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German Pages 194 Year 1967
H A N S - U L L R I C H GALLWAS
Der Mißbrauch von Grundrechten
Schriften
zum ö f f e n t l i c h e n Band 49
Recht
Der MiÊbrauch von Grundrechten Von Dr. H a n s - U l l r i c h Gallwas
DUNCKER &
HUMBLOT/BERLIN
Alle Rechte vorbehalten © 1967 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1967 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany
Vorwort Wer gemäß dem Gebot des Grundgesetzes die Grundrechte als „unmittelbar geltendes Hecht" behandelt, sieht sich vor einer Vielzahl theoretischer und praktischer Probleme. Das hat seinen Grund vor allem in der unzureichenden rechtstechnischen Präzision der Grundrechts-Formulierungen. Besondere Schwierigkeiten erwachsen aus den Unzulänglichkeiten der geschriebenen Eingriffsvorbehalte. Erscheinungen wie die Lehre von den „immanenten Schranken" oder die Bemühungen um das „Vorverständnis" der Grundrechte sprechen in diesem Zusammenhang eine ebenso beredte Sprache wie die Versuche des Bundesverfassungsgerichts zur Bindungsseite der Berufsfreiheit. Alle Bestrebungen, die Eingriffsvorbehalte im Wege des Interpretierens auszuformen und zu ergänzen, nehmen dem verbrieften Recht einen Teil seiner Evidenz und gehen im letzten zu Lasten der Freiheit. Daß sich dadurch Gefahrenherde bilden, läßt sich nicht bestreiten. Die verschiedenen Probleme, die sich aus der Unzulänglichkeit der Grundrechts-Formulierungen ergeben, sollen hier aus einem Aspekt betrachtet werden, den man bisher nur gelegentlich und auch dann nur andeutungsweise in Erwägung gezogen hat. Es wird versucht, die methodisch im wesentlichen gesicherte Lehre vom Rechtsmißbrauch für das Verständnis des Grundrechtsverhältnisses nutzbar zu machen. Das Ergebnis ist nichts anderes als eine Variante des allgemeinen Mißbrauchsgedankens. Die Arbeit geht auf eine Dissertation gleichen Titels zurück, die die Juristische Fakultät der Ludwigs-Maximilians-Universität, München, im Jahre 1961 angenommen hat. Literatur und Rechtsprechung lieferten inzwischen eine Fülle neuer Gesichtspunkte. Sie haben zu Änderungen und zu Ergänzungen geführt. I m wesentlichen decken sich die Ergebnisse mit denen der Dissertation. Die wenigen Abweichungen sind jeweils in Fußnoten angezeigt.
6
Vorwort
Den Anstoß zur Behandlung dieses Themas gab mir Herr Prof. Dr. Peter Lerche. Die Dissertation hat Herr Prof. Dr. Theodor Maunz betreut. Ihnen habe ich für Rat und Förderung zu danken. Dank schulde ich auch meinem Kollegen, Herrn Dr. Ekkehard Schumann, der diese Veröffentlichung anregte, und nicht zuletzt Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann für die Aufnahme der Arbeit in seine Schriftenreihe. München, den 22. April 1967 Hans-Ullrich
Gallwas
Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Die Lehre vom Rechtsmißbrauch und die Grundrechte des Bonner Grundgesetzes 1. Abschnitt:
11
Die Lehre v o m Rechtsmißbrauch
11
§ 1 Der Rechtsmißbrauch i m Zivilrecht
11
§2
13
Der Rechtsmißbrauch i m öffentlichen Recht
Z. Abschnitt:
17
I. Die Anwendbarkeit des Mißbrauchsgedankens auf die Grundrechte des Grundgesetzes
17
§3
Ausgangspunkt u n d Motivation
17
§4
Einwendungen gegen die Übertragimg der auf die Grundrechte
Mißbrauchslehre 19
1. Die Anwendbarkeit des Mißbrauchsgedankens i m Staatsrecht
19
2. Speziellere Einwendungen
21
I I . Die Möglichkeiten des Grundrechtsmißbrauchs
31
§5
Der mißbrauchbare I n h a l t der Grundrechte
31
§6
Die Mißbrauchsrichtungen
32
I I I . Das K r i t e r i u m des Grundrechtsmißbrauchs §7
Die erforderlichen u n d hinreichenden Merkmale eines G r u n d rechtsmißbrauchs Zweites
34
Kapitel
Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten des Bonner Grundgesetzes §8
33
Vorbemerkung
37 37
X. Abschnitt: Die erste Mißbrauchstype: Grundrechtsausübung unter V e r letzung vorrangiger Interessen eines anderen Grundrechtsträgers 38 I. Z u r prinzipiellen Anwendbarkeit dieser Mißbrauchstype §9
Allgemeines
38 38
I I . Der Katalog vorrangiger Interessen eines anderen Grundrechtsträgers 1. Verfassungsrechtlich geschützte Interessen
40 40
Inhaltsverzeichnis
8
§ 10 Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
40
§11 Der Gleichheitssatz
42
§ 12 Die Sozialstaatsklausel
47
2. Andere rechtlich geschützte Interessen
49
§13 Strafrechtlich geschützte Interessen
49
§ 14 Zivilrechtlich geschützte Interessen
52
2. Abschnitt: Die zweite Mißbrauchstype: Grundrechtsausübung Verletzung vorrangiger Interessen der Allgemeinheit
unter
I. Z u r prinzipiellen Anwendbarkeit dieser Mißbrauchstype § 15 Allgemeines
66 66 66
I I . Katalog der vorrangigen Interessen der Allgemeinheit
73
§ 16 Der physische Bestand
73
§ 17 Die öffentliche Sicherheit u n d Ordnung
75
§ 18 Das Sittengesetz
79
§ 19 Die Selbstbestimmung
84
3. Abschnitt: Die dritte Mißbrauchstype: Grundrechtsausübung unter V e r letzung schutzwürdiger Interessen der staatlichen Gewalten I. Z u r prinzipiellen Anwendbarkeit dieser Mißbrauchstype
87
§20 Allgemeines I I . Der
Katalog
der
87
87 schutzwürdigen
Interessen
der
staatlichen
Gewalten
90
§ 21 Die Sicherung der Existenz
90
§ 22 Die Sicherung der staatlichen Grundnorm
91
§ 23 Die Sicherung der Funktiönsfähigkeit
94
Drittes
1. Abschnitt:
Kapitel
Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
99
Allgemeine Folgen
99
I. Ausgangspunkt
99
§ 24 Allgemeines
99
I I . Die Mißbrauchsreaktionen der einzelnen staatlichen Gewalten
102
§ 25 Mißbrauchsreaktionen der Legislative
102
§ 26 Mißbrauchsreaktionen der vollziehenden Gewalt
105
§27 Mißbrauchsreaktionen der
111
2. Abschnitt:
richterlichen
Gewalt
Die besonderen Mißbrauchsfolgen des Grundgesetzes
§ 28 Vorbemerkung
116 116
Inhaltsverzeichnis 1. Unterabschnitt:
Die Grundrechtsverwirkung
A. Die materiell-rechtliche Seite I. Der Tatbestand
118 118 118
§29 Die Mißbrauchshandlung
118
§30 Der Mißbrauchstäter
121
I I . Die Rechtsfolge 1. Der Verwirkungsbegriff des A r t . 18 GG §31 Deutungsmöglichkeiten a) Punktuelles Verwirkungsverständnis
121 121 121 122
b) Generelles Verwirkungsverständnis
123
c) Kombiniertes Verwirkungsverständnis
125
§32 Die Auslegungskriterien
125
§33 Die Vereinbarkeit des generellen Verwirkungsverständnisses m i t A r t . 1 Abs. 2 u n d A r t . 19 Abs. 2 GG
132
§ 34 Der Charakter der Sanktion des A r t . 18 GG
134
2. Die Ausmaßbestimmung nach A r t . 18 GG
135
§35 Die Notwendigkeit einer Ausmaßbestimmung
135
§ 36 Die Ausmaßbestimmung u n d die verwirkbaren Grundrechte . . 137 §37 Die Ausmaßbestimmung u n d die nicht verwirkbaren Grundrechte
138
§ 38 Die Intensität der Ausmaßbestimmung
141
§ 39 Die Dauer der Aberkennung
143
§40 Die Grenzen der Gestaltungsfreiheit bei der Ausmaßbestimmung 145 I I I . Die Sperrwirkung des A r t . 18 GG
146
§ 41 Die S p e r r w i r k u n g des Tatbestandes
146
§42 Die Sperrwirkung des Entscheidungsmonopols
148
§ 43 Das Verhältnis des A r t . 18 GG zu den Grundrechten der L a n desverfassungen 153 B. Die verfahrensrechtliche Seite
154
§44 Die Eröffnung des VerwirkungsVerfahrens
154
§45 Die prozessuale N a t u r der Verwirkungsentscheidung
157
§ 46 Die einstweilige Anordnung i m Verwirkungs verfahren
158
2. Unterabschnitt:
Vereinigungsverbot, Parteiverbot
161
§ 47 Das Vereinigungsverbot nach A r t . 9 Abs. 2 GG
161
§ 48 Das Parteiverbot nach A r t . 21 Abs. 2 GG
162
Inhaltsverzeichnis
10
3. Unterabschnitt: Das wechselseitige Verhältnis von V e r w i r k u n g , V e r einigungsverbot u n d Parteiverbot 167 § 49 Das Verhältnis zwischen Vereinigungsverbot u n d V e r w i r k u n g 167 § 50 Das Verhältnis zwischen Parteiverbot u n d Vereinigungsverbot 169 § 51 Das Verhältnis zwischen Parteiverbot u n d V e r w i r k u n g
169
Thesen
173
Literaturverzeichnis
177
Sachverzeichnis
187
Erstes
Kapitel
Die Lehre vom Rechtsmißbrauch und die Grundrechte des Bonner Grundgesetzes Erster Abschnitt
Die Lehre vom Rechtsmißbrauch S 1 Der Rechtsmißbrauch i m Zivilrecht
Die Lehre vom Rechtsmißbrauch gehört heute zum sicheren Bestand zivilrechtlicher Theorie und Praxis 1 . Ihr Ausgangspunkt liegt in folgender Erkenntnis: Die unvermeidlich abstrakt-typische Formulierung der Rechtssätze kann zu einer Divergenz zwischen dem scheinbaren und dem wahren Inhalt eines Rechts führen. Der Bereich der vom Wortlaut einer Norm erfaßten Tatbestände geht unter Umständen weiter als der Bereich der Tatbestände, die wirklich unter die Norm fallen 2 . Zwischen dem Anschein eines Rechts, wie ihn der eindeutige oder bereits ausgelegte Wortlaut einer Norm ergibt, und dem eigentlichen Rechtsinhalt entsteht auf diese Weise eine Inkongruenz. Handlungen, die in diesen Inkongruenzbereich fallen, erweisen sich als nur scheinbare Rechtsausübung, in Wahrheit hat man es mit einem „Handeln ohne Recht" zu tun 8 . Erste Voraussetzung für die Feststellung eines Mißbrauchsfalles ist somit, daß einem konkreten Verhalten der Anschein einer gesetzlichen Berechtigung zur Seite steht. Zur Begründung dieses Scheins genügt die Berufung auf eine vertretbare Rechtsauffassung nicht4. Vielmehr muß es sich um eine Rechtsausübung in der Weise handeln, daß das Verhalten alle normgemäßen Tatbestandsmerkmale aufweist, die gemäß der Regel 1 Siebert, Soergel-Siebert, V o r §226, RdNr. 12 ff., S. 755 f.; § 242, RdNr. 110 ff., S. 836 ff.; Weber, T r e u u n d Glauben, RdNr. D 19 ff., S. 748 ff.; Nastelski, R G R K , § 242, RdNr. 117 ff., S. 796 ff. Enneccerus-Nipperdey, A l l g . Teil, 2. H a l b bd., S. 1441; Larenz, Schuldrecht, A l l g . Teil, S. 111. 2 Siebert, aaO., V o r §226, RdNr. 12, S. 755; ders. Rechtsmißbrauch, S. 19 f. 8 Siebert, V e r w i r k u n g , S. 74,139. 4 Siebert, Soergel-Siebert, V o r § 226, RdNr. 5, S. 754.
12
1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
zu einer bestimmten Rechtsfolge führen. Es besteht hier gewissermaßen ein logischer Automatismus zwischen erfülltem Tatbestand und zugeordneter Rechtsfolge. Eine Rechtsnorm kann freilich nur dann in diesem Sinne funktionieren, wenn nicht zu dem tatbestandsmäßigen Verhalten weitere Umstände hinzutreten, die das gesamte Verhalten als Verstoß gegen einen höher- oder gleichrangigen Rechtssatz erscheinen lassen, sei es, daß dieser Rechtssatz bisher unformuliert geblieben ist, sei es, daß ihm der systematische Zusammenhang mit der einschlägigen Norm fehlt. Um den Automatismus zwischen Tatbestand und zugeordneter Rechtsfolge zu unterbrechen, um also im konkreten Fall eine Inkongruenz zwischen Rechtsschein und Rechtsinhalt aufzudecken, gilt es, einen Widerspruch sichtbar zu machen; und zwar ist darzulegen, daß, was die Formulierung der berechtigenden Norm an sich erlaubt, im speziellen Fall durch eine mindestens gleichrangige Norm verboten ist5. Denn ein Gesetzgeber, der einem Normadressaten ein bestimmtes Verhalten erlaubt und ihm zugleich das gegenteilige Verhalten abverlangte oder gar abverlangen müßte, kann sich auf die Verbindlichkeit seiner Normen nicht berufen. Er würde sich außerhalb des logisch Möglichen bewegen®. Die Denkfigur des Rechtsmißbrauchs setzt demnach weiter voraus, daß die Macht des Gesetzgebers nicht absolut, sondern gebunden verstanden wird und daß die Organe, denen die Anwendung der Gesetze übertragen ist, nicht nur als Subsumtionsautomaten tätig werden, sondern als Hüter sowohl des geschriebenen wie auch des ungeschriebenen Rechts. Normen, an die auch der Gesetzgeber gebunden ist, findet die zivilrechtliche Mißbrauchslehre vor allem in den Grundsätzen, die sich aus den Generalklauseln von „Treu und Glauben" und der „guten Sitten" ableiten lassen, aber auch in dem Prinzip, daß der Gesetzgeber sich nicht mit seinem eigenen Willen in Widerspruch setzen darf, indem er Rechte einräumt, die auch wider ihren Zweck und wider ihre Funktion ausgeübt werden dürften 7. Eine exakte Trennungslinie zwischen dem Bereich des Rechtsscheins und dem des Rechtsinhalts ist damit allerdings nicht gezogen. I m Hinblick auf die vielfältigen Möglichkeiten der Rechtsausübung einerseits und auf die natürlichen Erkenntnisgrenzen des Gesetzgebers andererseits ist dies auch schlechterdings ausgeschlossen8. Wohl aber öffnet sich 5 Z u den verschiedenen A r t e n der Widersprüche vgl. Engisch, Einführung, S. 156. 6 Vgl. Nawiasky, Allg. Rechtslehre, S. 142. 7 Vgl. Siebert, Soergel-Siebert, § 242, RdNr. 115, S. 838, m i t weiteren Nachweisen. Über den· allgemeineren Zusammenhang von Rechtsmißbrauch u n d „allgemeinem Rechtsbewußtsein" vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 320 f. 8 Vgl. Larenz, Schuldrecht, A l l g . Teil, S. 106 f.
§ 2 Der Rechtsmißbrauch im öffentlichen Recht
13
hier ein Raum für fortschreitende Erkenntnis und Profilierung dessen, was „Treu und Glauben", die „guten Sitten" und „die Funktion und der Zweck einer Rechtsnorm" gebieten. Auch einen numerus clausus entsprechender Maximen kann es nicht geben, denn die genannten Begriffe enthalten ja gerade keine festen, vorgefaßten Maßstäbe, sondern — nach einer Formulierung Wieackers 9 — eben nur ein „Bekenntnis des Gesetzgebers", sie verweisen auf „eine elementare rechtsethische Anforderung", nämlich „auf die Rechtstugenden des Wohlverhaltens, der Verläßlichkeit und der Loyalität" 10 . Der Rechtsmißbrauch, das „Handeln ohne Recht", führt dazu, daß die regelmäßige Wirkung des mißbrauchten Rechts, die vorgesehene Rechtsfolge, ausbleibt11. Der mit der Mißbrauchshandlung bezweckte Erfolg entfällt, und zwar allein auf Grund des Schrittes über die Grenze der rechtlichen Gewährung 12 . Einer besonders normierten Ausübungsschranke bedarf es insoweit nicht. Nur dort, wo ein Mißbrauchsfall zugleich rechtswidriges Verhalten im technisch juristischen Sinne sein soll, ist eine entsprechende gesetzliche Vorschrift erforderlich. „Handeln ohne Recht" und „rechtswidriges Handeln" sind verschiedene Kategorien 13 .
§ 2 Der Rechtsmißbrauch im öffentlichen Recht
Die Lehre vom Rechtsmißbrauch ist in ihren Grundzügen auch im öffentlichen Recht anerkannt. Sie wurde mit dem Treu- und Glaubensprinzip übernommen 14. Zur Rechtfertigung der Übertragung dieses von Haus aus schuldrechtlichen Rechtsgrundsatzes in das öffentliche Recht entwickelte das Reichsgericht die Theorie des „allgemeinen Rechtsgedankens". Danach wird eine in einem bestimmten Rechtsgebiet ausgeprägte Rechtsregel ihres 9
Z u r rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 20, FN. 39. Vgl. den Katalog von M a x i m e n u n d Anwendungsfällen bei Siebert, Soergel-Siebert, § 242, RdNr. 124 ff. S. 840 ff., sowie bei Hefermehl, ebda, § 138, RdNr. 13 ff., 47 ff., 67 ff., S. 477, 488 ff., 496 ff., Weber, Treu u n d Glauben, RdNr. D 48 ff., D 83 ff., S. 756 ff., 765 ff. 11 Siebert, Verwirkung, S. 74. 12 Vgl. Siebert, Verwirkung, S. 100; ders., Soergel-Siebert, V o r § 226, RdNr. 20 f., S. 757 f.; Weber, Treu u n d Glauben, RdNr. D 69, S. 763. 13 Siebert, Verwirkung, S. 100; ders., Soergel-Siebert, Vor § 226, RdNr. 23, S. 758; Weber, Treu u n d Glauben, RdNr. D 71, S. 763. 14 Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, § 9, S. 162 ff.; Wolff, Verwaltungsrecht I, § 411 c, S. 219; v. Turegg-Kraus, Verwaltungsrecht, S. 21; Siebert, Soergel-Siebert, §242, RdNr. 49 ff., S. 821 ff.; Weber, Treu u n d Glauben, RdNr. A 68 ff., S. 21 ff.; BVerwGE 5,136 (139 f.); 6,204 (205); 7,54 (56). 10
14
1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
formalen Gewandes entkleidet, ihr Grundzug erforscht, ihr Kern, der Rechtsgedanke, herausgeschält und auf ein anderes Rechtsgebiet erstreckt 15. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze werden, was ihre Quelle anbetrifft, den überpositiven Grundzügen der konkreten Rechtsordnung zugeordnet. Sie sollen sich unmittelbar und mit objektiver Erkenntnisgewißheit aus dem Rechtsprinzip ableiten lassen16. Mit der Aufnahme des Grundsatzes von Treu und Glauben in die Reihe der allgemeinen Rechtsgrundsätze rückt auch die Lehre vom Rechtsmißbrauch zu diesem Rang auf; sind es doch gerade die im Zusammenhang mit diesem Prinzip aufgestellten Regeln, die entscheidende und gewichtige Abgrenzungskriterien zur Unterscheidung von Rechtsinhalt und bloßem Rechtsschein liefern. Letztlich handelt es sich hier um eine Frage der Begriffsbildung. Entweder man betrachtet die Lehre vom Rechtsmißbrauch als Anwendungsfall des Grundsatzes von Treu und Glauben 17 , dann ergibt sich das bereits Gesagte, oder man sieht in dem Treu- und Glaubensprinzip lediglich eine Vielzahl von Regeln, die neben anderen als Erkenntniskriterien für Rechtsmißbrauchsfälle dienen; dann wäre allerdings noch der Nachweis zu führen, daß es sich bei der Rechtsmißbrauchslehre um einen eigenständigen allgemeinen Rechtsgedanken handelt. Die Argumente, die von verschiedenen Seiten gegen die Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben im öffentlichen Recht vorgebracht worden sind18, etwa der Grundsatz basiere auf einem ethischen Postulat für einander Gleichgeordnete oder die Strenge der Verwaltungsrechtssätze verbiete jegliche Relativierung, endlich das bei jedem öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnis beteiligte öffentliche Interesse schließe jede Rücksicht auf Treu und Glauben aus, all diese Argumente vermochten das Prinzip nicht aus dem öffentlichen Recht herauszuhalten. Die These von der fehlenden Gleichordnung wird durch den Hinweis auf das zwischen Verwaltung und Bürger entstandene und sich immer weiter entwickelnde „faktische Synallagma" ausgeräumt. Die Strenge der Verwaltungsrechtssätze wird zusehends eingeschränkt. Das beteiligte öffentliche Interesse wird zwar bei der Interessenabwägung mit einbezogen, aber nicht mehr absolut gesetzt, so daß sich wohl hie und da die Grenze zwischen Mißbrauch und Gebrauch zugunsten der Verwaltung verschiebt, Individualinteressen jedoch nicht schlechthin zu weichen haben 19 . 15 Dazu Schule, V e r w A r c h 38,398 (405 ff.); Schach, Laun-Festschrift 1948, S.279 ff. 16 ' Vgl. Wolff, Verwaltungsrecht I, § 25 I , S. 101 ff. 17 So Düng, JZ 52, 513. 18 Vgl. hierzu Schule, VerwArch. Bd. 38, S. 400 ff.; Baumann, Diss. S. 71 ff. 19 Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, § 9, S. 165 f.; Dürig, J Z 52, S. 514, FN. 13; Nipperdey, J Z 52, S. 578 f. (gegen RGZ175,207).
§ 2 Der Rechtsmißbrauch im öffentlichen Recht
15
Die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben im öffentlichen Recht bedeutet natürlich nicht, daß dieselben speziellen Abgrenzungskriterien zu gelten hätten wie im Zivilrecht. Auch die Folgen eines Rechtsmißbrauchs müssen nicht zwangsläufig übereinstimmen. Denn die Impulse für die Konkretisierung spezieller Treu- und Glaubensregeln können sich nur aus den typischen Interessengegensätzen des Rechtsgebietes ergeben, dem das betrachtete Rechtsverhältnis angehört. I m öffentlichen Recht etwa die Frage der Verbindlichkeit mündlicher Zusagen, der Bindung an unzutreffende Auskünfte, der Widerrufbarkeit von Verwaltungsakten 20 , die Durchführung von Verwaltungsmaßnahmen bei zu erwartender Gesetzesänderung 21 usw. Die wichtigste Besonderheit des Rechtsmißbrauchs im öffentlichen Recht dürfte sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ergeben. Wenngleich nämlich derjenige, der ein Recht mißbräuchlich ausübt, ohne Recht handelt, so schafft dies allein noch keine zureichende Ermächtigung für das Einschreiten der Verwaltung. Lediglich das Gegenrecht des Gewaltunterworfenen verliert wegen des Mißbrauchs seine Wirkung. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist insbesondere als beherrschendes Prinzip des Steuerrechts anerkannt 22 , obwohl die herrschende Meinung das Steuerrechtsverhältnis seiner Natur nach gleichfalls nicht zu den Verhältnissen der Gleichordnung, sondern der Über- und Unterordnung zählt 28 . Die Geltung des Grundsatzes leitet man auch hier aus dem überpositiven Recht her 24 . Ebenso wie im allgemeinen Verwaltungsrecht bereitet die Bestimmung seines Inhalts und die Erkenntnis konkreter Maßstäbe Schwierigkeiten 25. Soweit möglich greift man auf die Formulierungen des Zivilrechts zurück, etwa auf das Verbot des venire contra factum proprium 2®. I n Anlehnung an die zivilrechtliche Mißbrauchslehre wird dem Treu- und Glaubens-Grundsatz überwiegend normbegrenzende Funktion zugemessen27. So dient er in erster Linie als Korrektiv für Gesetzesformulierungen, die mangels Überschaubarkeit 20 Vgl. Jellinek, R u P r V e r w B l . 52,805 (806); zu den Fällen aus der Rechtsprechung des B V e r w G Bachof, JZ 57,438; 62,752 f. 21 Vgl. BVerfGE, 4,322 (330). 22 Vgl. Spitaler, StbJb. 1952, 335 ff.; Mattern, T r e u u n d Glauben i m Steuerrecht, pass.; Becker-Riewald-Koch, R A O - K o m m . § 1 StAnpG, A n m . 5, S. 599 ff.; Kühn, AO, § 1 StAnpG, A n m . 5 b, S. 795 ff. 28 Vgl. Bühler-Strickrodt, Steuerrecht Bd. 1, S. 161 f. 24 Bühler-Strickrodt, aaO. S. 162; Mattern, Aufermann-Festschrift, S. 66 f.; Spitaler, aaO. S. 337 f. 25 Anwendungsfälle bei Mattern, Aufermann-Festschrift, S. 67 ff. 26 So BFH Bd. 57,245 (248). 27 Vangerow, StW 1957, Sp. 206.
16
1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
der auftretenden Konfliktsituationen oder zum Zweck besserer Verständlichkeit oder leichterer Handhabung unvollkommen sind28. Während sich im allgemeinen Verwaltungsrecht die Betrachtung vor allem auf die Fälle rechtsmißbräuchlichen Verhaltens der Behörden konzentriert, verlagert sie sich im Steuerrecht auf den Rechtsmißbrauch des Bürgers 29. Hier zeigt es sich, daß die Gefahr, die Schule bei der Anwendung des Treu- und Glaubensgrundsatzes im öffentlichen Recht sah und pointiert mit den Worten: fiat bona fides pereat res publica, beleuchtete30, zu hoch veranschlagt war, denn es ist keineswegs immer der Bürger, welcher aus diesem Prinzip seinen Nutzen zieht. Auf dem Gebiet des Steuerrechts entwickelte sich überdies eine interessante Variante zur allgemeinen Mißbrauchslehre, nämlich der Mißbrauch von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts zum Zweck der Umgehung der Steuerpflicht 31. An dieser Stelle offenbarte sich mit besonderer Deutlichkeit die Antinomie, die zwischen dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung entstehen kann. Sie verdichtete sich zu der Frage, ob allein durch mißbräuchliche Gestaltung eines Rechtsverhältnisses eine Steuerpflicht begründet werden könne, ohne daß der entsprechende gesetzliche Steuertatbestand in Wirklichkeit erfüllt worden wäre 32 . Bei der Lösung des Problems ging man davon aus, daß aus dem Treu- und Glaubenssatz zwar ein Mißbrauchsverbot folge, aber niemals ein konkretes Leistungsgebot33. Man gab also dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit den Vorrang. Dieses Ergebnis fand seinen positiv-rechtlichen Niederschlag in § 6 StAnpG 34 . In seinem ersten Absatz wird das Mißbrauchsverbot formuliert, er hat also verdeutlichende Funktion. I m zweiten Absatz wird ein Leistungsgebot normiert, ihm kommt eine selbständig rechtbegründende Funktion zu, er bestimmt etwas, was nicht schon ohnehin gelten würde. 28
Thoma, Bühler-Festschrift 1954, S. 236 f. Becker, StW 31, 987 f.; Bühler, J W 33, 1093 A n m . zu RFH, U r t e i l v o m 11.1.1933; Fleck, StW 32, 761 (765 f.); Kühn, AO, § 1 StAnpG, A n m . 5 b, S. 795 f. 30 VerwArch. Bd. 38, 398 (416). S1 Vgl. Bühler-Strickrodt, Steuerrecht Bd. 1, S. 196 f.; Bopp, Von der A u s legung u n d A n w e n d u n g der Steuergesetze, S. 140 f. 32 Vgl. Becker, StW 33,1023. 33 Vgl. Mattern, JZ 53, 400; Friedrich, N J W 54, 1388 (1390); Kruse, StW 58, 719 (734 f.); Tipke, StW 58, 738 (744 f.). 34 „1. Durch Mißbrauch v o n Formen u n d Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts k a n n die Steuerpflicht nicht umgangen oder gemindert werden. 2. Liegt ein Mißbrauch vor, so sind die Steuern so zu erheben, w i e sie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen, Tatsachen u n d Verhältnissen angemessenen rechtlichen Gestaltung zu erheben wären." 29
Zweiter Abschnitt I. D i e A n w e n d b a r k e i t d e s M i ß b r a u c h s g e d a n k e n s a u f d i e G r u n d r e c h t e des G r u n d g e s e t z e s β 3 Ausgangspunkt und Motivation
Art. 1 Abs. 3 GG hat die Grundrechte zu unmittelbar bindenden subjektiven öffentlichen Rechten erstarken lassen35. Sie begründen eine Verpflichtung der staatlichen Gewalten, der eine Berechtigung auf der Seite des Grundrechtsträgers entspricht, wobei die Verwirklichung des Schutzes vom Belieben des Geschützten abhängt3®. Abstrakte Formulierung und unmittelbare Geltung der Grundrechtssätze machen die Grundrechte aber zugleich mißbrauchsanfällig. Es liegt nahe, dieser negativen Begleiterscheinung durch einen Rückgriff auf den allgemeinen Reçhtsgedanken der Mißbrauchslehre Herr zu werden 37 . Damit zeichnet sich als erstes ein methodisch vertretbarer Weg ab, mißbräuchliche Grundrechtsausübungen auch dann vom Grundrechtsschutz auszunehmen, wenn die Grundrechtsformel entweder überhaupt keinen oder nur einen eng begrenzten Eingriffsvorbehalt enthält 38 . Überdies lassen sich aus dem Mißbrauchsgedanken Ansätze entwickeln für die Lösung von Grundrechtskollisionen, die abzugrenzen der Gesetzgeber bisher weder Möglichkeit noch Gelegenheit gefunden hat 39 . Aber 85 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I I I , RdNr. 96, S. 45; v. MangoldtKlein, A r t . 1, A n m . V 2, S. 158 f.; Hamann, K o m m . A r t . 1, A n m . 10, S. 73; H ä berle, Wesensgehaltsgarantie, S. 70 ff. 3 « Vgl. Wolff, V e r w R I , § 43 I I I d, S. 242 f.; Forsthoff, VerwR, § 10, 3, S. 177 ff. 37 Der Gedanke findet sich schon bei Scheuner, Recht—Staat—Wirtschaft, Bd. I I I , S. 126 (160); bei Kaufmann, W D S t R L 9 , 1 (15); bei Geiger, K o m m . V o r § 36, S. 135; bei Wernicke, Komm., A r t . 18, Erl. 1 c ß, S. 4, dort allerdings n u r f ü r den Mißbrauchsfall des A r t . 18 GG. F ü r den F a l l der sittenwidrigen G r u n d rechtsausübung: Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 74, S. 61. Gruridsätzlich zustimmend: Lerche, Übermaß, S. 117 f. m i t FN. 73 a. Das B V e r / G j h a t den Mißbrauchsgedanken i n seinem Beschluß Bd. 12,1 (4) herangezogene/Erwogen, aber abgelehnt w i r d der allgemeine Mißbrauchsvorbehalt v o n Dfyrig, JZ 52, 513; Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (99); Hamann, Komm., A r t . 18, ^ n m . 2, S. 190; v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 4 c, S. 535 m i t weiteren Nad&^reisen. 38 Daß insoweit hemmungslose Freiheit gewährt sei, hat £çhon Nawiasky, Grundgedanken des Grundgesetzes, S. 24, entschieden bez\H$ifelt; vgl. hierzu Düng, N J W 54,1394 f. . il « 89 Dies ist insbesondere v o n Bedeutung f ü r die A n w e n d u n g von Generalklauseln i m Rahmen eines GrundrechtsVorbehalts.
