das kann unmöglich eine spätere Umdeutung sein. Paulus betont an drei Stellen in ganz persönlichen Aussagen: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen“ (1Kor 15,10). Gott hat ihn vor Damaskus „durch seine Gnade berufen“ (Gal 1,15). Seine „Aussonderung“ für das Evangelium und sein Apostolat nennt er eine ihm verliehene „Gnade“ (Röm 1,5). In dieser Berufung auf die Gnade Gottes ist für Paulus implizit die Rechtfertigungsbotschaft enthalten. Das zeigen allgemeine Aussagen über diese Gnade: „Wir werden ohne ­Verdienst­ 176 Die Verben, mit denen dieses Offenbarwerden beschrieben wird, sind verschieden: ἀποκαλύπτεται/apokalýptetai in 1,17, φανέρωται/phanérōtai in 3,21. Beide Begriffe treten manchmal synonym auf, so im Spruch vom Verborgenen, das offenbar wird, vgl. Mk 4,22 mit Mt 10,26//Lk 12,2 und 1Petr 1,5.12 mit 1,20. 177 So Räisänen, Call Experiences. 178 So Strecker, Befreiung. 179 Als Beispiel für diese Position sei genannt: Dietzfelbinger, Berufung. 180 Vgl. Zeller, Charis, 138–146.

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gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung in Christus Jesus“ (3,24). „Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus; durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen“ (5,1 f). Die Ablehnung der Rechtfertigung ist eine Verwerfung der Gnade Gottes (Gal 2,21). Die Verbindung von Gnade und Rechtfertigung dürfte in seiner Berufungserfahrung begründet sein.181 Davon, dass der Mensch durch Gnade gerecht wird, ist Paulus von Anfang an seit Damaskus überzeugt. Aber das muss noch nicht einschließen, dass es ohne Gesetz geschieht und mit einer Kritik am Gesetz verbunden ist. Wann entstand die Gesetzeskritik des Paulus? Die beiden ausführlichsten „autobiographischen“ Notizen erlauben dazu folgende Aussagen: Gal 1,13–17 spricht von einer Berufung des Paulus vor Damaskus. Hier ist deren soziale Dimension im Blick, also die Veränderung seiner sozialen Rolle. Paulus hatte für die Überlieferungen der Väter geeifert (Gal 1,13), wurde aber durch seine Berufung Heidenmissionar (Gal 1,16). Zwischen beidem besteht ein Kontrast. Die Überlieferungen der Väter sind „nationales“ Erbe, das Heiden und Juden trennt. Die Berufung zum Heidenmissionar überschreitet eben diese Grenze. Müssen ihm dann nicht diese „Überlieferungen“ problematisch geworden sein? Denn was sind „väterliche Überlieferungen“ anderes als Auslegungen des Gesetzes? Paulus sagt in Gal 1,13–17 freilich nur implizit, dass seine Gesetzeskritik im Damaskuserlebnis begründet ist. Im zweiten Bekehrungsbericht (Phil 3,2–11) verbindet Paulus Gesetzeskritik und Rechtfertigungslehre dagegen explizit mit seiner persönlichen Wende.­ Paulus bekennt dort, dass er durch sie zu der Erkenntnis gelangte, dass „ich nicht meine Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit von Gott aufgrund von Glauben“ (Phil 3,9). Auch wer Phil 3,9 für einen als Parenthese eingeschobenen Satz hält, mit dem Paulus retrospektiv seine Erinnerungen umstrukturiert habe, kann kaum bestreiten, dass Paulus selbst seine Bekehrung nachträglich mit der Erfahrung einer individuellen Rechtfertigung identifiziert hat. Er kontrastiert „meine Gerechtigkeit“ mit der Gerechtigkeit aus Gott. Den Gesetzesstolz seiner vorchristlichen Zeit hält er für „Dreck“ und „Schaden“. Beide autobiographischen Berichte weisen somit auf eine frühe Kritik des Gesetzes und sprechen für die Annahme, dass Paulus mit seiner Bekehrung zur Überzeugung gekommen war, dass das Gesetz tief problematische Seiten hat. Beide Berichte ergänzen sich, wenn man damit rechnet, dass die Rechtfertigungsgewissheit des Paulus von Anfang an eine individuelle und eine soziale Dimension hatte, d. h. zugleich Überwindung eines inneren Konflikts im Menschen 181 Das wird dadurch bestätigt, dass Paulus seinen Auftrag an ihn durch Gottes Gnade auch als ein Erbarmen Gottes bezeichnen kann: 1Kor 7,25 und 2Kor 4,1. Erbarmen schließt eine Vergebung von Sünden ein (vgl. Röm 11,25–32).

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und einer sozialen Abgrenzung war: Wer seine eigene Vergangenheit als Kot und Dreck ablehnt, stand und steht noch immer in einem Konflikt mit sich selbst (Phil 3,8). Wer den Heiden, die er bisher für Sünder von Natur hielt (Gal 2,15), das Heil verkündigt (Gal 2,7), überwindet seine Ablehnung ihnen gegenüber. Aber auch die Entwicklungsthese ist in einer Hinsicht einleuchtend: Paulus kann nicht sofort alles erkannt haben, was sich mit seiner Bekehrung verändert hat – auch wenn er von Anfang an verstanden hatte, dass sein Evangelium in Spannung zum Gesetz steht. Vieles spricht dafür, dass ihn die Gegenmission in Galatien und Philippi dazu genötigt hatte, sich noch einmal intensiv mit seiner Bekehrung auseinanderzusetzen, denn es kann kein Zufall sein, dass er gerade in diesen beiden Briefen ausführlich auf seine Berufung (Gal 1,13–17) bzw. Bekehrung (Phil ­3,2–11) zu sprechen kommt – immer in polemischen Kontexten in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, in deren Gesetzeseifer ihm ein Stück seiner eigenen Vergangenheit begegnete und die er schon deswegen nicht ojektiv wahrnehmen konnte: Auch sie „eifern“ um die Gemeinde (Gal 4,17). Weil dieses Evangelium von einer „Gerechtigkeit Gottes“ ohne Gesetz eine so kühne und umstrittene These war, betont Paulus im Römerbrief, dass dieses Evangelium durch Gesetz und Propheten bezeugt wird (3,21). Paulus beruft sich im dann folgenden Textabschnitt (4,1–5,21) vor allem auf Abraham und Adam. Wie wir schon festgestellt haben, unterscheiden sich beide Personen: Abraham war der Vater vieler Völker (4,17), Adam war der Vater der Menschheit überhaupt (5,18). Abraham wurden zahlreiche Nachkommen verheißen, Adam aber war der Stammvater aller Menschen (5,18). Wenn Paulus in 3,21–4,25 von gerechtfertigten Sündern spricht, nennt er Abraham (4,1–25) und David (4,6 f) und bleibt damit im Umkreis des jüdischen Volkes, auch wenn er sein Volk als Träger einer universalen Verheißung darstellt. In Röm 5 weitet er den Blick aus: Die Versöhnung gilt jetzt auch den Feinden Gottes und ist Versöhnung (5,10 f) der „Welt“ (11,15; vgl. 2Kor 5,19). Jetzt hat er noch stärker die ganze Heidenwelt im Blick und greift deshalb auf Adam zurück, den Stammvater aller Menschen. Eine schrittweise Universalisierung des Heils ist unverkennbar. Kann man auch diese Schritte anhand seiner Biographie nachvollziehen? Paulus hat von Damaskus aus zunächst unter Völkern missioniert, die als Nachfahren Abrahams galten – unter Arabern und Nabatäern. Erst danach begann er in einem zweiten Schritt von Jerusalem aus alle Menschen, d. h. alle Nachkommen Adams, zu missionieren (15,19).182 Die Folge der Gedanken im Römerbrief ist gewiss sachlich in sich sinnvoll, sie schreitet fort vom Glauben Abrahams zum Tun Adams und von den vielen Völkern zur gesamten Menschheit. Könnte diese Reihenfolge aber auch die persönliche Entwicklung des Paulus spiegeln, die sukzessive Universalisierung seiner Mission? 182 Den Zusammenhang der Nabatäermission mit deren Abstammung von Abraham betonen zu Recht Hengel/Schwemer, Paulus, 180 f. 186–190.

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Paulus musste die Nabatäermission durch Flucht abbrechen, wahrscheinlich weil der Krieg zwischen den Nabatäern und Galiläern (34/35 n. Chr.) die Verkündigung eines Galiläers als Retter der Welt im nabatäischen Herrschaftsgebiet unmöglich machte. Paulus floh nach Jerusalem. Möglicherweise erhielt er damals, zwei bis drei Jahre nach seiner Bekehrung, seine Auftragsgewissheit zur weltweiten Heidenmission. Denn er sagt in Röm 15,19: „So habe ich von Jerusalem aus ringsumher bis nach Illyrien das Evangelium von Christus voll ausgerichtet“. Er lässt seine weltweite Mission hier nicht in Damaskus, sondern in Jerusalem beginnen. Das stimmt mit der Apg überein: Nach seiner Bekehrung habe Paulus erst in Jerusalem im Tempel vom erhöhten Christus den Auftrag erhalten: „Eile und mach dich schnell auf aus Jerusalem … Geh hin; denn ich will dich in die Ferne zu den Heiden senden“ (Apg 22,18.21). Die Heiden „in der Ferne“ lassen sich von den Nabatäern „in der Nähe“ unterscheiden. Hat Paulus das Scheitern seiner Nabatäermission vielleicht dadurch überwunden, dass er sich zu der noch größeren Aufgabe berufen wusste, alle Völker für das Evangelium zu gewinnen?183 Er zeigte immer wieder eine große Fähigkeit, seine Nieder­ lagen in eine Motivation für seine Anliegen zu verwandeln. So wie seine Hinwendung zu seinem Judentum in seiner vorchristlicher Zeit in zwei Schritten geschah, erst als Anschluss an den Pharisäismus, dann als Radikalisierung durch das Zelos-Ideal, so geschah möglicherweise auch sein Weg zum Völkermissionar in zwei Schritten, zuerst als Missionar der Kinder Abrahams, dann als Apostel aller Völker.184

Doch es sei betont, dass die Möglichkeit einer zweistufigen Entwicklung zur Weltmission, die sich möglicherweise in dieser sehr formalen Parallele zwischen Röm 4–5 und dem Leben des Paulus zeigt, nur eine Vermutung ist. Sie wird erst plausibel, wenn man im Römerbrief auch an anderen Stellen Spuren seiner Entwicklung erkennt. Für die Grundthese, dass die Folge der vier großen Heilskonzepte im Römerbrief der theologischen Entwicklung des Paulus entspricht, ist sie ohne Bedeutung. Wichtiger ist, dass die große geschichtliche Wende durch die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (3,21 f) der persönlichen Wende des­ Paulus entspricht, nämlich seiner Offenbarung vor Damaskus, mit der für Paulus das Heil durch die Erkenntnis universalisiert wurde: Gott will jetzt durch Jesus Christus sein Heil allen Völkern zugänglich machen. Wir haben schon gesehen, diese Universalisierung des Heils zieht ein sachliches Problem nach sich: Warum sollen Menschen nicht mehr sündigen, wenn doch alle zum Heil bestimmt sind 183 So Riesner, Frühzeit. 184 Paulus konzentrierte im Galaterbrief seine Berufung zum Heidenapostel auf eine einzige Erfahrung vor Damaskus. Dort sei er zum Apostel der Heiden berufen worden (Gal 1,16). Er schreibt aber interessanterweise nicht, er sei dort zum Apostel „aller Heiden“ berufen worden, wie er in Röm 1,5 formuliert. Umgekehrt konnte das Gerücht, seine Heidenmission sei von den Jerusalemern abhängig, leichter entstehen, wenn er seine Sendung zu allen Heiden seinem Aufenthalt in Jerusalem verdankte. Er kann im Galaterbrief kein Interesse daran haben, den Jerusalemer Ursprung seiner universalen Heidenmission anzudeuten, vielmehr hat er hier ein M ­ otiv, seine Beziehung zur Jerusalemer Gemeinde zu minimieren. Dies spricht dafür, dass wir den Ausführungen Röm 15,19 und Apg 22, 17–21 vertrauen dürfen.

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und Gott sie bedingungslos annimmt? Auf diese Aporie antwortet Paulus mit einer Weiterentwicklung seiner Lehre vom Heil. Können wir auch hierzu parallel in seinem Leben eine Weiterentwicklung erkennen?

7.2.3 Heil aufgrund von Verwandlung Paulus weist im dritten Teil des Römerbriefs (6,1–8,39) den gegen ihn erhobenen libertinistischen Vorwurf zurück, er lehre das Böse, damit das Gute herauskomme (3,8). Dreimal führt er diesen Vorwurf an (6,1.15; 7,7). Seine Antwort ist: Die Christen sind durch die Taufe verwandelt. Sie sind mit Christus gestorben und zu einem neuen Leben gelangt. Dadurch haben sie sich definitiv von der Sünde getrennt. Die Taufe deutet er als symbolisches Sterben. Röm 6,1–11 ist der älteste Beleg für diese Deutung, die Paulus hier aber schon als bekannt voraussetzt, denn er leitet sie mit der Frage ein: „Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft?“ Wahrscheinlich ist diese Todesdeutung durch die Mysterienreligionen beeinflusst, also durch jene antiken Kulte, in die man nicht durch Geburt hineinwuchs, sondern in die man sich durch eine bewusste Entscheidung einweihen lassen musste.185 Die Mysterienkulte kannten die Vorstellung einer sterbenden Gottheit. So wurde die Isisweihe „nach dem Bild eines freiwilligen Todes (voluntariae mortis) und einer Erlösung aus Gnade“ gefeiert (Apul. met. XI 21,7). Dabei wurde von den eingeweihten Mysten nicht immer der Tod der Mysteriengottheit als eigenes Schicksal nacherlebt; vielmehr bestand der Ritus oft darin, über den Tod der Gottheit zu trauern, ohne ihn an sich selbst zu erleben. Auch war der Einweihungsritus keine Waschung, die man der Taufe vergleichen könnte. In der Isisweihe gab es eine vorbereitende Waschung nur zehn Tage vor der Initiation (Apul. met. XI 23,1). Paulus hat solche Mysterienvorstellungen wahrscheinlich durch das Judentum vermittelt bekommen. Philo deutet z. B. die Sinaioffenbarung als ein Mysterium, in dem Mose durch die Offenbarung Gottes verwandelt wurde.186 Mit solchen Bildern konnte Paulus klar machen, dass eine irreversible Verwandlung mit den Christen geschehen ist. Für uns ist wichtig, dass die Deutung der Taufe als ein symbolischer Durchgang durch den Tod zum Leben theologisch und historisch einen Wandel ihrer Funktion anzeigt. Die Taufe des Johannes geschah zur Umkehr. Durch Umkehr sollten Juden auf einen Weg zurückkehren, von dem sie abgeirrt waren. Die Taufe 185 Zeller, Mysterienkulte; Agersnap, Baptism. 186 Vgl. Philo Gig. 54: Mose „geht in die Finsternis, den unsichtbaren Raum hinein und bleibt daselbst und wird in die heiligsten Mysterien eingeweiht. Er wird aber nicht nur Myste, sondern auch Hierophant der heiligsten Begehungen und Lehrer der göttlichen Dinge, die er denen, deren Ohren rein geworden sind, auslegen wird“; vgl. Post. 173. Philo betont auch, dass Mose durch seine Einweihung in die Schau Gottes verwandelt wurde (Mos. 2,69 f). In Quaest. in Ex 29 spricht er ausdrücklich von Verwandlung: „transmutatur in divinum“.

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von Heiden war dagegen ein Bruch mit deren alten Göttern. Hier musste der Gegenstand der Anbetung radikal ausgetauscht werden. Es ging nicht um Umkehr, sondern um Konversion. Der Bruch mit der eigenen Vergangenheit konnte gut im Bild von Tod und Leben dargestellt werden. Dazu passt, dass schon im Judentum die Bekehrung von Heiden zum jüdischen Glauben als Neuschöpfung aus dem Tod dargestellt wurde. Die heidnische Priestertochter Aseneth deutet ihre Bekehrung zum Judentum so, als sei sie aus dem Tod neu geschaffen worden (JosAs 8,10; 15,5). Dass ihre Bekehrung einer vorhergehenden symbolischen Todeserfahrung (wie in den Mysterienreligionen) entsprach, wird nicht gesagt. Auf jeden Fall ist es kein Zufall, dass die Todesdeutung der Taufe zum ersten Mal beim Heidenmissionar Paulus begegnet, denn seine Predigt verlangte von Heiden mehr als eine Umkehr, sie verlangte einen radikaleren Bruch mit der Vergangenheit. Sie zielte darauf, dass der alte Mensch mit Christus stirbt, um danach mit ihm ein neues Leben zu beginnen. Wenn Paulus in Röm 6 mit einem Rückgriff auf die Taufe in den Tod Jesu seine Verwandlungslehre beginnt, denkt er zunächst an alle Christen, denn alle waren getauft. Aber Paulus ruft ein zusätzliches Bild auf, das in besonderer Weise auf die Situation der Heidenchristen zutrifft. Die Weiterentwicklung der Rechtfertigungslehre durch die Verwandlungslehre könnte daher eine Verarbeitung von Erfahrungen mit der Heidenmission sein. Wann ist es im Leben des Paulus zu dieser Vertiefung des Heilsverständnisses gekommen? Spätestens beim antiochenischen Konflikt könnte die Todesdeutung der Taufe für Paulus wichtig geworden sein. Beim Zusammenleben mit den Heiden war unter den Judenchristen die Sorge aufgekommen, die Heiden könnten mit ihrem „unreinen“ Wesen die Gemeinde „kontaminieren“, wenn sie die rituellen Vorschriften des Judentums nicht einhielten. In den Augen der Juden blieben sie dann weiterhin „Sünder aus den Heiden“ (Gal 2,15). Bereits in Antiochien hatte Paulus seine Rechtfertigungslehre durch Verwandlungsbilder von Tod und Leben vertieft. In Gal 2,15–21 stellt er seine Heilsbotschaft in zwei Stufen dar, zunächst als Rechtfertigung durch Glauben (Gal 2,16–18), dann als Verwandlung mit Christus (Gal 2,19–20): Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, es sei denn durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an C ­ hristus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an ­Christus und nicht durch Werke des Gesetzes, denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht (Gal 2,16).

Dieser Gedanke in Gal 2,16 entspricht der Rechtfertigungslehre in Röm 3,21–5,21, der zweite darauf folgende Gedanke in Gal 2,19–20 entspricht dagegen der Verwandlungslehre in Röm 6,1–11. Und genauso wie im Römerbrief wird auch im Galaterbrief dieser Gedanke als Zurückweisung des Libertinismus formuliert: „Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei

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ferne!“ (Gal 2,17). Paulus beruft sich im Galaterbrief darauf, dass er mit Christus gestorben ist und nun ein neues Leben lebt. Deswegen hat er die Vergangenheit hinter sich gelassen. Anders als in Röm 6,1–11 spricht er aber nicht von der Taufe als Begräbnis mit Christus. Die Taufe kommt erst in Gal 3,27 ins Spiel, nicht als symbolische Todeserfahrung, sondern in Form einer Kleidermetaphorik: Die Getauften haben Christus angezogen. Dennoch ist die Parallelität zwischen Gal 2,19 f und Röm 6,1–11 auffallend. In beiden Texten spricht Paulus von Kreuzigung (6,6), Sterben und Leben mit Christus (6,3.8) bzw. für ihn (Gal 2,20): Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zum Übertreter. Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleische, das lebe ich im ­Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes, denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben (Gal 2,18–21).

Die Ich-Aussagen in diesem Text sollen alle Christen einschließen, Paulus inklusive. Er schildert seine Erfahrungen mit dem Gesetz als Judenchrist und lehnt es ab, nachträglich Gesetzesforderungen aufzustellen, denen er sich durch sein Sterben mit Christus schon entzogen hat. Damit stellt er sich zunächst als Modell für andere Judenchristen wie Petrus dar. Gleichzeitig aber ist er mit dieser Freiheit vom Gesetz auch ein Modell für die Heidenchristen in Galatien, an die er seinen Brief schreibt. Die Lebenswende des Paulus war daher beides zugleich: ein Modell der Umkehr für Juden und der Konversion für Heiden. Als Jude verfolgte­ Paulus mit seiner Umkehr zum Christusglauben seinen bisherigen Weg, von dem er abgeirrt war, aber strebte dasselbe Ziel wie vorher an. Da er vor seiner Wende die Christusanhänger bekämpft hatte, dann aber ihr Missionar wurde, ist seine Wende aber auch eine Konversion, bei der er seine bisherige Zielrichtung gegen die genau entgegengesetzte Zielrichtung ausgetauscht hat. Aus diesem Grund kann er als Judenchrist seine Wende auch Heidenchristen als Vorbild hinstellen: Seine ausführlichsten autobiographischen Notizen stehen in Briefen an Heidenchristen (Phil 3,2–10; Gal 1,13–16), und beide betonen seinen Eifer im Judentum, von dem er sich radikal abgewandt hatte. Die Lehre von der Verwandlung des Menschen geht über die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit hinaus. Das Stichwort „Glaube“ begegnet in Röm 6–8 nur einmal in 6,8. Paulus argumentiert in Röm 6–8 weniger für die Juden unter seinen Lesern – denn anders als in 3,21–5,21 oder 9,1–11,36 bringt er in diesen Kapiteln kaum Schriftzitate. Er beruft sich stattdessen auf allgemein menschliche Bilder vom Sklaven, Frau und Sohn, die sich an alle Menschen wenden.187 Wenn 187 Umstritten ist, ob sich 7,1 an Kenner des jüdischen Gesetzes wendet. Die Begrenzung von Gesetzesverpflichtungen durch den Tod trifft sowohl für jüdische wie heidnische Gesetze zu.

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Paulus in seiner Verwandlungslehre Erfahrungen in der Heidenmission verarbeitet, so können wir die Formulierung dieser Verwandlungslehre zeitlich nach seiner grundlegenden Wende ansetzen, als er schon einige Zeit lang Heidenapostel war. Apostelkonvent und antiochenischer Konflikt könnten der Anstoß dazu gewesen sein, denn die Verwandlungslehre sollte die Heidenmission theologisch rechtfertigen: Man darf mit Heiden Gemeinschaft haben, da sie durch die Taufe grundlegend verwandelt worden sind. Paulus greift im Abschnitt über die Verwandlung des Christen in Röm 7,7–24 auf die Zeit vor der Wende vom Unheil zum Heil zurück. Diesem Rückgriff auf die Zeit vor der Erlösung entspricht in seinem Leben eine erneute Auseinandersetzung mit seiner eigenen Vergangenheit in der Zeit seiner zweiten Europamission. Auf seiner ersten Europareise hatte Paulus es noch vermieden, sich in der öffentlichen Kommunikation zu dieser Vorzeit zu bekennen. Er klagte im 1Thess über die Juden, die die Propheten und Jesus verfolgt hatten (ἐκδιωξάντων/ ekdiōxántōn) und die nun seine Mission der Heiden verhinderten (1Thess 2,15 f), verschweigt aber, dass er einst selbst zu den Verfolgern der Anhänger Jesu gehört hatte (vgl. διώκειν/diō´kein in Gal 1,13; 1Kor 15,9; Phil 3,6). Hätte er die jüdischen Gegner der Christen so schroff verurteilen können wie in 1Thess 2,16, wo er den Zorn Gottes endgültig auf sie herab beschwört, wenn ihm bewußt gewesen wäre, dass er damit diesen Zorn auch auf sich selbst herab beschwor? Man hat den Eindruck, als hätte Paulus damals seine Verfolgertätigkeit verdrängt, weil er inzwischen selbst zu den Verfolgten zählte. Was hat ihn aber in späteren Briefen veranlasst, den Rückgriff auf seine Verfolgertätigkeit als Argument in die Kommunikation einzubringen? Eine gut begründbare Antwort darauf ist, dass ihn die Gegenmission in Galatien und Philippi dazu genötigt hat, sich mit seiner Vorzeit öffentlich auseinanderzusetzen. Im Galater- und Philipperbrief verweist er auf seine Berufung und Bekehrung, um vor den Gegenmissionaren zu warnen: So wie er sein früheres Leben verworfen hat, sollen auch seine heidenchristlichen Gemeinden die Gegenmissionare verwerfen. Er ist sich jetzt dessen sicher, dass Gott die Verfehlungen seiner Vorzeit verzeiht. Es kann ja kein Zufall sein, dass er erst in den Briefen, in denen er die Rechtfertigung des Sünders lehrt, zu dieser Offenheit gelangte.188 Paulus hatte in 1Kor 7,39 mit ähnlichen Worten in einem Brief an eine heidenchristliche Gemeinde über die Freiheit von Witwen gesprochen, erneut zu heiraten. Wenn er in Röm 7 vom „Gesetz“ spricht, meint er zwar auch das jüdische Gesetz. Aber er kann es auch mit allgemeinen ethischen Begriffen bezeichnen, die jedem Nichtjuden vertraut waren, als das „Gute“ und „Schöne“ (7,13.19.21). Diese Universalität des Gesetzes würde vor allem dann gelten, wenn in 7,7–13 Adam Modell steht. Anders Esler, Conflict, 222–242. 188 1Kor 4,1–5 spricht für solch einen generellen Zusammenhang. Paulus tritt hier zuversichtlich vor ein (imaginäres?) Gerichtsforum der Gemeinde, weil er weiß, dass Gott ihn richten wird. Er ist nicht dadurch gerechtfertigt, dass er sich keiner Schuld bewusst ist, sondern überlässt das Urteil Gott. Gerade deshalb spricht er offen über die Vorwürfe gegen ihn, vor denen er sich nicht fürchtet.

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Das gilt besonders für den Römerbrief. Die indirekte Selbstenthüllung durch das „Ich“ in Röm 7,7–25 ist die Fortführung einer vertieften Auseinandersetzung mit sich selbst – eine Verarbeitung der Auseinandersetzungen in einer Zeit, die man von der Zeit des Apostelkonvents und des antiochenischen Konflikts deutlich unterscheiden kann. Denn erst auf seiner zweiten Europareise hat ihn eine Gegenmission bedrängt. In Röm 7 sind daher wahrscheinlich im Rückgriff auf seine persönliche Wende Erfahrungen verarbeitet, die er später gemacht hat als die Erfahrungen des antiochenischen Konflikts, mit denen er sich in Gal 2,18–21 und Röm 6 auseinandersetzt. Als Paulus judaistische Gegner in Galatien bekämpfte, die versuchten, die Heidenchristen zur Beschneidung zu nötigen, mussten in ihm unwillkürlich Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit lebendig werden, denn auch er hatte einmal Jesusanhänger zur Anpassung an jüdische Normen genötigt. Paulus erkennt in seinen Gegnern ein Stück von sich selbst, wie er einmal vor seiner Bekehrung war. Er distanziert sich von seiner vorchristlichen Zeit als „Eiferer“ (Gal 1,14), greift aber eben damit indirekt seine Gegner an, weil sie in nicht gerechtfertigter Weise um die Gemeinde „eifern“ (Gal 4,17 f). Sie wollen die unbeschnittenen Heidenchristen „ausschließen“, d. h. ihnen suggerieren, dass sie ohne die Beschneidung nicht zum Gottesvolk gehören. Paulus bekämpft in seinen Gegnern eben jenen fanatischen „Eifer“, den auch er in seiner Vorzeit praktiziert hatte. Der Eifer seiner Gegner bestand darin, dass sie die Gemeinden drängten, die Beschneidung zu übernehmen. Ausgerechnet im Galaterbrief bekennt Paulus: „Ich aber, Brüder, wenn ich die Beschneidung noch predige, warum leide ich dann Verfolgung?“ (Gal 5,11). Hier sagt er direkt: Ich verfolgte einmal vergleichbare Ziele wie meine jetzigen Gegner. Auch in Philippi bringt Paulus in Auseinandersetzungen mit Gegnern seine Wende als Argument ein (Phil 3,2–10), um sie davor zu warnen, die Beschneidung zu übernehmen. Und wieder sieht er in seinen Gegnern genau das, was er früher einmal selbst gewesen war: Er gehörte einst wie sie zu den Feinden des Kreuzes Christi (Phil 3,18). Immer wieder liest er aktuelle Krisen in seinen Gemeinden im Lichte seiner eigenen Umorientierung. Wir bleiben also bei unserem ersten Ergebnis: Der Ursprung der Rechtferti­ gungslehre des Paulus liegt in seinem Damaskuserlebnis, aber erst in Auseinan­ der­setzungen mit der Gegenmission gelangt Paulus dazu, sich öffentlich in seinen Briefen seiner Vergangenheit zu stellen. Insofern muss man die Ursprungshypothese zur Entstehung der Rechtfertigungslehre, die sie schon in der Bekehrung des Paulus angelegt sieht, verbinden mit der Entwicklungshypothese, die ihre Entstehung in späteren Konflikten sucht. Dadurch kann man ihre begriffliche Entfaltung in den Briefen des Paulus verständlich machen. Diese Entwicklung zu immer größerer begrifflicher Klarheit lässt sich noch genauer nachzeichnen. Mit seiner Wende wurde Paulus bewusst, dass die Gesetzeserfüllung für das Heil nicht ausreicht. Vermutlich formulierte Paulus diese Erkenntnis zunächst als eine additive Rechtfertigungslehre, wie sie in Apg 13,38

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und Gal 2,16a enthalten ist: Wo das Gesetz des Mose nicht mehr rechtfertigen kann, dort rechtfertigt der Glaube – Christus und das Gesetz wirken hier zusammen zum Heil. Auf dem Apostelkonzil und in Antiochien hatte Paulus diese additive Rechtfertigungslehre zu einer alternativen Rechtfertigungslehre zugespitzt, d. h. zur Alternative Christus oder das Gesetz: Nur der Glaube an Christus rechtfertigt – nicht die Werke des Gesetzes. Paulus bringt diese Zuspitzung mit dem antiochenischen Konflikt in Verbindung (Gal 2,11–21). Im Lichte dieser Alternativen deutete er den späteren Konflikt in Galatien und Philippi. Im Galaterbrief beginnt er mit einem zweimaligen Anathema gegen seine Gegner (Gal 1,8.9) und kontrastiert den Geist mit dem Gesetz (Gal 3,2 f; 5,18). Ebenso setzt er im Philipper­brief die Gegner als „Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) in Kontrast zu den Christen, die im „Geist“ Gott dienen (Phil 3,3). Was sie verkörpern, ist für ihn so wertlos wie seine eigene Vorzeit (Phil 3,2–10). Aber Paulus blieb nicht bei solch kontrastiven Urteilen stehen, in denen er den Gesetzeseifer seiner Vorzeit verwarf. Allmählich konnte er auch die positiven Aspekte des Gesetzes (wieder-)erkennen. Im Galaterbrief stehen die positiven und negativen Aspekte des Gesetzes noch unvermittelt nebeneinander: Das Liebesgebot ist einerseits Erfüllung des ganzen Gesetzes und des Christentums (Gal 5,14), die Rückkehr zum Gesetz ist andererseits Rückfall ins Heidentum (Gal 4,8–11). Paulus fehlt noch eine einprägsame Formel für die darin zum Ausdruck kommende Ambivalenz gegenüber dem Gesetz. Wenig später hat er sie in 2Kor 3,6 gefunden. Das Gesetz ist danach zugleich tötender Buchstabe und lebendig machender Geist. Im Römerbrief greift er diese Formel von Buchstabe und Geist gleich zweimal auf (2,29; 7,6) und radikalisiert sie durch den Gedanken eines Konflikts zwischen zwei Gesetzen (7,22 f.25; 8,2): Das eine Gesetz befreit als Gesetz des Geistes und des Lebens von dem anderen Gesetz der Sünde und des Todes (8,2). Wir können in den paulinischen Briefen somit eine schrittweise Wiederaneignung von Werten der verworfenen persönlichen Vorzeit nachverfolgen: Tab. 20: Buchstabe und Geist bei Paulus Gal 5,18 Geist

Röm 7,6 Geist

Röm 8,2 Befreiung zum GESETZ des Geistes und des Lebens

GESETZ

GESETZ

Buchstabe

Befreiung vom GESETZ der Sünde und des Todes

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Die Entwicklung des Paulus zeigt: Seine Gesetzeskritik wurzelt in seiner Damaskuserfahrung. Aber erst in Auseinandersetzung mit Gegnern, die das Gesetz in seine Gemeinden einführen wollen, arbeitet er diese Gesetzeskritik im Galaterund Philipperbrief aus. Sie dient der Polemik in innerchristlichen Konflikten, im Römerbrief aber sucht er vor seiner Reise nach Jerusalem einen Ausgleich. Er rehabilitiert teilweise das Gesetz. Gerade weil es am Ende in zwei Gesetze zerfällt, kann er sagen, dass das wahre Gesetz geistlich ist (7,14) und von denen erfüllt wird, die nach dem Geiste leben (8,4). Insgesamt kann man in einer Zwischenbilanz feststellen: Die persönliche Entwicklung des Paulus ist sein ganzes Leben lang von seinem Damaskuserlebnis geprägt. In 3,21–31 spricht er von der allgemeinen Wende in der Geschichte zwischen Gott und den Menschen im Lichte seiner ganz persönlichen Wende. In 4,1–5,21 spiegelt sich die zunehmende Universalität seiner Mission, die mit den Nachfahren Abrahams begann (4,1–25), aber dann schon im Rahmen der antiochenischen Mission alle Völker umfasste (5,1–21). In Röm 6 verarbeitet er Erfahrungen seiner Heidenmission bis zum antiochenischen Konflikt, besonders die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Verwandlung des Menschen, wie sie in der Sprache der Mysterienreligionen für alle verständlich zum Ausdruck kommt. In Röm 7 greift er noch einmal auf seine vorchristliche Vergangenheit zurück. Auch das entspricht seinem Lebensweg, denn seine selbständige Heidenmission nach dem antiochenischen Konflikt und ohne Rückendeckung durch die antiochenische Gemeinde provozierte eine Gegenmission, die ihn dazu nötigte, sich noch einmal neu mit seiner Vorzeit auseinanderzusetzen und sie in Gal ­1,13–16 und Phil 3,2–10 in die öffentliche Kommunikation einzubeziehen. Dem entspricht der Rückgriff auf die Zeit vor der Erlösung in Röm 7.  Er projiziert seine Auseinandersetzung mit seiner Vorzeit in Situationen hinein, in denen er durch seine Gegner mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert wurde. Die Krisen seiner Europamission fanden ihren Höhepunkt in der Doppelkrise in Ephesus: Dort wurde er in einen Konflikt mit der geographisch entfernten korinthischen Gemeinde verwickelt und in Ephesus aufgrund eines Konflikts mit der unmittelbaren heidnischen Umwelt inhaftiert. Im 2Kor ist diese Doppelkrise überwunden. Paulus ist aus dem Gefängnis freigekommen und versöhnt sich mit der korinthischen Gemeinde. Wenn wir unsere Hypothese weiter verfolgen, dass die Darstellung des Paulus im Römerbrief durch eine Retrospektive seines Lebens geprägt ist, müssten wir in Röm 8 Spuren dieser Doppelkrise und ihrer Überwindung finden. In der Tat gibt es einige Hinweise auf diese Krise, und zwar oft dann, wenn Paulus in Röm 8 ältere Motive aufgreift und mit neuem Akzent versieht. Diese Beobachtungen zeigen zumindest, dass seine Gedanken in Röm 6–8 gut in die Zeit seiner Europamission passen. (1) In 6,1–11 hatte Paulus die Vereinigung der Christen mit Christus durch die Taufe begründet, in 8,17 begründet er sie durch gemeinsames Leiden: Christen

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sind „Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden (συμπάσχομεν/sympáschomen), damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden“ (8,17). Vom Mit-Leiden war zuvor im Römerbrief nicht die Rede. Wenn Paulus in 8,18 nun davon spricht, dass die gegenwärtigen „Leiden“ (παθήματα/pathē´mata) gering zu schätzen seien im Vergleich zur zukünftigen Herrlichkeit, dann könnten darin die παθήματα (pathē´mata) von 2Kor 1,5.6.7 in Ephesus nachklingen. (2) In 6,12–23 hatte Paulus die Erlösung mit einem Herrenwechsel des Sklaven verglichen, bei dem der Sklave dennoch Sklave bleibt. In 8,15–16 korrigiert er dieses Bild: Die Christen sind nicht mehr Sklaven, sondern wurden zu erbberechtigten Kindern Gottes adoptiert. Während Paulus in 6,18.20 den Freiheitsbegriff formal verwendet hatte – der Mensch kann sowohl von der Sünde (6,18) als auch von der Gerechtigkeit frei sein (6,20) –, wird Freiheit jetzt zum positiven Heilsgut: „Denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit (ἐλευθερίαν/eleutherían) der Kinder Gottes“ (8,21). Zeichen der Sehnsucht nach dieser Freiheit ist das Seufzen des Geistes (8,22,23.26). Hat Paulus nicht soeben in Ephesus gelernt, wie „herrlich“ es ist, seine Freiheit wieder zu erlangen? Auch in 2Kor 3,17 verbindet er (nach seiner Freilassung in Ephesus) den Geist des Herrn mit Freiheit: „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (ἐλευθερία/eleuthería)“. (3) Paulus schließt das Kapitel mit einem Hymnus auf die Liebe (8,31–39). Er führt uns in diesem Hymnus in ein Gerichtsforum. Parallel dazu beschwört er all die Leiden, die ihn (und alle Christen) auf Erden treffen können. Höhepunkt dieser Leiden ist das „Schwert“ (8,35). Auch das fürchtet Paulus nicht. Auffallend ist, dass er nur hier in einem Leidenskatalog die Todesstrafe als Extremform des Leidens nennt – die „privilegierte“ Hinrichtungsart, die ihn als römischen Bürger erwartete. Damit spielt er indirekt auf Gerichtsverfahren auf Erden an, die parallel zum Gericht im Himmel stattfinden. Dabei ist der Gegensatz bedeutsam: In dem himmlischen Gerichtsforum, das er zuvor in 8,31–34 entworfen hatte, gibt es keinen Ankläger und keinen verurteilenden Richter. Daher kann Paulus fragen: „Wer will verurteilen (τίς ὁ κατακρινῶν/tís ho katakrinō´n; 8,34)?“ Niemand! Das unerbittlich strenge Gerichtsforum von 2,6–10 verwandelt sich in einen Ort des Freispruchs. Deshalb jubelt Paulus in 8,1: „So gibt es nun keine Verurteilung (κατάκριμα/katákrima) für die, die in Christus Jesus sind“. Wirkt der ganze Hymnus nicht wie ein Echo darauf, dass er fest mit seinem Todesurteil, mit seinem ἀπόκριμα τοῦ θανάτου/apókrima toú thanátou, gerechnet hatte, aber von Gott gerettet wurde (2Kor 1,9 f)? Obwohl in diesem Hymnus auf die Liebe alle Probleme gelöst zu sein scheinen, endet Röm 6–8 in einer Aporie. Wenn eine Verwandlung des Menschen zum Heil notwendig ist, sind alle vom Heil ausgeschlossen, die nicht durch die Taufe ver-

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wandelt wurden. Vor allem der Unglaube Israels muss Paulus zur Anfechtung werden. Sollte ausgerechnet Israel ausgeschlossen bleiben, wenn das Evangelium allen Völkern gilt? Daher ist es nur konsequent, wenn Paulus eine vierte Heilslehre entwirft, die alle bisherigen Heilslehren überbietet.

7.2.4 Heil durch Erwählung Die bisherigen Heilslehren stellten den Glauben und die Verwandlung des Menschen ins Zentrum und gingen davon aus, dass die Menschen innerhalb ihres Lebens ein neues Leben beginnen können. Ihr Akzent lag auf dem, was während eines menschlichen Lebens geschieht. In Röm 9–11 basiert das Heil dagegen in der Erwählung durch Gott, bevor das Leben begann. Gott reagiert hier nicht auf ein gutes oder böses Verhalten, sondern erwählt souverän vor jedem Tun und Lassen die einen zum Heil und verwirft die anderen. Diese Souveränität impliziert, dass Gott seine Gnade auch denen zuwenden kann, die sie ablehnen. Er macht seine Zuwendung zu einem Menschen nicht abhängig von der Zuwendung des Menschen zu ihm. Paulus hat diesen unerschütterlichen Heilswillen Gottes nur für Israel durchdacht, nicht für die vielen Nichtjuden, die das Evangelium nicht kennen oder ablehnen: Die Israeliten sind und bleiben für ihn Geliebte Gottes, auch wenn sie sein Evangelium ablehnen. Ihre Erlösung geschieht durch Konfrontation mit dem wiederkehrenden Christus (11,26), wenn er aus dem Zion, d. h. aus dem Tempel kommt (s. o. 6.2.2). Paulus stellt sich ihre Er­lösung nach dem Modell seiner eigenen Bekehrung vor.189 Auch er war ein Feind des Evangeliums gewesen. Auch ihm war Christus in einer Erscheinung vom Himmel her begegnet, als er noch ein Feind Gottes war. Genauso wird Gott durch eine wunderbare Erscheinung Christi ganz Israel erlösen. Auch in diesem Sinne sieht sich Paulus mit seiner ganz persönlichen Geschichte als eine Widerlegung der Verwerfung Israels (11,1). Daraus bezieht er seine Zuversicht: Was für ihn möglich war, wird auch für ganz Israel möglich sein. Wir müssen nun weiter fragen: Wann ist Paulus zu dieser letzten Radikalisierung seiner Heilsbotschaft vorgedrungen? Ein Anlass, intensiv über das Geschick Israels nachzudenken, war zweifellos schon sein Konflikt mit der judaistischen Gegenmission in Galatien, Philippi und Korinth.190 Das Apostelkonzil hatte ihm die Freiheit gegeben, seine Mission universal durchzuführen, der antiochenische Konflikt hatte ihn genötigt, sie selbständig durchzuführen. Mit Erfolg hatte er in Kleinasien und Griechenland heidenchristliche Gemeinden gegründet, die sich nicht mehr durch die jüdischen Identitätsmerkmale „Beschneidung“ 189 So Hofius, Evangelium, 320; „Israel kommt auf die gleiche Weise zum Glauben wie­ Paulus selbst! […] Paulus sieht und weiß sich als den Prototyp des dem Evangelium gegenüber verschlossenen und des von dem erwählenden Gott preisgegebenen Israel“. 190 Vgl. dazu Theissen, Gegenmission.

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und „Speise­gebote“ von ihrer Umwelt unterschieden. In Reaktion darauf versuchte eine Gegenmission, seine Gemeinden wieder ins Judentum zu integrieren. Das muss für Paulus ein Anlass gewesen sein, neu über das Geschick Israels nachzudenken. Wir können dabei drei Stufen seiner Gedanken über Israel erkennen, die den drei Kapiteln von Röm 9–11 entsprechen.191 (1) Im Ersten Thessalonicher- und im Galaterbrief ist er weit entfernt von der Vision, wie sie in Röm 11,26 zu finden ist, dass ganz Israel gerettet wird. Über die Juden, die ihre Propheten und Christen verfolgen, ist nach 1Thess 2,16 endgültig oder ganz der Zorn Gottes gekommen.192 Nach Gal 3,6–29 sind nur die Christen die wahren Nachkommen Abrahams, dessen Nachkommen gespalten sind in Kinder Hagars und Saras (Gal 4,21–31). Diese Spaltung greift Paulus in Röm 9 auf und setzt sie mit den Gegensatzpaaren Jakob und Esau, Mose und Pharao fort. In Röm 9 klingt noch immer die Position des Galaterbriefs nach, nur dass im Römerbrief die Nachkommen Hagars nicht mehr die Nachkommen Saras verfolgen (das Motiv der Verfolgung begegnet erst bei Elia in 11,2 f). Die Spaltung Israels aber ist vergleichbar: Die Verheißungen an Israel gelten nur einem Teil der Nachfahren Abrahams, die anderen scheinen verloren. Wahrscheinlich sind im Galaterbrief nur die christlichen Gemeinden das „Israel Gottes“ (Gal 6,16; vgl. dazu unsere Diskussion in 6.2.1). (2) 2Kor 3,12–18 bezeugt eine neue Sicht auf Israel. Eine Decke liegt auf dem Verstehen der Israeliten. Paulus liest aus Ex 34,34 die Verheißung heraus: „Wenn sich Israel aber bekehrt zu dem Herrn, wird die Decke abgetan“ (2Kor 3,16). Diese Position klingt in Röm 10 nach. Das Wort, das Glauben fordert, wird auch Israel angeboten. Wenn Paulus nach Jerusalem aufbricht, tritt er in die Fußstapfen des Freudenboten von Jes 52,7 (= 10,15), der Jerusalem das Heil verkündigt. Aber Paulus ahnt, dass sein Erfolg als Freudenbote gering sein wird. Er zitiert eine alttestamentliche Stelle, an der Gott pessimistisch ausruft: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt nach dem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht“ (Jes 65,2LXX = 10,21). 191 Drei Phasen unterscheidet Bell, Call: eine Substitution Israels durch die Kirche (1Thess, Gal), eine Übergangsphase (1/2 Kor, Phil) und die Überzeugung von der bleibenden Erwählung Israels (Röm). 192 Sänger, Gottlosigkeit, 145, sieht dagegen eine große Kontinuität im Denken des Paulus über Israel. Schon im 1Thess sei ihm bewusst, dass zwischen dem Heil Israels und dem der Heiden eine enge Beziehung besteht. Indem Juden die Missionierung der Heiden verhindern, schließen sie sich selbst vom Heil aus. Im Rahmen dieser gleich bleibenden Prämisse einer Interdependenz von Juden und Heiden aber hat Paulus seine Meinung über Israel u. E. grundlegend geändert: In 1Thess 2,16 schließt die Feindschaft von Juden gegen die Heidenmission die Juden vom Heil aus, in Röm 11,11–27 ist ihre Feindschaft dagegen Voraussetzung für das Heil der Heiden und dadurch indirekt auch für die Rettung von „ganz Israel“.

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(3) Der letzte Schritt in dieser theologischen Entwicklung ist die Überzeugung, dass „ganz Israel“ gerettet wird (11,26). Dieser Gedanke wurde ihm während der Vorbereitung seines Jerusalembesuchs wichtig. Wir haben diese Entwicklung schon (in 5.4) diskutiert und gefragt, ob ihm vielleicht erst während des Diktats von Röm 9–10 der Gedanke gekommen war, dass ganz Israel gerettet würde. Aber wahrscheinlich ist in ihm diese Gewissheit schon vorher, zwischen der Abfassung des Galater- und des Römerbriefs zum Durchbruch gelangt. Ergänzend sei hier nur noch daran erinnert, dass Paulus bereits in 2,16 andeutet, dass am Ende Gott durch Jesus Christus die Menschen richten wird – unparteiisch für Juden und Heiden „nach seinem Evangelium“. Er könnte schon hier im Blick haben, dass seine frohe Botschaft (sein „Evangelium“) am Ende auch bei Juden Erfolg haben wird. Das Mysterium Israels geht auf jeden Fall über alles hinaus, was er vorher im Galater- und 2. Korintherbrief gesagt hat. Es basiert auf einer Offenbarung.193 Diese durch Offenbarung begründete innere Gewissheit ist sein großer Trost, wenn er nach Jerusalem aufbricht. Er kommt zwar in eine ihm feindlich gesinnte Umgebung, aber er ist sich gewiss, dass Gott auch seine Feinde zum Heil bestimmt hat – so wie Paulus selbst, der einmal zu den Feinden des Evangeliums gehört hatte. Die Auseinandersetzung mit der Gegenmission hatte Paulus nicht nur zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Israel, sondern auch mit sich selbst genötigt. Obwohl er seine Gegner bekämpfte, hat er mehr von ihnen gelernt, als er sich eingestehen will. Seine Gegner wollten die christlichen Gemeinden ins Judentum reintegrieren. Paulus hatte zunächst dagegen gehalten, nur die Christen seien das wahre „Israel Gottes“ (Gal 6,16), nur sie wären die wahre „Beschneidung“ (Phil 3,2). Mit seinen Gegnern teilte er aber in diesem Konflikt prinzipiell das Ziel, an der Einheit des Judentums festzuhalten. Seine Gegner wollten diese Einheit durch Übernahme jüdischer Identitätsmerkmale durch alle (Heiden-)Christen sichern. Paulus aber denkt an eine Reform des Judentums, durch die auch Heidenchristen im Judentum ihren Ort finden können, ohne Beschneidung und Speisegebote übernehmen zu müssen. In diesem Konzept kann man Spuren der Auseindersetzung mit seinen Gegnern entdecken. Paulus entwickelt seine Vision einer Öffnung des Judentums in „Gegenabhängigkeit“ von ihnen: Er widerspricht

193 Unwahrscheinlich ist die These von Kim, Mystery, vorher in ders., Origin, das Mysterium von 11,25 f sei Paulus schon bei seiner Bekehrung vor Damaskus offenbart worden. S. Kim stützt sich dafür auf das sogenannte Revelationsschema der deuteropaulinischen Briefe in Kol 1,24–29 und Eph 3,1–13. In ihnen wird retrospektiv das ganze Wirken des Paulus als Offenbarung des Mysteriums von der Aufnahme der Heiden ins Gottesvolk gedeutet. Paulus selbst kannte im Galaterbrief ganz gewiss noch nicht das Mysterium von der endzeitlichen Rettung ganz Israels; vgl. Keller, Gottes Treue, 87–90.

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ihnen, ist aber in seinem Widerspruch von ihnen inspiriert.194 Das ist auch an einigen Kleinigkeiten erkennbar. Paulus schwört am Anfang des Israelteils bei zwei Instanzen: „in Christus“ und „im heiligen Geist“ (9,1). Nachdrücklich versichert er, dass er nicht lügt (οὐ ψεύδομαι/ou pseúdomai). Damit bezieht er sich auf 3,1–8 zurück: „Gott ist wahrhaftig und alle Menschen sind Lügner“ (3,4). Ein Lügner wäre Paulus, wenn er die Verheißungen an Israel leugnen würde. Die persönliche Einleitung in 9,1–5 zeigt, dass das, was er in diesen drei Kapiteln zu Israel schreibt, seine Gegenreaktion auf die in 3,8 bezeugten Vorwürfe ist. Er rechnet offensichtlich damit, dass man ihn mit seinen früheren Aussagen konfrontieren könnte, um seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Umso mehr betont er, dass er nicht lügt. Was er nicht sagt, ist, dass manches von dem, was er in 9,1–11,36 schreibt, in der Tat eine ­revocatio dessen ist, was er früher gesagt hat. So ist seine Verwendung des Israelbegriffs gegenüber derjenigen im Galaterbrief eine revocatio. Nach Gal 6,16 sind nur christliche Gemeinden das „Israel Gottes“. Diese Bemerkung richtete sich gegen Gegner, die die galatischen Christen aus Israel „ausschließen“ wollten, wenn sie sich nicht beschneiden ließen (Gal 4,17). Im Römerbrief sagt er dagegen, „ganz Israel“ sei zur Rettung bestimmt. Zu „ganz Israel“ gehören alle Juden, einschließlich der judenchristlichen Gegen­missionare. Im galatischen Konflikt hatte er seinen Gegnern zweimal ein Anathema entgegen geschleudert (Gal 1,8.9). In 9,3 beteuert er dagegen, er selbst wolle lieber verflucht sein, als seine Solidarität mit Israel zu leugnen. Er wendet das Anathema gegen sich selbst, das einmal eine Kampfansage an andere gewesen war. Das klingt so, als nähme er damit das Anathema des Galaterbriefs zurück. Paulus widerruft im Römerbrief auch Aussagen, die er im Philipperbrief getroffen hatte. Dort hatte er seine judenchristlichen Gegner als „Feinde des Kreuzes Christi“ bekämpft und ihnen ewiges Verderben angedroht (Phil 3,18 f). In Röm 11,28 nennt er die Juden zwar erneut „Feinde“ (ἐχθροί/echthroí) um des Evangeliums willen, aber noch mehr betont er, dass sie unabhängig davon um der Väter willen Gottes Geliebte seien. In Phil 3,4–11 wertet er die Merkmale seines Judentums als „Schaden“ und „Dreck“ ab. In Röm 9,4 f rühmt er sich dagegen der Privilegien Israels. Obwohl er in Phil 3 und Röm 9 jeweils verschiedene Vorzüge nennt, revidiert er seine Haltung, wenn er in Phil 3,5–8 seine Abstammung aus „Israel“ negativ bewertet, eben diese Abstammung aber in Röm 11,1 als Argument gegen die Verwerfung Israels anführt. 194 Manson, Letter, 4, hat die gemeinsame Prämisse des Paulus und seiner Gegner klar erkannt: „The first eleven chapters are devoted to the troubles of the Ephesian ministry, the ­question, can one be a good Christian without embracing Judaism? To this Paul’s answer is that the real question, and the only question for Jews, is, can one be a good Jew without embracing Christianity?“ Man muss hier nur noch hinzufügen, dass Paulus dabei an ein reformiertes Judentum denkt, das sich in der gegenwärtig beginnenden Endzeit für die Heiden öffnet.