2 Gallwas
1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
18
noch mehr vermag der Mißbrauchsgedanke zu leisten. Es ist anerkannt, daß der Gesetzgeber auch in dem Bereich, der ihm vorbehalten ist, nicht frei schalten kann. Er hat die Wesensgehaltszone der Grundrechte zu beachten und muß der Wechselwirkung Rechnung tragen, die sich zwischen Grundrecht und grundrechtsbegrenzendem Interesse abspielt40. Beide Erscheinungen: der Wesensgehalt und die angedeutete Wechselwirkung, sind mit diffizilen Konkretisierungsfragen behaftet. Hier wäre ein gesicherter Teilbereich gewonnen, wenn man die These aufnähme, daß eine mißbräuchliche Grundrechtsausübung niemals vom Wesensgehalt gedeckt sein könne und zudem gänzlich außerstande sei, Impulse für die Wechselwirkung zwischen Grundrecht und grundrechtsbegrenzendem Interesse abzugeben41. Nicht zuletzt können unter Zuhilfenahme des Mißbrauchsgedankens Indiz und Richtmaß für zweifelhafte Fälle des Pönalisierens im Grundrechtsbereich gewonnen werden; etwa in dem Sinne, daß nur solche Verhaltensweisen unter Strafe gestellt sein dürfen, die sich anhand der noch darzulegenden Kriterien als mißbräuchliche Freiheitsbetätigungen nachweisen lassen42. Es ist offensichtlich, daß zwischen dem Mißbrauchsgedanken und dem sogenannten Immanenzdenken viele Verbindungslinien und Parallelen verlaufen. Dennoch sind Erwägungen über die Geltung des Mißbrauchsverbots im Bereich der Grundrechte nicht überflüssig. Die allgemeine Mißbrauchslehre hat ihre Vorzüge. Der wohl gewichtigste Vorwurf gegen das Immanenzdenken, nämlich es löse durch die Uferlosigkeit des Immanenten die Grundrechts-Bastionen auf 48 , läßt sich im Hinblick auf die noch darzustellende Typik der Mißbrauchssituationen abschwächen. Außerdem brauchte dann nicht versucht zu werden, aus der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG den methodischen Anhaltspunkt für das Immanente zu gewinnen 44 . Schließlich würden die Grundrechte durch den Mißbrauchsgedanken auf rechtsdogmatisch bereits gefestigtem und ge40
So das L ü t h - U r t e i l , BVeriGE 7,198 (210 f.). Vgl. hierzu v. Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt, S. 20 m i t FN. 26 u n d S. 47. Die Umkehrung, daß nämlich i m m e r u n d n u r dort, w o der Staat nicht Mißbrauch abwehre, der Wesensgehalt verletzt sei, so Hippel, aaO. S. 50, ergibt sich daraus nicht. 42 V o r diesem H i n t e r g r u n d begegnet das G a u k l e r - U r t e i l des Bad.-Württ. VGH v. 15. 2. 64, J Z 64, 501, Bedenken. Vgl. auch Bender, D Ö V 65,326. 43 Vgl. hierzu Herbert Krüger, Ν J W 55, 201 ; D Ö V 55, 597. 44 So Maunz, Staatsrecht § 14 12, S. 100; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 72, S. 60. Daß m a n hierbei i n die Gefahr gerät, die Schrankentrias m i t begriffsfernen I n h a l t e n zu strapazieren, zeigt sich an Nipperdeys Versuch m i t der Gemeinwohlklausel, Grundrechte, Bd. I V 2. Halbbd. S. 813 ff., u n d an D ü rigs Bemühung, den Begriff „Ordnung" unter Vernachlässigung des einschränkenden Speziflkums „verfassungsmäßig" zu interpretieren, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 75, S. 62. E i n Hinweis auf den „bloß psychologischen (Beruhigungs-)Wert" dieses Vorgehens findet sich bei v. Hippel, Grenzen u n d W e sensgehalt, S. 33. 41
§ 4 Einwendungen gegen die Übertragung
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sichertem Weg eingegrenzt, so daß die Kritik, man „deduziere transzendental ungesetzte Schranken aus gesetzten Garantiegehalten unter Zuhilfenahme orphischer Immanenzlehren" 45 an Schärfe und Boden verlöre. S 4 Einwendungen gegen die Übertragung der Mißbrauchslehre auf die Grundrechte
Der Versuch, auch die Grundrechte unter den allgemeinen Mißbrauchsvorbehalt zu stellen, hat sich mit einer Reihe kritischer Argumente auseinanderzusetzen. Die Ansätze dafür ergeben sich einmal generell aus der Besonderheit des Rechtsgebiets, das hier dem Mißbrauchsgedanken eröffnet werden soll, zum andern spezieller aus Wesen und Struktur der Grundrechte, schließlich aus dem Grundgesetz selbst.
1. Die Anwendbarkeit
des Mißbrauchsgedankens
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im Staatsrecht
Es ist nichts Neues, daß die Mißbrauchslehre, wenn sie weiteres, vor allem öffentlich-rechtliches Terrain zu gewinnen sucht, auf den Einwand stößt, die Besonderheit gerade dieses Rechtsgebietes lasse für den Mißbrauchsgedanken schlechterdings keinen Raum. Zur Begründung dieser Abwehrhaltung wird darauf verwiesen, der Mißbrauchsgedanke stehe in enger Verbindung mit dem Treu- und Glaubensprinzip des § 242 BGB, er sei gewissermaßen nur ein Anwendungsfall dieses Prinzips, und lasse sich daher nicht auf Rechtsverhältnisse übertragen, die total anders als das Schuldverhältnis strukturiert seien47. I n der Tat kann man sich der Anerkennung des häufig mit „sentimentalem Einschlag"48 verstandenen Treu- und Glaubensprinzips als Prinzip des Staatsrechts eher verschließen als der Vorstellung, daß auch die in der Verfassung niedergelegten subjektiven Rechte und Kompetenzen zur Vermeidimg eines „Rechtsnotstandes"49 unter dem allgemeinen Mißbrauchsvorbehalt stehen. So hat Schule dem Treu- und Glaubensprinzip die Qualität einer staatsrechtlichen Kategorie entschieden abgesprochen und sich dabei auf dessen Bezug zur personalen Ethik berufen 50 . Allerdings ging er bei seiner Unter45
Wehrhahn, AöR 82,250 (274). ® Gemeint ist hier n u r der ungeschriebene allgemeine Mißbrauchsvorbehalt. Eine Zusammenstellung der positivierten verfassungsrechtlichen M i ß brauchsklauseln steht bei Klemmer, Die V e r w i r k u n g von Grundrechten, S. 4 ff. u n d bei Schmitz, Verfassungsschutzbestimmungen des A r t . 18 des Grundgesetzes, S. 27 ff. u n d S. 81 ff. 47 Vgl. oben §2. 48 Hedemann, Flucht i n die Generalklauseln, S. 48. 49 Larenz, Methodenlehre, S. 320. 50 V e r w A r c h - B d . 38,399 (420 f.). 4
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1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
suchung von einem engen Staatsrechtsbegriff aus; und zwar umschrieb er dieses Rechtsgebiet „ganz allgemein formal und durchaus roh betrachtet" als „das Sinnsystem von Rechtssätzen, nach denen sich das Für und Wider und das Zusammenspiel der an der politischen Staatswillensbildung im weitesten Sinn beteiligten Mächte vollziehen und richten sollen"51. Seine Ergebnisse beziehen sich demnach auf den organisatorischen Teil des Staatsrechts und lassen sich schon deshalb nicht ohne weiteres auf den Grundrechtsteil anwenden. I n Anlehnung an die Uberlegungen Schüles zur ethischen Ausgangslage schien zunächst auch Dürig der Ansicht zuzuneigen, das Treu- und Glaubensprinzip und mithin sein Anwendungsfall, die unzulässige Rechtsausübimg, passe für die Grundrechte nicht 52 . Neuerdings ist die Frage der Geltung des Treuund Glaubensprinzips im Staatsrecht von Bayer untersucht worden 53 . Er prüft, ob sich der Begriff der Bundestreue an Hand des Begriffes von Treu und Glauben auslegen lasse, und gelangt zu dem Schluß, daß trotz zweifelsohne vorhandener Querverbindungen der Bundestreue nicht ohne weiteres der Sinn einer „bundesstaatlichen bona fides" beigelegt werden könne 54 . Letztlich gelangt Bayer in seiner Untersuchung aber an einen Punkt, wo die Nähe zur Mißbrauchslehre, besonders zu ihrem Unterfall der zweck- und funktionswidrigen Rechtsausübung nachgerade ins Auge springt. Das gilt vor allem für seine Ausführungen über den Zweck der Bundestreue, daß sie nämlich das gestaltende und bewahrende Prinzip sei, ohne das weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat daseinsfähig sei; sie solle ein Gegengewicht dort bilden, wo eine der beiden im Bundesstaat wirkenden Kräfte das Übergewicht über die andere zu gewinnen und damit das in der Verfassung fein ausgewogene System von Gesamt- und Gliedstaatlichkeit zu durchbrechen drohe; die Bundestreue diene dazu, die Gegensätze und Spannungen, die dem Bundesstaat von Natur aus innewohnen, um des bundesstaatlichen Bestandes willen auszugleichen und zu entschärfen 55. I n Anbetracht dieser Näherung dürfte es kaum verfehlt erscheinen, die Verpflichtung zur Bundestreue als Umschreibung des auf staatsrechtliche Kompetenzen zugeschnittenen allgemeinen Mißbrauchsverbotes aufzufassen. Damit aber gerät die These, der Mißbrauchsgedanke sei für das Staatsrecht unbrauchbar, ins Wanken. Es erhebt sich zudem ganz allgemein die Frage, ob man nicht dadurch, daß man dçn Mißbrauchsgedanken Msng mit dem Sinngehalt des § 242 51
Schule, aaO. S. 417. Vgl. Dürig, JZ 52, 513 f.; anders jedoch i n Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 74, S. 61, danach ist der Grundrechtsgebrauch unter Verstoß gegen Treu u n d Glauben „unzulässige Rechtsausübung". 68 Die Bundestreue, 1961. ^ 54 1 Bayer, aaO. S. 48. « 55 Bayer, Bundestreue, S. 52. -rh 62
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BGB verband, das ihn tragende Prinzip zu vordergründig ansetzte und daher in seiner Wirkung beschnitt. Der Zug des Mißbrauchsgedankens aus dem Schuldrecht heraus in immer neue Rechtsgebiete drängt fast zu der Überlegung, daß der Mißbrauchsvorbehalt zum Wesen eines jeden Rechtsverhältnisses gehört. Dann nämlich wäre für seine Anwendbarkeit weder die Art des Rechtsverhältnisses noch der Status der Beteiligten ausschlaggebend; es genügte, daß ein Rechtsverhältnis besteht. I n der Tat erscheint es durchaus plausibel, wenn Rechtsträger miteinander in einer Beziehung stehen, kraft welcher der eine berechtigt, der andere verpflichtet ist, anzunehmen, daß allein diese Macht des einen über den anderen jene Nähe erzeugt, aus der die Nebenpflicht erwächst, sich einer zweck- und funktionswidrigen Rechtsausübung zu enthalten.
2. Speziellere Einwendungen Speziellere Einwendungen gegen die Übertragung knüpfen am Mißbrauchsgedanken selbst an. Begriffsnotwendig für den Rechtsmißbrauch ist — das wurde dargelegt — eine Inkongruenz zwischen dem Rechtsschein, wie ihn die Formulierung einer Rechtsnorm abgibt, und dem wirklichen Rechtsinhalt. Man hat daher zu prüfen, ob eine solche Inkongruenz im Grundrechtsbereich überhaupt auftreten kann. Sie wäre ausgeschlossen, wenn die Grundrechte wegen ihrer verfassungstheoretischen Struktur oder ihrer positiv-rechtlichen Ausgestaltung gar keinen Rechtsschein erzeugten, wenn sich bei ihnen Rechtsscheinsbereich und Rechtsinhaltsbereich restlos deckten oder wenn sich Kriterien zur Abgrenzung dieser beiden Bereiche nicht aufstellen ließen. Die Ansicht, Grundrechtsformulierungen seien prinzipiell ungeeignet, den Anschein einer Berechtigung auszulösen, wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Sie stände im Widerspruch zu Art. 1 Abs. 3. Was sollte schon den Gesetzgeber, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als „unmittelbar geltendes Recht binden", wenn nicht der in den Formulierungen der „nachfolgenden Grundrechte" objektivierte Wille des Verfassunggebers. Der Grundrechts-Interpret hat zunächst einmal diese Formel ernst zu nehmen56, d. h. er muß davon ausgehen, daß jede Erfüllung des Tatbestandes einer Grundrechtsnorm die zugeordnete Rechtsfolge auslöst. Gerade darin aber liegt der mißbrauchsanf ällige Teil der Rechtsnorm, ihr mißbrauchbarer Rechtsschein. Ernster zu nehmen ist das Argument, das auf die unzureichende rechtstechnische Präzision der Grundrechtsnormen abstellt 57 . Der 56
Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I I I , RrNr. 96, S. 45. Vgl. hierzu Hans Huber, Verfassungsbeschwerde, S. 17 f. besonders S. 19; Erich Kaufmann, W D S t R L 9,1 (12). 57
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1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
Grundrechtskatalog enthält viele Begriffe, über die nie zuvor judiziert wurde. Man denke an die „Würde des Menschen", an die „Persönlichkeit", an den „Glauben", das „Gewissen", die „Kunst" u. a. Wenn diese Begriffe ihre rechtstechnische Funktion, nämlich den gemeinten Tatbestand erkennbar darzustellen, nicht erfüllen könnten, ihr Inhalt vielmehr ausnahmslos erst am Einzelfall durch konkretisierenden Richterspruch zu aktualisieren wäre, dann fehlte den Grundrechten allerdings die für den Rechtsmißbrauch erforderliche Substanz. Aber so ist es ja nicht. Trotz der „grauen Zonen" tatbestandsmäßiger Unsicherheit, die diese Begriffe aus dem allgemeinen Sprachgebrauch mitgebracht haben, bezeichnen sie doch eine ganze Reihe von Verhaltensweisen bzw. Sachverhalten zweifelsfrei. Man hat es also nicht mit Begriffen zu tun, deren Wortverständnis nichts Interpretierbares hergäbe, die darum erst — etwa wie die Treu- und Glaubensformel 58 — aus einem anderen rechtlichen Komplex, auf den sie weiterverweisen, herauszuarbeiten wären 59 , vielmehr handelt es sich auch hier um echte beschreibende Rechtsbegriffe, deren Wortlaut einen aus sich verständlichen Inhalt angibt 80 . Zum Beispiel erfaßt der Begriff „Religionsausübung" ohne Zweifel die Teilnahme an einem Gottesdienst oder religiöse Handlungen wie das Beten oder das Beichten. I n diesen Verhaltensweisen liegt etwas Gemeinsames, das sich gewissermaßen „vordergründig formal"® 1 nach einsehbaren und nachvollziehbaren Kriterien ohne weitere Wertung bestimmen und unter die Formel „Religionsausübung" subsumieren läßt. Eine weitere Wertung, d. h. eine die Werthaftigkeit der konkreten Verhaltensweise einbeziehende Bestimmung dessen, was zur Religionsausübung gehört®2, würde vom Grundrecht weg und dazu führen, daß die staatlichen Gewalten nach ihren eigenen Vorstellungen Religion von Nichtreligion, Freiheit von Unfreiheit abgrenzten®8. Bei der „vorder58 Vgl. Wieacker, Z u r rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 20, FN. 39, danach handelt es sich bei den T r e u - u n d Glaubensmaximen nicht u m fertige Schablonen, die der Richter einfach auf ein untergelegtes Material durchzeichnete, sondern u m eine v o m Richter selbst zu realisierende Anforder u n g i n der bestimmten Situation j e eines Rechtsfalles. 59 I n diese Richtung tendiert w o h l auch v. Hippel m i t seiner Auffassung, daß die Grundrechtsnormen nicht mehr geben können als den Hinweis, daß bestimmten Freiheitsinteressen bei der Ordnung der Lebensverhältnisse u n d der Lösung von Koniliktsfällen ein besonderes Gewicht beizumessen ist; Grenzen u n d Wesensgehalt, S. 18. 60 Vgl. Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V , 2. Halbbd. S. 757. 81 Z u dieser A r t der Begriffsbestimmung siehe v. Mangoldt-Klein A r t . 18, A n m . I I I 3 b, S. 259. 88 Wie sie z. B. Hamel, Grundrechte, Bd. I V , 1. Halbbd. S. 64, f ü r die Bekenntnisfreiheit v o r n i m m t . Hierzu Podlech AöR 88, S. 185 ff. Ähnliche methodische Ansätze finden sich bei Dürig, S u m m u m lus Summa Iniuria, S. 80 (94 f.) f ü r die Pressefreiheit u n d bei Ridder, Grundrechte Bd. I I , S. 265 f ü r die Meinungsfreiheit. 88 Vgl. hierzu Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140 (167).
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gründig formalen" Bestimmung des Inhalts der bisher rechtsfernen Begriffe in den Grundrechtsformulierungen wiederholt sich ein jedem Juristen wohlbekannter Vorgang: Begriffe des allgemeinen Sprachgebrauchs werden beim Eintritt in die rechtliche Sphäre auf einige typisierende Elemente, nämlich die Tatbestandselemente, verkürzt. Dadurch gewinnen sie zwar ihre juristische Praktikabilität, d. h. sie weisen einen bestimmten Sachverhalt als tatbestandsmäßig oder nicht tatbestandsmäßig aus, zugleich aber ergibt sich eben wegen der dem Tatbestand zugeordneten Rechtsfolge die Mißbrauchbarkeit der entsprechenden Rechtsnorm. I m Zusammenhang mit der Frage, ob die Grundrechte überhaupt den Anschein einer Berechtigung auslösen, ist auch zu erwägen, ob nicht ein den Grundrechten vom Verfassunggeber zunächst zugedachter Rechtsschein durch allmählich sich entwickelnde Auslegungsmethoden verlorengegangen ist. Vor allem Forsthoff hat hier auf eine Gefahr für die Grundrechte hingewiesen. Er wendet sich gegen die geisteswissenschaftliche Interpretationsmethode, weil die Preisgabe der klassischen Regeln der Auslegungskunst, die eine Auflösung des Gesetzesbegriffes im Inhaltlichen bedeute, der Norm die Evidenz nehme und weil die neuen Methoden wertmaterialer Sinnerfassung außerstande seien, der Norm sozusagen auf anderer Ebene einen evidenten, für den Normvollzug bereitstehenden generellen Gehalt zuzuerkennen®4. Diese Befürchtungen scheinen zu weit zu gehen. Die geistesgeschichtliche Methode, deren Charakteristikum darin liegt, daß sie die ideengeschichtlichen Zusammenhänge unserer Rechtskultur bewußt als Erkenntnisquelle für die Erfassimg des positiven Rechts und die Herausarbeitung seiner tragenden Grundgedanken fruchtbar zu machen versucht®5, führt noch nicht zwangsläufig zu einer völligen Sinnentleerung der Grundrechtsnormen und zu einer totalen Auflösung des Verfassungsgesetzes in Kasuistik. Es darf nicht verkannt werden, daß es auch Smend bei der rein geisteswissenschaftlichen Bearbeitung des Systems der Grundrechte als geschichtlich begründetes und bedingtes Ganzes letztlich noch immer um die richtige Anwendung der in der Verfassung stehenden Grundrechtsformeln geht®®. Man darf daher wohl annehmen, daß die geisteswissenschaftliche Interpretationsmethode nur in den Grenzfällen, also dort, wo die Evidenz der Normen ohnehin schon nachläßt, wirkt, indem sie eine exaktere Erkenntnis des wahren Umfanges eines Grundrechts ermöglicht. Soweit sie dabei den durch die Gesetzesformel ausgelösten Rechtsschein widerlegen hilft, leistet sie genau dasselbe wie die allgemeine Mißbrauchs64 Forsthoff, Carl-Sdimitt-Festschrift, S. 35 (47); vgl. zu eben diesem Problemkreis Forsthoff, Z u r Problematik der Verfassungsauslegung. « So Holstein, AöR n. F. Bd. 11,1 (31). ·· Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 165.
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1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
lehre mit ihrem Abgrenzungskriterium „Funktion und Zweck der Rechtsnorm". I m einen wie im andern Fall beseitigt man nicht etwa jegliche Evidenz einer Rechtsnorm, sondern man schränkt sie dort ein, wo ihr die der Norm erkennbar zugrunde liegenden Vorstellungen widersprechen67. Auch die These, bei Grundrechten seien die Bereiche von Rechtsschein und Rechtsinhalt stets restlos kongruent und daher der Mißbrauchsgedanke unanwendbar, läßt sich nicht überzeugend begründen. Eine Inkongruenz von Rechtsschein und Rechtsinhalt wäre freilich logisch ausgeschlossen, wenn eine Norm absolut, d. h. von jeder verbindlich vorgegebenen rechtlichen Begrenzimg abgelöst, gesetzt werden könnte, so daß ihr Inhalt ausnahmslos von der positiven Formulierung her zu ermitteln wäre. Doch ist ein solches Verständnis der Rechtsnormen unserem heutigen Rechtsdenken mit seinen vielfältigen Durchgriffen zur Natur der Sache einerseits, zum überpositiven Recht, Naturrecht und auf Gerechtigkeitsideen anderseits prinzipiell fremd. Sollten die Grundrechte hier eine Ausnahme machen, so müßte dies seinen Grund in ihrer Besonderheit haben. Es müßte sich entweder aus ihrer Eigenschaft als Freiheitsrechte oder aus ihrer Eigenschaft als subjektive öffentliche Rechte mit Verfassungskraft ergeben. Der Begriff des Freiheitsrechts vermag wenig zu helfen. Er besagt lediglich, daß, soweit die gewährleistete Freiheit reicht, die verschiedensten Konkretisierungsformen rechtlich zulässig und entsprechende Beeinträchtigungen zu unterlassen oder aufzuheben sind. Man täte dem Begriff Gewalt an, wenn man ihm eine Aussage über den Umfang der Gewährleistung oder einen Hinweis auf denjenigen, der diesen Umfang zu bestimmen hat, entnehmen wollte 68 . Vor allem ist nicht einzusehen, wie sich aus dem Begriff „Freiheitsrecht" sollte folgern lassen, daß alle Widersprüche zu anderen Verfassungsprinzipien oder zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen zugunsten der Freiheit zu lösen seien69. Angesichts der Verweisung in Art. 1 Abs. 2 GG läßt sich nicht von der Hand weisen, 87 Vgl. hierzu die Methode, die dem Beschluß des BVerfG, Bd. 12,1, zugrunde liegt. I n d e m das B V e r f G es dem Staat versagt, den I n h a l t der Religionsfreiheit näher zu bestimmen, vermittelt es i m Ergebnis jeder Handlung m i t religiösem Bezug den Schutz des A r t . 4 GG. Das Gericht n i m m t jedoch die Fälle aus, i n denen die Freiheit mißbraucht w i r d . Z u r Kennzeichnung des Mißbrauchsfalles bemüht es die grundrechtliche Wertordnung, insbesondere die Würde der Person. 88 Auch w e n n Carl Schmitt davon spricht, daß es zum Wesen der Freiheit gehöre, daß sie prinzipiell unbegrenzt sei, d. h. I n h a l t u n d Umfang ganz i m Belieben des Individuums lägen, vgl. Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 208, FN. 72; Verfassungslehre, S. 164; HdBDStR Bd. I I S. 591, so gilt dies w o h l n u r f ü r die verschiedenen Ausübungsmöglichkeiten innerhalb des verfassungsmäßig begrenzten Freiheitsbereiches. 69 So aber Uber, Freiheit des Berufs, S. 27.
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daß die positiven Freiheitsrechte des Grundgesetzes an den Normen des überpositiven Rechts orientiert sind70, und das betrifft nicht nur ihren berechtigenden Teil, sondern gleichermaßen die Bindungsseite. Es wäre nicht recht zu verstehen, daß überpositive Rechte durch Positivierung ihre überpositiven Bindungen sollten abstreifen können 71 . Als Verfassungsrechte nehmen die Grundrechte unter den subjektiven öffentlichen Rechten zweifelsfrei eine besondere Stellung ein. So sieht Smend 72 den Sinn eines Grundrechtskatalogs unter anderem darin, ein Kultursystem zu normieren, und zwar als System, das allgemeine Werte national positiviert und eben dadurch den Angehörigen eines Staatsvolkes einen materialen Status gibt, durch den sie sachlich ein Volk — untereinander und im Gegensatz zu anderen — sein sollen. Die Grundrechte erscheinen hier als Instrument staatlicher Integration. Eine ganz ähnliche Vorstellung liegt der Formulierung Krügers zugrunde, daß „Grundrechte ein Staatsbewußtsein nur dann erzeugen, wenn sich jedermann jederzeit auf das verlassen kann, was in der Verfassungsurkunde geschrieben ist" 73 . An anderer Stelle 74 spricht derselbe Autor von dem doppelten Vertrauen des Verfassunggebers in den Grundrechtsträger, dem Vertrauen nämlich, daß die grundrechtlich gesicherte Freiheit nicht unbedingt mißverstanden und mißbraucht werden muß und daß Auseinandersetzungen mit Mißverständnissen und Mißbräuchen in erster Linie durch die Abwehrkräfte der Gesellschaft getragen werden, denn, so sagt er: „es mag sein, daß die in der Zuständigkeit zu eingreifenden Feststellungen und Maßnahmen liegenden Gefahren als größer angesehen werden als die abzuwehrenden Gefahren und daß man deshalb auf staatliche Abwehr verzichtet oder ihr enge Grenzen setzt." Hier erfolgt gewissermaßen eine Aufwertung der positiven Grundrechtsformulierung. Sie besteht darin, daß man zwar einen Widerspruch zu überpositiven oder anderen mindestens den Grundrechten gleichrangigen Rechtsprinzipien als möglich ansieht, ihn aber in Kauf nimmt, um Gefahren für die gewährleistete Freiheit zu vermeiden. Jeder Rückgriff auf den Mißbrauchsgedanken wird dabei rigoros abgeschnitten, weil man letztlich fingiert, daß es bei Grundrechtsausübungen kein „Handeln ohne Recht" gebe. Ein solches Grundrechtsverständnis erweckt Bedenken. Abgesehen davon, daß eine Fiktion, wie die dargelegte, unserem Recht ganz und gar fremd ist, wird man sich fragen müssen, ob sie dem Wesen und der Bedeutung der Grundrechte wirklich ge70
Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I I , RdNr. 73 ff. S. 34 ff. I m Ergebnis ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I RdNr. 72, S. 59. 72 Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 162 f. 73 N J W 55,201 (202). 74 D Ö V 55, 597; kritisch hierzu Düng, AöR 81, 117 (137). Vgl. auch Herbert Krüger, Staatslehre, S. 544 ff. (553 f.). 71
1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
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recht wird. Man spricht schon einige Zeit von den Abnutzungserscheinungen der Grundrechte, von einer Grundrechts-Müdigkeit und Grundrechts-Überdrüssigkeit infolge häufiger Fehlberufungen 75. In welchem Maße aber müßten die Grundrechte erst in allgemeinen Mißkredit kommen, wenn sich der Grundrechtsschutz auf offenbar mißbräuchliche Grundrechtsausübungen auch noch erstreckte. Es sollte nicht übersehen werden, daß die Integrationswirkimg auf die breite Masse der Staatsbürger zielt, also gerade dorthin, wo der Rechtswert der Rechtssicherheit weitgehend unbekannt ist, statt dessen jedoch ein überaus feines Gespür für jede Art von Ungerechtigkeit erwartet werden darf 7·. Dem Integrationsgedanken wäre hinreichend und wohl besser gedient, wenn man davon ausginge, daß sich der Anschein der Berechtigung, den die Grundrechtsformel gibt, prinzipiell mit dem wahren Grundrechtsinhalt deckt, aber zugleich einräumte, daß diese Ausgangsvermutung unter bestimmten Voraussetzungen widerlegt werden kann. I n diesem Sinn könnte auch der verschiedentlich 77 aufgestellte, doch in seinem Inhalt noch keineswegs geklärte 78 Grundsatz: in dubio pro liberiate, verstanden werden. Schließlich kann auch der These, es gebe bei den Grundrechten kein zureichendes Kriterium, um den Bereich des Rechtsscheins von dem Bereich des Rechtsinhalts abzugrenzen, nicht zugestimmt werden. Freilich bedarf es zur Feststellung eines Rechtsmißbrauchs eindeutiger Kriterien. Daß eine bestimmte Rechtsausübung dem Inhalt des ausgeübten Rechts nicht entspricht, muß überzeugend sichtbar werden. Aber warum sollten sich für die Grundrechte solche Kriterien nicht finden lassen? Die zivilrechtliche Mißbrauchslehre arbeitet in diesem Zusammenhang mit den aus den Normkomplexen Treu und Glauben und den guten Sitten konkretisierten Maximen; überdies berücksichtigt sie die Forderungen, die sich unmittelbar aus der Funktion und dem Zweck einer Norm ergeben. Wenn sich nachweisen ließe, daß diese Kriterien im Staatsrecht durchwegs versagen und daß man andere nicht finden kann, entfiele die 75
Vgl. Dürig, J Z 57,169 (170) ; Herbert Krüger, Staatslehre, S. 534 f. Z u dem Gedanken, daß gerade der eigensüchtige Gebrauch der G r u n d rechte die Grundlagen ihrer tatsächlichen Geltung angreift, vgl. Fechner, Soziologische Grenzen der Grundrechte, S. 3 f. 77 Vgl. hierzu die Zusammenstellung bei Ossenbühl, D Ö V 1965, 649 (657 m i t FN. 111). 78 Wenn m a n der Formel auch w i e Uber, Freiheit des Berufs, S. 27, oder Peter Schneider, W D S t R L 20, 1 (31), als obersten Auslegungsgrundsatz oder w i e Ossenbühl, aaO. S. 68, als letzten Orientierungspunkt versteht, so ist dam i t noch nicht gesagt, i n welchen Fällen der Grundsatz zu gelten hat. Gerade darauf k o m m t es aber an. Es ist ohne weiteres einzusehen, daß der Grundsatz seinen I n h a l t je nach dem Ort seiner A n w e n d u n g variiert. Bei einem G r u n d recht, das m i t einem Gesetzesvorbehalt versehen ist, w i r k t es anders als bei einem vorbehaltsfreien Grundrecht. 78
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Möglichkeit einer Grenzziehung zwischen zulässiger und unzulässiger Grundrechtsausübung. Dann wäre man in der Tat auf eine positiv rechtliche Gegennorm angewiesen, die den Mißbrauchsfall präzisierte 7·. Auf die Ansicht Schüles, daß der Treu- und Glaubensgrundsatz keine staatsrechtliche Kategorie sei, wurde bereits eingegangen80. Nimmt man an, daß bereits Berechtigung und korrespondierende Verpflichtung die „Nähe" erzeugen, die zur Beachtung des Treu- und Glaubensgrundsatzes zwingt 81 , dann lassen sich auch für die Grundrechte aus dem Treuund Glaubensprinzip Mißbrauchskriterien gewinnen. Das gleiche gilt für die Kriterien, die aus dem Normenkomplex der guten Sitten hergeleitet werden. Welches Verhalten einem Rechtssubjekt bei der rechtlichen Beherrschung fremden Willens „ansteht", mag der Differenzierung durch die Umstände der konkreten Beziehung unterworfen sein, daß jedoch dem Bürger im Verhältnis zum Staat gar nichts anstehe, daß insofern keinerlei ethische Anforderungen beständen, wird niemanden überzeugen. Zudem enthält das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 einen klaren Hinweis, daß das Sittengesetz auch im Grundrechtsverhältnis gilt 82 . Nicht zuletzt wird man den Abgrenzungskriterien, die die Mißbrauchslehre aus der Funktion und dem Zweck einer Rechtsnorm herleitet, die Anwendbarkeit bei Grundrechten nicht generell absprechen können. Funktion und Zweck einer Norm werden durch Erforschung des Sinngehaltes und Sinnzusammenhanges88 im Normgebäude sowie bei der Suche nach der vorrechtlichen Grundidee 84 sichtbar. Gerade bei Grundrechten verbietet sich eine isolierte Betrachtungsweise. Sie sind im Zusammenhang der Verfassung als Gesamtordnung zu sehen. Daraus kann sich im Einzelfall sehr wohl ergeben, daß ein Verhalten, das an sich von einer speziellen Grundrechtsformulierung mit erfaßt ist, auf Grund besonderer Umstände der Funktion und dem Zweck des Grundrechts zuwiderläuft 85 . So Dürig, J Z 52, 513 (516). Vgl. oben §4,1. 81 A u d i das BVerwGE 6, 204 (205), läßt es f ü r die A n w e n d u n g des G r u n d satzes v o n Treu u n d Glauben genügen, daß „sich zwei Rechtsträger i m Rahmen eines Rechtsverhältnisses gegenüberstehen". 81 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 16, S. 17; RdNr. 74, S. 61 f. 88 Vgl. dazu BGHZ 3, 94 (103 f.) m i t Hinweis auf Siebert, D R 1941, 1930 (1934). 84 Dazu, daß hier unter Umständen v o n der juristisch technischen Gestalt u n g gänzlich abgesehen werden muß, vgl. Nawiasky, J Z 54, 717 (719). 85 A u d i Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (99), n i m m t den funktionswidrigen Grundrechtsgebrauch v o m Grundrechtsschutz aus. Es ist aber w o h l zu eng, wenn er n u r zwei Maßstäbe des richtigen Grundrechtsgebrauchs gelten läßt, nämlich „die Gleichwertigkeit der Freiheit des anderen" u n d „die Freiheit selbst u n d das, was zu ihrer Entfaltung nach innen u n d außen unumgänglich ist". 80
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1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
Die Aussage, daß die Kriterien, mit deren Hilfe die allgemeine Mißbrauchslehre die Unzulässigkeit einer Rechtsausübung darlegt, auch bei Grundrechten ihre Eignung bewahren, besagt nun freilich nicht, daß alle Maximen, die sich in anderen Rechtsgebieten entwickelt haben, uneingeschränkt auf die Grundrechte anwendbar seien. Jedes Rechtsgebiet hat seine eigenen Konfliktsituationen und fordert daher spezielle rechtliche Lösungstypen. Der Anwendbarkeit der allgemeinen Mißbrauchslehre steht die positive Ausgestaltung der Grundrechte im Grundgesetz nicht entgegen; weder die Formulierung des Mißbrauchsfalles in Art. 18 GG noch das System spezieller Schranken. Art. 18 GG sieht für den Fall, daß bestimmte Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung mißbraucht werden, die Rechtsfolge einer Verwirkung vor. Das könnte zu der Annahme verleiten, der Grundgesetzgeber habe damit die Mißbrauchsfälle erschöpfend geregelt, andere als die genannten Fälle seien mithin verfassungsrechtlich bedeutungslos. Eine solche AusschlußWirkung des in Art. 18 GG positivierten Mißbrauchstatbestandes läßt sich jedoch nicht zwingend dartun. Entstehungsgeschichte und Wortlaut des Art. 18 GG weisen in eine andere Richtung88. Die Bestimmung ist als Waffe gegen den politischen Mißbrauch der Grundrechte gedacht. Wie noch zu zeigen sein wird, lassen sich Mißbrauchsfälle denken, denen jeder politische Bezug fehlt und die daher gar nicht in die dem Art. 18 GG zugrunde liegende Interessenlage passen. Es erscheint deshalb verfehlt, dem Art. 18 GG in dieser Hinsicht eine Sperrwirkung beizulegen87»88. Auch aus der Tatsache, daß nicht alle Grundrechte mit umfassenden Gesetzesvorbehalten ausgestattet sind, könnte der Schluß gezogen werden, daß, sofern ein Grundrecht ganz oder teilweise ohne Vorbehalt geblieben ist, unbeschränkte und unbeschränkbare Freiheit gewährleistet sei89. Durch diese Betrachtungsweise bekäme die Schrankenformulierung des Grundgesetzes eine neue Funktion. War sie ursprünglich dazu da, zu Eingriffen in die Freiheit zu ermächtigen, so hätte sie nun auch noch die Aufgabe, im übrigen als Ausschlußnorm zu dienen. Als solche wäre sie aber mindestens dann verfassungsrechtlich bedenklich, wenn sie einen Eingriff blockierte, der ein Verhalten unterbinden soll, das offensichtlich gegen eine höherrangige Verfassungsnorm oder einen auch 86
Z u r Entstehungsgeschichte vgl. JöR, NF. Bd. 1, S. 171 ff. Vgl. unten § 41. 88 I m Ergebnis ebenso Scheuner, Recht—Staat—Wirtschaft, Bd. 3, S. 126 (141,159 f.). 89 So anscheinend Löffler, D Ö V 57, 897 (899), i n bezug auf die Pressefreiheit. 87
§ 4 Einwendungen gegen die Übertragung den Verfassunggeber bindenden Rechtsgrundsatz verstößt. Eine Bestimmung, die eine derartige Maßnahme ausdrücklich ausschlösse, trüge eben wegen dieses Verstoßes das Mal einer verfassungswidrigen Verfassungsnorm 90. Aus diesem Grunde wird man den Umstand, daß einem Grundrecht der Gesetzesvorbehalt fehlt, zwar als rechtserhebliche Aussage gegen die Zulässigkeit beliebiger anderweitiger Beschränkungen 91 werten, ihr aber nur den Rang einer widerlegbaren Vermutung zuerkennen dürfen. Selbstverständlich ist die grundgesetzliche Vermutung zugunsten der Unbeschränkbarkeit der Freiheit nicht durch den Hinweis zu widerlegen, der Grundgesetzgeber sei angesichts der unüberschaubaren Fülle möglicher Grundrechtsausübungen nur zu einer beispielhaften Aufzählung der Beschränkungen gekommen, so daß Eingriffe in den Grundrechtsbereich auch im übrigen gerechtfertigt seien, so nur ein sachliches Interesse dahinter stehe. Es geht vielmehr um den Nachweis, daß im konkreten Fall die Berufung auf ein vorbehaltsloses Grundrecht unzulässige Rechtsausübung ist. Dieser Auffassung vom Grundrecht und seinem Vorbehalt sollte man nicht mit dem Vorwurf zu begegnen versuchen, es werde die grundrechtliche Gewährleistung beseitigt92 und das Schrankensystem über den Haufen gerannt. Durch die Widerlegung der grundgesetzlichen Vermutung im einzelnen Fall wird das Grundrecht nicht verkürzt. Man macht lediglich eine Grenze der Gewährleistung sichtbar und beseitigt damit den Anschein einer Berechtigung, den die weit gefaßte Grundrechtsformel ausgelöst hat. Man erkennt das Grundrecht besser und verweist den Grundrechtsträger zurück in den eigentlichen Grundrechtsbereich 93. Dasselbe hat dort zu gelten, wo ein Gesetzesvorbehalt vorhanden, aber noch nicht ausgefüllt ist. Die Folgen der Untätigkeit des Gesetzgebers wirken sich nicht immer und überall zugunsten der Freiheit aus. Unter keinen Umständen kann die grundrechtliche Gewährleistung 90 Vgl. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnorm, S. 32 ff. BVerfGE 1,14 (Leitsatz 4); 3, 225 (231 ff.); B G H , Gutachten v o m 6. 9. 53, JZ 54, 152 ff.; Bay VerfGH, V G H NF. Bd. 11, 127 (132 ff. m i t Nachweisen); 13, 27 (31); 14, 87 (98); 17, 94 (96). 91
So Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 8, S. 10.
92
Es k a n n hier auch nicht v o n ein^r entleerenden Generalklausel des V o r behalts richtigen Grundrechtsgebraudjs gesprochen werden. Vgl. dazu Herbert Krüger, D Ö V 55, 597 (599). Solange eine unabdingbare, der Grundrechtsausübung widersprechende N o r m nicht gefunden ist, bleibt es nämlich bei der vermuteten grundrechtlichen Freiheit. J 93
So auch BGHZ, Bd. 12, 197 (203); Bachof, Grundrechte, Bd. I I I , 1. H a l b bd., S. 155 (207 f.); Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2, Abs. I I , RdNr. 74, S. 61; Maunz, Staatsrecht, § 14 I 2; S. 100; Scholtissek, N J W 52, 561 ff.; Häberle, Wesensgehalt, S. 57. I m Ergebnis ebenso Hans Huhër, Probleme des ungeschriebenen V e r fassungsrechts, S. 105 f.
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1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
ein Verhalten legitimieren, das einer höherrangigen Verfassungsnorm oder einem Gebot des überpositiven Rechts widerspricht. Die bisherigen Darlegungen haben gezeigt, daß weder das Wesen der Grundrechte noch ihre positive Ausgestaltung im Grundgesetz der Anwendbarkeit der Mißbrauchslehre prinzipiell entgegenstehen. Dieses Resultat findet eine zusätzliche Stütze in Art. 20 Abs. 3 GG, wonach vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind. Die Begriffe „Recht" in Art. 20 Abs. 3 und in Art. 1 Abs. 3 GG sind nicht inhaltsgleich. Auch insoweit hängt die Begriffsbestimmung von der Funktion ab, die das Wort in der jeweiligen Norm zu erfüllen hat 94 . Diese Funktion ist in den beiden Bestimmungen verschieden. Art. 1 Abs. 3 GG bringt eine Vermutung für die unmittelbare Vollziehbarkeit der Grundrechte als positives, aktuelles Recht. I n Art. 20 Abs. 3 GG hingegen wird die normanwendende staatliche Gewalt verpflichtet, Gesetzen, die in einem unerträglichen Widerspruch zu nicht positiviertem Recht stehen, den Gehorsam zu versagen 95. Darum hat man unter „Recht" im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG die aus den demokratisch-rechtsstaatlichen Grundprinzipien unmittelbar ableitbaren Rechtsnormen, aber zudem auch alle sonstigen von der allgemeinen Rechtsüberzeugung getragenen, ungeschriebenen Rechtsnormen zu verstehen 96. Aus der normativ-kritischen Funktion 97 des Begriffes „Recht" in Art. 20 Abs. 3 GG wird man folgern dürfen, daß auch positive Grundrechtsformulierungen Korrekturen erfahren. Das Rechtsstaatsprinzip verkettet auf diese Weise die individuellen Grundrechte mit der objektiven überindividuellen Ordnung 98 . Ein Richter, der sich bei einer Entscheidung ausschließlich auf den freiheitlichen Gehalt einer positiven Grundrechtsformulierung verließe, obwohl die konkrete Grundrechtsausübung gegen allgemeine Rechtsgrundsätze verstößt, entledigte sich der ihm auferlegten Bindung 99 . 94
(38).
So f ü r den Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung" BVerfGE
6, 32
95 Vgl. Maunz, Staatsrecht, § 10 I I 3 c, S. 64; Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 20, RdNr. 72, S. 30. 9β Maunz, Staatsrecht, § 10 I I 3 c, S. 64. 97 Vgl. Wernicke, K o m m . A r t . 20, Erl. I I 3 e, S. 11. 98 Vgl. hierzu Hesse, Festgabe f ü r Smend, 1962, S. 71 (89); daß auch z w i schen den positiven Grundrechten u n d den Erfordernissen eines materiell v e r standenen Rechtsstaats Spannungen auftreten können, w i r d v o n Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 20, RdNr. 72, S. 29, nicht berücksichtigt. Die Formulierung, die Grundrechte realisierten gleichzeitig „Gesetz" u n d „Recht", erscheint daher mißverständlich. 99 Daß sich auch hier Gefahren f ü r die Evidenz des positiven Rechts ergeben, ist nicht zu bestreiten. Vgl. Forsthoff, D Ö V 59, 41 (42 f.). Sie lassen sich aber w o h l dadurch abfangen, daß m a n sich auf einleuchtende u n d überzeugende Rechtsstaatserfordernisse beschränkt. Es geht hier letztlich darum, die Evidenz der Negation aufzubauen.
§ 5 Der mißbrauchbare Inhalt der Grundrechte
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I I . D i e M ö g l i c h k e i t e n des G r u n d r e c h t s m i ß b r a u c h s Mit der Annahme, daß ein Mißbrauch von Grundrechten möglich und verfassungsrechtlich betrachtet ein Handeln außerhalb der Grenzen der Grundrechte ist, stellt sich als nächstes die Frage, in welcher Weise Grundrechte mißbraucht werden können. Verständlicherweise läßt sich die Antwort nicht von den Einzelfällen her finden. Man müßte ins Uferlose gehen und bliebe zwangsläufig unvollständig. Es kann nur versucht werden, Mißbrauchstypen zu erkennen. Hierfür sind vornehmlich zwei Fragen von Bedeutung, nämlich: was kann bei den Grundrechten mißbraucht werden und wessen Interessen sind bei der Feststellung eines Mißbrauchsfalles zu berücksichtigen?
δ 5 Der mißbrauchbare Inhalt der Grundrechte
Jedes subjektive Recht hat ein Rechtsobjekt. Es besteht in der Verpflichtung, die die berechtigende Norm einem Rechtsträger auferlegt, wobei die Sanktion in die Macht des Berechtigten gestellt ist 100 . Dementsprechend liegt der Mißbrauch eines subjektiven Rechts darin, daß einem Rechtsträger eine Verpflichtung angesonnen wird, die nur dem Schein nach vorhanden ist, und das Mißbrauchbare einer berechtigenden Norm ist ihr Verpflichtungsgehalt, wie er sich aus dem Wortlaut ergibt, oder, vom Berechtigenden her gesehen, die eingeräumte, rechtliche Willensmacht. Durch eine grundrechtliche Gewährleistung erhält der Grundrechtsträger in der Regel eine zweifache Willensmacht. Sie gewährt ihm die Freiheit, von der eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen oder nicht 101 . Das Recht der freien Meinungsäußerung etwa erstreckt sich auch auf das Schweigen. Zudem erlangt der Grundrechtsträger die Freiheit, zwischen mehreren positiven Ausübungsmöglichkeiten zu wählen 102 . Dabei kann sich der Berechtigte zu bereits vorgegebenen Verhaltensweisen entscheiden, sich ζ. B. zu einer der überkommenen Konfessionen bekennen, oder aber das Grundrecht in einer Weise ausüben, die es bisher nicht gab 103 , er kann sich z.B. einen neuen Beruf schaffen 104. Den verschiedenen Stufen der Grundrechtsausübung entsprechen verschiedene Mißbrauchsmöglichkeiten. Der Mißbrauch kann einmal darin 100
So Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 202. Eine Ausnahme bildet das Pflichtrecht des A r t . 6 Abs. 2 S. 1 GG. 102 Diese Möglichkeit entfällt allerdings beim Asylrecht des A r t . 16 Abs. 2 S. 2 GG. 108 A l l e i n das ist der Grund, w a r u m es bei echten Freiheitsrechten keinen numerus clausus der Ausübungsmöglichkeiten geben kann. Vgl. hierzu Geiger, K o m m . V o r § 36, A n m . 2, S. 134 f. 104 Vgl. BVerfGE 7,377 (397). 101
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1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
liegen, daß der Grundrechtsträger unter gewissen Umständen überhaupt von einem bestimmten Grundrecht Gebrauch macht. Zum anderen kann er darin bestehen, daß das Grundrecht in einer bestimmten Art ausgeübt wird. Es bedarf keiner besonderen Darlegung, daß gerade die Freiheit, selbständig über die Art der Rechtsausübung zu bestimmen, leicht mißbrauchbar ist. Eben weil die gesetzlich eingeräumte Willensmacht inhaltlich kaum präzisiert ist, nimmt die Gefahr zu, daß die Realisierung des freiheitlichen Gehaltes einer Grundrechtsformulierung mit dem wahren Inhalt des Grundrechts nicht übereinstimmt.
§ 6 Die Mißbrauchsrichtungen
Alle subjektiven Rechte entscheiden letztlich Interessenkonflikte. Sie bestimmen das Interesse, das den Vorzug verdient 105 . Ihnen liegt eine Analyse und eine Synthese der an der typischen Konfliktsituation beteiligten Interessen zugrunde. Interesse ist in diesem Zusammenhang nicht als inhaltsleeres Begehren oder Bedürfnis zu verstehen, sondern mehr in dem Sinn, den Lorenz von Stein dem Begriff gegeben hat10®. Danach ist Inhalt des Interesses, „daß der einzelne sich dem anderen gegenüber als ausschließlichen Zweck setzt, und jenen als Mittel für sich benützt, die Entwicklung des anderen der eigenen Entwicklung opfernd". Beim Rechtsmißbrauch verschiebt ein Rechtsträger den vom Gesetzgeber normierten Interessenausgleich zu Lasten eines anderen Interessenträgers, indem er dem Verpflichteten unter Berufung auf die verpflichtende Norm mehr abverlangt, als dieser von Rechts wegen zu leisten hat. Für gewöhnlich wird dabei ein besonders schutzwürdiges Eigeninteresse des Verpflichteten über Gebühr abgedrängt, so bei der Aufforderung, eine Schuld zu tilgen, obwohl der zugrunde liegende Anspruch längst verwirkt ist. Die Identität von Verpflichtetem und Beeinträchtigtem ist jedoch kein Wesensmerkmal des Rechtsmißbrauchs. Es ist ohne weiteres vorstellbar, daß die Ausübung eines subjektiven Rechts deswegen mißbräuchlich ist, weil ihr ein schutzwürdiges Interesse eines Dritten entgegensteht. Dem entspricht es, wenn das Zivilrecht über die Generalklauseln der §§ 138, 826 BGB auch Drittinteressen berücksichtigt; mit der Folge, daß einem Gläubiger unter Umständen verboten ist, von seinem Schuldner eine Leistung zu fordern, die einen Dritten sittenwidrig beeinträchtigte. rr
Der Vielzahl der Interessenträger, die von einer bestimmten Rechtsausübung betroffen sein können, entspricht eine Vielzahl von Miß105 106
'i.9r U/ Vgl. Enneccerus-Kipp-Wolff, Lehrbuch, Bd. 1,1. tlalbbd., S. 437 f. Gegenwart u n d Z u k u n f t , S. 139. jW
§ 6 Die Mißbrauchsrichtungen
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brauchsrichtungen. Diese lassen sich unter den verschiedensten Gesichtspunkten ordnen und typisieren. Bei der Betrachtung des Grundrechtsmißbrauchs erscheint ein Gesichtspunkt besonders wichtig, nämlich der, der die Verschiedenheit der am Grundrechtsverhältnis möglicherweise Beteiligten berücksichtigt. Man hat hier drei Beteiligte zu unterscheiden: den Rechtsgenossen, die Allgemeinheit 107 und den Staat. Alle drei tauchen bereits in den Schrankenformulierungen der Grundrechte auf, sei es, daß sie dort immittelbar angesprochen sind, sei es, daß sie sich aus den einzelnen Formulierungen erschließen lassen108. An Hand der drei verschiedenen Mißbrauchsrichtungen kann man drei Typen des Grundrechtsmißbrauchs unterscheiden: Erster Typ: Der Grundrechtsträger verletzt bei der Realisierung des freiheitlichen Gehalts eines Grundrechts schutzwürdige Interessen eines anderen Grundrechtsträgers. Zweiter Typ: Der Grundrechtsträger verletzt bei der Realisierung des freiheitlichen Gehalts eines Grundrechts schutzwürdige Interessen der Allgemeinheit. Dritter Typ: Der Grundrechtsträger verletzt bei der Realisierung des freiheitlichen Gehalts eines Grundrechts schutzwürdige Interessen des Staates. Bei dieser Einteilung handelt es sich in dem Sinne um reine Typen, daß sie voneinander unabhängig auftreten können und daß keine sich auf eine andere zurückführen läßt. Das schließt aber nicht aus, daß sie im einen oder anderen Fall kombiniert erscheinen. Es ist auch denkbar, daß ein und dieselbe Grundrechtsausübung alle drei Mißbrauchstypen vereinigt.
I I I . D a s K r i t e r i u m des
Grundrechtsmißbrauchs
Grundrechtsmißbrauch und Grundrechtsgebrauch sind in mancherlei Beziehung ähnlich. Hier wie dort realisiert der Grundrechtsträger den freiheitlichen Gehalt einer Grundrechtsformulierung. Nach der vordergründig formalen Betrachtungsweise 109 ist etwa die Wallfahrt zu einem 107 M i t Allgemeinheit ist hier nicht die Summe der einzelnen gemeint, sondern das aliud der sozialen Gemeinschaft. Vgl. dazu Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 74, S. 62. 108 Der Rechtsgenosse erscheint i n A r t . 2 Abs. 1; A r t . 5 Abs. 2; A r t . 7 Abs. 4; A r t . 9 Abs. 2/3; A r t . 13 Abs. 3; die Allgemeinheit i n A r t . 2 Abs. 1; A r t . 5 Abs. 2; A r t . 6 Abs. 3; A r t . 7 Abs. 3; A r t . 8 Abs. 1; A r t . 9 Abs. 2; A r t . 11 Abs. 2; A r t . 13 Abs. 3; A r t . 14 Abs. 3; A r t . 15; der Staat i n A r t . 2 Abs. 1; A r t . 5 Abs. 3; A r t . 9 Abs. 3; A r t . 11 Abs. 2; A r t . 17 a u n d A r t . 18. 109 Vgl. oben § 4,2.
3 Gallwas
1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
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Gnadenbild, das sich in einem Seuchengebiet befindet, ebenso als Religionsausübung i. S. d. Art. 4 Abs. 2 GG anzusehen wie eine normale Fronleichnamsprozession. Nicht selten richtet sich der Gebrauch eines Grundrechts gegen denselben Interessenträger wie der Mißbrauch. So hat gemäß Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG ein Privatschulträger dem Staat gegenüber das Recht, den Schulbetrieb nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Gegen den Staat richtete sich aber auch eine Ausübung der Privatschulfreiheit, die mehr oder minder darauf hinausliefe, die Schüler zum Kader einer revolutionären Gruppe zusammenzuschweißen. Der Grundrechtsmißbrauch erscheint im Gewände des Grundrechtsgebrauchs. U m beide zu unterscheiden, bedarf es eines Kriteriums. Man kann in diesem Zusammenhang nicht vorab mit Fallreihen mißbräuchlicher Grundrechtsausübungen arbeiten, an denen man bei einem neu auftretenden Fall das Maß zu nehmen hätte. Der Zusammenstellung derartiger Fallreihen muß die Überlegung vorausgehen, warum die eine oder andere Grundrechtsausübung nicht mehr Grundrechtsgebrauch, sondern schon Grundrechtsmißbrauch ist.