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Wie aber kann man darüber hinaus plausibel machen, dass Paulus ausgerechnet von seinen Gegnern auch zu seinem „Reformprogramm“ eines sich öffnenden Judentums inspiriert worden ist? Widerspricht dem nicht seine maßlose Polemik gegen sie – vor allem im 2. Korintherbrief? Aber gerade diese Polemik gibt Hinweise für eine Erklärung seiner Entwicklung. Die Gegner des Paulus fordern laut 2Kor nicht die Beschneidung und Einhaltung der Speisegebote, sie rühmen sich aber, Kinder Abrahams zu sein. Paulus lässt sich auf eine Überbietungskonkurrenz mit ihnen ein: „Sie sind Hebräer – ich auch! Sie sind Israeliten – ich auch! Sie sind Abrahams Kinder – ich auch! Sie sind Diener Christi – ich rede töricht: ich bin’s weit mehr!“ (2Kor 11,22 f). Paulus hätte fortfahren können: Sie vertreten die Einheit von Christen und Juden – ich überbiete sie auch darin! Sie wollen die juden- und heidenchristlichen Gemeinden wieder zusammenführen  – ich noch viel mehr! Die hier erkennbare Überbietungskonkurrenz entspricht einer auch bei anderen Themen erkennbaren Tendenz im Leben des Paulus. In seiner vorchristlichen Zeit wollte er alle Altersgenossen durch seinen Eifer im Judentum (Gal 1,14) und in seiner christlichen Zeit Petrus, den ersten Apostel der Christen, im Einsatz für die „Wahrheit des Evangeliums“ überbieten (Gal 2,5). Als Apostel wollte er durch seine Arbeit alle anderen Apostel in den Schatten stellen: Mehr als alle habe er gearbeitet! (1Kor 15,10). Als homo religiosus wollte er alle Glossolalen in der Zungenrede übertreffen (1Kor 14,18). Diese Überbietungs­ thematik konnte Paulus in sich aktivieren, als er seine Gegner in Galatien, Philippi und Korinth bekämpfte. Was sie wollten, konnte er auch, nämlich Christen und Juden wieder zusammenführen! Sein Gegenkonzept entwickelt er im ­Römer­ brief. Er schreibt seine Gedanken dazu in einem sozialen Kontext nieder, der diesen Gedanken einer Zusammenführung von Christen und Juden erleichterte: In Korinth konnte sich die Gemeinde als Teil des Judentums verstehen, ohne Beschneidung und Speisegebote zu praktizieren. Durch den Prokonsul Gallio war allen Christusanhängern in Korinth bestätigt worden, dass sie zum Judentum gehörten. Hier konnte in Paulus eine Vision entstehen: Müsste nicht ein Judentum vorstellbar sein, in dem auch die Heidenchristen ihren Platz finden konnten? Genau diese Vision entwickelt er im Römerbrief. Aber nicht nur eine Konkurrenz- und Überbietungsthematik hat Paulus befähigt, Gedanken seiner Gegner aufzugreifen. Schon das Schlüsselerlebnis seines Lebens, seine Bekehrung, zeigt seine Begabung zu einem erstaunlichen Wandel bei gleichbleibenden Strukturen. Er übernahm mehrfach in seinem Leben Positionen, die er einmal bekämpft hatte. So hatte Paulus die ersten Christusanhänger bekämpft, weil sie sich zu weit für Nichtjuden geöffnet hatten, dann aber hatte er sich zu ihnen bekehrt und war unter ihnen der Missionar geworden, der die Öffnung für die Heiden weiter getrieben hat als alle vor ihm. Dasselbe Muster wiederholte sich noch einmal im antiochenischen Konflikt. In ihm geriet er hart mit Petrus und Barnabas aneinander, die den Judenchristen

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entgegenkommen und koscher essen wollten, um wegen Speisefragen nicht die Einheit der Gemeinde aufs Spiel zu setzen. Paulus sah dagegen in ihrem Verhalten eine Gefährdung der christlichen Freiheit und der Wahrheit des Christentums. Als er aber später in Korinth in seiner eigenen Gemeinde einen analogen Konflikt um Speisefragen lösen musste – und dabei ging es nicht nur um koscheres Essen, sondern um sehr viel mehr: um Götzenopferfleisch, also um Fleisch, das mit „verwerflicher“ heidnisch-kultischer Verehrung zu tun hatte –, da zeigt sich, dass Paulus von seinen ehemaligen „Gegenspielern“ gelernt hat, wie man tolerant mit solchen Konflikten umgehen kann. Um der Liebe willen plädiert er nun dafür, auf das Recht zu verzichten, alle Speise zu essen. Ebenso erging es ihm mit seinen Gegnern in Galatien und Philippi. Er verdammte und verfluchte sie, aber die Größe des Paulus bestand darin, dass er sich trotzdem von ihrem Programm einer Einheit von Juden und Christen inspirieren ließ, seinen eigenen Traum von dieser Einheit durch Öffnung des Judentums zu entwickeln. Seine Gegner vertraten eine „Rückkehrökumene“: Die Heidenchristen sollten in den Schoß des Judentums zurückkehren. Paulus setzte dem eine „Öffnungsökumene“ entgegen: Das Judentum sollte sich für die heidenchristlichen Gemeinden öffnen. Um diese Öffnung des Judentums möglich zu machen, aktivierte Paulus ferner den Erwählungsgedanken in einer originellen Weise. Paulus setzt ihn schon in seinem ältesten Brief in 1Thess 1,4 voraus.195 Dort führt er zu einer Aussonderung der Erwählten unter den Heiden. Verbunden ist er hier mit einem vernichtenden Urteil über die Juden (1Thess 2,16). Dieser Erwählungsgedanke ist elitär – nur einige sind erwählt, die anderen sind verloren. Das Neue der Erwählungslehre in Röm 9–11 ist dagegen der Universalismus, der auch jene Juden einschließt, die er in 1Thess noch ausgeschlossen hatte. Neu ist im Römerbrief ferner die Vertiefung des Erwählungsgedankens durch die Rechtfertigungslehre, die im 1Thess noch fehlt, aber im Römerbrief mit der Erwählungslehre unmittelbar verbunden wird. Wenn Paulus hier vom „Rest“ aufgrund von „Erwählung aus Gnade“ (11,5) spricht, fügt er betont hinzu: „Ist’s aber aus Gnade, so ist’s nicht aus Verdienst der Werke; sonst wäre Gnade nicht Gnade“ (11,6).196 Eine radikalisierte Rechtfertigungsgewissheit hat hier die Ausweitung der Erwählung möglich gemacht. Gottes Gnade gilt jetzt nicht nur dem Sünder, sondern auch dem Ungeborenen und den Ungehorsamen – unabhängig von deren Haltung. Denn Gott hat die Freiheit, auch die zu erwählen, die ihn verwerfen. Bei diesem vierten Heilskonzept der Erwählung, das er in Röm 9–11 entfaltet, steht Paulus in einem Dialog mit einem prädestinatianischen Denken im Juden 195 Nach Becker, Paulus, 138–148, vertritt der 1Thess eine Erwählungstheologie. Paulus beginnt seine Entwicklung mit ihr, sie wird aber später radikalisiert. 196 Die Verbindung von Erwählungslehre mit der Terminologie der Rechtfertigungslehre findet sich in 9,11 f.30–32; 10,3 f.5–13; 11,6.

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tum, wie es in den Qumranschriften begegnet.197 Oft wird mit solch einem Prädestinationsglauben eine moralische oder religiöse Überlegenheit gerechtfertigt: Die einen sind erwählt, die anderen verworfen. Paulus aber setzt den Prädestinationsglauben in Röm 9–11 ein, um diese behauptete Überlegenheit in Frage zu stellen. Bevor Menschen Gutes und Böses getan haben, wurden sie erwählt oder verworfen (9,11–13). Gott hat dabei die Freiheit, seine Entscheidung jederzeit zu revidieren. Er kann auch die, die nicht erwählt waren, neu erwählen, und die lieben, die vorher nicht geliebt waren (Hos 2,25 = Röm 9,25). Weil Gott seine Erwählung revidieren kann, darf sich keiner über den anderen erheben. Jedes SichRühmen ist ausgeschlossen: Wenn aber einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den Ölbaum eingepfropft worden bist und teilbekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich (11,17 f).

Paulus radikalisierte also seinen jüdischen Prädestinationsglauben zugunsten einer fundamentalen Gleichheit aller Menschen. Die Heiden waren früher ungehorsam, sind aber jetzt zum Glauben gekommen. Die Juden sind in der Gegenwart ungehorsam, werden aber von Gott in Zukunft gerettet. Beide Gruppen sind vor Gott gleichwertig: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (Röm 11,32). Während Paulus unsere Imagination in den ersten drei Kapiteln des Römerbriefs in die Diaspora gelenkt hatte, zu Juden, die unter Heiden wohnen und sich mit ihnen auseinandersetzen, führt er unsere Gedanken in Röm 9–11 nach Palästina in eine jüdische Umgebung. Er beginnt in 9,1–5 damit, die Privilegien Israels aufzuzählen, die Adoption zur Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesschlüsse, die Gesetzgebung, den Gottesdienst und die Verheißungen, dazu die Herkunft des Messias nach dem Fleisch aus Israel. Zwar haben nicht alle Privilegien eine lokale Bindung – wohl aber der Gottesdienst, dessen Zentrum der Jerusalemer Tempel ist, dazu der Messias, der aus Israel stammt. Paulus bringt ihn 197 Vgl. Steudel, Texte, 119: In Qumran, genauso wie bei Paulus spielen „die Begriffe ‚Gnade‘, ‚Erwählung‘, ‚Rest‘ und ‚Bund‘ eine entscheidende Rolle (z. B. CD I 4; II 7; XIX 1–2; XX 21–22)“. Die Qumrangemeinde begründet damit eine dualistische Erwählungslehre. Es geht dabei nicht nur darum, ob einige Menschen das Gesetz halten oder nicht. Gottes Handeln ist entscheidend. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: „Anders als die Verfasser der Qumrantexte allgemein leidet Paulus unter der Situation, dass es Juden gibt, die seinen Weg nicht mitgehen. Anders als in Qumran werden die Abweichler im Römerbrief nicht gehasst und verteufelt. Der Bund und die Erwählung werden ihnen nicht abgesprochen, sie bleiben Gottes Volk, und zwar mit der damit verbundenen Perspektive zukünftiger Errettung“ (ebd., 119 f). Man kann noch weiter gehen: Nicht nur auf ganz Israel, sondern auf alle Menschen zielt der Heilswille Gottes bei Paulus (11,32).

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zweimal mit dem Zion in Verbindung. Der Messias ist der Stolperstein, der in Zion gelegt ist (9,33 = Jes 28,16). Dort erscheint er zur Parusie, indem er aus dem Tempel als Ort der Gegenwart Gottes kommt: „Aus Zion wird der Erlöser kommen“ (11,26 = Jes 59,20 f). In Röm 9–11 tritt Paulus also in einen inneren Dialog mit diesem Judentum, das in Palästina sein Zentrum hat. Er benutzt hier zehnmal die Bezeichnung Israel,198 die er vorher nie im Römerbrief benutzt hat, verwendet dagegen die Bezeichnung „Juden“ nur zweimal (9,24; 10,12)  – im Unterschied zu neun Belegen in Röm 1–8. „Israel“ ist die Selbstbezeichnung der Juden, „Juden“ auch eine Fremdbezeichnung Israels durch andere Völker. Es gibt daher keinen Zweifel: In Röm 9–11 sind wir Zeuge eines innerjüdischen Dialogs. I­srael wird dabei als ein gespaltenes Volk dargestellt. Abraham ist der gemeinsame Stammvater aller Juden, aber Isaak und Ismael, Jakob und Esau sind Gegensätze. Wenn sich Paulus auf Elia bezieht, denkt er an die Christusanhänger als kleine Minorität in Israel – vergleichbar den 7000 Israeliten, die sich weigerten, dem Baal zu dienen. Paulus unterstellt allen Israeliten „Eifer“ (10,2). Damit verallgemeinert er eine jüdische Haltung, die ihn vorübergehend in seiner vorchristlichen Zeit charakterisierte. Eifer (ζῆλος/zēlos) motivierte ihn dazu, Christen zu verfolgen (Gal 1,13–14; Phil 3,6). Aber jetzt konfrontiert er diesen synergistischen Aktivismus des Eiferns mit einem Glauben an Erwählung und Prädestination, der alle menschliche Aktivität ausschließt. Er definiert den Eifer neu: Der wahre Eifer werde nicht von Juden vertreten, die christliche Gruppen zur Anpassung an ihre Sitten zwingen wollen, sondern von Heidenchristen, die Juden dazu reizen, Christen zu werden. Seine Aufgabe als Heidenmissionar ist es, sein eigenes Volk eifersüchtig zu machen. „Eifersüchtig machen“ (παραζηλοῦν/parazēloún, 11,11.14) hat dieselbe Wurzel wie „Eifer“ (ζῆλος/zē´los). Wenn Juden auf diese Weise Christen werden, so ist das nicht ihr Verdienst, sondern ein Wunder wie „Leben aus den Toten“ (11,15). Nur Gott kann Tote erwecken, nur er kann in dieser Weise Menschen zu ihrem Heil „eifersüchtig“ machen. Während Paulus im ersten Teil seines Briefes ein ethisches Judentum in der Diaspora im Blick hatte, das mit Heiden durch seine Gesetzesfrömmigkeit konkurriert, hat er in Röm 9–11 ein „eiferndes“ Judentum in Palästina vor Augen, in dem verschiedene Gruppen miteinander konkurrieren. Der ethischen Gesetzesfrömmigkeit hält er seine These entgegen, dass alle Menschen Sünder sind, den in Palästina konkurrierenden jüdischen Gruppen (den dortigen Judenchristen und nichtgläubigen Juden) die These, dass Gott durch seine Erwählung für alle Menschen Heil schafft (11,32).

198 Röm 9,6–29 (2x); 9,31; 10,19.21; 11,2.7.25.26.

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7.2.5 Zusammenfassung: Die Entwicklung des Paulus Paulus formuliert im Römerbrief die Bilanz seines Lebens und seiner Theologie. Es ist sein persönliches Bekenntnis, in dem er die Entwicklung seiner Konzeption vom Heil noch einmal von seinen vorchristlichen Anfängen bis zur Gegenwart in einer großen Retrospektive seiner theologischen Entwicklung durchläuft. Klar erkennbar sind vier Stadien seiner Entwicklung: seine Gesetzesfrömmigkeit, seine Wende mit dem Durchbruch seiner Rechtfertigungslehre, seine Entdeckung der Verwandlungslehre und seine Aktivierung der Erwählungslehre vor seiner Jerusalemreise. Nur die Abfolge dieser vier umfassenden Heilskonzepte ist für unsere Interpretation wichtig. Wenn wir dann noch einmal innerhalb der verschiedenen Teile des Römerbriefs hin und wieder eine Korrespondenz zwischen der Gedankenfolge im Einzelnen und kleineren Entwicklungen im Leben des Paulus aufgezeigt haben, so ist dies nur eine Interpretationsmöglichkeit, mit der wir den Grundgedanken einer Korrelation von Gedankenfolge und biographischer Entwicklung durchspielen, ohne diese Korrelation damit begründen zu wollen. Begründbar ist sie für die Abfolge der vier Heilskonzepte. Für deren Folge spricht auch eine sachliche Logik. Wichtig aber ist, dass sich Paulus die ganze Zeit nicht nur im Dialog mit sich selbst, sondern auch im Dialog mit verschiedenen Strömungen im Judentum befindet.199 Auch wenn wir die jüdischen Gruppen nicht klar identifizieren können, mit denen er im Römerbrief in einen Dialog tritt, so können wir doch versuchsweise diskursanalytisch eine Zuordnung treffen. In 1,18–3,20 setzt er sich mit der Gesetzesfrömmigkeit eines ethischen Diaspora­ judentums auseinander, das im Tun des Guten die entscheidende Bedingung des Heils sieht. Wenn der Mensch das Gute tut, wird er von Gott als gerecht angesehen. Man spürt eine Konkurrenz zwischen den Juden und den Heiden hinsichtlich des ethischen Handelns. Die Juden sind stolz, in dieser Konkurrenz gut zu bestehen. In diesen ersten Kapiteln des Römerbriefs ist das Heidentum und das Verhältnis von Juden zu ihm immer präsent – auch dann, wenn Paulus Erfahrungen mit pharisäischen Lehrern und zelotischen Eiferern in Palästina einfließen lässt. Paulus nimmt hier an einem „Universalitätsdiskurs“ teil. Mit dem Aufkommen der großen Imperien seit dem hellenistischen Weltreich stellte sich die Frage, was alle Menschen verbindet. Haben sie eine gemeinsame Moral? Gibt es eine gemeinsame Vernunft? Gibt es eine natürliche Gotteserkenntnis? Unverkennbar ist, dass Paulus mit seiner theologia naturalis und seinen Gedanken zur lex naturalis an diesem Diskurs teilnimmt. In 3,21–4,25 steht Paulus in einem Dialog mit einem pharisäischen Judentum, das an ein Zusammenwirken göttlicher Gnade und des Menschen glaubt – nur 199 Theissen, Letter.

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dass Paulus als Bedingung für das Heil nicht das menschliche Handeln, sondern den Glauben des Menschen nennt. Abraham ist für ihn das Urbild dieses Glaubens, aber er versteht ihn  – anders als die meisten jüdischen Texte  – nicht als einen Menschen, der sich durch die Bindung Isaaks im Glauben bewährt, sondern dadurch, dass er Gott vertraute, er werde einen Nachkommen haben. Nicht die Bereitschaft zur Tötung Isaaks, sondern die Hoffnung auf sein Leben wird bei Paulus zum Paradigma des Glaubens. Paulus nimmt hier an einem umfassenden „Heilsdiskurs“ teil. Im Judentum war umstritten, wie der Mensch zum Heil kommt – allein durch Gottes Erwählung, wie die Essener glaubten, allein durch menschliche Gesetzeserfüllung, wie die Sadduzäer lehrten, oder durch einen Synergismus von göttlichem und menschlichem Handeln, welches die Position der Pharisäer war (Jos. Ant. 13,171–173; Bell. 2,162–166). Dabei betonten die meisten Pharisäer den Vorrang göttlichen Handelns vor allem menschlichen Handeln, während ein kleiner radikaler Flügel unter ihnen im Lichte des Zelos-Ideals die Hilfe Gottes an die Bedingung gebunden glaubte, dass sich die Israeliten selbst aktiv für das Heil einsetzen. Die ganze Antike kannte diesen Diskurs in abgewandelter Form: Wodurch wird das Ziel menschlichen Lebens erreicht? Liegt es in der Hand des Menschen allein? Oder ist er auf unverfügbare Güter ­angewiesen? Die beiden ersten Erlösungslehren des Römerbriefs, die Gesetzes- und Glaubensfrömmigkeit formulieren die Bedingungen des Heils aufgrund menschlicher „Aktivität“. Denn auch der Glaube ist ein Akt des Menschen, wenn auch ein Akt, in dem der Mensch anerkennt, dass Gott für ihn und an ihm handelt. Der Glaube ist daher weniger die „Bedingung“ des Heils als vielmehr der „Modus“, in dem sich das Heil im Menschen ereignet. In 6,1–8,39 ergänzt Paulus diese Heilskonzeption durch die Vorstellung einer grundlegenden Verwandlung des Menschen durch das Sterben und Auferstehen mit Christus. Damit wird das Zentrum des Heils in Gott gesehen. Denn Gott allein kann den Menschen wie ein neues Geschöpf neu schaffen. In diesem Abschnitt zitiert Paulus nur einmal das Alte Testament. Er beruft sich auf die Taufe, die er als ein symbolisches Sterben deutet und steht damit in einem Dialog mit den paganen Mysterienreligionen, der schon vor Paulus im Judentum begonnen hatte. Paulus lässt wohl auch Erfahrungen eines spirituellen Judentums einfließen, für das Philo Zeuge ist. Paulus vertieft den innerjüdischen Heilsdiskurs durch einen „Erlösungsdiskurs“. Die grundlegende Veränderung gegenüber dem Heilsdiskurs ist die Prämisse, dass der Mensch sich grundlegend ändern muss, um erlöst zu werden. Er muss nicht nur sein Verhalten ändern und umkehren, sondern sein Wesen erneuern und ein „neues Geschöpf “ werden. In Röm 9–11 tritt er in einen Dialog mit einem prädestinatianischen Judentum, wie es bei den Essenern begegnet. Das Heil ist ausschließlich von Gottes Erwählung abhängig. Aber mit diesem Glauben begründet Paulus eben nicht das exklusive Hoheitsbewusstsein einer Heilselite, sondern einen Universalismus, der

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selbst die Feinde Gottes in das Heil einschließt. Gott ist unabhängig von jeder Reaktion des Menschen. Er kann sich selbst über die Ablehnung seines Willens hinwegsetzen, um seinen Heilswillen durchzusetzen. Paulus gibt in dieser radikal theozentrischen Lösung seine Antwort auf den Universalitätsdiskurs: Gott ist frei, alle Menschen zu erwählen. Er gibt auch eine Antwort auf den Heilsdiskurs: Es ist eine Illusion zu meinem, menschliches Handeln könne zum Heil beitragen. Er gibt schließlich eine Antwort auf den Erlösungsdiskurs: Letztlich liegt es bei Gott, auch seine Feinde in Geliebte Gottes zu verwandeln. Schaut man auf die Entwicklung dieser vier Heilskonzeptionen zurück, so liegt der Fokus des Heils am Anfang auf dem Tun des Menschen, schrittweise aber verlagert er sich auf das Tun Gottes. Der Mensch wird erlöst durch Glauben. Er gelangt durch eine von Gott bewirkte Verwandlung zu einer neuen Existenz. Am Ende aber wird er von der unbegründbaren Erwählung Gottes zum Heil bestimmt – vor jedem Tun, vor jedem Glauben und Unglauben, auch vor jeder Verwandlung des Menschen in diesem Leben.200 Paulus endet damit in einer radikal theozentrischen Heilskonzeption. Aber dieser souveräne Gott, der alle zum Heil bestimmt, ist im Menschen durch seinen Geist gegenwärtig. Deshalb kann Paulus unmittelbar an die Entwicklung seiner Erwählungslehre die Verpflichtung des Menschen zum guten Handeln anschließen und dabei auf seine älteste Heilskonzeption zurückgreifen – auf die Bedeutung der guten Handlungen vor Gott. Diese guten „Werke“ haben jetzt keine Heilsbedeutung mehr, sie sind keine Bedingung des Heils, sondern sind dessen Folgen. Es geht um Gehorsam gegen Gott, aber jetzt genauer: gegen Gottes Geist, der nicht nur von außen befiehlt, sondern von innen heraus in den Christen wirkt. Paulus blickt mit dieser Paränese in die Zukunft: Er spricht jetzt die Aufgaben an, die vor ihm liegen, die Reise nach Jerusalem und nach Rom. Wir haben zu zeigen versucht, dass der Römerbrief nur auf den ersten Blick ein Traktat abstrakter theologischer Gedanken ist. Zweifellos ist er voll tiefer theologischer Gedanken. Aber gerade diese Gedanken sind Ausdruck des Lebens. Paulus verarbeitet in ihnen die große Wende seines Lebens. Erkennbar sind vier Heilskonzepte  – sein Weg von einer Gesetzes- zur Glaubensfrömmigkeit, dann zu einer Verwandlung- und Erwählungslehre. Der Römerbrief ist dadurch ein persönliches Bekenntnis und aufgrund dessen ist (auch) eine psychologische Interpretation nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig.

200 Das widerspricht logisch den vorher von Paulus konzipierten Heilskonzeptionen. Die Erwählung vor jedem Tun und Lassen des Menschen wäre ja auch unabhängig von Glaube und Taufe. Will man das Heilsverständnis des Paulus dennoch widerspruchsfrei deuten, muss man die Erwählungslehre als eine spezielle Lösung nur für Israel ansehen. Sieht man in ihr dagegen eine für alle Menschen geltende Lehre, muss man Paulus einen Widerspruch zuschreiben. Hinter diesen widersprüchlichen Heilslehren aber würde umso mehr eine Konstante sichtbar: der Wille Gottes zum Heil.

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7.3 Der Zwiespalt des Menschen Eine introspektive Lektüre des Römerbriefs Paulus arbeitet im Römerbrief nicht nur retrospektiv seine theologische Ent­ wicklung auf, sondern reflektiert in Röm 7 intensiv in Ich-Aussagen über die inneren Konflikte menschlichen Lebens, so dass man lange Zeit mit großer Selbstverständlichkeit angenommen hatte, dass Paulus hier eigene Erfahrungen verarbeitet hat. Vor Augustinus hat in der Antike wohl selten jemand mit solch einer introspektiven Sensibilität für innere Vorgänge Ich-Aussagen formuliert. Umstritten ist, wie dieses Ich zu deuten ist. Sicher ist, dass es im Zusammenhang mit den anderen Ich-Aussagen im Römerbrief interpretiert werden muss. Daher beginnen wir mit einem kurzen Überblick über die wenigen expliziten­ IchAusagen in diesem Brief. Im Briefrahmen sind Ich-Aussagen stilgemäß; dennoch haben sie schon hier einen sehr persönlichen Charakter, weil Paulus viel von sich selbst in ihnen enthüllt: Paulus spricht über seinen Auftrag, seine Erwartungen und sein Bekenntnis zum „Evangelium“ (1,1–7.10–15.16 f). Er schreibt sich eine einzigartige Rolle zu (1,1–7) und verwandelt sich dann im Proömium (1,8–15) von einem Apostel, dessen Botschaft in der ganzen Welt Gehorsam finden soll, zu einem Briefschreiber, der sich dafür entschuldigt, dass er die römische Gemeinde bisher nicht besucht hat (1,13). Sein Gesandtenschreiben wird zu einem privaten Freundschaftsbrief. Paulus sucht nicht mehr Gehorsam, sondern Trost im gemeinsamen Glauben (1,12). Trotz Verwendung von konventionellen Formeln des Brief­ eingangs wird sein prekäres Verhältnis zur römischen Gemeinde sichtbar. Paulus kann keineswegs sicher sein, dass die Gemeinde seinen Besuch nicht auch als Belastung und Gefährdung erlebt! Sein Verhältnis zu ihr ist ambivalent: Er tritt ihr zugleich als Autoritätsperson und als Bittsteller entgegen. Solche Rollenkonflikte spiegeln innere Konflikte der Personen, die diese Rollen ausüben, wider. Jedoch können wir diese inneren Prozesse nur erschließen, denn Paulus reflektiert seine Situation nicht in introspektiven Gedanken. Nach der Briefeinleitung tritt sein Ich stark zurück. Im ersten Teil des Römerbriefs (1,18–3,20) finden wir neben wenigen Wir-Sätzen201 nur zwei Ich-Aussagen: Die erste betrifft das Evangelium des Paulus als „mein Evangelium“ (2,16). Aufhorchen lässt hier eine Reflexion über ein inneres Tribunal in jedem Menschen. In ihm klagen sich Gedanken an und verteidigen sich. Im Jüngsten Gericht wird Gott als Richter nach dem „Evangelium“ des Paulus urteilen. Kurz danach hören wir in einer zweiten Ich-Aussage, wie Paulus sich selbst gegen Vorwürfe verteidigt und Kritik an seiner Botschaft zurückweist: „Wenn die Wahrheit 201 Es ist ein metakommunikatives „Wir“: „Was sagen wir denn nun?“ (3,9); „Wir wissen aber“ (3,21). Nur einmal kommt ein „Wir“ vor, das eindeutig Paulus (und seine Anhänger) meint (3,8).

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Gottes durch meine Lüge herrlicher wird zu seiner Ehre, warum sollte ich dann noch als ein Sünder gerichtet werden?“ (3,7). In der dann folgenden Grundlegung der Rechtfertigungsbotschaft, im zweiten Teil des Römerbriefs (3,21–5,21), schweigt dieses explizite Ich, meldet sich dafür aber implizit in Gestalt eines kollektiven Wir zu Wort. Paulus schließt sich in dieses Wir ein, wenn er von unserem Vater Abraham spricht (4,1.16) oder davon, dass „wir mit Gott durch den Tod seines Sohnes versöhnt sind“ (5,10). Dieses Wir lässt eine Gemeinschaft aufgrund von Glauben sichtbar werden ­(4,1–16.24 f; 5,1–11). Die Verwandlungslehre (6,1–8,39) beginnt verstärkt mit Wir-Aussagen über die gemeinsame Taufe, in der diese Glaubensgemeinschaft begründet ist (6,1–8). Solche Wir-Aussagen begegnen ferner bei einem Vergleich der Zeit vor und nach der Taufe (7,4–6) und sehr oft bei der Darstellung des neuen Lebens im Geiste in Röm 8. Paulus betont, dass die Christen Gott als Abba anrufen (8,15), dass sie mit Christus leiden und verherrlicht werden, dass aber Gott „für uns“ ist (8,31) und uns nichts von seiner Liebe scheiden kann (8,39). Im Zentrum dieser Verwandlungslehre verlebendigt Paulus einen Rückblick auf die Zeit vor der Erlösung dadurch, dass er in der Antwort auf die Frage: „Was sollen wir denn nun sagen? Ist das Gesetz Sünde?“ (7,7a) zu expliziten Ich-Aussagen übergeht (7,7–25). Dieses Ich analysiert scharfsinnig einen Konflikt in seinem Inneren und zeichnet sich durch eine ungewöhnlich introspektive Klarheit aus. Viele Exegeten sehen in ihm nur ein rhetorisch-fiktives Ich im Stil der Diatribe, d. h. der populärphilosophischen Rede, in der allgemeine Gedanken dialogisch verlebendigt wurden, und behaupten, Paulus spreche nicht von sich selbst.202 Dialoge oder Reden dieser Art wurden damals in der Grammatikschule als Personerfindung oder Prosopopoeia (προσωποποιία/prosōpopoiía) geübt und in der Rhetorik praktiziert: Schüler mussten z. B. formulieren, was eine bekannte historische Gestalt in einer bestimmten Situation geredet haben könnte. Redner wurden angehalten, ihre Rede dadurch lebendig zu machen, dass sie einer­

202 Man könne dieses Ich durch ein τίς/tís oder „jemand“, ersetzen, argumentiert der klassische Vertreter dieser Position Kümmel, Römer 7, 132. Ein Beispiel für den dialogischen Stil der Diatribe ist die Selbstdarstellung des Kynikers in Epikt. III 22,45–48: „Aber wie ist es möglich, glücklich zu leben, wenn man nichts hat, nackt, ohne Haus und Herd im Elend sein Dasein fristet, ohne Diener und ohne Heimat auskommen muss? Siehe, da hat euch Gott einen Mann gesandt, der durch die Tat gezeigt hat, dass es möglich ist. Seht mich an: Ich habe kein Haus, keine Heimat, keinen Besitz, keinen Diener. Ich schlafe auf dem blanken Boden. Ich habe keine Frau, keine Kinder, keinen schäbigen Gouverneurspalast, sondern nur die Erde, den Himmel und einen armseligen Rock. Und was fehlt mir? Lebe ich nicht ohne Leid und ohne Angst? Bin ich nicht frei?“ Auch in Röm 7,7–25 antwortet Paulus auf eine Frage in 7,7a. Die Antwort gibt er in 7,7b–25. Epiktet identifiziert sich zweifelslos mit dem Kyniker, dem er in seiner Rede seine Stimme verleiht. Es ist m. E. kaum möglich nachzuweisen, dass Paulus sich nicht mit dem „Ich“ identifiziert, das ab 7,7b spricht.

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anderen Person z. B. die Gedanken ihres Gegners in den Mund legten.203 Die meisten Exegeten nehmen auch für Röm 7 an, dass Paulus hier durch ein rhetorisch-fiktives Ich eine andere Person reden lässt – sei es Adam und Eva oder den bekannten Charaktertypus eines Menschen, der sich nicht beherrschen kann. Paulus würde sich also von diesem Ich und dessen Zwiespalt distanzieren. Unbestritten ist jedoch, dass Paulus sich mit dem unmittelbar folgenden Wir in Röm 8 identifiziert: Vorher hatte ein einsames Ich über seine Verlorenheit geklagt (7,7–25), jetzt wechselt Paulus mit der Überwindung dieser Verlorenheit zu WirAussagen über (8,4.12.15–27). Er spricht generell über die Christen. Unbestreitbar ist ferner seine hohe Ich-Beteiligung im abschließenden Bekenntnis: „Aber in all dem überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben … uns scheiden kann von der Liebe G ­ ottes“ (8,38 f). Wichtig ist für unser Problem: Nach diesem Hymnus auf die Liebe leitet Paulus bei der Entfaltung seiner Erwählungslehre (Röm 9–11) alle drei Kapitel betont mit Ich-Aussagen ein (9,1–5; 10,1 f; 11,1). Dazwischen artikuliert er Gedanken zu Erwählung, Unglauben und Errettung Israels in einem intensiven Dialog mit Gott, dessen Stimme sich immer wieder in einem Ego divinum zu Wort meldet. Immer dann, wenn es um sein Predigtamt geht (10,8; 11,13 f), schaltet Paulus sich selbst mit einem Ich oder Wir ein.204 Im dann folgenden paränetischen Teil (12,1–15,13) legt Paulus Wert darauf, dass er kraft der besonderen „Gnade“ (χάρις/cháris), die ihm persönlich gegeben ist (12,3; 15,15) spricht. An seiner Ich-Beteiligung kann kein Zweifel bestehen. Das wird besonders deutlich, wenn sich Paulus zur Indifferenz von Rein und Unrein 203 Nach Quintilian handelt es sich um die „Erfindung von Personen“, die „der Rede nicht nur Abwechslung, sondern zumal auch erregende Spannung (verleiht). Durch sie bringen wir einmal die Gedanken unserer Gegner so zum Vorschein, als ob sie mit sich selbst sprächen […] und führen sodann in glaublicher Form auch Gespräche ein, die wir mit anderen und die anderen untereinander geführt haben; schließlich können wir so Ratschläge, Scheltworte, Klagen, Lob und Jammern geeigneten Personen in den Mund legen. Ja, sogar Götter vom Himmel herab- und aus der Unterwelt heraufzurufen, ist bei dieser Ausdrucksform statthaft. Auch Städte und Völker erhalten Sprache“ (Quint. inst. IX 2,29–31). Stowers, Speech-in-Character, hat das Ich in Röm 7 als eine Form der προσωποποιία/prosōpopoiía gedeutet. Seine These, dass Paulus in Röm 7,7–25 einen von Akrasía geplagten Menschen in Form einer Prosopopoeia sprechen lässt, fand weithin Anklang. Sie wurde durch Timmins, Speech-In-Character, bes. 97–110, widerlegt: Wenn ein Autor eine andere Person reden lässt, muss das dem Leser durch formale Signale vorher signalisiert werden. Diese Signale fehlen vor 7,7–25. Dass Paulus hier einen „Heiden“ sprechen lasse, dem er schon vorher in 2,1–16 eine Stimme gegeben habe, so dass der Leser auf diesen Rollenwechsel vorbereitet sei, sei unwahrscheinlich. 2,1–16 liege viel zu weit von Röm 7,7 entfernt, um als einleitendes Signal einer Prosopopoeia dienen zu können, die erst ein paar Kapitel später beginnt; dazwischen fänden sich lange auktoriale Texte, in denen Paulus selbst spreche. Ferner spreche in 2,1–16 eher ein Jude. Auch könne der antike Leser in 7,7–25 keinesfalls einen ihm vertrauten typischen „Charakter“ (wie den des von Akrasía gezeichneten Menschen) wiedererkennen, dessen Stimme er von der auktorialen Stimme des Paulus unerscheiden könne. 204 Natürlich begegnet auch in diesem Teil  ein metakommunikatives „Wir“ und „Ich“ (9,14.19.30; 10,2.18.19;11,1.11.13.25).

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bekennt: „Ich weiß und bin gewiss in dem Herrn Jesu, dass nichts unrein ist an sich selbst …“ (14,14). Ähnlich emphatisch hatte er sich vorher zur Liebe Gottes in 8,38 bekannt. Insgesamt aber tritt das Ich des Paulus in der Paränese stark zurück. Ihren Höhepunkt findet seine schrittweise Selbstenthüllung am Ende des Briefes (15,14–33). Paulus fasst dort noch einmal seine Sendung als Apostel der Heiden zusammen (15,14–21), wirbt für seine Reisepläne (15,22–29) und gibt zu erkennen, dass er um sein Leben fürchtet (15,30–32). Die meisten Ich-Aussagen sind also  – abgesehen von Briefeinleitung und -schluss – in 7,7–25 konzentriert.205 Man muss dieses Ich in Zusammenhang mit allen anderen Ich-Aussagen im Römerbrief betrachten.206 Wenn Paulus vor und nach diesem Abschnitt Wir-Aussagen bringt, in die er sich einschließt, dann müsste es umso deutlichere Signale geben, dass er sich beim Ich in 7,7–25 ausschließen will. Nur dann ließe sich die These aufrecht erhalten, dass hier ein rhetorisch-fiktives Ich redet. Auch muss man die literarische Gattung berücksichtigen, in der die Ich-Aussagen begegnen. Sie stehen hier alle im Rahmen eines Briefes. Ihre Funktion ist deshalb von Ich-Aussagen in philosophischen Traktaten zu unterscheiden, wo sie allgemein getroffene Aussagen mit lebendiger Anschauung füllen sollen. Epiktet lehrt z. B. seine Schüler stoische Gelassenheit, indem er in Ich-Form sagt: „Ich muss sterben: Muss ich deshalb auch jammern? Ich soll gefesselt werden: Muss ich deshalb auch klagen? Ich muss ins Exil gehen: Hindert mich etwa jemand daran, dabei zu lachen, fröhlich und glücklich zu sein?“ (Epikt. I 1,22). Wenn Epiktet einmal mit einem Ich auch etwas über sich selbst sagen will, muss er das durch ein besonderes Signal deutlich machen, etwa indem er sagt: „Nimm mich selbst (als Beispiel)!“ (Epikt. I 10,7–9). In Briefen ist dagegen schon die Gattung des Briefes ein Signal dafür, dass ein Ich das persönliche Ich des Briefschreibers ist, wenn nichts anderes dagegen spricht. Das schließt nicht aus, dass im Brief in dialogischer Verlebendigung eine andere Person zitiert wird – so wie Paulus im Ölbaumgleichnis einen Heidenchristen (11,19), in alttestamentlichen Zitaten den Propheten Elia (11,3) und in Schriftzitaten das Ego divinum Gottes sprechen lässt.207 Wo Paulus dieses dialogisierende Stilmittel einsetzt, signalisiert er klar und eindeutig, dass ein anderer redet, indem er z. B. hinzufügt: „Ich rede aber nicht von deinem eigenen Gewissen, sondern von dem des anderen“ (1Kor 205 In 7,7–25 findet sich achtmal ein explizites „Ich“ (ἐγώ/egō´), sonst im Römerbrief mit möglichem Bezug zu Paulus nur sechsmal (3,7; 9,3; 11,1.13; 15,14; 16,4). Einmal meldet sich der Schreiber Tertius mit einem expliziten „Ich“ (16,22). 206 Zu berücksichtigen sind auch die Passagen im Römerbrief, in denen Paulus einer Aussage durch Verben des Sagens und Meinens in Ich-Form besonderen Nachdruck verleiht. Diese finden sich noch nicht in den ersten beiden Teilen des Römerbriefs, sondern erst in der Verwandlungslehre (6,19; 7,1.18,21; 8,18.38), ein wenig häufiger dann in der Erwählungslehre (9,1; 10,2.18 f; 11,1.11.13.25) und in der Paränese und im Briefschluss (12,1.3; 14,14; 15,8.14 f.18.29 f). 207 Vgl. das Ego divinum in 9,13.15.17.25.33; 10,19–21;11,4.27; 12,19;14,11.

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10,29 f). Wir können davon ausgehen: Wenn er ohne besondere einleitende Signale im Ich-Stil schreibt, schließt er seine Person mit ein.208 Eine entfernte Analogie zu diesen Ich-Aussagen ist das Ich in den Briefen Senecas an Lucilius, bei denen es sich um literarische Briefe handelt, die an ein allgemeines Publikum gerichtet sind. Hier meint Seneca mit Ich oft eindeutig sich selbst  – und stilisiert sich dabei als ein lebendiges Modell für seine Leser; sein Ich ist ein „ideales“ Ich.209 So schreibt Seneca z. B. über den Tod: In dieser Stimmung schreibe ich dir diesen Brief, als solle mich unmittelbar beim Schreiben der Tod abberufen: bereit bin ich, abzugehen, und deswegen erfreue ich mich des Lebens, weil ich, wie lange das dauern wird, nicht allzu wichtig nehme. Vor Eintritt in das Alter sorgte ich dafür, gut zu leben, im Alter gut zu sterben: gut zu sterben, heißt aber, gern zu sterben (Sen. epist. VI 61,2).

Beeindruckend ist auch eine andere Stelle über den Suizid, die zur Illustration­ zitiert sei: Vor einer Krankheit werde ich nicht mit Hilfe des Todes fliehen, solange sie heilbar und nicht beeinträchtigt die Seele. Nicht werde ich Hand an mich legen wegen Schmerzen: so zu sterben heißt unterliegen. Wenn ich allerdings weiß, ständig muss ich ihn erleiden, werde ich gehen, nicht seiner selbst wegen, sondern weil er mir hinderlich sein wird bei allem, dessentwegen ich lebe. Schwach ist und feige, wer wegen des Schmerzes stirbt, töricht, wer um des Schmerzes willen lebt. Aber ich komme in die Länge, es ist außerdem ein Thema, das einen Tag hinbringen kann: und wie kann ein Ende mit dem Leben machen, wer es mit einem Briefe nicht kann? Lebe also wohl: das wirst du lieber lesen als Tod und nichts als Tod. Leb wohl (Sen. epist. VI 58,36 f).

Der reale Autor Seneca schrieb diese Gedanken nach seinem Zerwürfnis mit Nero in Erwartung seines Todes auf – bald darauf sollte Nero ihn zum Selbstmord verurteilen. In seinem idealen literarischen Ich war sein reales Ich enthalten. Ähnlich verhält es sich wahrscheinlich auch mit dem viel umrätselten Ich in Röm 7,7–25. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt: Paulus ringt im Römerbrief darum, als Person in Rom (und in anderen Gemeinden) anerkannt zu werden. Er wirbt um Einfluss und will als Missionar unterstützt werden. Daher muss er mit seiner Person positive Aussagen verbinden.210 Sollte er nicht auch dort, wo er intensiver als sonst ein Ich ins Spiel bringt, seine Adressaten für sich gewinnen wollen? Dagegen spricht nicht, dass sich Paulus hier als einen gespaltenen Menschen präsentiert. Paulus schaut auf einen Konflikt zurück und dankt Gott, dass er aus ihm erlöst wurde (7,25). Er stellt sich damit als positives Beispiel eines Bekehrten dar, 208 Vgl. das Ich in 1Kor 6,12.15; 13,1–3.11 f; 14,11.14; Gal 2,18–21. 209 Z. B. Sen. epist. I 1,4; 2,5; 3,3; 6,4 f; 8,1–3; 9,10 usw. 210 Für Esler, Conflict, 222–242, ist das ein Argument dafür, beim Ich in Röm 7 Paulus persönlich einzuschließen. Er bestreitet jedoch, dass dieses Ich so stilisiert ist, dass sich Heidenchristen mit ihm identifizieren können. Paulus spreche hier zu Judenchristen und stelle sich selbst als prototypischen Juden dar.

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der von einem Konflikt erlöst wurde, unter dem alle Menschen leiden. Auch zeigen seine Briefe, dass er keine Scheu hat, in ihnen seinen Gemeinden in den geringsten Rollen gegenüber zu treten – als „Narr in Christus“ und „Abschaum der Welt“ (1Kor 4,9–13) oder als jemand, der in „Torheit“ spricht (2Kor 11,21;12,11). Dabei merkt man ihm an, dass er sich zutraut, gerade mit dieser demonstrativen Selbsterniedrigung die Adressaten für sich zu gewinnen. Paulus wirbt auch im Römerbrief vor einer ihm unbekannten Gemeinde für sich selbst. Es ist unwahrscheinlich, dass er es nicht auch mit den „Ich-Aussagen“ in Röm 7 tun will. Sie haben eine rhetorische Absicht und zugleich einen persönlichen Hintergrund.211 Wir werden diesen persönlichen Hintergrund des Paulus nun anhand eines Gangs durch den Römerbrief erhellen. Wir lesen jetzt diesen Brief nicht als Aufarbeitung seiner biographischen Entwicklung (wie in Kapitel 7.2), sondern als einen Text, in dem Paulus sich immer wieder direkt oder indirekt selbst analysiert, immer mit Blick auf seine Wirkung auf die Adressatinnen und Adressaten des Briefs.

7.3.1 Der Zorn über eine sündige Menschheit: Paulus in Röm 1,18–3,20 Die ersten beiden Teile des Römerbriefs (1,18–5,21) werden vom vergeblichen Streben nach Gesetzesgerechtigkeit und von der Rechtfertigungslehre bestimmt. Wenn Paulus die Themenangabe mit den Worten einleitet: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht …“ (1,16),212 bringt er damit eine große Ich-Beteiligung an diesem Thema zum Ausdruck und lässt eine apologetische Situation erkennen. Wer betont, dass man sich des Evangeliums nicht schämen muss, setzt voraus, dass es auch als Schande angesehen wird.213 211 Zu den direkten Ich-Aussagen im Römerbrief kommen indirekte Selbstzeugnisse, in denen Paulus etwas von sich enthüllt: Paulus stilisiert seine Aussagen durch vorgegebene Rollen der religiösen Tradition (vgl. Sundén, Religionen). Sie enthalten Persönliches in verdeckter Form. Man darf annehmen, dass er sich mit der Rolle Abrahams identifiziert, wenn er von ihm als „unserem Vorvater nach dem Fleische“ spricht (4,1), ferner identifiziert er sich mit Adam (vgl. Lichtenberger, Das Ich Adams), Mose und Elia (7,7–13; 10,1 f; 11,1–4). Alle diese Aussagen sind nicht Wiedergabe persönlichen Erlebens, sondern dessen Bearbeitung mit Hilfe vorgegebener Rollen, die er in seiner Heiligen Schrift fand. Aber was gibt es Persönlicheres als die Verarbeitung eigener Erfahrungen? Das Leben vollzieht sich in Deutungen. Es wird zum­ eigenen Leben erst als gedeutetes Leben. 212 Dass „Sich-nicht-schämen“ urchristliche Bekenntnissprache ist (Mk 8,38; 2Tim 2,8), schließt eine Ich-Beteiligung des Paulus nicht aus. Unmittelbar vorher betont Paulus, ihm „liege alles daran, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen (εὐαγγελίσασθαι/euangelísasthai)“ (1,15). Das wird in 1,16 durch das Substantiv εὐαγγέλιον/euangélion aufgegriffen. 213 Paulus hatte noch in 1,14 betont, er sei Schuldner von „Weisen und Unweisen“. Da er das in Korinth schreibt, wird er daran denken, dass die Kreuzespredigt für die Weisheit der Welt eine Torheit ist, wie er in 1Kor 1,18–31 gezeigt hat; vgl. Hartwig/Theissen, Gemeinde, 235.

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In 2,16 greift er noch einmal auf diese Einleitung zurück, wenn er von Gottes Gericht „nach meinem Evangelium“ spricht. Man kann diese Wendung nicht als nachträglich hinzugefügte Glosse abwerten.214 Der Satz erinnert inmitten einer dunklen Gerichtspredigt an die Verheißung, dass das „Evangelium“ des Paulus in erster Linie Rettung und nicht Verurteilung bedeutet. Es weist voraus auf die Botschaft des Briefes, dass sich am Ende Gott über alle erbarmen wird (11,32). Vor allem wird der Leser daran erinnert, dass Paulus in diesem Brief seine persönliche Botschaft als Evangelium entfaltet. Paulus wird im ersten Teil nur an einer Stelle direkt persönlich: In 3,1–8 nimmt er durch zwei Fragen die Gliederung des Römerbriefs vorweg: (1) Ist Gott untreu gegenüber seinem Volk? (2) Soll man das Böse tun, damit das Gute heraus­komme? Er wird diese Fragen in umgekehrter Reihenfolge in Röm 6–8 und 9–11 behandeln. Die erste Frage stellt sich Paulus selbst. Dennoch dürfte sie ein Echo von Kritik an ihm und seiner Botschaft sein. Er beantwortet sie zunächst mit der allgemeinen Aussage: „Gott ist wahrhaftig und alle Menschen sind Lügner“ (3,4), dann wiederholt er sie in Form einer Ich-Aussage: „Wenn aber die Wahrheit Gottes durch meine Lüge herrlicher wird zu seiner Ehre, warum sollte ich dann (mit betontem ἐγώ/egō´) noch als Sünder gerichtet werden?“ (3,7). Natürlich meint Paulus nicht, er sei in besonderem Maße verlogen, sondern er behauptet, dass jeder Mensch durch seine Untreue gegenüber Gott ein Lügner ist. Er veranschaulicht diese Einsicht durch ein „typisches“ Ich, das alle Menschen einschließt, auch ihn selbst. Eine Antwort auf diese Frage gibt er erst in Röm 9–11. Dort beteuert er am Anfang mit Rückgriff auf 3,7, dass er nicht lüge (9,1) und bringt sich an entscheidender Stelle selbst als Beispiel für die Treue Gottes ein: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn ich (wieder begegnet ein betontes ἐγώ/ egō´) bin auch ein Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamm Benjamin!“ (11,1). Hier ist Paulus kein negatives Beispiel dafür, dass alle Menschen verlogen und untreu sind. Vielmehr ist er ein Beweis für die Treue Gottes gegenüber Israel, weil er von einem Feind Gottes zu dessen Missionar wurde. Während sich Paulus den ersten Vorwurf selbst zu stellen scheint, reagiert er mit dem zweiten Vorwurf mangelnder Treue gegenüber dem Gesetz explizit auf Kritik an ihm:215 „Ist es etwa so, wie wir verlästert werden und einige behaupten, dass wir sagen: Lasst uns Böses tun, damit Gutes daraus komme? Deren Verdammnis ist gerecht“ (3,8). Vielleicht spricht er im Wir-Stil, weil sich dieser Vorwurf allgemein gegen seine Heidenmission und damit auch gegen andere Missionare und Christen richtet. Konsens besteht auf jeden Fall darin, dass sich Paulus nicht gegen fiktive Gegner verteidigt, sondern gegen tatsächliche Vorwürfe. Er denkt an 214 So u. a. Bultmann, Glossen, 282 f. 215 Der zweite Vorwurf wird in 3,8 durch „und“ angeschlossen und dadurch mit dem ersten Vorwurf verknüpft. Da der zweite Vorwurf von realen Gegnern erfolgte, ist anzunehmen, dass dies auch für den ersten Vorwurf zutrifft.

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Gegner wie diejenigen, die ihm später in Palästina vorwerfen werden, „dass du alle Juden, die unter den Heiden wohnen, den Abfall von Mose lehrst und sagst, sie sollen ihre Kinder nicht beschneiden und auch nicht nach den Ordnungen leben“ (Apg 21,21). Wahrscheinlich kursierten solche Vorwürfe überall, wo seine Gegner aufgetreten waren. Für uns ist folgende Überlegung entscheidend: Wenn Paulus sich gegen seine Verleumder mit der Androhung ewiger Strafe wehrt – „deren Verdammnis ist gerecht!“ (3,8) –, dann ist das für ihn nicht nur eine fiktive Diskussion. Er führt sie mit großer Ich-Beteiligung. Den Vorwurf des Libertinismus wird er später in Röm 6–8 behandeln. Der Einwand in 3,8 bereitet den Leser darauf vor, diesen Teil auch als Selbstverteidigung des Paulus zu lesen.216 Im ersten Teil finden wir nur wenige explizite Bezüge auf das Ich des Paulus, aber sie stehen an wichtigen Stellen des Briefes. Darüber hinaus lassen sich implizit Bezüge zu Paulus erschließen. Paulus formuliert zunächst eine Anklage gegen die Heiden (1,18–32), dann wiederum eine Anklage gegen deren Ankläger, die eben das tun, was sie ihnen vorwerfen (2,1–11). Danach hören wir indirekt die Verteidigung der angegriffenen Juden: Wir Juden vertrauen auf Gesetz und Beschneidung (2,17.25–29). Durch das Gesetz lehren wir Blinde sehen und führen sie so zur Umkehr (2,19). Die Beschneidung verpflichtet uns, das Gesetz zu erfüllen. Als Beschneidung des Herzens ist sie Umkehr zu Gott (2,25–29). Juden wissen sehr wohl, dass Gott sie zur Umkehr führen will (2,4). Wie gesagt, können wir diese Verteidigung nur indirekt erschließen. Direkt hören wir nur einen heftigen Gegenangriff gegen Paulus. Es wurde behauptet, er lehre: „Lasst uns das Böse tun, damit Gutes daraus komme“ (3,8). Röm 1,18–3,20 gibt Einblick in einen intensiven Dialog zwischen Paulus, den Heiden und den Juden. Er ist zugleich ein Dialog, der in allen Menschen vor sich geht: Vor dem Tribunal Gottes streiten sich anklagende und verteidigende Gedanken, in die sich die Stimme des Gewissens als Zeuge des Gesetzes mischt (2,15). Was Paulus als Anklage in 1,18–2,11 formulierte und als Verteidigung in 2,17–29 voraussetzt, dürfen wir uns als Stimmen in diesem inneren Dialog vorstellen. Auch die Stimme des Paulus ist durch seine Botschaft in ihm präsent. Denn Gott wird das Verborgene der Menschen richten „nach meinem Evangelium“ (2,16). Sein Evangelium ist der Freispruch für Juden und Heiden. Paulus gibt hier einen Hinweis darauf, dass das dialogische Geschehen in 1,18–3,10 auch ein innerer Dialog in ihm ist. Daher können wir auch dort einen persönlichen Hintergrund annehmen, wo er nicht explizit angesprochen wird. Wir vermuten, dass der Zorn Gottes über alle Menschen in 1,18–32 auch die Aggressi 216 Anders Stowers, Speech-in-Character, 192: „If one asks whether Paul gives his readers any clues at all elsewhere in the letter that this (sc. 7.7–25) might be his autobiography, the answer is clearly ‚no‘“. Diese Behauptung ist nicht korrekt, denn Paulus sagt mit Nachdruck, dass er sich gegen einen persönlich gegen ihn gerichteten Vorwurf verteidigt. Seine Verteidigung ist zwar keine „Autobiographie“, aber eine Apologie mit autobiographischem Hintergrund.

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vität des fundamentalistischen Juden Paulus gegen die Sünder und Feinde Gottes zum Ausdruck bringt. Der Gesetzesstolz des Juden in 2,17–24 spiegelt auch seine frühere Gesetzesfrömmigkeit. Der Vorwurf, er benutze Böses zur Verwirklichung des Guten, ist auch eine Stimme in ihm selbst. Noch wichtiger aber ist: Wie der Zorn Gottes stellvertretend den Gekreuzigten traf, so traf einstmals die fundamentalistische Aggressivität des Paulus stellvertretend die Anhänger des Gekreuzigten. Wahrscheinlich hat Paulus in seiner Vorzeit Christus als Verfluchten bekämpft, aber aufgrund der Damaskusvision diesen Fluch neu gedeutet: Er wurde für ihn zu einem „Fluch“, den Christus stellvertretend für andere auf sich genommen hat.217 Zwar wird man diese immer wieder vermuteten Zusammenhänge nie sicher nachweisen können, aber sie liegen nahe, wenn man damit rechnet, dass vieles in den Gedanken des Paulus einen persönlichen Hintergrund in seiner Biographie hat.

7.3.2 Die Rechtfertigung des Gottlosen: Paulus in Röm 3,21–5,21 Im zweiten Teil des Römerbriefs nimmt sich Paulus noch mehr zurück als im ersten Teil. Wir finden hier hin und wieder eine persönliche Färbung seiner Gedanken, aber weder direkt noch indirekt eine introspektive Reflexion. ­Paulus schildert eine allgemeine Wende vom Unheil zum Heil. Seine Gedanken zum „Erweis der Gerechtigkeit Gottes“ durch Freispruch des Sünders im Gericht (3,25 f) könnten dabei einen persönlichen Hintergrund haben. Nirgendwo hat Paulus so beeindruckend das Heil als Freispruch in einem Gerichtsverfahren verkündigt wie im Römerbrief: „Für die, die in Christus sind, gibt es keine Verurteilung“ (kein κατάκριμα/katá­krima) (8,1). Durch Christus wurde das Verdammungsurteil in einen Freispruch verwandelt. Im Galaterbrief hatte er die Rechtfertigungslehre ohne diese forensische Bildlichkeit entfaltet. Als möglichen biographischen Hintergrund für die Intensivierung der forensischen Bilder im Römerbrief (2,5–11; 8,31–34; 14,10–12) hatten wir auf den Freispruch des ­Paulus in Ephesus hin­ge­ wiesen: Paulus hatte fest mit seinem Todesurteil (ἀπόκριμα τοῦ θανάτου/apó­kri­ ma toú thanátou) gerechnet (2Kor 1,9). Seinen Freispruch nennt er eine Gnadengabe (χάρισμα/chá­risma) (2Kor 1,11). Das Todesurteil (das κατάκριμα/katá­krima) über alle Menschen (5,16.18) wird in der Adam-Christus-Typologie durch die Gnadengabe des Lebens (χάρισμα/chá­risma; 5,15.16) überwunden. Auch hier färbt vielleicht persönliches Erleben die allgemeinen Aussagen des Paulus. Das gilt weit mehr noch für die Abrahamtypologie. Die zentrale Aussage: „Abraham glaubte Gott, und das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“ (Gen 15,6), ist wahrscheinlich schon dem vorchristlichen Paulus wichtig gewe-

217 So eine verbreitete These seit Lightfoot, Galatians, 153. Vgl. u. a. Dietzfelbinger, Berufung 36 f. Dagegen Tuckett, Conversion.