S 7 Die erforderlichen und hinreichenden Merkmale eines Grundrechtsmißbrauchs
Unter Beachtung der Erkenntnisse der allgemeinen Mißbrauchslehre lassen sich einige Merkmale zusammentragen, die erforderlich, aber auch hinreichend sind, um einen Grundrechtsmißbrauch als solchen erkennbar zu machen. Grundrechtsmißbrauch setzt Grundrechtsausübung voraus. Das bedeutet: die Handlung eines Grundrechtsträgers muß den positivierten Freiheitsgehalt einer Grundrechtsformulierung realisieren; sie muß sich — wiederum vordergründig formal gesehen110 — als Entfaltung der Persönlichkeit, als Religionsausübung, als Meinungsäußerung usw. darstellen. Handlungen, die durch eine präzisierte Gegennorm des Grundgesetzes selbst untersagt sind, scheiden als Grundrechtsausübungen aus. Erforderlich ist zudem, daß die Realisierung des freiheitlichen Gehalts eines Grundrechts das Interesse eines am Grundrechtsverhältnis Beteiligten, also eines anderen Grundrechtsträgers, der Allgemeinheit oder des Staates verletzt und daß das verletzte Interesse im Verhältnis zu dem Interesse des Grundrechtsträgers an seiner Freiheitsausübimg höher zu bewerten ist, einen Vorrang besitzt. I m Bereich der Grundrechte ist ein solcher Vorrang nur anzunehmen, wenn ein Interesse objektiv erkennbar von einer Norm oder einer rechtlichen Vorstellung geschützt 119
Vgl. oben § 4,2.
§ 7 Merkmale eines Grundrechtsmißbrauchs
35
wird, an die der Verfassimggeber selbst gebunden ist, so daß man es, falls das Grundrecht das so geschützte Interesse verdrängte, mit einer verfassungswidrigen verfassungsrechtlichen Gewährleistung zu tun hätte. Bindungen des Verfassimggebers werden heute in den verschiedensten Erscheinungsformen angenommen111. I n diesem Zusammenhang interessieren besonders die Vorstellungen über die Bindungen durch höherrangige Verfassungsnormen, durch vorverfassungsrechtliche Grundideen und durch überpositive Rechtsgedanken. Hierbei soll unter dem Begriff der höherrangigen Verfassungsnorm eine Norm verstanden werden, die einen überpositiven Rechtsgedanken in das positive Recht überträgt 112 . Eine vorverfassungsrechtliche Grundidee ist eine Vorstellung, die zwar nicht ausdrücklich in der Verfassung ausgesprochen ist, die aber einer einzelnen Verfassungsnorm oder mehreren Verfassungsnormen offensichtlich zugrunde liegt 118 . Sie darf als positives Recht bezeichnet werden, weil sie aus dem positiven Verfassungsrecht erschlossen wird. Mit einem überpositiven Rechtsgedanken hat man es zu tun, wenn ein Rechtssatz unmittelbar aus obersten Gerechtigkeitswerten abzuleiten ist, und zwar mit objektiver Erkenntnisgewißheit 114 . Einer Verankerung oder eines Ansatzes im positiven Verfassungsrecht bedarf es nicht. Stellt man die aufgeführten Merkmale zusammen, so ergibt sich als Definition des Grundrechtsmißbrauchs: Grundrechtsmißbrauch ist Realisierung des freiheitlichen Gehaltes einer Grundrechtsformulierung zu Lasten eines am Grundrechtsverhältnis Beteiligten (anderer Grundrechtsträger, Allgemeinheit oder Staat), sofern das jeweils verletzte Interesse durch eine höherrangige Verfassungsnorm, durch eine vorverfassungsrechtliche Grundidee oder durch einen überpositiven Rechtsgedanken objektiv erkennbar geschützt ist Dieses Kriterium reicht aus, um festzustellen, ob ein bestimmtes Tun oder Unterlassen Handeln ohne Grundrecht, unzulässige Grundrechtsausübung im Sinne der allgemeinen Mißbrauchslehre ist. Weiterer Anforderungen bedarf es nicht. Man könnte freilich erwägen, ob man bei Grundrechten nicht nur solche Fälle als mißbräuchliche Rechtsausübung behandeln sollte, die besonders gravierend sind. Es ließe sich etwa als zusätzliches Element des Grundrechtsmißbrauchs eine gewisse „Polizeinähe" der Handlung fordern 115 oder eine besondere Intensität des Miß111
Vgl. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen, S. 32 ff. Vgl. etwa BayVerfGH, V G H 11,127 (132 ff.) m i t Nachweisen. 113 Vgl. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, S. 50 f.; ders., J Z 1954, 717 (718 f.). BVerfGE 2, 380 (403); 10, 354 (363). 114 Vgl. hierzu etwa BVerfGE 1,14 (61) ; 3,225 (232 f.). 115 Vgl. i n diesem Zusammenhang den Hinweis bei Lerche, Übermaß, S. 132. 112
3·
1. Kap.: Rechtsmißbrauch und Grundrechte
36
brauchs, z.B. ein Verschulden des Grundrechtsträgers 116; schließlich könnte man daran denken, nur solche Grundrechtsausübungen als Mißbrauch zu behandeln, die die Interessen anderer Grundrechtsträger verletzen, weil insoweit die Gefahr eines staatlichen Mißbrauchs des Mißbrauchsgedankens geringer ist. Von den methodischen Grundlagen der allgemeinen Mißbrauchslehre ausgehend wird man derlei Einengungen nicht begründen können. Dennoch sind sie nicht unmotiviert. Hier geht es letztlich wieder einmal um das Problem der Evidenz. Nur daß es an dieser Stelle nicht die Evidenz der freiheitsbegründenden Norm ist, sondern die Evidenz der Gegennorm. Zweifelsohne handelt es sich bei den drei Beschränkungsbeispielen um Fallgestaltungen, bei denen sich die Evidenz der Gegennorm leichter erschließt. Trotzdem sollte man nicht soweit gehen, sie in anderen Fällen pauschal zu verneinen. Schließlich gibt es, wie noch zu zeigen sein wird, im Grundgesetz selbst eine ganze Reihe von Ansätzen für grundrechtsbegrenzende Gegennormen; doch auch im übrigen ist nicht einzusehen, warum die rechtsbegrenzende Funktion anerkannter allgemeiner Rechtsgrundsätze bei Grundrechten versagen sollte.
116
So v. Weber f ü r den Mißbrauchsbegriff des A r t . 18 GG, J Z 1953,293.
Zweites
Kapitel
Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten des Bonner Grundgesetzes 9 8 Vorbemerkung
Das erste Kapitel erbrachte als Resultat: Grundrechtsmißbrauch liegt vor, wenn eine bestimmte Grundrechtsausübung das vorrangige Interesse eines anderen Interessenträgers verletzt. Drei Interessenträger kommen in diesem Zusammenhang in Betracht: ein anderer Grundrechtsträger, die Allgemeinheit und der Staat, so daß drei verschiedene Typen des Grundrechtsmißbrauchs denkbar sind. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß diese deduktiv gefundenen Typen bei den im Grundgesetz verankerten Grundrechtsverhältnissen tatsächlich in Erscheinung treten. Es ist immerhin vorstellbar, daß die positive Ausgestaltung der Grundrechte die eine oder andere Mißbrauchstype ausschließt, etwa indem das Verhältnis des Grundrechtsträgers zu einem der drei anderen Interessenträger umfassend und abschließend geregelt wird, ohne daß diese Regelung gegen höherrangiges Recht verstößt. Aus diesem Grund ist jede Mißbrauchstype vorab noch an der positivrechtlichen Ausgestaltung der Grundrechte auf ihre prinzipielle Anwendbarkeit zu prüfen. Erweist sich eine Mißbrauchstype danach als annehmbar, so wird versucht, ihr einige charakteristische schutzwürdige Interessen zuzuordnen. Auf diese Weise entsteht ein Katalog von Tatbeständen des Grundrechtsmißbrauchs. Er darf allerdings angesichts der Vielfalt der Interessen und ihrer Konflikte weder als vollständig noch als abschließend verstanden werden.
Erster Abschnitt
Die erste Mißbrauchstype: Grundrechtsausübung unter Verletzung vorrangiger Interessen eines anderen Grundrechtsträgers I. Z u r p r i n z i p i e l l e n A n w e n d b a r k e i t dieser Mißbrauchstype 8 9 Allgemeines
Kern des Grundrechtsverhältnisses ist noch immer das Spannimgsverhältnis zwischen dem einzelnen und dem Staat. Das soziale Miteinander der Grundrechtsträger erweitert dieses Spannungsfeld jedoch zu einer Vielzahl von Dreiecksverhältnissen, in denen der einzelne Grundrechtsträger sowohl einem anderen Grundrechtsträger als auch dem Staat gegenübersteht und der Staat es mit zwei Trägern individueller Rechte zu tun hat. Damit stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang die Grundrechte in diesem zum Dreiecksverhältnis erweiterten Grundrechtsverhältnis gelten. Mit der Antwort auf diese Frage ist zugleich die weitere entschieden, ob nämlich die erste Mißbrauchstype bei den durch das Grundgesetz gewährleisteten Grundrechten überhaupt auftreten kann. Unter zwei Voraussetzungen wäre die erste Mißbrauchstype unanwendbar: einmal wenn die Grundrechte im Dreiecksverhältnis schlechterdings keine Geltung hätten, zum andern wenn sie zwar gelten würden, aber die dem einzelnen eingeräumte Macht staatlicherseits nicht zugunsten Dritter beschränkt werden dürfte. Beides ist nur theoretisch denkbar. Freilich könnte der Verfassunggeber Grundrechte in der Weise gewährleisten, daß er seinen Einfluß lediglich für Freiheitsbetätigungen ausgrenzt, die sich ausschließlich im Individuum-Staat-Verhältnis abspielen, dagegen Freiheitsbetätigungen, die auf Dritte ausstrahlen, vom Grundrechtsschutz ausnimmt. Er könnte die Gewährleistung jedoch auch so wählen, daß um der Freiheit willen eine staatsfreie Sphäre geschaffen wird, die auch dann nicht eingeengt werden darf, wenn der
§9 Allgemeines
39
Staat zum Schutz eines anderen Grundrechtsträgers vorgehen wollte 1 . I n der Wirklichkeit wären beide Gewährleistungsarten imbrauchbar. Die erste ließe das Grundrecht zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, denn das reine Individuum-Staat-Verhältnis ist eine Abstraktion 2 , die der Lage des einzelnen mit all ihren Abhängigkeiten und Verbindungen nicht mehr gerecht wird 8 . Die zweite dagegen wäre nichts anderes als ein staatlicher Auftakt zum Kampf aller gegen alle mit dem Ergebnis einer allseitigen Hemmimg 4 . Der Grundgesetzgeber hat bei der positiv-rechtlichen Ausgestaltung der Grundrechte diese extremen Wege bewußt vermieden. Zwar deutet der Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG auf die erste Gewährleistungsart hin, wenn er die Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung ganz pauschal enden läßt, wo Rechte anderer verletzt werden. Bei den Einzelgrundrechten hinwiederum hat es den Anschein, als habe der Grundgesetzgeber an die zweite Gewährleistungsart gedacht, weil hier durch differenzierte Zuordnung von Gesetzesvorbehalten eine im übrigen, d.h. auch dem Rechtsgenossen gegenüber, schrankenlose Freiheit zu bestehen scheint. Doch die Vordergründigkeit eines solchen Grundrechtsverständnisses wird sichtbar, wenn man es an drei anderen Aussagen des Grundgesetzes zu messen versucht. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG erteilt dem Staat einen Schutzauftrag zugunsten der Würde des Menschen. Soll dieser Schutzauftrag neben dem gleichfalls ausgesprochenen Achtungsgebot einen Sinn haben, dann kann dieser nur darin liegen, daß die staatlichen Gewalten sich Dritten gegenüber für die Menschenwürde einzusetzen haben, indem sie dafür sorgen, daß niemand seine Grundrechte zu Lasten von Rechten anderer, die einen Bezug zum Menschenwürdebereich haben, ausübt. Man wird Hans Huber beipflichten müssen: es kann dem obersten Rechtsgewissen als Gesamtverantwortung nicht gleichgültig sein, was mit den letzten Wertpositionen Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit im horizontalen Verhältnis geschieht5. Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt, daß gleiche Rechte verschiedener Rechtsträger gleich zu behandeln sind. Der einzelne kann also für eine Rechtsausübung vom Staat immer, aber auch nur, dieselbe rechtliche Durchschlagskraft fordern wie jeder andere. Eine staatliche Gewalt, die jemandem die Frei1 Diese Gewährleistungsart scheint Herbert Krüger f ü r den Wesensgehaltsbereich der Grundrechte vorzuschweben; vgl. die Formulierung i n D Ö V 1955, 597 (599), wonach der Berechtigte, w e n n er sich i n den Grenzen des Wesensgehaltes hält, die Rechte anderer soll verletzen dürfen. 2 Vgl. Hans Huber, ZeitschrSchwR Bd. 74 NF., S. 173 (190 f.). 8 Vgl. auch Düng, S u m m u m l u s Summa Iniuria, S. 83 f. Dazu, daß es überdies noch eine Gruppe v o n Grundrechten gibt, die v o n vornherein eine besondere Beziehung der Grundrechtsträger voraussetzen, siehe Ridder, G r u n d rechte, Bd. I I , S. 248. 4 So BVerwGE 1,321 (323). 5 ZeitschrSchwR Bd. 74 NF., S. 196; vgl. hierzu a u d i Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I, RdNr. 3, S. 4 f.
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
heit einräumte, eine gleiche Rechtsausübung anderer zu beeinträchtigen, setzte sich dem Vorwurf willkürlichen Handelns aus®. Die Annahme, die Einzelgrundrechte ließen den Grundrechtsträgern, wo ein entsprechender Gesetzesvorbehalt fehlt, völlig freie Hand, ist mit dem Gleichheitssatz nicht zu vereinbaren. Aus eben diesem Gesichtspunkt bestehen aber auch Bedenken gegen eine Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG, die das allgemeine Freiheitsrecht eines jeden pauschal am generellen Freiheitsrecht jedes anderen begrenzte und damit auf ein Recht reduzierte, das nur im Verhältnis: Individuum-Staat gilt. Eine solche Auslegung vernachlässigte, daß zwischen den verschiedenen Ausübungsmöglichkeiten der Entfaltungsfreiheit differenziert werden kann und differenziert werden muß. Mithin findet eine Ausübung des Rechts aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht schon dort ihre Grenze, wo sie mit der Entfaltungsfreiheit eines anderen kollidiert, sondern erst dort, wo sie auf eine gleichrangige Rechtsausübung eines anderen trifft. I m übrigen hat die geringerrangige der höherrangigen zu weichen. Art. 20 Abs. 3 GG bindet vollziehende Gewalt und Rechtsprechimg an Gesetz und Recht. Auf die normativ kritische Funktion des Begriffes Recht auch in Beziehung auf die Grundrechte wurde schon hingewiesen7. Man wird sich der Überlegung kaum entziehen können, daß der Begriff Recht in Art. 20 Abs. 3 GG auch elementare Rechtspflichten umfaßt, die den Rechtsgenossen untereinander obliegen und für deren Einhaltung der Staat zu sorgen hat. I n der Tat dürfte auch dies ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit sein, daß der Staat dem vom Mitmenschen Bedrohten zu Hilfe kommt 8 . Schon angesichts dieser drei Aussagen des Grundgesetzgebers kann die Meinung, daß die Grundrechte, sofern Interessen eines anderen Grundrechtsträgers auf dem Spiel stehen, prinzipiell keinen Schutz gewähren, nicht bestehen9. II. Der K a t a l o g v o r r a n g i g e r Interessen eines anderen G r u n d r e c h t s t r ä g e r s 1. Verfassungsrechtlich
geschützte
Interessen
910 Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
Art. 1 Abs. 1 GG bezeichnet das Wertzentrum des Grundgesetzes. Der Ausdruck „Würde des Menschen" hat allerdings keinen ein für allemal β Wegen dieses Zusammenhanges v o n Freiheit u n d Gleichheit vgl. Leibholz, Gleichheit, S. 18. 7 Oben §4,3. 8 So Hans Huber, ZeitschrSchwR Bd. 74 NF., S. 198. 9 Diese Überlegungen sind auch f ü r die D r i t t w i r k u n g der Grundrechte entscheidend, denn befürwortete m a n eine dogmatische Beziehungslosigkeit z w i schen den Grundrechten verschiedener Rechtsträger, so gäbe es für sie keinen Raum; vgl. hierzu Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I I I , RdNr. 102, S. 51.
§ 10 Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
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feststehenden Begriffsinhalt. Man hat es hier mit einem Auffangbegriff zu tun 10 . Er umfaßt alle Interessen, die dem Menschen in einer bestimmten historischen Situation kraft seines Menschseins erwachsen. Orientiert ist er an dem Bild, das sich der Grundgesetzgeber von dem Menschen gemacht hat 11 . Seinem Inhalt nach besagt er, daß der Mensch als geistig sittliches Wesen darauf angelegt ist, in Selbstbewußtsein und Freiheit sich selbst zu bestimmen, sich zu gestalten und sich in der Umwelt auszuwirken 12 . In seiner Eigenschaft als oberstes Konstitutionsprinzip wirkt der Menschenwürdesatz in alle Rechtsvorgänge hinein und ist für das Verhalten jedermanns als Wertentscheidung verbindlich 13 . Auch wertfeindliches oder wertblindes Verhalten eines Grundrechtsträgers kann gleichzeitig Grundrechtsausübung sein. Es ist ohne weiteres denkbar, daß ein und dieselbe Handlung den freiheitlichen Gehalt einer Grundrechtsformulierung realisiert und dem Gebot der Unantastbarkeit der Menschenwürde zuwiderläuft. Zu denken wäre hier etwa an eine literarische Verherrlichung der Aktion „Gnadentod", an wissenschaftliche Versuche auf dem Gebiete der „Menschenzucht"14 oder der Isolierung und künstlichen Ernährung menschlicher Gehirne, an die Erziehimg mit menschenunwürdigen Erziehungsmitteln, an die Glaubensabwerbung unter Verletzimg der Personwürde des Abgeworbenen 15. Kollisionsfälle dieser Art lassen sich nicht einfach dadurch lösen, daß man Grundrechtsausübungen, die Menschenwürdeinteressen beeinträchtigen, schlechterdings als grundgesetzwidrig behandelt. Es muß differenziert werden; denn auch derjenige, der sein Grundrecht auf diese Weise ausübt, konkretisiert ein Recht, das ihm um der Menschenwürde willen verliehen ist1®. Gerade bei der Freiheit der Kunst und der Wissenschaft, bei dem Recht auf Erziehung der Kinder und der Freiheit der Religionsausübung kann man den Menschenwürdegehalt nicht wegdiskutieren. Die Staatsgewalt steht hier vor dem Dilemma, zum Schutz der 10 Die Konkretisierungsbedürftigkeit des Begriffes steht seiner Justiziabil i t ä t nicht entgegen; vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I , FN. 2, S. 3 f. m i t Nachweisen. 11 Vgl. hierzu etwa BVerfGE 4, 7 (15 f.). 12 So Maunz, Apelt-Festschrift, S. 114, i n Anschluß an Wintrich, B a y V B l . 1957, 137 (138); vgl. auch v. Mangoldt-Klein, A r t . 1, A n m . I I I 3, S. 148 f.; Wernicke , Komm., A r t . 1, Erl. l a , S. 1 f.; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1, RdNr. 17 f., S. 11 f.; Weinkauff, N J W 1960, 1689 (1693); Wertenbruch, Grundgesetz u n d Menschenwürde, S. 180. 13 So Wintrich, B a y V B l . 1957,137 (138 f.). 14 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I, RdNr. 39 f., S. 19 f. 15 So BVerfGE 12,1 (4). 16 I n diesem motivierenden Sinn ist w o h l das verknüpfende „ d a r u m " i n A r t . 1 Abs. 2 GG zu verstehen.
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
Menschenwürde in einen Individualbereich eingreifen zu müssen, der seinerseits dem Schutz der Menschenwürde zu dienen bestimmt ist 17 . Es bietet sich nur ein Ausweg: der Rückgriff auf eine Interessenabwägung18. Dazu bedarf es freilich Kriterien der Abgrenzimg, die so eindeutig und so einleuchtend sind, daß ihnen Verbindlichkeit zukommt. Man wird in diesem Zusammenhang besonderes Gewicht auf die Rangstufungen innerhalb der Verfassungsrechtsgüter zu legen haben, die sich schon im Grundrechtskatalog selbst abzeichnen. Zu beachten ist etwa das Rangverhältnis vermögensbezogener und geistiger Freiheitsausübungen, das aus den differenzierten Schrankenvorbehalten erschlossen werden kann. Zudem kann auf den Bestand an Abwägungsgrundsätzen zurückgegriffen werden, die das Zivilrecht ausgebildet hat; so auf die Grundsätze, daß Interessen nach der Intensität der Wertbeziehung zu ordnen sind, daß ein Interesse nicht zu Lasten eines anderen durchgesetzt werden darf, wenn ein weniger belastendes Vorgehen zum selben Ziel führt, schließlich ist zu beachten, daß angestrebter Erfolg und der zu erwartende Schaden nicht in einem offensichtlichen Mißverhältnis stehen19. Erweist sich nach Maßgabe bereits erprobter oder erst noch aufzufindender Abwägungsgrundsätze das beeinträchtigende Interesse als überragend, dann ist ihm gemäß dem Grundprinzip des Rechts, wonach das wertschwächere Interesse dem wertstärkeren zu weichen hat 20 , der Vorzug zu geben. Kann man dagegen den Vorrang eines beeinträchtigenden Interesses nicht hinreichend verdeutlichen, so ist — und das dürfte die Regel sein — von der Gleichwertigkeit der kollidierenden Interessen auszugehen11, mit der Folge, daß die staatlichen Gewalten das beeinträchtigte Interesse vor dem Beeinträchtigenden zu schützen haben.
§ 1 1 Der Gleichheitssatz
Während Art. 1 Abs. 1 GG das Wertzentrum des Grundgesetzes bestimmt, schlägt der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG die Brücke zur Rechtsidee". Darin liegt eine weitere Beschränkung staat17 Mindestens insoweit k a n n dem absoluten Menschenwürdebereich Wintrichs, Apelt-Festschrift S. 10 f., nicht gefolgt werden. 18 Vgl. hierzu Haberle, Wesensgehalt, S. 31 ff. 19 Vgl. Hubmann, A c P 155, S. 85 pass., v o r allem: 9 7 1 m i t 101 f.; 103 f.; 114 f.; 125 f. 80 So ff. J. Wolff, Sauer-Festschrift, S. 103 (112 f.). 21 Ebenso Hubmann, AcP 155,102 f. 22 Z u m Zusammenhang v o n Gleichheitssatz u n d Rechtsidee vgl. Leibholz, Gleichheit, S. 72. Nach BGHZ 11, A n h a n g 34 (64) soll der allgemeine Gleichheitssatz zu einem guten T e i l die Rechtsidee selbst sein. Ä h n l i c h Hamann, K o m m . A n m . A 1, S. 86 f.
§11 Der Gleichheitssatz
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licher Macht. Auch sie wirkt sich im Grundrechtsverhältnis unter Umständen zugunsten eines anderen Grundrechtsträgers aus. Der Gleichheitssatz verbietet, daß wesentlich Gleiches ungleich, nicht dagegen, daß wesentlich Ungleiches entsprechend der bestehenden Ungleichheit ungleich behandelt wird 2 8 , wobei für die Frage der Wesentlichkeit des Gleichen oder Ungleichen eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtimgsweise maßgebend ist 24 . Durch seine starke innere Bindung an eben diesen Gedanken steht der allgemeine Gleichheitssatz als positive Schranke gegen jede Art von Willkür 2 5 . Dementsprechend definiert man Gleichheit „als die nach dem jeweiligen Rechtsbewußtsein nicht willkürliche Handhabung des an die Adresse von Rechtssubjekten gerichteten Rechts durch den Gesetzgeber und die Vollziehung" 26 . Der Begriff der Gleichheit ist, wie diese Formulierung erkennen läßt, jenen Begriffen ähnlich, die wie „Menschenwürde", „Treu und Glauben", „gute Sitten", „Gemeinwohl" u. ä. inhaltlich noch nicht voll auskristallisiert sind, die vielmehr nur Gerechtigkeitsregulative enthalten, um die unüberschaubare Vielzahl der Lebenssachverhalte auf die Gerechtigkeit hin zu ordnen 27. Der Gleichheitssatz zeigt sich insofern gewissermaßen als die moderne Formulierung dessen, was in der klassischen Trias der Gerechtigkeitsforderungen das „suum cuique tribuere" bezeichnete. I n seinen beiden Anwendungsgebieten, bei der Rechtssetzung und bei der Rechtsanwendung besitzt der allgemeine Gleichheitssatz eine Doppelfunktion: einmal unterstützt er die Verwirklichung grundrechtlich geschützter Freiheiten durch Zügelung der gesetzgeberischen Gestaltungsbefugnis, zum andern setzt er der Freiheit selbst Grenzen. I m letzteren Fall steht der Gleichheitssatz mithin in Antinomie zur Freiheitsgarantie 28 . Allein diese Funktion des Gleichheitssatzes interessiert hier. Aus ihr folgt nämlich, daß kein Grundrechtsträger vom Staat eine Bevorzugung zu Lasten eines andern Grundrechtsträgers fordern kann. » Vgl. BVerfGE 1,14 (52); v. Mangoldt-Klein, A r t . 3, A n m . I I I 1, S. 198; Wernicke, Komm., A r t . 3, Erl. I I 1 b, S. 2; Hamann, K o m m . A r t . 3, A n m . Β 4, S. 89 f. 24 Vgl. BVerfGE 1,264 (275 f.); 3, 58 (135 f.); 6, 55 (71). 25 Vgl. Maunz, Staatsrecht, § 15, S. 113 ff. m i t Nachweisen. 26 So Leibholz, Gleichheit, S. 87; v. Mangoldt-Klein, A r t . 3, A n m . I I I 4 a, S. 200 f. 27 Vgl. Leibholz, Gleichheit, S. 73. E r bezeichnet den sich m i t dem W i l l k ü r begriff verbindenden I n h a l t als wandelbar, w e i l der Begriff nicht i n eine m a terial gebundene Definition gepreßt werden kann. Hedemann, Flucht i n die Generalklauseln, S. 51, spricht hier v o n Zielformeln. Wegen der inneren V e r bindungen zwischen Gleichheit u n d Treu u n d Glauben vgl. Wieacker, Präzisierung des § 242 BGB, S. 39 f. 28 So Fuss, JZ 1959,329.
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
Wenn jedermann vor dem Gesetz gleich ist, wenn jedem durch subjektive Rechte abgesteckt der gleiche rechtliche Raum zusteht, dann kann niemand berechtigt sein oder berechtigt werden, unter Berufung auf eines dieser subjektiven Rechte das entsprechende Recht eines Rechtsgenossen abzudrängen 29. Der Gleichheitssatz wirkt insoweit als allgemeine grundrechtsbegrenzende Kollisionsnorm: jedes Grundrecht endet am Parallelrecht des Rechtsgenossen80. Dieser Grundsatz gilt nur dann nicht, wenn eine Würdigung der widerstreitenden Interessen ein rechtserhebliches Vorzugselement zugunsten des einen oder des anderen erbringt. Denn dann ist durch dieses Vorzugselement angezeigt, daß die kollidierenden Interessen ungleich sind. Die Schranke des Gleichheitssatzes hebt sich; das eine Interesse kann auf Kosten des anderen durchgesetzt werden 81 . Betrachtet man aus diesem Gesichtspunkt das Problem des „numerus clausus", so ergibt sich folgendes: Zulassungsbeschränkungen werden aktuell, wenn an einer Ausbildungsstätte das Angebot an Ausbildungsplätzen erheblich hinter der Nachfrage herhinkt. Es besteht also eine Lage, bei der diejenigen, die einen Platz bekommen, andere von eben diesem Platz ausschließen. Bezieht sich nun einer der Bewerber auf ein einschlägiges Grundrecht, um sich einen Ausbildungsplatz zu sichern, und gibt man ihm demzufolge den Platz, so wird gleichzeitig das gleiche Recht eines Mitbewerbers gegenstandslos. Darin liegt, sofern die Umstände der Bewerber im wesentlichen gleich sind, ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Derjenige, der sich in solcher Lage auf sein Grundrecht beruft, überschreitet es und handelt ohne Recht. Werden dagegen die vorhandenen Plätze nach einem Schlüssel verteilt, der an sachlichen Vorzugselementen ausgerichtet ist, wie ζ. B. Eignung, Notenstufen einer Vorprüfung oder Priorität, so ist dem Gleichheitssatz genügt. Eine solche Regelung wäre, da es sich um eine Kollisionsregelung handelt, auch mit dem Recht aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar 82 . Der Gleichheitssatz bewirkt also, daß die Grundrechte wechselseitig eine allgemeine Grenze bilden 88 . Dieser Effekt beschränkt sich nun nicht 29 Vgl. Leibholz, Gleichheit, S. 22 f., nach i h m setzt das Recht die Existenz eines Prinzips voraus, das die Freiheit beschränkt u n d das Interessenkollisionen schlichten hilft. Diesen Maßstab liefere das Prinzip der Gleichheit, das die individuellen Freiheitssphären gegenseitig abgrenzt. 30 Vgl. v. Mangoldt-Klein, A r t . 2, A n m . I V c, S. 179; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 73, S. 60 f. ; Fechner, Soziologische Grenzen der Grundrechte, S. 3 f. Giacometti, ZeitschfSchwR Bd. 74 NF, S. 149 (151 f.); Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (99); Loewenstein, Verfassungsrecht u. Verfassungspraxis, S. 481; Scupin, Laun-Festschrift 1953, S. 189 f. 31 Dazu, daß hier dem Gesetzgeber Aufgaben zuwachsen, vgl. Herbert Krüger, Staatslehre, S. 538. 32 I m Ergebnis ebenso Uber, Freiheit des Berufs, S. 226; Dürig, S u m m u m lus Summa Iniuria, S. 82; Bayer.VerfGH Entsch. v. 16. 4. 64, BayVBl. 64, 258. 33 Vgl. hierzu Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 36 f.
§11 Der Gleichheitssatz
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auf gleiche Grundrechtsausübungen, er erfaßt auch solche Freiheitsbetätigungen, die „nur" gleichwertig sind, denn der Gleichheitssatz bezieht sich ja nicht auf „égalité mathématique", sondern auf das i m wesentlichen Ubereinstimmende 34. Wenn schließlich eine Grundrechtsausübung an dem gleichen oder gleichwertigen Grundrecht eines anderen endet, wird man sie mit einiger Selbstverständlichkeit auch vor der höherrangigen Grundrechtsausübung eines Rechtsgenossen zu stoppen haben 35 . Für den Grundrechtsmißbrauch zu Lasten eines anderen Grundrechtsträgers ist somit stets das Rangverhältnis der widerstreitenden Interessen entscheidend. Wie der Rang anzusetzen ist, läßt sich vom Gleichheitssatz her freilich nicht sagen. Auch hier kann nur auf die allgemeinen Grundsätze der Interessenanalyse und der Interessenabwägung weiterverwiesen werden 36 . Der Gleichheitssatz selbst übt in diesem Zusammenhang nur eine Auffangfunktion aus: Wenn die Ungleichheit der widerstreitenden Interessen nicht eindeutig dargetan werden kann, sind beide gleich zu behandeln. Keines darf dem anderen vorgezogen werden 37 . Der Gedanke, daß eine Berufung auf Grundrechte am Gleichheitssatz scheitert, sofern damit gleichwertige Interessen anderer abgedrängt würden, öffnet einen weiteren Aspekt für das Problem der Drittwirkung der Grundrechte. Eine Drittwirkung ergibt sich nämlich nicht nur dort, wo unter dem Schutz des Grundrechts in die Rechtssphäre eines anderen vorgestoßen wird, sondern auch, wo ein Grundrechtsträger das Grundrecht benutzt, um Ubergriffe anderer Rechtsträger abzuwehren 38. Nachdem es wegen des generellen Freiheitsrechts des Art. 2 Abs. 1 GG keine grundrechtsfreien Räume mehr gibt, kollidieren alle Grundrechtsausübungen, die sich nach ihrem Inhalt gegen einen Rechtsgenossen richten, zwangsläufig mit dessen Grundrechtsbereich 39. Sie beschneiden dessen Freiheit, ohne daß es einer besonderen Ubertragimg von Verfassungs84
Vgl. Leibholz, Gleichheit, S. 38 f., 45. Hierher gehört u. a. ein T e i l der Fragen, die das Stichwort „Grundrechtsmündigkeit" aufwirft. Darf ζ. B. ein Vater unter Berufung auf sein Erziehungsrecht seine begabte Tochter zwingen, die höhere Schule vorzeitig zu v e r lassen, u n d einem Beruf zuführen, der weder ihrer Begabung noch ihrer Neigung entspricht? Vgl. Hildegard Krüger, FamRZ. 56, 329 (333); Düng, MaunzDürig, A r t . 19 Abs. I I I , RdNr. 20 ff. S. 8 ff. 86 Eine Zauberformel k a n n es hier nicht geben. Allerdings darf m a n erwarten, daß sich Typen u n d Fallreihen bilden. Ansätze zeigen sich bei Dürig, S u m m u m lus Summa Iniuria, S. 84 f. u n d bei Nipperdey, Grundrechte I V 2. Halbbd., S. 764 f. m i t FN. 102. 87 Z u r grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Rechte vgl. Nipperdey, Grundrechte I V 2. Halbbd., S. 787 f. se Wegen dieser inneren Verbindung zwischen Gleichheitssatz u n d D r i t t w i r k u n g vgl. Hans Huber, ZeitschfSdiwR Bd. 74 NF. S. 173 (200). 35
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Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 73, S. 60.
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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rechtssätzen auf das Recht Privater bedürfte. Damit stellt sich die Frage nach der richtigen Kollisionsnorm, d. h. der Norm, die die Interessengegensätze unter Beachtimg der Grundrechte auf ein „kompossibles Maximum an Interessenbefriedigung" 40 hin ausgleicht. Es wäre unzutreffend, die gewünschte Kollisionsregelung den Grundrechten selbst entnehmen zu wollen. Die Grundrechte umschreiben, von Ausnahmen abgesehen, nur die Rechtspositionen, nicht aber ihr Wechselspiel41. Nach dem oben Gesagten ist der Gleichheitssatz hier als Auffangkollisionsnorm heranzuziehen, mit der Wirkung, daß Übergriffe anderer Grundrechtsträger nur zulässig, aber insoweit auch hinzunehmen sind, wenn dem übergreifenden Interesse ein höherer Rang zukommt. Diese „Type der Konfliktslösung" liegt dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 4 2 zugrunde. Dort werden nämlich die Bereiche freiheitlicher Betätigung für Lüth einerseits und für die von der Meinungsäußerung betroffene Film-GmbH andererseits gegeneinander abgegrenzt, indem man die kollidierenden Interessen einer Güterabwägung unterwirft. Das Bundesverfassungsgericht führt dabei aus, das Recht zur Meinungsäußerung müsse zurücktreten, wenn schutzwürdige Interessen eines andern von höherem Rang durch die Betätigung der Meinungsfreiheit verletzt würden 48 . Das Gericht hat zudem auch die Rechtsposition des von der Boykott-Aufforderung mitbetroffenen Regisseurs in die Abwägung einbezogen. Die entscheidenden Vorzugselemente zugunsten des Interesses von Lüth sah es darin, daß dieser nicht zum Zwecke privater Auseinandersetzung von dem Grundrecht Gebrauch machte, daß er vielmehr in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen wollte 44 , weiter, daß sich die Meinungsäußerung nicht „unmittelbar" gegen ein an sich geschütztes, privates Rechtsgut richtete, sondern ihre Eigenschaft als „Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage" im Vordergrund stand45, schließlich daß die zurückgedrängten Interessen nicht schlechthin schutzlos wurden, weil es „den Angegriffenen freisteht, sich durch Darlegung ihrer Auffassung zur Wehr zu setzen"4®. 40
So Herbert Krüger, N J W 55,201 (203); ders. Staatslehre, S. 538. Vgl. hierzu Düng, Nawiasky-Festschrift, S. 168 ff. 42 BVerfGE 7,198. 4S So BVerfG aaO. S. 210. M a n w i r d allerdings die Grenze schon b e i m schutzwürdigen Interesse gleichen Rangs zu ziehen haben. 44 Vgl. dazu das v o n Hubmann, AcP 155, 107 f. angeführte Vorzugselement der Interessenverknüpfung. 45 Vgl. Hubmanns Hinweis, aaO. S. 114, auf das Vorzugselement: Interessenintensität. 48 Vgl. Hubmann, aaO. S. 123, Vorzugselement: Ausweichmöglichkeiten der Betroffenen. 41
§ 12 Die Sozialstaatsklausel
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Der Gleichheitssatz in seiner Funktion als freiheitsbegrenzende Kollisionsnorm schließt es auch aus, daß eine Gruppe von Grundrechtsträgern andere, einzelne, unter Berufung auf die Summe ihrer Grundrechte oder auf ihr gesteigertes Erkenntnisvermögen 47 an der Ausübimg gleichwertiger grundrechtlicher Freiheiten hindert. Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz kann nur verstanden werden als die Gleichheit jedes beliebigen einzelnen in bezug auf jeden beliebigen anderen, gleichgültig, ob der eine oder der andere Mitglied eines Kollektivs ist. Die Anzahl derer, die ein Grundrecht übereinstimmend ausüben, begründet für sich allein noch kein Vorzugselement. Freiheiten sind höchstpersönliche Rechtsgüter und als solche nicht durch Multiplikation zu verdichten 48.
812 Die Sozialstaatsklausel
Die Ansicht, daß die Verwendung des Attributes „sozial" in den Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 S. 1 GG auch auf unmittelbar verbindliches rechtliches Sollen hindeutet, darf heute als herrschend angesehen werden4®. Wenngleich gerade beim Begriff des „Sozialen" der Kernbereich des schon Bestimmten oder doch immerhin Bestimmbaren nahezu hinter der „grauen Zone", der erst der Gesetzgeber Konturen einzeichnen muß, verschwindet 50, wird man der Meinung, der Verfassunggeber habe damit lediglich eine politische Wohlfahrts-Proklamation abgeben wollen®1, nicht folgen können. Was im einzelnen dem Kernbereich der Sozialstaatsklausel angehört, läßt sich in der Tat nicht ein für allemal in einer vollständigen Definition einfangen 52. Immerhin kann man ihr aber ohne Bedenken die Funktion zuordnen, „schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern zu sollen"53. Insoweit hat man es mit einem 47 Vgl. hierzu den Hinweis Herbert Krügers, Staatslehre, S. 535, auf die Nutzbarmachung der Grundrechte f ü r einen „Terror der Sittlichkeit". 48 Z u m Kumulationsprinzip als Vorzugselement vgl. Hubmann, aaO. S. 109. 4 ® Vgl. Bachof, W D S t R L 12, 37 (45); Gerber, AöR 81,1 (42); Harnel, Bedeut u n g der Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat, S. 26 ff.; v. d. Heydte, W D S t R L 12,109; Hueck, Apelt-Festschrift, S. 57 (71); Herbert Krüger, W D S t R L 12, 111; Lerche, Übermaß, S. 231; v. Mangoldt-Klein, A r t . 20, A n m . V I I 3, S. 608; Maunz, Staatsrecht, §10114., S. 6 7 1 ; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 24, S. 22 f. m i t Nachw.; Menger, Begriff des sozialen Rechtsstaats, S. 4; Merk, W D S t R L 12,100 f.; Nipperdey, W D S t R L 12, 97; Scheuner, W D S t R L 11,1 (20); ders. D Ö V 56, 65 (66). 50 Vgl. hierzu die Theorie des Grenzbegriffs bei v. d. Heydte W D S t R L 12, 109, u n d Jellinek, W D S t R L 12,117 f. δ1 So vor allem Forsthoff, W D S t R L 12, 8 (27); ders., C.-Schmitt-Festschrift, S. 48; Grewe, DRZ 49, 349 (351); w o h l auch Werner Weber, Staat 65, 409 (431). « Vgl. Nipperdey, W D S t R L 12,97; v. d. Heydte, W D S t R L 12,109. « BVerfGE 5, 85 (206).
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
Auslegungsprinzip zu tun. Der sich sozial verstehende Staat ist nicht gewillt, sozialwidriges Verhalten in seinen Schutz zu nehmen. Auf die Grundrechte übertragen ergibt die Sozialstaatsklausel so etwas wie eine ethische Grundregel, an der sich das Verständnis der Freiheit ausrichtet 54. Es kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob die Grundrechte allgemein unter einem vom Gesetzgeber zu konkretisierenden Sozialstaatsvorbehalt stehen55 und ob sich aus der Sozialstaatsklausel auch Bindungen des einzelnen gegenüber der staatlichen Gemeinschaft herleiten lassen56. Wichtig ist hier nämlich nur, daß man der Klausel die Kraft beimißt, Impulse auszusenden, die unmittelbar in die Grundrechtssphäre hinein wirken und konkrete Verhaltensweisen vom Grundrechtsschutz ausnehmen. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Sozialstaatlichkeit ist der Sache nach gegensätzlich57. Es ist dialektisch, und zwar im Sinne gegenseitiger Durchdringung, wobei es gilt, die jeweiligen Kernbereiche der Freiheit und der Sozialstaatlichkeit zu harmonisieren. Das bedeutet aber, daß die rechtstechnische Konstruktion der Grundrechte keinen hinreichenden Vorwand zur Abwehr solcher Forderungen abgeben kann, die den Staat erst zum Sozialstaat machen. So besehen zeigt sich die Sozialstaatsklausel als potentielle Grenze der Grundrechtsausübung. Realisierungen des freiheitlichen Gehalts von Grundrechten zu Lasten des Kernbereiches des „Sozialen" stehen außerhalb des Grundrechtsschutzes. Die prinzipielle Gegensätzlichkeit von Freiheit und Sozialität offenbart sich bereits mit aller Deutlichkeit, wenn man daran geht, den Begriff des „Sozialen" auch nur im groben zu fassen. Mit seiner sprachlichen Beziehung zu „socius" und „societas"58 weist der Begriff sofort auf Ordnungsvorstellungen für den zwischenmenschlichen Bereich. Unabhängig davon, wie die Grenze zwischen dem noch Sozialen und dem schon Unsozialen letztlich zu ziehen ist, wird man das Soziale durch das Gebot der Rücksichtnahme und das Verbot, die mißliche Lage eines anderen für eigene Zwecke auszunützen, zu kennzeichnen haben 59 . Das Maß der Rücksicht zu bestimmen und die mißlichen Lagen zu bezeichnen, ist zwar in der Regel Sache des Gesetzgebers60. Das schließt aber nicht aus, daß es Fälle gibt, die so geartet sind, daß dem Gesetzgeber für eine 64
Vgl. Gerber, AöR 81,1 (42 f.). Wie es bei Werner Weber, Staat 65,436, anklingt. 58 Vgl. Fechner, Freiheit u n d Z w a n g i m sozialen Rechtsstaat, S. 8,14. 57 Vgl. dazu auch Raiser, JZ 58,1 (5 f.). 68 Vgl. Geck, Soziale Welt 49/50, S. 1 (5). 59 Ä h n l i c h Menger, Begriff des sozialen Rechtsstaats i m Bonner G r u n d gesetz, S. 24 f.; Pfeiffer, W D S t R L 12,112 f. 80 Vgl. Hueck, Apelt-Festschrift, S. 71 f. 55
§ 12 Die Sozialstaatsklausel
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eigene sozialpolitische Entscheidung kein Raum mehr bleibt, er vielmehr das Unsoziale eines Sachverhaltes nur mehr festzustellen hat. I n diesen zugegebenermaßen extremen Fällen rücksichtsloser Interessenbefriedigung braucht die rechtanwendende Gewalt nicht auf den Gesetzgeber zu warten. Aus eigenen Stücken darf sie hier die Grenze des Grundrechtsschutzes korrigieren, ohne daß sie sich dabei dem Vorwurf aussetzte, sie schwinge sich zum Gesetzgeber auf. Es geht auch hier nur um das Nachzeichnen der im Grundgesetz angelegten Schranken, also um eine verfeinernde Grundrechtserkenntnis® 1. Als offenbar unsoziale Handlungen wird man vor allem diejenigen einzustufen haben, bei denen gleichwertige oder höherrangige Interessen anderer unterdrückt werden®2. Daß derartige Verhaltensweisen nicht mehr zum Grundrechtsgebrauch zählen, wurde bereits aus der Antinomiefunktion des Gleichheitssatzes hergeleitet. Wenn sich insoweit Parallelen auftun, so spricht dies nur für eine gewisse Verwandtschaft von Gleichheitssatz und Sozialstaatsklausel®8. Gesetzliche Konkretisierungen dieser Gedanken findet man überdies in den Bestimmungen der §§ 138 Abs. 2, 226 und 826 BGB. Auch § 330 c StGB erhält von hierher seine verfassungsrechtliche Legitimation®4. Es bestehen somit keine Bedenken, diese Normen als Begrenzungen der Grundrechte anzuerkennen. 2. Andere rechtlich geschützte Interessen § 13 Strafrechtlich geschützte Interessen
Die Grundrechtssphäre und der Schutz individueller Rechtsgüter durch strafrechtliche Verbots- und Gebotsnormen überschneiden sich gelegentlich: Eine Grundrechtsausübung kann zum Delikt werden; an sich strafbares Verhalten kann sich mit Elementen einer freiheitlichen Gewährleistung anreichern. Damit stellt sich die Frage nach dem Vorrang. 61 Vgl. dazu Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 25, S. 23; v. d. Heydte, W D S t R L 12, 109; a. A . anscheinend v. Mangoldt-Klein, A r t . 20, A n m . V I I 3, S. 609, die eine A n w e n d u n g i m Sinne eines allgemeinen Soziabilitätsprinzips ablehnen. 62 So auch Menger, Begriff des sozialen Rechtsstaats i m Bonner G r u n d gesetz, S. 25 f., u n d zwar i n A n l e h n u n g an A r t . 2 Abs. 1 GG. 68 Vgl. hierzu Scheuner, Kaufmann-Festschrift 1950, S. 313 (324); BVerfGE 5, 206. 64 Vgl. Maurach, Strafrecht Bes. Teil, § 511 A , S. 443: „Unrechtsgehalt des § 330 c ist ein Verstoß gegen die aus dem Zusammenleben der Menschen folgende Pflicht zur Betätigung der primitivsten, keinerlei Selbstaufopferung voraussetzenden Nächstenhilfe."
4 Gallwas
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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Eine Lösung läßt sich von der positivrechtlichen Ausgestaltung der Grundrechte her schwerlich gewinnen. Es wäre verfehlt zu meinen, jegliche Pönalisierung müsse vor einem Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt versagen. Ebenso unrichtig wäre aber auch die Annahme, der Strafgesetzgeber könne im Rahmen eines mit Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechtes frei schalten. Sollte wirklich, nur weil Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG keinen Vorbehalt enthält, eine Verletzimg des religiösen Empfindens anderer, sofern sie im Gewand einer künstlerischen Äußerung auftritt, straffrei bleiben, oder sollte allein deswegen, weil die Meinungsfreiheit unter dem Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze" steht, das Recht zur Meinungsäußerung zum schwächsten aller Grundrechte verkümmern? Man wird auch hier zu beachten haben, daß die rechtstechnische Ausgestaltung der Grundrechte, von Ausnahmen abgesehen, nicht an den hier angesprochenen Konfliktslagen orientiert und daher auch nicht geeignet ist, ein griffiges Lösungsmodell zu liefern 65 . Die Gegensätzlichkeit von berechtigender Grundrechtsnorm einerseits und verbietender Strafnorm andererseits kann man auch nicht in der Weise harmonisieren, daß man den Grundrechten eine immanente Schwäche gegenüber der pönalisierenden Gewalt zuschreibt. Dabei entstünde, wovor Dürig zu Recht warnt 66 , die Gefahr, daß der Gesetzgeber über den Seitenpfad des Strafens gesicherte Freiheitsbereiche seiner Disposition unterwirft. Vielmehr hat man, anknüpfend an einen Gedankengang des Bundesverfassungsgerichts 67, mit der Lösung am „Sozialbezug" menschlichen Handelns anzusetzen. Jede Handlung, die die Rechtssphäre eines anderen Menschen berührt, ist schon aus diesem Grund prinzipiell einer rechtlichen Regelung zugänglich. Das Ob und Wie der gegen die Handlung gerichteten, staatlichen Maßnahme bestimmt sich freilich nach der Art und dem Maß der Schädlichkeit, die ihr Sozialbezug erkennen läßt. Demgemäß ist der Freiheit des einzelnen immer dort eine Grenze zu ziehen, wo seine Handlung strafrechtlich geschützte Individualrechtsgüter verletzt. Jede Strafnorm bewertet Interessen. Sie zieht in typischen, besonders gewichtigen Kollisionsfällen das Interesse des Angegriffenen dem des Angreifers vor. Die gesetzliche Formulierung eines Straftatbestandes enthält mithin nicht nur die Summe der Voraussetzungen für den staatlichen Strafanspruch, sondern gleichzeitig eine Kollisionsnorm für widerstreitende Individualinteressen. Aus diesem Grund muß die deliktische Grundrechtsausübung ohne Grundrechtsschutz bleiben. Vorausgesetzt, die der Strafnorm zugrunde liegende Wertung steht 65 ββ
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Vgl. hierzu schon Nawiasky, Grundgedanken, S. 24 f. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 76, S. 63. BVerfGE 6,389 (433).
§ 13 Strafrechtlich geschützte Interessen
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im Einklang mit den im Grundrechtskatalog niedergelegten Wertpositionen und den allgemeinen Grundsätzen der Interessenabwägung. Daß sich in diesem Zusammenhang überkommene strafrechtliche Wertungen verschieben und anders akzentuieren können, zeigt die Rechtsprechung zu § 193 StGB 68 . Doch handelt es sich dabei offensichtlich um Ausnahmefälle. Nachdem das Strafgesetzbuch Individualinteressen nur schützt, wenn sie besonders wichtig und besonders gefährdet sind, wird man grundsätzlich davon ausgehen dürfen, daß die zugrunde liegenden Wertungen fortgelten. Die Strafrechtsnormen sind daher insoweit echte Schranken jeder Grundrechtsausübung 69. Die aus dieser Erkenntnis folgenden Ergebnisse sind nicht neu. Für das Petitionsrecht hat das Bundesverfassungsgericht bereits klargestellt 70 , daß beleidigender oder erpresserischer Inhalt zur Unzulässigkeit der Petition führt. Der Bundesgerichtshof spricht in diesem Zusammenhang sogar ausdrücklich von Rechtsmißbrauch 71. Nicht nur die strafrechtlichen Verbotsnormen entfalten eine freiheitsbegrenzende Funktion. Die Wirkung kann auch von einer Gebotsnorm ausgehen. Ein Autofahrer, der auf einer unbelebten Straße eine Unfallstelle passiert und einem Verletzten nicht hilft, weil er anderenfalls zu spät zu einer religiösen Veranstaltung käme, ist nach § 330 c StGB zu bestrafen, obgleich hier letztlich an die Realisierung der Freiheit der Religionsausübung von Staats wegen eine nachteilige Folge geknüpft wird. Man kann nicht etwa argumentieren, das Tatbestandsmerkmal: Zumutbarkeit der Hilfeleistung, entfalle wegen Art. 4 Abs. 2 GG. Der Maßstab der Zumutbarkeit ist ein anderer und gilt auch im Grundrechtsbereich. Es geht hier um einen Teil des „ethischen Minimums", das von jedem einzelnen fordert, dem von einem Unfall betroffenen Mitmenschen unter Zurückstellung eigener Belange, ja selbst unter Inkaufnahme körperlicher Gefahren, wenn sie im Verhältnis zum Schaden, der dem Verunglückten droht, gering sind, möglichst rasche Hilfe zu bringen 72 . Allerdings ist bei der Anerkennung einer freiheitsbegrenzenden Funktion strafrechtlicher Gebotsnormen mit besonderer Vorsicht vorzugehen. Man hat zu unterscheiden, ob es sich um ein deklaratorisches oder ein konstitutives Gebot handelt. Nur das erste eignet sich als un68
Vgl. BVerfGE 12,113 (124); BGHSt. 12,287 (293 f.); BGHZ 31, 308 (312). I m Ergebnis ebenso Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 76, S. 63; Haberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 37; Lerche, Ubermaß, S. 119 f. 70 BVerfGE 2,225 (229) ; vgl. auch Stree, Deliktsfolgen, S. 189. 71 Urt. v. 26.1.1951, N J W 51, 352; ebenso OLG München, Urt. v. 25. 4.1956, N J W 57, 795. 72 So BGHSt 11,135 (136 f.); 253 (254). 69
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
geschriebene Grundrechtsschranke, weil nur in diesem Fall Handlungspflichten vorliegen, die als selbstverständliche Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens den Grundrechten vorgegeben sein können. Dieses Erfordernis dürfte allein im Falle des § 330 c StGB gegeben sein. Die Bestimmimg ist damit die große Ausnahme unter den strafrechtlichen Gebotsnormen 73.
§ 14 Zivilrechtlich geschützte Interessen
Jede Betätigung eines Grundrechtsträgers im zivilrechtlichen Bereich ist zugleich Realisierung des freiheitlichen Gehalts von GrundrechtsFormulierungen und damit Grundrechtsausübung. Mindestens kann der am Privatrechtsverkehr Beteiligte den Schutz des als Auffangrecht verstandenen Art. 2 Abs. 1 GG 7 4 für sich in Anspruch nehmen. Daß die Grundrechte ihre Funktion, dem einzelnen eine Sphäre prinzipiell freier Betätigung zu bewahren, nicht schon deshalb einbüßen, weil zu dem klassischen Grundrechtsverhältnis (Staat-Bürger) ein Dritter hinzutritt und das Grundrechtsverhältnis auf diese Weise zum Dreiecksverhältnis erweitert, ist bereits gesagt. Spätestens seit dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts läßt sich ein strikter Dualismus von Grundrechtsteil und Privatrechtsordnung nicht mehr behaupten. Er wäre mit dem Verständnis des Grundgesetzes als wertender Ordnung, das im Grundrechtsabschnitt eine „objektive Wertbetonung" sieht und eine „prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte" annimmt, ebensowenig vereinbar wie mit der Erkenntnis, daß sich die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen auf alle Bereiche des Rechts erstrecken 75. Der Ausgleich der zwangsläufig einander widerstreitenden Freiheitskonkretisierungen im Koordinationsverhältnis obliegt letztlich dem Staat. Dieser gestaltet das Zivilrecht: er setzt die Norm und richtet. Doch hat er sich dabei im Rahmen der Bindung des Art. 1 Abs. 3 GG zu halten. Das Zivilrecht muß den Rechtsgehalt der Grundrechte wegen deren Eigenschaft als objektiver, übergeordneter Normen wahren. Jede bürgerlich-rechtliche Vorschrift muß sich in das Wertsystem des Grund-
73 Das betont auch Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, S. 75, Fußn. 2, indessen f ü h r t er die Ausnahmeerscheinung nicht auf den Mangel anderer selbstverständlicher Handlungspflichten zurück, sondern darauf, daß die Lehre von den immanenten Schranken aller Grundrechte ausschließlich an Unterlassensverpflichtungen des Grundrechtsträgers denkt. 74 So Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 6 ff., S. 7 ff., unter Bezugnahme auf BVerfGE 6,32 (Elfes-Urteil). 75 BVerfGE 7,198 (205).