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sen:218 Abrahams Glaube zeigte sich in jüdischen Texten vor allem in seiner Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern.219 Diese Bereitschaft, Menschen einschließlich der engsten Verwandten um einer guten Sache willen zu opfern, gehörte zum Zelos-Ideal, denn der Eifer für das Gesetz schloss ein Vorgehen gegen Verwandte und Volksgenossen ein, die das Gesetz brachen. An einigen Stellen wird die für Paulus vertraute Wendung von einer „Anrechnung zur Gerechtigkeit“ in spätalttestamentlichen und frühjüdischen Texten auf einen fundamentalistischen Eifer bezogen.220 (1) In seiner Abschiedsrede stellt der sterbende Mattathias seinen Söhnen Beispiele des Eifers vor Augen (1 Makk 2,50–58): „Jetzt Kinder, eifert für das Gesetz …! Wurde Abraham nicht in der Versuchung als treu befunden, und wurde es ihm nicht zur Gerechtigkeit angerechnet? … Pinehas, unser Vater, empfing für sein Eifern die Zusicherung ewigen Priestertums … Elia wurde wegen seines Eiferns für das Gesetz in den Himmel emporgehoben“. Die Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn dahinzugeben, wird hier neben die Tat des Pinehas gestellt, der die Israeliten tötete, weil sie gegen das Gesetz verstießen. (2) Die Formel von der Anrechnung der Gerechtigkeit wurde auf Pinehas selbst übertragen: „Nun trat Pinehas auf und hielt Gericht; da ward der Plage gewehrt. Das wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet von Geschlecht zu Geschlecht auf ewige Zeiten“ (Ps 106,30 f). Pinehas war nach Num 25 das Urbild des Eiferers. (3) Im Jubiläenbuch 30,17 f wird die Bluttat an den Sichemiten mit derselben Formel bewertet: Simon und Levi töten die Sichemiten, nachdem diese ihre Schwester geraubt hatten. Mose sagt über sie: „und es wurde ihnen zur Gerechtigkeit aufgeschrieben“. Deswegen wurden die Nachkommen Levis zu Priestern und Leviten erwählt: „Denn er (sc. Levi) eiferte, Gerechtigkeit zu tun und Gericht und Rache an allen, die sich erheben gegen Israel“ (Jub 30,18). Paulus war vor seiner Bekehrung vom Ideal des Eifers (ζῆλος/zē´los) ergriffen gewesen: Er wollte in Israel durch Repressionen gegen eine Minderheit „Gerechtigkeit“ verwirklichen. Dabei hatte er das Beispiel des Pinehas und des Elia, sowie das Opfer Abrahams vor Augen: Die Bindung Isaaks signalisiert die Bereitschaft, die allernächsten Verwandten zu opfern. Da sich Paulus selbst zu seinem früheren Zelos-Ideal bekennt (Phil 3,6; Gal 1,13 f; vgl. Apg 22,3 f), hatte er einmal gehofft, durch Gesetzeseifer vor Gott gerecht zu werden. Seit seiner Bekehrung las 218 Vgl. Haacker, Berufung. 219 Vgl. u. a. 1Makk 2,52; Hebr 11,17–19; Jak 2,18–24; 1Clem 10,7. 220 Vgl. ferner die Wendung in 4QMTT 31 f: „damit es dir zur Gerechtigkeit angerechnet wird, weil du getan hast das Gerade und Gute vor ihm“. Hier ist eine strenge, im Sinne des Schreibers korrekte rituelle Gesetzespraxis gemeint, aber kein Eifer um das Gesetz.

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er Gen 15,6 dagegen in einem neuen Licht. Er verstand die Stelle jetzt so, dass Abrahams Glaube an die Verheißung von Nachkommen zur Gerechtigkeit angerechnet wurde. Gegen den Strom der jüdischen (und urchristlichen) Überlieferung bezieht er jetzt den Glauben Abrahams nicht mehr auf dessen Bereitschaft, seinen Sohn zu töten, sondern auf die todüberwindende Macht Gottes, die ihm trotz seines Alters einen Sohn schenkt: Glauben ist Hoffnung auf das Leben des Sohnes, nicht die Bereitschaft, ihn zu töten.221 Abgesehen von der kleinen Textpassage in 3,1–8 tritt in den beiden ersten Teilen des Römerbriefs das persönliche Ich des Paulus stark zurück. Das ändert sich, wenn wir uns dem nächsten Teil des Briefs zuwenden.

7.3.3 Die Verwandlung des Menschen: Paulus in Röm 6,1–8,39 Im dritten Teil des Römerbriefs antwortet Paulus auf den Vorwurf, er lehre das Böse, damit das Gute herauskomme. Diesen hatte er in 3,8 vorläufig zurückgewiesen, greift ihn danach aber in dialogischen Einwänden noch mehrfach auf: „Was sollen wir nun sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde? Das sei ferne!“ (6,1 f). Dass er diesen Vorwurf in 6,15 und 7,7 noch zweimal wiederholt, zeigt wie tief er durch ihn getroffen wurde. Wo er ihn zurückweist, verteidigt er sich persönlich. Er tut es u. a. mit einem Gedanken, der wie eine Umkehrung dieses Vorwurfs klingt. Der Vorwurf lautete: „Lasst uns das Böse (κακά/kaká) tun, damit das Gute (ἀγαθά/­agathá) daraus komme“ (3,8). Dieser Vorwurf könnte ein Echo in 7,19 haben, wo er durch die Gegenthese auf den Kopf gestellt wird: „Denn das Gute (ἀγαθόν/­agathón), das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse (κακόν/kakón), das ich nicht will, das tue ich“.222 Denn hier begegnen zum ersten Mal nach 3,8 erneut die ethischen Kategorien „gut“ und „böse“. Paulus könnte in 7,19 auf eine verzerrte Darstellung seiner Gedanken zum Zusammenhang von Sünde und Gesetz durch seine Geg 221 Noch in einer zweiten Hinsicht könnte die Abrahamrolle einen persönlichen Zug enthalten. Eine Feststellung zu Abraham lautet: Er hat Ruhm, aber nicht bei Gott. Er wird nicht aufgrund von Lohn, sondern von Gnade gerechtfertigt. Die Stichworte „Ruhm“ und „Lohn“ hatten schon in der Korintherbriefen eine Rolle gespielt: Paulus weigert sich im 2 Kor, sich nach den Maßstäben der Korinther zu „rühmen“. Nur in Torheit wolle er es tun (2Kor 11,16). Wenn er in Röm 4 feststellt: „Abraham hatte Ruhm, aber nicht bei Gott“ (4,2), klingt diese persönliche Problematik nach. Schon vorher hatte er in 1Kor 9,1–23 klargestellt, dass er für seine Tätigkeit als Apostel keinen „Lohn“ erwartet, obwohl er ihn eigentlich verdient hätte. In Abraham, der ohne Ruhm und ohne Lohn ist, rechtfertigt er sich auch selbst. Aber das geschieht in einer indirekten Weise; vgl. Young, Romans. 222 Es handelt sich um eine „Unfreiheitsformel“, weil Freiheit in der Antike als „tun können, was man will“ definiert wird, Unfreiheit dagegen als „nicht tun können, was man tun will“, vgl. z. B. Dion Chrys. or. 14,3: Freiheit ist: „von niemand abhängig sein, sondern einfach tun, was einem gefällt“.

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ner reagieren. Seine These in Röm 7 ist: Das Gesetz verleitet zum Bösen. Das Gesetz war aber für Juden der Inbegriff des Guten. Also vertrat Paulus in den Augen seiner Gegner die sophistische These, man solle Böses tun, d. h. das Gesetz nicht beachten, damit Gutes dabei herauskomme. ­Paulus lehrte in ihren Augen mit dem Verzicht auf Beschneidung und Speisegebote etwas „Böses“, um die Universalität des Heils als etwas Gutes zu verwirklichen. Paulus stellt in 7,14–23 auf jeden Fall klar: Er will nicht Böses tun, um Gutes zu bewirken. Vielmehr verbindet er Gut und Böse so, dass er damit dem Vorwurf in 3,8 direkt widerspricht: Er, der das Gute wollte, hat das Böse bewirkt, obwohl er es verabscheut und hasst. Davon ist er durch Christus befreit worden! Unsere weitere Argumentation soll jedoch nicht auf der Vermutung aufbauen, dass sich Paulus speziell mit der Unfreiheitsformel in 7,19 gegen den Vorwurf in 3,8 verteidigt. Entscheidend ist die Beobachtung, dass er sich seit 6,1 gegen reale Vorwürfe gegen seine Lehre verteidigt. Die Verse 7,7–23 stellen den Höhepunkt seiner Verteidigungsrede dar. Das hier sprechende Ich schließt Paulus dann zweifellos selbst mit ein.223 Spricht gegen diese Deutung von 7,7–25 aber nicht gerade der dialogische Charakter des Textes? Wir hören in diesem Dialog mehrere Stimmen. Woher wissen wir, welche von ihnen die Stimme des Paulus ist? Die antike Rhetorik kennt solche fiktive Stimmen: Vor Gericht lässt der Ankläger manchmal die Opfer einer Straftat in einer fiktiven Rede sprechen, was einen stärkeren Eindruck hinterlässt, als die Schilderung der Untaten des Angeklagten aus der Sicht des Anklägers. Paulus lässt im Ölbaumgleichnis die Zweige reden (11,9) und gibt im Leib-Christi-Bild einzelnen Gliedern des Leibes eine Stimme (1Kor 12,15.16.21). Diese Stimmen berühren den Leser mehr als eine Aussage über den Ölbaum oder den Leib Christi. Könnte Paulus nicht auch in 7,7–23 ein fingiertes Ich reden lassen? Signalisiert er hier in sublimer Weise, dass ein anderer redet? Schauen wir uns die Struktur der drei einleitenden Textabschnitte (6,1 f.15; 7,7) genau an, in denen Paulus den gegen ihn erhobenen Vorwurf beantwortet. Sie haben jeweils vier Teile, bestehend aus Frage, These, Zurückweisung und Begründung. (1) Paulus beginnt 6,1 f mit der metakommunikativen, d. h. auf sein eigenes Sprechen bezogenen Frage: „Was sollen wir nun sagen?“ (2) Darauf folgt die These in Form einer rhetorischen Frage: „Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde?“ (3) Daran schließt eine Zurückweisung an: „Das sei ferne!“ 223 Diese Ausführungen wollen das Problem des Ichs in Röm 7 nicht in allen Facetten diskutieren. Ich habe dies schon an anderer Stelle in Theissen, Psychologische Aspekte, 181–268, ausführlich behandelt. Vgl. ferner Lichtenberger, Das Ich Adams, 109–202.

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Die Antwort wird in Wir-Aussagen entfaltet, bei denen sich Paulus einschließt: „Wir“ (= alle Christen) sind der Sünde durch die Taufe abgestorben.

(4) Paulus rekurriert schließlich zur Begründung auf ein schon vorhandenes Wissen um die Bedeutung der Taufe: „Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft“ (6,3). Dieser Gedanke wird zunächst in der 1. Person Plural formuliert und dann in direkter Anrede in der 2. Person Plural auf die Angeredeten angewandt (6,11–14).

Im folgenden Text wiederholt Paulus noch zweimal den libertinistischen Vorwurf von 6,1. Wieder finden wir die typischen vier Glieder: (1) 6,15 beginnt mit der metakommunikativen Frage: „Wie nun?“ (2) Paulus wiederholt seine These als rhetorische Frage: „Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind?“ (3) Die Zurückweisung dieser These geschieht mit der Formel: „Das sei ferne!“ (4) Wieder rekurriert er zur Begründung auf ein allgemeines Wissen der Adressaten: „Wisst ihr nicht, wem ihr euch zu Knechten macht, um ihm zu gehorchen, dessen Knechte seid ihr …“. Das ist ein allgemeines Wissen wie im Jesuswort der Bergpredigt: „Man kann nicht zwei Herren zugleich dienen“ (Mt 6,24).

Noch ein drittes Mal greift Paulus den libertinistischen Vorwurf von 3,8 in 7,7 auf, jetzt aber mit einer für uns wichtigen Variation des Schemas. (1) Wieder setzt er mit der metakommunikativen Frage ein: „Was sollen wir denn nun sagen?“ (2) Wieder folgt die These in Form einer rhetorischen Frage: „Ist das Gesetz Sünde?“ (3) Wieder bedient sich die Zurückweisung der Formel: „Das sei ferne!“ (4) Danach aber geht es anders weiter. Paulus rekurriert nicht mit einem „Wisst ihr nicht?“ auf ein schon vorhandenes Wissen, sondern geht vom Wir zum Ich über (7,6–25) und formuliert seine These in Ichform: Ich würde die Sünde nicht kennen, ohne das Gesetz“. Dies ist ohne Analogie in den vorhergehenden Passagen.

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In lebendiger Weise schildert Paulus danach den Zwiespalt eines Ichs unter dem Gesetz. Seine Rede ist rhetorisch stilisiert. Daher nimmt man oft an, Paulus lasse ein künstlich konstruiertes Ich einen allgemeinen Gedanken über das Gesetz formulieren. Warum aber tut er es im Ich-Stil? Warum nicht wie bisher durch ein inkludierendes Wir oder ein appellierendes Ihr? Warum greift er hier nicht auf bekanntes Wissen zurück, das er mit seinen Adressatinnen und Adressaten teilt? Die einfachste Antwort lautet, dass Paulus hier einen Gedanken anführt, der einem weit verbreiteten Konsens bei Heiden und Juden in der Antike widerspricht. Überall galt das Gesetz als Weg zum wahren Leben. Paulus aber will herausarbeiten, dass das Gesetz keinen Weg zur Überwindung der Sünde darstellt, sondern die Sünde vermehrt (5,20). Paulus benutzt deshalb hier ein Ich mit betontem ἐγώ/egō´ (7,9 f), weil er für diese unkonventionelle Einsicht auch auf persönliche Erfahrungen zurückgreift. Da sich Paulus in 3,8 vehement gegen einen libertinistischen Vorwurf wehren muss, wird er sich auf jeden Fall persönlich mit den Argumenten identifizieren, die er in Röm 6–7 gegen diesen Vorwurf vorbringt. Daher können wir davon ausgehen, dass er persönlich hinter dem steht, was dieses Ich in 7,7–23 sagt. Dennoch gibt es berechtigte Einwände gegen diese These einer persönlichen Dimension des Ichs von Römer 7, die wir diskutieren müssen. Als ersten Einwand lässt sich festhalten, dass Paulus den in der Antike verbreiteten Topos aufgreift, dass Gesetze und Verbote zur Übertretung reizen. Er rekurriert also auch hier auf ein allgemeines Wissen, auch wenn er es bei seinen Lesern nicht mit einem „Wisst ihr nicht?“ abruft. Dieser Topos begegnet in drei Varianten:224 (1) Ein Verbot lenkt das Begehren auf bestimmte Objekte: „Ständig drängen wir hin zum Verbotenen, wünschen das, was man uns versagt (nitimur in vetitum semper cupimusque negata)“ (Ov. am. III 4,17). Nicht die Begierde, sondern ihr Objekt steht hier im Zentrum. Paulus erwähnt in dem von ihm in 7,7 zitierten zehnten Dekaloggebot jedoch die Objekte der Begierde nicht (ebenso wenig wie in 13,9).225 Wenn er dann schreibt, dass das Gebot „alle Begierde“ in ihm weckt, denkt er wahrscheinlich an viele Formen von Begierde, die sich durch ihre jeweiligen Objekte unterscheiden. Man kann den Gedanken des Paulus auf keinen Fall auf eine bestimmte Begierde, etwa das sexuelle Begehren, beschränken. (2) Ein Verbot steigert den Affekt. Euripides weiß: „Getadelte Liebe drängt noch heftiger“ (bei Plut. mor. 71a). Ähnlich formuliert Ovid: „Reizlos ist das, was 224 Vgl. Wolter, EKK 6/1, 433 f. 225 Dass das Gesetz die Begierde schlechthin verbietet, ist gut belegt: „Das Gesetz hat gesagt, nicht zu begehren“ (4Makk 3,6); Philo zitiert das letzte der Zehn Gebote mit: „Du sollst nicht begehren“ (Spec. 4,78). Die Begierde gilt als Ursprung aller Sünde in Philo Spec. 4,84 f; Decal. 173; ApkMos 19,3 v.l.; ApkAbr 24,8; Jak 1,15; vgl. Wolter, EKK 6/1, 431.

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erlaubt ist; Verbotenes weckt heißere Sehnsucht“ (Ov. am. II 19,3). „Die Wut wird heftiger durch die Mahnung“ (Ov. met. 3,566). Auch wenn in diesen Parallelen nicht von einem Begehren die Rede ist, kann man sie doch in diesem Fall heranziehen. Denn in 7,13 spricht Paulus davon, dass die Sünde durch das Gesetz „überaus sündig“, d. h. intensiviert wurde. Sünde umfasst mehr als die Begierde, auch wenn sie oft als Wurzel alles Bösen gilt. (3) Ein Verbot macht schließlich durch Strafen das Vergehen bekannt und provoziert Nachahmer. So meint Seneca, Claudius habe viel mehr Menschen wegen Vatermords hinrichten lassen als seine Vorgänger, aber gerade deshalb habe sich das Vergehen verbreitet: „Viel weniger wagten die Kinder das äußerste Verbrechen zu begehen, solange das Verbrechen ohne Gesetz war“. Kluge Staatsmänner hätten es daher lieber ignoriert, um zu vermeiden, dass sie durch dessen Strafe „zeigen, es könne geschehen“ (Sen. clem. I 23,1). Die Aussage des Paulus unterscheidet sich von allen drei Varianten. Paulus betont hier nicht, dass das Gesetz bestimmte Dinge begehrenswert macht oder dass es die Begierde intensiviert oder bestimmte Straftaten aufgrund von Nachahmung provoziert. Es geht ihm darum, zu zeigen, dass der Mensch insgesamt dem Begehren verfällt. Die Begierde ist hier ein „menschliches Existenzial“,226 d. h. ihr Aufkommen verändert und bestimmt das ganze Dasein des Menschen und bringt es in einen grundsätzlichen Konflikt mit Gottes Willen. Paulus geht über den allgemeinen Topos in seinen verschiedenen Varianten hinaus, aber er ringt darum, zum Ausdruck zu bringen, was er über die oben genannten konkreten kontraproduktiven Wirkungen eines Verbots hinaus sagen will. Ein Zeichen dafür ist, dass er seine Aussage wiederholt, als habe er im ersten Anlauf noch nicht alles gesagt, was er hatte sagen wollen: Die Sünde nahm das Gebot zum Anlass und bewirkte in mir jegliche Begierde (7,8).

Die Sünde nahm das Gebot zum Anlass, hat mich verführt und durch es getötet (7,11).

Erst die zweite Formulierung dürfte dem näher kommen, was Paulus eigentlich als Aussage vorschwebt. Die Sünde betrügt das Ich und tötet es mit Hilfe des Gebotes. Entscheidend ist: Paulus spricht jetzt nicht mehr von Begierde (ἐπιθυμία/ epithymía), sondern von „Sünde“ (ἁμαρτία/hamartía). Auch in späteren Aussagen über das „Fleisch“ (8,3) fehlt der Begriff des Begehrens, obwohl er „Begehren“ und „Fleisch“ an anderen Stellen kombinieren kann (13,14; Gal 5,17.24). Paulus spricht vielmehr fortan vom „Trachten des Fleisches“ (8,5 f), von „Taten des Leibes“ (8,13), von Krieg (7,23) und von Feindschaft (8,7). Daraus ergibt sich: Die Verfehlungen, die Paulus in 7,11 im Blick hat, lassen sich nicht nur als „Be 226 Ebd., 433.

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gierde“ verstehen. Dies passt zu der Beobachtung, dass es in den Paulusbriefen und der antiken Literatur keine Belege für eine „Begierde“ gibt, das Gesetz zu erfüllen.227 Paulus wurde durch das Gesetz nicht zur Begierde verführt, sondern zum Eifer: Er hatte im Eifer für das Gesetz gehandelt und die Gemeinde verfolgt – im Glauben, dies sei Gottes Wille.228 Die Erkenntnis, dass das Gesetz selbst in die Irre führen kann, ist für Paulus so ungeheuerlich, dass er zwei Anläufe braucht, um diese Tatsache zu artikulieren. Dennoch lehnt er sich auch bei dieser kühnen Aussage, mit der er gedanklich Neuland betritt, an Traditionen an. Das Ich übernimmt hier nämlich Merkmale der Rolle Adams,229 nicht in dem Sinne, dass Adam hier spricht, sondern dass dieses Ich sich nach einigen Aspekten seiner Rolle stilisiert. Adam wurde verführt und betrogen, als er mit dem Gebot konfrontiert wurde, er solle nicht vom Baum des Lebens essen. Gott hatte Adam und Eva angedroht, dass sie noch am gleichen Tage sterben müssten, wenn sie von der verbotenen Frucht äßen (Gen 2,17). Da diese Drohung nach dem Sündenfall nicht eintrat, deutet Philo den angedrohten Tod auf den Tod der Seele (Philo Leg. 1,105 f; vgl. QG 1,16). Auch das Ich in 7,10 stirbt mit dem Kommen des Gebotes.230 Daraus resultiert ein zweiter Einwand gegen die Deutung des Ich auf die Person des Paulus. In 7,10 spricht zweifellos kein individuelles Ich, sondern ein typisches Ich, das nach dem Modell Adams stilisiert wurde. Von Adam hatte ­Paulus noch in 5,12 gesagt: Mit ihm kam die Sünde in die Welt (5,12), ebenso kommt die Sünde jetzt im Ich zum Leben (7,9). Mit dem Gebot begann der Tod (5,12), 227 Räisänen, Gebrauch, hat gezeigt, dass „Begehren“ nicht darin besteht, das Gesetz erfüllen zu wollen. 228 Diese „zelotische“ Deutung der Sünde schwebte auch Bultmann, Theologie, 248, vor, wenn er vom „falschen Eifer“ bei der Erfüllung des Gesetzes spricht. Paulus habe „vielleicht nicht darüber reflektiert, ob die ἐπιθυμία zur Übertretung der ἐντολή oder zum falschen Eifer ihrer Erfüllung verführt“. Jewett, Hermeneia, 448 f, hat diese „zelotische“ Deutung des Begehrens mit einer Modifikation erneuert: Es geht im zehnten Gebot immer um eine Begierde nach etwas, das andere haben. Paulus wollte als Jude mit seiner Gerechtigkeit andere Juden und­ Heiden übertreffen. Trotzdem kann man u. E. den Gesetzeseifer nicht als eine Form der Begierde verstehen, wohl aber ist er eine Form der Sünde. Daher schreibt Paulus nicht der Begierde (7,8), sondern der Sünde (7,11) die Täuschung und Tötung des Ichs zu. In dieser Form kann man die von Bultmann vertretene „zelotische“ Deutung aufrechterhalten. 229 Dazu ausführlich Lichtenberger, Das Ich Adams. Wolter, EKK 6/1, 436 f, will Anklänge an Adam für 7,8–9 ausschließen, deutet dafür aber 7,11 auf dem Hintergrund der Adamgeschichte (S. 438 f). Wenn Paulus auf die Aussage in 7,11 hinarbeitet, dürfte er bereits vorher das Modell Adams vor Augen gehabt haben. Richtig ist: Adam und Eva wird in Gen 2 nicht verboten, die Frucht vom Baum des Lebens zu „begehren“. Aber jüdische Nacherzählungen sprechen von ihrer Sünde als einem „Begehren“ (ApkMos 19). Bei Philo ist die Schlange Sinnbild der „Begierde“ (QG 1,47.48). Die „Begierde“ gilt als Wurzel allen Übels (Spec. 4,85). 230 Wassermann, Death, deutet Röm 7,10 vom Motiv des „Todes der Seele“ bei Plato und will dieses Motiv nicht aus einer jüdischen Traditionsgeschichte ableiten. Aber ein eindeutiger Beleg für den „Tod der Seele“ findet sich nur bei Philo, der in der Sündenfallgeschichte den Sündenfall Adams und Evas als Tod der Seele allegorisch auslegt (Leg. 1,105–108, vgl. Wassermann, ebd., 89–91).

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ebenso stirbt jetzt das Ich durch das Gebot (7,10). Dieses Ich repräsentiert also jeden Menschen, in dem sich die Sünde Adams wiederholt. Aber eben deshalb gilt: Dieses typische Ich schließt als Person logisch auch Paulus mit ein. Darüber hinaus sind in psychologischer Hinsicht Aussagen eines typischen Ichs immer auch durch die individuellen Erfahrungen dessen gefärbt, der diese allgemeinen Feststellungen macht. Das dritte Argument gegen eine Deutung von 7,7–25 auf Erfahrungen des Paulus besagt, dass Paulus dort eine unbiographische Aussage trifft, die seinem Leben widerspricht: „Ich aber lebte einmal ohne Gesetz“ (7,9). Als Jude war Paulus von Geburt an vom Gesetz umgeben. Dagegen lebte Adam einst tatsächlich ohne Gesetz. Spricht Paulus hier nur von Adam, nicht aber von sich? Aber ­Paulus macht auch an anderen Stellen Aussagen, die seinem tatsächlichen Leben wider­ sprechen. In 1Kor 9,20 schreibt er, er sei den Juden ein Jude geworden, obwohl er immer ein Jude war. Hier stilisiert er sein Leben nach der Rolle Christi, der menschliche Gestalt angenommen hat, um Menschen zu retten. In Gal 1,15 f deutet er seine Berufung im Lichte der Prophetenberufung im Alten Testament (Jes 49,1; Jer 1,5). Dabei suggeriert er eine Kontinuität von Mutterleib an bis zu seiner Berufung und relativiert so den Bruch seiner Bekehrung, den er unmittelbar vorher beschrieben hat. Hinzu kommt eine formale Beobachtung zu der angeblich „unbiographischen“ Aussage in 7,9: Das Ich spricht hier von sich selbst im Präteritum. Die Sünde bewirkte durch das Gebot in mir Sünde. Ich lebte ohne Gesetz, ich starb. Das Gesetz betrog mich. Ich-Aussagen im Präsens können leicht als allgemeine Aussagen verstanden werden, Ich-Aussagen im Präteritum lassen dagegen immer an einen bestimmten Menschen denken (wie z. B. die Ich-Aussagen im Präteritum in Gal 2,18 f).231 Sie weisen auf ein „episodales“ Gedächtnis, das Ereignisse bestimmten Orten, Zeiten und Personen zuordnet, nicht aber auf ein „semantisches“ Gedächtnis, das sich auf wiederkehrende Ereignisse und Sachverhalte bezieht. Wenn 7,7–13 eine Widerlegung des gegen Paulus erhobenen Vorwurfs des­ Libertinismus darstellt, dann ist die Apologie des Gesetzes hier gleichzeitig eine Apologie seiner Person. Paulus schildert im Ich-Stil einen Konflikt mit dem Gesetz. Da er sich hier gegen einen ihm persönlich gemachten Vorwurf verteidigt, schließt er sich selbst mit ein. Dieses Ich ist kein rhetorisch-fiktives Ich. 231 Wenn man die Ich-Aussagen des Paulus mit Parallelen vergleicht, so kommen am ehesten Aussagen zu Röm 7,7–23 infrage, die (1) ein explizites „Ich“ (ἐγώ/egō´) enthalten, (2) als Aussagesätze formuliert sind und (3) im Präteritum stehen. Wenn man nach diesen Kriterien folgende Ich-Aussagen durchmustert (Röm 3,7.8; 7,7a.9.14–23.25; 1Kor 6,12.15; 10,29.30.33 f; 13,1–3.11 f; 14,11.14 f; Gal 2,18–20), treffen alle drei Merkmale nur auf Gal 2,19 und Röm 7,9 zu. Da sich Paulus in Gal 2,19 eindeutig in das Ich, das dem Gesetz gestorben ist, einschließt, muss das auch für Röm 7,9 gelten. Vgl. die Tabelle in Theissen, Psychologische Aspekte, 202. Jewett, Hermeneia, 443 f, bringt aus der Diatribe ein Beispiel für eine biographisch gemeinte persönliche Erinnerung (Epikt. I 12).

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Mit 7,14 wechselt Paulus vom Präteritum ins Präsens und schildert als zeit­ losen Zustand den Konflikt, den er in 7,7–13 in seiner Entstehung dargestellt hat. Er spricht von einem Zwiespalt mit sich selbst, den er in die Verneinung der antiken Freiheitsformel kleidet: „Ich tue nicht, was ich will, sondern das, was ich hasse“ (7,15.19). Paulus reiht sich hier in einen Diskurs der antiken Moralpsychologie über Akrasie ein, d. h. über die Unfähigkeit, zu tun, was man eigentlich für gut heißt. Gegenüber 7,7–13 ändert sich etwas im Verhältnis von Gesetz und Ich: Vorher „kommt“ das Gesetz von außen (7,9), jetzt aber ist es ein Stück der Innenwelt des „Ich“. Der „innere Mensch“ identifiziert sich mit ihm (7,22). Der Konflikt zwischen Gesetz und Ich wird jetzt zu einem Konflikt in diesem Ich selbst.232 Dieser Diskurs folgt zwei Modellen:233 Das philosophische Modell orientiert sich an Sokrates. Danach ist fehlende Einsicht die Ursache dafür, dass wir Böses tun. Korrektur der Einsicht zieht daher das richtige Handeln nach sich. Das tragische Modell orientiert sich dagegen an Medea, die trotz ihrer Mutterliebe ihre Kinder tötet. Ihre Leidenschaft ist stärker als ihre moralische Überzeugung.234 Paulus folgt dem tragischen Modell, demzufolge die Vernunft von den Leidenschaften überwältigt wird. Das, was ihn überwältigt, nennt er in 7,5 „Leidenschaften der Sünden“ (im Plural), dann in 7,17.20.23 „Sünde“ (im Singular). Da sich Paulus in 7,7–13 mit dem sprechenden Ich identifizierte, wird er das auch in 7,14–25 tun. Daher müssen wir fragen: Worin bestand die Sünde des Paulus? Was hat ihn in solch einen Zwiespalt mit sich selbst gebracht? Der vorchristliche Paulus hatte sich vorübergehend zu einem aggressiven jüdischen Fundamentalisten radikalisiert. Er war damals seinem Bewusstsein nach ein stolzer Jude gewesen, der im Philipperbrief von sich sagt, er sei „nach dem Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig“ gewesen (Phil 3,5 f). Diese Aussage gilt oft als das entscheidende Argument gegen ein persönliches Verständnis von Röm 7. Ein so selbstbewusste Jude könne nicht gleichzeitig den schweren Gesetzeskonflikt in Röm 7 in sich erlebt haben. Aber der demonstrative Gesetzesstolz des Paulus schließt verdrängte Zweifel am Gesetz nicht aus – im Gegenteil: Sein „Eifern“ für das Gesetz kann Reaktionsbildung auf solche inneren Zweifel sein.235 232 Engberg-Pedersen, filosof, 197–202. 233 Hommel, 7. Kapitel; Theissen, Psychologische Aspekte, 213–223; Wolter, EKK 6/1, 447–452. 234 Eine ausführliche Analyse bei v. Bendemann, Diastase. 235 Theissen, Psychologische Aspekte, 230–244. Lüdemann, Bekehrung, denkt nicht nur an einen unbewussten Konflikt mit dem Gesetz, sondern auch an eine unbewusste Anziehung durch Christus. Richtig daran ist, dass sich der vorchristliche Paulus intensiv mit der Gestalt Christi auseinandergesetzt hat. Wenn er beteuert, er kenne Christus nicht mehr „nach dem Fleische“ (2Kor 5,16), so bezieht er sich auf das Jesusbild, das er als Gegner der Christusanhänger hatte, und bestätigt indirekt, dass er schon vor seiner Bekehrung ein prägnantes Bild von­ Jesus hatte.

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Solche Vermutungen werfen natürlich die berechtigte methodische Frage auf, ob wir unbewusste Verdrängungen im Leben längst verstorbener Menschen durch Exegese jemals werden bewusst machen können? Individualpsychologisch wäre das in der Tat nur bei sehr guter Quellenlage möglich. Kulturpsychologisch aber ist es viel eher zu bewerkstelligen, weil uns für eine ganze Kultur viele Schriftquellen unterschiedlicher Autoren vorliegen. So kann zuweilen anhand schriftlicher Quellen nachgewiesen werden, dass eine ganze Gesellschaft oder Kultur unangenehme Dinge verdrängt hat und ihre Diskussion nicht zuließ. Wir finden im damaligen Judentum in der Tat kritische Stimmen gegen das Gesetz, die alle schroff zurückgewiesen (also „verdrängt“) werden.236 Josephus schildert Simri als Rebellen gegen die Tyrannei des Gesetzes, der deswegen vom Eiferer P ­ inehas getötet wird (Jos. Ant. 4,141–155). Esra wird eine ergreifende Klage über die Unerfüllbarkeit des Gesetzes in den Mund gelegt, die sofort vom Engel Uriel zurückgewiesen wird (4Esr 8,20–36). Philo wendet sich scharf gegen radikale Allegoristen, die sich gegen eine wörtliche Praktizierung des Gesetzes aussprechen (Migr. 89–93). Kulturpsychologisch lässt sich also nachweisen, dass in der öffentlichen Diskussion im antiken Judentum Gesetzeskritik bekannt war, aber verdrängt wurde. Bei Josephus ist der „Eifer“ des Pinehas Reaktion auf die Gesetzeskritik des Simri. Unsere Deutung beruht auf der Annahme, dass Paulus in einem Milieu gelebt hat, das Zweifel und Kritik am Gesetz zwar kannte, diese aber unterdrückte. Er könnte dadurch solche Zweifel kennengelernt haben, ohne sie ­jedoch persönlich geteilt zu haben. Sein Eifer muss daher keine Reaktion auf seine eigenen Zweifel am Gesetz gewesen sein, sondern könnte auch auf eine Mentalität reagiert haben, der er in seinem jüdischen Umfeld begegnet war. Als er aufgrund seiner Bekehrung ein kritisches Verhältnis zum Gesetz gewann, konnte er dann diese Zweifel den Menschen allgemein zuschreiben. In dieser (modifizierten) Form lässt sich die These vom Eifer als Reaktionsbildung auf verdrängte Gesetzeskritik mit Belegen plausibel machen. Aber sie schließt auch in dieser Form nicht aus, dass Paulus in sich selbst Zweifel am Gesetz verdrängt hat. Die Aussagen des Paulus legen in der Tat nahe, dass er auch in sich mit solchen Zweifeln konfrontiert wurde. Paulus weiß, dass Menschen sich selbst betrügen können (Gal 6,3). Er sagt, wenn er von einer Täuschung oder Verführung durch das Gebot spricht, dass ihm der Konflikt mit dem Gesetz ursprünglich nicht bewusst war (7,11).237 Dann aber, nachdem er 7,14 vom Präteritum zum Präsens übergegangen ist, analysiert er diese Situation in immer klareren Gedanken und kann am Ende das Fazit ziehen: „Ich finde ein Gesetz (im Sinne einer Gesetzmäßigkeit), dass 236 Pollmann, Motive, hat diese Texte sorgfältig analysiert und in allgemeine Mentalitätsströme im Judentum eingeordnet. Es sind gewiss nur vereinzelte Stimmen, aber sie sind der zugespitzte Ausdruck für breiter belegbare Einstellungen. 237 Engberg-Pedersen, filosof, 195–197, überschreibt den Abschnitt 7,7–13: „Loven bevidstgør om synden“ („Das Gesetz macht die Sünde bewusst“).

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mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt“ (7,21). Er nimmt in sich einen Konflikt bewusst wahr: „Ich freue mich nach meinem inneren Menschen an dem Gesetz Gottes, aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern“ (7,22 f). „Sich freuen“ und „sehen“ umfassen ein Bewusstsein des Konflikts zwischen Wollen und Tun. Selbst wenn es sich ursprünglich um einen Konflikt zwischen Absicht und faktischen Folgen gehandelt hatte, bei dem die tatsächlichen Folgen nicht im Blick waren,238 wäre dieser Konflikt inzwischen bewusst geworden. In 7,7–23 wird eine Entwicklung von einer Täuschung (7,11) bis zur klaren Erkenntnis einer Gesetzmäßigkeit (7,21) sichtbar. Wir erleben im Text selbst eine Zunahme des Bewusstseins. In der autobiographischen Aussage in Phil 3,4–11 lässt sich ein vergleichbarer Prozess erkennen: Als Jude hielt sich Paulus für untadelig in der Erfüllung des Gesetzes, durch seine Bekehrung aber erkannte er retrospektiv, dass er seine Vorzeit radikal neu bewerten musste. Was früher Gewinn war, wurde jetzt für ihn ein Schaden, was Ehre war, galt ihm nun als Dreck. Analog macht in Röm 7 ein Ich im Rückblick Aussagen im Präteritum, in denen es sich als „betrogen“ darstellt. Es wurde durch das Gesetz getäuscht. Aber danach kommt dieses Ich in Aussagen im Präsens zum Bewusstsein seiner unerlösten Situation unter dem Gesetz. Wenn Paulus in seiner vorchristlichen Zeit in einem unbewussten Konflikt mit dem Gesetz lebte, ist es wahrscheinlich, dass die Verfolgung der Gemeinde auch dadurch motiviert war, dass Paulus diesen unbewussten Konflikt auf die Christen projizierte. Ihn provozierte bei den Christen eine Freiheit gegenüber dem Gesetz, die er sich selbst verwehrte. Indem er die Christen bekämpfte, bekämpfte er ein Stück seiner selbst, das er in ihnen wiederfand. Sein Kampf gegen die Christen half ihm, diesen verdrängten „Schatten“ in sich selbst zurückzudrängen. Was Paulus bei sich damals nicht hatte wahrnehmen wollen – seinen Konflikt mit dem Gesetz –, das konnte er später aufgrund seiner Bekehrung und Berufung akzeptieren: Er konnte sich als gerechtfertigten Sünder verstehen, der das Gesetz missbraucht hatte.239 238 Paulus sagt in 7,15: „Was ich bewirke, beabsichtige ich nicht (οὐ γινώσκω/ou ginō´skō)“? Γινώσκειν/ginō´skein kann in der Tat „etwas beabsichtigen“ und „beschließen“ bedeuten ­(Wolter, EKK 6/1, 446). Das wäre ein Konflikt zwischen bewusster Absicht und faktischer Wirkung. Jedoch bringen die meisten Belege von γινώσκειν/ginōskein in dieser Bedeutung das Perfekt oder den Aorist (z. B. Jos. Ant. 1,195; 14,352; 16,331). Auch in Röm 7,15 läge es näher zu sagen: „Was ich bewirke, habe ich nicht beabsichtigt“ (οὐκ ἔγνω/ouk égnō), falls Paulus an die unabsichtlichen Folgen beabsichtiger Taten denkt. Denn beim Verhältnis von Absicht und Wirkung wird immer eine zeitliche Folge mitgedacht. Beim Präsens dürfte dagegen der kognitive Aspekt dominieren: „Was ich bewirke, verstehe ich nicht“. Daher könnte Bultmann, Theologie, 248, richtig interpretiert haben: Der Betrug durch die Sünde in V.11 besteht darin, dass der Mensch nicht weiß, was er tut (7,15a). Sein Verfehlen des „Guten“ ist nicht nur Verstoß gegen ein Gebot, sondern Verfehlen des Lebens als Ziel, so Bultmann, Römer 7. 239 Stendahl, Apostle Paul, hat bestritten, dass Paulus ein schlechtes Gewissen hatte. Aber warum nennt Paulus sich wegen seiner Verfolgertätigkeit in 1Kor 15,9 eine „Missgeburt“, nicht würdig, das Apostelamt zu bekleiden? Warum die introspektive Darstellung eines inneren Kon-

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Rechtfertigung bedeutet daher für Paulus zugleich Annahme der bisher abgelehnten Christen und Annahme seiner selbst – sie war die Überwindung eines Sozialkonflikts zwischen Paulus und anderen Menschen und zugleich die Überwindung eines Individualkonflikts in Paulus selbst. Auch deshalb ist es unwahrscheinlich, dass für Paulus das Gesetz erst problematisch wurde, als sich seine Gegner in späteren Auseinandersetzungen während seiner Europamission darauf beriefen. Wer, vom Gesetz motiviert, andere verfolgt und sich dann zu den Verfolgten bekehrt, dem war das Gesetz seit seiner Bekehrung problematisch. Doch war seine Gesetzeskritik so kühn, dass er Zeit brauchte, um sie begrifflich auszuarbeiten. Er tat es erst in Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern – zunächst polemisch im Galaterbrief, später in ausgereifter Form mit Kategorien der hellenistischen Moralpsychologie im Römerbrief. Der Konflikt, dessen Bewusstwerden mit dem Übergang vom präteritalen zum präsentischen Teil in Röm 7 beginnt, wird in 7,7–25 zugleich neu gedeutet. Am Anfang stehen sich hier Begehren und Gesetz gegenüber. Hier geht es um einen normativen Konflikt zwischen Norm und Verhalten. Am Ende aber stehen sich zwei Gesetze gegenüber (7,23). Gleichgültig, ob man diese beiden Gesetze im wörtlichen Sinne auf die Tora bezieht oder ein Wortspiel mit dem Begriff ­„Gesetz“ annimmt: In jedem Fall wird der Konflikt mit diesen Begriffen neu gedeutet und dadurch kognitiv umstrukturiert;er wird aus einem normativen zu einem existenziellen Konflikt, bei dem es um die Alternative zwischen zwei normativen Orientierungen geht.240 Solch ein existenzieller Konflikt war der Konflikt des Paulus. Er folgte einem Gesetz, das ihn zu Aggression gegen eine abweichende Minderheit verleitet hatte, und verstieß damit gleichzeitig gegen dasselbe Gesetz, in dessen Zentrum das Liebesgebot stand. Das Gesetz zerbricht ihm deshalb in zwei Gesetze. Sachlich behauptet er mit dem Konflikt der beiden Gesetze in 7,23 dasselbe wie in 2Kor 3,6 und Röm 7,6: Das Gesetz ist zugleich tötender Buchstabe und Leben gebender Geist. Jedoch geht er in 7,23 noch einen Schritt weiter. Aus zwei einander entgegengesetzten Funktionen des Gesetzes – als Geist zum Leben, als Buchstabe zum Tod – werden hier zwei einander bekämpfende Gesetze. In dieser Auseinandersetzung des Paulus mit dem Gesetz sind ein individuel­ ler und sozialer Konflikt unlöslich ineinander verwoben. Der Eifer des Paulus flikts in 7,7–25? Warum erhofft er die endzeitliche Erlösung Israels nach dem Modell seiner eigenen Erlösung (11,25–28): So wie er ein Feind des Evangeliums war, so sind die ungläubigen Israeliten Feinde des Evangeliums. So wie er durch eine Erscheinung Christi bekehrt wurde, so werden auch sie bei der Parusie Christi gerettet werden. Christus wird ihnen dabei „Vergebung der Sünden“ bringen (11,27 = Jer 31,33 f und Jes 27,9). Wenn die Rettung Israels nach dem­ Modell des Paulus dargestellt wird, so impliziert diese Aussage: Auch Paulus erhielt durch die Begegnung mit dem Auferstandenen Sündenvergebung für seine vorhergehende Feindschaft gegen das Evangelium. 240 Die Unterscheidung zwischen normativen und existenziellen Konflikten stammt von Thomae, Konflikt, 117 f.

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hatte eine soziale Dimension, weil Paulus für die kollektive Heiligkeit des Volkes geeifert hatte. Israel sollte unter allen Völkern heilig sein. Gesetzestreue sollte es von den unheiligen Völkern unterscheiden. Dagegen verstießen die Christusanhänger mit ihrer Relativierung von Gesetzesbestimmungen und ihrer Offenheit für die Heiden. Der „Eifer“ des Paulus hatte zugleich eine persönliche Dimension, weil Paulus in ihm seine Altersgenossen überbieten wollte (Gal 1,14). Seine individuelle Verfolgertätigkeit war durch einen Sozialkonflikt mit einer abweichenden Minorität bedingt. In Röm 7 wird ihm nun in einer introspektiven Selbstanalyse bewusst, dass er einst einen ihm unbewussten Gebotskonflikt durchlitten hatte, der nur im Rahmen eines sozialen Konflikts entstehen konnte. Wenn Paulus das Gesetz als Stimulus des „Begehrens“ darstellt, so ließe sich das notfalls noch als ein individueller Konflikt deuten. Wenn er sich aber zum Gesetzeseifer verführen ließ, so war das ein sozialer Konflikt: Es handelt sich um den Eifer für das erwählte heilige Volk im Unterschied zu allen anderen Völkern. Daher endet der Abschnitt nicht in einem Konflikt zwischen allgemeinem Gesetz und individueller Begierde, sondern in einem Konflikt zwischen zwei Gesetzen: dem Gesetz seines Eifers und dem Gesetz der Liebe, dem Gesetz des T ­ odes und dem Gesetz des Lebens. Gesetze sind kollektive Größen, sie binden eine­ Gemeinschaft. Fällt Paulus mit seiner Kritik am Gesetz aus dem Rahmen des Judentums heraus? Darauf gibt es eine klare Antwort: Er gehört damit ebenso ins Judentum wie einst mit seinem Gesetzeseifer. Sein fundamentalistischer Eifer entsprach einer breiten Strömung im Judentum. Aber auch seine Problematisierung des Gesetzes gab einem im Judentum verdrängten Unmut am Gesetz eine Stimme: Pinehas unterdrückt die Gesetzeskritik des Simri, ein angelus interpres weist die Gesetzeszweifel Esras zurück, Philo lehnt die Gesetzesauflösung der radikalen Allegoristen ab. Erst wenn etwas existiert, dann kann es auch abgelehnt werden. Bei Paulus wurde diese im Judentum latent vorhandene Kritik am Gesetz manifest. Nun tritt zu Beginn von Röm 8 der Stimme dieses klagenden Ichs eine andere dialogische Stimme gegenüber. Die Klage gipfelte in dem Ausruf: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?“ (7,24). Ihr antwortet wiederum eine andere Stimme: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn! So diene ich nun mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde“ (7,25). Hier könnte dasselbe Ich sprechen, das in der Zwischenzeit erlöst worden ist. Aber dieses Ich wird noch einmal in zweiter Person in 8,1 f angesprochen: „So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich241 frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“. Ist dieser Zuspruch die Stimme des Paulus? In diesem Fall könnte das vorher klagende Ich jedoch nicht seine eigene Stimme sein. Oder ist die ­klagende 241 So mit den besten Handschriften Sinaiticus (‫ א‬01) Vaticanus (B 03) u. a.

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Stimme des „elenden Menschen“ seine Stimme und der folgende Zuspruch die Antwort Gottes? Am wahrscheinlichsten ist eine dritte Möglichkeit, nämlich dass Paulus in beiden Stimmen anwesend ist. Der Dialog ist ein Dialog in Paulus selbst. Solch eine Differenzierung von verschiedenen Rollen im Inneren ist kein moderner Anachronismus. Paulus spricht in 2,15 vom Gewissen als Zeugen in uns und von den sich gegenseitig anklagenden und entschuldigenden Gedanken. Dort vollzieht sich der innere Dialog als Anklage und Verteidigung, hier als Klage und Zuspruch. Halten wir zu Röm 7 fest: Von der Form des Textes her gibt es keine Einwände dagegen, das Ich als ein typisches Ich aufzufassen, das Paulus logisch einschließt und psychologisch auch durch seine Erfahrungen geprägt ist. Paulus hat es rhetorisch mit Hilfe allgemeiner jüdischer und antiker Traditionen stilisiert. Seine eigene Verfehlung bearbeitet er in einer Weise, die ermöglicht, dass sich alle Menschen in ihr wiedererkennen können. Deshalb spricht er wohl auch nicht direkt von einem „Eifer“ für das Gesetz, als wäre dies die einzige Form, in der man, vom Gesetz provoziert, gegen Gottes Willen handeln kann. Von Eiferern kann sich jeder ohne Schwierigkeiten distanzieren. Hier aber geht es darum, dass sich in diesem gespaltenen und erretteten Ich alle Menschen erkennen können. Paulus antwortet dabei auf persönliche Vorwürfe, die man ihm gemacht hat und identifiziert sich mit dem hier sprechenden Ich und den Argumenten, mit denen er sich verteidigt. Dass sich dieses Ich in mehrere Stimmen zerlegen lässt, ist kein überzeugender Einwand, denn Paulus betrachtet den Menschen als jemanden, der grundsätzlich in einem inneren Dialog begriffen ist. Wir hören in Röm 7 den inneren Dialog des Paulus mit sich selbst – so wie ihn Paulus zum Zweck seiner Selbstdarstellung stilisiert hat. Dabei formuliert er im Ich-Stil einen allgemeinen Gedanken. Dieses Ich ist repräsentativ für jeden Menschen. Es ist ein gefährdetes und klagendes Ich. Es weiß sich dem Tod ausgeliefert und schreit: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib?“ (7,24) Paulus lässt indirekt durchblicken, dass er den Römerbrief in einer Situation schreibt, in der er um sein Leben fürchtet. Er ist auf dem Weg nach Jerusalem und kennt seine dort lebenden fanatischen „Altersgenossen“ gut, mit denen er einst im Eifern um das Gesetz konkurrierte. Auch im folgenden Abschnitt erhalten wir indirekt weitere Einblicke in die Gedanken und das Leben des Paulus, wenn er während der Vorbereitung seiner Reise nach Jerusalem in einen intensiven Dialog mit Gott über das Schicksal­ Israels eintritt.

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7.3.4 Erwählung und Verwerfung Israels: Paulus in Röm 9–11 Paulus enthüllt noch mehr von seiner Person, wenn er den antijudaistischen Vorwurf von 3,1 zurückweist, welcher lautete, er leugne die besondere Rolle Israels und stelle Gott als Lügner dar. Dabei setzt er sich in 9,1 mit zwei Beteuerungen geschickt in Szene: „Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht …“. Trotz rhetorischer Stilisierung kann man diesem Ich ganz gewiss eine Beziehung zu Paulus nicht absprechen. Das wird noch deutlicher, wenn man erkennt, dass die drei persönlichen Einleitungen in Röm 9,1–5; 10,1 f und 11,1 einer gewissen „biographischen“ Ordnung folgen.242 Zu Beginn aller drei Kapitel bringt Paulus sich selbst mit seiner Person ins Spiel, zunächst als Israelit, der über Israel klagt (9,1–5), dann als Fürsprecher für Israel (10,1) und schließlich als exemplarischer Israelit (11,1). Aus der „Biographie“ des Paulus werden jeweils verschiedene Ausschnitte sichtbar: In 9,1–5 identifiziert er sich mit Israel aufgrund von Geburt und Herkunft. In 10,1 f (bzw. ab 9,30) identifiziert er sich mit seinen Stammverwandten aufgrund ihres Unglaubens und Eiferns: Die Juden haben ebenso wie einst Paulus in der Zeit seines Eiferns Anstoß an Christus genommen.243 In 11,1–32 aber wird seine Erwählung und Errettung der entscheidende Zeuge für die endzeitliche Errettung von ganz Israel. So wie Paulus durch eine unmittelbare Begegnung mit dem erhöhten Christus gerettet wurde, wird auch Israel durch eine Begegnung mit dem zur P ­ arusie zurückkehrenden Christus gerettet.244 Dieser biographische Hintergrund ist in Röm 9–11 so deutlich, dass alle Aussagen des Paulus über Israel auch als Aussagen über ihn selbst gelesen werden können. Das hat weitreichende Konsequenzen: Aussagen über die Spaltung Israels sind dann indirekt auch Aussagen über eine Spaltung in Paulus, dem Repräsentanten Israels. Aussagen über den Unglauben und Glauben Israels sind dann indirekt auch eine Aussage über­ Paulus, der vom Feind Christi zum Christusanhänger konvertiert ist. Aussagen über die Rettung Israels sind dann auch Aussagen über die Rettung des Paulus. Die Identifikation von Paulus mit Israel nimmt im Laufe der drei Kapitel des Israelteils zu. In 9,1–5 äußert er den irrealen Gebetswunsch, anstelle Israels selbst 242 Vgl. Theissen, Auseinandersetzung. 243 Was Paulus hier über das Judentum insgesamt sagt, ist eine Aussage über „sein“ Judentum. Das Ideal des Eifers war im Judentum weit verbreitet, aber nicht alle Juden vertraten es aktiv. Was Paulus über das Judentum sagt, ist eine Generalisierung, aber keine Verzerrung. Zutreffend ist, dass die meisten Juden „in der Meinung, durch Werke zum Ziel zu gelangen“ (9,32), das Gesetz praktizierten. Solch einer Gesetzesfrömmigkeit verdanken wir trotz der Kritik des Paulus sehr viel. 244 So Hofius, Evangelium, 320; „Israel kommt auf die gleiche Weise zum Glauben wie­ Paulus selbst! […] Paulus sieht und weiß sich als den Prototyp des dem Evangelium gegenüber verschlossenen und des von dem erwählenden Gott preisgegebenen Israel“.