§ 14 Zivilrechtlich geschützte Interessen
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gesetzes einfügen oder durch entsprechende Auslegung eingefügt werden 76 . Ein Richter, der diese Bindung nicht beachtet, sei es, daß er den Impuls der Grundrechte auf das Zivilrecht gar nicht erkennt, sei es, daß er ihn unzutreffend würdigt, verletzt als Träger öffentlicher Gewalt mit seinem Urteil die einschlägigen Grundrechte 77. Folglich kann ein Grundrechtsträger jedes ihn belastende Zivilurteil mit der Behauptung angreifen, das Gericht habe eine entscheidungserhebliche Zivilrechtsnorm nicht grundrechtskonform ausgelegt78. Diese Feststellung führt zu der Frage: in welcher Weise wirkt ein vom Grundgesetz ohne Schrankenvorbehalt statuiertes Grundrecht im Verhältnis zum streitentscheidenden Richter, bzw. was an Beschränkung hat der Grundrechtsträger in diesem Fall hinzunehmen? Auch hier wäre es naheliegend, die für den Richter verbindlichen Grenzen entlang den positiven, grundrechtlichen Vorbehalten zu ziehen. In der Tat begegnet die Annahme, ein allgemeiner Gesetzesvorbehalt könne auch Zivilrechtsnormen aufnehmen, keinen prinzipiellen Bedenken 79 . Eine Auffassung, die die Gesetzesvorbehalte als ausschließliche Reservate für Gesetze öffentlich-rechtlichen Inhalts sieht, wäre nichts anderes als ein Überbleibsel überholter Grundrechtsvorstellungen. Hingegen kann der Ansicht, der Zivilrichter dürfe nur dort gegen den Grundrechtsträger judizieren, wo ihn der Verfassunggeber durch einen Gesetzesvorbehalt ermächtigt hat 80 , nicht gefolgt werden. Eine schematische Anwendung der Aussagen, in denen das Grundgesetz die Grenze zwischen Freiheit und Bindung zieht, auf das Verhältnis von Grundrechtsträger zu streitentscheidendem Richter, setzte sich nahezu blindlings über den Strukturunterschied, der sich zwischen diesem und dem klassischen Grundrechtsverhältnis auftut, hinweg. Das klassische Grundrechtsverhältnis ist durch den primären Interessengegensatz: hier hoheitlich handelnder Staat, dort einzelner, gekennzeichnet. Völlig anders ist die Interessenlage, wenn ein Richter 76
BVerfG, aaO.; Dürig, S u m m u m lus Summa Iniuria, S. 84. A n sich ist das Grundrecht auch dann verletzt, w e n n bei der sonstigen Rechtsanwendung oder bei der Tatsachenfeststellung Fehler unterlaufen. Doch fehlt dieser Beeinträchtigung die spezifisch verfassungsrechtliche K o m ponente, m i t der Folge, daß aus verfassungsprozessualen Gründen eine V e r fassungsbeschwerde ausscheidet. Vgl. zu dieser Frage Schumann, Verfassungsbeschwerde, S. 197 ff., neuerdings Lerche, AöR 90, 341 (360 FN. 71). 78 BVerfGE 7,198 (207); 18, 85 (92). 79 So beim Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze" i. S. d. A r t . 5 Abs. 2 G G BVerfGE 7, 198 (211). I m Ergebnis ebenso Haberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 37. 80 So Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht, S. 229 f., 391 f. 77
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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einen Zivilrechtsstreit entscheidet. Dann begegnen sich nämlich primär die Interessen zweier Grundrechtsträger; das Staatsinteresse ist nur als zusätzliches, und zwar als Ordnungsinteresse beteiligt. Das mit hoheitlicher Gewalt ausgestattete Urteil begrenzt wohl ein Freiheitsinteresse eines Prozeßbeteiligten, aber eben nicht zugunsten des Staates, sondern zugunsten des anderen Beteiligten. Das Verhältnis zwischen dem Richter und den Prozeßparteien ist also im Gegensatz zum klassischen Grundrechtsverhältnis nicht antithetisch, sondern dialektisch, und der Richter hat die Synthese zu erarbeiten. Die dargestellte Strukturverschiedenheit der beiden Grundrechtsverhältnisse führt zu Abweichungen im Grenzverlauf zwischen Freiheit und Bindung. Ein Freiheitsinteresse, das in das Koordinationsverhältnis hineinwirkt und sich in der Interessensphäre eines Dritten realisiert, erfährt unter Umständen aus dieser Richtung eine Gegenwirkung 81 . Dabei können sich die Interessen des betroffenen Dritten dergestalt verdichten, daß ihr Schutz vorgeht. Die Grundrechtsausübung im erweiterten Grundrechtsverhältnis ist demnach Beschränkungen aus zwei Richtungen ausgesetzt, vom Staat her und von dem betroffenen Dritten. Beide Beschränkungsquellen sind zwar in Art. 2 Abs. 1 GG positivrechtlich berücksichtigt, sie tauchen aber in den Spezialgrundrechten nur vereinzelt auf 82 . Wer nun das Fehlen eines Gesetzesvorbehaltes als „beredtes Schweigen" zugunsten der Unbeschränkbarkeit der entsprechenden Grundrechte versteht 83 , hat zu prüfen, ob sich dieses qualifizierte Schweigen auch für das erweiterte Grundrechtsverhältnis verwerten läßt. Das erscheint höchst zweifelhaft. Sah man doch bei der Abfassung der Grundrechte deren Funktion vor allem unter dem Gesichtspunkt der BürgerStaat-Beziehung. Wer dies unberücksichtigt läßt, kommt zu merkwürdigen, kaum plausiblen Ergebnissen 84. Das zeigt sich etwa bei Art. 7 Abs. 2 GG. Eltern dürfen unbeschränkt über die Teilnahme ihrer Kinder am Religionsunterricht entscheiden. Dieses Recht ist problemlos, solange Eltern und Kinder einer Meinung sind. Wie aber, wenn das nicht der Fall ist? Sicher ist, daß das Recht aus Art. 7 Abs. 2 GG nicht nur für die Fälle gilt, in denen Eltern und Kinder an einem Strick ziehen. Sicher ist auch, daß die Vorschrift den Staat nicht zu Eingriffen im Eigeninteresse ermächtigt. Nimmt man die Vorbehaltlosigkeit als „beredtes Schweigen", so ist das Ergebnis: bis zum 21. Lebensjahr des Kindes entscheiden aus81
So bereits ausdrücklich BVerfGE 7,198 (211). Ansätze zeigen sich i n A r t . 5 Abs. 2, A r t . 6 Abs. 3, A r t . 7 Abs. 4, S. 3 u. 4, A r t . 9 Abs. 2, Abs. 3 S. 2, A r t . 11 Abs. 2, A r t . 13 Abs. 3, A r t . 14 Abs. 1 GG. Sie fehlen i n A r t . 4, A r t . 5 Abs. 3, A r t . 7 Abs. 2, A r t . 8 Abs. 1, A r t . 17 GG. 83 Wie Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 8, S. 10. 84 Vgl. etwa Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht, S. 359, FN. 181. 82
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schließlich die Eltern, konsequent85. Beschränkt man dagegen die Beredsamkeit dieses Schweigens auf die Bürger-Staat-Beziehung, dann öffnet sich das elterliche Bestimmungsrecht, soweit es lediglich um die Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung geht, staatlicher Regelung, so daß man es unter dem Vorbehalt der Regelung zu sehen hat, die sich aus dem Gesetz über die religiöse Kindererziehung ergibt 88 . Man wird daher den Zivilgesetzgeber und den Zivilrichter mit teils umfassenderen, teils geringeren Befugnissen ausgestattet zu verstehen haben als die anderen Staatsgewalten. Sie haben die Synthese zwischen den kollidierenden Freiheitsinteressen zu finden und ohne Rücksicht auf Schrankenvorbehalte durchzusetzen. Diese Befugnis haben sie immer und nur, solange ihre Entscheidung dem Wertsystem des Grundrechtskatalogs entspricht, solange sie grundrechtskonform ausfällt 87 . Verfehlen sie jedoch die grundrechtskonforme Synthese und beschneiden sie die Freiheit des einen Grundrechtsträgers stärker, als dies die auf dem Spiel stehenden Grundrechte erfordern oder zulassen, dann schlägt ihr Verhältnis zu dem betroffenen Grundrechtsträger um. Es hört auf dialektisch zu sein und wird antithetisch. Die Entscheidung verliert die legitimierende Kraft für eine Begrenzung der Freiheit. Das Grundrecht entfaltet dann seine klassische Abwehrfunktion 88 . Die hier vertretene Ansicht, daß Zivilgesetzgeber und Zivilrichter im Grundrechtsbereich u.U. mehr dürfen als andere staatliche Gewalten, findet eine weitere Stütze in folgender Erwägung: Würde der Staat in einem Zivilrechtsstreit der Partei A nur deshalb den Schutz versagen, weil anderenfalls in ein vorbehaltloses Grundrecht der Partei Β eingegriffen werden müßte, dann wäre damit unter Umständen der Freiheitsbereich der Partei A verfassungswidrig verengt. So, wenn das von A ins Treffen geführte Grundrecht gleichfalls vorbehaltlos formuliert ist oder einen Vorbehalt hat, die insoweit bestehende Wechselwirkung zwischen Freiheitsinteresse und Vorbehaltsinteresse aber zugunsten der Freiheit von A ausschlägt. Gerade in diesem Zusammenhang ist nämlich zu beachten, daß der Gesetzesvorbehalt das Grundrecht nicht jeder beliebigen Relativierung zugänglich macht, daß vielmehr das einschränkende Gesetz seinerseits aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung des betroffenen Grundrechts in seiner Wirkung begrenzt wird8®. Die Vorstellung, daß der freiheitliche Gehalt der Grundrechte prinzipiell auch das Koordinationsverhältnis der Grundrechtsträger erfaßt, 86
So Sattler, DVB1. 50,17 (18). So Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 7, RdNr. 31 f., S. 18 ff. Daß die Grundrechte insoweit einer „allgemeinen Grenze" unterworfen sind, n i m m t auch Haberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 37, an. 88 M i t dieser Überlegung argumentiert das BVerfGE 18, 85 (92). 89 BVerfGE 7,198 (208 f.). 88
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
sowie die Feststellung, daß dieser erweiterten Grundrechtswirkung in vielen Fällen eine korrespondierende Begrenzungsbestimmung des positiven Verfassungsrechts fehlt, so daß die Freiheitsbegrenzung zugunsten des Rechtsgenossen nicht in den rechtstechnischen Automatismus eines positivrechtlichen Regel-Ausnahme-Verhältnisses eingefangen ist 90 , erweitern den Anwendungsbereich des Mißbrauchsgedankens. Auch durch die den Rechtskreis eines Dritten berührende Grundrechtsausübung entsteht der Anschein einer positiven Berechtigung 91. Dieser Anschein läßt sich mangels einer positivrechtlichen Ausnahmevorschrift nicht auf derselben Ebene der Positivität beseitigen. Man muß daher in besonderem Maße auf die begrenzenden Gesichtspunkte achten, die die allgemeinen Rechtsgrundsätze bereitstellen oder die sich aus der Funktion und dem Zweck der Freiheitsgewährleistung ergeben, denn sie begrenzen den durch die Grundrechts-Norm begründeten Anschein einer Berechtigung. Damit ist man wiederum beim „Handeln ohne Recht", bei der mißbräuchlichen Rechtsausübung in dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Sinn. Dementsprechend hat man es mit einem Fall von Grundrechtsmißbrauch zu tim, wenn ein Grundrechtsträger ein Zivilurteil, das ihn in der Realisierung des Freiheitsgehalts eines unbeschränkten Grundrechts hemmt, unter Berufung auf dieses Grundrecht bekämpft, obgleich das Urteil eine grundrechtskonforme Synthese der streitbefangenen Freiheitsinteressen darstellt. Diese Art des Grundrechtsmißbrauchs erscheint als Kehrseite der Grundrechts-Drittwirkung 92 : das drittwirkende Grundrecht aus dem Blickwinkel dessen, gegen den es sich richtet. Wenn es etwa zu der nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Freiheit gehört, die Gewissensfreiheit eines anderen in gewisser Beziehung zu binden, — auch das wäre ja Drittwirkung, nämlich der grundrechtlich geschützten Vertragsfreiheit 93 , — 90 Es w i r d hier davon ausgegangen, daß die Schrankentrias des A r t . 2 Abs. 1 G G nicht ausnahmslos u n d unterschiedslos auf die Spezialgrundrechte übertragbar ist; vgl. hierzu Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 8, S. 9 f. 91 Hierbei ist es gleichgültig, ob m a n der Lehre v o n der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g oder der von der Aktualisierung der Grundrechte durch die p r i vatrechtlichen Generalklauseln folgt. Positivität besteht i n beiden Fällen, wenngleich auf verschiedenen Rangstufen, einmal der des Verfassungsrechts, zum andern der des einfachen Gesetzes. 92 Z u m Problem der D r i t t w i r k u n g vgl. vor allem Nipperdey, R d A 50, 125 ff.; Enneccerus-Nipperdey, Allgem. T e i l d. Bürgerl. Rechts, 1. Halbbd. § 15 I I 4 c, S. 93 ff.; Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V 2. Halbbd. 741 (747 ff.); Dürig, Nawiasky-Festschrift, S. 157 ff., ders. Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I I I , RdNr. 127 ff. S. 64; Geiger, Grundrechte i n der Privatrechtsordnung; Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht; Reimers, Bedeutung der Grundrechte f ü r das Privatrecht. 93 Bereits hier zeigt sich, daß sich hinter der Streitfrage: unmittelbare oder mittelbare D r i t t w i r k u n g , letztlich die Rangfrage verbirgt: welches d r i t t w i r kende Grundrecht soll welchem anderen vorgehen?
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dann kann die Garantie der Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG nicht so weit gehen, daß der Verpflichtete bei einem Vertragsbruch von allen nachteiligen Folgen seines Gesinnungswandels freizustellen ist. Die Freiheit des Gewissens ist, wenngleich nach dem Grundgesetz an sich unbeschränkbar, durch den Vertrag in wirksamer Weise individuell beschränkt. Das zwingt zwar den Schuldner nicht, sich gegebenenfalls gewissenswidrig zu verhalten, wohl aber hat er Schadensersatz zu leisten oder andere nachteilige Folgen seines Verhaltens (ζ. B. eine Kündigung) hinzunehmen04. Wollte der Schuldner, zum Ersatz des Schadens verurteilt, das Urteil unter Berufung auf sein Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG angehen, so überschritte er die innere Grenze dieses Grundrechts. Er würde „ohne Recht" handeln. Was den Grundrechtsmißbrauch im Koordinationsverhältnis kennzeichnet, ist, daß ein Grundrechtsträger sein Grundrecht ausübt, wo es durch eine die gegensätzlichen Freiheitsinteressen harmonisierende, grundrechtskonforme Synthese beschränkt ist. Diese Synthese kann allein durch Vergleich und Abwägung der beiden kollidierenden Interessen gefunden werden 95 . Zu diesem Zweck ist zunächst der freiheitliche Gehalt der Grundrechte zu beachten, deren Gewährleistungsbereiche für die widerstreitenden Interessen zur Verfügung stehen. Hier sind eventuelle Rangverschiedenheiten der einzelnen Grundrechte zu berücksichtigen und auch die Intensitätsgrade zu bemessen, mit denen ein konkretes Verhalten den dem Grundrecht zugrunde liegenden Rechtswert aktualisiert. Die Ermittlung dessen, was sozial gefordert oder untersagt ist, hat sich, um dem Gebot des Art. 1 Abs. 3 GG Rechnung zu tragen, an jenen grundsätzlichen Wertentscheidungen und Ordnungsprinzipien auszurichten, die im Grundrechtsabschnitt der Verfassung niedergelegt sind96. Sodann sind bei der Abwägung all die Regeln anzuwenden, die das Zivilrecht, sei es in der Form allgemeiner Rechtsgrundsätze, sei es in der Form positiver Rechtssätze, für die Bewertung gegensätzlicher Interessen entwickelt hat. Für die Auffindung der grundrechtskonformen Synthese stehen folglich drei verschiedene Komplexe von Bewertungsmaßstäben zur Verfügung. Einmal die, die sich aus dem Grundrechtsabschnitt selbst ableiten lassen, zum anderen die, die sich aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben, und schließlich noch die, die das positive Zivilrecht bereitstellt. Die drei Bereiche können in verschiedener Weise zusammenwirken. Es ist denkbar, daß der eine oder andere ganz versagt, daß sie sich über94 Z u m Problem des Gewissenskonflikts i m Vertragsrecht vgl. Arwed Biomeyer, JZ 54, 309 (312); Bosch u n d Habscheid, JZ 54, 213 (216); Ramm, Freiheit der Willensbildung, S. 61. 95 So BVerfGE 7, 198 (212); Vgl. auch Maunz., Apelt-Festschrift, S. 113 (117). 9e BVerfGE 7,198 (215).
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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lagern oder daß sie sich widersprechen. So kann es geschehen, daß die grundrechtskonforme Synthese sich mit der Bewertimg deckt, die einer vorhandenen Zivilrechtsnorm zugrunde liegt®7 oder die sich aus einem allgemeinen Rechtsgrundsatz entwickelt hat®8. I n solchen Fällen erscheint das streitbefangene Grundrecht in der Tat durch das positive Privatrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze beschränkt 99. Es kommt aber eben auch vor, daß Bewertungsmaßstäbe des Zivilrechts dem freiheitlichen Gehalt der Grundrechte nicht mehr entsprechen, so daß eine ihrem Wortlaut nach einschlägige Zivilrechtsnorm keine grundrechtskonforme Synthese bietet 100 . Hier ist nun zu fragen, wie bei der gebotenen Interessenabwägung vorzugehen ist, damit man die Wechselwirkung zwischen den Wertentscheidungen des Grundrechtsabschnittes und dem Zivilrecht richtig in den Griff bekommt. Zwei Wege bieten sich an: entweder man beginnt bei der Grundrechtskollision oder man geht von der zivilrechtlichen Kollisionsnorm aus. Entscheidend für den ersten Ansatzpunkt ist wohl die Überlegung, daß die Grundrechte ihre Funktion, Lebensordnung der Rechtsgemeinschaft zu sein, nur erfüllen, wenn sie unmittelbar wirken, wenn sie ohne weiteres auch das Koordinationsverhältnis erfassen und ausrichten. Um das zu erreichen, mißt man den Grundrechten so weitgehend unmittelbar bindende Kraft zu, wie dies nach dem Inhalt der Rechtssätze, nach Vernunft und Billigkeit möglich erscheint 101. Auch von diesem Ansatzpunkt her kann es freilich keine einseitige Bindungswirkung der Grundrechte geben. Jedermann ist gleichzeitig an die Grundrechte aller anderen gebunden. Das heißt allerdings nicht, daß jede Handlung, die in die grundrechtlich gesicherte Freiheitssphäre eines anderen hinübergreift, schon grundrechtswidrig würde 102 . Das Absurde einer solchen Vorstellung zeigt sich bei der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Die Freiheit der persönlichen Entfaltung findet ihre Schranke an den 97
So i n den v o m BVerfGE 7,230; 18,302, entschiedenen Fällen. Wie etwa das Verbot des „venire contra factum proprium". 99 So Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 73, S. 60. 100 Diese Möglichkeit hatte ζ. B. das Landgericht H a m b u r g i n der Entscheidung, die zum L ü t h - U r t e i l führte, nicht hinreichend gewürdigt. Sie w u r d e w o h l auch v o m BAG, A P § 13 KSchG Nr. 2, noch nicht k l a r gesehen. Die A n sicht, daß die Grundregeln über die Arbeitsverhältnisse zu den „allgemeinen Gesetzen" nach A r t . 5 Abs. 2 GG zählen, ist noch zu allgemein. 101 So Nipperdey, RdA 50, 121 (124). 102 Dazu, daß ζ. B. auch Selbstbeschränkung die eigene Freiheitssphäre verwirklicht, vgl. Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V 2. Halbbd. S. 756. I m ü b r i gen sind nach Nipperdey, DVB1. 58, 445 (447) auch bei der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g der Grundrechte eben wegen A r t . 2 Abs. 1 GG die Prinzipien p r i v a t rechtlicher Entfaltungsfreiheit zu berücksichtigen. 98
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Rechten anderer. Zählte man auch das Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG zu diesen Rechten anderer, so machte man im gleichen Augenblick jedes subjektive Recht gegen einen anderen Grundrechtsträger, gleichgültig ob Grundrecht oder einfaches Privatrecht, gegenstandslos. Immer wird durch die Ausübung eines subjektiven Rechtes fremder Wille gebunden und damit im Koordinationsverhältnis mindestens die allgemeine Entfaltungsfreiheit des anderen begrenzt. Das Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG ist mithin im Koordinationsverhältnis nicht aus sich heraus zu vollziehen. Hinzu kommen muß noch der Vergleich der auf dem Spiel stehenden gegensätzlichen Interessen. Für den streitentscheidenden Zivilrichter bedeutet das: er hat davon auszugehen, daß grundsätzlich niemand den eigenen Freiheitsbereich verlassend in den eines anderen eingreifen darf, es sei denn, der übergreifenden Handlung steht ein Vorzugselement zur Seite. Das Vorzugselement muß die eingreifende Handlung zu der berechtigteren machen, der gegenüber das Abwehrinteresse des anderen Grundrechtsträgers zu weichen hat. Die entsprechenden Vorzugselemente hat der Richter zunächst aus den grundsätzlichen Wertentscheidungen und den sozialen Ordnungsprinzipien des Grundrechtskatalogs zu entwickeln. I n diesem Zusammenhang spielt es zum Beispiel eine Rolle, welche Funktion dem einzelnen Grundrecht für die zu ordnende Staatswirklichkeit zukommt 103 , in welchem Verhältnis es zu den Leitideen und Fundamentalnormen der Verfassung steht. Diese abstrakte Betrachtung wird ergänzt durch eine konkretere. Hier ist die Intensität zu ermitteln, in der eine konkrete Freiheitsausübung am Menschenwürdegehalt teilnimmt oder die Menschenwürde eines anderen berührt 104 . Schließlich ergeben auch die unterschiedlichen Absicherungen und Vorbehalte der einzelnen Grundrechte im Verhältnis zu den staatlichen Gewalten allgemeine oder spezifische Hinweise auf bestehende Rangunterschiede 105. Lassen sich auf diese Weise schon im Grundgesetz selbst eindeutige Vorzugselemente finden, so prüft der Richter weiter, ob eine bereits vorhandene zivilrechtliche Kollisionsnorm der grundrechtlichen Rangverschiedenheit entspricht. Ist dies der Fall, stützt er seine Entscheidung lediglich auf die Zivilrechtsnorm. Auf diese Weise kann er ohne weiteres einer vorbeu108
Vgl. etwa BVerfGE 7, 198 (208), w o die Freiheit der Meinungsäußerung als schlechthin konstituierend f ü r eine freiheitlich demokratische Grundordnung bezeichnet w i r d . 104 Vgl. BVerfGE 12,1 (4), w o eine menschenwürde-feindliche Handlung v o m Grundrechtsschutz ausgenommen wurde. 105 Die These Leisners, Grundrechte u n d Privatrecht, S. 391, daß bei v o r behaltslosen Grundrechten eine Kollision axiomatisch ausgeschlossen sei, dürfte allerdings zu w e i t gehen.
2. Kap. : Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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genden Unterlassungsklage gegen eine künstlerische Äußerung beleidigenden Inhalts aus § 823 Abs. 2 BGB, 185 StGB stattgeben, ohne dadurch in die Freiheit der Kunst einzugreifen. Steht hingegen keine passende Zivilrechtsnorm zur Verfügung, dann ist die Entscheidung unmittelbar aus den insoweit als Wertordnungsnormen zu verstehenden Grundrechten zu begründen. Lassen sich jedoch aus dem Grundgesetz keine beachtenswerte Vorzugselemente für das eine oder andere Freiheitsinteresse gewinnen, so ist, — auch dies eine Anwendung des allgemeinen Willkürverbotes des Art. 3 Abs. 1 GG, — von der prinzipiellen Gleichwertigkeit der kollidierenden Interessen auszugehen. Diese Situation ergibt sich vor allem dort, wo die widerstreitenden Interessen in den Bereich desselben Grundrechts fallen. Die Wirkung der Grundrechte hebt sich in dieser Lage auf. Darum sind die entscheidenden Vorzugselemente dem Zivilrecht zu entnehmen. Schon aus diesem Grund wird es, solange das BGB eine vollständige Regelung des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses enthält, auch bei Anerkennung der unmittelbaren Drittwirkung nicht zu einer „rei vindicatio" aus Art. 14 Abs. 1 GG kommen 108 . Gleichermaßen wäre der Streit zweier Versammlungsveranstalter um die Benutzung eines Versammlungslokals, selbst wenn die Versammlungen irgendeiner Art von Religionsausübung dienen sollten und in der Staatsrichtung den Schutz des Art. 4 Abs. 1 GG hätten, ausschließlich danach zu lösen, wer von den beiden die bessere zivilrechtliche Position hat 107 . Etwas anderes kann wohl nur gelten, wenn ein Grundrechtsträger durch an sich zivilrechtlich zulässiges Verhalten die Wesensgehaltssperre durchbricht. Dann hat das Abwehrinteresse des Betroffenen den Vorzug 108 . Bedenken gegen eine Aktivierung der Wesensgehaltsgrenze auch für das Koordinationsverhältnis dürften kaum bestehen109. Eine an sich einschlägige Zivilrechtsnorm ist gleichfalls unbrauchbar, wenn die enthaltene Bewertung nicht eindeutig von der zunächst festgestellten Gleichwertigkeit der Interessen im Hinblick auf die Rechtswerte des Grundrechtskatalogs ausgeht, vor allem wenn sie eine Auslegung zuläßt, die diesem Wertverhältnis geradezu widerspricht. Hier ist zu beachten, daß zivilrechtlich nur schwach gesicherte Rechtspositionen es Dürig, ZgesStW 109, 326 (339 f.), befürchtet. M a n gelangt auf dem hier dargestellten Weg k a u m zu anderen Ergebnissen als die Lehre von der mittelbaren D r i t t w i r k u n g , vgl. an dieser Stelle etwa Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 73, S. 60. 108 So Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V 2. Halbbd. S. 754 f.; Leisner, G r u n d rechte u n d Privatrecht, S. 389 f. Voraussetzung ist freilich, daß man die Wesensgehaltssperre nicht n u r w i e Haberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 324 ff., deklaratorisch, sondern k o n s t i t u t i v u n d sei es auch n u r institutionell absolut, so Lerche, Übermaß, S. 239 ft. versteht. 109 v g l . i n diesem Zusammenhang BGHZ16, 71 (80). ιοβ
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wegen ihrer inneren Nähe zu einer in den Grundrechten niedergelegten Wertordnungsnorm eine Aufwertung erfahren haben können. Doch folgt daraus allenfalls eine „punktuelle" Unanwendbarkeit. Sie gilt nur für den konkreten Fall. Die Norm wird nicht als solche, nicht schlechterdings verfassungswidrig. Ihre Interessenbewertung wird nur in dem zu entscheidenden Fall durch eine andere, dem grundrechtlichen Wertsystem entsprechende, ersetzt. Zum Beispiel ist wegen der großen Bedeutung der Meinungsfreiheit, die nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts in gewissem Sinn die Grundlage der Freiheit überhaupt ist, von einer grundsätzlichen Vermutung zugunsten dieser Freiheit in allen Bereichen des Rechts auszugehen110. Dem entspricht es wohl nicht, wenn die Verbreitung wahrer Tatsachen, durch die das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb beeinträchtigt wird, nur in Ausnahmefällen und in sehr engen Grenzen zulässig wäre 111 . Man sollte meinen, daß das Grundrecht der freien Meinungsäußerung wegen seines bedeutenden Stellenwertes nicht mehr pauschal durch das in erster Linie materiell strukturierte Recht am Gewerbetrieb relativiert werden könne 112 . Für die Auffindung der grundrechtskonformen Synthese ergibt sich nach dem bisher Gesagten folgendes Arbeitsschema: Zunächst ordnet der Richter die widerstreitenden Interessen der Grundrechtsträger den verschiedenen Grundrechten zu. Dem folgt die Prüfung, ob sich für eines von ihnen aus dem Grundgesetz ein Vorzugselement herleiten läßt. Gelingt das, dann sucht der Richter nach einer das Rangverhältnis berücksichtigenden Zivilrechtsnorm, auf die er seine Entscheidung stützt. Fehlt eine solche Norm, so begründet er sein Urteil aus den einschlägigen grundrechtlichen Wertordnungsnormen. Ergibt sich hingegen aus dem Grundgesetz kein brauchbares Vorzugselement, dann wendet der Richter Zivilrecht an. Während der erste Weg zur grundrechtskonformen Synthese der widerstreitenden Interessen von Grundrechtsträgern bei der Veränderung des Zivilrechts durch das grundrechtliche Wertsystem ansetzt, baut die andere Methode auf die prinzipielle Fortgeltung des bestehenden Zivilrechts. Dürig hat diesen Standpunkt zu dem dogmatischen Leitsatz erhoben: „Wer getreu dem Willen des Grundgesetzes von der Menschenwürde und deren primärer Erscheinungsform, der Freiheit, her deduziert und unsere Rechtsordnung betrachtet, muß auch unter der 110
BVerfGE 7,198 (208). So noch BGHZ 8,142 (145). 112 A . A . offensichtlich Nipperdey, DVB1. 58, 445 (449); er lehnt unter Berufung auf die „allgemeinen Gesetze" die Wechselwirkung zwischen G r u n d recht u n d Vorbehalt ab. D a m i t verneint er i m wesentlichen den Wertgehalt des Grundrechts aus A r t . 5 Abs. 1 GG. 111
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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Geltung des Grundgesetzes an der grundsätzlichen Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit des Zivilrechts gegenüber dem verfassungsrechtlichen Grundrechtssystem festhalten 113." Dabei ergibt sich für das erweiterte Grundrechtsverhältnis ein rechtlicher Dualismus. Die eine Beziehung, die zwischen dem einzelnen und dem Staat, richtet sich nach den Grundrechten, die andere, die der Grundrechtsträger untereinander, nach der Privatrechtsordnung. Man unterstellt, daß die bestehenden zivilrechtlichen Regelungen dem Wertsystem, das die Grundrechte in ihrer Eigenschaft als objektive Wertordnungsnormen bilden, zugeordnet werden können. Bei diesem Ausgangspunkt ist es nur folgerichtig, wenn man die Grundrechte prinzipiell unter den Vorbehalt der Normen stellt, die das rechtliche Nebeneinander und Miteinander der Menschen regeln 114 . Für den Zivilrichter bedeutet das: Er kann seine Entscheidung ohne weiteres auf eine zivilrechtliche Norm stützen und in diesem Rahmen den grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich zugunsten eines gleichgeordneten Privatrechtssubjektes einengen. Da der Richter aber immerhin den grundrechtlichen Wertentscheidungen verpflichtet ist, hat er neue Akzentuierungen zu beachten. Er darf eine Zivilrechtsnorm nicht anwenden, wenn die ihr zugrunde liegende Wertung hinfällig geworden ist" 115 . Doch auch noch dieser Erscheinung gegenüber hat der Richter die Formen der Zivilrechtsordnung zu wahren. Die von den Grundrechten ausgehende Wertverschiebung erreicht die Zivilrechtsnormen nicht unmittelbar. Sie bedarf eines „Mediums", um in den geschlossenen Raum eigenständigen bürgerlichen Rechts einzudringen. Deshalb hat sie sich der wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Begriffe und Generalklauseln zu bedienen116. Damit ist man freilich noch nicht am Ende. Bei der Aktualisierung der Grundrechte durch die Generalklauseln der entsprechenden Rechtsgebiete stoßen die Wertgehalte der Grundrechte auf die bereits vorhandenen Wertelemente dieser Klauseln. Wer an diesem Phänomen vorbeigeht, setzt einmal alle im Rahmen dieser Klauseln gefundenen und bewährten Rechtswerte zugunsten der Grundrechte aufs Spiel und beraubt zudem die Klauseln der Fähigkeit, die bestehende Rechtsordnung immer wieder auf eine verfeinerte Rechtserkenntnis hin zu orientieren. 118
(342).
Nawiasky-Festschrift, S. 157 (164); vgl. auch Düng,
ZgesStW 109, 326
114 So Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 73, S. 60; i m Ergebnis ebenso Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 36 f. 115 So w i r d vermieden, daß dem Dualismus der K o n s t r u k t i o n ein Dualismus der Rechtsmoral folgt; Düng, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I I I , RdNr. 131, S. 66. 116 So Dürig, aaO., RdNr. 132, S. 66, m i t Nachweisen.
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Letztlich tauchen hier eben die Gefahren wieder auf, die man von der Lehre der unmittelbaren Drittwirkung befürchtet und die zu vermeiden man den Weg der Aktualisierung über die Privatrechtsklauseln gewählt hat. Die Zivilrechtsordnung läßt sich auch von den Generalklauseln her aus ihren Angeln heben 117 . Es geht daher nicht, daß man die in den Grundrechten enthaltenen Freiheitsgewährleistungen unbesehen zu Bestandteilen der Generalklauseln macht. Verfehlt wäre es etwa, dem Art. 5 Abs. 1 GG einen allgemeinen „Wertordnungssatz" zu entnehmen: es ist rechtswidrig und verboten, die freie Meinungsäußerung des Menschen zu verhindern 118 . Ein derartiger Satz, ohne jede Einschränkung als Teil des „Sittengesetzes" ausgegeben, könnte in der Tat unübersehbare Lücken in das Zivilrecht reißen. Immerhin sieht das Privatrecht in jeder Rechtsausübung, die gegen die „guten Sitten" oder gegen „Treu und Glauben" verstößt, eine unzulässige Rechtsausübung. Die Schwierigkeiten verdichten sich, wenn man daran ginge, in entsprechender Weise mit der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG zu verfahren. Die Grundrechte lassen sich daher wohl nur so für das Privatrecht aktualisieren, daß man bei den Interessenabwägungen, zu denen die Generalklauseln jeweils auffordern, den Rechtswert der für den Konflikt einschlägigen Grundrechte einbezieht. Man ergänzt also den Bestand an Kollisionsnormen um die Bewertungsmaßstäbe, die sich aus dem Grundrechtskatalog gewinnen lassen. Bei Wertverschiebungen, nämlich Aufwertungen oder Abwertungen rechtlich relevanter Interessen, wird das positivierte Zivilrecht neu orientiert. Für das Auffinden der grundrechtskonformen Synthese ist somit die zweite Methode viel einfacher: Der Richter wendet grundsätzlich die vorhandenen Zivilrechtsnormen an. Nur wenn die Ausübung eines subjektiven Rechts den Verpflichteten in dessen grundrechtlich gesicherter Freiheit in einem Maß beschneidet, das bei Würdigung aller Umstände, vor allem in Anbetracht der Wertentscheidungen, die im Grundrechtskatalog gefallen sind, nicht mehr vertretbar erscheint, kann die berechtigende Norm beiseite geschoben werden. Es ist dann auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz zurückzugreifen, wonach gegen Treu und Glauben und gegen die guten Sitten handelt, wer sein Recht auf Kosten des höherrangigen Interesses eines anderen ausübt. Die Verschiedenheit der Methode führt nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der Vorwurf, daß durch die unmittelbare Anwendung der 117 Vgl. die detaillierte K r i t i k Leisners, Grundrechte u n d Privatrecht, S.365 ff. 118 So anscheinend Geiger, Grundrechte u n d Privatrechtsordnung, S. 20 m i t FN. 30.
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
Grundrechte im Koordinationsverhältnis „das ganze Privatrechtssystem an der Wurzel getroffen werde" 119 , ist unberechtigt, solange man im Auge behält, daß sich im Koordinationsverhältnis zwei Grundrechtsträger gegenüberstehen. Demzufolge handelt es sich nicht eigentlich um die Kollision eines Grundrechtes mit einem subjektiven Privatrecht, sondern um den Ausgleich zweier drittgerichteter Grundrechte. Bei den Überschneidungen der Grundrechtsbereiche verschiedener Grundrechtsträger kann das Zivilrecht als, wenngleich nicht abschließender, Kollisionsnormenbestand nicht entbehrt werden. I m übrigen verhilft schon ein Blick auf den allgemein anerkannten Bereich unmittelbarer Drittwirkung, Art. 9 Abs. 3 GG, zu einigen Zweifeln gegenüber der Zwangsläufigkeit, mit der ein unmittelbar drittwirkendes Grundrecht zum Untergang der Privatautonomie beitragen sollte 120 . Das Verbot von Abreden, die auf eine Behinderung der Koalitionsfreiheit hinauslaufen, nimmt mit geradezu beglückender Selbstverständlichkeit solche Abreden aus, die sich aus der Betätigung dieser Freiheit ergeben 121. Hervorzuheben ist, daß bei beiden Methoden unmittelbar aus dem Wertsystem des Grundrechtskatalogs zu entscheiden ist, wenn sich durch das Grundgesetz die Wertung verschoben hat, die einer an sich einschlägigen Zivilrechtsnorm zugrunde liegt. Die Generalklauseln, auf die die zweite Methode für diesen Fall zurückgreift, haben letztlich keine eigenständig materiale, sondern eine formale, nur weiterverweisende Funktion. Es ist mithin durchaus zutreffend, wenn Leisner von der Dimgschen Lehre meint, sie umgebe den grundrechtlichen Norminhalt mit einem privatrechtlichen Mäntelchen, im letzten sei sie aber nichts anderes als eine Negation der Drittwirkung — oder eine unmittelbare Drittwirkung 122 . Die bestehenden Streitfälle zwischen den Anhängern der immittelbaren Drittwirkungslehre und denjenigen, die die Grundrechte durch die Generalklauseln des Privatrechts aktualisiert wissen wollen, erwachsen nicht aus der Methode der Grundrechtsanwendung im Drittverhältnis. Sie haben ihren Grund in der für beide Theorien gleich wichtigen Frage, welches Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Wertordnungsnormen des Grundrechtskatalogs besteht 123 . 119
So Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I I I , RdNr. 129, S. 65. Dürig, Nawiasky-Festschrift, S. 157 (168). 121 Vgl. etwa Diete, J Z 59,425 (430). 122 Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht, S. 369. 123 Auch die Lehre von der mittelbaren D r i t t w i r k u n g hat z. B. zu prüfen, ob das Diskriminierungsverbot des A r t . 3 Abs. 3 G G der v o n A r t . 2 Abs. 1 G G mitgeschützten Testierfreiheit vorgeht; denn, wäre dem so, dann müßte es über eine der Generalklauseln aktualisiert werden. Vgl. zu dieser Frage Düng, 120
§ 14 Zivilrechtlich geschützte Interessen
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Prüft man allerdings die beiden dargestellten Methoden unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität, dann verdient die zweite ohne jede Einschränkung den Vorzug. Fälle, in denen der Grundrechtskatalog selbst einen Rangunterschied gegensätzlicher Freiheitsinteressen anzeigt, sind höchst selten. Grundsätzlich haben die verschiedenen Freiheitsinteressen gleichen Rang. Hinzu kommt, daß die privatrechtlichen Bewertungsmaßstäbe nicht an Rechtsgütern, auch nicht an Wertverwirklichungsformen ansetzen, sondern in erster Linie an der Art und Weise der Interessenverwirklichung. Aus diesem Grund verschließen sich große Bereiche einer wertmäßigen Umakzentuierung. Diesen Vorgegebenheiten wird die zweite Methode besser gerecht, weil sie von der grundsätzlichen Fortgeltung des Zivilrechts im Koordinationsverhältnis ausgeht. Unabhängig davon, welchen Weg man einschlägt, um die grundrechtskonforme Synthese für die Kollision von Freiheitsinteressen zu finden, das ermittelte „bessere Recht" begrenzt den Grundrechtsbereich des anderen Grundrechtsträgers. Wer sich auf ein Grundrecht beruft, obwohl seiner Grundrechtsausübimg ein „besseres Recht" entgegensteht, handelt „ohne Recht".
Nawiasky-Festschrift, 157 (169) einerseits u n d Leisner, Grundrechte u n d P r i vatrecht, S. 359, FN. 182, andererseits; zum Problem der Vertragsfreiheit vgl. Ramm, Freiheit der Willensbildung, S. 55 ff. 5 Gallwas
Zweiter
Abschnitt
Die zweite Mißbrauchstype: Grundrechtsausübung unter Verletzung vorrangiger Interessen der Allgemeinheit I. Z u r p r i n z i p i e l l e n A n w e n d b a r k e i t dieserMißbrauchstype 615 Allgemeines
Das Verständnis der Grundrechtsverhältnisse als schlichte Individuum-Staat-Beziehungen hat sich schon im vorhergehenden als zu eng gezeigt. Die mit jenem Verständnis verbundene Abstraktion macht den einzelnen im Staat zum „Robinson", zur „fensterlosen Monade" 124 , sie vernachlässigt die Wechselwirkungen, die sich zwischen den einzelnen Grundrechtsträgern abspielen. Doch nicht nur das. Das zugrunde liegende Denkmodell verschleiert noch einen weiteren Aspekt der menschlichen Freiheit, nämlich die Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft. Alles menschliche Tim ist auf das vielfältigste mit der sozialen Umwelt verwoben, sei es, daß sie den einzelnen immer nur in einer bestimmten historischen Lage einbezieht, sei es, daß der einzelne ihr Impulse gibt oder sie gar umgestaltet. Deshalb hat man auch eine Erweiterimg des klassischen Grundrechtsverhältnisses auf das Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Allgemeinheit mindestens in Erwägung zu ziehen. Dies um so mehr, als die soziale Umwelt dem einzelnen ja nicht nur als „leidende Substanz" begegnet, sondern ihm, und das nicht zu selten, als verbundener Wille aktuell entgegenwirkt. Nicht bloß die staatlichen Gewalten hemmen die Ausübung der Freiheit; es gibt auch den Konflikt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Man denke etwa an die unmittelbaren Abwehrreaktionen sozialer Gebilde, deren Intensitätsschattierungen vom Totschweigen bis zur ausdrücklichen Ablehnung, von der murrenden Mißbilligung bis zur eigenmächtigen Bestrafung reichen. Derlei Reaktionen können zum Beispiel die Freiheit der Kunst einschneidender und nachhaltiger treffen als jede staatliche Zensur. Wer von der prinzipiellen Geltung der Grundrechte in allen Bezirken menschlicher Existenz ausgeht — was angesichts der staatlichen Schutz124
Heller, Staatslehre, S. 82.
§ 15 Allgemeines
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Verpflichtung des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG geboten erscheint 125 — stößt zwangsläufig auf die Frage, ob die Grundrechte unabhängig von ihrer jeweiligen positivrechtlichen Ausgestaltung Schranken unterworfen sind, die die Allgemeinheit dem einzelnen auferlegt. Auf zweierlei zielt diese Frage; einmal: gibt es Strukturen oder Funktionen der sozialen Umwelt, die als eigenständiger Rechtswert anzuerkennen sind12®? zum andern: geht dieser Rechtswert generell oder punktuell der individuellen Freiheit vor? Strukturen und Funktionen der sozialen Umwelt können freilich nur dann einen eigenständigen Rechtswert haben, wenn sie nicht schon begrifflich in den Bereich des Individuellen oder in den des Staatlichen fallen. Damit ist man mitten in der Staatstheorie. Aber es bedarf hier keiner eingehenden Auseinandersetzung mit der Ansicht, wonach die Allgemeinheit nichts anderes sei als die atomistische Summe der einzelnen127. Ebenso erübrigt sich eine eingehende Diskussion der Meinung, die Allgemeinheit gehe restlos im Staate auf 128 . Vielmehr genügt die Anknüpfung an jene, der soziologischen Wirklichkeit wohl am nächsten kommende Auffassung, daß es die staatliche Gewalt 129 nicht nur mit den einzelnen zu tun habe, sondern zugleich mit der durch die einzelnen gebildeten, aber verselbständigten Allgemeinheit 130 » 181 . Diese Allgemeinheit ist eigenständig im Verhältnis zum einzelnen 132 . Sie besteht 125
Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I, RdNr. 3, S. 4 f. Gerade hierin sieht Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale Struktur, S. 58, die Konstanten, durch die das soziale Leben ein Ganzes bildet. 127 Vgl. zu dieser Meinung die Hinweise auf A . L . v o n Schlözer, Christian von Schlözer, Hofbauer, W i l h e l m v o n Humboldt, Fichte u n d K a n t bei O. von Gierke , Genossenschaftsrecht, Bd. 4, S. 430 ff., 437 ff., 441 ff. Kritisch dazu: H. Heller, Staatslehre, S. 95 f. Dieser Ansicht zuneigend, Uber, Freiheit des Berufs, S. 72. 128 Vgl. hierzu die Hinweise bei O. von Gierke, aaO. S. 452 ff. 120 N u r diese Seite des Staates ist gemeint, denn i m Grundrechtsverhältnis steht dem Bürger der Staat i n der Gestalt organisierter Hoheitsgewalt gegenüber. D a m i t entfallen f ü r das hier zu Behandelnde alle Einwände gegen eine Gegenüberstellimg v o n Staat u n d Gesellschaft. Vgl. Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale Struktur, S. 61 f.; Ehmke, Smend-Festschrift 1962, S. 23 ff. 130 Z u r Darstellung dieser Ansicht, O. von Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 4, S. 459 ff. Z u r physischen Gemeinschaft als Grundlage des Staates, O. von Gierke, Grundbegriffe des Staatsrechts, S. 99. Vgl. auch den Unterscheidungsvorschlag Ehmkes, aaO. S. 46, nach „politischem Gemeinwesen" u n d „government" ; ein ähnliches Verständnis findet sich auch bei Herbert Krüger, Staatslehre, S. 341 ff. 131 Das schließt freilich nicht aus, daß Interessen der einzelnen u n d der Allgemeinheit häufig i n dieselbe Richtimg gehen, ja, daß Interessen der A l l gemeinheit sich weitgehend auf Einzelinteressen zurückführen lassen. N u r ist das, w i e das Sittengesetz zeigt, nicht i m m e r so. Α Α . anscheinend Uber, Freiheit des Berufs, S. 53 f. 132 Ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 74, S. 62; Wolff, V e r w R Bd. I, § 29 I I b, S. 133; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 21. 126
5·
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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auch ohne einen Staat; allerdings setzt sie sich aus den einzelnen zusammen 133 und bringt ihrerseits den Staat hervor 134 . I m Staat, vor allem im demokratischen Staat, handelt sie in der Regel durch die staatlichen Gewalten 135 . Vor diesem Hintergrund zeigt sich das Grundrechtsverhältnis nochmals als Dreiecksverhältnis: Die staatlichen Gewalten haben es nicht allein mit den Interessen der einzelnen zu tun, sie müssen die Interessen der Allgemeinheit einbeziehen. Der einzelne, ohnmächtig gegenüber der Allgemeinheit, ist auf den Schutz des Staates angewiesen; umgekehrt hat der Staat unter Umständen die Allgemeinheit vor den Angriffen des einzelnen zu sichern 136. I m Konflikt des einzelnen mit der Allgemeinheit übernimmt der Staat die Rolle des ehrlichen Maklers. Ansätze zu einem derart erweiterten Verständnis des Grundrechtsverhältnisses lassen sich im Grundgesetz ohne weiteres nachweisen. Der Grundrechtskatalog enthält eine ganze Reihe von Aussagen, die sich auf das Spannungsverhältnis zwischen dem einzelnen und der Allgemeinheit beziehen. Ausdrücklich erwähnt ist die Allgemeinheit als Gegenpol menschlicher Freiheit in Art. 6 Abs. 2, S. 2; Abs. 4; Art. 11 Abs. 2; in Art. 14 Abs. 2, S. 2 und Abs. 3, S. 2; gemeint ist sie aber auch wohl in Art. 2 Abs. I 1 3 7 , in Art. 13 Abs. 3 und Art. 15 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat das im Grundgesetz angedeutete „Menschenbild" nach mehreren Richtungen hin akzentuiert und profiliert: es hat betont, daß die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und der Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden sei 138 , daß der einzelne zwar als eigenständig und als selbstverantwortlich anerkannt sei, aber eben innerhalb der sozialen Gemeinschaft stehe 139 . Die Gesellschaft fordere von den einzelnen Gliedern die Einhaltung bestimmter Regeln; Verstöße hiergegen 188
Vgl. hierzu H. Heller, Staatslehre, S. 99 f. Insoweit deckt sich der Begriff der Allgemeinheit m i t dem der „staatshervorbringenden Gesellschaft" i m Sinne Herbert Krügers, Staatslehre, S. 346 f. 135 Vgl. H . Heller, Staatslehre, S. 238 ff. ΐ3β Der Staat ist der H ü t e r der Allgemeinheit, vgl. Herbert Krüger, Staatslehre, S. 545. Die Hüterstellung der staatlichen Gemeinschaft gegenüber der sozialen Gemeinschaft w i r d auch i n BVerfGE 6, 389 (434) angesprochen. Vgl. auch Uber, Freiheit des Berufs, S. 52 f., danach handelt der Staat gewissermaßen n u r i n Vertretimg f ü r die Gemeinschaft, u m deren gesellschaftliche Sphäre zu sichern u n d aufrechtzuerhalten. Ä h n l i c h Kaiser, Repräsentation, S. 338. 137 "Wer brächte das Sittengesetz schon hervor, w e n n nicht die Allgemeinheit. 134
138 139
BVerfGE BVerfGE
4, 7 (15) ; 8, 274 (329). 6, 32 (40); 7,198 (205); 7,320 (323).
§
Allgemeines
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werden als unsittlich empfunden und mißbilligt, dies wiederum schaffe eine Eingriffsbefugnis für die staatlichen Gewalten 140 . Wo der einzelne in das soziale Leben eingreife, sollen ihm im Interesse der Gesamtheit Beschränkungen auferlegt werden können 141 . Den Schutz der Interessen der Allgemeinheit gegenüber dem frei und selbstverantwortlich handelnden einzelnen stellt in der Regel die rechtstechnische Figur des allgemeinen oder speziellen Regelungsvorbehalts sicher 142. Somit steht man wiederum vor der Frage, was zu gelten hat, wenn ein Grundrecht, von dessen Ausübung die Allgemeinheit betroffen wird, ohne Gesetzesvorbehalt geblieben ist. Sicher kann es nicht richtig sein, die Grundrechte samt und sonders durch eine allgemeine Gemeinwohlklausel zu relativieren, etwa in dem Sinn: kein Grundrecht dürfe zu Lasten der Allgemeinheit ausgeübt werden. Anderenfalls ständen die Grundrechte so gut wie total zur Disposition der staatlichen Gewalten und verlören ihre vornehmste Bedeutung, nämlich sich als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft zu bewähren. Es sei an den Satz Georg Jellineks erinnert, daß unter Berufung auf die allgemeine Wohlfahrt zu allen Zeiten die rücksichtslosesten Angriffe auf die höchsten und wichtigsten individuellen Güter vorgenommen worden seien 143 . Jeder staatlichen Gewalt ist es ein leichtes, bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen irgendeinen Zusammenhang zu einer Gemeinwohlforderung aufzufinden und vorzuschützen. Andererseits ergeben sich gewichtige Bedenken, die vom Grundgesetzgeber formulierten Eingriffsvorbehalte als abschließend und somit als unverrückbare Grenze für die gebotene Schlichtung von Interessengegensätzen zwischen dem einzelnen und der Allgemeinheit anzuerkennen. Immerhin wiegt auch in diesem Zusammenhang das Argument, die Grundrechtsformulierungen seien an den typischen Gefährdungssituationen orientiert, denen der einzelne und die Allgemeinheit in der Vergangenheit ausgesetzt waren. Mag nun eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die ständige Wiederholung solcher Situationen sprechen, so besagt das aber noch nichts für einen numerus clausus typischer Gefährdungssituationen. Warum sollte nicht auch hier der Wandel der Zeit wirken und Gefährdungsakzente verlagern? Sicher ist, daß der Verfassunggeber, nachdem es einen generellen Richtsatz zur Abgrenzung der Freiheits- von der Gemeinschaftssphäre nicht gibt 144 , wohl kaum alle künftig möglichen Interessengegensätze im Auge haben konnte, und daß da140 141 142 143 144
BVerfGE BVerfGE BVerfGE
6, 389 (434). 7, 377 (403). 7, 377 (403).
Staatslehre, S. 243. Uber, Freiheit des Berufs, S. 59.
2. Kap. : Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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her jeder positiven Abgrenzung der Interessenkollisionen zwischen dem einzelnen und der Allgemeinheit ein gewisses Maß an Unvollkommenheit anhaftet. Aber — und das sollte gerade bei den Grundrechten nicht leichter Hand abgetan werden — vielleicht wollte der Grundgesetzgeber, um seine Unvollkommenheit wissend, bis zur Grenze seiner Normierungsgewalt gehen, damit ein Grundrechtsbereich entstehe gleich einem „rocher de bronce", den der Bürger als unverrückbaren persönlichen Besitz empfindet, der ihm die Zugehörigkeit zu einem freien Staat zum unersetzlichen Wert macht 145 . Doch selbst dieser dem Bürger verschaffte Sicherheitsabstand dürfte nicht anders als prinzipiell verstanden werden. Wohl spricht das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts eine „beredte Sprache" und begründet eine Vermutung zugunsten der Freiheit, aber eben nur im Rahmen der Normierungsgewalt des Verfassunggebers. Geht man mithin von der Annahme aus, daß sowohl der einzelne als auch die Allgemeinheit selbständige Grundelemente des Staates sind, dann leuchtet ohne weiters ein, daß diese Allgemeinheit Schutz- und Bestandsforderungen an alle staatlichen Gewalten, den Verfassunggeber eingeschlossen, zu stellen hat, die so selbstverständlich sind, daß sich jedwede Diskussion erübrigt. Exakt hier liegen die Grenzen staatlicher Normierungsgewalt, hier die Ansatzpunkte, von denen aus die positivrechtliche Vermutimg für die Freiheit des einzelnen, und damit korrespondierend zu Lasten der Allgemeinheit, widerlegbar wird. In seinem Apotheken-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht 146 anerkannt, daß zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher, schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut unter Umständen zwingend geboten ist, die grundrechtlich gesicherte Freiheitssphäre zu beschränken, auch wenn dieser Eingriff die „letzte Stufe" innerhalb einer Reihe verschieden intensiver Regelungsbefugnisse darstellt. Wie aber, wenn sich ein Freiheitsinteresse, das an sich in den Schutzbereich eines völlig vorbehaltsfreien Grundrechts fällt, gegen ein solches „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut", dessen Erhaltung „zum gemeinen Wohl unerläßlich ist", richtet. Sollte das Gemeinschaftsgut, etwa die vom Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang genannte Volksgesundheit, allein deshalb nicht mehr „überragend wichtig", seine Erhaltung weniger „unerläßlich" sein? Wollte man derart aggressive Grundrechtsausübungen ausnahmslos für mitgeschützt erachten, bloß weil ein entsprechender Gesetzesvorbehalt fehlt, der einen aus146
™
Herbert Krüger, N J W 55,201 (202). BVerfGE 7,377.
§
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reichenden Schutz der Gemeinschaftsinteressen sicherstellt, so würde auch das an der Lebenswirklichkeit vorbei zu rechtlich nicht mehr einleuchtenden Ergebnissen führen 147 . Man geriete in die gefährliche Nähe eines „fiat libertas pereat res publica". Das bisher Gesagte bereitete den Grund für die Ansicht, daß Grundrechtsausübungen ausnahmsweise auch dann im Interesse der Allgemeinheit staatlichen Eingriffen unterworfen sein können, wenn ein positivierter Eingriffsvorbehalt fehlt. Nun gilt es, diesen Eingriffsbereich zu präzisieren. Angedeutet ist bereits, daß es hier letztlich um die Beschreibung der Randzone staatlicher Normierungsgewalt geht; d. h., wo schon für den Verfassunggeber Schranken im Interesse der Allgemeinheit bestehen, darf er die Freiheit des einzelnen nicht zum letztlich verbindlichen Rechtsprinzip erheben. Dieser Grenzbereich staatlichen Normierens läßt sich nicht abschließend definieren. Allenfalls ist eine Generalklausel denkbar, die ihrerseits konkretisierungsbedürftig ist. Was daher an dieser Stelle einzusetzen hat, ist die Suche nach einem formalen Kriterium, das geeignet ist, aus dem Bündel der Allgemeininteressen diejenigen auszusondern, die die Randzone staatlicher Normierungsgewalt erkennen lassen und die diese Zone, sei es auch nur schlaglichtartig, markieren. Oben, bei der Darstellung der ersten Mißbrauchstype, zeichnete sich als derartiges formales Abgrenzungsprinzip immer wieder das der Interessenabwägung ab. Hier, bei der zweiten Mißbrauchstype, ist dieses Prinzip ganz und gar untauglich 148 . Es entbehrt seiner Grundvoraussetzung. Das Interesse der Allgemeinheit und ein mit ihm kollidierendes Individualinteresse sind nicht schon an sich miteinander vergleichbar wie die gegensätzlichen Interessen einzelner. Denn insoweit gilt gerade nicht der Grundsatz der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Interessen, wie er sich aus der Schutzverpflichtung des Staates zugunsten der Menschenwürde eines jeden Bürgers, aus dem Gerechtigkeitsprinzip und ausdrücklich verfassungsmäßig verbrieft aus dem Gleichheitssatz ergibt 149 . Gerade hierin liegt der eigentliche Grund, warum jegliche 147
BVerfGE 7,377 (401). So schon Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 167. Gleiches hat w o h l auch für die Güterabwägung zu gelten. A . A . E. R. Huber, D Ö V 56, 135 (136); anscheinend auch Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 31 ff.; Hamel, DVB1. 58, 37 (44); Eike von Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte, S. 25 ff. 149 W e n n H. J. Wolff, V e r w R Bd. I, § 29 I I I , b 3, S. 135, eine V e r m u t u n g zugunsten der Höherwertigkeit der allgemeinen öffentlichen Interessen ann i m m t , so w i r d m a n dem v o m Standpunkt der Grundrechtstheorie nicht zustimmen können. 148
72
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
Argumentation mit einer allgemeinen Gemeinwohlklausel letztlich einfach bodenlos, ohne Überzeugungskraft, bleiben muß 150 . I n einer Verfassimg, die die staatlichen Gewalten an Grundrechte bindet und keinen Raum als grundrechtsfrei ausspart, entscheidet prinzipiell der Verfassunggeber, nämlich durch Statuierung von Eingriffsvorbehalten, wo und unter welchen Bedingungen Interessen der Allgemeinheit auf Kosten des einzelnen durchgesetzt werden dürfen. Wer diesen Raum ohne wirklich zwingenden Grund erweitert oder verengt, ändert die Verfassung 151. An die Stelle der Interessenabwägung muß daher, wo es um den Nachweis einer Grenze staatlicher Normierungsgewalt geht, ein anderes Prinzip treten. Als solches kommt wohl nur eine allerdings nicht lediglich im physischen Sinn gemeinte „Bestandsklausel" in Betracht. Damit ist, zunächst ganz roh umschrieben, folgendes gemeint: Die sich zu einer staatlichen Gemeinschaft organisierende Allgemeinheit hat einige elementare Interessen, die sie weder der verfassunggebenden Gewalt, noch den zu schaffenden staatlichen Gewalten zur Disposition überantwortet 152 . Als elementar sind dabei solche Interessen zu verstehen, ohne deren Durchsetzung die Allgemeinheit als solche, d.h. als konkreter sozialer Verband in einer konkreten historischen Situation, aufhören würde zu bestehen153. Mit Sicherheit stellt sich die Frage ein, wann dies der Fall sei. Dazu vorab zwei Hinweise: Einmal, es kann kaum bezweifelt werden, daß jedes soziale Gebilde auf Grundnormen aufbaut, durch die es erst zu einem solchen wird 1 5 4 . Diese Normen brauchen nicht rechtstechnisch formuliert zu sein. Nicht einmal bewußt müssen sie sein; schon entsprechende Verhaltensmodelle können die Funktion von Normen erfüllen. Die Erforschung der Verhaltensmodelle ist Sache der So150 Das besagt allerdings noch nicht, daß auch bei der Ausfüllung der Gesetzesvorbehalte nicht auf den Interessenvergleich zurückgegriffen werden dürfte. Doch w i r d m a n es insoweit eher m i t dem Erforderlichkeits- bzw. dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu t u n haben. 151 Kritisch zur Klausel der vordringlichen Allgemeininteressen insbesondere Lerche, Übermaß, S. 292 ff. 152 Vgl. dazu Weinkauff, N J W 60, 1689 (1694): Nach naturrechtlicher A u f fassung weisen auch die elementaren Einrichtungen des gesellschaftlichen Z u sammenlebens . . . eine letzte rechtliche Geordnetheit auf, die zwar gewissermaßen n u r i n den äußersten Umrissen sichtbar ist, die also der Ausgestaltung i m einzelnen durch das positive Recht einen ungemein weiten Spielraum läßt, dieser Ausgestaltung aber doch letzte rechtliche Grenzen setzt. Ä h n l i c h Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 477. 158 I m Ergebnis ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 75 S. 62 f.; Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V 2. Halbbd. S. 742 (825); H.J.Wolff , V e r w R Bd. I, § 29 I I I a 2, S. 134. Nebinger, Verwaltungsrecht, S. 550 f. 154 Vgl. Herbert Krüger, Staatslehre, S. 483, 488 f. Bemerkenswert erscheint i n diesem Zusammenhang auch, daß eine Reihe von Staatsphilosophen dem Herrschaftsvertrag einen Gesellschaftsvertrag vorausschicken, vgl. dazu etwa Otto von Gierke , Althusius, S. 76 m i t FN. 1.