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den Fluch Gottes zu tragen. Paulus spricht hier als Christ, der im Kontrast zu seinen jüdischen Landsleuten steht, die seinen Glauben ablehnen. Paulus steht hier in Konflikt mit seinem Volk. Aber er erlebt nicht nur einen Konflikt mit seinem Volk, sondern spricht als ein Mensch, der auch in sich einen Zwiespalt erlebt und erleidet: „Ich selber wünschte, verflucht (ἀνάθεμα/anáthema)  und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch …“ (9,3). Paulus denkt hier wahrscheinlich an Mose, der sein Leben als Sühne für den Abfall seines Volkes anbot (Ex 32,32), sicher aber an Christus, der den Fluch für alle trug (Gal 3,13). Sofern er an Mose denkt, hat er eine unerfüllte Bitte vor Augen, denn Gott lehnte es ab, dass Mose für den Abfall Israels mit seinem Leben sühnte. Sofern er an Christus denkt, äußert er eine unerfüllbare Bitte – Paulus kann nicht die Rolle des Erlösers übernehmen. Sein unerfüllbarer Wunsch zeigt, welch dunklen Schatten er über seinem Volk liegen sieht: Es steht unter einem Fluch, weil es „getrennt von Christus“ ist. Paulus will diesen Fluch stellvertretend für seine Brüder tragen. Dadurch wird seine dunkle Aussage über Israel erträglich. Was Paulus hier nicht sagt, ist, dass er selbst einmal auf der Seite der Gegner Christi stand. Als solcher unterlag auch er einem Anathema. Jetzt aber steht er auf Seiten Christi. Jetzt ist er von seinem Volk getrennt, so wie dieses Volk in seiner Mehrheit von Christus getrennt ist. Indirekt thematisiert Paulus auch hier seine Vorzeit als eine Zeit von Sünde und Schuld, aber in der Gegenwart ist sein Zwiespalt vor allem ein Leiden an Israel. Deswegen kann man sagen: Wenn am Ende „ganz Israel“ gerettet wird, so wird auch Paulus seinen Konflikt mit sich selbst überwinden, auch wenn dieser existenzielle Ganzheitsaspekt der Erlösung hier nur indirekt zum Ausdruck kommt. In 10,1–2 erscheint Paulus erneut als Fürbitter für Israel. Im Hintergrund dürfte das Modell des fürbittenden Mose stehen, von dem in 10,5 direkt die Rede ist. Israel ist nicht verloren, sonst wäre jede Fürbitte sinnlos. Der mit Paulus vertraute Leser kann in 9,30–10,4 leicht den persönlichen Hintergrund dieser Zeilen erkennen: Paulus selbst war vor seiner Bekehrung unterwegs zum Ziel der Gesetzesgerechtigkeit gewesen. Paulus selbst hatte Anstoß genommen am „Stein des Anstoßes und am Fels des Ärgernisses“. Er selbst war ein „Eiferer“ für die väterlichen Überlieferungen gewesen (Gal 1,14), der die Kirche verfolgt hatte (Phil 3,6), um dann aufgrund der überwältigenden „Erkenntnis“ Jesu Christi seinen Eifer als Irrweg zu erkennen. Die Schilderung Israels in 9,30–10,4 ist eine Parallele zur Schilderung der Bekehrung des Paulus in Phil 3,2–11: Die Pointe ist hier wie dort, dass ein falscher (aktiver) „Eifer“ im Streben nach „eigener Gerechtigkeit“ durch eine (passiv) von Gott empfangene Gerechtigkeit überwunden wird  – hier wie dort durch die Erkenntnis Jesu Christi und den Glauben an ihn. Wegen dieser Parallelität zwischen seiner Biographie und dem kollektiven Geschick Israels245 245 Wilckens, EKK 6/2, 221, betont die Parallelität zwischen 10,3 und Phil 3,4–11, hebt aber mit Recht einen Unterschied hervor: Phil 3 schildert eine subjektive Bekehrung aus menschlicher

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kann ­Paulus als glaubwürdiger Entlastungszeuge auftreten. Sein Zeugnis besteht in seiner ganzen Existenz. Der Höhepunkt dieser Identifizierung mit Israel findet sich in 11,1 f, wenn Paulus betont, dass er ein Israelit ist, und sich selbst als entscheidendes Argument dafür einbringt, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat. Weil er, Paulus, nicht verworfen wurde, kann auch Israel nicht verstoßen sein! Dabei zieht er nicht nur logisch aus den Prämissen: „Paulus ist Israelit“ und „Paulus ist erwählt“, die Folgerung: Dann kann Israel insgesamt nicht verworfen sein; er bringt vielmehr durch seine Biographie ein viel überzeugenderes inhaltliches Argument ein. Er war einst ein Gegner der Christen und wurde erwählt. Daher haben die ungläubigen Juden genauso wie Paulus eine Chance, zum Heil zu gelangen – trotz ihrer Feindschaft gegen die Christen. Paulus identifiziert sich hier direkt mit Israel, steht seinem Volk nicht mehr gegenüber, sondern stellt sich in seine Mitte. Wieder wählt er ein alttestamentliches Modell: Elia war wie Paulus in Todesgefahr, war alleine durch seine Treue zu Gott übriggeblieben und empfing als Antwort auf sein Gebet eine Offenbarung über 7000 treue Gläubige. Wie Elia hat auch Paulus zu Gott gefleht und geklagt (10,1 f). Wie Elia wurde auch er durch eine Offenbarung getröstet, nämlich durch die Offenbarung des „Geheimnisses“ über die Rettung ganz Israels (11,25–27). Die durchgehende Identifikation des Paulus mit Israel und Israels mit Paulus ist auch für das Verständnis des Ölbaumgleichnisses wichtig: Gott kann Glauben bei denen schaffen, die ihn ablehnen. Er kann auch abgebrochene Zweige wieder einsetzen. Das gilt auch für Paulus: Das, was in ihm „abgeschnitten“ und „verdrängt“ war – sein Judentum mit seinem Eifer und seiner Feindschaft gegen die Christen –, das kann er sich im Glauben wieder aneignen. Wie abwegig und verformt dieses eifernde Judentum in ihm auch gewesen sein mag, es gehört zum „Teig“, der durch und durch heilig ist (11,16). Er darf sich zu ihm bekennen. Das „Mysterium“ sagt darüber hinaus: Wenn alle Völker zum Heil „eingehen“ werden, dann wird Christus aus dem Zion zur Parusie kommen, um denen Vergebung zu verschaffen, die sich gegen die Öffnung des Heils für die Heiden gesträubt haben. Auch das können wir auf Paulus beziehen, auch ihm wurde seine Feindschaft gegen die Christen vergeben.246 Falls er ein robustes Gewissen gehabt hätte, wäre solch eine Unempfindlichkeit das Ergebnis eines Verdrängungsaktes. Hier durchbricht er jedoch diese Verdrängung im Vorgriff auf die Vergebung der Sünden am Ende der Zeiten. Oder sollte sich Paulus ausgerechnet selbst aus der Masse der Ungehorsamen ausschließen? Am Ende seiner Gedanken hat Paulus die vielen Widersprüche nicht aufgelöst, die wir in Röm 9–11 finden. Aber er hat die Zuversicht gewonnen, dass Perspektive, Röm 10 den objektiven Wandel einer „Heilsordnung“. Phil 3,2–11 gilt bei Haacker, ThHK 6, 205, und Holtz, Gott, 254 f, mit Recht als wichtigster Kommentar zu Röm 10,1–5. 246 Stendahl, Apostle Paul.

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sich die Widersprüche seines Lebens lösen werden. Er ist im Einklang mit sich und seiner jüdischen Herkunft. Was er in 11,15 schreibt: „Denn wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben aus den Toten!“, können wir als Aussage auch über ihn selbst hören. Wenn die Verwerfung des Judentums durch Paulus Versöhnung für alle Menschen brachte, was wird dessen Wiederannahme durch Paulus anderes sein als neues Leben aus dem Tode! Und daher kann er am Ende Gott loben und preisen – für seine unerforschlichen Wege mit Israel, mit der Menschheit und auch mit ihm (11,33–36). Wenn man den Römerbrief im Hinblick auf persönliche Aussagen liest, kann man ihn als schrittweise Selbstenthüllung des Paulus verstehen. Er geht von allgemeinen Gedanken aus und nähert sich einer sehr persönlichen Selbstaussage am Ende des Briefes. In diesen Prozess ist auch das umstrittene Ich von Röm 7 einzuordnen. Dieses Ich leidet unter der tötenden Macht des Gesetzes. Es wird von ihm gespalten und zerrissen. Es wird von ihm zu Leidenschaften stimuliert. Es wird von ihm betrogen. In ihm sind persönliche Erfahrungen des Paulus verarbeitet. Paulus wurde durch das Gesetz in seiner vorchristlichen Zeit zu aggressivem Vorgehen gegen die Christen verleitet. Er erlebt jetzt am eigenen Leib, wie er selbst durch den fundamentalistischen Gesetzeseifer anderer bedroht ist. Seine eigene Todesgefahr steht ihm vor Augen, wenn er von der tötenden Macht des Gesetzes spricht. Sein Wissen um sein eigenes Judentum sagt ihm, dass die vom Gesetz motivierten Menschen in guter Absicht für das Gesetz eifern. Sie werden vom Gebot getäuscht, suchen das Leben, aber bewirken den Tod. Aus eigener Erfahrung weiß er, dass solche Menschen fähig sind, gegen andere Menschen mit Gewalt vorzugehen. Er kennt die aggressiven Leidenschaften, die das Gesetz stimuliert. Aber all das wird auf eine allgemein menschliche Ebene gehoben. Das Ich in Röm 7 steht repräsentativ für alle Menschen, so wie das persönliche Ich des Israeliten Paulus in Röm 9–11 transparent für ganz Israel wird. Alles, was Paulus im Römerbrief sagt, hat Resonanz in seinem Leben. Daher ist dieser sachlichste aller Paulusbriefe zugleich auch der persönlichste. Er enthält keine Lebensbeschreibung des Paulus, aber er enthält Gedanken, in denen er seine Lebenserfahrungen verarbeitet. Paulus hat im Römerbrief seine Lebensproblematik in etwas Allgemeingültiges verwandelt.

8. Kapitel: Der Römerbrief – Rechenschaft eines scheiternden Reformators

Ein negatives Ergebnis unserer Untersuchungen ist, dass alle theologischen Entwürfe des Paulus im Römerbrief scheitern: Die Aporien der ersten Heilskonzeption, die das Heil durch „Werke des Gesetzes“ verheißt, werden durch neue Heilskonzepte aufgefangen, die neue Aporien aufreißen. Kein Entwurf befriedigt. Auch das letzte Heilskonzept, die Berufung auf eine unbegründbare Erwählung durch Gott, ist eher ein Eingeständnis, dass sich die Letztbegründung des Heils in undurchdringlicher Dunkelheit verliert. Denken und Leben sind bei Paulus eine Einheit. Die vier Heilskonzeptionen im Römerbrief entsprechen vier Phasen seines Lebens. Sie münden in die Vision einer alle Völker einschließenden Verehrung des einen und einzigen Gottes. Mit dieser Hoffnung brach Paulus nach Jerusalem auf, wurde dort aber inhaftiert! Der Tempel öffnete sich nicht für die Völker! Scheiterte auch sein Lebenswerk? War Paulus ein scheiternder Reformator? Die psychologische Lektüre des Römerbriefs hat gezeigt, dass Paulus unbeirrt der Überzeugung war, dass sich jeder Mensch innerlich verwandeln muss, um Gottes Willen zu entsprechen. Der alte Mensch erscheint dabei in schlechtem Licht. Das begründet den anthropologischen Pessimismus des Paulus. Sein Leser fragt sich: Kann sich der alte Mensch wirklich in einen neuen Menschen verwandeln? Die sozialgeschichtliche Lektüre des Römerbriefs hat das Ziel des Paulus heraus­gearbeitet: Alle Menschen sollen sich in einem universalen Gottesdienst vereinen. Diese Vision des Paulus lässt die Zukunft der Menschheit in hellem Licht erscheinen. Das führt zu einem utopischen Universalismus. Auch hier fragt sich der Leser: Ist das nicht unerreichbar? Wir finden bei Paulus beides nebeneinander: einen anthropologischen Pessimismus und einen utopischen Universalismus.1 Beides wurde in der Paulus­ rezeption der modernen Zeit verschieden bewertet. Für seine Kritiker war Paulus der „Verderber des Evangeliums Jesu“2, für seine Bewunderer der Architekt einer 1 Zur Zusammengehörigkeit von Universalismus und Pessimismus vgl. Theissen, Anthropology. Teile dieses Aufsatzes liegen diesem Kapitel zugrunde. 2 So hat sich W. Wrede (1859–1908) gegenüber seinem Schüler Paul Wernle mündlich geäußert (nach Kümmel, Testament, 368). P. Wernle (1872–1939) bewunderte Paulus, beurteilte ihn aber ambivalent: „Wer befreit vom protestantischen Vorurteil, die Rechtfertigungslehre des Paulus betrachtet, muss sie eine der unglücklichsten Schöpfungen nennen. […] Paulus kämpfte für den Universalismus des Christentums, für den Ersatz der Rechtsreligion durch die Religion

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universalen Menschheit. Wegen seiner pessimistischen Anthropologie wurde er verdammt,3 wegen seines Universalismus gelobt.4 Was den anthropologischen Pessimismus angeht, so besteht kein Zweifel: Paulus hat das Misstrauen des Menschen gegen sich selbst gefördert. Für ihn sind alle Menschen von Natur aus Sünder, Feinde Gottes und ihrer Mitmenschen. Ihr unsoziales Wesen wurzelt in ihrer biologischen Natur, im „Fleisch“. Dieser Pessimismus gegenüber dem alten Menschen steht jedoch in Kontrast zum Vertrauen in den neuen Menschen. Paulus ist überzeugt, dass sich Menschen durch den Glauben in kooperative Mitmenschen verwandeln und jeweils ein „neues Geschöpf “ werden können (Gal 6,15; 2Kor 5,17). Heute ist die Kritik an seinem Pessimismus leiser geworden. Die Katastrophen des 20. Jh. haben uns gelehrt, dass er nicht unberechtigt ist. Was den Universalismus angeht, so hat Paulus rituelle Gesetzesforderungen in Frage gestellt, die Juden von anderen abgrenzten. In Auseinandersetzung mit einer Gegenmission radikalisiert er seine Kritik am Gesetz und weitet sie auch auf ethische Gebote aus. Für das ganze Gesetz gilt: Als Buchstabe tötet es, als Geist macht es lebendig.5 Paulus strebt mit seiner Gesetzeskritik die „Universalisierung“ des Judentums an – in Übereinstimmung mit dessen universalistischen Tendenzen.6 Wenn er Angst vor den Gegnern dieses Universalismus hat, so entder Liebe, aber erreicht hat er die Aufrichtung der christlichen Kirche mit dem neuen Recht von Glaube und Bekenntnis, mit der Wiederkehr aller jüdischen Sünden, der Engherzigkeit, des Fanatismus, der kleinlichen Auffassung Gottes“ (Wernle, Anfänge, 222 f). 3 Charakteristisch dafür ist F. Nietzsche: „In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum ‚frohen Botschafter‘, das Genie des Hasses, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses“ (Nietzsche, Antichrist § 42, 215 f). Die Kreuzestheologie des Paulus ist für ihn Inbegriff des Ressentiments: „Wir Alle (sic!) hängen am Kreuze, folglich sind wir göttlich […] Wir allein sind göttlich […] Das Christenthum war ein Sieg. Eine vornehmere Gesinnung ging an ihm zu Grunde, – das Christenthum war bisher das grösste Unglück der Menschheit“ (ebd., § 51, 232). Nach Nietzsche wertet sich alles, was schwach, gescheitert und krank ist, durch Verehrung des Kreuzes auf und wertet die Starken und Gesunden ab, die das Leben bejahen. Mit großer Offenheit sagt er, worauf das hinausläuft: „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehen; erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher als irgend ein Laster? – Das Mitleiden der That mit allen […]“ (ebd., § 2, 170) [Sperrungen im Original]. 4 Badiou, Paulus. 5 Diese hermeneutische Formel von Buchstabe und Geist bezieht sich in Röm 2,29 auf die Beschneidung, also auf ein rituelles Gebot, in Röm 7,6 auf alle Gebote. In 2Kor 3,6 zeigt die vorhergehende Anspielung auf die Gesetzestafeln, dass zentrale religiöse und ethische Gebote gemeint sind. 6 Zum jüdischen Universalismus vgl. Levenson, Horizon. Er zeigt, dass das Judentum nicht nur in Gestalt des Christentums ein Judentum für die Heiden ist, sondern „that Judaism itself can be Judaism for the gentiles“ (ebd., 165). Seine bedenkenswerte These ist: Die Urgeschichte sei universalistisch, sie ziele auf alle Völker. Die Geschichte Israel werde in sie ein­ gebettet und beginne erst nach der Urgeschichte ab Gen 12. Die Weisheit sei universalistisch: Sie vertrete allgemein zugängliche Erfahrungen und Forderungen. Die Zukunftshoffnung sei

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spricht das unseren Erfahrungen. Ein populistischer Ethnozentrismus wehrt sich überall in militanter Weise gegen Fremde. Mit der Entstehung einer global ­vernetzten Welt erscheint uns eben deswegen die „Universalisierung“ unseres Denkens und Lebens heute notwendiger als je zu sein. Sie ist nicht mehr ganz so utopisch wie früher. Sowohl sein anthropologischer Pessimismus als auch sein utopischer Universalismus motiviert Paulus’ Gesetzeskritik. Sie kommt einer modernen Mentalität entgegen, die gegenüber normativen Ansprüchen skeptisch ist. Dass Moral repressiv und tötend sein kann und ein „Unbehagen an der Kultur“7 nach sich zieht, gehört zur modernen Religions- und Kulturkritik. Wenn Paulus nach einem Leben jenseits der Moral tastet, das allein in Gnade begründet ist, dann wirkt er sehr modern. Wir vertreten in diesem Buch die These: Man kann nicht den anthropologischen Pessimismus des Paulus ablehnen, seinen religiösen Universalismus aber bejahen. Beides hängt zusammen. Man muss freilich fragen: Ist diese Verbindung tragfähig? Musste Paulus mit dieser Verbindung von anthropologischem Pessimismus und utopischem Universalismus nicht scheitern? Ist daher der Römerbrief nicht das Dokument eines scheiternden theologischen Denkens und eines erfolglosen religiösen Reformators? Wir beschreiben im Folgenden zusammenfassend zunächst die Reform­vision des Paulus und fragen, ob schon in ihr die Gründe eines Scheiterns erkennbar sind (8.1). Danach suchen wir im Römerbrief nach Spuren von Anfechtungen, die zeigen, dass Paulus sich dessen bewusst war, wie gefährdet sein Werk war (8.2). Zuletzt fragen wir, wie Paulus diese Anfechtungen aushielt (8.3). Dabei kehren wir zum Glauben als dem zentralen Thema des Römerbriefs zurück.

8.1 Die Vision des Paulus: Reform und Öffnung des Judentums Paulus sieht sich selbst als Architekten der christlichen Gemeinde. Christus ist das Fundament, auf dem er sie baut (1Kor 3,10). Sein Bauplan ist der Entwurf für ein reformiertes Judentum. Seine Gemeinden hatten sich zwar schon lokal von den jüdischen Synagogengemeinden getrennt. Lokale Trennung bedeutet jedoch kein grundsätzliches Schisma. Christusanhänger, die sich von der Synagoge getrennt hatten, konnten nach wie vor als Juden angesehen werden, wie das Urteil universalistisch: Die Prophetie münde in die Hoffnung auf Zustimmung aller Völker zu dem einen und einzigen Gott. Die Erwählung Israels sei darin eingebettet: Sie werde einerseits instrumentell verstanden, weil sie dazu dient, Gottes Gebote zu erfüllen und seine Existenz zu­ bezeugen. Sie sei andererseits ein Wert in sich, insofern Gott aus unergründlicher Liebe gerade dies eine Volk erwählt hat und kein anderes. 7 So der Titel von Freud, Unbehagen.

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des Statthalters Gallio zeigt, der den Streit der Christen mit Juden für einen innerjüdischen Streit hielt (Apg 18,12–17). Die judaistische Gegenmission gegen Paulus wollte diese Zugehörigkeit der Christen zum Judentum durch (Wieder-) Einführung jüdischer Riten absichern. Sie betrachtete die nicht-jüdischen Christusanhänger als Menschen auf dem Wege zum Judentum, die noch Beschneidung, Speisegebote und die Sabbatobservanz übernehmen mussten, um vollgültige Juden zu werden. In Konkurrenz mit ihnen wollte Paulus ihr Anliegen auf eine andere Weise erreichen: Seine Gemeinden sollten sich nicht rituell an das Judentum anpassen, sondern das Judentum sollte sich für sie öffnen. Das war sein Reformprogramm. Es betraf drei Ausdrucksformen der Religion: Ritus, Ethos und Mythos. Paulus erkannte den Jerusalemer Tempel als Zentrum des rituellen Kults an, bejahte mit dem Gesetz das jüdische Ethos und stellte sich in die von den Heiligen Schriften bezeugte Geschichte hinein. Der Römerbrief macht unmissverständlich klar: Paulus hielt an Tempel, Tora und den Heiligen Schriften als Grundlagen des Judentums fest, aber wollte sie reformieren. Hinsichtlich des Ritus hoffte er auf eine Öffnung des Tempels, so dass alle Heiden „hineingehen“ dürfen (­ 11,25–27). Beim Ethos plädierte er für eine kritische Prüfung des Gesetzes (12,1 f). Den „Mythos“ (d. h. die Grunderzählung des Judentums von Abraham und Mose) erzählte er in einer Weise neu, dass er in der Aufnahme der Heidenchristen Erfüllung finden sollte (4,1–5,21). In diesem Reformprozess ist die Veränderung der sichtbaren Seite der Religion entscheidend. Menschen können nur durch wahrnehmbare Zeichen kommunizieren. In der Religion sind das Riten, sakrale Orte und heilige Zeiten. Gemeinsame Riten stiften Gemeinschaft untereinander und grenzen von Außenstehenden ab. Deswegen träumt Paulus im Römerbrief vom Tempel als gemeinsamen Ort der Gottesverehrung von Juden und Christen. Er stellt seine Zugehörigkeit zum Judentum dadurch unter Beweis, dass er eine Kollekte nach Jerusalem bringt. Gruppenzugehörigkeit wird durch Riten getestet. Wer Kosten und Risiken für sie übernimmt, dokumentiert die Aufrichtigkeit seiner Zugehörigkeit. Nach Apg 21,22–26 übernimmt Paulus die Kosten für die Auslösung von vier Nasiräatsgelübden, um sein Judentum unter Beweis zu stellen. Ebenso beweisen die Risiken, die er bei seiner Jerusalemreise in Kauf nimmt, die Aufrichtigkeit seiner Bindung an das Judentum und an Jerusalem (15,30–32).8

8 Wir folgen hier der „Kostensignaltheorie“ der Riten. Kostspielige Rituale testen die Aufrichtigkeit der Teilnehmer. „Trittbrettfahrer“ scheuen den Aufwand, der mit Ritualen verbunden ist. Teilnahme an ihnen stellen die Bindung an die Gruppe unter Beweis. Vgl. zu dieser Theorie Uro, Ritualtheorien, 277 f. Die letzte Reise des Paulus nach Jerusalem lässt sich so deuten: Paulus überbringt eine große Kollekte, wählt einen großen Umweg auf seiner Reise nach Rom, nimmt große Risiken in Kauf. All das demonstriert die Aufrichtigkeit seiner Bindung an die Urgemeinde, an Jerusalem und den Tempel.

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Auch ein gemeinsames Ethos schafft Zusammengehörigkeit. Das christliche Ethos definiert Paulus im Römerbrief zwar als eine Besonderheit der Christen: Sie sollen sich nicht der Welt gleichstellen. Gleichzeitig fordert er sie aber dazu auf, sich an den allgemeinen Maßstäben des „Guten, Wohlgefälligen und Vollkommenen“ (12,2) zu orientieren. Jedes Ethos enthält Elemente, die mit Menschen anderer Gemeinschaften verbinden. Es kann nur begrenzt Gruppenidentität zum Ausdruck bringen. Als Grundlage des Gruppenbewusstseins hat es zudem einen großen Nachteil gegenüber dem Ritus. Jedes Ethos wird von den Angehörigen der eigenen Religionsgemeinschaft nur unvollkommen erfüllt. Riten kann man sehr viel leichter rite (d. h. formal korrekt) vollziehen. Es ist leichter, eine Kerze anzuzünden oder nach Jerusalem zu pilgern, als ein guter Mensch zu sein. Auch der Mythos, der eine Erzählgemeinschaft stiftet, hat keine ganz so große soziale Bindungskraft wie gemeinsame Riten. Paulus treibt im Römerbrief religiöse Geschichtspolitik durch Neugestaltung der Geschichtserzählung seines Volkes: Die Geschichte Israels läuft auf das Kommen des Messias hinaus (1,1–3; 15,12). Abraham hat auf ihn gewartet (4,1–25). Die Propheten haben ihn und die Öffnung des Volkes Gottes für alle Völker angekündigt (15,9–12). Doch bleibt die gemeinschaftsverbindende Kraft der geteilten Erinnerungen hinter den Riten zurück: Denn über die „Mythen“ oder die Grunderzählungen einer Buchreligionen kann man sich durch Lektüre ihrer Heiligen Schriften informieren, ohne an ihren Riten teilnehmen zu müssen. Und doch sind die gemeinsamen Grunderzählungen in einer Hinsicht wichtig: Nur sie führen dazu, dass man sich bis in sein Innerstes einer bestimmten Religion verpflichtet weiß. Der Römerbrief ist zu verstehen als Rechenschaft eines Reformers. Er behandelt alle Aspekte der Religion: Ritus, Ethos, Geschichtserzählung, misst dem Ritus jedoch einen besonderen Stellenwert zu. Immer wieder macht Paulus Beschneidung (4,11), Speisegebote (14,1–15,13) und indirekt auch den Jerusalemer Tempel (3,25; 11,25 f; 15,16) zum Thema. Erstaunlich ist allerdings das Schweigen über das Abendmahl. Schweigt er sich dazu aus, weil er auf jenes Gottesreich hofft, das nicht „Essen und Trinken ist, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude“ (14,17)? Hat er Scheu, von ihm zu schreiben, weil das Abendmahl körperliche Anwesenheit voraussetzt? Oder stört seine Exklusivität die Vision einer Öffnung des Gottesvolkes für alle Völker? Beschränkt sich Paulus deshalb auf ein Plädoyer für Toleranz in Speisefragen, um die Voraussetzungen für so viel­ Mahlgemeinschaft wie möglich zu schaffen? Im Folgenden besprechen wir nacheinander die Reformimpulse des Paulus zu den drei Ausdrucksformen der Religion, also zu Ethos, Ritus und Mythos. Vor allem durch sie weiß man sich bis in sein Innerstes einer bestimmten Religion­ verpflichtet.

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8.1.1 Die Reform des Gesetzes: Paulus und das Ethos des Judentums Paulus hält im Römerbrief am Gesetz fest, will es aber liberalisieren. Er hebt Einzelbestimmungen auf und weist dem Gesetz grundsätzlich eine neue Funktion zu. Es soll weder Instrument sozialer Abgrenzung gegenüber den Heiden sein, indem man sich seiner rühmt und für seine Verwirklichung eifert (2,17–24; 3,27; 10,2 f), noch soll es den Einzelnen individuell in ausweglose Konflikte mit sich selbst stürzen (7,7–25). Das Gesetz soll nicht als Buchstabe wirken, sondern als „Geist“ (7,6), der Menschen über Grenzen hinweg mit anderen Menschen verbindet und zu neuen Geschöpfen macht, die mit sich selbst versöhnt sind. Paulus konzentriert das Gesetz in Übereinstimmung mit jüdischen Traditio­ nen auf das Liebesgebot. Er ist überzeugt, dass in ihm das ganze Gesetz erfüllt sei (Röm 13,8–10). Im Galaterbrief hat Paulus den Galatern zunächst ein quantitatives Gesetzesverständnis entgegengehalten, nach dem das Gesetz fordere, alle Gebote zu erfüllen und damit das ganze Gesetz (Gal 3,10 = Dtn 27,26). Er hat ihnen damit klar machen wollen, dass sie mit der Übernahme der Beschneidung verpflichtet seien, das ganze Gesetz (ὅλον τὸν νόμον/­hólon tón nómon) im Sinne von „allen Geboten“ einzuhalten (Gal 5,3). Die judaistischen Gegenmissionare haben dagegen versichert, es sei ausreichend, einige besonders wichtige Gebote zu übernehmen. Sie vertreten insofern ein qualitatives Gesetzesverständnis. Paulus übernimmt es und überbietet sie durch die These, dass nur ein einziges Gebot notwendig sei, um das Gesetz zu erfüllen, nämlich das Liebesgebot. In ihm sei das ganze Gesetz (ὁ […] πᾶς νόμος/ho […] pás nómos, Gal 5,14) zusammengefasst. Wer das Liebesgebot durch den „Geist“ erfüllt, stehe nicht mehr unter dem Gesetz (Gal 5,18), widerspreche ihm nicht (Gal 5,23), sondern verwirkliche spontan dessen eigentliche Intention. Im Römerbrief knüpft ­Paulus an dieses qualitative Gesetzesverständnis des Galaterbriefs an: Wer das Gebot der Nächstenliebe ­erfüllt, erfüllt damit das Gesetz als Ganzes; denn er hält auch die anderen sozialen Gebote und schädigt seinen Nächsten weder durch Mord, Ehebruch, Diebstahl oder andere Untaten.9 Im Liebesgebot ist daher die Fülle des Gesetzes enthalten (πλήρωμα […] νόμου/plē´rōma […] nómou) ­(13,8–10). Es fordert auch nicht nur Bruderliebe (wie in 12,10), sondern verlangt, „allen Menschen“ Gutes zu tun (12,17) und mit „allen Menschen“ Frieden zu haben (12,18). Auch wenn P ­ aulus moralische Verpflichtungen manchmal in abgestufter Weise zu formulieren scheint – Gutes soll man an allen tun, am meisten aber an den 9 Zur Unterscheidung eines quantitativen und qualitativen Gesetzesverständnisses vgl. Hübner, Biblische Theologie, 102–104. Hübner deutet ὅλον τὸν νόμον/hólon tón nómon als Bezeichnung einer Pluralität und ὁ πᾶς νόμος/ho pás nómos als Bezeichnung einer Totalität, da hier πᾶς (pás) attributiv steht. Vgl. ders., Gesetz.

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Glaubens­genossen (Gal 6,10) –, so gelten sie doch grundsätzlich für das Verhalten gegenüber allen Menschen. Das Gute ist qualitativ immer dasselbe, aber kommt den Allernächsten quantitativ häufiger zugute. Faktisch hebt Paulus in seiner Reform von Gesetz und Gesetzesauslegung nur wenige rituelle Gebote auf, die identity marker des Judentums. Er nimmt dafür Konflikte mit einer Gegenmission in Kauf, aber auch mit dem römischen Staat, der um des Religionsfriedens willen an der strikten Bewahrung religiöser Traditionen interessiert war und dabei vor allem an die sichtbare Seite der Religion dachte, an der sich immer wieder Konflikte entzündeten. Zwar unterscheidet Paulus an keiner Stelle seiner Briefe grundsätzlich zwischen ethischen und rituellen Geboten, setzt diese Unterscheidung aber faktisch voraus, wenn er schreibt: „Beschnitten sein ist nichts, und Unbeschnittensein ist nichts, sondern: Gottes Gebote halten“ (1Kor 7,19).10 Das Liebesgebot hebt die Grenze zwischen Juden und Heiden auf: „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch­ Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Der Römerbrief führt diesen Gedanken aus, indem er in Kapitel 1–11 vom Glauben handelt, der in Kapitel 12–15 in der Liebe tätig wird, und er strebt einen Gottesdienst an, der Juden und Heiden vereint (15,7–13). Das Liebesgebot zielt also auf einen Universalismus und steht dadurch in Spannung zur alten Welt: Denn in Christus gilt jenseits von Beschneidung und Unbeschnittensein nicht nur die Liebe, sondern „eine neue Kreatur“ (Gal 6,15). Paulus konfrontiert die Liebe dabei in dreifacher Weise mit dieser Welt: mit Natur, Gesellschaft und­ Religion. Schon im Galaterbrief hat Paulus das Liebesgebot mit der Natur des Menschen kontrastiert (Gal 5,13–6,5). Seiner Natur oder seinem „Fleisch“ (σάρξ/sárx) nach stehe der Mensch in Konkurrenz zu anderen Lebewesen. Ohne Liebesgebot sei das Leben ein Fressen und Gefressenwerden (Gal 5,15). Daher müsse die Natur des Menschen durch den „Geist“ (πνεῦμα/pneúma)  verwandelt werden. Diese Verwandlung bringt Paulus mit drastischen Bildern zum Ausdruck: Der Mensch muss sein „Fleisch“ mit seinen Leidenschaften und Begierden kreuzigen (Gal 5,24), um ein Leben im Geist zu führen (Gal 5,25). Die Spannung zur Natur des Menschen greift Paulus im Römerbrief auf: Er fordert, die Taten des Leibes zu töten, damit die Christen ganz im Geist leben können (Röm 8,13). Wenn P ­ aulus 10 Das kann ursprünglich bedeutet haben: Die Tatsache, dass mit der Beschneidung ein­ Gebot erfüllt wird, ist allein entscheidend und wichtiger als das Faktum des Beschnittenseins. In diesem Verständnis wäre diese Maxime im Judentum denkbar. In 1Kor 7,19 wird daraus aber eine Relativierung der Beschneidung überhaupt. Sie kann für Heidenchristen entfallen. Paulus führt darüber hinaus neue Riten ein. Die Relativierung alter Riten führt dabei auch zu einer Relativierung der neuen Riten. Wenn entscheidend ist, dass der wahre Jude am Herzen und nicht am Fleisch beschnitten ist (2,29), kann es auch nicht entscheidend sein, dass über den Christen Wasser bei der Taufe „ausgegossen“ worden ist, sondern nur, dass der Geist Gottes und der Liebe in ihr Herz „ausgegossen“ wird (5,5).

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von „Töten“ und „Kreuzigen“ spricht, denkt er die Auferstehung hinzu. Daher kann man seine Mahnungen so verstehen: Die Kraft, die den natürlichen Menschen antreibt, soll als fleischliche Energie (der σάρξ/sárx) gekreuzigt und getötet werden, um als geistliche Energie (als πνεῦμα/pneúma) auferweckt zu werden. Diese Verwandlung des Menschen von einem Wesen, das vom Fleisch bestimmt ist, in ein Wesen, in dem der Geist Gottes wirkt, stellt er in Röm 8,3–11 dar. In Röm 12,9–13,14 setzt Paulus die Liebe dem Staat entgegen. Die Gemeindeordnung der Liebe und die Rechtsordnung des Staates stehen in Gegensatz zueinander, obwohl sie beide dem Kriterium des Guten unterliegen (12,2; 13,3 f). Beide dienen in verschiedener Weise dem Wohl der Menschen, die Gemeinde durch Liebe, der Staat durch Zwang. Die Staatsparänese wendet sich an „jedermann“, nicht nur an Christen. Die Liebesparänese wendet sich nur an Christen, die sich nicht dieser Welt gleichstellen, sondern durch Erneuerung ihres Verstandes verwandelt sind. Eben das betont der Leitgedanke: „Verwandelt euch durch Erneuerung eurer Vernunft (μεταμορφοῦσθε/metamorphoústhe)“ (12,2). Liebe überwindet also nicht nur die „barbarische“ Natur (Gal 5,13–15), sondern steht auch in Spannung zur Kultur. Die Liebe sagt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (12,21). Der Staat aber überwindet das Böse durch das Schwert, d. h. durch Zwang und Gewalt (13,4). Paulus kann die Liebe sogar der Religion entgegensetzen. In Korinth haben einige Gemeindeglieder Erfüllung in Zungenreden und auffälligen religiösen Erfahrungen gesucht: in Wundertaten, Offenbarungen und Prophetie. Andere haben dagegen die Gnosis, die „Erkenntnis“, gesetzt und stehen dem ekstatischen religiösen Treiben distanziert gegenüber. Paulus lehrt in Korinth beide Seiten, in der Liebe das höchste Charisma zu erkennen. Die Liebe überbietet auf der einen Seite die irrationalen Charismen der Glossolalie und Prophetie, auf der anderen Seite die „rationale“ Gnosis. „Glaube, Hoffnung und Liebe“ übertreffen alles (1Kor 13,13). Die Liebe aber ist in dieser Trias die größte.11 Hymnisch preist Paulus sie wie eine Gottheit mit All-Aussagen: „Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“ (1Kor 13,7). Im Römerbrief hat seine Kritik an der Glossolalie Spuren hinterlassen. Sie ist keine Himmelssprache, sondern wird zum unaussprechlichen Seufzen, das den Menschen mit allen Kreaturen verbindet (8,22–27). Auch hier wird sie mit der Liebe kontrastiert: Wir wissen zwar nicht, wie wir beten sollen; deswegen tritt der Geist in uns mit seinem Seufzen ein“ (8,26 f). Dafür aber wissen wir, „dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (8,28).12 11 Theissen, Glaube. 12 Charakteristisch für den Unterschied zwischen dem 1. Korintherbrief und Römerbrief ist, dass die Glossolalie in 1Kor 12,4–31 zu den Charismen gehört, die im Leib Christi eine Aufgabe haben (12,28.30). Im Bild des Leibes Christi in Röm 12,3–8 fehlen dagegen die irrationalen Charismen der Prophetie und Glossolalie.

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Die Neubestimmung des jüdischen Ethos von dessen Zentrum, dem Liebesgebot, her, kann man nicht genug bewundern. Doch kann keine Gemeinschaft allein durch „Liebe“ ihre Beziehungen regeln. Faktisch folgten die christlichen Gemeinden einem viel breiteren Netz normativer Traditionen. Sie setzten ihr Ethos auch nicht nur mit Hilfe der Liebe durch, sondern auch durch Achtungsentzug und Sanktionen. Dennoch will Paulus alles vom Maßstab der Liebe her kritisieren und neu ordnen. Die Liebe aber reicht für das alltägliche Zusammenleben nicht aus und begründet keine Gruppenidentität. Obwohl das Liebesgebot sowohl das erste Gebot als auch das höchste Charisma war, nennen sich die Christen nicht die „Liebenden“, sondern die „Geliebten Gottes“ (1,7), die von ihm berufenen „Heiligen“ (1,7), die an ihn glauben (1,16). Außenstehende nennen sie „Christusanhänger“ (Χριστιανοί/Christianoí). Das weist auf den Grund ihrer Identität: ihre personalcharismatische Bindung an Christus. Der Glaube an ihn gab ihnen Zusammenhalt und soziale Identität. Mit dieser Bindung an Christus erhielten sie Anschluss an die ethischen Traditionen des Judentums, konnten sie übernehmen oder gegebenenfalls auch kritisieren. Durch diese Bindung an Christus konnten sie sich von anderen jüdischen Gruppen unterscheiden. Jesus gehörte mit seiner theozentrischen Botschaft vom Reich Gottes zwar ganz und gar ins Judentum hinein. Aber mit dem Osterglauben trat er neben Gott und verwandelte den jüdischen Glauben in einen christologischen Monotheismus. Die Christen waren zwar überzeugt, Christus nur „zu Ehren Gottes, des Vaters“ zu verehren (Phil 2,11); und Paulus lässt nirgendwo ein Bewusstsein davon erkennen, dass er den traditionellen Monotheismus in Frage stellt. Aber mit dieser Christozentrik bahnte sich die Trennung vom Judentum an, auch wenn Paulus das nicht bewusst war. Wohl aber war ihm bewusst, dass sein Universalismus die Exklusivität jüdischen Erwählungsbewusstseins in Frage stellte – auch durch Ablehnung der rituellen Zeichen dieser Erwählung. Das führt zum zweiten Punkt, seiner Haltung zum jüdischen Kult, der zweiten Säule des Judentums.

8.1.2 Die Reform des Jerusalemer Kultes Das Judentum war nicht nur eine Religion des Gesetzes, sondern auch des Tempels. Paulus wollte auch ihn reformieren. Wie er sich den künftigen Tempel konkret vorgestellt hat, bleibt vage. Nach unserer Deutung erwartete Paulus: Die „Vollzahl der Heiden“ soll Zugang zu ihm haben (11,25). Sie wird in den inneren Tempelbezirk „hineingehen“. Ermöglicht wurde das durch den Opfertod Christi, der an die Stelle der sühnenden Opfer des Tempels getreten war (3,21–26). Er hatte Sühne für die Sünden der ganzen Welt geschaffen und damit die Voraussetzung dafür, dass auch Nicht-Juden Zugang zum Tempel haben. Vielleicht war Paulus sogar der Meinung, mit dem Tod Christi seien die vielen (Tier-)Opfer im Tempel überflüssig geworden. Denn zu einem späteren Zeitpunkt zieht ein Pau-

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lusschüler im Hebräerbrief diese Konsequenz. Aber schon Paulus setzt im Römerbrief dem sühnenden Opfer Christi zwei Bilder eines Gottesdienstes ohne Opfer entgegen: Das erste Bild ist der vernünftige Gottesdienst der Christen im Alltag. An die Stelle des blutigen Opferkults im Tempel tritt ethisches Handeln (12,1–2).13 Christen zeigen in ihm, dass sie ganz und gar verwandelt sind und eigenständig beurteilen können, was „gut und wohlgefällig und vollkommen“ ist, auch wenn Paulus hinzusetzt, dass er sie „kraft der ihm gegebenen Gabe“ belehrt hat, also kraft seiner besonderen „charismatischen“ Autorität (12,3; vgl. 15,15). Der Appell an die eigene Urteilskraft und die Berufung auf die charismatische Autorität des Paulus stehen in Spannung zueinander. Das zweite Bild ist der Priesterdienst des Paulus, der die Heiden als ein lebendiges Opfer nach Jerusalem bringt – in der Hoffnung, dass sich der Tempel für alle öffnen wird. Ihre Zulassung zum Gottesdienst im Tempel konnte Paulus freilich nur erhoffen. Sie war ihm als „Geheimnis“ offenbart worden. Es lag bei Gott, dieses Wunder herbeizuführen. Aber dennoch wollte er schon in der Gegenwart ein Zeichen setzen. Vielleicht war er tatsächlich überzeugt, das Überbringen der Kollekte könnte als Erfüllung der eschatologischen Wallfahrt zum Zion erlebt werden. Auch dieser Punkt des Reformprogramms des Paulus, die Öffnung des Tempels, wirft die Frage auf: Hat er mit ihm nicht die jüdische Gemeinschaft überfordert? Zwar setzt Paulus voraus, dass sich die „Vollzahl der Heiden“ zu dem einen und einzigen Gott bekehrt hat. Er konzentriert den Kult auf das Wichtigste, auf die Verehrung Gottes und auf sein Lob unter allen Heiden zusammen mit seinem Volk (vgl. 15,9–12). Aber die Vorstellungen des Paulus von einem neuen, durch Christus ermöglichten Kult in Jerusalem waren sehr vage. Umso konkreter lehrte er neue Riten wie Taufe und Abendmahl im Namen dieses Christus. Diese Riten mussten Juden abstoßen. Sie mussten davor zurückschrecken, neben Gott einen Menschen kultisch zu verehren. Gerade das aber zeichnete die Christusanhänger aus. Sie wurden in einem einmaligen Ritus auf Christus getauft und verbanden sich immer wieder neu mit ihm im Abendmahl. Paulus war bewusst, dass er die kultische Einheit im Tempel nicht würde bewirken können. Er setzte vielmehr darauf, dass Christus selbst auf wunderbare Weise den Weg zum Heiligtum frei machen werde. Als er nach Jerusalem auf 13 Damit greift Paulus einen im Judentum verbreiteten Gedanken auf: Ethisches Verhalten kann Opfer vermehren: „Wer das Gesetz bewahrt, vermehrt die Opfer. Es bringt Heilsopfer dar, wer sich an die Gebote hält. Wer Liebe erweist, bringt Speisopfer dar, und wer mitleidvoll handelt, opfert ein Dankopfer“ (Sir 35,1–4). Diese Opfer treten nicht an die Stelle der anderen Opfer, die in Sir 25,8–10 ausdrücklich eingeschärft werden. Sie „vermehren“ diese Opfer. Die Qumrangemeinde opfert nicht mehr im Tempel. Wenn es dort in 1QS 9,5 heißt: „Vollkommener Wandel ist wie ein wohlgefälliges freiwilliges Opfer“, ist das ein Ersatz für die (vorübergehend) abgelehnten Opfer im Tempel.

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brach, war die Erwartung der Parusie Christi sein Antrieb, auch wenn er offen ließ, wann sie sich genau ereignen sollte. Jedoch war er sich seiner Naherwartung gewiss: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen“ (13,12). Die Lokalisierung der Parusie auf dem Zion bringt dabei in mythischer Form einen zutreffenden Gedanken zum Ausdruck: Die Öffnung des Judentums (und jeder anderen Religion) muss aus dessen innerstem Zentrum heraus erfolgen und kann nicht von außen her aufgenötigt werden. Die mythische Form der ParusieErwartung signalisiert darüber hinaus, dass diese Reform für menschliches Wollen und Planen unverfügbar ist. Kein Mensch konnte sie als „Reformprogramm“ verwirklichen. Die Einheit von Juden und Heiden gehörte zu den eschatologischen Träumen des Paulus. Diese Träume waren zwar vom Scheitern bedroht, wenn die erwartete wunderbare Wendung ausblieb. Aber sie starben damit nicht aus. Der Traum von der gemeinsamen Gottesverehrung aller Völker ist heute sogar lebendiger als je zuvor.

8.1.3 Die Reform der Grunderzählung des Judentums Paulus will auch die dritte Säule des Judentums, die Geschichte des Volkes Israels, für andere Völker öffnen. Heiden und Juden sollen sich als Nachkommen Abrahams verstehen. Dazu muss er die Geschichte der Juden so erzählen, dass sich auch Nichtjuden als Nachkommen Abrahams verstehen können. Paulus relativiert die physische Abstammung von Abraham. So wie der Kern des Gesetzes die Liebe ist und das Wesen des Kults die Verehrung Gottes, so ist die Substanz der Gemeinschaft der „Glaube“, der es jedem Glaubenden erlaubt, die Erzählung von Abraham auf sich zu beziehen und mit Abraham eine „imaginierte“ Glaubensgemeinschaft zu bilden. Paulus hat den Glauben als den eigentlichen Grund sozialer Verbundenheit entdeckt. Schon Paulus hat erkannt, dass er mit seiner Neudefinition von Verwandtschaft und Abstammung neue Konflikte aufriss.14 Die durch den Glauben konstituierte Gemeinschaft der Nachkommen Abrahams stand in Konflikt mit den anderen Kindern Abrahams: Die Kinder der beiden Frauen Abrahams, Hagar und Sara, stritten miteinander (Gal 4,21–31). Wieder muss man fragen, ob nicht gerade die Bindung an Christus diese Spaltung vertieft hat: Durch Christus wurden zwar viele Heiden zu Nachkommen Abrahams. Aber die Bindung an Christus trennte Christusanhänger von anderen Juden und Heiden. Auch bringt die Konstitution einer Gemeinschaft durch Glauben eine Gefahr mit sich: Zugehörigkeit 14 Schon in der Jesusüberlieferung führt die Neudefinition von Verwandtschaft als familia Dei zu Konflikten mit der natürlichen Familie (Mk 3,31–35; 10,28–31). Sie werden als Konflikte im Judentum dargestellt, Paulus geht einen Schritt weiter und weitet die neue Verwandtschaft auf Heiden aus. Zum synoptischen Bildfeld der Familia Dei vgl. Roh, Familia Dei.

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aufgrund innerer Überzeugungen führt eine Gemeinschaft in die Versuchung, auch die inneren Überzeugungen kontrollieren zu wollen – es sei denn, sie ist überzeugt davon, dass sich das Innere jeder Sozialkontrolle entzieht. Aussagen in diese Richtung finden sich im Urchristentum. Nach der Bergpredigt sollen sich das Almosengeben, Beten und Fasten im Verborgenen vollziehen (Mt 6,1–18). In demselben Sinne betont Paulus im Römerbrief, dass der wahre Jude ein Jude im Verborgenen ist (Röm 2,28 f), und mahnt dazu: „Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten!“ (14,13). Keiner soll seinen Bruder wegen abweichender Sitten verachten. Denn jeder muss für sich Rechenschaft vor seinem Herrn abgeben (14,10–12). Hier meldet sich ein Bewusstsein dafür, dass sich die Grundlagen einer auf Glauben basierten Gemeinschaft deren Kontrolle entziehen. Der Glaube ist unsichtbar. Er kann sozial nicht kontrolliert werden. Unser Fazit: Paulus führt Gesetz, Kult und Gemeinschaft auf das Wesentliche zurück. Das Gesetz ist im Kern Liebesgebot, der Kult Gottesverehrung, die Gemeinschaft Glaubensgemeinschaft. Die Konzentration auf das Wesentliche wird durch Christus ermöglicht, mit dem eine neue Welt beginnt. Ohne die Bindung an Christus wäre ein Gesetz, das nur im Liebesgebot besteht, ein Kult, der in Jerusalem allen offen steht, oder eine Gemeinschaft, die nicht auf physischer Abstammung beruht, ein Reformprogramm ohne gemeinschaftsbildende Kraft. Erst die christozentrische Bindung gibt dieser Gemeinschaft Profil nach außen und Zusammenhalt nach innen. Erst die Bindung an Christus begründet ein neues Ethos mit anschaulichen Modellen und Erzählungen von Jesus, erst sie ermöglicht es, das reiche ethische Erbe des Judentums fruchtbar zu machen, und erst sie begründet neue Riten mit verwandelnder Kraft und bietet eine Grunderzählung an, in der Christus die Mitte der Geschichte Gottes mit den Menschen und mit seinem Volk Israel ist.15 Aber eben diese Bindung an Christus hatte in sich eine Dynamik, die nicht zur Öffnung des Judentums führte, sondern zur Abspaltung des Christentums vom Judentum: Sie stellte den strengen Monotheismus des ­Judentums in Frage. Im Rückblick müssen wir feststellen: Das Scheitern des Paulus war vorprogrammiert. Die Gründe lagen in seinem Reformprogramm. Sicher war auch die geschichtliche Situation für Reformen nicht günstig. Durch Treue zu ihren Traditionen hatten sich die Juden gegen die hellenistischen Reformer im 2. Jh. v. Chr. behauptet. Traditionstreue sicherte die Autonomie ihrer Lebensform. Traditions­ treue wurde im Imperium Romanum respektiert und gefordert. Es gab weder von innen noch von außen einen Reformdruck, der den Reformträumen des Paulus 15 Zwischen Judentum und dem aus ihm entstehenden Christentum entwickelt sich daher ein Unterschied der Autoritäts- und Legitimationsformen. Das Judentum organisiert sich legal durch Gesetzesauslegung, das Christentum organisiert sich charismatisch durch Bindung an Christus (und seine charismatischen Vertreter in der Gemeinde). Zu diesem Unterschied vgl. Theissen, Judentum.

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entgegengekommen wäre. Nur im Diasporajudentum können wir eine gewisse Reformbereitschaft postulieren. In ihm lebten gottesfürchtige Heiden und Juden in den Synagogen zusammen. Die ersten Christen boten den Gottesfürchtigen volle Anerkennung und Gleichwertigkeit an. Nur in der Diaspora hatte Paulus daher Erfolg, nicht in Jerusalem. Erst nach der Niederlage der Juden im Jüdischen Krieg musste das Judentum auch in seinem Kernland neu bestimmen, was Tempel, Gesetz und Geschichte für das Judentum bedeuten sollen. Nach 70 n. Chr. stand das ganze Judentum unter Reformdruck. Aber da dominierten in den christlichen Gemeinden die Heidenchristen schon zu stark, als dass sie ins Judentum hätten hineinwirken können – ganz gewiss nicht mit den paulinischen Reformvorstellungen und der Gesetzeskritik des Paulus. Dies hing auch mit deren christologischer Begründung zusammen: Paulus begründete alle seine Reformimpulse mit der Autorität eines Messias, mit dem eine entscheidende Wende der Welt beginnen sollte und der seit seiner Auferstehung den gleichen Rang wie Gott hatte. Dieser christozentrische Glaube der Christen verletzte das Gottesbild des Judentums: Die Christusanhänger verehrten Christus neben Gott in kultischer Weise, beteten zu ihm, tauften und feierten das Abendmahl in seinem Namen.16 Die Vorstellung einer zweiten Gestalt neben Gott (wie der vorzeitlichen Weisheit oder des endzeitlichen „Menschensohns“) war zwar im Judentum unanstößig, aber ihre kultische Verehrung war im Judentum ausgeschlossen. Der christliche Messiasglaube widersprach ferner dem Geschichtsverständnis der Juden. Juden hofften auf eine Wende zum Besseren. Juden fragten mit Recht: Wo war denn in dieser Welt die große Veränderung durch den Messias zu spüren? Zudem waren im Jüdischen Krieg messianische Hoffnungen aufgeflammt, hatten aber destruktiv gewirkt. Auch ein dritter Faktor spielte eine Rolle. Das paulinische Christentum wider­ sprach dem Menschenbild des Judentums: Die pessimistische Anthropologie des Paulus war in der desolaten Lage nach dem Jüdischen Krieg kontraproduktiv. Im 4. Buch Esra wird sie in dieser Nachkriegszeit von einem Engel scharf zurückgewiesen. 4Esr 8,34–36 kritisiert dabei vielleicht indirekt paulinische Gedanken.17 Aber nur solch eine pessimistische Anthropologie gibt der Verinnerlichung 16 Ders., Dynamik. Die neutestamentliche Verbindung von Gottes- und Christusverehrung kann als Duotheismus, binitarischer oder christologischer Monotheismus charakterisiert werden: Beim Duotheismus bilden zwei göttliche Gestalten als eine unauflösliche Einheit ein „Duo“. Das unterscheidet ihn vom Ditheismus. So Lang, Art.  Monotheismus, 838 f. Der binitarische Monotheismus ist zwar ein exklusiver Monotheismus, schließt aber die Verehrung Jesu inklusiv ein. So Hurtado, Lord Jesus Christ, 52. Der christologische Monotheismus ist ein durch Christusverehrung modifizierter Monotheismus. Vgl. Newman, u. a. (Hg.), Roots. 17 Die Antwort des Engels in der Oratio Esdrae könnte Nachklang und Gegenstimme zum paulinischen Pessimismus sein: „Was ist denn der Mensch, dass du ihm zürnst oder das vergängliche Geschlecht, dass du auf es so erbittert bist? In Wahrheit gibt es nämlich niemand un-

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des Erlösungsgedankens Plausibilität. Wenn der ganze Mensch schlecht ist, ist es schon eine Erlösung, wenn er in seinem Inneren erneuert wird. Paulus war ein scheiternder Reformator. Als er den Römerbrief schrieb, war er noch zuversichtlich, dass seine Reformvorstellungen Erfolg haben könnten. Oder merkt man schon in diesem Brief seine Ahnung, dass er scheitern wird? Das soll uns im nächsten Abschnitt beschäftigen.

8.2 Die Anfechtungen des Paulus: Pessimismus und Universalismus Es gibt ein sicheres Indiz dafür, dass Paulus ahnte, dass sein Reformprogramm scheitern könnte: Paulus befürchtet, in Jerusalem umzukommen. Trotzdem hat Paulus sein Ziel einer Öffnung des Judentums nicht aufgegeben. Sein zweites Ziel war noch weitreichender: Ein neuer Mensch sollte den alten Menschen ablösen. Doch Paulus wurde in seinen Gemeinden ständig mit der Unvollkommenheit der „Erlösten“ konfrontiert. Musste ihn das nicht anfechten? Was man in religiöser Sprache „Anfechtungen“ nennt, sind profan gesprochen „kognitive Dissonanzen“. Kognitive Dissonanzen sind im Römerbrief spürbar. Dabei lassen sich zwei Zusammenhänge feststellen: Einerseits begründen kognitive Dissonanzen seines anthropologischen Pessimismus den utopischen Universalismus des Paulus. Weil alle Sünder sind, sind alle vor Gott gleich. Andererseits erhöht dieser Universalismus rückwirkend die kognitiven Dissonanzen. Sie treten im Römerbrief an e­ inigen Stellen unverhüllt hervor, bilden oft aber nur einen verborgenen Subtext.

8.2.1 Anthropologischer Pessimismus als Begründung des Universalismus Das Reformprogramm des Paulus basiert auf einem anthropologischen Pessimismus: Alle Menschen sind als Sünder gleich. Eine Gleichheit, die darin fundiert ist, dass alle Menschen ihre unendliche Distanz zu Gott entdecken, ist besser begründet als jede Gleichheit, die darauf basiert, dass Menschen in ihren positiven Eigenschaften einen gemeinsamen Nenner suchen. Der unendliche Abstand ter den Geborenen, der nicht böse gehandelt, und unter den Gewordenen, der nicht gesündigt hätte. Denn dadurch wird deine Gerechtigkeit und deine Güte offenbar, Herr, dass du dich derer erbarmt hast, die keinen Bestand an guten Werken haben“ (4Esr 8,34–36). Der Engel weist diese generalisierenden Aussagen deutlich zurück: „Du jedoch hast dich selbst oft den Sündern gleichgestellt. Niemals mehr! Aber gerade darin bist du bewundernswert vor dem Höchsten, dass du dich gedemütigt hast, wie es dir geziemt, und dich nicht unter die Gerechten gerechnet hast. So wirst du noch mehr geehrt werden“ (4Esr 8,47b–48).

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zwischen Gott und Mensch relativiert alle Unterschiede. Positive Merkmale des Menschen wie Vernunft, Moral und Selbstbewusstsein sind bei jedem Menschen mehr oder weniger ausgeprägt. Ein Vergleich entdeckt hier viele Unterschiede. Der Sündenpessimismus aber, das Bewusstsein eines unendlichen Abstandes zwischen Gott und Mensch, ebnet alle Unterschiede ein und macht den Universalismus gegen Enttäuschungen immun – nachhaltiger als jede positive Bestimmung des Menschen. Nun wirkte das Sündenbewusstsein im Judentum schon immer als innovatorische Kraft. Es gab immer wieder Umkehrbewegungen, die das Gesetz noch konsequenter verwirklichen wollten, als andere Juden es taten. Drei Religionsparteien, die Sadduzäer, Pharisäer und Essener, konkurrierten um die wahre Gesetzeserfüllung. Sie waren in Reaktion auf die hellenistische Reform unter Antiochus IV Epiphanes im 2. Jh. v. Chr. entstanden, also in Reaktion auf den ersten Reformversuch einer schmalen hellenisierten Oberschicht, das Judentum zu universalisieren. Dazu kamen als Reaktion auf die römische Fremdherrschaft in jüngerer Zeit die im Volk verwurzelten Bewegungen der Zeloten, Täuferanhänger und Zeichenpropheten. Auch sie riefen zur Umkehr auf. Alle wollten das wahre Judentum realisieren, alle wollten sich von den „Sünden“ der Mehrheit abwenden. Warum sollte Paulus nicht weiter in diesen Bemühungen fortfahren, das Volk zu erneuern? In seiner Frühzeit vor seiner Bekehrung hatte er ja eben diesen Weg eingeschlagen. Eine alternative Lösung hatte sich aber schon bei Jesus abgezeichnet: Jesus hatte das Gesetz so ausgelegt, dass es nicht der Abgrenzung gegen die Fremden diente. Er hatte Reinheitsgebote und Sabbatgebot liberalisiert, ohne sie aufzuheben. Er hatte die Vision, dass Menschen aus allen Völkern in das Gottesreich strömen (Lk 13,29). Dies entsprach der jüdischen Erwartung einer Völkerwallfahrt zum Zion. Nach dem gescheiterten Universalisierungsversuch in der Makkabäer­ zeit war der von Jesus initiierte Universalisierungsversuch der erste erfolgreiche Reformversuch. Er hatte seinen Ursprung nicht in der Oberschicht, sondern im Volk. Die Jesusbewegung ging daher auch nicht mit dem Tod ihres Stifters unter. Sie erhielt sich dadurch, dass sie auch Nichtjuden für sich gewann. Diese Öffnung der Bewegung für Nichtjuden hat Paulus gegen Widerstände durchgesetzt, auch wenn sie schon vor ihm bei Jesus, bei den Hellenisten und in der antiochenischen Gemeinde begonnen hat. Paulus begründete die Öffnung durch seine Gesetzeskritik. Er liberalisierte nicht nur das Gesetz, sondern hob Teile davon auf. Legitimation dafür gab ihm sein Christusglaube: Mit Christus war für ihn die Geschichte zwischen Gott und den Menschen in ein neues Stadium getreten. Paulus war durch seine Begegnung mit Christus für die Gruppe gewonnen worden, die er vorher bekämpft hatte, weil sie sich durch Liberalisierung des Gesetzes für Fremde geöffnet hatte. In seiner Bekehrung und Berufung liegt der Schlüssel dafür, dass er auf den Konflikt zwischen göttlicher Forderung und menschlichem Verhalten nicht mit einer Verschärfung der G ­ esetzesforderungen

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und einer neuen Umkehrbewegung im Judentum reagierte. Er erkannte den Weg der Gesetzesverschärfung als Irrweg und berief sich stattdessen auf die Erlösungstat Christi. Paulus musste in sich seinen alten zelotischen Fanatismus gegen jede Anpassung des Judentums an die heidnische Umwelt überwinden. Dabei entwickelte er einen anthropologischen Pessimismus, der zur Grundlage seines Universalismus wurde: Alle Menschen widersprechen dem Willen Gottes und sind daher vor Gott gleich und auf dessen Gnade angewiesen. Damit riss er die Schranken zwischen Juden und Nichtjuden ein. Er schildert im Römerbrief seinen inneren Konflikt mit sich selbst und dem Gesetz in einer einzigartigen introspektiven Schärfe. Dieser Konflikt stellt daher Entstehungskontext und Begründung für den Universalismus des Paulus dar. Der Grund dafür, dass Heiden das Gesetz nicht übernehmen müssen, liegt darin, dass alle Menschen Sünder sind und unabhängig vom Gesetz durch ihren Glauben an Christus gerechtfertigt werden.18 Wichtig ist für das Verständnis seiner Gesetzeskritik: Die Universalität der Sünde lässt sich nie aus dem faktischen Verhalten der Menschen erschließen. Wer könnte ausschließen, dass einige Heiden nicht doch das Gesetz halten (2,14)? Wer könnte versichern, dass es keine wahren „Juden im Verborgenen“ gibt, seien sie jüdischer oder nichtjüdischer Herkunft (2,28 f)? Das apodiktische Urteil, dass niemand vor Gott gerecht ist, ist nur dann evident, wenn man erkennt, dass das Gesetz insgesamt ein Irrweg werden kann. Dieser Gedanke war so kühn, dass Paulus immer wieder neu ansetzen musste, um ihn zu artikulieren. Was kritisierte er am Gesetz? Wir erinnern noch einmal an seine vier Kritikpunkte, die in jedem seiner vier Heilskonzepte verschiedene Akzente setzen: (1) Das Gesetz verführt zum Gesetzesstolz und Abwertung anderer (2,17–24). (2) Es bewirkt Gesetzesangst (4,15) und ist schon durch seine Existenz eine Last (5,13). (3) Es bewahrt nicht vor Gesetzesmissbrauch (7,11) und Gesetzeseifer (10,2). (4) Es erzeugt die Gesetzesillusion, menschliches Handeln könne erreichen, was allein Gottes Erwählung tun kann (9,30–32). Das Gesetz hat hier immer als Ganzes eine unheilvolle Funktion. Es wird zum tötenden Buchstaben, statt Leben gebender Geist zu sein (2Kor 3,6). Nur weil das Gesetz als Ganzes in Misskredit geriet, kann Paulus auf den Konflikt zwischen Forderung und Verhalten in der Weise reagieren, dass er nicht wie die vielen anderen Erneuerungsbewegungen im Judentum zu einer noch konsequenteren Verwirklichung der (recht verstandenen) Forderung Gottes aufruft, sondern zur Einsicht kommt, dass niemand die Forderungen Gottes erfüllen kann und alle Menschen auf Gottes Gnade angewiesen sind – sowohl diejenigen, die gegen das 18 Westerholm, Perspectives, 401.

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Gesetz verstoßen, als auch diejenigen, die sich darum bemühen, es zu erfüllen. Dabei darf man nie vergessen: Was Paulus bei den Juden als Gesetzlichkeit kritisiert, kritisiert Paulus auch bei den Griechen als Stolz auf ihre Weisheit.19

8.2.2 Der Universalismus des Paulus als Ursache kognitiver Dissonanzen Der anthropologische Pessimismus des Paulus hat seinem universalistischen Konzept die Begründung gegeben. Sein Universalismus hat aber auch den Pessimismus verschärft. In Religionen wie dem Judentum gelangen Menschen durch Geburt in den Bereich des Heils. Eine Religion, der man durch eine bewusste persönliche Entscheidung beitritt, muss nach einer inneren Logik die Lebenszeit vor der Bekehrung ihrer Anhänger abwerten. Je dunkler sie gesehen wird, umso notwendiger wird die Konversion zur neuen Religion.20 Handelt es sich um Konversion zu einer Gemeinschaft, die sich für alle Menschen öffnen will, werden innere Konflikte zusätzlich dadurch verschärft, dass in vielen Menschen eine tief verwurzelte Abneigung gegen Fremde und Andere auflebt. Auch in den urchristlichen Gemeinden entstanden solche Konflikte – schon wegen der Frage, ob man mit Fremden gemeinsam essen kann, wenn sie nicht alle Speiseregeln einhalten (Gal 2,11–14). Dieser Universalismus erhöhte in der Gemeinschaft Spannungen in jedem einzelnen Mitglied. Dafür ist Paulus ein Beispiel. Zwar blickte er auf eine große Veränderung in seinem Leben zurück, aber der alte Paulus war in ihm noch immer lebendig. Man kann sich durchaus fragen, ob Paulus wirklich seinen alten Fanatismus überwunden hat. Zeigt er sich nicht in neuer Form in der maßlosen Polemik gegen seine Gegner? Man kann durchaus bezweifeln, ob er seinen 19 Für das Verständnis des Paulus ist entscheidend: Die Neigung zur kollektiven Abwertung anderer findet Paulus bei allen Menschen, auch bei den Griechen. Für sie war die Weisheit der Zugang zu Gott. Ihre Philosophen (oder „Weisen“) hatten Gott erkannt, ihn aber nicht als einzigen Gott verehrt. Daher hält Paulus den Stolz der Griechen auf ihre Weisheit für eine Illusion. Sie sind trotz ihrer Weisheit in die Irre gegangen und haben kein Recht, auf Barbaren und Nichtweise herabzuschauen (1Kor 1,18–31). Für die Juden gilt: Sie meinen, in der Tora den Weg zu Gott zu haben. Indem sie die Tora exklusiv für sich beanspruchen, schließen sie andere Menschen vom Heil aus und bekämpfen die Mission des Paulus, der allen Völkern das Heil bringen will (1Thess 2,15). Paulus widerspricht beiden Seiten. Gott hat in Christus einen neuen Weg zum Heil für Juden und Griechen eröffnet. Für die Griechen ist der Gekreuzigte eine Torheit und widerspricht ihrer Weisheit (1Kor 1,23b). Für die Juden ist er ein Ärgernis (1Kor 1,23a) und widerspricht ihrem Gesetz, das einen Gekreuzigten verflucht (Dtn 21,23 = Gal 3,13). 20 Deswegen finden wir eine pessimistische Anthropologie schon bei den Essenern. Auch in diese Gruppe wurde man meist nicht hineingeboren, vielmehr traten ihr einzelne Juden bei, um sich von den Sündern zu trennen und ein heiliges Leben zu führen. Die Essener waren keine universalistische Gemeinschaft.

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Ehrgeiz, alle anderen zu übertreffen, im Griff hatte. In seiner vorchristlichen Zeit wollte er der Erste unter seinen Altersgenossen im „Eifern“ sein (Gal 1,14), in seiner christlichen Zeit wollte er mehr leisten als alle anderen Apostel (1Kor 15,10)! Immer wieder ahnt man „unerlöste Motive“ aus seiner Vergangenheit, die in seinem Leben nachwirken. Was für Paulus persönlich gilt, ist aber auch in seinen Gedanken allgemein spürbar. Die Erlösten sind bei ihm nicht ganz so erlöst, wie sie es sein sollten. Ein kurzer Durchgang durch den Römerbrief soll auf die Zeichen einer solchen bleibenden Präsenz des Unerlösten aufmerksam machen. Paulus schildert in ihm oft den Zustand der Unerlöstheit so, dass sich auch Christen in ihm wiedererkennen müssen. Haben seine Texte von der Er­ lösung nicht oft einen verborgenen Subtext, der Unerlöstheit erkennen oder ahnen lässt?

a) Anfechtungen des Gewissens in 1,18–32 Paulus spricht in 1,18 vom Widerstand, auf den die Wahrheit in der Welt stößt: „Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten“. Auch die Botschaft des Paulus erfährt diesen Widerstand. Wie kann er ihr trotzdem eine Chance geben? Paulus wählt den indirekten Angriff. Er for­muliert seine Anklage zunächst so, dass Leser und Hörer denken, andere seien gemeint. Erst in einem zweiten Schritt lenkt er die Leser und Hörer dahin, die Anklage auch auf sich zu beziehen. Mit Recht legt man 1,18–32 meist so aus: Paulus formuliere hier eine Anklage gegen heidnische Religion und Moral, bei der sich die Juden zunächst nicht mitbetroffen fühlen, um in einem zweiten Schritt die Illusion ihrer Gesetzesgerechtigkeit zu zerstören. Ab 2,1 wende er sich an einen Juden, der andere kritisiert, und sage ihm auf den Kopf zu: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du eben dasselbe tust, was du richtest“ (2,1). Warum wendet sich Paulus hier aber generell an einen Menschen und nicht wie in 2,17 an einen Juden? Es liegt folgende Deutung nahe:21 Paulus schildert in 1,18–32 Götzendienst und Verkommenheit der Menschen in einer Weise, in der sich zunächst weder Juden, noch Heiden, noch Christen betroffen fühlen müssen. Er sagt dann allen Menschen auf den Kopf zu, sie seien nicht besser als die geschilderten Sünder. Der Text hat einen Subtext, der sagt: Auch die Christen, an die der Römerbrief adressiert ist, müssen sich mit diesen Sündern identifizieren. Versetzen wir uns in die Rolle der heidenchristlichen Leser des Briefes. Heidnischer Götzendienst wird in 1,18–25 von Paulus so grotesk überzeichnet, dass sie sich von dieser Anklage nicht betroffen fühlen müssen: Wann hätten sie Vö 21 So vor allem Dabelstein, Beurteilung, 64–73.

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gel, vierfüßige und kriechende Tiere verehrt? Tiere wurden in der Regel nicht als Götter verehrt, sondern als Attribute von Göttern. Nur die ägyptische Religion konnte als Tierverehrung (miss-)verstanden werden.22 Die meisten Heidenchristen konnten Paulus daher zunächst nur so verstehen, als träfe seine Kritik nur Ägypter mit ihrem Tierkult. Sie konnten meinen, sie seien nicht angesprochen. Wie mussten die Judenchristen die Polemik gegen den Götzendienst erleben? Die Vertauschung der Herrlichkeit Gottes mit der eines vergänglichen Menschen erinnert an die Apotheose menschlicher Herrscher. Diese lehnten die Juden ebenso dezidiert ab wie die Homosexualität als Vertauschung der Geschlechtsrollen. Doch klingt in 1,23 wörtlich Ps 106,20 an, wo der Tanz um das goldene Kalb (Ex 32,4–35) mit den Worten kritisiert wird: „Und so tauschten sie ihren Ruhm mit dem Bild eines Rindes, das Gras frisst“. Hier besteht kein Zweifel: Paulus schildert heidnischen Götzendienst in einer Weise, die auch für jüdische Leser als ihr eigenes Fehlverhalten transparent war. Fazit: Ein Subtext signalisiert ihnen, auch sie seien angesprochen. Wenn Paulus dann behauptet: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen“ (2,1), spricht er jeden Menschen an, der seinem vorangegangenen vernichtenden Urteil zugestimmt, sich selbst aber ausgenommen hat. In diesen Versen spricht Paulus auch die Christen an! Alle Menschen stehen vor Gottes Gericht „zuerst Juden und ebenso Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott“ (2,10 f). Von 2,12 an ändert Paulus seine Strategie. Jetzt kritisiert er eindeutig Juden. Ihre religiöse Gleichstellung mit Heiden musste ihren Widerstand hervorrufen. Besaßen Juden nicht exklusiv drei Privilegien: das Gesetz, die Beschneidung und die Verheißungen? Paulus interpretiert nacheinander diese „Privilegien“ so um, dass auch Heiden sie besitzen können. Indirekt kritisiert er damit aber auch die Heiden (und Heidenchristen): Sie können ihre Sünden nicht dadurch rechtfertigen, dass sie kein Gesetz, keine Beschneidung oder keine Verheißungen besitzen. Alle Heiden und Heidenchristen haben das Gesetz in ihrem Herzen eingeschrieben. Sie vollziehen in sich ein Abbild des Gerichtes am letzten Tage. Hier sei an den „psychomythischen Parallelismus“ im Römerbrief erinnert. Immer wieder parallelisiert Paulus ein objektives Geschehen mit einem inneren Geschehen im Menschen: Dem Jüngsten Gericht entspricht das innere Gerichtsforum des Gewissens (2,5–11//2,12–16), der Liebe Gottes im Christusgeschehen 22 In Arist. 137 f werden die Griechen wegen ihres Götzendienstes und die Ägypter wegen ihres Tierkults kritisiert: „Daher ist es dumm und töricht, seinesgleichen zu vergotten. Außerdem sind auch noch viele Menschen reicher an Erfindungsgaben und Kenntnissen als die damals (lebenden), und doch denkt keiner daran, sie kultisch zu verehren. Und die, die das ersonnen und erdichtet haben, halten sich für die weisesten Griechen. Lohnt es sich da, über die anderen, noch viel dümmeren zu reden, die Ägypter und ähnlichen (sic!) (Völker), die an Tiere glauben, und dabei noch meistens an Kriech- und Raubtiere, und ihnen opfern, lebendigen wie auch Kadavern?“ Zu dieser Parallele zu Röm 1,22 f mit Recht Haacker, ThHK 6, 51 Anm. 50.

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die Liebe Gottes in den Herzen (5,6–11//5,5), der Fürsprache Christi im Himmel die Fürsprache des Geistes im Herzen (8,31–34//8,26 f), der Himmel- und Höllenfahrt Christi entspricht das Bekenntnis in Herz und Mund (10,6–8//10,9–13). Warum braucht Paulus in Röm 2,5–16 neben dem inneren Tribunal das göttliche Gericht als Parallele im Himmel? In der Schilderung des inneren Tribunals gibt es nur Gesetz, Zeuge, Ankläger und Verteidiger. Der Platz des Richters bleibt leer. Zweimal beschwört Paulus in 2,1–16 dagegen am Anfang den Menschen selbst als Richter – immer als Richter über andere, der die moralische Aggression extrapunitiv auf andere lenkt: (1) „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verurteilst du dich selbst“ (2,1). (2) „Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst“ (2,3)?

Paulus bringt an dieser Stelle das externe Gericht Gottes ins Spiel. Es hat die Funktion, eine Verurteilung anderer Menschen in innere Selbstverurteilung zu verwandeln, bzw. extrapunitive in intrapunitive Aggressivität zu überführen. Die Bilder vom Gericht Gottes bringen den Menschen, der die Richterrolle übernehmen wollte, dazu, sich vor Gott in der Rolle des Angeklagten zu erkennen. Auch Christen haben sich in der Rolle des anmaßenden menschlichen Richters widererkennen müssen, der unbewusst sich selbst verurteilt, indem er andere verurteilt. Denn Paulus kritisiert hier jedes Sich-Rühmen, das ein Versagen bei sich leugnet, aber dasselbe Versagen in einer anderen Gruppe scharf kritisiert. Der jüdische Toralehrer, der in 2,17–24 kritisiert wird, weil er lehrt, was er selbst nicht tut, ist nur ein Sonderfall einer allgemeinen Tendenz, bei anderen zu kritisieren, was man bei sich nicht wahrhaben will. Der psychomythische Parallelismus zwischen einem externen und einem internen Gericht ermöglicht die Umlenkung extrapunitiver in intrapunitive moralische Aggressivität. In Röm 2 konkurrieren zwei Richter miteinander: der Mensch, der andere Menschen richtet (2,1), und Gott, der mit allen Menschen auch diesen Menschenrichter richten wird (2,16). Dazu kommt im inneren Forum der Mensch, der sich aufgrund des Zeugnisses seines Gewissens selbst verurteilt. Gott tritt als Richter in der Darstellung dieses inneren Tribunals (2,12–16) zurück. Den Menschen wird so bewusst: Die moralische Verurteilungskraft gegen andere muss sich auch gegen sie selbst richten. Dieser rhetorische Kunstgriff, die Schilderung eines inneren Gerichts parallel zum göttlichen Gericht, ermöglicht nicht nur die Verwandlung von extra- in intrapunitive Aggressivität, sondern begrenzt auch ihre verdammende und de-

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struktive Kraft: Gott ist ein gütiger Richter. Denn er urteilt nach dem Evangelium (2,16). Dieses Evangelium gilt allen Glaubenden. Paulus nennt es ausdrücklich sein Evangelium, das nach 1,16 f für alle Glaubenden gilt. Damit schließt er auch die Christen in die vor Gericht Angeklagten ein. Das sich im Gewissen ankündigende Gericht ist daher auch für alle Christen eine bleibende Anfechtung – aber es verweist sie auf ihre Heilsgewissheit aufgrund des Evangeliums.

b) Anfechtungen des Gewissens in 7,7–25 Hinweise auf solch eine Anfechtung des Christen findet man auch in Röm 7. Der erneuerte Mensch muss in 7,25 bekennen, dass er selbst mit seiner Vernunft zwar dem Gesetz Gottes dient, mit seinem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde. Diese klassische Formulierung des simul iustus et peccator ist keine sekundär eingetragene Glosse, sondern gehört ursprünglich zum Text.23 Immer wieder haben Theologen seit Augustinus und Luther in diesem Konflikt sich selbst erkannt.24 Sie konnten sich darauf stützen, dass der in Röm 7 beschriebene Konflikt von 7,14 an nicht mehr im Präteritum, sondern im Präsens dargestellt wird. Meint Paulus hier mit dieser Schilderung im Präsens auch das gegenwärtige Leben des Christen? Spricht er indirekt auch über sich nach seiner Bekehrung? Jedoch enthält der Text deutliche Signale, dass erst nach 7,24 der Übergang zum vorchristlichen zum christlichen Leben dargestellt wird. Der Kontrast zwischen Buchstaben und Geist leitet diesen Abschnitt über den Gesetzeskonflikt in 7,6 programmatisch ein. Dieser Kontrast wird als Gegensatz von „damals und jetzt“ (von ὅτε/hóte und νυνὶ δέ/nyní dé) auf die Lebensphase vor und nach der Bekehrung bezogen (7,5 f).25 7,7–24 beschreibt eindeutig den Zustand des Menschen vor der Bekehrung, 7,25–8,39 den nach der Bekehrung. 8,2 greift auf jeden Fall auf den Gegensatz des Gesetzes als Buchstabe und Geist zurück – jetzt jedoch in der Gestalt von zwei einander entgegengesetzten Gesetzen, dem Gesetz „des Geistes und des Lebens“ auf der einen und dem Gesetz „der Sünde und des Todes“ auf der anderen Seite. Wo in diesem Text liegt nun genau der Übergang zwischen dem alten und dem neuen Leben? Die Wende liegt zwischen der verzweifelten Klage: „Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenem Leibe?“ (7,24) und dem darauf folgenden Jubelruf: „Dank sei Gott durch Jesus Christus unsern Herrn!“ (7,25). Während der Übergang vom Präteritum zum Präsens zwischen 7,13 und 7,14 viel zu wenig 23 So überzeugend Wolter, EKK 6/1, 463. Es gibt keine einzige Handschrift, in der 7,25 fehlt oder an einem anderen Ort steht. 24 Zuletzt wurde diese Deutung auf den Christen erneuert von Dunn, Theology, 472–477; ders., Rom 7,14–25: Danach kann in 7,14–25 nicht der vorchristliche Paulus gemeint sein, da der nach Phil 3,4–6 in keinem Konflikt mit dem Gesetz lebte. Ebenso Cranfield, ICC 1, 342 f. 25 Vergleichbare Kontraste zwischen Einst und Jetzt finden sich auch sonst im Neuen Testament, vgl. Kol 1,21–23; 3,5–11; Eph 2,1–10; 4,20–24.

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markiert ist, um als Hinweis auf diese Wende verstanden zu werden, ist dieser Übergang zwischen 7,24 und 7,25 deutlich sichtbar. Viele Aussagen in 7,14–24 stehen zudem in direktem Kontrast zu den Aussagen, die in 8,2–11 über den Christen getroffen werden: Nach 7,14 ist der Mensch unter die Sünde verkauft, nach 8,2 ist er „befreit vom Gesetz der Sünde und des Todes“. Nach 7,17.20 wohnt die Sünde im Menschen, nach 8,9 wohnt in ihm der Geist Gottes. In 7,18 werden Sárx und Ich gleichgesetzt, in 8,9 werden sie getrennt, wenn es heißt: „Ihr seid nicht mehr in der Sárx“. Nach 7,23 streitet ein „anderes Gesetz“ in den menschlichen Gliedern gegen das Gesetz des Verstandes. Nach 8,6 ist dieser Streit überwunden; denn das Trachten des Geistes schafft Leben und Frieden. Zwischen 7,14–24 und 7,25 muss sich also eine grundlegende Wende ereignet haben. 7,14–24 schaut auf einen überwundenen Konflikt zurück. Dennoch bleiben Fragen: Wenn man 7,25 „So diene ich nun mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde“ nicht als Glosse ausscheidet, sondern zum ursprünglichen Text zählt, muss man in diesem zwischen Verstand und Fleisch zerrissenen Menschen einen Christen erkennen. Dieser Christ ist simul iustus et peccator. Nun sind uns vergleichbare paradoxe Aussagen aus dem Neuen Testament vertraut, bei denen sich verschiedene Zeitdimensionen ineinander schieben. Jede präsentische Eschatologie enthält solch eine Paradoxie. Röm 8 ist ein klassischer Fall dafür: Einerseits sind die Christen zu Söhnen Gottes adoptiert (8,14 f), andererseits warten sie noch auf die Adoption zur Sohnschaft (8,23). Was hier im Blick auf die Zukunft möglich ist, eine Verschränkung von zwei Zeitebenen, ist genauso vorstellbar im Blick auf die Vergangenheit. So wie es eine präsentische Zukunft gibt, gibt es auch eine präsentische Vergangenheit: ein Nachwirken der vorchristlichen Zeit im gegenwärtigen christlichen Leben. 7,14–24 bezieht sich zwar auf die vorchristliche Zeit, aber diese wirkt in der Gegenwart nach. Deshalb enthält dieser Text einen Subtext, der sich auch an den gegenwärtigen Christen wendet. Der Konflikt in 7,25 trifft nach wie vor auf jeden Christen zu. Immerhin unterscheidet er sich nach 7,25 in einem Punkte deutlich von seiner Vorzeit. Denn das Ich identifiziert sich in 7,25 nun ganz mit jenem Ich, das sagt: „Ich selbst diene dem Gesetz (αὐτὸς ἐγώ/autós egō´)“, es identifiziert sich nicht mehr mit dem Fleisch wie in 7,18. Die Lebendigkeit der Schilderung seiner Vorzeit im Präsens in 7,14–24 deutet aber an: Hier spricht ein bekehrtes „Ich“ über noch immer gegenwärtige Probleme und es kann öffentlich über sie sprechen, weil es diese Probleme schon als überwunden betrachten darf. Solch eine Verschränkung der Zeitdimensionen entspricht den Erkenntnissen der Psychologie der Bekehrung:26 Bekehrte sprechen über das, was sie vermeintlich überwunden haben, aber was noch immer in ihnen wirksam ist, so, als gehöre es nur ihrer Vorzeit an. Bekehrungserzählungen ermöglichen ihnen, öffentlich über ihre weiter existierenden „dunklen“ Seiten zu reden und sie neu zu 26 Stromberg, Language.

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bearbeiten, ohne sozial an Ansehen zu verlieren, im Gegenteil: Sie gewinnen sogar an Achtung. Bekennen sie sich doch öffentlich zu dem „neuen Menschen“, der sie geworden sind, und verpflichten sich, den alten Menschen in sich zu überwinden. In Röm 7 beschreibt Paulus mit introspektiver Klarheit einen vergangenen inneren Konflikt, dessen Nachwehen er noch in der Gegenwart spürt. Er war einst ein Feind der Christen, die sich schon vor Paulus für die Heiden geöffnet hatten. Diese hatten auf den Zustrom der Heiden zum Tempel und auf seine Öffnung gehofft (Mk 11,17). Paulus hat einst ihre universalistischen Tendenzen bekämpft. Er hat an sich selbst erlebt: Extrapunitive Aggression gegen eine abweichende Minorität der Christen und intrapunitive Aggressivität gegen zu unterdrückende Tendenzen in sich selbst sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Formulierung: „Nicht was ich will, tue ich, sondern was ich hasse, das tue ich“ (7,15; vgl. 7,17) würde demnach eine Erkenntnis formulieren, die er durch Rückblick auf seine Verfolgerzeit gewonnen hat. Damals wollte er das Gute, bewirkte durch sein Handeln aber faktisch das Böse. Durch die verallgemeinerte Darstellung der Erkenntnis aus Röm 7,25 in einer Formel (simul iustus und peccator) wird dieses Problem auch als Problem der Gegenwart erkannt. Auch im Christen bleibt eine Spaltung zwischen dem Gesetz Gottes und dem Gesetz der Sünde, nur dass er als Christ jetzt ganz auf Seiten des Gesetzes Gottes steht: „Ich selbst aber diene also dem Gesetz Gottes“ (7,25). Dieser bleibende Gegenwartsbezug wird dadurch verstärkt, dass Röm 7,7–23 Antwort und Echo auf einen persönlichen Vorwurf ist, der sich gegen Paulus nach seiner Bekehrung wendet. Paulus ist unterstellt worden, er wolle in seiner Missionstätigkeit das Böse, damit das Gute herauskomme (3,8). Er kontert, dass er keineswegs das Böse um des Guten willen wolle; im Gegenteil: Einst hat er das Gute (die Gesetzeserfüllung) gewollt, aber faktisch Böses angerichtet. Jetzt aber schaut er auf seine Vergangenheit zurück. Durch seine Bekehrung wurde er von einem Fundamentalisten zu einem universalistischen Reformator. Anthropologischer Pessimismus – die Wahrnehmung einer inneren Destruktivität, die das Gute will, aber das Böse tut – und missionarischer Universalismus gehören bei Paulus zusammen. Wenn diese Interpretation, die in Röm 7 einen „zelotischen“ Hintergrund im Leben des Paulus annimmt, zutreffend ist, träte hier der Zusammenhang zwischen sozialem Identitätskonflikt und individuellem Gebotskonflikt deutlich hervor.

c) Anfechtungen des Glaubens in 4,1–25 Eine bleibende Spannung und Anfechtung ist nicht nur der Widerspruch zwischen Forderung und Verhalten, sondern auch zwischen Verheißung und Glauben. Abraham wurde eine universale Verheißung zugesprochen: In ihm sollen alle Völker gesegnet sein. Da er für Nachkommen zu alt ist, muss er gegen den Augenschein an diese Verheißung glauben. Dabei stößt Abraham an Grenzen

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seiner physischen Möglichkeiten. Auch darin konnte sich Paulus wiedererkennen. Seine Probleme waren natürlich nicht sein Alter und seine Zeugungsfähigkeit. Sein Auftrag war vielmehr, Kinder Abrahams zu schaffen, indem er Menschen für den Glauben gewinnt. Paulus vertraute wie Abraham der Verheißung einer universalen Nachkommenschaft. Diese Verheißung schien aber oft genauso unrealistisch zu sein wie einst die Verheißung an Abraham. Wenn P ­ aulus bei der Mission der Nabatäer gescheitert war, die doch Kinder Hagars und ­Abrahams waren – wie sollte er dann alle Völker für den Glauben an Christus gewinnen? Musste er sich nicht in dieser Situation in einer Weise Mut zusprechen, wie es Abraham nach 4,20–22 tat? Dort schreibt Paulus über ihn: „Denn er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde stark im Glauben und gab Gott die Ehre und wusste aufs allergewisseste: was Gott verheißt, das kann er auch tun. Darum ist es ihm auch zur Gerechtigkeit gerechnet worden“. Hier stürzt nicht das Gewissen in einen Zwiespalt mit sich selbst, sondern der Glaube an die Verheißung. Nicht der Widerspruch zwischen Norm und Handeln wird hier zum Problem, sondern der Widerspruch zwischen dem Glauben und Hoffen des Menschen und dem Handeln Gottes.

d) Anfechtungen des Glaubens in 8,1–39 Diese zweite Form der Anfechtung tritt auch in Röm 8 im Bild des Seufzens der Erlösten hervor (8,22–27). Auch hier geht es nicht um eine Krise der Moral, sondern um eine Krise durch Endlichkeit und Leid. Hier steht nicht nur der Mensch, sondern auch Gottes Geist im Konflikt mit der Unerlöstheit der Welt. Dieser Geist ist die erlösende Kraft, die sich gegen die Sarx durchsetzt. Er klagt aus der Tiefe des unerlösten Daseins. Durchgehend finden wir einen Gegensatz von Geist und Sarx. Der Geist ist die Kraft des Universalismus, durch die sich die Gemeinde für Fremde und Heiden öffnet. Heiden werden durch Empfang des Geistes zu Mitgliedern der Gemeinde. Zwar spricht Paulus anders als die Apostel­ geschichte selten vom Geist als Kraft der Mission, aber er setzt den Geist als diese Kraft voraus. Einige Belege seien genannt: Die heidnischen Galater sind durch Empfang des „Geistes“ zu Christen geworden (Gal 3,2). Paulus dient nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist, daher kann er die Freiheit vom Gesetz als Voraussetzung für seine Heidenmission verkündigen (2Kor 3,1–18). Den Auftrag dazu hat er von Christus, der nach dem „Geist der Heiligkeit“ eingesetzt wurde zum Sohn Gottes (1,4). Er bringt die Heiden als Opfergabe „geheiligt im heiligen Geist“ dar (15,16). Dieser Geist Gottes ist aber nicht nur die Kraft, die Paulus zur universalen Mission antreibt und befähigt, sondern auch die Kraft, die ihn in den Konflikt zwischen Geist und Fleisch stürzt: „Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist, der Geist aber gegen das Fleisch. Denn diese liegen miteinander im Streit, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt“ (Gal 5,17). Wieder zeigt sich der gesuchte Zusammenhang zwischen seinem Universalismus und kognitiven Dissonanzen.

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Der Geist, der die Heiden für das Gottesvolk gewinnt, ist bei Paulus zugleich der Geist, der in ihm einen Konflikt schafft. Am einprägsamsten stellt er diesen Konflikt zwischen dem Geist Gottes und der Unerlöstheit der Welt in Röm 8,1–39 dar. Der Widerspruch zwischen der unerfüllten Sehnsucht des Menschen und der Verheißung Gottes wird hier in einer einzigartigen Weise gelöst: Gott selbst leidet in seinem Geist mit den Menschen und mit aller Kreatur unter diesem Widerspruch. Wenn die Kreatur über diesen Widerspruch zu Gott klagt, so klagt in ihr Gottes Geist.

e) Anfechtungen des Glaubens in 9–11 Paulus kennt schließlich auch die Anfechtung der Prediger, dass ihre Predigt nicht gehört wird. Er stellt in Röm 9–11 seine Verzweiflung über den Unglauben Israels dar und findet sie vorabgebildet in der Verzweiflung des Mose und des Elia, die beide mit ihrer Botschaft zu scheitern drohten. Mose repräsentiert das ganze Israel (10,1 f.5; vgl. 9,15), Elia nur noch einen Rest in Israel (11,1–4). Mose tritt als Fürbitter für alle Israeliten ein und erneuert die Tafeln des Gesetzes, nachdem er sie zerstört hat. Paulus kontrastiert in Röm 10 den Mose, der die Gerechtigkeit aus dem Gesetz verkörpert (10,5 = Lev 18,5), mit dem Mose, der den Glauben bezeugt. Denn Paulus zitiert Dtn 30,11–14: „Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so: Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinaus gen Himmel fahren? – nämlich um Christus herabzuholen …“ (10,6). Mose erscheint hier in der Rolle eines Reformators – nicht in Form von veränderten Geboten, sondern in Form des Evangeliums Christi. Weil Mose diese Botschaft des Glaubens schon im Deuteronomium verkündigt hat und sich damit an ganz Israel wendet, wendet sich Paulus damit auch heute an ganz Israel. Umso größer ist seine Enttäuschung, dass nicht alle in Israel diese Botschaft hören wollen. Dies hat schon Jesaja geweissagt (10,16 = Jes 53,1LXX). Paulus macht die selbe Erfahrung wie Elia (11,1–4). Er erlebt sich in Israel als allein und verlassen. Elia bewegt in dem Konflikt mit den Baalsanhängern nicht nur die Sorge um Israel, sondern auch die Sorge um sein eigenes Leben. Er verkörpert die Anfechtung des Verkündigers, der als Bote Gottes verfolgt und mit dem Tod bedroht wird. Aber Elia erhält in dieser Situation die Offenbarung, dass viel mehr Menschen in Israel Jahwe treugeblieben sind, als er meinte: 7000 Männer und Frauen sind in Israel übrig geblieben, die den Baal nicht verehren. Diese Worte sind für Paulus eine Vorabbildung der Offenbarung, dass Israel nur für einige Zeit und nur teilweise verstockt sei, bis die „Fülle der Heiden“ zum Heil gekommen ist (11,25). Sozialer Identitätskonflikt und individueller Konflikt bedingen hier einander. Der individuelle Konflikt kann in Anfechtungen des Gewissens bestehen, das Gesetz durch sein Handeln nicht erfüllen zu können, aber auch in den Anfechtungen des Glaubens, dass Gott seine Verheißung nicht durch sein Handeln erfüllt oder unerfüllbare Aufträge erteilt. Die soziale Spannung zwischen Israel

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und den Völkern im Wetteifern um die wahre Religion (9,30–33; 11,11–15) führt gleichzeitig zu inneren Spannungen des Paulus mit sich selbst. Umgekehrt bedeutet die Überwindung sozialer Spannungen auch Versöhnung des Paulus mit sich selbst. Wenn Paulus in Röm 9–11 das gespaltene Israel darstellt und die Er­ lösung von ganz Israel ankündigt, spricht er indirekt auch über eine Spaltung und seine Versöhnung mit sich selbst. Er findet dafür ein ergreifendes Bild: Israel ist wie ein Ölbaum, aus dem Zweige ausgebrochen worden sind, die wieder eingepfropft werden, wenn sie nicht im Unglauben bleiben. Dasselbe gilt auch für­ Paulus. Er war wie ein Ölbaum, aus dem gewaltsam etwas ausgebrochen wurde, aber durch Gottes Gnade wird ihm alles zurück geschenkt; er kann sich mit sich selbst ­versöhnen.

8.2.3 Die Öffnung für andere als Aufgabe Es gibt einen direkten und sehr anschaulichen Beleg dafür, dass die eigene Zerrissenheit nicht nur der Vergangenheit angehört, sondern für Paulus in der Gegenwart weiterhin besteht und gerade durch die Missionsaufgabe des Paulus verschärft wird: In 1Kor 9 stellt sich Paulus als ein Missionar vor, der nichts unversucht lässt, um alle Menschen für das Evangelium zu gewinnen. Hier formuliert er die Öffnung für andere als Aufgabe und Auftrag. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi –, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben (1Kor 9,20–23).

Das Programm seiner Mission ist die grenzenlose Öffnung des Christentums für alle Menschen. Deshalb relativiert Paulus die Normen, die dieser Öffnung im Wege stehen, und passt sein Verhalten an das seiner Adressaten an. Paulus steht in dieser Mission in einer Konkurrenzsituation, denn andere missionieren ebenfalls. Diese Konkurrenz bewirkt einen Druck nach innen. Paulus beschreibt das

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unmittelbar danach im Bild vom Wettkampf: Er laufe in der Kampfbahn um den Siegespreis. Um ihn zu erreichen, kämpfe er nicht nur gegen andere, sondern gegen sich selbst: „Ich bezwinge meinen Leib (schlage ihn) und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde“ (1Kor 9,27). Seine Öffnung nach außen bezahlt Paulus mit Druck nach innen. Er diszipliniert sich selbst auch dadurch, dass er etwas in sich unterdrückt. Denn er will nicht anderen predigen und selbst verworfen sein. Nur dadurch kann er in der Konkurrenz der Missionare sein Öffnungsprogramm erfolgreich durchführen. Dabei geht es um beide Formen von Anfechtung. Paulus sagt, er wolle in diesem Wettkampf nicht verworfen (ἀδόκιμος/adókimos) sein (1Kor 9,27). Dabei benutzt er ein moralisch aufgeladenes Prädikat, das er auch in Röm 1,28 benutzt, um ein verworfenes Denken (einen ἀδόκιμον νοῦν/adókimon noún) zu charakterisieren. Als universalistischer Prediger, der allen alles sein will, spürt er in sich einen inneren Gewissenskonflikt. Wenn er seine Situation dabei im Bild des Athleten im Stadion darstellt, dann lässt das eher an eine Anfechtung des Vertrauens auf die eigene Kraft denken – an einen Zweifel an seiner Stärke und seinen Möglichkeiten. Auf jeden Fall betrachtet Paulus sein Werben um alle Menschen als eine Aufgabe, die Selbstdisziplin verlangt. Es ist Auftrag Gottes und zugleich eine ethische Herausforderung. Unter diesem Aspekt müssen wir noch einmal den Zusammenhang von Pessimismus und Universalismus betrachten. Die Öffnung des Gottesvolkes für alle ist eine Ausweitung ethischer Solidarität auf Fremde. Sie werden dadurch als gleichberechtigt anerkannt. Das Liebesgebot gilt sowohl gegenüber Gemeindegliedern als auch gegenüber Menschen außerhalb der Gemeinde (1Thess 3,12). Die Gleichheit aller Menschen wird nicht nur negativ damit begründet, dass alle Menschen hinter den Forderungen Gottes zurückbleiben (so sagt es das Gesetz), sondern auch positiv dadurch, dass das Liebesgebot das Zentrum des Gesetzes ist und universal allen Menschen gilt. Liebe erkennt in allen Mitmenschen einen Wert und nicht nur ihren Unwert. Selbst als Feinde sind sie Geschöpfe Gottes, über die er seine Sonne auf- und niedergehen lässt. Wenn man sich auf diesen zwischenmenschlichen Bereich konzentriert, könnte man mit guten Gründen sagen: Eine optimistische Sicht des Menschen (als Ebenbild Gottes, als seine Geschöpfe und Kinder) sei für die Zuwendung zu Fremden eine bessere Motivation als der abgrundtiefe Pessimismus des Paulus. Neigt ein anthropologischer Pessimismus nicht dazu, bei Ausländern und Fremden das Böse überscharf zu sehen, es bei sich selbst aber zu übersehen? Schon die Bergpredigt hat diesen Projektionsmechanismus durchschaut: „Was siehst du den Splitter im Augen des andern und erkennst nicht den Balken im eigenen Auge?“ (Mt 7,3). Paulus formuliert in 2,1 f ähnliche Gedanken. Daher ist die These plausibel, ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühl seien bessere Voraussetzungen dafür, Fremden positiv zu begegnen. Ist eine pessimistische Anthropologie vielleicht sogar gefährlich? Gilt nicht für den Pessimis-

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mus: Wer sich selbst nicht annehmen kann, kann auch Fremde nicht annehmen? Wer sich selbst misstraut, misstraut auch leicht anderen? Dazu drei Gedanken: Erstens: Solidaritätsformen für das Verhalten untereinander haben sich besonders dort entwickelt, wo kleine Gemeinschaften von außen bedroht waren. Die „Nächstenliebe“ wurde in einem Volk entwickelt, das durch mächtige Reiche gefährdet war. Die großen Gesetzesbücher im Alten Testament  – das Bundesbuch, das Deuteronomium und das Heiligkeitsgesetz  – verbinden Solidarität im Innern mit Bedrohung von außen und Aggression gegen Außengruppen. Man kann fast eine Art „Gesetz“ erkennen: Liebe zu den Volksgenossen braucht die Abgrenzung zu den Fremden und Feinden. Die griechische Geschichte bietet eine Parallele: Die Polis hat sich unter dem Druck mächtiger Bedrohungen von außen entwickelt. Die Bedrohung durch das Perserreich hat die Griechen so zusammengeschweißt, dass sie ihre Freiheit verteidigen konnten. Der Selbstbehauptung zweier bedrohter Völker verdanken wir unsere Kultur mit ihren beiden Grundwerten Solidarität und Autonomie, Nächstenliebe und Freiheit. Der zweite Gedanke ist: Binnensolidarität wird dann auf Menschen der Außengruppe ausgeweitet, wenn die Abgrenzung gegenüber anderen Völkern durch­ geschichtliche Entwicklungen überholt wird. Dies geschah durch Entstehung großer Reiche, in denen mehrere Völker zusammenlebten. Die Griechen entwickelten einen Kosmopolitismus, als sie sich durch das Alexanderreich in die große Welt einordneten. Wenn Philo von Alexandrien das Gesetz mit dem Naturgesetz identifiziert (u. a. Ios. 28–31), dann beschreibt er die Entwicklung eines jüdischen Kosmopolitismus im römischen Reich. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Feindesliebe, die Jesus predigt. Aber auch diese Liebe hat nach dem oben formulierten „Gesetz“ einen Feind: Bei Jesus werden die nächsten Verwandten zu Feinden (Lk 14,26 u.ö.). Der dritte Gedanke arbeitet den spezifischen Beitrag des Paulus heraus: Bei Paulus werden nicht nur Nahestehende und Verwandte zu Feinden, sondern der Mensch wird sich selbst zum Feind. Das ist der paulinische anthropologische Pessimismus. Wenn wir uns den Fremden gegenüber öffnen, müssen wir unseren eigenen Impulsen gegenüber Fremden und Feinden misstrauisch werden. Denn in einem jeden von uns steckt eine Abneigung gegen die „Anderen“. Insofern kann zur Öffnung für die Fremden ein pessimistisches Bild von sich selbst gehören. Aber das ist nicht alles: Erst wenn sich Menschen ihre Feindschaft gegen Gott und andere Menschen offen eingestehen, können sie solche unsozialen Impulse in kooperative Motivation verwandeln. Paulus benutzt dafür das Bild vom Kreuzigen dieser Impulse (Gal 5,24). Wenn die Begierden des Fleisches gekreuzigt werden, können sie zu einem neuen Leben auferweckt und zu konstruktiven Impulsen des Leibes werden. Paulus nennt die sich dem Guten widersetzende Energie im Menschen oft „Fleisch“ (σάρξ/sárx). Dieses Wort benutzt er auch für seine Volkszugehörigkeit. Auch die ethnozentrische Bindung an das eigene Volk kann daher zur Energie der Sarx gehören, die sich dem universalen Heilswillen Gottes widersetzt.

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Durch den Geist wird der Mensch erneuert und von dieser Bindung an die Sarx befreit. Wenn wir das erneuerte Leben bei Paulus betrachten, so wird in ihm u. E. der jüdische Humanismus erneuert: Der Mensch erfüllt in seinem Handeln Gottes Willen. Dies tut er nicht, um vor Gott gerecht zu sein, sondern aus Dankbarkeit für seine Errettung. Er verwirklicht als wiedergeborener Mensch die Gebote im Sinne eines tertius usus legis. Er bejaht sie spontan. Der Christ erfüllt damit das, was die Gebote von Anfang an intendierten. Wenn der Geist des Gesetzgebers selbst im wiedergeborenen Menschen wirkt, werden die Gebote zu Ver­ haltensmaximen, die spontan erfüllt werden. Darauf zielt die Verheißung des neuen Bundes. Der neue Bund wird darin bestehen, dass das Gesetz Gottes in die Herzen der Menschen gelegt wird und keiner den anderen belehren muss (Jer 31,31–34). Deshalb sind alle Christen „von Gott gelehrt“ und nicht darauf angewiesen, sich gegenseitig zu belehren (1Thess 4,9). Paulus erneuert die jüdische Religion, so dass sie auch für die Heiden zugänglich ist. Was das Gesetz eigentlich bezweckt hat, geht nun in Erfüllung. Das reformierte Judentum des Paulus, das sich später zum Christentum entwickelt, ist daher nicht nur ein universalisiertes Judentum, sondern eine soteriologisch radikalisierte jüdische Gnadenreligion für alle Menschen. Allen gilt die Gnade Gottes, gleichgültig ob sie Juden oder Heiden sind. Aber alle müssen auch eine tiefgreifende Wandlung durchmachen. Auch das ist Erfüllung alter jüdischer Weissagungen und Hoffnungen. Halten wir fest: Im Römerbrief zeigt sich Paulus als Reformator, der ganz Israel für eine Öffnung für andere Völker in seinem Gottesdienst und in seinem ganzen Leben gewinnen will und deswegen nicht nur soziale Konflikte, sondern auch Konflikte mit sich selbst in Kauf nimmt. Umgekehrt gilt: Die Versöhnung der Heiden mit Israel ist für ihn auch Versöhnung mit sich selbst, die Überwindung der Abgrenzung gegen andere Völker auch die Überwindung eines Konflikts in ihm. Der individuelle Normkonflikt und der soziale Identitätskonflikt bedingen einander. Die Öffnung des Glaubens für alle Menschen erfordert eine innere Verwandlung des ganzen Menschen: Er muss lernen, „asoziale“ Tendenzen in sich zu überwinden. Die reformatorische Paulusauslegung und ihre existenziale Variante müssen daher mit der sozialen Auslegung der New Perspective verbunden werden, um Paulus als Reformator gerecht zu werden. Die soziale Auslegung braucht eine Begründung im individuellen Gebotskonflikt des Menschen, um die durchschlagende Wirkung der paulinischen Botschaft im Leben einzelner Menschen verständlich zu machen. Und die individuelle Deutung des Paulus muss er­ kennen, dass auch seine inneren Konflikte sozial bedingt sind. Sie sind in einen konkreten geschichtlichen und sozialen Kontext eingebettet.

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8.3 Die Bewältigung der Anfechtungen: Der Glaube Bleibt aber in Paulus und seiner Theologie nicht ein tiefes Misstrauen gegen sich selbst und gegen die böse Menschheit? Wir haben gesehen, dass Anfechtungen des Gewissens und des Glaubens in Paulus lebendig blieben – auch nach der großen Wende in seinem Leben. Zwar hat Paulus eine große Zuversicht, dass Menschen sich verändern können. Aber diese Veränderung sieht er nur bei denen, die durch den Geist zu neuen Geschöpfen werden. Unterliegt nicht auch Paulus der Tragik vieler Reformer, die zwar den erneuerten und „reformierten“ Menschen viel zutrauen, aber umso weniger denen, die ihrer Botschaft widersprechen? M. Luther verkündigte die Freiheit eines Christenmenschen, proklamierte deren Gleichheit vor Gott, verpflichtete sie zur Nächstenliebe – aber verteufelte diejenigen, die seine Botschaft ablehnten: Papst und Papisten, Türken und Juden. Das war nicht nur zeitgenössischer Grobianismus. Darin zeigt sich vielmehr ein grundsätzliches Problem. Je zielsicherer und gewisser sich Menschen auf dem Weg zum Guten glauben, umso mehr neigen sie zur moralischen Denunziation derer, die sich ihnen widersetzen.27 Auch Paulus stand in dieser Gefahr. Aber bei ihm sollte man anerkennen, dass er vor seiner missionarischen Tätigkeit in seinem Leben schon einmal solch eine Fehlentwicklung korrigiert hatte. Er hatte sich vorübergehend in einen aggressiven Fundamentalismus verirrt, wurde aber ein universalistischer Prediger. Er hatte im Galaterbrief und im 2. Korintherbrief unerträglich scharf gegen seine Gegner polemisiert, um diesen Universalismus durchzusetzen. Im Römerbrief aber hat er diese Polemik überwunden. Vor allem hält er in ihm daran fest, dass auch diejenigen Gottes Geliebte sind, die seine Predigt ablehnen (11,28). Nur in der Verdammung seiner Gegner in 3,8 wirkt seine polemische Art nach. Der Satan spielt nur einmal eine Rolle – und dann als eine Bedrohung, die bald überwunden sein wird (16,20). Meist sucht Paulus im Römerbrief die Ursachen menschlicher Unzulänglichkeit beim Menschen selbst, in seinem Verhalten und in seiner Natur. Paulus hat sich nicht nur einmal, sondern mehrfach in seinem Leben korrigiert. Wo liegt der Schlüssel zu dieser Fähigkeit zur Selbstkorrektur? 27 Oft richten sich ihre Angriffe besonders gegen diejenigen, die etwas andere Wege zum selben Ziel gehen wollen. Dies kehrt in anderen (positiven) Aufbrüchen der Geschichte wieder: Die Französische Revolution proklamierte die Menschenrechte, aber entzog sie denjenigen, die sich ihr widersetzten, nach der Maxime: „Willst du nicht mein Bruder sein, so hau ich Dir den Schädel sein!“ Der Terror der Jakobiner war nicht nur eine Fehlentwicklung. Er zeigt die Gefahr, in der alle Erneuerungsbewegungen stehen  – und die umso größer wird, je mehr sie von der moralischen oder religiösen Qualität ihrer Ziele überzeugt sind. Auch die unerträglichen Verteufelungen bei Luther lassen sich teilweise so erklären, nicht aber entschuldigen.

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In seinen Mahnungen zum Streit zwischen Starken und Schwachen zeigt Paulus uns den Schlüssel für seine friedliche Haltung: Christen sollen einander nicht richten (μηκέτι […] ἀλλήλους κρίνωμεν/mēkéti […] allē´lous krínōmen) (14,13). Im Gegenteil: Sie sollen sich selbst richten, aber glücklich preisen, wenn sie sich nicht verurteilen müssen. „Selig ist, der sich nicht selbst richten muss (ὁ μὴ κρίνων ἑαυτόν/ho mē´ krínōn heautón), wenn er sich prüft“ (14,22). Paulus schließt daran einen Schlüsselsatz zum Verständnis des Römerbriefs: „Wer aber zweifelt und dennoch isst, der ist gerichtet, denn es kommt nicht aus dem Glauben. Was aber nicht aus Glauben kommt, das ist Sünde“ (14,23). Paulus hat erkannt: Wer mit sich in Frieden lebt und sich nicht verurteilen muss, kann auch leichter mit anderen in Frieden leben. Er ist durch seinen Glauben davor geschützt, die anderen verurteilen zu müssen, anstatt sie zu akzeptieren. Anders gesagt: Wer den individuellen Normkonflikt mit sich selbst überwunden hat, kann auch den sozialen Konflikt mit anderen leichter lösen. Er kann ihr abweichendes Verhalten tolerieren, ohne sich in seiner Identität bedroht zu fühlen. Dieser Schlüsselsatz: „Was nicht aus Glauben kommt, das ist Sünde“ (14,23), ist die (vor-)letzte Aussage zum Glauben im Römerbrief. Nur im abschließenden Segenswunsch begegnet noch einmal das Stichwort Glaube: „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes“ (15,13). Der Glaube erscheint auch hier in Verbindung mit „Frieden“. Der Glaube ist das große Thema des Römerbriefs (1,16 f). Daher liegt auf diesen letzten inhaltsschweren Aussagen ein besonderer Akzent. Wie auch immer die (aus der Textüberlieferung erschlossene) Textversion entstanden ist, die mit 14,23 den Römerbrief abbrechen lässt, sie lässt ihn an einer gewichtigen Stelle abbrechen, die sagt: Der Glaube ist entscheidend.28 Ist „Glaube“ hier nur ein formaler Begriff? Bedeutet er nur „mit seinen Überzeugungen in Übereinstimmung“ zu leben, was man auch mit einem „guten Gewissen“ bezeichnen könnte? In Röm 14,1.22 f ersetzt der „Glaube“ zweifellos als positiver Begriff, was Paulus in der Auseinandersetzung mit den Schwachen und Starken in Korinth durch einen negativen Gegenbegriff als schwaches „Gewissen“ bezeichnet hat. Dieser „Glaube“ schützt vor Selbstverurteilung und ist das Gegenteil des skrupulösen „Gewissens“. Paulus wählt bewusst den Begriff „Glauben“ anstelle von „Gewissen“. In einem Brief, dessen Thema der „Glaube“ ist, wird er kaum das ausblenden, was er vorher über diesen Glauben gesagt hat. Dieser Glaube ist sonst immer auf Christus bezogen. Deswegen kann Paulus auch gleich nach dieser Schlüsselaussage zum Glauben (in 14,23) auf das Beispiel

28 Eine Fassung, die mit 14,23 endet, wird daraus erschlossen, dass viele Handschriften die sekundäre Doxologie 16,25–27 zwischen 14,23 und 15,1–33 bringen (Wolter, EKK 6/1, 18 f).

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Christi verweisen (15,1–6). Es ist also auch in 14,23 der Glaube an Christus, der die Freiheit zum Essen oder Nichtessen gibt.29 Hier ist nun noch einmal daran zu erinnern, dass den ganzen Römerbrief ein „psychomythischer Parallelismus“ durchzieht. Aussagen über Gott und Christus haben Parallelen in Aussagen über das Verhalten und Erleben des Menschen – sowohl über Vorgänge im Innern des Menschen als auch über ihr Verhalten in der Welt.

8.3.1 Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Forum Gottes und dem Gewissen Der Schlüsselsatz zum Glauben in 14,23 ist ein gutes Beispiel für einen psychomythischen Parallelismus. In 14,1–12 hatte Paulus vor dem Verurteilen anderer gewarnt. Im Bild sagt er: Alle stehen vor ihrem Herrn und dürfen deshalb den anderen nicht verurteilen, weil er einen anderen Herrn hat (14,4). In der Sache sagt er gleichzeitig: Alle stehen jeder für sich vor Gottes Richterstuhl und müssen ihm Rechenschaft ablegen (14,10–12). Dieses „Verantwortungsgericht“ im Himmel (also in einer mythischen Welt) hat eine Parallele im „Gericht“ des Menschen über sich selbst auf Erden. Das wird am Anfang und Ende von Röm 14 deutlich. Am Anfang finden wir eine Parallelität zwischen der Aussage, dass jeder „seinem eigenen Herrn“ (τῷ ἰδίῳ κυρίῳ/tōi idíōi kyríōi) steht oder fällt (14,4) und jeder von seinem „eigenen Verstand“ (τῷ ἰδίῳ νοΐ/tōi idíōi noí) überzeugt sein soll (14,5). Die Bindung an verschiedene Herren, denen die Christen Rechenschaft ablegen müssen, bezieht sich auf die innere Realität verschiedener Überzeugungen. Andererseits stehen alle Christen vor Gott als demselben Richter in ­14,10–12. Dessen Gericht hat in 14,22 f eine Parallele, insofern der Mensch schon hier und jetzt in seiner psychischen Innenwelt dieses Gericht vollzieht: Er beurteilt und verurteilt sich selbst. Aber er kommt zu einem positiven Urteilsspruch. Wie verschieden ist dieses innere „Gericht“ in 14,22 f von dem inneren Forum des Gewissens am Anfang des Römerbriefs in 2,12–16! Dort ging es um eine Anklage gegen den Menschen. Zwischen anklagenden und verteidigenden Gedanken war das Gewissen dort „Zeuge“ der Anklage. Vom „Glauben“ war nicht die Rede. In 14,22 f tritt dagegen der Begriff „Glaube“ an die Stelle des „Gewissens“. Dieser Glaube gibt dem Menschen ein gutes Gewissen in der Selbstbeurteilung: Alles was aus Glauben geschieht, kann nicht Sünde sein. So wie das interne Gewissensforum in 2,12–15 eine psychomythische Parallele im Himmel in 2,5–11 hat, so hat auch die interne Selbstbeurteilung (in 14,22 f) eine Parallele im „Verantwortungsgericht“ im Himmel (in 14,10–12). Während aber das Gericht in ­2,5–11 einen doppelten Ausgang hat und zu ewigem Leben oder Tod führt, schweigt das Gericht in 14,10–12 von 29 Cranfield, ICC 2, 728 f.

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solch einem doppelten Ausgang. Die Christen sind nicht mehr durch Verurteilung bedroht. Wenn dieser Parallelismus zwischen mythischer Realität und innerer Lebensrealität einmal erkannt ist, dürfen wir auch bei anderen Aussagen über Gott und Christus diesen psychomythischen Parallelismus hinzudenken, auch wenn er nur durch entfernter liegende Aussagen im Römerbrief belegbar ist.

8.3.2 Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Leben und Leiden Christi und der Christen Ein zweiter Parallelismus zwischen dem inneren Erleben der Christen und dem Geschick Christi begegnet unmittelbar nach dem Schlüsselsatz: „Was nicht aus Glauben kommt, das ist Sünde“ (14,23). Christus wird danach zunächst als Modell für Schmähungen, die eigentlich einen anderen treffen sollten, vor Augen geführt: „Denn auch Christus hatte nicht an sich selbst Gefallen, sondern wie geschrieben steht: ‚Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen“ (15,3 = Ps 69,10). Im zitierten Psalm ist das angeredete „DU“ Gott selbst. Der Betende muss die Aggressionen erleiden, die eigentlich Gott gelten. Im Kontext von 14,1–15,13 ist assoziativ aber das in 14,4.10.20 f.22 wiederholt angeredete „DU“ des christlichen Bruders mit angesprochen. In der römischen Gemeinde tragen einige Mitglieder um ihres Glaubens an Gott und Christus willen Verachtung und Schmähungen (14,15 f; vgl. 15,3). Sie sollen sich damit trösten, dass auch Christus die Verachtung trug, die den Christen in und außerhalb der Gemeinde entgegenschlägt. Christus ist Sündenbock und Prügelknabe, den Schmähungen treffen, die andere treffen sollten. Wir finden eine deutliche Parallele zwischen dem Leiden Christi und dem Leiden der Christen. Am Ende dieses Abschnitts begegnet Christus nicht mehr in der Rolle des geschmähten Außenseiters, sondern in der diametral entgegengesetzten Rolle des zukünftigen Herrschers. Paulus zitiert Jes 11,10LXX: „Und wiederum spricht Jesaja: ‚Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen‘“ (15,12). Der in der Gegenwart verachtete Christus, den sich die Christen zum Vorbild nehmen sollen, wenn sie verstoßen und verachtet sind, wird in der Zukunft Juden und Heiden zusammenführen und damit die Spannungen beseitigen, die heute dazu führen, dass Christen verstoßen und verachtet sind. Hier fehlt zwar im unmittelbaren Kontext eine parallele Aussage darüber, dass auch Christen an der Hoheit Christi teilnehmen werden. Wir finden keinen direkten „psychomythischen Parallelismus“ im Kontext. Aber wir finden diese Aussage vorher im Römerbrief: Christen werden einst „herrschen im Leben durch den Einen, Jesus Christus“ (5,17). Sie werden als Kinder und Erben Gottes „mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden“ (8,17). Die Hoffnung auf eine zukünftige Universalität der Gottesverehrung lässt daran festhalten, dass alle

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Menschen, auch wenn sie jetzt die Christen schmähen, einmal im Gottesdienst zusammenfinden werden. Christus vereint in sich so die Rolle des Außenseiters und des universalen Versöhners. Der Sündenbock wird zum Weltenherrn. Parallel dazu aber werden die Christen mit ihm auf Erden leiden, aber auch mit ihm einmal herrschen. In beeindruckenden christologischen Bildern wird hier der soziale Konflikt zwischen einer kleinen jüdisch geprägten Außenseitergruppe und der Öffnung für alle Heiden durch den Glauben an Christus bewältigt.

8.3.3 Der psychomythische Parallelismus zwischen der Funktion Christi im Gericht und der Gewissheit des Menschen Ein dritter psychomythischer Parallelismus zielt auf die Überwindung des individuellen Konflikts zwischen Norm und Verhalten in jedem Menschen. Wir haben gesehen: In 14,10–12 ist es letztlich Gott, der den Menschen verurteilt und freispricht. Aber nach 14,22 f übernimmt in einem psychomythischen Parallelismus der Mensch im Glauben diese Richterrolle. Dieses Beispiel macht mehr Sinn, wenn der „Glaube “ in 14,23 Glaube an Christus ist. Dieser Glaube identifiziert sich mit Christus und allem, was Christus tut und erleidet. Über Christus ergeht der Zorn Gottes als Verurteilung der Sünde (3,25; 4,25; 5,6–11). Ebenso verurteilt der Mensch auch in sich die Taten des alten Menschen (8,13). Er ergießt seinen Zorn über seine eigene Sünde. Er identifiziert sich mit dem verurteilten Christus und stirbt mit ihm (6,1–11).30 Aber Christus wird auferweckt und in den Himmel erhöht. Dort sitzt er zur Rechten Gottes und tritt als Fürsprecher für die Menschen ein (8,34). Auch das dürfen wir psychomythisch deuten. Denn nach Paulus tritt parallel dazu im Menschen der Geist als Fürsprecher für ihn ein (8,26). Paulusschüler haben später diesen Gedanken noch konsequenter weitergeführt: Christen sind mit Christus gestorben und auch auferweckt (Kol 2,12), ja, sie sind sogar „mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus“ (Eph 2,6). Damit lässt der neue Mensch in sich alles, was er am alten Menschen verurteilt hat, hinter sich und identifiziert sich mit dem urteilenden Christus, der auf der Richterbank zur Rechten Gottes Platz genommen hat. Der Glaube, der sich mit Christus identifiziert, verurteilt daher einerseits den Sünder in sich, gewinnt aber andererseits durch diese Identifikation die Gewissheit, dass er freigesprochen ist. 30 Eine beeindruckende Deutung solch einer Parallelität von Christusereignis und innerem Geschehen stammt von J. G. Hammann, wenn er von der „Höllenfahrt der Selbsterkenntnis“ spricht. Hamann, Einfälle, 164. Immanuel Kant hat diese Wendung Hamanns in seiner Metaphysik der Sitten aufgenommen: „Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnt den Weg zur Vergötterung“ (Kant, Tugendlehre, § 14, Akademie Ausgabe VI, S. 441).

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Keineswegs ist damit gesagt, dass all das nur ein innerer Vorgang ist. Bei Paulus sind es objektive Vorgänge außerhalb des Menschen. Die Wende zur Erlösung hat in Gott ihren Ursprung; aber sie hat im Innern des Menschen eine „psychomythische Parallele“. Immanuel Kant hat das in genialer Weise gedeutet: Die Stellvertretung des Menschen durch Christus ist für Kant ein innerer Prozess: Der alte Mensch hat die Strafe verdient, die der neue wiedergeborene Mensch stellvertretend für ihn trägt.31 Kant verlegt diesen Prozess nicht nur ins Innere des Menschen: Der alte Mensch wird vielmehr durch Gott verurteilt, der neue Mensch wird durch Gottes Urteil freigesprochen. Solche Deutungen haben durchaus Anhalt in den Texten des Paulus: Wenn der Verurteilte zum Richter wird, der freispricht, und der Mensch sich im Glauben mit ihm identifizieren darf, dann erlebt er in sich die starke Spannung zwischen dem, was er in sich verurteilen muss, und dem Recht, davon freigesprochen zu werden und sich selbst freisprechen zu dürfen, um ein neues Leben zu beginnen.

8.3.4 Der psychomythische Parallelismus zwischen der Sühne als Überwindung des sozialen und des individuellen Konflikts Ein vierter psychomythischer Parallelismus durchzieht den Römerbrief seit der entscheidenden Wende zum Heil in 3,21–26. Er verbindet die individuelle und die soziale Dimension der Veränderung: die Veränderung in jedem Menschen und die Öffnung für alle Menschen. Paulus stellt in 3,21–26 den Tod Christi als Sühne dar, als einen neuen Versöhnungstag, der nicht nur für Israel, sondern für alle Glaubenden Sühne schafft. Sein Tod schafft „Zugang“ zu Gott (5,2) und ermöglicht, Gott in neuer Weise zu verehren. Paulus benutzt danach parallel zu diesem kultischen Geschehen zweimal Bilder, um mit ihnen Veränderungen im menschlichen Leben darzustellen: Die Verwandlung des ganzen Menschen im Alltag ist der neue unblutige Gottesdienst der Christen. Sie bringen sich Gott selbst als lebendige Opfer dar, indem sie das Gute tun (12,1–2). Jetzt geht es nicht mehr darum, anderes Leben für sich zu opfern, sondern das eigene Leben für andere zu opfern, d. h. in ihren Dienst zu stellen. Ebenso wird die Vereinigung aller Menschen in einem universalen Gottesdienst durch ein kultisches Bild dargestellt, das dem kosmischen Versöhnungstag entspricht: Paulus bringt in einem priesterlichen Dienst die Heiden als Opfergabe zum Tempel (15,15–16). Dabei ist ihm bewusst, dass erst mit dem Erscheinen Christi im Tempel die Fülle der Heiden Zugang zu diesem gewinnt. Paulus schreibt Gott selbst die Initiative dazu zu: Gott setzt Christus zum Sohn Gottes durch Auferweckung von den Toten ein (1,4). Gott stellt Christus als „Sühnopfer“ dar (3,25). Gott erweist seine Liebe, als Menschen noch Sünder wa 31 Kant, Religion, 76–84 (= II 94–105).

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ren (5,6–11). Gott erwählt Menschen, bevor sie etwas tun oder lassen konnten (9,6–33). Diese Theozentrik wird ausgeglichen durch die Übertragung der Rollen Christi auf die Christen. Gott adoptiert nicht nur Jesus zum Sohn Gottes, sondern er adoptiert alle Christen (8,14–17). Gott handelt nicht nur als Priester durch Dahingabe seines Sohnes, sondern alle Christen sind Priester im vernünftigen Gottesdienst (12,1–2), unter ihnen auch Paulus, wenn er Heiden nach Jerusalem als „Opfer“ bringt (15,14–16). Selbst die Richterrolle wird auf die Menschen über­ tragen (14,22 f). Entscheidend dafür ist die Veränderung, die durch Christus geschehen ist. Gottes Handeln hat einen neuen Gottesdienst des Menschen ermöglicht. Er hat Christus zur Sühne für die Sünden der Menschen bestimmt. Aber gerade diese Vorstellung der Sühne ist heute umstritten. An dieser Stelle muss auch eine historisch ausgerichtete Deutung des Römerbriefs zu hermeneutischen Überlegungen greifen, um die Wende zum Heil durch den Sühnetod Jesu heute verständlich zu machen. Deswegen folgt ein Exkurs über eine mögliche Deutung des stellvertretenden Sühnetodes, der ihn historisch-psychologisch im Kontext der damaligen Zeit und im Rahmen des Römerbriefs deutet und zu­ zeigen versucht, dass das Bild vom Sterben Christi für die Menschen noch heute eine existenzerschließende Kraft im Kontext unserer Zeit haben kann.

Exkurs 13: Eine psychologische Deutung des Sühnetods im Rahmen des Römerbriefs32 Im Folgenden skizzieren wir zunächst einen Versuch, die Vorstellung vom Sühnetod Jesu psychologisch verständlich zu machen – mit Hilfe von drei Modellen: der Expositionsbehandlung in der Psychotherapie, des Sündenbocks in der Sozialpsychologie und des „Welleneffekts“ in der pädagogischen Psychologie. Expositionstherapie setzt auf die therapeutische Wirkung einer bewusst herbeigeführten Angstsituation. Phobische Angst ist eine Überreaktion auf eine angstbesetzte Situation. Sie klingt ab, wenn man sich der angstauslösenden Situation aussetzt (d. h. sich ihr „exponiert“) und sie trotz subjektiv erlebter Todesangst überlebt. Die Angst kann real (in vivo) oder in der Phantasie (in mente) stimuliert werden. Man kann andere Menschen als positive Modelle beobachten, wie sie sich der angstauslösenden Situation nähern. Am Ende aber muss man selbst an die Stelle des stellvertretenden Modells treten. Das Modell muss daher so beschaffen sein, dass man sich mit ihm identifizieren kann. Das fällt leichter, wenn es die Situation trotz Schwierigkeiten bewältigt, als wenn es sie problemlos meistert.33 Für Paulus ist vom Standpunkt des Evangeliums aus die Angst vor dem Gericht Gottes überholt. Sie ist für Glaubende eine „phobische Reaktion“. Jesus ist das stellvertretende Modell, das sich der angstauslösenden Situation aussetzt und von 32 Das Folgende nach Theissen, Erleben und Verhalten, 317–330. 33 Das Modell der Expositionstherapie könnte missverständlich sein, weil hier religiöses Erleben und Verhalten mit neurotischem Erleben und Verhalten in Analogie gesetzt wird. Deshalb sei betont: Nicht das neurotische Verhalten, sondern dessen Therapie bildet die Analogie zur Erlösung, wie sie im Römerbrief dargestellt wird.

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ihr vernichtet wird, sie aber überlebt, indem er von den Toten aufersteht. Seine Auferstehung ist exklusiv Handeln Gottes. Wenn die Auferstehung das Überleben der tötenden Aggression Gottes demonstriert, so ist es Gott selbst, der die Angst des Menschen überwindet und seine „Aggression“ (oder seinen Zorn) in positive Zuwendung verwandelt. Das Modell des Sündenbockmechanismus setzt auf die kathartische Wirkung der Aggression gegen einen Stellvertreter. Der Sündenbock ist ein abgelehntes, negatives Modell. Abgelehnte Modelle kennen wir als Prügelknaben, die Aggressionen erleiden, die eigentlich anderen gelten, die nicht angegriffen werden können, weil sie zu mächtig sind. „Prügelknaben“ werden Sündenböcke, wenn sie dazu auch noch beschuldigt werden, für das Unglück in der Gemeinschaft schuld zu sein. Der Sündenbock befreit die Gemeinschaft von Schuldgefühlen. Auch Jesus spielt die Rolle eines Sündenbocks. Die psychologischen Erklärungen des Sündenbockmechanismus divergieren freilich in der psychoanalytischen Theorie, in der Frustrations-Aggressionstheorie und in der Theorie sozialen Lernens. (a) Nach der psychoanalytischen Theorie des Todestriebes34 kämpfen im Menschen Lebenstrieb und Todestrieb, Eros und Thanatos miteinander und suchen nach Entladung. Wird der Todestrieb nach außen gelenkt, trifft er Prügelknaben und Sündenböcke. Wird er nach innen gewandt, verwandelt er sich in Schuldgefühl. Seine Entladung nach außen ist „Katharsis“ als Befreiung von aggressiver Energie. Sigmund Freud hat dieses Modell auf die Religion angewandt: Die Urhorde habe ihre Aggression gegen den Vater auf ein Totemtier umgelenkt, das tabuisiert worden sei, aber aufgrund von Wiederholungszwang immer wieder neu rituell getötet und gegessen wird. Im Urchristentum sei Gottes Sohn an der Stelle Gottes getötet worden und werde in der Eucharistie immer wieder neu gegessen. – Auch bei Paulus gehört Aggressivität zum Menschen. Die Sarx ist Feindschaft gegen Gott, die auf Christus umgelenkt wird. In 15,3 ist Christus ein Prügelknabe, der mit Ps 68,10LXX klagt: „Die Schmähungen derer, die dich (= Gott) schmähen, sind auf mich gefallen“. Die Aggression gegen den unangreifbaren Gott hat ersatzweise seinen wehrlosen Sohn getroffen! Aber ist solch eine „Aggressionsabfuhr“ schon in sich eine Katharsis, eine Befreiung von Aggression? Wird Aggression so nicht erst recht stimuliert? (b) Nach der Frustrations-Aggressionstheorie von John S. Dollard und Neal E. Miller wird Aggression nicht durch einen Trieb im Innern des Menschen, sondern durch von außen bewirkte Frustration hervorgerufen.35 Die Aggression richtet sich gegen die Quelle der Frustration, beim Kleinkind beispielsweise gegen den Vater, wird aber wegen drohender Bestrafung durch den Vater z. B. an einem jüngeren Geschwisterkind ausgelassen. Die Sozialpsychologie erklärt mit diesem Modell soziale Vorurteile: Frustration entlädt sich aggressiv an Menschen, die sich in einer schwachen Position befinden. Menschen mit abweichendem Verhalten und Aussehen sind daher die klassischen Sündenböcke. – Man kann den gekreuzigten Christus als Sündenbock betrachten und deutet ihn so mit Hilfe eines biblischen Bildes (Lev 16,20–28). Welche Frustration aber steckt hinter der Aggression gegen 34 Zu S. Freuds Religionspsychologie vgl. Heine, Religionspsychologie, 145–183. 35 Vgl. Zimbardo, Psychologie, 429 f.

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ihn? Bei Paulus ist es die Frustration durch das Gesetz, das niemand erfüllen kann (1,18–3,20). Hat sich sein verschärftes Sündenbewusstsein in Bildern vom „Sündenbock“ Jesus niedergeschlagen? Das ist möglich. Die Frustrations-Aggressions-­ Theorie hat jedoch eine Schwäche: Menschen reagieren auf Frustration nicht notwendig mit Aggression, sie können sich auch evasiv zurückziehen oder ihre Anstrengung steigern, um das Problem zu bewältigen. Man muss also erklären, warum sie aggressive Reaktionen wählen. (c) Das erklärt die soziale Lerntheorie der Aggression von Albert Bandura durch Modelle und Umwelterwartungen.36 Kinder ahmen Erwachsene nach, die sich erfolgreich aggressiv verhalten. Prügelknaben und Sündenbockphänomene deutet die Lerntheorie so, dass schwächere Menschen dazu geeignet sind, Opfer zu werden, weil Aggression gegen sie Erfolg verheißt. Erfolgreiche Aggression wird wiederum nachgeahmt. Daher hacken auch andere auf den Schwachen herum. Die Bilder des stigmatisierten Christus setzen dann ein soziales Umfeld von gesteigerter Aggression voraus. Paulus sagt selbst, dass er aus einem aggressiven Milieu kommt. Er war ein religiöser „Eiferer“, ein Anhänger des „Zelos-Ideals“, das zur Verfolgung und Aggression gegen eine religiös abweichende Minorität motivieren konnte. Wenn erfolgreich ausgelebte Aggression die Aggression anderer fördert, widerspricht das aber der Katharsis-Theorie: Nach ihr müsste ein Ausleben die Aggression redu­ zieren. Das aber ist meist nicht der Fall. Die Katharsis-Theorie gilt nur für sehr begrenzte Fälle. So kann es befreiend sein, sich im Gespräch mit anderen „abzureagieren“, wenn man dadurch vermeidet, seine Frustration ausleben zu müssen. Wahrscheinlich muss man verschiedene Ansätze kombinieren, um das im Römerbrief dargestellte Erlösungsgeschehen psychologisch zu deuten. Dabei ist wichtig, zwischen der Aggression in Imaginationen und in Handlungen zu unterscheiden. Imaginierte Aggression begegnet uns heute in Literatur und Film sehr oft. Sie kann reale Aggression reduzieren, wenn die aggressiven Bilder in einem sozialen Lernmilieu lebendig werden, das nicht-aggressive Handlungen verstärkt. Auch dürfen aggressive Imaginationen Aggressivität nicht anstacheln, sondern müssen in der Phantasie Distanz zu ihr ermöglichen. Imaginierte Aggressionsbilder vermehren nicht automatisch reale Aggressionen. Gilt das auch für die aggressionsbesetzten Opferbilder des Paulus? Nach Paulus leben Menschen ihre Feindschaft gegen Gott durch Aggression gegen Jesus aus. Die Bilder des Paulus sind voll von Aggressivität. Wenn „moderne“ Exegese das leugnet, indem sie den Zorn Gottes in 1,18–3,20 sowie die Aggressivität in der Tötung des eigenen Sohnes durch Gott minimiert, leistet sie u. E. keinen Beitrag zur Reduktion von Aggression in der Realität. Die in diesen Bildern imaginierte Aggression könnte kathartische Effekte haben.37 Aber das ist nicht automatisch der Fall. Wenn Gott seinen Sohn töten lässt, ist Gott dann nicht auch ein erfolgreiches Modell aggressiven Verhaltens? Fordert das nicht zur Nachahmung auf? Wenn man die Modellwirkung Gottes ernst nimmt, muss man aber diesen Gedanken konsequent durchführen: Gott ist nämlich bei Paulus gerade dadurch ein Modell, dass er sein aggressives Verhalten revidiert und korrigiert. Er ist voll Zorn, aber verwandelt Zorn in Liebe! Er setzt seinen Sohn dem Tod aus, aber errettet ihn aus dem Tod. Dadurch kann er ein positives Modell für Aggressionsüber 36 Ebd., 430 f. 37 Vgl. die Erneuerung der Katharsistheorie durch Scheff, Explosion.

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windung werden – sogar für den Extremfall der tötenden Aggression. Daher ist zu fragen: Gibt es Beispiele dafür, dass solch eine Aggression eines Überlegenen gegen eine stellvertretende Gestalt konstruktiv sein kann? Unser Beispiel ist trivial, aber alltagsnah: Das Modell des „Welleneffekts“ setzt auf die konstruktive Wirkung stellvertretend erlebter negativer Sanktion. Jeder Lehrer weiß, es ist sinnlos, eine Klasse kollektiv zu beschimpfen, um sie zur Ruhe zu bringen. Effektiver ist es, sich einen Störenfried herauszugreifen und ihn „anzudonnern“. Davon geht ein Welleneffekt aus.38 Die anderen, die der „Blitzschlag“ des Lehrers nicht getroffen hat, fühlen sich mitbetroffen, so dass sie ruhig werden, und sind froh, dass das „Donnerwetter“ an ihnen vorüber ging. Der stellvertretend zurechtgewiesene Schüler übt ein Stück „exklusiver“ Stellvertretung: Ihn trifft, was die anderen nicht trifft. Zugleich übt er „inklusive“ Stellvertretung: Alle sind in ihm mitgemeint. Für unser Problem heißt das: Kann man sich Gott wie einen Lehrer vorstellen, der die Unordnung der Menschheit durch ein „Donnerwetter“ gegen einen Einzelnen überwindet? Das träfe den einen exklusiv, alle anderen inklusiv: Alle stehen an seiner Stelle. Paulus ist auf jeden Fall überzeugt, dass ein „Donnerwetter“ fällig ist. Der Zorn Gottes hat sich wie eine Gewitterwand über der Menschheit zusammengebraut. Das macht Angst. Aber im Römerbrief verwandelt der Mensch, der sich im Glauben mit Christus identifiziert, diese Gerichtsangst in Heilsgewissheit. Der Römerbrief redet nicht nur über Befreiung, sondern setzt befreiende Kräfte frei, wenn man sich der Folge seiner Bilder und Gedanken überlässt. Er führt in sechs Stufen von Gerichtsangst zur Heilsgewissheit. Diese Stufen lassen sich psychologisch beschreiben und deuten. Der Brief beginnt erstens mit einer Steigerung der Gerichtsangst: Paulus beschwört in 1,18–3,20 in mente das Gericht Gottes über menschliches Fehlverhalten. Er kann es natürlich nicht in vivo tun, dann müsste er das Jüngste Gericht herbeiführen. Angst vor einer letzten Verlorenheit kann aber nur bearbeitet werden, wenn sie lebendig ist.­ Paulus lässt sie lebendig werden. Er stimuliert bewusst existenzielle Angst. Hinzu kommt zweitens eine exklusive Stellvertretung im Tod Jesu: Paulus zeigt in ­3,21–5,21, wie der angstauslösende Zorn Gottes stellvertretend eine Gestalt trifft, auch wenn er nicht direkt sagt, dass der Zorn Gottes den Gekreuzigten traf. Der Eine stirbt stellvertretend anstelle der Vielen, um Gottes Zorn zum Stillstand zu bringen. Die Auferweckung Jesu verwandelt drittens die exklusive in eine inklusive Stellvertretung: Die Leser und Hörer des Römerbriefs erhalten durch das Beispiel Jesu die Gewissheit, dass sie den Zorn Gottes „überleben“ können: Sie haben erlebt, wie aus einer dunklen Gewitterwand ein vernichtender Blitz einen einzigen Menschen getroffen hat. Alle anderen haben überlebt. Jesus ist dabei zunächst ein stellvertretendes Modell im exklusiven Sinn: Was ihm widerfährt, soll den anderen nicht widerfahren. Aber Jesus bleibt nicht im Tod. Paulus demonstriert an einem stellvertretenden Modell in mente, d. h. in der religiösen Imagination, dass der vom Zorn Gottes Getroffene dessen Zorn überleben 38 Hofer, u. a., Pädagogische Psychologie, 184: „Welleneffekt: bezeichnet nach Kounin die wellenartige Auswirkung eines Tadels, der nur einem einzelnen gegolten hat, auf die ganze Gruppe, der der Getadelte angehört“; Kounin, Discipline.

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kann. Nicht der Tod, sondern die Auferweckung ist die entscheidende Wende vom Unheil zum Heil. Paulus integriert in Röm 4,1–25 die Auferstehung in das Heilsgeschehen. Viertens wird der Zorn Gottes durch seine Liebe ersetzt: Bei diesem Schritt gibt es einen Unterschied zu einer Expositionstherapie: Der Gestorbene überlebt in der urchristlichen Bilderwelt streng genommen nicht die Gefahrensituation, im Gegenteil: Er stirbt. Zunächst erweist sich die Angst vor dem vernichtenden Zorn Gottes daher als Realangst, d. h. als objektiv berechtigte Angst. Aber nachträglich zeigt sich: Der durch Zorn tötende Gott vernichtet nicht den Menschen, sondern vernichtet den Tod. An die Stelle des tötenden Zorns tritt ein schöpferisches Handeln Gottes, der nicht Tod, sondern Leben will. Wenn die tötende Macht Zorn gewesen ist, so ist die Leben schenkende Kraft „Liebe“. Im Rückblick erweist sich die Angst vor dem vernichtenden Zorn Gottes als unbegründete phobische Angst. Hinzu kommt fünftens die Identifikation des Menschen mit Christus: Was am stellvertretenden Modell gelernt wird, muss angeeignet werden.39 Man muss an die Stelle des Modells treten, damit die Angst dauerhaft überwunden wird. Auch im Römerbrief erleidet Christus den Tod zunächst exklusiv, damit alle anderen davon verschont bleiben. Dann aber widerfahren ihm Tod und Auferweckung inklusiv, so dass alle anderen mit ihm sterben und in ein neues Leben treten. Diese Identifikation mit Christus, dem Gestorbenen und Auferstandenen als Modell geschieht in 6,1–11. Hier erfährt der Christ in der Taufe symbolisch Tod und Auferstehung. Der sechste Schritt ist die Distanzierung des Menschen von aggressiven Impulsen: Die Taufe re-inszeniert die Aggression des Menschen und Gottes, aber distanziert zugleich von ihr, indem Gott seine Aggression durch Auferweckung seines Sohnes und der Mensch seine Aggressivität mit seinem alten Leben hinter sich lässt: Er wird von seinem aggressiven alten Leben voll Feindschaft durch den symbolischen Tod in der Taufe getrennt. Obwohl wir bei dieser Auslegung Modelle aus der gegenwärtigen Psychologie herangezogen haben, haben diese Überlegungen zunächst nur ein Ziel: Verständlich zu machen, warum die Botschaft des Römerbriefs in seiner Entstehungszeit und in der langen Wirkungsgeschichte befreiend gewirkt hat – gerade unter Einschluss des heilvollen Todes Christi. Wie wir heute mit dieser Vorstellung umgehen, ist ein anderes Problem. Ihm wenden wir uns nun zu. Heute stößt die Vorstellung, es könne Erlösung von Sünde durch den gewaltsamen Tod eines Menschen geben, auf Widerstand. Paulus hätte dafür Verständnis gehabt. Er hat selbst das Kreuz ein Ärgernis für Juden und eine Torheit für Griechen genannt, eine Beleidigung von Weisheit, Bildung und Geschmack (1Kor 1,23). Jedoch hörte er darin folgende Botschaft: Gott identifiziert sich mit dem, was Menschen verachten und verwerfen, und zeigt damit allen, die in der Welt verworfen werden, dass er auf ihrer Seite steht. 39 Vgl. die Unterscheidung von Imitation und Identifikation bei Lampe, Identification: Identifikation übernimmt auch die innere Motivation und setzt eine „libidinöse“ Bindung an die Person voraus. Durch Wort- und Ritus-Akte wird dabei performativ eine neue Realität geschaffen: eine Restrukturierung des Selbst.

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Spottkruzifix vom Palatin (ca. 250 n. Chr.). Auch die literarisch Gebildeten schüttelten damals den Kopf über diese Botschaft. Der Philosoph Celsus hielt (ca. 180 n. Chr.) den Glauben an Jesus für eine Zumutung, weil Jesus „auf ehrlose Weise gefangen und in allerschändlichster Form hingerichtet wurde“ (Orig. c.Cels. 6,10). Doch auch einfache Menschen verspotteten den Gekreuzigten. Um 200 hat in Rom jemand aus der Unterschicht einen Christen durch ein Graffitto verspottet, in dem er zeigt, wie er einen Gekreuzigten mit Eselskopf anbetet. Darunter steht als Inschrift: „Alexamenos betet Gott an“.40 Der Tod Jesu war also schon in der Antike ein Ärgernis. Aber damit sind unsere hermeneutischen Probleme nicht gelöst. Denn die Christen gaben dem Tod Christi einen positiven Sinn als Sühnetod. Paulus kannte beide Deutungen des Todes Jesu – als Sühne und als Ärgernis. Wo er vom Tod Jesu als Ärgernis und Skandalon spricht, tritt der Sühnegedanke zurück (1Kor 1,18–31). Wo er vom Sühnetod spricht, fehlt das Stichwort „Ärgernis“. Das ist kein Zufall: Dass 40 Abbildung in Küchler, Jerusalem, 424 Abb. 226; Keel/Küchler/Uehlinger, Orte, 126 Abb. 59.

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man den Göttern zur Sühne (d. h. zur Besänftigung ihres Zorns) Opfer brachte, war in der Antike eine vertraute Vorstellung. Die Vorstellung von der Sühne war kulturkonform. Sie ärgerte damals niemanden. Durch Sühnopfer wurde das Verhältnis zu den Göttern „entstört“, bereinigt, wieder hergestellt. Dass Gott selbst diese Beziehung stört, indem er ein Ärgernis schafft, das Ärgernis der Sühne durch den Kreuzestod, der allen Maßstäben der Welt widerspricht, das war damals eine Provokation. Diese Deutung widersprach der damaligen Kultur.41 Heute ist es umgekehrt: Dass das Kreuz ein Ärgernis ist, entspricht unserer Kultur. Unsere Kultur lebt von Provokationen. Wenn eine religiöse Botschaft durch Provokation vermittelt wird, widerspricht das nicht unseren kulturellen Werten. Die Vorstellung einer Sühne durch das Sterben eines anderen Menschen ist dagegen für viele anstößig. Die Kritik daran ist alt. Fausto Sozzini veröffentlichte 1578 ein Buch De Jesu Christe salvatore, in dem er die These vertrat, dass Gott so frei sei, jedem Menschen zu vergeben, wenn er wolle – er sei dazu nicht auf ein stellvertretendes Opfer angewiesen. Ferner müsse jeder Mensch für sich Gottes Willen erfüllen und für sich die Strafe für seinen Ungehorsam erleiden. Liberale Christen folgten den Sozzinianern in ihrer Kritik. Heute greifen vor allem feministische Theologinnen diese Kritik auf. Immer wieder finden wir dabei die beiden Argumente der Sozzinianer. Erstens: Der Sühnetod widerspreche unserem Gottesbild. Gott sei frei zur Güte, ohne dass ein anderer sterben müsse. Zweitens: Der Sühnetod widerspreche unserem Menschenbild. Schuld und Strafe müsse jeder für sich tragen. In unseren Zeiten aber kam noch ein neues Argument hinzu, das die Problematik verschärft hat. Wir bezweifeln grundsätzlich, dass durch einen gewalttätigen Tod etwas Positives erreicht werden kann. Unsere Einstellung zur Todesstrafe hat sich in Europa in den letzten 100 Jahren radikal verändert – und verändert sich noch immer. Das erste Land, das zeitweise die Todesstrafe aufhob und in dem insofern ein Funke von Humanität seinen Ursprung hat, war Russland. Zarin Elisabeth wollte nicht, dass unter ihrer Regierung (1741–61) jemand hingerichtet würde. Man registrierte damals erstaunt, dass die Kriminalität nicht anstieg. Seitdem wurde die Gewalt immer mehr aus unserem Leben zurückgedrängt und geächtet, auch wenn wir sie in der Realität noch lange nicht überwunden haben. Manche meinen, in einer Kultur mit wachsender Gewaltablehnung sei das Kreuz ein Anachronismus und könne nicht als Symbol des Heils dienen. Aber gerade deshalb, weil wir Gewalt zunehmend ablehnen, wird ihre Fortdauer in allen Lebensbereichen ein umso größeres Problem. Sie fällt wie ein Schatten auf unser Leben. Dieser Schatten wird im Kreuz dargestellt: Wenn wir das Kreuz in Übereinstimmung mit unseren Werten interpretieren wollen, müssen wir es so interpretieren, dass es nicht Grundlage des Heils, sondern Offenbarung des Unheils ist – also für das steht, was wir überwinden wollen. Damit kommen wir zu einer möglichen Sinndeutung des Kreuzes für uns. Diese angeblich überholte religiöse Vorstellung kann uns die Augen für das öffnen, was wir überwinden wollen, aber ungern bei uns wahrnehmen. Ist das aber nicht eine modernistische Deutung, die den paulinischen Briefen widerspricht? Deren unbefangene Lektüre zeigt u. E. aber, dass diese Deutung im Neuen Testament angelegt ist. Das Kreuz wird hier nur im Zusammenhang mit seiner Überwindung wichtig, also nur im Zusammenhang mit der Auferstehung. Das hat man bei 41 Theissen, Kreuz, 427–455.

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seiner Deutung vernachlässigt, vielleicht weil die Auferstehung für viele heute ein noch größeres Problem darstellt als das Kreuz. Sie ist im Neuen Testament zentral – gleichgültig ob man sie wörtlich oder symbolisch versteht. Sie ist in jedem Fall ein Protest gegen Gewalt und Tod. Jeder Bibelleser kann leicht sehen, dass das Kreuz erst zusammen mit der Auferstehung etwas Heilvolles darstellt.42 Das ist das Neue gegenüber dem alttestamentlichen Gedanken vom Sühnopfer. Das Sühnopfer wird getötet, sein Blut wird als Träger des Lebens mit dem Altar verbunden – aber es gibt keine Auferstehung des Tieres. Es bleibt tot. In der Verbindung des Blutes mit dem Altar könnte man vielleicht eine symbolische Andeutung einer Auferstehung erkennen: Das Leben wird an Gott als Herrn des Lebens zurückgegeben. Er kann es erneuern. Aber nichts weist daraufhin, dass Gott dem Opfertier tatsächlich erneut Leben gibt. Im Neuen Testament ist dagegen die Auferstehung Bedingung dafür, dass das Kreuz Heil bringt. Paulus zitiert in 1Kor 15,3 eine Glaubensformel, die er von anderen übernommen hat. Danach ist Christus für unsere Sünden nach den Schriften gestorben. Das klingt so, als beseitige der Tod die Sünden der Menschen. Etwas weiter sagt er dann aber: „Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden“ (1Kor 15,17). Für ihn ist ganz eindeutig: Erst durch die Überwindung des Kreuzes in der Auferstehung wird auch die Sünde überwunden. In 2Kor 5,15 spricht Paulus von der Versöhnung der Welt durch Gott selbst. Dort sagt er nicht nur, Christus starb für uns (d. h. für unsere Sünden), sondern er überträgt die Bedeutung seines Todes „für uns“ auch auf die Auferstehung: „Und er (Christus) ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist“. Christus ist für uns gestorben, aber auch für uns auferweckt worden. Wenn wir die zentrale Stelle im Römerbrief vom Sühnetod Jesu lesen (3,25), fällt freilich auf, dass dort nicht von der Auferstehung gesprochen wird. Aber Paulus sagt in diesem Abschnitt auch, dass diese Sühne eine Gerechtigkeit schafft, die von den Schriften bezeugt wird (3,21). Im 4. Kapitel lässt er den hier angekündigten Schriftbeweis folgen. Er beruft sich auf Abraham, der an die Verheißung glaubte: Er und Sara waren schon zu alt, um Kinder zu bekommen. Dennoch glaubte er daran, dass Gott auch aus Nichts Leben schaffen kann. Interessant ist, dass Paulus die Hoffnung auf das Leben des Kindes als Beispiel für den Glauben Abrahams zitiert – und nicht etwa seine Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern. In den meisten Aussagen über Abraham im damaligen Judentum und Christentum war diese Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn zu opfern, Test und Ausdruck seines Glaubens.43 Davon abweichend sagt Paulus: Der Glaube an das Leben machte Abraham gerecht, nicht seine Bereitschaft zum Töten. Am Ende dieses Kapitels verbindet Paulus in 4,25 beide Akte, Tod und Auferstehung, mit der Rechtfertigung des Menschen. Danach ist Christus „um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt“. Unser Fazit ist: Bei Paulus schafft nicht der Tod Jesu Vergebung der Sünden, sondern der überwundene Tod. Oder paradox formuliert: Nicht der Sühnetod überwindet die Sünde, sondern der überwundene Sühnetod. Gott schafft nicht Heil durch Töten, son 42 Vgl. zum Folgenden Theissen, Religion der ersten Christen, 195–222: „Die Opferdeutung des Todes Jesu und das Ende der Opfer“. 43 Vgl. Sir 44,19–21; SapSal 10,5; 4Makk 14,20; 15,28; 16,20; 18,11; Philo Abr. 167–177; LibAnt. 32,1–4; Jos. Ant. 1, 222–236. In christlichen Schriften: Hebr 11,17–19; Jak 2,21–24; 1Clem 10,7.

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dern durch Leben. Das stimmt mit unserer Ethik überein. Das Kreuz kann zum Symbol unserer Ablehnung von Gewalt werden – aber auch zur Erinnerung daran, dass sie allgegenwärtig droht. Damit haben wir einen Schlüssel zum Verstehen des Kreuzes gefunden. Es soll uns die Augen für Gewalt und Schuld öffnen. Es offenbart das Elend des Menschen, das überwunden werden soll. Die Vorstellung vom stellvertretenden Sterben eines anderen für uns stößt ja auch deshalb auf so scharfe Proteste, weil sie eine unangenehme Wahrheit über uns offenbart: Wir sind bereit, andere für uns sterben zu lassen; wir leben davon, dass andere für uns sterben. Wir profitieren in mannigfacher Weise vom Tod anderer Lebewesen: Schon unsere Existenz und Lebensfähigkeit verdanken wir dem Leiden anderer Kreaturen. Um das an einem allzu simplen Beispiel zu veranschaulichen: Unsere Augen sehen nur so gut, weil der Affe mit schlechten Augen den Ast verfehlte, auf den er ­springen wollte, und als potentieller Vorfahre ausschied. Alles was in unserem Körper gelungen ist, basiert auf Selektion. Was dysfunktional war, erhielt keine Vermehrungschancen. Davon profitieren wir schon mit unserer Geburt. Unsere Lebensfähigkeit basiert vom ersten Atemzug an auf dem Leiden anderer Kreaturen. Man könnte sogar unsere Geburt als Symbol und Teil dieser Realität verstehen: Jede Geburt ist mit Geburtswehen und Schmerzen verbunden. Sobald wir leben, werden wir in neuer Weise darin verstrickt, andere stellvertretend leiden und sterben zu lassen. Wir profitieren von der ungleichen Verteilung von Lebenschancen. Wenn wir in Europa heute eine durchschnittliche Lebenserwartung von fast 80 Jahren haben, so hängt das auf eine indirekte Weise damit zusammen, dass in anderen Ländern die Lebenserwartung niedriger ist. Man mag das strukturelle Gewalt nennen oder anders, aber es ist eine Tatsache. Wir profitieren davon, dass andere Menschen benachteiligt sind. Auch daran sind wir nicht schuld. Aber wir sind hier in einen Schuldzusammenhang verstrickt. Wir werden freilich nicht nur ohne unseren Willen in Leid und Schuld verstrickt. Wir sind bereit, uns auch durch unsere Aktivität auf Kosten anderer durchzusetzen und zu entfalten. Selbst wenn wir ein humanitäres Unternehmen gründen, müssen wir es mit professioneller Härte durchsetzen: Wir müssen untüchtige Mitarbeiter entlassen und tüchtige Mitarbeiter suchen. Wir müssen uns gegen Konkurrenz durchsetzen. Vor allem aber müssen wir entscheiden, wem wir helfen wollen – und das heißt immer auch, wem wir nicht helfen. Wenn man in der Welt etwas Gutes schaffen will, geht das nicht ohne Härte. Freilich ist es eine Illusion, dass wir bei solchen Aktivitäten nur unvermeidliche Härte ausüben. Wir machen immer wieder andere zu Sündenböcken, obwohl dadurch nur unnötig Energien gebunden werden. „Mobbing“ nennt man das in Kleingruppen, soziale „Diskriminierung“ in der Gesellschaft. Einzelne Menschen und ganze Gruppen werden zu stellvertretenden Opfern unserer ungelösten Konflikte. Manche meinen, darüber erhaben zu sein. Vor allem gebildete Menschen definieren gern humane Maßstäbe des Zusammenlebens, erwarten aber von anderen, dass sie diese Maßstäbe leben. Auch die Gebildeten haben ihre Sündenböcke: die Anderen, die dumpf gegen alles Fremde sind. Oder die Banker, die uns ins Verderben stürzen. Mit all dem wurde noch gar nicht daran erinnert, dass wir notorisch auf Kosten anderen Lebens leben, wenn wir Nahrung zu uns nehmen, seien es nun Pflanzen oder Tiere. Nur wenn wir uns durch Photosynthese direkt ernähren könnten, wären wir unabhängig davon, andere Organismen zu verzehren. Wir sind aufgrund unserer organi-

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schen Struktur dazu verurteilt, als Raubtiere oder Pflanzenfresser anderes Leben zu unseren Gunsten zu vernichten. Die Botschaft des Kreuzes aber ist: Trotzdem kann mitten in dieser Welt ein Leben beginnen, das nicht nur auf Kosten anderen Lebens lebt, sondern für andere lebt. Hat schon Paulus solche Zusammenhänge geahnt? Ganz gewiss sah er nicht allein im Kreuz den Grund des Heils, sondern nur im Kreuz zusammen mit dessen Überwindung in der Auferstehung. Dass die Auferstehung nur die Bedeutung des Kreuzes offenbart, hätte er nie unterschrieben.44 An einer Stelle im Römerbrief kommt er unserer hermeneutischen „Aneignung“ mit seiner Deutung des Kreuzes nahe. Dort schreibt er, Gott habe seinen Sohn in Gestalt der sündigen Sarx und um der Sünde willen gesandt und die Sünde in der Sarx verurteilt (vgl. 8,3). Hier macht er klar: Das Todesurteil Gottes im Kreuz trifft nicht die Person Jesu, sondern die ganze Sarx. Die Sphäre der Sarx (des Fleisches) aber ist für Paulus die Welt der zwischenmenschlichen Aggression und Konkurrenz zwischen Lebewesen. In Gal 5,13–15 kontrastiert er das Liebesgebot mit der Sphäre der Sarx und warnt davor: „Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom anderen aufgefressen werdet“ (Gal 5,15).

8.3.5 Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Wandel des Gottesbilds und des Menschenbilds im Römerbrief Am Ende unserer Ausführungen weisen wir noch auf einen vierten grundlegenden „psychomythischen Parallelismus“ hin, der den Römerbrief vom Anfang bis zum Ende durchzieht. Das Menschenbild korreliert mit dem Gottesbild. Der Wandel des Gottesbildes wird dem Leser durch Bilder und Metaphern eingeprägt. Gott begegnet zu Beginn des Briefes als Herrscher und Richter, der seine Gerechtigkeit in der ganzen Welt bei allen Menschen durchsetzen will (1,1–3,20). Als Priester, der den Tod Christi zur Sühne bestimmt, überwindet er dabei eben das Problem, das der Durchsetzung seiner Gerechtigkeit in der ganzen Welt entgegensteht: die Sünde des Menschen. Er verwandelt sich dadurch in einen Richter, der den Sünder freispricht, weil er als Schöpfer die Macht hat, neues Leben zu geben (3,21–5,21). Dann begegnet Gott als Vater, der durch Christus die Menschen befreit: Er befreit den Menschen in der Rolle des Sklaven vom tyrannischen Sklavenhalter der Sünde, verbindet sich durch Christus mit ihm wie in einer neuen Ehe und adoptiert ihn zuletzt als Sohn und Erben, so dass der Mensch im Vertrauen zu ihm „Abba“ sagen kann. Durch Liebe bleibt er mit Gott in alle Ewigkeit verbunden (6,1–8,39). 44 Anders Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 60 f: „Ja, der Auferstehungsglaube ist nichts anderes als der Glaube an das Kreuz als Heilsereignis, an das Kreuz als Kreuz Christi“. Trotz grundsätzlicher Zustimmung zum Entmythologisierungsprogramm R. Bultmanns möchten wir widersprechen: Selbst wenn man die Auferstehung symbolisch auffasst, ist sie ein Protest gegen die Kreuzigung. Sie entfaltet nicht das, was im Kreuz selbst schon geschehen ist, sondern widerspricht ihm.

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Aber Gott bleibt trotz dieser „mystischen“ Liebesverbundenheit radikal trans­ zendent: Wie ein Töpfer steht er seinem Geschöpf gegenüber und befindet souverän darüber, ob er es zu einem guten Gebrauch bestimmt oder als unbrauchbar verwirft, auch wenn er wie jeder Töpfer im Grunde gute Gefäße herstellen will. Am Ende ist Gott ein Gärtner, der sogar die Zweige wieder in seinen Ölbaum einsetzt, die er selbst ausgebrochen hat, weil sie untauglich waren ­(9,1–11,36). Der Gott des Gerichtes und des vernichtenden Zorns verwandelt sich so in einen Gott der Liebe und Versöhnung. Parallel dazu verwandeln sich durch den Glauben aggressive und destruktive Menschen in kooperative Menschen, die einander lieben.45 Man vergleiche nur den Lasterkatalog am Anfang des Briefes (1,24–32) mit dem Katalog christlicher „Tugenden“ in der Paränese (12,3–21). Wie Gott seinen Groll gegen seine Feinde überwindet, so tut es auch der Mensch. Wie Gott sich von einem zornigen Gott zu einem liebenden Gott verwandelt, so verwandelt sich auch der Mensch. Auch wenn Menschen sich verirren und sich in Sünden verstricken, bleiben sie Gottes Geschöpfe, die dazu bestimmt sind, sein Ebenbild zu werden. Aus menschlicher Perspektive muss man sie pessimistisch beurteilen, aus der Perspektive Gottes aber bleiben sie geliebt. Paulus demonstriert dies am Beispiel der ungläubigen Juden: Um seines Evangeliums willen sind sie Feinde, aufgrund ihrer Erwählung aber Geliebte Gottes um der Väter willen (11,28). Ein letztlich unbegründbares „Ja“ zum Leben Israels und aller Menschen ist dabei die letzte Weisheit, die sich Paulus eröffnet hat. Ganz deutlich ist: Nicht aufgrund seines Menschenbildes hält Paulus seine positive Haltung gegenüber den Feinden des Evangeliums durch, sondern aufgrund seines Gottesbildes. Gott kann souverän seine Feinde zum Heil erwählen. Dass ein positives Menschenbild die Zuwendung zum anderen Menschen und vor allem zu Fremden fördern kann, ist richtig. Ein pessimistisches Menschenbild kann Misstrauen gegen andere Menschen fördern. Ein optimistisches Menschenbild kann helfen, sich ihnen zuzuwenden. Aber ein positives Gottesbild der Liebe begründet diese Zuwendung noch tiefer, nämlich unabhängig vom Schwanken menschlicher Einschätzung der anderen und seiner selbst in diesem unbegründbaren „Ja“ Gottes zu seiner Schöpfung. „Gott hat sie alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (11,32). Das bezieht sich auf alle Menschen. Paulus redet ausdrücklich auch Heiden an. Diese Gewissheit bewegt ihn zu dem Ausruf: „O welch eine Tiefe des Reichtums beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege“ (11,33)! Paulus hat eine noch heute faszinierende Vision der Verwandlung von Mensch und Welt in die Geschichte gebracht. Sie gehört zu einem Reformprogramm, mit dem er das Judentum erneuern wollte. Er ist damals damit gescheitert. Seine Fragen aber sind nach wie vor lebendig: Wie ist eine universale Gottesverehrung 45 Das ist der Grundgedanke von v. Gemünden, Gottesbild, auf dem auch unsere Auslegung des Römerbriefs basiert.

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möglich? Wie kann sich der Mensch so verändern, dass er ganz und wirklich dem Nächsten ein guter Mitmensch wird? Im Römerbrief hat Paulus sein Reformprogramm zusammenfassend dargestellt. Der Brief ist der Rechenschaftsbericht eines Reformators vor seinem Scheitern. Aber dieses Scheitern spricht nicht gegen ihn. Zu viel an seinen Gedanken ist unabgegolten. Er verkörpert eine ecclesia semper reformanda und einen Universalismus, der im Gespräch zwischen den Religionen noch lange nicht erfüllt ist, er praktiziert eine Offenheit gegenüber den Fremden, die noch immer eine Aufgabe ist, er vertritt eine Sehnsucht nach Erneuerung des ganzen Menschen, die noch immer Menschen ergreifen kann. Vor allem aber vertritt er den Glauben an Gott als Grund einer unbedingten Bejahung des Menschen.

9. Kapitel: Eine Zusammenfassung

Die von uns vorgelegte Auslegung des Römerbriefs vertritt die These: Der Römerbrief enthält ein Reformprogramm für das antike Judentum. Paulus wollte keine neue Religion etablieren, sondern das Judentum erneuern. Er scheiterte mit dieser Reform, wurde dadurch aber zum Architekten des Christentums. Im Römerbrief legt er sich und seinen Gemeinden Rechenschaft über sein reformjüdisches Programm ab. Dieses Programm hat im 16. Jahrhundert noch einmal eine Reform des Christentums inspiriert. Es enthält in der Tat eine reformerische Dynamik, die wir durch eine Kombination von historischen, bildsemantischen, theologischen, sozialgeschichtlichen und psychologischen Ansätzen herausarbeiten. Unsere Auslegung des Römerbriefs vereint dabei zwei Richtungen der gegenwärtigen Paulusforschung: die reformatorische Deutung des Paulus und die der New Perspective on Paul. Das erste forschungsgeschichtliche Kapitel ordnet unsere Deutung in die Hauptströmungen gegenwärtiger Paulusexegese ein. Eine von der Reformation inspirierte Auslegung deutet die paulinische Theologie als Antwort auf eine individuelle Problematik: Die Rechtfertigungslehre sichert dem Sünder die Gnade Gottes ohne Vorbedingung zu. Diese reformatorische Paulusauslegung wurde durch Rudolf Bultmann existenzialtheologisch erneuert und individualistisch zugespitzt:1 Alles, was Paulus über die erneuerte Welt und Geschichte sagt, ziele in Wirklichkeit auf eine Erneuerung des je einzelnen Lebens. Die New Perspective sah dagegen (mit Rückgriff auf die ältere liberale Exegese) darin die Bedeutung der paulinischen Theologie, dass sie einen sozialen Prozess ermöglichte, in dem sich eine aus dem Judentum kommende religiöse Gemeinde für alle Völker öffnete. Paulus habe diese universale Öffnung für „Heiden“ begründet und verteidigt. Beide Richtungen betonen einseitig die individuelle oder die soziale Dimension der Rechtfertigungsbotschaft. Jedoch gehören beide Dimensionen, so unser Grundgedanke, bei Paulus zusammen. Schon immer hat man gesehen: Bei Paulus begründet die Erkenntnis, dass vor Gott jeder einzelne Mensch ein Sünder ist, die Universalität der Gnade. Alle Menschen sind vor Gott Sünder. Allen gilt daher in gleicher Weise Gottes Gnade. Die Rechtfertigungslehre des Paulus öffnet für das Volk Gottes (in jüdischen wie christlichen Gemeinden) das Tor für fremde Völker und Kulturen. Sie öffnet dem einzelnen Gläubigen gleichzeitig aber auch das „Tor“ zu einem neuen Leben. Der einzelne Mensch wird nicht nur gerecht gesprochen, sondern mit Gott versöhnt und effektiv zur Veränderung seines Lebens 1 Dabei traten soziale Aspekte der Rechtfertigungslehre weitgehend zurück, die es bei den Reformatoren in Gestalt des usus politicus legis gab.

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Eine Zusammenfassung

motiviert. Diese Versöhnung ist die Grundlage für eine ethnische Öffnung des Gottesvolkes: Wer sich für fremde Menschen – noch dazu aus anderen Völkern – öffnet, muss in sich Tendenzen zu deren Ablehnung überwinden. Wer mit sich versöhnt ist, versöhnt sich eher auch mit fremden Menschen. Ebenso gilt umgekehrt: Die durch die Öffnung des Volkes Gottes entstehenden Konflikte verstärken innere Spannungen in jedem Einzelnen und diese Spannungen wecken wiederum im Menschen die Sehnsucht nach einer befreienden Botschaft. Nach unserer Auslegung wendet sich Paulus mit seiner Botschaft an Juden und Heiden. Eine „radikalere“ neue Paulusauslegung (der sogenannte New View) meint dagegen, Paulus ziele mit seiner Erlösungsbotschaft exklusiv auf Heidenchristen, für Juden sei der jüdische Glaube ausreichend. Nur für Heiden gelte die Botschaft von der Erlösung durch Kreuz und Auferstehung Christi. Nach unserer Ansicht verlangt Paulus dagegen eine einschneidende Reform des Judentums: Es soll sich in einer Weise verändern, dass Heidenchristen darin Platz finden können, ohne umstrittene jüdische Normen zu übernehmen. Bei dieser Öffnung für andere Völker soll das Judentum seinen Zielen treu bleiben. Denn Paulus ist überzeugt, dass die Juden einen Auftrag für die ganze Welt haben – und dass er als Jude durch seine Mission unter allen Völkern diesen Auftrag Israels durchführt. Er versteht sich als Reformer und Reformator, nicht als Religionsgründer. Aus dieser Erkenntnis seiner tiefen Verwurzelung im Judentum ergibt sich auch unsere Stellungnahme zur sogenannten „antiimperialen“ Paulusauslegung, die nicht das Verhältnis zum Judentum, sondern die Beziehung zum Imperium Romanum ins Zentrum der Paulusauslegung stellt: Paulus vertritt eine Botschaft, die das Anliegen des jüdischen Monotheismus verwirklichen will, dass Gott über alle Lebensbereiche herrscht. Diese religiöse Autonomie wird gegenüber dem Imperium zur „oppositionellen Autonomie“. Der gekreuzigte Messias steht nach der von uns vertretenen Sicht mit seinen Anhängern aus allen Völkern in Konkurrenz zum Kaiser und den mit ihm verbundenen Oberschichten in allen Völkern. Das zeigt sich nicht nur in „verdeckter Polemik“ des Paulus gegen das Imperium in seiner theologia crucis, wenn er einen von den Römern hingerichteten Erlöser ins Zentrum stellt, und es zeigt sich auch nicht nur in „verdeckter Anpassung“ mit einer geschickt versteckten Kritik in der Staatsparänese des Römerbriefs ­(13,1–7), sondern auch in einem prinzipiellen Widerspruch zur konservativen Religionspolitik unter Kaiser Claudius. Dieser hatte den Juden nachdrücklich befohlen, bei ihren Traditionen zu bleiben. Das Programm des Paulus und seiner Anhänger zielte jedoch auf eine Änderung jüdischer Traditionen. Im zweiten Kapitel führen wir einem ersten Durchgang durch den Römerbrief eine Strukturanalyse durch und zeigen, dass dessen Gliederung einem Grundanliegen des jüdischen Gottesglaubens entspricht. Der jüdische Monotheismus fordert, dass alle Menschen in ihrer ganzen Existenz Gott verehren sollen. Der Mensch soll Gott lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und all seinen Kräften (Dtn 6,4 f). Alle Völker sollen den einen und einzigen Gott anerkennen. Nachdem die beiden ers-

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ten Teile die grundlegende Wende vom Unheil (1,18–3,20) zum Heil (3,21–5,21) dargestellt haben, thematisiert der Römerbrief in 6,1–8,39 zunächst die Verwandlung des ganzen Menschen zu einem neuen Menschen, der Gottes Willen entspricht, danach in 9,1–11,36 die universale Verehrung Gottes durch Israel und alle Völker. Die darauf folgende Paränese (12,1–15,13) kombiniert beide Anliegen: Sie beginnt mit der Erneuerung des ganzen Menschen in einem vernünftigen Gottesdienst (12,1–2) und endet mit der Mahnung, Gott zusammen mit allen Menschen zu verehren (15,7–13). Dazwischen zeigen die Mahnungen zum Zusammenleben von Starken und Schwachen in der Gemeinde, wie sich das Anliegen des Römerbriefs konkret in der römischen Gemeinde verwirklichen soll: Wer ganz mit sich übereinstimmt und sich nicht verurteilt (14,22 f), ist frei, andere Menschen anzunehmen, auch wenn sie in ihrem Verhalten seinen normativen Vorstellungen (hier konkret: in Speisefragen) nicht entsprechen (vgl. 14,1 und 15,7). Im dritten Kapitel ordnen wir historisch den Römerbrief in eine der „glücklichs­ ten“ Zeiten des Paulus ein. Er hat während seines Aufenthalts in Ephesus eine Doppelkrise überwunden, bei der er knapp einer Verurteilung zum Tode entgangen ist. Etwa gleichzeitig hat eine schwere Krise sein Verhältnis zur Gemeinde in Korinth erschüttert. Nach vollzogener Versöhnung mit der korinthischen Gemeinde schreibt er nun in ihrer Mitte einen Brief an die römische Gemeinde. Weil ein Teil der römischen Gemeinde nach der Vertreibung von Christen durch das Claudiusedikt in Ephesus Zuflucht gefunden hat und weil Paulus auf dem Weg nach Jerusalem mit der Gemeinde in Ephesus Kontakt aufnehmen möchte, schreibt er zunächst den Römerbrief von Kapitel 1 bis 16 in einem Zug und schickt ihn an die (teilweise römische) Gemeinde nach Ephesus, deren Mitglieder er in Kapitel 16 mit Grüßen an andere Gemeindeglieder beauftragt. Dabei ist für uns Leser (und wohl auch für Paulus) nicht immer klar, ob sich die mit Grüßen bedachten Gemeindeglieder noch in Ephesus befinden oder nach dem Tod des Claudius im Oktober 54 schon nach Rom zurückgekehrt sind. Nach Fertigstellung dieses wegen seiner Reisepläne vorrangigen Briefes nach Ephesus (Röm 1–16) lässt Paulus eine Abschrift des Briefes für die Gemeinde in Rom anfertigen, die er erst nach seiner Jerusalemreise besuchen will (Röm 1–15). In dieser Abschrift werden die für Ephesus bestimmten Grußaufträge in Kapitel 16 ausgelassen. Die so verkürzte Abschrift schickt er nach Rom. Ihm ist bewusst, dass sein im Brief angekündigter Besuch in Rom nicht nur Begeisterung auslösen wird. Die von ihm repräsentierte „gesetzeskritische“ Strömung im Urchristentum war zu einem früheren Zeitpunkt eine der Ursachen dafür gewesen, dass viele Judenchristen 49 n. Chr. aufgrund eines Edikts des Kaisers Claudius aus Rom ausgewiesen worden waren. Daher beteuert Paulus in Röm 13,1–7 seine politische Loyalität gegenüber den Herrschenden, macht aber indirekt deutlich, dass er nicht alle „Autoritäten“ als von Gott gegeben betrachtet. Er akzeptiert die „derzeitigen“ Herrscher (13,1) im Gegensatz zu einigen nicht mehr regierenden Herrschern: Den Kaiser Gaius Caligula zählt er sicher nicht zu den Herrschern, die

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von Gott eingesetzt worden sind, und darin hätten ihm die meisten Bewohner und Bürger Roms zugestimmt. Auch Claudius gehörte für ihn möglicherweise zu den Kaisern, die in Widerspruch zur legitimen Ordnung standen. Senecas Satire „Apocolocyntosis“ über Claudius zeigt, dass Paulus mit solch einem negativen Urteil über Claudius bei einigen Römern Zustimmung gefunden hätte. Das vierte Kapitel untersucht bildsemantisch den Gedankengang des Römerbriefs anhand seiner Bilder und Bildfolgen. Dabei lassen sich „Bilder aus dem öffentlichen Leben“ in den ersten beiden Teilen des Römerbriefs (1,1–5,21) von den „privaten Bildern“ des antiken Hauses (Oikos) im dritten Teil (6,1–8,39) unterscheiden. In den Bildern der ersten beiden Teile (Röm 1–5) nimmt Gott die Rolle des Königs, Richters und Priesters ein. In den Bildern des dritten Teils übernimmt der Mensch die Rolle des Sklaven, der Frau und des Sohnes. Dieser Übergang von „öffentlichen“ zu „privaten“ Bildern spiegelt die Entpolitisierung des jüdischen Messianismus im Urchristentum und bei Paulus wider. Aus der Hoffnung auf eine politische Befreiung von den Feinden Israels wird die Hoffnung auf Befreiung von Sünde, Tod und Gesetz im individuellen Leben der Gläubigen. Im Israelteil (9,1–11,36) dominieren Bilder aus einem dritten Bildfeld, es sind Bilder von Berufsrollen: Gott verwandelt sich von einem Töpfer in einen liebevollen Gärtner. Dabei ist die Bildsequenz von Bedeutung. Das jeweils nachfolgende Bild korrigiert das vorangegangene Bild. Gott überwindet als Priester eben jene Angst, die er als Richter ausgelöst hat: Als König geht er in 1,18–32 parteiisch gegen die Sünder vor, als Richter beurteilt er in 2,1–16 unparteiisch jeden Einzelnen, als Priester ergreift er dann in 3,21–4,25 Partei für den Sünder, indem er Sühne schafft. Ebenso bringen die Oikosbilder vom Herrenwechsel des Sklaven und der Zweitehe der Frau die Erlösung aus Abhängigkeit nur unvollkommen zum Ausdruck: Erst die Adoption zum erbberechtigten Sohn nimmt dem Menschen alle sklavische Furcht und korrigiert so das Bild vom Herrenwechsel des Sklaven. Die Berufsbilder von Gott als Töpfer und Gärtner überbieten alle vorherigen Bilder: Als Töpfer verwarf Gott die unbrauchbaren Gefäße, als Gärtner kann er die verworfenen (d. h. die ausgebrochenen) Zweige wieder einsetzen. Am Ende steht das „biomorphe Bild“ des Leibes Christi (12,4 f), das die Nähe Christi zu allen Christen betont. In der Gemeinde geht in Erfüllung, was von der griechischen Polis und vom römischen Imperium erhofft wurde: Alle Mitglieder der Gemeinde sind wie Glieder in einem Leib durch Liebe verbunden. Den Rahmen des Römerbriefs bildet eine große Ringkomposition (eine inclusio). Er beginnt mit einer Kritik am pervertierten Kult der Heiden (1,18–23) und endet mit einer Aussicht auf den wahren Kult, in dem Juden und Heiden vereint sind (15,7–13). Das fünfte Kapitel arbeitet anhand der Bildfolgen im Römerbrief vier Heilslehren heraus: Heil durch Werke (1,16–3,20), Heil durch Glauben (3,21–5,21), Heil durch Verwandlung (6,1–8,39) und Heil durch Erwählung (9,1–11,36). Sie folgen im Römerbrief mit logischer Konsequenz aufeinander. Die Aporien jeder Heilslehre führen jeweils zur nächsten Heilslehre. Weil keiner die von Gott ­geforderten

Eine Zusammenfassung

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Werke tun kann und dadurch zum Sünder wird, sind alle Menschen auf ihren Freispruch durch Rechtfertigung angewiesen. Weil aber der bedingungslose Freispruch den Sünder dazu verführen kann, weiter zu sündigen, muss sich der Gläubige mit der Hilfe Christi tiefgreifend verwandeln, so dass er nicht mehr sündigen will. Weil aber diese Verwandlung nur für Getaufte möglich ist, muss eine radikalisierte Erwählungslehre am Ende sichern, dass sich Gott aller Menschen erbarmt – auch derer, die sein Evangelium ablehnen und nicht getauft sind. Nur so kann Israel gerettet werden, das in der Gegenwart mehrheitlich das Evangelium ablehnt. Alle Heilslehren scheitern letztlich. Denn das Erbarmen Gottes über alle Menschen bleibt unbegründbar und durchkreuzt alle vorhergehenden Vorstellungen von einem Heil durch Tun des Guten, durch Rechtfertigung und durch Verwandlung. Gleichwohl gibt es eine durchgehende positive Aussage, die der Grund für dieses fortlaufende Scheitern ist: Gottes Gnade ist radikal. Diese Gnade hat in jeder Heilslehre einen eigenen Akzent. Innerhalb der Gesetzesfrömmigkeit ist es eine „aufschiebende“ Gnade, die Umkehr angesichts des drohenden Gerichts ermöglicht (2,4). Innerhalb der Rechtfertigungslehre ist es eine „inkongruente Gnade“, die dem gilt, der unwürdig ist, sie zu empfangen, dem Sünder und Gottlosen (4,5). In der Verwandlungslehre ist es eine „effektive Gnade“, die den Christen verwandelt, so dass er das Gute tut, weil Gottes Geist in ihm wohnt und er mit Christus mystisch verbunden ist (6,1–11; 8,1–39). In der Erwählungslehre ist es die „prädestinierende Gnade“, die sich ganz unabhängig vom Verhalten der Erwählten macht und selbst an denen festhält, die ihre Erwählung ablehnen (11,28). Ebenso hat das Gesetz im Rahmen jeder Heilslehre eine unterschiedliche Funktion, denn es verführt in unterschiedlicher Weise zu Fehlhaltungen: Die Werkgerechtigkeit verführt zum Gesetzesstolz der Juden, der auf die Heiden herabsieht (2,17–24); der Rechtfertigungsglaube ist mit Gesetzesangst verbunden, solange Gott dem Menschen als Richter und nicht als Liebender entgegentritt (4,15). Die Verwandlung zu einem neuen Menschen, der nicht mehr unter dem Gesetz steht, macht den Gesetzesmissbrauch des alten Menschen bewusst (7,7–25). Die Erwählung des Menschen vor seiner Geburt macht jedes Vertrauen auf menschliches Tun illusorisch (9,11 f.30–32). Die Gesetzeskritik ist im Rahmen jeder Heilskonzeption eine andere, diese Gesetzeskritik ist nicht weniger widersprüchlich als jede dieser Heilskonzeptionen. Eben das zeigt, wie wichtig Paulus die Gesetzeskritik ist: Was er in wiederholten Anläufen mit sich widersprechenden Gedanken immer wieder umkreist, ist für ihn ein zentrales Anliegen. Wo sich Theologen in Widersprüche verheddern, schlägt manchmal ihr Herz. Bisweilen ist ihnen ein Gedanke so wichtig, dass sie deswegen starke Spannungen zu anderen Gedanken in Kauf nehmen. Das sechste Kapitel deutet den Römerbrief sozialgeschichtlich als Dokument einer aus dem Judentum stammenden Bewegung, die ihre Wurzeln in den unteren Gesellschaftsschichten hat und sich im Laufe der Zeit über ihr Ursprungsmilieu hinaus ausgebreitet und universalisiert hat. Sie ist eine überregionale Parallel­ bewegung zur damals entstehenden neuen, schmalen Oberschicht im Imperium

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Romanum. Während in den ersten zwei Jahrhunderten allmählich eine einheitliche Reichsaristokratie in den Oberschichten aller Provinzen entstand, bildete sich parallel dazu in den Unterschichten eine überregionale christliche Gemeinde, in der sich das Judentum universalisierte. Diese Universalisierung zeigt sich in der neuen Definition von vier Merkmalen eines Ethnos im Römerbrief: Abstammung (origio), Wohnort (situs), Sitten (mores), Geschichte (historia). Erstens ist die Neudefinition der Abstammung zu beachten: Nicht die leibliche Herkunft von Abraham begründet die Zugehörigkeit zum Gottesvolk, sondern die Verwandtschaft aufgrund des gemeinsamen Glaubens. Dazu kommt zweitens die Universalisierung des Kultes: Alle Völker sollen Zugang zum zentralen Kult in Jerusalem haben, auch wenn sie wie die Christen und Christinnen mit paganem Hintergrund nicht das ganze Gesetz halten. Drittens schreibt die Universalisierung des Gesetzes allen Völkern eine lex naturalis zu und definiert Gesetzeserfüllung als Erfüllung des Liebesgebotes. Viertens finden wir eine universalisierende Neudeutung der alttestamentlichen Geschichte: Paulus deutet sie als Weissagung und Typologie, die auf die Einbeziehung aller Völker ins Heil zielt. Die Öffnung des Kultes stellt sich Paulus sehr konkret vor: Christus wird „aus Zion“, d. h. nach unserer Auslegung: „aus dem Tempel“ erscheinen und alle Juden dafür gewinnen, auch Heiden zum Tempelkult zuzulassen, so dass „die Fülle der Heiden hineingehen“ kann (11,25) – ganz konkret: Sie dürfen auch den inneren Tempelbezirk betreten, von dem sie bisher ausgeschlossen waren. Dieser Öffnung auf globaler Ebene entspricht das Zusammenleben von Starken und Schwachen in Rom auf lokaler Ebene: Ihr Konflikt ist ein Konflikt zwischen Christen mit heidnischem und jüdischem Hintergrund. Die Generalisierung des Fleischtabus unter den judenchristlichen „Schwachen“ ist nicht allein aus jüdischen Traditionen erklärbar, sondern politisch bedingt. In den Mietshäusern Roms konnte man kein warmes Essen zubereiten. Einige Kaiser verboten aber den Fleischkonsum in den öffentlichen Tavernen, wo sich Menschen aus der Unterschicht zu besonderen Anlässen eine Fleischmahlzeit zubereiten lassen konnten. Die wiederholten kaiserlichen Fleischverbote für Tavernen zeigen, dass diese Verbote nicht durchsetzbar waren. Nicht alle hielten sich daran. Nach dem Claudiusedikt bemühten sich aber vor allem die in Rom verbliebenen Judenchristen, nicht durch Übertretung kaiserlicher Anordnungen aufzufallen, da sie sonst fürchten mussten, ebenfalls ausgewiesen zu werden. Daher hielten sie sich ängstlich-beflissen an das verordnete Fleischverbot des Kaisers für die Tavernen, galten aber deswegen den anderen Christen als „Schwache“ im Glauben, weil sie das begrenzte Fleischverbot der jüdischen Tradition (das sich nur auf nichtkoscheres Fleisch bezog) zu einem Verzicht auf alles Fleisch verallgemeinerten. Wahrscheinlich begründeten sie ihre Ablehnung jeglichen Fleisches jedoch nicht mit situativen politischen Gründen, sondern mit asketischen Motiven. Das siebte Kapitel liest den Römerbrief psychologisch als ein persönliches Bekenntnis des Paulus. Prospektiv gelesen, enthüllt er zunehmend seine Befürchtung,

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dass sein Leben in Jerusalem durch Fanatiker bedroht sei. Seine Furcht artikuliert er immer konkreter, erst als Abscheu vor der Gewalttätigkeit aller Menschen ­(3,9–20), dann als Bedrohung speziell der Christen, die wie Schlachtschafe vom Tode bedroht sind (8,35 f), dann als persönliche Bedrohung eines Einzelnen wie Elia, in dem Paulus indirekt seine eigene Situation darstellt (11,2 f), bis er sie am Ende des Briefes offen ausspricht (15,30–32). Diese Furcht des Paulus war berechtigt, denn er machte sich nach unserer Auslegung dafür stark, dass die Heiden Einlass in den ihnen verbotenen inneren Tempelbezirk erhalten sollten. Eine solche Tat konnte den Tod durch Lynchjustiz außerhalb geordneter Gerichtsverfahren zur Folge haben. Retrospektiv gelesen entspricht die Abfolge der vier Heilslehren der Biographie des Paulus. Die Glaubensentwicklung des Paulus begann mit der jüdischen Gesetzesfrömmigkeit seiner Jugend. Die Rechtfertigungslehre hatte ihren Ursprung in seiner Wende vor Damaskus, auch wenn Paulus sie erst zu einem späteren Zeitpunkt in Konflikten mit seinen Gegnern ausformulierte. In der Verwandlungslehre schlagen sich seine Erfahrungen mit der Heidenmission nieder und die Erwählungslehre wird für ihn angesichts seiner unmittelbar bevorstehenden Jerusalemreise wichtig. Mit ihr kann er Gottes bleibende Zuwendung zu Israel begründen, obwohl Israel sein Evangelium ablehnt und sich von ihm abwendet. Paulus formuliert diese Erwählungslehre aufgrund eigener Erfahrungen: Auch ihn hat Gott einmal vor Damaskus erwählt und berufen, als er noch ein Feind der Christen war und das Evangelium ablehnte. Introspektiv gibt der Römerbrief Einblicke in das Innere des Paulus. Er schildert in Röm 7 einen tiefen Konflikt zwischen Gesetzesforderung und Verhalten. Paulus stellt diesen Konflikt als eine allgemein menschliche Problematik dar. Er antwortet mit seiner Analyse auf den ihm persönlich gemachten Vorwurf, er würde das Böse um des Guten willen tun (3,8). Er identifiziert sich daher ganz persönlich mit dem, was er in Röm 7 als Antwort auf diesen Vorwurf formuliert. Zwar schildert er hier einen typisch menschlichen Konflikt, aber er kann ihn nur aufgrund seines persönlichen Erlebens so lebendig schildern  – als Entstehung des Konflikts, als dessen Bewusstwerdung trotz Täuschung durch das Gebot und als Internalisierung zu einem inneren Konflikt, den er mit Hilfe hellenistischer Moralpsychologie beschreibt, um eine ganz neue Erkenntnis zu vermitteln: Dass das Gesetz nicht von gesetzeswidrigen Antrieben befreit, sondern sie weckt und in sie hineinführt – es sei denn, der Mensch wird durch den „Geist“ verwandelt, so dass er dem „geistlichen Gesetz“ entsprechen kann. Die Entwicklung des Paulus wurde auch dadurch vorangetrieben, dass er sich immer wieder mit den Argumenten und Positionen seiner Gegner auseinandersetzte, von ihnen lernte und ihre Anliegen in einer Weise aufgriff, die diese Anliegen oft noch konsequenter zuspitzte: Er verfolgte einst die Christusanhänger, weil sie sich für Nicht-Juden öffneten, vertrat aber nach seiner Bekehrung diese Öffnung in noch konsequenterer Form als Heidenmissionar. Er widersetzte sich in Antiochia Petrus und Barnabas, als sie in Speisefragen judenchristlichen Be-

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Eine Zusammenfassung

denken nachgaben. In Korinth und Rom übernahm er jedoch im Konflikt zwischen Starken und Schwachen mehr oder weniger deren versöhnliche Position. Er pole­misierte unerträglich hart gegen judenchristliche Gegenmissionare in Galatien und Philippi, dann aber vertrat er im Römerbrief ihr Grundanliegen: die Bewahrung der Einheit von Juden und Christusanhängern unter Juden und Heiden, nur dass er von seinen Gemeinden keine Anpassung an das Judentum verlangte, sondern vom Judentum eine Reform, so dass auch seine Gemeinden in ihm ihren Ort finden können. Es gehört zur Größe des Paulus, dass er immer wieder von denen gelernt hat, die er einmal bekämpft hat. Trotz schroffer Polemik gegen seine Gegner zeigt das, dass er kein Fanatiker war: Er lernte gerade von denen, die er einst abgelehnt hatte. Das achte Kapitel bringt eine synthetische Darstellung der Reformvorstellungen des Paulus und ihrer Aporien. Paulus wird in unserem Buch als ein scheiternder Reformator dargestellt. Er ist ein Reformator, weil er zwar an den drei entscheidenden Ausdrucksformen der jüdischen Religion, ihrem Kult, ihrem Gesetz und ihrer Geschichtserzählung, festhält, diese aber reformieren will. Sein Scheitern ist in seinem Reformprogramm angelegt. Die Reduktion des Gesetzes auf das Liebesgebot, die utopische Hoffnung auf eine Öffnung des Tempels durch den zur Parusie wiederkommenden Christus, die Öffnung der Geschichte des Gottesvolkes für alle Völker hat nur wenig gemeinschaftsgründende Kraft. Solche Liberalisierungen verwischen das Profil einer Gemeinschaft. Damit kann man sich weder nach außen hin abgrenzen noch nach innen hin klare Normen für die eigenen Mitglieder definieren. Paulus gleicht diese Offenheit dadurch aus, dass er die erneuerte jüdische Gemeinschaft umso stärker durch deren Beziehung zum Messias Jesus Christus definiert. Der Glaube an Christus unterscheidet sie von allen anderen Gemeinschaften und kann auch nach innen hin die Offenheit vieler Normen ausgleichen. Durch die christozentrische Begründung seines Reformprogramms entsteht dabei eine Spannung zum Judentum, die früher oder später zur Trennung der Christusanhänger vom Judentum führen muss. Zwar konnte sich das Judentum ohne weiteres eine zweite Gestalt neben Gott (als Weisheit oder Menschensohn) vorstellen, aber deren kultische Verehrung musste früher oder später von seinem konsequenten Monotheismus abgelehnt werden. Paulus hat diese Trennung nicht gewollt. Er wird auch nicht wegen seines Christus­ glaubens von Juden abgelehnt, sondern vor allem wegen seiner Liberalisierung der rituellen Praxis – seiner Relativierung von Beschneidung und Speisegeboten sowie seinem Traum von einer Öffnung des Tempels für alle. Sein messianisches Reformjudentum (mit einem neuen Verständnis des Messias) zielte auf eine Öffnung des Judentums für seine heidenchristliche Gemeinden. Paulus ahnt im Römerbrief sein Scheitern. Die Texte, in denen er sein Reformprogramm entfaltet, haben einen Subtext: Immer wieder bringt Paulus Zweifel an seinem Reformprogramm in Form kognitiver Dissonanzen und Anfechtungen zum Ausdruck. Er weiß zu gut, dass sein Reformversuch gefährdet ist.

Eine Zusammenfassung

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Was ihm aber in seiner gefährdeten und scheiternden Mission Kraft gibt, ist sein Glaube: eine innere Kraft im Menschen, die ihm geschenkt wurde. Dieser Glaube bezieht sich zwar auf objektive Vorgänge im Himmel und auf Erden, er ist Glaube an das Handeln Gottes durch Christus in der gegenwärtigen Endzeit. Im ganzen Römerbrief werden aber diese objektiven „mythischen“ Vorgänge in Parallele zum menschlichen Verhalten und Erleben gesetzt. Dieser „psychomythische Parallelismus“ durchzieht den ganzen Brief. Die wichtigsten Parallelismen sind: –– Das Gericht im Himmel hat eine Parallele im inneren Gericht des Gewissens (2,5–11//2,15–16). –– Der Erweis der Liebe Gottes im Sterben Christi hat eine Parallele in der Ausgießung der Liebe Gottes in die Herzen der Menschen (5,8//5,5). –– Die Fürsprache des erhöhten Christus hat eine Parallele in der Fürsprache des Geistes in den Tiefen des Herzens (8,34//8,26). –– Die Rechenschaft der Christen vor Gott hat seine innere Parallele in der Selbstverurteilung der Menschen (14,1–12//14,22–23). Durchgehend finden wir zudem folgenden entscheidenden Parallelismus: Wie sich Gott im Laufe des Römerbriefs durch seine Offenbarung in Christus von einem zornigen Gott zu einem liebenden Gott verwandelt, so verwandelt sich auch der Mensch durch seine Verbindung mit Christus von einem aggressiven zu einem kooperativen Wesen. Die ganze objektive „Heilsgeschichte“ wird durch den persönlichen Glauben zu einer inneren verändernden Kraft im Leben. Paulus hinterlässt mit dem Römerbrief einen Rechenschaftsbericht über sein Reformprogramm, das nachträglich zu seinem Testament wurde. Paulus wollte nicht das Christentum begründen. Sein Christentum war ein antikes messianisches Reformjudentum. Sein Römerbrief wurde aber zu einem Testament für die ganze Menschheit. Dieses antike Programm einer Reform des Judentums hat noch einmal im 16.  Jahrhundert eine Reform innerhalb des Christentums in­spiriert. Die Reformatoren haben intuitiv die reformerische Dynamik seiner Theologie erfasst und sich von ihr ergreifen lassen. Das Anliegen des Paulus ist, dass alle Menschen den einen und einzigen Gott verehren. Er will die Ziele Gottes mit seinem Volk für die ganze Welt zum Ziel führen: Der eine und einzige Gott will von allen Menschen und von ihnen mit ihrem ganzen Leben verehrt werden. Er weiß, dass sich die Menschen verändern müssen, um ihre Feind­selig­ keit und Abneigung gegeneinander zu überwinden. Dazu dient der Messiasglaube, wie Paulus ihn umformuliert hat. Heute gilt noch immer: Alle Religionen müssten sich tiefgreifend verändern, um diesen reformatorischen Impuls zu verwirklichen. Alle müssen ihre Traditionen wie Paulus neu interpretieren, um sie für andere Menschen zu öffnen. Alle Menschen müssen wie Paulus separatistischen Fanatismus überwinden. Das Ziel ist: Am Ende soll Gott alles in allem sein (1Kor 15,28).

10. Liste der Exkurse Exkurs 1: Vorbemerkungen zur Terminologie (Einleitung, S. 24 f) Exkurs 2: Ist die antiimperiale Paulusdeutung eine Alternative zur New Perspective? (Kap. 1.1.4a, S. 41 f ) Exkurs 3: Die Paulusauslegung des New View: Wandte sich Paulus nur an Heidenchristen? (Kap. 1.1.4b, S. 45 f) Exkurs 4: Beginnt mit 5,1 ein neuer Teil des Römerbriefs? (Kap. 2.2.2, S. 68 f) Exkurs 5: Röm 9–11 als integraler Teil des Römerbriefs (Kap 2.2.3, S. 75 f) Exkurs 6: Liegt zwischen Röm 9,29 und 9,30 eine Zäsur? (Kap. 2.2.4, S. 76 f) Exkurs 7: Röm 16 – das Ende eines für Ephesus bestimmten Briefs an die Römer in Ephesus? (Kap 3.3.1, S. 106–109) Exkurs 8: Die Rettung von „ganz Israel“ (11,25–27) (Kap. 3.3.2, S. 111–114) Exkurs 9: Der Sinn des Gesetzes nach Gal 3,19 (Kap. 5.2.4, S. 249 f) Exkurs 10: Der jüdische Kult als Skandalon (Kap. 5.4.4, S. 281 f) Exkurs 11: Wer ist in Gal 6,16 mit „Israel Gottes“ gemeint? (Kap. 6.2.1, S. 308 f) Exkurs 12: Τέλος/télos als „Ende“ oder „Ziel“ des Gesetzes (Kap. 6.2.3, S. 333–336) Exkurs 13: Eine psychologische Deutung des Sühnetods im Rahmen des Römerbriefs (Kap. 8.3.4, S. 477–486).

11. Liste der Tabellen Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10: Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16: Tab. 17: Tab. 18: Tab. 19: Tab. 20:

Der mehrfache usus legis in der Reformation [S. 57] Der mehrfache usus legis bei Paulus [S. 58] Die Privilegien Israels und der Christen im Römerbrief [S. 75] Aufbau und Gedankengang von Röm 9–11 [S. 80] Aufbau der Gemeindeparänese Röm 12–13 [S. 82] Christologische Formeln im Römerbrief [S. 129] Der Galaterbrief als Skript des Römerbriefs [S. 130 f.] Geist und Adoption in Gal 4 und Röm 8 [S. 196] Die Hagar-Sara-Typologie und die Adoption freier und unfreier Kinder [S. 197] Der Parallelismus zwischen mythischem und innerem Tribunal [S. 234] Abraham- und Christus-Typologie (Röm 4 und 5) [S. 242] Parallelismus der Liebe: Christus und der Geist [S. 242] Familiäre Rollen des Oikos als Erlösungsbilder [S. 267] Die vier Heilskonzepte des Römerbriefs [S. 287] Die Wende vom Unheil zum Heil [S. 291] Universale und duale Eschatologie im Römerbrief [S. 293] Schriftinterpretation mit und ohne Zeitdifferenz im Römerbrief [S. 337] Die Deutungen von Starken und Schwachen [S. 338] Die Aussagen über Starke und Schwache in Röm 14,1–6 [S. 351] Buchstabe und Geist bei Paulus [S. 400]

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13. Stellenregister Altes Testament Gen 1,24 230 1,26 230 2 430 2,7 205 2,17 430 3 260 6 244 6,15 150 9,2 f 344 12,3 17 12,10–20 242 14,20 146 15 190 15,6 65, 246, 251, 423, 425 16 198 22,1–18.1–19 242, 363 21,9 198 21,10–13 198 25,12 198 47,18 f 165 Ex 4,22 f 195 4,30 319 6,18 363 10,21–29 232 20,1–21 238 20,17 258, 261, 262 21,2 302 22,20 f 144 22,28 f 202 23,9 144 23,19 202 23,31 146 24,2 f 317 25,17 149 25,22 153 25,23–30 281 26,32 315 27,16 315 29 396 31,18 238 32,15 f 238

32,31 f.32 375, 439 32,33 375 33,19 81, 229, 272, 274 34,1 238 34,28 238 34,29–35 319 34,34 320, 405 34,35 320 36,36 315 Lev 16,11–19 151 16,15.15 f 150, 252 16,15–17 149, 151 16,20– 22.20–28 151, 478 16,23–25 151 16,27 f 150 18,5 279, 334, 466 19,15 142 19,19 178 20,10 181 26,25 146 Num 15,17–21 202 18,12 202 21,3 146 21,34 146 25 329, 363, 384, 424 35,30 181 Dtn 1,1 318 1,24 146 2,24.31 146 3,2 146 5,1 318 6,4.4 f 17, 48, 267, 490 7,7 f 195 9,4–6 195 10,14 f 195 12,15 344 13 362

Stellenregister 17,4–7 313 17,6 181 17,14–20 137 17,19 143 18,4 202 18,9–22 137 21,23 458 22,22 181 24,1 179 25,4 337 f 27,26 447 29,3 111, 281 30 283 30,6 230 30,11– 14.12–14 279, 282 f, 466, 334 30,12 334 30,13 334 30,14 283, 334 31,1 318 32,43 17, 98, 114, 326 Ri 8,27 318 9,8–15 204 9,8 f.9 209 f 1Sam 2,5 165 7,5 318 25,1 318 28,3 318 1Kön 8,14 318 8,22–53 318 8,41–43 323 12,1 318 18 f 363 19,1 378 19,3 378 19,10 363, 378, 380 19,14 363, 378, 380 19,18 377, 379–381 2Chr 6,3 318 12,1 318 24,21 378

Neh 9,26 378 Hi 9,19 205 10,9 205 31,38–40 201 33,6 205 41,3 338 Ps 2,9 208 5,8 317 5,10 233, 369 f 9,28 369 10,7 233, 369 13,1–3.3 369 f 14,1–3 370 14,7 319 17,50 96, 98, 326 20,3 319 31,1 f 251 35,2 233, 369 f 36,2 233 42,4 317 43,23 68, 289, 300, 373 f 50,2 f 319 51,10 209 51,12 17 53,7 319 65,13 317 68,10 478 68,23 f 79, 280 69 281 69,3 f 281 69,9 f 281 69,10 281, 474 69,23 f 281 72,17 317 82 143 86,9 323 88,6 178 90,8 154 93,14 376 99,2 317 99,4 317 105,20 230, 232 106,20 249, 460 106,28– 31.30 f 363, 424 107,3 323

537

538

Stellenregister

117,1 17, 98 126 323 127,3 209 131,7 317 139,4 369 f 140,4 233 145,20 374 Prov 1,16 369 6,35 181 Pred 7,20

233, 369 f, 289

Jes 1,9 276 2,1–5.2–5 17, 53, 318, 323 10,22 f 335 11,10 17, 139, 299, 305, 326, 338, 356, 474 17,6 209 18,1–11 205 24,4–6 201 24,7 201 25,6 344 26,17 201 27,9 79, 113, 275 f, 435 27,13 323 28,16 76 f, 280, 319, 333, 411 29,10 111 29,15 f.16 204 f 30,14 208 35,10 323 40,9 138 40,13 79, 285, 338 41,25 205 45,9.9 f 204 f 45,23 98 49,1 138, 357, 386, 431 51,11 323 52 370 52,7 111, 116, 138, 371, 389, 405 52,15 111, 323 53 252 53,1 466 53,4–6 375 56,6–8 318 53,10 155 56,7 301, 312 59,7 f 233, 369 f, 389

59,20.20 f

79, 111, 276, 316, 318–320, 411 60,1–7.4–7 323 f 60,1–22 318 64,7.7 f 205, 318 65,2 274, 405 66,7–9 201 66,18–21 323 f 66,20 111, 323 Jer 1,5 138, 357, 386, 431 2,30 378 3,18 323 9,21 378 11,16 f 209 16,19 323 18,1–10 204 18,4 208 18,6 208 19,1–13 205 19,11 208 22,23 201 24,7 111 26,23 378 31,10–14 323 31,31–34 17, 470 31,33.33 f 79, 113, 237, 276, 316, 320, 435 49,8 271 49,10 271 Ez 11,19 111 18,31 111 36,26 17, 111 43,14 150 43,17 150 43,20 150 Dan 1,8–17 344 9,11 318 Hos 2,1 195, 199, 274 2,25 113, 199, 274, 410 4,3 201 11,1 195 13,13 201 14,7 209

539

Stellenregister Am Am 5,21–25 218

Hab 2,4 62

Ob 6 271

Zeph 3,8–20 318

Mi 4,1–5.1–8 17, 53, 318, 323 4,9 f 201 7,12 323

Sach 2,14–17 318 8,20–23 323

Nah 2,1

116, 138

Mal 1,2 f

271

Außerkanonische Schriften neben dem Alten Testament ApkAbr 1–8 242 24,8 428 ApkMos 19,3 428 32 244 Bar 3,12 282 3,23 282 3,29– 31.36–38 283 3,29–38 282 3,30 f 283 4,36 f 323 5,1–9 323 4Esr 4Esr 330 4,40 201 4,42 201 7,1–14 201 8,20–36 329, 433 8,31–36 330 8,34–36 454 f 8,47–48 455 1Hen 36–71 137 62,4 201 93,3 f 244 93,5 209 93,8 209

Jdt 10,5 344 JosAs 5,5 210 Jub 1,24 f 195 7,20 231 10,7 242 10,10 242 12 242 30,18 424 1Makk 1,11 327 f 1,47 84, 98 1,62 84 1,63 98 2 363 2,24–27 363 2,26 362 2,49–70 363 2,50–58 424 2,52 242, 363, 424 2,54 362 2,58 363 2,70 318 2Makk 2,18 323 7 156 7,9 374

540 7,30–38 375 7,32 f.33 157 7,38 252 10,35 370 3Makk 2,17 171 2,21 97 4Makk 4Makk 153, 258 1,30–2,6 258 3,6 428 6,27–29.28 f 152, 375 7,8 223 14,20 242, 484 15,28 242, 484 16,20 242, 484 17 156 17,21 f.22 150, 152, 252, 375 18,11 242, 484 19,19 152 PsSal 11 323 17 137 17,31 323, 324 Sib 3,36–829 146 4,24–39 368

Stellenregister Sir 8,16 370 22,24 370 23,2 154 23,3 248 25,8–10 451 33,13 205 35,1–4 451 44,19–21 242, 484 45,23 f 362 SapSal 2,24 244 10,5 242, 484 12,12 205 13,6–8 231 15 205 15,7 206 15,12 206 17,21 232 SyrBar 51,17–19 230 54,19 245 TestXII TestLevi 8,8 210 TestJud 24,5 209 TestSeb 9,4 220 Tob 14,5 323

Neues Testament Mt 2,22 161 3,10 210 5,11 348 5,31 f 179 5,43 82 6,1–18 453 6,23 209 6,24 171, 427 7,1 82 7,3 468 7,16 229 8,9 169 8,11 f 315, 349 10,26 392

10,32 f 358, 367 12,27 384 15,19 368 16,18 315 17,24–27 121 18,23 f 168 21,35 378 Mk 3,31–35 452 4,22 392 6,18 182 7,14–23 98 7,15 355 7,21 f 368

Stellenregister 8,38 357 f, 367, 420 10,5–9 331 10,6 183 10,28–31 452 10,38 f.39 372 11,17 301, 312, 325, 464 12,1–9 378 12,7 196 12,13–17 121 12,40 118 13,8 201 14,25 349 14,58 325 14,66–72 358 Lk 3,9 210 6,22.22 f 115, 348 6,32 82 6,37 82 7,1–10 116 10,13–15 116 11,11 186 11,19 384 11,31 f 116 11,39–44 389 11,49.49–51 378 12,2 392 12,4–7 358 12,8 f 358, 367 12,41–46 171 12,50 372 13,28 116 13,29 456 13,34.34 f.35 116, 378 14,26 469 17,18 314 20,47 118 Joh 15,6 215 18,31 313 Apg 2,1–13 320, 325 5,33–40 385 6,1 316 6,13 f 312 7,6 171 7,52 378 7,58 f 378

8,1 386 8,3 362 8,18–24 114 f 9,1–2 362 9,18 372 9,21 362, 386 9,29 365 10,14 84, 98 10,28 98 10,35 301 11,8 84, 98 11,26 24 11,27–30 322 11,30 114, 322 12,2 316, 372 13,16 301 13,38.38 f 101, 400 15 365 15,1–4 322 15,4 114 15,30–32 445 16,21 93, 300 16,37 195 17,6 f.7 93 f, 300 17,23 231 18,2 92–94, 106, 367 18,12–17 101, 300, 445 18,18 f 104, 106 18,22 104 18,26 106 19,8– 10.8–20,1 110, 362 20,3 104 20,4 107–109 20,17 102, 150, 109 20,23 376 20,29–31 108 21 115 21–26 361 21,11–14 376 21,20 362 21,21 325, 362, 422 21,22– 26.23–26 312, 445 21,23 f 115 21,27–36 362 21,28 115 21,29 108 f, 324 f, 366 22,3.3 f.4 362, 363, 385 f, 424 22,17–21 320, 395 22,18 395

541

542

Stellenregister

22,19 386 22,20 386 22,21 395 22,25–29 195 23,6 384 23,12–22 115, 363, 366 23,16.16–22 363, 386 24,17 115 25,10.10 f 386, 195 26,11 362 26,18 221 26,32 195 28,17 375 Röm 1–3 383 1–5 68, 138, 492 1–8 411 1–14 106 1–15 87, 105 f, 109 1–16 89, 105 1 370 1,1 68, 110, 126, 138,171, 357 1,1–16.1–17 59 f, 110, 223, 240 1,1–3 446 1,1–3,20 131, 486 1,1–3,26 20 1,1–3,31 20 1,1–4 297 1,1–5 304, 382, 392 1,1–5,21 159, 492 1,1–6 96 1,1–7 60, 138 f, 224, 415 1,2 338 1,3.3 f 60 f, 103, 130, 138, 151, 159, 265, 299, 302 f, 305, 357 f, 391 1,4 140, 186, 195, 465, 476 1,5 60, 110, 122, 298, 357, 392, 395 1,6 96 1,7 61, 73, 96, 160, 450 1,8 108 1,8–13.8–15 61, 123, 415 1,9 126 1,9–15 376 1,10 89 1,10–15 415 1,12 124, 366 f, 415 1,13 104, 116, 415 1,14 123, 125,162, 302, 358, 420 1,15 87, 123, 169, 420

1,16.16 f

18, 24, 46, 61, 76, 85, 89, 96, 110, 113, 125 f, 138, 142, 145, 151, 159, 237, 240, 251 f, 294, 297, ­357–359, 367 f, 382, 415, 420, 450, 462, 472 1, 17 28, 232, 392 1,16–3,20 492 1,18 63, 65, 68, 145, 232, 242, 251, 289 1,18– 23.18–25 68, 459, 492 1,18– 31.18–32 23, 59, 62 f, 69, 80, 82, 101,138, 145 f, 158 f, 225, 228, 230, 234, 240, 258, 264, 332, 390, 422, 459, 492 1,18–2,11 422 1,18–2,16 235, 387 1,18–3,20 18, 20, 62, 64, 68, 113, 227, 229, 233, 236, 241, 277, 285, 288, 292, 294, 337, 367–369, 383, 389 f, 412, 415, 420, 422, 479 f, 491 1,18–5,21 18, 74, 299, 420 1,18–11,36 59, 62 1,19 63, 231, 233 1,20 231, 233 1,21 86, 235, 270 1, 23 86, 141, 230, 232, 249, 275, 299, 460 1,23–25 81 1,24 68, 82, 170, 232 1,24–27 232 f, 289, 370 1,24–32 68, 142,146,232, 264, 337, 487 1,25 63, 75, 233 1,25–29 343 1,26 68, 232 1,26–32 82 1,27 118 1,28 68, 82, 232 f, 468 1,28– 31.28–32 146, 233, 258, 289 1,29 63, 121, 368–370, 389 1,30 369 1,29 f.29–31 349, 368, 371, 375 1,32 233, 264 2 461 2,1.1 f.1–3 63, 97, 234, 288 f, 389, ­459–461, 468 2,1–11 136, 422

Stellenregister 2,1–16 138, 159, 243, 417, 461, 492 2,1–24 368 2,1–29 59 2,1–3,20 240 2,3 368, 461 2,4.4 f 145 f, 311, 230, 240, 251 f, 288, 422, 493 2,5 f.6 146, 235 f 2,5–11 73, 103, 146, 224, 235, 247, 287, 292, 423, 460, 473, 495, 497 2,5–16 84, 145, 461 2,6–10.6–11 285, 294, 403 2,8 145 2,8–11.9–11 64, 146, 235 2,9 f 96 2,10.10 f 297, 460 2,11 62, 171, 227, 292 2,12.12 f 177, 460 2,12–16 57 f, 63, 136, 146, 235, 292, 359, 390, 460 f, 473 2,12–24 63 2,13 229 2,14.14 f 63, 237 f, 294, 457 2,15.15 f 120, 235, 237, 247, 332, 338, 355. 422, 437, 497 2,16 61, 126, 138, 146, 228, ­235–237, 267, 284, 292, 358, 406, 415, 421 f, 461 f 2,17 97, 234, 245, 264, 288, 422, 459 2,17–24 24, 58, 97, 234, 245, 289, 354, ­388–390, 423, 447, 457, 461, 493 2,17–29 422 2,19 422 2,22 91 2,24 96 f, 348 f, 389 f 2,25–29 63, 97, 230, 422 2,28.28 f 97, 239, 265, 294, 453, 457 2,29 133, 139, 401, 443, 448 3 371 3,1.1 f 63, 68, 74, 100, 371, 438 3,1–3 375 3,1–6 59 f 3,1–8 63 f, 75, 361, 371, 407, 421, 425 3,1–8,31 97 3,3.3 f 253, 297 3,4 74, 407, 421 3,5.5 f 76, 145, 153, 172, 251 f 3,7.7 f 74, 416, 418, 421, 431 3,8 59, 64, 68 f, 72, 83, 100, 122,

543

285, 371, 396, 407, 415, 421 f, 425–428, 431, 464, 471, 495 3,9 24, 46, 96, 233, 238, 249, 297, 369 f, 415 3,9–17.9–20 59, 64, 86, 369, 389 f, 495 3,10 64, 370, 389 3,10– 12.10–18 67 f, 285, 337, 369, 371 3,10–20 289, 389 3,12 370 3,13 f.14 233, 370 3,15–17 233, 370, 389 3,18 233, 370 3,19.19 f 58, 234, 245, 247, 249, 284, 294, 369, 389 3,20 67, 154, 248, 265 3,21.21 f 61, 153, 232, 241, ­246–248, 251, 272, 335, 391 f, 394 f, 415, 484 3, 22 150 f, 154, 251, 253, 321 3,21–24 391 3,21–26 69, 81, 148, 153, 155, 2­ 51–253, 286, 292, 321, 390 f, 450, 476 3,21–31 46, 62, 64, 66, 131, 147, 155, 159, 225, 240, 250 f, 391, 402 3,21–4,25 69, 394, 412, 492 3,21–5,11 148 3,21–5,21 18, 21, 59, 64, 68, 145, 226 f, 240, 244, 250, 253, 272, 292, 294, 392, 397 f, 416, 423, 480, 486, 491 f 3,21–8,39 68 f 3,23 142, 270, 275 3,24.24 f 78, 151, 153 f, 240, 253, 393 3, 25.25 f 35, 61, 65 f, 130, 133, 138, ­147–155, 211, 218, 228, ­250–253, 321, 376, 423, 446, 475 f, 484 3,26 240, 251–253, 294 3,27 65, 154, 245, 264, 447 3,27– 30.27–31 58, 97, 391 3,28.28 f 65, 131, 246, 294 f, 391 3, 29.29 f 61, 65, 151, 225, 246, 253, 391 3,30.30 f 154, 283, 297, 321 3, 31 264 4 75, 131 f, 243, 247, 309 f, 338 4–5 395 4,1 97, 247, 265, 416, 420 4,1–12 97, 155 4,1–16 416

544

Stellenregister

4,1–25

46, 48, 59, 62, 64 f, 66, 131, 251, 258, 294, 394, 402, 310, 446, 464, 481 4,1–5,21 20, 394, 402, 445 4,2 246 f, 425 4,3 65, 251 4,4 240, 246 4,5 65, 241 f, 288, 493 4,6 132 4,6 f.6–8 250 f, 394 4,7 244 4,8 240 4,10–12 343 4,11.11 f 239, 295, 310, 446 4,13 65, 67, 75, 140, 298, 309 4,14 f 65, 294 4,15 145, 244 f, 247 f, 278, ­288–290, 457, 493 4,16 95, 97, 240, 416 4,16–22 290 4,17 67, 151, 240, 246, 310, 394 4,18 67, 309 4,19 246, 343 4,20,20–22 254. 465 4,23–25 155 4,24.24 f 130, 151, 240, 416 4,25 66, 68, 130, 155, 251, 475, 484 5 5–8 5,1.1 f 5, 2

74, 132, 243 68, 74 66–68, 156, 240, 393 69, 74, 151, 240, 245,247, 321, 476 5,1–5 254, 292 5,1–11 59, 66, 68 f, 147, 159, 242, 250, 416 5,1–21 69, 74, 402 5,1–8,39 62 5,3 74 5,5 66, 74, 156, 158, 202, 242 f, 448, 461, 497 5,5–11 390 5,6 66, 147, 241 5,6–10.6–11 228, 254, 292, 461, 475, 477 5,7 147, 155 5,8 66, 74, 130, 147, 156, 158 f, 242 f, 254, 288, 376, 497 5,8 f.8–10 248, 252 5,9 67, 145, 151, 156 f, 252 5,10.10 f 66, 133, 147, 157–159, 228, ­240–242, 254, 258, 287, 394, 416

5,11 5,12 5,12–21

67, 99, 156, 240, 245 67, 249, 318, 430 59, 67–69, 86, 102, 242, 248, 254, 258, 260, 337 f 5,13.13 f 245, 248, 278, 290, 457 5, 14 245 5,15 67, 151, 240 f, 244, 254, 423 5,15–17 67 5,16 126, 163, 240, 249, 423 5,16–19 67 5,17 67, 101, 140, 151, 159, 224, 240 f, 249, 254, 272, 297, 474 5,18 67, 86, 254, 284 f, 292, 294, 394, 423 5,18 f.19 67 5,18–25 292 5,20.20 f 67, 241, 248–250, 261 f, 290 f, 332, 338, 428 5, 21 59, 67, 69, 78, 86, 159, 161, 249, 255, 262, 272 6

169, 175, 184, 201, 217, 372, 397, 400, 402 6–7 428 6–8 68, 73 f, 81, 85, 129, 136, 139, 160, 196, 202, 225, 298, 335, 371, 398, 402 f, 421 f 6–9 64 6,1 68 f, 78, 161, 298, 254, 396, 426 f 6,1 f 97, 425 f 6,1–8 416 6,1–11 59, 69 f, 73, 81, 130, 132, 160, 176, 203, 225, 228, 256, 267 f, 292, 294, 355, 372, 396–398, 402, 481, 493 6,1–22 176 6,1–7,25 69 6,1–8,11 361 6,1–8,39 18, 20 f, 47, 59, 67–69, 74, 147, 226 f, 248, 254 f, 259, 266 f, 288, 292, 294 f,396, 413, 416, 425, 486, 492 6,2–4 130 6,3 398, 427 6,3–6 299 6,3–11 372 6,4 69, 73, 160, 227, 268, 299 6,4–8 196, 203 6,4–11 288 6,5 267 6,6 42, 69, 202, 267–269, 299, 398

Stellenregister 6,7 35, 178, 268 6,8 69, 255, 257, 268, 267 f, 270, 398 6,9 172 6,10 35, 70 6,11–14 427 6,12 161, 169, 298 6,12 f.13 70, 82, 162, 169 f, 172 f, 217, 258 6,12–14 160 6,12–23 60, 70, 73, 160 f, 176, 198, 257, 268, 403 6,12–7,6 258 6,14 161 f, 186, 259, 291 6,15 78, 97, 125, 218, 228, 255, 396, 425–427 6,15–23 160 6,16.16 f 161, 164, 169 f 6,16–23 298 6,17 f.18 68, 70, 169 f, 201, 257, 403 6,17–23 170 6,18 403 6,18 f.19 69, 161, 170, 172 f, 217, 258, 418 6,19 f.20 70 f, 170, 173, 175, 403 6,21 257, 298 6,21 f.22 68–71, 173, 175 f, 185, 201, 225 6,22 f.23 70, 73, 160, 163, 169 f, 175 f, 257 f, 294 6,24–26 251 7

177 f, 260, 262, 266, 270, 295, 359, 399 f, 402, 415, 417, 419 f, 426, 428, 432, ­434–437, 441, 462, 464, 495 7–8 261 7,1 97, 176–179, 184, 398, 418 7,1–3 179 7,1–6 60, 71, 160, 175 f, 179, 268, 278 7,1–25 70 7,2 71, 177–180, 185 7,2 f.3 68, 70, 178 f, 182–184, 203, 225, 257, 259 7,3 f 195 7,4 183–185, 203 7,4 f.5 71, 185,225, 258 f, 372, 432 7,4–6 203, 416 7,5 f.6 72, 133, 184 f, 257, 260 f, 265, 401, 435, 447, 462 7,6–25 427 7,7 71, 258 f, 261, 263, 289, 396, 416 f, ­425–428, 431 7,7–13 71, 177, 249, 262 f, 288, 372, 399, 420, 431–433

545

7,7–23 7,7–24 7,7–25

259, 426, 428, 434, 464 399, 462 22, 42, 58, 60, 71 f, 97, 185, 258, 262, 295, 337, 359, 400, 416–419, 426, 431, 435, 447, 462, 493 7,7–8,11 265 7,8 71, 258, 261, 290 f, 429 f 7,8 f.9 42, 261 f, 430–432 7,9 f 260, 428 7,9–11 387 7,10 430 f 7,11 260, 262, 291, 387, 429 f, 433 f, 457 7,12.12 f 57 f, 71, 262, 265, 335 7,13 177, 262, 265, 399, 429, 462 7,14 171, 335, 262 f, 265, 402, 432 f, 462 f 7,14–23 260, 263, 426, 431 7,14–24 463 7,14–25 19, 41, 72, 265, 270, 432, 462 7,15 72, 262, 265, 432, 434, 464 7,17 262, 432, 463 f 7,18 262, 418, 463 7,19 72, 83, 122, 177, 225, 399, 425 f, 432 7,20 262, 432, 463 7,21 72, 122, 177, 246, 263, 399, 418, 434 7,21–23 261 7,22 432 7,22 f.23 57, 70, 160, 198, 228, 259, 261–263, 370, 401, 429, 432, 434 f, 463 7,24 436 f, 462 f 7,24 f.25 72, 257, 270, 288, 401, 419, 431, 436, 462–464 7,25–8,39 462 8

72–74, 186, 196–198, 200, 202, 270, 374, 402, 417, 463, 465 8,1 72, 103, 403, 423 8,1–7 185 8,1–17 132, 259 8,1–30 60, 72 8,1–39 69 f, 465 f, 493 8,2 68, 70, 72, 198, 201, 257, 261, 265, 372, 401, 436, 462 f 8,2–11 463 8,3 155, 265, 290, 429, 486 8,3 f 132, 158, 251, 257

546

Stellenregister

8,3–11 73, 263, 285, 449 8,3–17 268 8,4 58, 75, 335, 402, 417 8,4–13 195 8,5 f.6 429, 372, 463 8,7 70, 228, 259, 265, 429 8,9 463 8,10 154, 257 8,11 266 8,12 417 8,12–17 73, 132, 160, 198 f 8,13 257, 429, 448, 475 8,14 75, 186, 195, 197 f, 200 8,14–17 70, 197, 477 8,15 73 f, 160, 186, 189–191, 195, 198–200, 203, 227,257, 269, 299, 403, 416 463 8,15–17 140, 194 8,15–27 417 8,16 200, 203 8,16 f.17 73 f, 194–196, 200, 224, 255, 270, 402 f, 474 8,18 403, 418 8,18 f.19 70, 201 8,18–21 201 8,18–25 69 8,18–27 259 8,18–30 73, 199, 268 8,18–39 74, 160 8,19–22 270 8,20 74, 201, 259, 270 8,21 68, 70, 73, 201–203, 225, 257, 268, 270, 403 8,21 f 284 f, 201–203, 259, 294, 403 8,22–27 201, 449, 465 8,23 70, 74, 170, 190, 195, 201 f, 209, 259, 268, 403, 463 8,24 202 8,24 f 74 8,26 199, 202, 403, 475, 497 8,26 f.27 74, 102, 259, 267, 292, 449, 461 8,28 152, 203, 374, 449 8,28–30 288, 292 8,29.29 f 70, 195, 202 f, 254, 256, 270, 291 8,30 74 f, 256, 269 f 8,31 416 8,31–34 103, 147, 292, 403, 423, 461 8,31–35 373 8,31–39 48, 60, 69, 73, 79, 84, 86, 159, 224, 254, 256, 267, 269, 272, 287, 355, 372, 403

8,32 8,33 8,34 8,35.35 f

86, 130, 147, 256, 376 73 f, 76, 271 159, 254, 267, 372, 403, 497 74, 267, 289, 367, 372–375, 403, 495 8,36 68, 289, 300, 374 8,37 74 8,37–39 203 8,38 418 8,38 f.39 74, 267, 270, 416 f 9

74 f, 77 f, 80, 113, 131, 204, 208, 216, 273, 275, 309, 405, 407 9 f 406 9–11 46, 63 f, 68, 75–77, 79 f, 82, 84 f, 112 f, 115, 126, 132, 136, 204, 216, 271, 273 f, 278, 280, 282, 285, 309, 316, 334, 359, 371, 375 f, 381, 383, 404 f, 409–411, 417, 421, 438, 440 f, 466 f 9–13 286 9,1 69, 74, 407, 418, 421, 438 9,1–5 60, 74, 76, 81, 95, 97, 275, 359, 361, 407, 410, 417, 438 9,1–33 77 9,1–11,36 19–21, 60, 64, 75 f, 226 f, 271, 288, 292, 294, 383, 398, 407, 487, 491 f 9,2 275, 375 9,3 29, 113, 265, 275, 375 f, 407, 418, 439 9,4 75, 190, 195, 199, 261, 275 9,4 f.5 78 f, 265, 275, 407 9,5 f 113 9,6 113, 117 9,6–8 131 9,6–13 310 9,6–23 279 9,6–29 76, 338, 411 9,6–33 60, 77, 294, 477 9,6–10,21 76 9,8 307, 310 9,9 113 9,11 79, 152, 271 f, 274, 277, 280, 409 9,11 f 288, 493 9,11–13 410 9,13 77, 113, 271, 311, 418 9,14 417 9,15 81, 113, 229, 271 f, 274, 418, 466 9,16 271, 277, 333 9,17 113, 272, 418

Stellenregister 9,18 117, 217 9,19 205, 273, 417 9,19– 21.19–23 97, 113, 204 9,19–11,24 20 9,20 204 f, 234 9,21 79, 117, 205 f, 208 9,21–23 294 9,22 145, 207 f, 216 9,22 f.23 271, 276, 285 9,23 24, 97, 411 9,24.24–26 199, 207 9,25.25 f 77, 113, 199, 274, 410, 418 9,25–28 114 9,27.27–29 95, 199, 379 9,28 335 9,29 76, 276 9,30 76 f, 333, 417, 438 9,30–33 77 f, 80, 274, 288, 409, 457, 467, 274, 288, 467 9,30–10,4 333, 439 9,30–10,31 76 9,31 77, 117, 276, 333, 335, 411, 333, 335 9, 32 77, 277, 438 9,32 f.33 75–79, 112–114, 228, ­279–282, 292, 319, 333, 411, 418 10 10,1 10,1 f.2

80, 274, 277, 405, 466 76 f, 113, 276, 359, 438 19, 76, 113, 261 f, 265, 276, 387, 411, 417 f, 420, 438, 439 f, 457, 466 10,1–5 78, 277, 371, 440 10,1–10 97 10,1–21 60, 78 10,2 f.3 276 f, 439, 447 10,4 77, 132, 278, 333, 335 f, 409 10,5 274, 276, 334, 439, 466 10,5–8.6–8 279, 282, 292, 334, 461 10,5–13 62, 334, 409 10,5–21 78 10,6 78, 117, 130, 280, 334, 466 10,8 334, 417 10,8–13 292 10,9 279, 283 10,9–13 461 10,10 79, 117 10,11 76 f, 333 10,11–14 97 10,12 24, 96, 274, 297, 333, 411

547

10,15

111, 116,138, 276, 371, 386, 389, 405 10,16 126, 276, 352, 466 10,17 218 10,18 417 f 10,19 113, 411, 417 10,19–21 418 10,20 113 10,21 78, 80, 98, 113,117, 274, 362, 379, 405, 411 11

77 f, 80, 113, 204, 210 f, 213 f, 216 f, 227, 382 11,1 77 f, 97 f, 359, 376 f, 379, 404, 407, 417 f, 421, 438 11,1 f.2 76, 275, 376 f, 381, 411, 440 11,1–4.2–4 310, 368, 420, 466 11,1–6 76, 115 11,1–10 78 11,1–24 76 11,1–32 60, 78, 438 11,1–36 76, 78 11,2 f.3 289, 311, 338, 377 f, 380, 405, 418, 495 11,2–6 276 11,3 f.4 377, 380 f, 418 11,3–6 78 11,5 271, 280, 377, 409 11,5 f.6 78, 95, 409 11,7 113, 117, 271, 276, 280, 411 11,8 78, 111, 276, 281 11,9.9 f 75.280 f, 426 11,10 78, 276, 282 11,11 116, 223, 274, 281 f, 333, 411, 417 f 11,11–15 467 11,11–24 79, 97, 112 11,11–27 405 11,11–32 125 11,12 282, 284, 316 11,13 96, 417 f 11,13 f.14 112, 116, 411, 417 11,13–15 96 11,13–24 298 11,15 113, 394, 411, 441 11,16 206, 209, 211, 440 11,16–24 209 11,17 96 f, 117, 210, 213 f, 217 11,17 f.18 95, 117, 210, 410 11,17–24 79, 113, 126, 209 11,19 212, 214 f, 418

548

Stellenregister

11,20 11,21 f.22 11,22 f.23 11,24 11,25

210, 215, 223 215, 223 112, 117, 216 212 f, 216 111 f, 114, 276, 282, 311, ­316–318, 320, 324, 326, 380, 411, 418, 450, 466, 494 11,25 f.26 14, 75, 79, 100, 111–114, 116, 131, 237, 275, 280–282, 284, 311, 316, 318–320, 359, 404–406, 411, 446 11,25–27 111, 152, 286, 365, 381 f, 440, 445 11,25–28 435 11,25–29 227 11,25–31 292 11,25–32 76, 79, 80, 292, 294, 393 11,26 f.27 46, 75, 79, 113, 116, 228, 261, 275 f, 321, 418, 435 11,28 96, 117, 209, 261, 271–273, 280, 288, 320, 407, 471, 487, 493 11,29 86, 93, 163, 218, 272 11,29–32 86 11,30 117 11,30 f 276 11,30–32 272 11,32 60, 79, 81, 113, 272, 284 f, 309, 410 f, 421, 487 11,33 227, 487 11,33–36 60, 79, 86, 280, 285, 338, 441 11,36 19, 62, 284 12 133, 219 f, 224 12–13 83 12–15 217 12,1 69, 75, 81, 110, 122, 218, 286, 418 12,1 f.2 53, 81–83, 87, 122, 225, 275, 286, 445 f, 449, 451, 476 f, 491 12,1–3 87 12,1–13,14 60, 81 f, 85 12,1–15,13 60, 81, 132, 286, 335, 417, 491 12,3 82, 122, 350, 417 f, 451 12,3–8 83, 449 12,3–21 83, 225, 487 12,4 117 12,4 f.5 218, 220 f, 286, 492 12,4–8 102 12,6 117, 350 12,8 f.9 85, 122, 226, 354 12,9–21 83, 132

12,9–13,14 449 12,10 447 12,11 171, 354 12,13 214, 217 12,13 f.14 82, 100 12,16 302, 312, 350 12,17 122, 447 12,18 447 12,18 f.19 119, 145, 285, 354, 418 12,19 f 82 12,21 82 f, 122, 449 12,27 220 12,28 449 12,30 449 13 128, 220 13,1 117,491 13,1–5.1–7 20, 83, 102, 117, 119 f, 126 f, 132, 350, 490 f 13,2 118 13,3 f.4 82 f, 120–122, 145, 449 13,5 83, 120, 145 13,6 120 f 13,7 120 f 13,8 82 13,8–10 58, 83, 85, 132, 226, 278, 332, 335, 338, 350, 354, 447 13,9 82, 82, 127, 258, 262, 428, 491 13,11 f.12 82, 117, 162, 286, 452 13,11–14 83, 286, 349 13,13 289, 350, 368 13,13 f.14 222, 262, 286, 289, 349, 429 13,25 417 14 289, 473 14–15 133 14,1 349, 472 14,1 f.2 341 f 14,1–6 353 14,1–12 84, 224, 473, 497 14,1–23 287 14,1–15,6 60 14,1–15,7 108 14,1–15,13 84 f, 95, 97, 126 f, 339, 342 f, 352, 354 f, 446, 474 14,3 341, 349 14,3 f.4 99, 222 f, 353, 473 f 14,5 342, 353 f, 473 14,6 342, 354 14,7 223 14,7–12 147

549

Stellenregister 14,8 127, 147, 287, 354 f 14,8 f.9 84, 127, 223 14,10 234, 341, 349, 474 14,10–12 103, 287, 354, 423, 453, 473, 475 14,11 98, 354, 418 14,11 f.12 95, 147 14,13 97, 281, 350, 453, 472 14,13–23 84 14,14 97 f, 348, 354 f, 350, 354, 418 14,15 130, 147, 226 14,15 f.16 342, 348, 354, 474 14,17 127, 302, 318, 349, 446 14,18 171, 342, 349 14,20 98, 348 14,20 f.21 341 f, 352, 474 14,22 355, 472, 474 f 14,22 f.23 85, 102, 105 f, 127, ­287–289, 351, 354 f, 351, 354 f, ­472–475, 477, 491, 497 15 89, 224 15 f 342 15,1 298, 340–342, 352 15,1–6 85, 348, 473 15,1–9 355 15,1–16 106 15,1–33 472 15,2 354 15,3 281, 474, 478 15,6 86, 98, 106, 160 15,6 f.7 86, 97, 287, 343, 348, 491 15,7 f.8 348, 418 15,7–13 60, 81, 84–86, 106, 128, 132, 225, 275, 281, 286, 298, 326, 356, 448, 491 f 15,8–13 21, 75 15,9 86, 96, 98, 106, 309, 326, 343 15,9–12 17, 106, 446, 451 15,10 98, 114, 326 15,11 98 15,11 f.12 84, 139, 223 f, 299, 305, 326, 338, 356, 446, 474 15,13 60, 81, 85, 127, 349, 472 15,14 418 15,14 f.15 110, 122, 343, 352, 417 f, 451 15,14–16 477 15,14–21 418 15,14– 32.14–33 60, 86, 99, 110, 114, 223, 346, 418 15,14–16,23 86

15,15 f.16

75, 81, 110 f, 223, 275, 322 f, 325 f, 446, 465, 476 15,18 106, 418 15,19 110, 126, 394 f 15,20 106, 123 15,20 f.21 95, 111, 323 15,20–23 116 15,22 104, 116 15,22– 24.22–29 123, 418 15,24 61, 125 15,25.25 f 96, 108, 110, 323, 360, 365 15,26.26 f 214, 360 15,27 f 365 15,29 f 87, 116, 418 15,30 f.30–32 87, 89, 360, 366, 379, 382, 418, 495 15,31 108, 114, 289, 311, 360, 364, 366, 376, 379 15,33 60, 105 f, 127 16 87–90, 105–109 16,1.1 f 99, 105 f, 108 16,1–23 60, 87, 106 16,3 106 16,4 107, 109 f, 418 16,5 95, 106 f, 109, 209 16,6 110 16,7 105, 107, 110 16,8 107 16,9 107, 110 16,10 95, 109 16,11 95, 105, 109 16,12 107, 110 16,13 107, 271 16,14 95 16,15 95 16,16 109 f 16,17–20 87, 108 16,18 171 16,19 107 f 16,20 117, 127, 139 f, 471 16,21 105 16,22 87, 418 16,22 f.23 99, 102, 109 16,25 106, 126 16,25–27 105 f, 472 16,26 106 1Kor 1 Kor

282

550 1,2 95 1,13 218; 1,14 99 1,18–31 101, 280, 420, 458, 482 1,18–4,21 86 1,22–25 280 1,23 458, 481 1,26 302, 305, 341 1,26–29 301 1,27 f 280 2,6–8 282 2,6–16 129 2,8 333 2,16 79, 285 3,5–15 204 3,10 444 3,11 315 3,16 f 312, 315, 320 3,22 f 269 4,1–5 399 4,5 284 4,4–5. 237 4,8 101, 140 4,9 115 4,9–13 420 4,10 341 4,10–13 374 4,20 318 5,9 295 5,10.11; 368 6,2 f 140 6,9 f 318 6,12 419, 431 6,15 218, 419, 431 6,19 312 6,20 171 7, 4 178 7,10 f 355 7,12 f. 180 7,15 178 7,19 448 7,23 166 7,25 393 7, 27.39 178 7,39 178, 399

Stellenregister 8–10 133, 342 8,1 341 8,1–11,1 127, 339, 351 8,6 48, 62 8,7 82, 343, 351 8,7–13 102 8,9 340, 349 8,10.10 f 341 f, 351 8,11 130, 147 9 467 9,1–23 425 9,5 343 9,8 172 9,9 337 f 9,19–23 46, 355 9,20 431 9,20–23 467 9,22 340 9,27 468 10,3 f 307 10,12 223 10,17 218, 220 10,16 f 102 10,18 307, 309 10,19–22 342 10,21 281 10,22 340 10,25 120, 346 10,25–30 102 10,27 120 10,27–30 342, 351 10, 27–29 82 10,28 120 10,29.29 f 120, 419, 431 10, 30 431 10,32 342 10,33.33 f 342, 431 11,1 355 11,10 244 11,29 218 12 133, 219 f 12,12.12 f 102, 220 12,12–30 218, 220 12,13 82, 102 12,15 426 12,15–21 220 12,16 426 12,21 426

Stellenregister 12,22–24 220 12,27 220 13 86 13,1.1–3 102, 419, 431 13,11 f 419, 431 13,13 85, 449 14 102 14,11 419, 431 14,14.14 f 419, 431 14,18 408 14,23 f 318 14,25 284 15 132 15,1 223 15,1–8 139 15,3 484 15,3–5 130 15,9 362, 399, 434 15,10 261, 391 f, 408, 459 15,17 484 15,20– 22.44–49 68 15,21 f. 102 15,22 338 15,23 139 15,25 139 15,28 49, 79, 254, 285, 293, 497 15,32 107 15,20–22 242 15,24 318 15,26 245 15,42–49 245 15,44–49 338 15,45–49 242 15,50 318 15,51 112 45–49 102 16, 1–4 99 16,3.3 f 324, 365 16,4 322, 365 16,13 223 16,12 108 16,15 209 16,15–20 87 16,15–18 108 16,19 107, 366 16,20 105

551

2Kor 1 366 1,1 95 1,4 f.5 366 f, 403 1,6 403 1,7 403 1,8–11 107, 300, 366 1,9.9 f 102, 115, 366, 403, 423 1,10 366 1,11 423 1,16 365 1,24 223 2,4 381 2,5–11 101 2,16 62 3,1–3 237 3,1–18 465 3,4–18 387 3,6 53, 72, 133, 260, 401, 435, 443, 457 3,12–18 405 3,14 176 3,15 f.16 319 f, 387, 405 3,16–18 46, 319 3,17 320, 403 4,1 393 4,8–12 374 4,14 130 5,1 325 5,13–21 133 5,14 159, 254 5,15 159, 484 5,16 432 5,17 443 5,19 394 5,20 157 6,4–10 374 6,7 162 6,9 115 6,16–18 295 8 f 360 10–13 361 10,4 162 10,10 101, 129 11,2 184 11,3 244, 260 11,16 425 11,18 265 11,21 420 11,22 f 408 11,23–27 374

552

Stellenregister

11,24–29 115 11,27 373 12,11 420 12,20.20 f.21 170, 368 f 13,12 105 Gal 1–2 130 f 1,1–10 365 1,2 95 1,4 130 1,8 401, 407 1,8 f.9 308, 401, 407 1,10 171 1,13 386, 393, 399 1,13 f.14 121, 281, 362, 380, 385 f, 424, 400, 408, 411, 436, 439, 459 1,13– 16.13–17 393 f, 398, 402 1,15.15 f.16 261, 357, 386, 391–393, 395, 431 1,17 271 1,23 362, 386 2,1–10 308 2,1–14 100 2,3 366 2,4 114, 308 2,5 408 2,7 394 2,9 315 2,10 322, 360, 364 2,11–14 127, 362, 458 2,11–21 101, 401 2,13–16 385 2,14 352 2,15 394, 397 2,15–21 383, 397 2,16 101, 246, 391, 397, 401 2,16–18 397 2,17 398 2,18 f. 184 2,18– 20.18–21 398, 400, 419, 431 2,19.19 f 431, 159, 254, 336, 397 f 2,20 130 2,21 393 3 202, 306 f, 309 f, 338 3–4 131 3,1–5 131 3,2 465 3,2 f.3 100, 401 3,6–29 131, 199, 405

3,7–12 62 3,10 100, 447 3,13 46, 100, 336, 376, 439, 458 3,15 172 3,16 131, 306 3,19 51, 100, 249 f, 319 3,19–4,7 278, 335 3,21 45, 290 3,22 62 3,24 62, 197, 250, 335 3,25 132, 278 3,26 150, 197, 200, 202, 321 3,26–29 132 3,27 132, 222, 398 3,28 200, 202, 307 3,29 196 4 197 f, 200, 307, 309 4,1 196 f 4,1–6.1–7 132.197 4,2 197 4,3 171 4,4 f.5 190 f, 195, 197 4,5–7 197–199 4,6 195, 199 4,6 f.7 196, 198, 200 4,8 171 4,8–11 249, 401 4,9 100 4,12–20 131 4,17.17 f 24, 394, 407, 400 4,21–31 131, 171, 198 f, 282, 310, 324, 405, 452 4,22 f 198 4,23–31 198 4,24 337 f 4,24 f.25 198, 282 4,26 319 4,29 198 4,30 f 198 5,1 122, 132,171,223 5,3 99, 447 5,4 223 5,6 448 5,11 94, 386, 400 5,12 100 5,13 122, 132, 171 5,13–15 449, 486 5,13–6,5 448 5,13–6,10 132 5,14 100, 132, 278, 332, 338, 401, 447 5,15 448, 486

Stellenregister 5,17 429, 465 5,18 401, 447 5,19 170 5,19–21 368 5,21 318, 368 5,23 447 5,24 429, 448,469 5,25 448 6,2 132, 332 6,3 433 6,10 448 6,11 130 6,12 94, 309 6,14 299 6,15 443, 448 6,16 307–309, 311, 405–407 Eph 1,5 190, 195 1,22 f 220 2,1–10 462 2,6 475 2,18 151 3,1–13 406 3,12 151 3,17 150, 321 4,15 f 220 4,17–19 368 4,20– 24.22–24 222, 462 4,25 220 5,3 170 5,8–14 221 5,14 221 5,23 220 6,5 186 6,5–8 169 6,11–17 162 6,14 223 Phil 1,1 96, 171 1,12 385 1,12–18 110 1,19–26 115 1,25 385 2,7 171 2,7 f 169 2,11 450 2,17 223 2,22 172

553

3 277, 407, 439 3,2 406 3,2–10.2–11 101, 277, 385, 392–394, 398, 400–402, 439 f 3,2–21 361 3,3 401 3,4 266 3,4–11.6–11 262, 275, 383, 407, 434, 439 3,5 f 153, 363, 432 3,5–8.5–11 380, 407 3,6 42, 56, 121, 266, 277, 362 f, 380, 399, 411, 424, 432, 439 3,8 394 3,9 277, 391, 393 3,18.18 f 400 f, 108, 407 3,20 311 4,1 223 4,21 105 Kol 1,12 f 221 1,18 220 1,21–23 462 1,24–29 406 2,12 475 3,5 170 3,5–9.5–11 368, 462 3,9–11 222 3,22–25 169 1Thess 1,3 85 1,4 409 1,7 f 108 1,9.9 f 139, 387 1,10 111, 145 2,12 318 2,14 24 2,14–16 113, 261 2,15.15 f 115, 138, 378, 458, 399 2, 16 14, 145, 261, 405, 409 3,8 223 3,12 338, 468 4,1 122 4,9 470 4,13–18 139 4,15 112 4,17 112, 139 5,1–8 221 5,1–11 221 5,6 221

554 5,9 145 5,10 130, 147 5,26 105 2Thess 2,3–12 117 2,5 117 2,13 209 2,15 223 1Tim 1,2 309 1,15 262 4,4 355 5,3–16 183 6,1 f 169 6,4 368 6,15 161 2Tim 1,2 309 1,8 357 2,8 126, 420 4,11 f 107 4,19 f 107 Tit 1,15 355 2,9 f 169 3,3 368 Phlm 24 107 1Petr 1,1 104 1,5 392 1,12 392 1,20 392 2,1 368 f

Stellenregister 2,9 221 2,13 117 2,18 169 4,3 368 4,6 172 4,14 348 4,15 368 2Petr 2,14 181 2,19 171 Hebr 6,8 333 6,20 317 9,5 149 9,11 f.12 150, 317 9,16 f 196 9,24 f 317 10,19 317 10,19–22 151 11,17–19 242, 424, 484 11,37 378 13,11 f 150 Jak 1,15 428 2,18–24 424 2,21–24 242, 484 3,1 118 4,4 181 4,11 369 Apk 1,1 171 7,3 171 9,21 368 19,5 171 21,8 368 22,15 368

Neutestamentliche Apokryphen 1Clem 3,2 368 10,7 242, 424, 484 30,1 369 30,3 369 35,5 368 55,1 155 f 55,2 167 f

2Clem 4,3 368 ActThom 2 167 167 167

14. Sach- und Stichwortregister

Abendmahl  13, 33, 102, 129, 446, 451, 454 Aberglaube  81, 91, 328, 345 f Abraham  17, 20, 42, 46, 62, 64–70, 75, 80, 97, 131 f, 140, 155, 190, 199, 209 f, 214, 238 f, 241–244, 246 f, 251, 254, 258, 265, 288–290, 294 f, 305–307, 309–311, 327, 336, 338, 343, 349, 363, 376, 379, 394 f, 402, 405, 408, 411, 413, 416, 420, 421, 423–425, 445 f, 452, 464 f, 484, 494 Adam  20, 42, 64, 67–69, 71, 74, 102, 177, 209, 230, 242–246, 248, 254, 258–260, 268–270, 278, 288 f, 336–338, 344, 394, 398 f, 417, 420 Adam-Christus-Typologie  66–68, 86, 102, 132, 242–245, 254, 260, 423, 430 f Adoption  70, 72 f, 136, 186–203, 255, 268 f, 410, 463, 492 Affekt  120, 233, 235, 258 f, 260, 428 Antiimperiale Paulusexegese  41 f, 94, 490 Antijudaismus, antijudaistisch  35 f, 59 f, 126, 438 Antiochenischer Konflikt  46, 100 f, 127, 352, 362, 383, 392, 397, 399 f Antiochien  24, 91, 131, 301, 321, 352, 397, 401 Antisemitismus, antisemitisch  52 Apokalyptik, apokalyptisch  34, 38, 45 f, ­47–50, 162, 266, 368, 374 Apollos  108, 129, 269 Apostelkonzil  93, 95 f, 99 f, 114, 308, 321 f, 324, 362, 365 f, 401, 404 Apotheose  103 f, 140 f, 232, 303 f, 460 Apocolocyntosis  103, 119, 140, 304, 492 Augustus  90–92, 103, 117, 140, 162 f, 165, 183, 188, 190, 220 Barnabas  322, 352, 408, 495 Bekehrung (allgemein)  29, 79, 112, 221, 242, 264, 284, 319, 320, 323, 330, 397, 458, 462 f Bekehrung des Paulus  33, 44, 45 f, 101, 114, 264, 277, 320, 332, 371, 385, 387, 389– 395, 399 f, 404, 106, 408, 424, 431, 432, 433–435, 439, 456, 462, 464, 495 Berufung (allgemein)  96, 113, 207, 221, 272

Berufung des Paulus  131, 261, 357, 386, 391–305, 399, 431, 434, 456 Bildfeld  20, 68, 135 f, 138, 148, 157, 170, 172, 184, 221, 492 Bildfolge  20, 159, 202, 216, 224, 492 Bildsemantik, bildsemantisch  13, 19 f, 23, 135–226, 482 Buchstabe und Geist  39, 63, 72, 133, 185, 239, 257, 260 f, 265 f, 278, 334, 401, 435, 443, 447, 457, 462, 465 Bundesnomismus  37, 40, 42–44, 52, 294 f Burrus  103, 117, 119, 123 Christus  13 f, 17 f, 20, 24, 30–36, 42–46, 48, 51 f, 54, 61, 64–70, 73, 75–80, 83 f, 86, 93, 98, 102 f, 106, 108, 111, 116, 123, 127, 130–133, 136, 139 f, 145, 146–148, 151, 152 f, 154, 155 f, 158, 160 f, 163, 169, 171, 184, 195–197, 200, 202, 216, 218, 220–225, 227 f, 235–237, 239, 242–245, 248, 250 f, 253–257, 260 f, 265, 267–270, 274, 277–283, 285–288, 292 f, 295, 299, 302, 303.307, 315, 316 f, 319–321, 324, 326, 332–336, 338, 340, 344, 348, 354–357, 362, 365, 372, 374–376, 381, 390–393, 395–398, 401–404, 406–408, 413, 416, 420, 423, 426 f, 432, 435 f, 438–440, 444, 448, 450–454, 456–458, 460, 462, 465 f, 472–481, 484, 486, 493–497 Christusmystik  34, 36–38, 42, 44 f, 50, 54, 69, 255 f, 267, 270, 295, 355 Claudius  19, 21, 42, 87, 91–95, 98 f, 103 f, 107, 116–119, 122 f, 140–142, 145, 182, 195, 300, 304, 346–348, 367,369, 374, 329, 391, 490 f, 494 Claudiusedikt  87, 92–95, 98, 145, 300, 347 f, 391, 494 David  60, 98, 136, 137, 139, 141, 224, 251, 265, 297, 303, 394 (s. auch Davidssohn) Davidssohn  60, 136, 139, 141, 224, 265, 297, 302 f, 357, 391 Diaspora  316, 323 f, 326, 330, 356, 383 f, 386–388, 390, 410–412, 454 Diatribe  97, 204, 372 f, 416, 431

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Sach- und Stichwortregister

Eifer, Eifern  19, 36, 39, 40, 56, 77, 121, 261, 262, 265, 276–279, 281, 284, 291, 315, 329, 333, 362 f, 365, 380 f, 383, 384–387, 389, 392–394, 398, 400 f, 408, 411 f, 424, 430, 432 f, 435 f, 437–441, 447, 457, 459, 467, 479 Elia  76, 78, 113, 115, 137, 276, 288, 311, 338, 363, 368, 375, 377–381, 405, 411, 418, 420, 424, 440, 466, 495 Entlutheranisierung  32–34, 37 f, 54 Entmythologisierung  23,69, 230, 235, 486 Ephesus  87–89, 95, 101–110, 123, 163, 195, 300, 325, 362, 366, 402 f, 423, 491 Erwählungslehre  19, 21, 34, 78, 81, 227 f, 279, 286, 291 f,  294, 383, 409 f, 412, 414, 417, 493, 495 Esau  77, 271, 274, 338, 405, 411 Eschatologie, eschatologisch  18, 34, 38, 42, 44 f, 47 f, 49, 52 f, 79, 83 f, 114, 138,140, 224, 232, 235 f, 285, 293–295, 297, 349, 351, 377, 451 f, 463 Essener  21, 83, 413, 456, 458 Ethnizität  24, 305, 306, 311, 336, 340 Ethnos  25, 306, 210, 494 Ethnozentrismus, ethnozentrisch  52 f, 271, 336, 444, 469 Evangelium  28, 31 f, 35 f, 45 f, 50, 59–61, 64 f, 79–81, 86 f, 95 f, 106, 109 f, 113, 122–126, 138 f, 141, 145 f, 148, 159, 167, 223 f, 227, 235, 236 f, 239, 261, 272–277, 284, 289, 291 f, 297, 299, 304 f, 322, 356–359, 361 f, 367, 371, 375 f, 381 f, 390–392, 394 f, 404, 406–408, 415, 420–422, 435, 238, 462, 466 f, 477, 487, 493, 495 Existenziale Interpretation, Existenziale Theologie  21 f, 34–36, 38 f, 47, 228, 279, 291, 429, 470, 489 Frau als Bild  20, 68, 70 f, 73, 136, 160, ­175–185, 187, 191 f, 196, 200, 202 f, 225, 227, 255, 258, 268, 270, 278, 299, 398, 492 Freilassung  90, 102 f, 160–175, 203, 300, 303, 403 Fundamentalismus, fundamentalistisch  328, 383, 387, 389, 390, 423 f, 432, 436, 441, 464, 471 Furcht als allgemeiner Affekt  120, 186, 193, 198, 203, 215, 224, 238 Furcht des Paulus  22, 87, 114 f, 276, 289, 359, 360–382, 403, 418, 437, 455, 494 f

Gaius Caligula  92 f, 118 f, 121, 140 f, 369, 491 Galiläa, Galiläer, galiläisch  121, 161, 300, 339, 395 Gamaliel 385 Gärtner als Gottesbild  20, 79, 113, 136, 204, 209 f, 216 f, 228, 487, 492 Gebotskonflikt  18, 38, 47, 55, 255, 289, 436, 464, 470 Geist (Gottes)  17, 31, 39, 48, 53, 63, 66, 69, 72–74, 82, 110 f, 132 f, 145, 185 f, 189, 195, 197–202, 223, 239, 242 f, 254, 256 f, ­259–261, 263, 265–267, 269, 278, 285, 292, 295, 307, 312, 320, 323, 325, 334, 350, 360, 401–403, 407, 414, 416, 435 f, 443, 447–409, 457, 461–463, 465 f, ­470–472, 475, 493, 495, 497 Gericht (Gottes)  13, 27, 30, 31, 33, 36, 45, 48, 50, 52, 55, 61, 64 f, 69, 73 f, 84, 103, 118, 136–138, 142, 145–147, 154, 157, 158–160, 205, 208, 222, 224 f, 230, 235 f, 240, 243, 247, 253, 255, 278, 285, 287 f, 290, 292, 294, 297, 359, 372, 403, 415, 421, 423, 460, 472 f, 475, 477, 480, 487, 493, 497 Gerichtspredigt, -rede  62 f, 80–82, 146, 159, 210, 236 f, 368, 390, 421 Gesetzesangst  245, 248, 250, 288, 290, 292, 457, 493 Gesetzeseifer  39 f, 261 f, 265 f, 291, 362 f, 389, 392,394, 401, 424, 430, 436, 441, 457 Gesetzesfrömmigkeit  20, 34, 227–230, 234, 239, 277, 286, 290–291, 383, 388, 390, 411 f, 423, 438, 493, 495 Gesetzesillusion  279, 288, 291 f, 457 Gesetzeskritik  21, 39, 44, 52 f, 228, 279, 290, 291 Gesetzesmissbrauch  248, 259, 288, 291 f, 457, 493 Gesetzesstolz  42, 234 f, 245, 248, 264 f, ­288–290, 292, 389, 393, 423, 432, 457, 493 Gewissen  14, 28, 29, 38, 55 f, 63, 82, 102, 120 f, 127, 136, 146, 235–239, 292, 332, 342 f, 349, 351, 354 f, 388, 390, 418, 422, 434 f, 437, 440, 459–467, 468, 473 f, 497 Glaube  13 f, 19–22, 24, 27 f, 30–32, 34, 36, 37, 41, 43, 45–47, 52, 54, 60–62, 64–66, 69, 75–82, 85, 90, 96, 101, 102, 106, 112, 114, 116, 124, 127, 131, 139, 142, 148, 150 f, 154, 155, 197, 199, 215–217, 223, 227, 239, 242, 243, 245–247, 250–254, 267,

Sach- und Stichwortregister 271, 274 f, 277, 279 f, 282–289, ­293–295, 297, 306 f, 309 f, 316–318, 321, 333 f, 338, 340–343, 349–355, 358, 366 f, 381 f, 386, 390–394, 397 f, 401, 404, 405, 410 f, ­413–416, 424 f, 438–440, 443 f, 448–450, 452–454, 456 f, 462, 464–466, 471–477, 480, 482, 484, 486, 487 f, 492–497 Glaubensgemeinschaft  416, 452 f Glaubensgerechtigkeit  78, 80 Gnade  13, 18, 30–32, 39, 42–44, 48–50, ­53–56, 61 f, 67, 69, 74, 78–81, 86, 110, 125, 140 16, 142, 148 f, 151, 159, 161, 164, 170, 195, 229 f, 240 f, 246–249, 254–257, 259, 261, 262, 271, 272, 288, 290 f, 293 f, 309, 321, 352, 387, 391–393, 306, 308, 404, 409 f, 412, 417, 423, 425–427, 444, 457, 467, 470, 489, 493 Gnade, aufschiebende  50, 493 Gnade, effektive  49, 255 f, 288, 291, 493 Gnade, inkongruente  49, 240 f, 288, 290, 493 Gnade, prädestinierende  49, 288, 291, 493 Gnadengabe  64, 86, 163, 272, 423 Gnadenreligion  37, 39, 52, 53, 229, 470 Gnadenwahl  76, 377 Gottesfürchtige  95, 97 f, 126 f, 176, 177, 286, 301, 311, 316 f, 340, 343, 354 Gottesvolk  114, 129, 133, 209, 293, 295, 306, 308, 325, 377, 388, 400, 406, 446, 466, 468, 489, 490, 494, 496 Hagar  198 f, 282 92, 307 f, 310, 324, 336 f, 405, 452, 465 Heidenchristen  38, 45 f, 77, 79 f, 84 f, 94– 98, 100, 111–114, 124, 126–128, 132, 177, 199, 210, 213, 214, 216, 237, 278 f, 308 f, 311, 316 f, 321–326, 333 f, 338, 340, 343, 347 f, 350–352, 365 f, 397 f, 400, 406, 408 f, 411, 418, 419, 445, 448, 454, 460, 490 Heidenmission  38, 46, 50, 93, 96, 111, 116, 125, 241, 261, 284, 301, 321 f, 360, 362, 365, 381, 391, 393, 395, 397, 399, 402, 405, 411, 421, 465, 495 Heilskonzept  20–22, 34, 50 f, 64, 69, 78, 81, 86, 227–229, 239, 256, 271 f, 277 f, 285–288, 290–296, 382 f, 387, 395, 409, 412–414, 442, 457, 493 Herrenwechsel des Sklaven  70 f, 73, 136, 160–175, 179, 183–185, 196, 198, 202 f, 225, 255, 257 f, 268, 403, 492 hidden transcript  41, 120 hilastērion  66, 149–152, 252, 292

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Hoffnung  17 f, 25, 31, 70, 74, 85, 128, 132, 202, 245, 247, 270, 278, 310, 318, 322 f, 325 f, 324, 338 f, 364, 413, 425, 442, 443 f, 449, 451, 454, 470, 472, 474, 484, 492, 496 illuminatio  267, 269 Imperium Romanum  41 f, 89, 94, 104, 117, 128, 141, 143, 220, 298–300, 304, 356, 453, 490, 492 f Introspective consciousness 38 Introspektive Reflexion  22, 359, 415–441, 457, 464, 495 Isaak  131, 155, 198, 243, 307, 327, 338, 349, 363, 411, 413, 424 Ismael  131, 198, 307, 338, 411 Israel  14, 17–19, 24, 30, 33, 37–40, 44–46, 55, 57 f, 65, 74–81, 96, 98, 100, 111–116, 125, 131 f, 137, 139, 143 f, 152, 164, 195 f, 199, 206, 208–210, 227 f, 243, 246, 248 f, 252, 261, 265 f, 271, 273–277, 279, ­281–287, 294–296, 299, 302 f, 306–311, 315–324, 327, 329, 333, 336 f, 339, 359, 363, 365, 370 f, 375–382, 384, 386, 404–408, 410 f, 413 f. 417, 421, 424, 435–437, 438–441, 443 f, 446, 452 f, 466 f, 470, 476, 487, ­490–493, 495 Israelmission  38, 76, 96 Jakob  77, 209, 271, 274 f,  283, 311, 316, 318, 327, 338, 349, 405, 411 Jakobus der Herrenbruder  315 Jakobus Zebedaios  316, 372 Jerusalem  24, 38, 61, 75 f, 78, 80 f, 85–87, 92–94, 97, 99, 102, 104–106, 108–111, 114–116, 118, 121, 124, 128, 131, 133, 138, 141, 150, 152, 198, 208, 224, 280–282, 301, 305, 311–313, 315–317, 319, 321–327, 329, 337, 339, 343, 356, 358–366, 370–374, 376, 378, 381–386, 388 f, 394 f, 402, 405 f, 410, 412, 414, 437, 442, 445 f, 450 f, 453–455, 477, 491, 494, 495 Judas Galilaios  121, 385, 387 Juden, Judentum 13 f, 17–19, 21 f, 24, 30, 33, 35–58, 63, 74–81, 84–87, 90–99, ­111–114, 116, 124–128, 131–133, 141, 145, 228, 229–239, 240–247, 264, 280, 281 f, 284 f, 293, 295, 297 f, 300 f, 303, 305–314, 316, 321–339, 340–343, 362, 371, 384 f, ­387–391, 396 f, 404–414, 422 f, 433, 436, 438–441, 444–455, 456 f, 455–460, 467, 470, 489–497

558

Sach- und Stichwortregister

Judenchristen  33, 45 f, 78, 80, 84, 92, 94–98, 105 f, 116, 123, 126, 177, 199, 209, 213, 264, 274, 276, 279, 287, 298, 308, 310, 321, 324, 340, 343 f, 347 f, 350, 360 f, 365, 377, 379, 397 f, 408, 411, 419, 460, 491

319 f, 325, 327–329, 331, 334, 338, 362, 375, 387 f, 396, 401, 405, 420, 422, 424, 439, 445, 466 Mysterienreligion  33, 396 f, 402, 413 Mythos  36, 230, 235, 445 f

Kaiserkult  92, 141 f, 232, 303, 304 Kanon der zwei Tugenden  63, 67 f, 231, 242, 289, 332 Kognitive Dissonanzen  455, 458, 465, 496 König als Gottesbild  20, 61 f, 136–138, 159, 251, 492 Konversion  221, 264, 350, 363, 397, 398, 458 Kollekte  81, 87, 99, 108–111, 114–116, 316, 322–324, 360 f, 364 f, 445, 451 Korinth  87, 89, 93, 99, 101 f, 106, 108 f, 116, 123, 127, 129, 133, 163 f, 195, 222, 290, 300, 302, 322, 340–344, 348–355, 361, 367, 404, 408 f, 420, 449, 472, 491, 496 Kreuz und Auferstehung  30, 112, 269, 275, 490 Kyrios (christologisch)  48, 130, 279, 303, 320, 354 f

Nero  98 f, 103, 117, 119, 120 f, 123, 140 f, 145, 191, 195, 300, 346 f, 374, 419 New Perspective on Paul  15, 23, 32, 33, ­37–42, 48, 50–53, 56 f, 293, 326, 470, 489 New View on Paul  45 f, 490

lex naturalis  58, 63, 237, 412, 494 Liebe Christi  372 f Liebe des Geistes  360 Liebe Gottes  66, 69, 73 f, 77, 84, 86, 136, 144, 147, 148, 156, 158 f, 203, 226, 242 f, 248, 250–256, 267, 269–272, 278, 290, 292, 390, 403, 410, 416–418, 444, 448, 460 f, 476, 479, 481, 486 f, 493, 497 Liebe des Menschen, Liebesgebot  17, 28 f, 31, 54–56, 63, 82 f, 85 f, 100, 132, 136, 156, 171, 203, 221, 226, 278, 286, 326, 332, 335, 338, 350, 353–355, 374, 401, 409, 435 f, 447–453, 468 f, 471, 486 f, 490, 492, 494, 496 Menschensohn (christologisch)  137, 153, 358, 454, 496 Messias  60 f, 67, 84, 111, 137 f, 140, 143, 201, 224, 254, 275, 280, 286, 295 f, 298 f, 302, 326, 338 f, 356, 410 f, 446, 454, 490, 496 f Metapher  135, 257 f, 486 Monotheismus, monotheistisch  17, 41 f, 44 f, 48, 50, 53, 231, 267, 295, 301, 388, 450, 453 f, 490, 496 Moralpsychologie  263 f, 266, 432, 435, 495 Mose  42, 46, 76, 113, 137, 149, 229, 231, 238, 248, 263, 272, 276, 279, 312, 317,

Opfer  36, 40, 81, 86, 110 f, 114 f, 138, 139, 148 f, 150–152, 155 f, 217 f, 223–225, 230, 250–252, 280, 281, 286, 311 f, 318, ­321–326, 342, 344, 346, 347, 351, 356, 375 f, 424, 450 f, 460, 465, 476 f, 479, ­483–485 Pantheismus, pantheistisch  79 Parusie  46, 76, 79, 80, 111, 112, 114, 116, 139, 228, 237, 280, 283 f, 292, 316, 319 f, 324–326, 411, 435, 438, 440, 452, 496 Parusieverzögerung 34 Pessimismus  15, 253, 329 f, 442–444, ­454–458, 464, 468 f Petrus  32, 38, 92, 96, 308, 315 f, 343, 352, 358, 362, 391, 398, 408, 495 Pharisäer  21, 328, 384–387, 389, 390, 413, 432, 456 Phoibe  99,105, 108 Polytheismus, polytheistisch  63, 142, 231, 242, 264, 291, 388, 390 Prädestination  21, 32, 49, 208, 273, 410 f Priester als Gottesbild  20, 59, 61, 65, 136, 137 f, 147, 159, 224 f, 240, 250 f, 477, 486, 492 Priska  106, 107, 367 Proselyten  90 f, 212, 243, 310 f, 316 f prosopopoieia  416 f Prospektive Lektüre  22, 359, 360–382, 494 Psychologische Auslegung  15,19–23, 38 f, 51, 235–237, 291, 357–441, 359, 383, 431–433, 442, 477–481, 494 f Psychomythischer Parallelismus  136, 146, 158, 236, 243, 267, 267, 268, 284, 291, 460 f, 473–477, 486, 497 purificatio 267–269 Qumran  50, 137, 162, 183, 205, 241, 247, 312, 330, 410, 451

Sach- und Stichwortregister Rechtfertigung  13,f, 18, 27, 31, 32, 34, 36, 38, 40, 52, 54, 59, 61, 65–67, 131, 145, 147, 157 f, 227, 240–254, 272, 285, 287 f, 290, 292, 294 f, 393, 397, 399, 423, 435, 493 Rechtfertigungslehre  13, 14, 18, 21, 23, ­27–34, 36, 38, 43, 52, 54, 57, 10131, 103, 227 f, 246 f, 250, 278, 290, 293, 383, ­391–303, 397, 400 f, 409, 412, 420, 423, 442, 489, 493, 495 Reformation  13 f, 29–32, 39, 54, 57 f, 61, 469 Reformator des Judentums  13, 46, 53–58, 228 Religion  13, 21, 23–25, 41, 51, 226, 236, 303, 305 f, 326, 330, 388, 445–449, 458, 478, 488 Religionspolitik des Claudius  19, 42, 92–94, 99, 103 f, 116, 122 f, 300, 490 Religionsstruktur  42 f, 44 Retrospektive Lektüre/Darstellung  22, 28, 29, 43 f, 359, 382–414, 434, 495 Richter als Gottesbild  19 f, 27, 29, 48, 59, 61 f, 64 f, 73, 136–138, 142–147, 153, 158, 224 f, 227, 234, 236 f, 240, 247, 250 f, 267, 287, 290, 299, 358, 403, 415, 461 f, 473, 475, 477, 486, 492 f Rom  41, 60 f, 84, 87 f, 89–98, 102, 104–110, 116, 119, 121, 123, 126, 141 f, 145, 155, 163 f, 167, 181, 183, 190, 191, 195, 206, 209, 213, 222, 300, 303, 339–352, 355, 361, 364–367, 369, 374, 382, 414, 419, 420, 445, 482, 491 f, 494, 496 Sadduzäer  413, 456 Sara  66, 198 f, 242, 243, 282, 295, 307 f, 310, 324, 336 f, 405, 452, 484 sarx  263, 265, 291, 337, 392, 448, 449, 463, 465, 469, 478, 486 Schuldsklaverei 165 Selbstversklavung  161, 165–168 Seneca  103, 117, 119–121, 123, 129, 140, 172, 187, 304, 341, 344 f, 354, 375 f, 419, 429, 492 sine lege  13, 27, 61 Sklave als Bild  20, 50, 68, 70 f, 73, 84, 91, 136, 147, 160–176, 178 f, 181, 184–203, 217, 222 f, 225, 227, 255, 257 f, 268, 270, 282, 288, 298 f, 302, 353, 398, 403, 486, 492 Sklavenherren  173 f, 255 Sklavenkinder 193 Sklavenmoral 27

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Sohn als Bild  20, 68, 70, 72 f, 74 f, 132, 136, 140, 160, 172, 186–203, 225, 227, ­255–257, 268–270, 275, 299, 410, 468, 486, 492 Sohn Gottes (christologisch)  60, 73, 103, 130, 132, 139, 141, 147, 157–159, 186, 202, 224, 251, 256 f, 270, 297, 303, 304, 357, 375, 391, 398, 416, 465, 476 f, 478 f, 481, 486 sola fide  13, 27, 31, 61 sola gratia  13, 27, 31, 47 Söldner als Bild  70 f, 203, 258, 298 solus Christus  13, 30, 31, 61 Sozialgeschichte, sozialgeschichtliche ­ Auslegung  15,19–21, 23, 142, 297–356, 345, 489, 493 f. Sozialkonflikt  50, 58, 435 f Staatsparänese  20, 81–83, 117, 120, 121 f, 220, 350, 449, 490 Starke und Schwache  46, 60, 81, 84 f, 95–98, 102, 106,124, 126 f, 129, 132 f, 222 f, 234, 287, 298, 302, 339–356, 472, 491, 494, 496 Stephanus  301, 312 f, 315 f, 325, 379 Sühne  35, 64–66, 81, 138, 147–159, 181, 228, 240, 250, 252 f, 280 f, 292, 321, 376, 439, 450 f, 476–486, 492 Sühnetod  13, 34, 36, 65 f, 133, 148, 159, 250–254, 477–486 Sühnopfer  61, 81, 137, 150, 152, 225, 230, 252, 280, 476, 483 f Sünde und Sünder  18 f, 21, 27–33, 35 f, 39 f, 46, 48, 52, 54, 55–58, 62–71, 73 f, 79, 85 f, 115, 127, 137–139, 141, ­144–149, 151–159, 161–163,169 f, 173–176, 178, 184 f, 202 f, 217, 227–230, 232–235, 237, 240–246, 248–255, 257–262, 266, 268, 270, 272 f, 275 f, 287–292, 294, 297 f, 302, 305, 316, 320 f, 326, 331 f, ­335–337, 339, 354 f, 358, 359, 369–372, 375, 387, 389 f, 392–394, 396 f, 399, 401, 403, 409, 411, 416, 423, 425–436, 439 f, 443, 450, ­455–460, 462–464, 472–479, 481, ­484–487, 489, 492 f Sündenbewusstsein  15, 18 f, 40, 58, 456, 479 Sündenbock  151, 356, 474 f, 477–479, 485 Sündenfall  230, 235 f, 244, 260, 270, 430 Sündenvergebung  30, 38, 65, 79, 148, 153, 261, 289, 321, 326, 393, 435, 440, 484 Symbol, Symbolwelt, symbolisch  13, 20, 23, 41, 69, 135, 137, 227, 330, 351, 397 f, 413, 483–406

560

Sach- und Stichwortregister

Tarsos  33, 335, 383 Taufe  13, 33, 69 f, 81, 102, 132, 169 f, 176, 184, 203, 221 f, 225, 227, 255 f, 267 f, 269 f, 299, 272, 381,396–399, 402 f, 413, 416, 448, 451, 481 Tempel in Jerusalem  21, 40, 65, 76, 79, 91 f, 115 f, 118 f, 133, 141, 150–152, 223, 224, 280, 281 f, 301, 305, 306, ­311–327, 329, 363, 365 f, 385, 395, 404, 410, 411, 442, 445 f, 450 f, 454, 464, 476, 494–406 Tempelbezirk, innerer  118, 282, 312–315, 317 f, 326, 365 f, 450, 494 f Tempelgesetze 325 Tempelkult  65, 69, 149, 218, 224, 280–282, 286, 306, 312, 494 Tempelprophetie und -weissagung  315, 325 Tertius, der Schreiber der Römerbriefs  87, 102, 105, 418 tertius usus legis  31, 55–58, 470 Thessaloniki  93, 94, 116, 123, 195, 300 theologia naturalis  63, 412 Tiberius  91 f, 94, 145, 190, 345 f, 369 Töpfer als Gottesbild  20, 60, 77, 79, 113, 136, 204–208, 216 f, 228, 271, 273, 286, 294, 487, 492 Transformatives Menschenbild  22, 266 Umkehr  30, 31, 50, 111, 116, 144, 229 f, 239, 288, 290, 311, 318, 396–398, 413, 422, 456, 493 Umkehrbewegungen  327, 456 f Unglaube  19, 78, 80, 113, 210, 215, 217, 271, 273, 288, 404, 414, 417, 438, 465–467 unio mystica  267, 269

Universalismus  15, 21,32 f, 40, 61, 65, 67, 79, 94, 126, 285, 293, 390, 409, 413 f, 442 f, 444, 448, 450, 455–458, 464 f, 468, 471, 488 univira  71, 182, 183–220 usus elenchticus legis  31, 55–58, 245 usus politicus legis  31, 55–58, 489 Versöhnung  35, 66 f, 74, 113, 129, 133, 147, 156–159, 224, 227, 240, 242, 248, 250, 253 f, 278, 290, 292, 394, 441, 470, 484, 487, 490 Versöhnungstag  149–152, 252, 321, 476 Verwandlungslehre  21, 33 f, 46, 70, 78, 81, 227 f, 259, 266, 270, 278, 287, 290–292, 295, 335, 397, 399, 412, 416, 493, 495 Völkerwallfahrt  17, 111, 116, 224, 318, 323, 323 f, 451, 456 Werke (des Menschen)  20, 22, 31, 35, 50, 51, 53, 59, 62, 64 f, 77, 81, 101, 131, 146, 221 f, 227, 235, 238–240, 245–248, 274, 277, 280, 285 f, 288, 292–294, 329, 369, 383, 387, 391, 397, 401, 409, 414, 438, 442, 455, 492 f Werkgerechtigkeit  35, 37, 43, 52 f, 78, 294, 387, 493 zēlos  21, 115, 261, 262, 326, 332, 362 f, ­384–386, 390, 395, 411, 413, 424, 479 Zion  17, 75 f, 79 f, 114, 116, 224, 274, 276, 279–282, 313, 316, 318–320, 323 f, 365, 371, 404, 411, 440, 451 f, 456, 494 Zwei-Reiche Lehre  30, 83 Zweite Ehe der Frau  70 f, 73, 136, 196, 202, 225, 258, 268, 492