§16 Der physische Bestand
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ziologie155, was freilich nicht besagt, daß dort eine juristisch relevante Aussage nicht zu holen sei 156 . — Zum andern, wenngleich die Verfassunggeber die sogenannten Essentialien staatlicher Existenz, wozu der hier gemeinte Kreis bestandssichernder Interessen gehört 157 , nicht besonders erwähnen, weil ihnen die Aufzählung als Bilanzierung von Selbstverständlichkeiten erscheinen mag 158 , so fließt doch einiges hiervon gewissermaßen als „obiter dictum" in den Verfassungstext ein oder läßt sich als in der einen oder anderen Formulierung als einbezogen, als mitgedacht nachweisen. Solche Ansätze zu erkennen und zu einem vorrechtlichen Gesamtbild zusammenzufügen 159, gehört zu den — man könnte fast sagen klassischen — Aufgaben des Verfassungsjuristen.
II. K a t a l o g der v o r r a n g i g e n I n t e r e s s e n der A l l g e m e i n h e i t §16 Der physische Bestand
Daß das Grundgesetz die physische Existenz des Volksganzen gesichert sehen will, wird man als Selbstverständlichkeit hinnehmen können. Wenn schon in der Präambel das deutsche Volk angesprochen wird, wenn ferner in Art. 1 Abs. 2 die Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft anerkannt werden und das Volk in Art. 20 Abs. 2 als Ursprung und letzter Träger der Staatsgewalt bezeichnet ist, wenn schließlich in den einzelnen Grundrechten Allgemeinheit, Gemeinschaft und Gesellschaft als schutzwürdige Interessenträger erscheinen, dann wird man mindestens die Existenz dieser soziologischen Gebilde als vorausgesetzt hinzunehmen haben. Es dürfte kaum fehlgehen, diesen Textbefund des Grundgesetzes in die Versuche einer Interpretation vom Institutionellen her einzubeziehen ieo . Der Gedanke Herbert Krügers, daß der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung möglicherweise nicht nur normativ zu verstehen ist, 155
Hierzu vgl. Heller, Staatslehre, S. 83 ff. Das zeigt etwa die Darlegung Dürigs, AöR 79, 57 (83 ff.). 157 So sieht Herbert Krüger, Staatslehre, S. 526, i n der Erhaltung u n d Förderung der Gesellschaft ein Gebot staatlicher Selbsterhaltung. 158 Vgl. Herbert Krüger, N J W 55,201 (204). 159 Hierzu Nawiasky, JZ 54, 717 (719). A u f diesem Wege läßt sich auch der V o r w u r f entkräften, dem sich die „Bestandsklausel" des ΒVerwGE, 1, 48 (52); 92 (94); 269 (270); 303 (307); 2, 89 (94); 295 (300); 345 (346); 3, 21 (24); 4, 95 (96); 167 (171); 5, 153 (158); 6, 13 (17); ausgesetzt sah. Vgl. Bachof, JZ 57, 334 (337); Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 70, S. 57 f. 160 Vgl. dazu Forsthoff, VerwR, § 9, S. 160 ff.; H. J. Wolff, V e r w R I , § 32 I V a, S. 161; Dürig, AöR 79, 57 (67, FN. 31), bemerkenswert, daß Dürig annimmt, Forsthoffs „institutionelle Methode" überfordere als Denkform das menschliche Denken, aber selbst letztlich „institutionell" argumentiert. 156
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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ihm vielmehr auch eine existentielle Bedeutung innewohnen kann, die sich darin entfaltet, daß jedes rechtliche Sollen einen Bezug zu real Existentem erfordert 161 , dieser Gedanke mag der hierbei einzuschlagenden Methode Richtung und Maß geben. Damit öffnet sich ein weiterer Weg, um die Bestandsklausel an die Grundrechte heranzutragen. Durchaus zu Recht muß man daher der These des Bundesverwaltungsgerichts 162, es gehöre zum Inbegriff aller Grundrechte, daß sie nicht in Anspruch genommen werden dürfen, wenn dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet werden, in ihrem Kern zustimmen 163 . Der freilich lakonisch anmutenden Begründimg, jedes Grundrecht setze den Bestand der staatlichen Gemeinschaft voraus, durch die es gewährleistet werde, läßt sich der Sache nach nichts wirklich Stichhaltiges entgegensetzen16311. Die Krux der Bestandsklausel des Bundesverwaltungsgerichts liegt allerdings zum einen in der Bestimmung dessen, was zu den bestandsnotwendigen Rechtsgütern gehört 164 , und zum andern in der Angabe des erforderlichen Maßes an Gefährdung, um einen Eingriff in die Freiheit zu rechtfertigen. Beides darf nicht in der Weise erfolgen, daß der Gesetzgeber gewisse Rechtsgüter konstitutiv als bestandsnotwendig postuliert, vielmehr ist der Nachweis nötig, daß Verletzungen der entsprechenden Rechtsgüter den Bestand der Allgemeinheit tatsächlich bedrohen 165, d.h., die erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen müssen in dem Sinne deklaratorisch sein, daß sie nur an sich bestehende, selbstverständliche Schranken der Freiheit verdeutlichen. Mit Sicherheit gehören zu den Rechtsgütern, ohne die der Bestand der Allgemeinheit gefährdet wäre, die Volksgesundheit166 und damit eng zusammenhängend die Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln im weitesten Sinn. Hierdurch wiederum wird auch ein Minimum an geordnetem Verkehrswesen 167 unabdingbar. Indessen, das Motiv, derartige Rechtsgüter zu schützen, gibt für sich genommen noch keinen ausreichenden Grund für Eingriffe in den vor1β1
N J W 55,201 (204). Nachweise oben FN. 159. 1 M So schon Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 70, S. 57; vgl. auch Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 12. tesa y gi j n diesem Zusammenhang auch das Gebot des Staats Vorbehalts bei Herbert Krüger, Staatslehre, S. 545. 164 Kritisch zur Praxis des B V e r w G Lerche, Übermaß, S. 292 ff. 165 Es muß sich m i t h i n u m mißbrauchsabwehrende Normen i m Sinne Lerches, Übermaß, S. 117 ff., handeln. 1 M Vgl. BVerfGE 7, 377 (414). 187 So auch BVerwGE 1,96; 3,24. 1 M
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behaltlos gewährleisteten Freiheitsbereich. Die entsprechenden Gebote und Verbote haben sich darauf zu beschränken, Angriffe auf die Schutzgüter abzuwehren. Unter keinen Umständen dürfen sie den vorbehaltslos normierten Grundrechtsbereich beschneiden, um Verhaltensweisen zu erzwingen, die dem für den Bestand der Allgemeinheit erforderlichen Rechtsgut lediglich dienen oder um Gefährdungen, die durch Dritte ausgelöst werden1®8, zu beseitigen189. Für derartige Regelungen bedarf der Gesetzgeber eines ausdrücklichen Vorbehalts. Der Unterschied verdeutlicht sich an den folgenden Beispielen: ein an einer ansteckenden Krankheit Leidender kann sich nicht aus religiösen Motiven einer im übrigen zulässigen Zwangsbehandlung entziehen; ein Arzt dagegen kann unter Berufung auf eine solche Motivation die Durchführung der Zwangsbehandlung grundsätzlich ablehnen 170 . 317 Die Öffentliche Sicherheit und Ordnung
Die Gemeinwohlforderungen, die herkömmlicherweise aus dem Schutzgut „öffentliche Sicherheit und Ordnung" abgeleitet werden, dekken sich zum Teil mit denjenigen, die den physischen Bestand der Allgemeinheit sichern. I m ganzen aber hat das Schutzgut „öffentliche Sicherheit und Ordnung" eine andere Tendenz. Hier geht es weniger um die physische Existenz der Allgemeinheit als um Ruhe und Frieden der einzelnen in der Allgemeinheit 171 . Dem Begriffspaar „öffentliche Sicherheit und Ordnung" kommt nicht in vollem Umfang grundrechtsbegrenzende Funktion zu. Unter der Bezeichnung verbirgt sich nämlich zunächst die Forderung, die gesamte Rechtsordnung zu beachten. Drews-Wacke zählen zu den die öffentliche Sicherheit gefährdenden Handlungen an sich jeden Bruch des positiven Rechts, gleichgültig, ob die verletzte Norm strafrechtlicher, oder anderer öffentlich-rechtlicher oder bürgerlich-rechtlicher Natur ist 172 . Schon diese Umschreibimg läßt erkennen, daß es nicht ausreicht, mit einem derart weiterverweisenden Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung le8
Z u m Problem des grundrechtsausübenden Nichtstörers vgl. unten § 26. Z u w e i t dürfte daher die Annahme Bellstedts, D Ö V 61, 811 (815), gehen, daß die Grundrechte unter dem Vorbehalt einer allgemeinen „clausula rebus sie stantibus" stehen. Z u der Unterscheidung der Eingriffsbefugnisse bei ordnungserhaltender u n d ordnungsgestaltender Staatstätigkeit vgl. schon Dürig, AöR 79, 57 (83). 170 Sofern er nicht ausnahmsweise als Nichtstörer Handlungspflichten unterworfen ist. 171 v g l . Drews-Wacke, S. 63, w o der den Forderungen der öffentlichen Sicherheit u n d Ordnung entsprechende Zustand als „öffentliche Ruhe" bezeichnet w i r d . 172 Drews-Wacke, S. 65; kritisch hierzu Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, S. 71 FN. 1. 169
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
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gegen bestimmte Grundrechtsausübungen zu argumentieren. Sonst stände es dem Gesetzgeber frei, die Formel mit beliebigen Positivierungen anzureichern und so auf einem Umweg die Grundrechte zu unterlaufen. Man wäre beim allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Daher muß man, sofern öffentliche Sicherheit und Ordnung auf die Einhaltung bestehender Rechtsvorschriften verweisen, stets auf das in der einschlägigen Vorschrift geschützte Rechtsgut durchgreifen. Das heißt, man darf sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß öffentliche Sicherheit und Ordnung auf eine bestimmte Gebots- oder Verbotsnorm verweisen. Vielmehr hat man zu prüfen, ob die betreffende Spezialnorm schon von sich aus dem einzelnen Grundrecht vorgeht oder nicht. Wer ζ. B. aus wissenschaftlichen Gründen Handlungen vornimmt, die den Tatbestand der Gaukelei im Sinne des Art. 28 b Abs. 1 WürttPStGB erfüllen, verliert nicht allein deswegen den Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 3 GG, weil mit dieser Strafnorm zugleich die öffentliche Sicherheit verletzt ist. Der Verstoß gegen eine Verbotsnorm ist für sich genommen noch nicht entscheidend. Hinzu kommen muß die Feststellung, daß die Verbotsnorm mit dem von ihr betroffenen Grundrecht vereinbar ist 173 . Aus der angedeuteten materialen Leere des Begriffs öffentliche Sicherheit und Ordnimg erwächst letztlich auch die in der Literatur gelegentlich anzutreffende Unsicherheit bei der Grenzziehung zwischen dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einerseits und dem grundrechtlichen Freiheitsbereich andererseits. So meint Rohde-Liebenau eine Begrenzung der Grundrechte durch die polizeiliche Generalklausel sei nichts anderes als die partielle Annullierung der Grundrechte. Aus diesem Grunde müsse der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung so verstanden werden, daß er seinen Inhalt aus der verfassungsmäßigen Ordnung empfange und nicht umgekehrt die verfassungsmäßige Ordnung ihren Sinn und Inhalt aus der polizeilichen Generalklausel beziehe174. Ähnlichen Gedankengängen scheint auch Nipperdey zuzuneigen175. Die wohl schärfste Kritik an der Wirksamkeit der polizeilichen Generalklausel im Grundrechtsbereich findet sich bei Mayer 119. Er befürchtet, der Gesetzgeber könne in der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Zau173
I m Ergebnis ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 76, S. 63 m i t RdNr. 80, S. 70 f. Nach i h m sind n u r solche Strafnormen immanente Schranken der Grundrechte u n d Bestandteil der öffentlichen Sicherheit, die materiellrechtlich Kriminalunrecht sind, also i m Bewußtsein der Rechtsgenossen sich als „crimen" darstellen. 174 D Ö V 57,472 f. ; ebenso schon Beyer, N J W 54, 713. 175 Grundrechte, Bd. I V , 2. Halbbd. S. 816. 176 Bayerisches Polizei- u n d Sicherheitsrecht, S. 42.
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berformel sehen, die es ihm erlaubte, Bestand und Umfang der Grundrechte selbst festzulegen. Doch kann das noch nicht das letzte Wort zur sogenannten Polizeifestigkeit der Grundrechte sein. Das Begriffspaar öffentliche Sicherheit und Ordnung hat, zwar in erheblichem Umfang, aber eben nicht nur weiterverweisende Funktion. Über den Bestand an Normen des positiven Rechts hinausgehend umfaßt es auch die Forderungen, die die Unversehrtheit von Gesundheit, Ehre, Freiheit und Vermögen gewährleisten, sowie alle Normen über Handlungen und Unterlassungen, deren Befolgung nach der herrschenden allgemeinen Auffassung zu den unerläßlichen Voraussetzungen gedeihlichen menschlichen und staatsbürgerlichen Zusammenlebens gehört 177 . Dieser Teil der polizeilichen Generalklausel hat offensichtlich einen eigenständigen, wenn auch konkretisierungsbedürftigen Inhalt. Nebinger 179 beruft sich in diesem Zusammenhang auf eine ungeschriebene Grundordnung, nach der die Polizei, — das dürfte allerdings zu weit gefaßt sein — all das zu unterdrücken habe, was gegen die herrschenden ethischen und sozialen Anschauungen verstoße oder die fünf Sinne über das Maß dessen hinaus belästige, was als notwendige Folge des Zusammenlebens von jedem Menschen ertragen werden müsse. Soweit es um diese Inhalte geht, wird man die öffentliche Sicherheit und Ordnung als unbestimmten Rechtsbegriff aufzufassen haben, ähnlich den rechtlichen Standards von Treu und Glauben und der guten Sitten 179 . Wenn demnach bei der Konkretisierung dessen, was öffentliche Sicherheit und Ordnung fordern, dem menschlichen Handeln keine neuen Schranken gesetzt werden, sondern der Adressat nur auf schon bestehende, jedoch noch nicht positivierte Pflichten hingewiesen wird, steht man vor der Frage, wie sich diese Pflichten systematisch zu den Grundrechten, vor allem zu den vorbehaltslosen Grundrechten verhalten. Dürig 180 hat den Versuch unternommen, die hier angesprochenen primitiven, d. h. für jedermann erkennbaren, zur Wahrung eines gedeihlichen Zusammenlebens unerläßlichen Ordnungsnormen in dem in Art. 2 Abs. 1 GG verwendeten Substantivum „Ordnimg" unterzubringen. Dem haftet aber, eben weil er das Spezifikum „verfassungsmäßig" vernachlässigt, etwas methodisch Ungesichertes an. Man kann daher in der Tat die Frage stellen, ob der Rückgriff auf die Schrankentrias des Art. 2 177
Drews-Wacke, S. 64 u n d S. 73. ne Verwaltungsrecht, S. 52.
179 Ebenso Holtzmann, DVB1. 65, 753 (756). Α. A . Mayer, Bayerisches P o l i zei» u n d Sicherheitsrecht, S. 43, der die Eigenständigkeit dieser Begriffe v e r kennend eine „allgemeine Rechtssetzungsermächtigung" befürchtet. 180 Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 75, S. 62 f.
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
Abs. 1 GG mehr als einen bloß psychologischen Beruhigungswert habe 181 . Immerhin hat der methodische Ansatz Diirigs, so zutreffend sein Ergebnis auch ist 182 , bis heute noch keine rechte Anhängerschaft finden können 188 . Tragfähiger erscheinen folgende Begründungsversuche: Entweder man verzichtet auf eine wirklich enge Verfassungstexttreue und argumentiert institutionell aus dem in der Verfassimg mehrfach angesprochenen Begriff der Allgemeinheit, der nur als Begriff der intakten und in sich befriedeten Allgemeinheit sinnvoll ist 184 . Oder man arbeitet mit der herkömmlichen Methode der Schrankenanalogie. Man könnte insofern daran anknüpfen, daß das Grundgesetz in Art. 13 Abs. 3 die öffentliche Sicherheit und Ordnung als Schutzgut nennt. Wer sich, und das scheint nachgerade selbstverständlich, von der Vorstellung löst, es handle sich hier um ein Gemeinschaftsgut, das nur relativ, d. h., nur im Verhältnis zum Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung als schutzwürdig anerkannt ist, der kann die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedenkenlos zu den Schutzgütern der Allgemeinheit zählen, deren Beachtung von der Verfassung ausdrücklich gefordert wird. Auf diese Weise wäre ein methodisch exakterer und wohl auch verfassungstextnaher Weg gefunden, um, so man dies überhaupt für erforderlich hält, am Soweit-Satz-Element „verfassungsmäßige Ordnung" anzusetzen185. Dem dargelegten Argument sollte man nicht mit dem Bedenken begegnen, die Benennung der Schranke öffentliche Sicherheit und Ordnung in Art. 13 Abs. 3 GG sei sodann ganz und gar überflüssig 186. Denn einmal könnte daran gedacht werden, daß es sich hier um eine verdeutlichende Formulierung durch den Grundgesetzgeber handelt; zum anderen und wohl gewichtigeren ist zu erwägen, ob nicht Art. 13 Abs. 3 GG über die selbstverständliche Nichtstörungsschranke hinausgehend auch noch einen echten Eingriffsvorbehalt im Sinne einer konstitutiven Einschränkbarkeit bietet, nämlich dahin, daß in das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung auch dann eingegriffen werden darf, wenn die Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerade nicht vom Wohnungs181 So Eike von Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte, S. 33; kritisch zu einer solchen Deduktion aus A r t . 2 Abs. 1 schon Uber, Freiheit des Berufs, S. 65 f. iss Vgl. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 14. 183 Eine Ausnahme scheint Schnur, DVB1. 62, 1 (4) zu machen, seine A u s führungen sind allerdings nicht eindeutig. 184 Ä h n l i c h w o h l Hurst, AöR 83, 43 (59), die Rechtsmacht des Eigentümers sei „aus dem Gedanken der sozialen Verbundenheit beschränkt". 185 Gemäß der Interpretation Dürigs, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I RdNr. 19, S. 21, wonach i n dem A d j e k t i v „verfassungsmäßig" auf jene Gemeinwohlforderungen verwiesen werde, deren Realisierung die Verfassung fordert. 189 So Löf 1er, D Ö V 57,897 (899).
§ 18 Das Sittengesetz
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inhaber selbst, sondern von Dritten oder durch zufällige Ereignisse herbeigeführt werden, — ein Fall, den die Nichtstörungsschranke nicht ohne weiteres erfaßt 187 . δ 18 Das Sittengesetz
Zu den Schutzgütern der Allgemeinheit wird man auch das Sittengesetz zu zählen haben 188 . Daß die Freiheit des einzelnen mit dem Sittengesetz in Konflikt geraten und von daher Beschränkungen erfahren kann, ergibt das in Art. 2 Abs. 1 GG niedergelegte Verständnis der Freiheit. Die dort angezeigte Polarität von Freiheit und Sittengesetz besteht nicht nur beim allgemeinen Freiheitsrecht. Nichts spricht für die Annahme, daß das, was Art. 2 Abs. 1 GG mit dem Begriff „Sittengesetz" umreißt und zum Schutzgut erhebt, bei den speziellen Freiheitsrechten keinerlei Bedeutung habe. Aus diesem Grund ist auch bis heute nicht in Frage gestellt worden, daß unsittliche Berufe wie der der Dirne oder des Zuhälters vom Schutz des Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG ausgenommen sind und daß der Nacktkult einer religiösen Sekte nicht zur Religionsfreiheit gehört 180 . Freilich gilt das nur im grundsätzlichen. I m einzelnen wird dem Sittengesetz je nach Art des kollidierenden Grundrechts ein abgestufter Wirkungsgrad zukommen. Das hat seinen Grund darin, daß sich auch zwischen Grundrecht und Sittengesetz eine Wechselwirkung abspielt. Die Anschauungen der „anständigen Leute" davon, was im sozialen Verkehr der Rechtsgenossen „sich gehöre", werden nämlich durch die grundsätzlichen Wertentscheidungen und sozialen Ordnungsprinzipien des Grundrechtsabschnitts mitgeprägt 190 . Die Wechselwirkung zwischen Grundrecht und Sittengesetz mag jeweils nach dem betroffenen Grundrecht verschieden sein. Es ist ohne weiteres denkbar, daß eine Meinungsäußerung, die sich gegen eine Norm des Sittengesetzes richtet, noch von Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt wird, während eine Handlung, die eben diese Norm des Sittengesetzes verletzt, schon nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG fällt 191 . 187
Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 85, S. 75. Ebenso BVerwGE 1, 303 (307); Haberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 21. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch die Anregung Breithaupts, JZ 64, 283 (285), die Formel v o m „Anstandsgefühl aller b i l l i g u n d gerecht Denkenden" durch den Begriff der „GemeinschaftsWidrigkeit" zu ersetzen. Ä h n l i c h Bauer, JZ 65, 41 (43), der v o n dem Allgemeingut der E t h i k e n spricht. 189 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 74, S. 61 f.; i m Ergebnis ebenso Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V 2. Halbbd. S. 825. 190 BVerfGE 7,198 (215). 191 W o h l zurecht n i m m t Ott, B a y V B l . 66, 186, i n A n l e h n i m g an BVerfGE 6, 389, eine Priorität des Sittengesetzes gegenüber der „verfassungsmäßigen Ordnung" an. 188
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
Für die Bestimmung der Grenze zwischen dem Sittengesetz einerseits und den verschiedenen Grundrechten andererseits ist mit diesen Hinweisen noch nichts gewonnen. Die Fragen, die in diesem Zusammenhang auf zuwerf en wären und denen im einzelnen nachgegangen werden müßte, bedürfen einer gesonderten Darstellung. Hier kann es nur um das Allgemeine und folglich eigentlich nur um Andeutungen gehen. Heikel wird die Grenzziehung zwischen sittlicher Norm und Freiheitsausübung vor allem wegen der angeführten Wechselwirkung. Das Sittengesetz darf nicht als Normenbestand betrachtet werden, dem in Bausch und Bogen grundrechtsbegrenzende Funktion zukommt. Eine Rechtsgemeinschaft, die der persönlichen Freiheit in allen Ausstrahlungen den Rang eines Konstitutionsprinzips einräumt, kann nicht weite Bereiche des individuellen und sozialen Lebens unter Berufimg auf das „Sittengesetz" tabuisieren und damit letztlich auf das „Herkömmliche" hin reduzieren. Die Freiheit des Diskutierens kann vor der sittlichen Norm nicht haltmachen; sie bezieht sie ein. Dieserart vollzieht sich, und zwar durchaus im Schutze der Meinungsfreiheit, der Wandel sittlicher Vorstellungen. Was gestern noch einhellig als unsittlich verpönt und unter Strafe gestellt war, mag heute schon auf das Bedenken stoßen, ob das Maß der Unsittlichkeit den Einsatz staatlicher Strafgewalt denn noch rechtfertige, um morgen dem Zweifel ausgesetzt zu sein, ob überhaupt der Makel der Unsittlichkeit aufrechterhalten werden könne 192 . Dennoch geht es wohl zu weit, wollte man das Sittengesetz ausschließlich vom Freiheitsgedanken her verstehen, etwa „weil kaum mehr an ethischer Übereinstimmung aller billig und gerecht Denkenden (sc. als eben diese Freiheitsrechte) nachzuweisen sein dürfte" und „weil die Grundrechte die unverletzliche Grundlage unserer Gemeinschaft sind" 198 . Hier ist letztlich das Problem angesprochen, das man als das der Rechtserheblichkeit der sittlichen Norm bezeichnen könnte. Folgendes ist gemeint: Zunächst muß überhaupt eine sittliche Norm als existent nachgewiesen sein; zudem muß die Norm in einer Weise gelten, daß sie gesetztem Recht vorgeht. Für die Feststellung, ob für ein bestimmtes Verhalten eine sittliche Norm besteht, gibt es im Grunde nur einen wirklich überzeugenden An192 Die dem Verlobten-Urteil des BGHSt 6, 46, u n d dem HomosexuellenU r t e i l des BVerfGE 6, 389 zugrunde liegenden Sachverhalte können insoweit als symptomatisch angesehen werden. Vgl. zu dieser Entwicklung auch Nip perdey, Grundrechte, Bd. I V , 2. Halbbd. S. 820 f. 193 So Bauer JZ 65, 41 (43); ähnlich Stümmer, BayVBl. 65, 185 (188). I n diese Richtung geht w o h l auch Dürigs Ansicht, Maunz-Dürig, A r t . 1 Abs. I I I , RdNr. 132, S. 66 f., wonach die Grundrechte durch die Generalklauseln des P r i v a t rechts aktualisiert werden; kritisch hierzu Leisner, Grundrechte u n d P r i v a t recht, S. 369 ff.
§ 18 Das Sittengesetz
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satzpunkt, nämlich „die von Herkommen und Erziehung geformte und selbständig fortgebildete Anschauimg verständiger, billig und gerecht denkender Menschen in einem Rechts- und Kulturkreis" 104 . Die Frage nach der Geltung einer sittlichen Norm darf insoweit nicht als philosophisches Problem behandelt werden 195 . Der Hinweis auf die Ethik taugt schon deswegen nicht, weil es eine Vielfalt ethischer Konzeptionen gibt. Wer daher auf ein ethisches Fundament baut, muß sich gefallen lassen, daß ihm der gleiche Geltungsanspruch einer anderen vermeintlich rechtsverbindlichen Ethik entgegengehalten wird 1 9 6 . Damit aber wäre die Forderung nach Eindeutigkeit 197 der sittlichen Norm bereits verloren. Man wird also nicht umhin können, die Geltungsfrage empirisch, d. h. nicht zuletzt statistisch108, zu behandeln 199 . Freilich braucht nicht jeweils, bevor man sich auf das Sittengesetz beruft, eine Meinungsumfrage oder eine Volksbefragung veranstaltet zu werden. Nicht selten geht es um Selbstverständlichkeiten, die etwa der Richter als Angehöriger der Rechtsgemeinschaft in seinem eigenen Sittenkodex vorfindet. Er unterliegt dabei freilich einer strengen Rechenschaftspflicht. Ihm ist verwehrt, auf eigene sittliche Auffassungen zurückzugreifen, sofern er mit ihnen ziemlich allein steht oder wenn er sich mit ihnen gar außerhalb der von Rechts wegen maßgeblichen Bevölkerungskreise weiß. Denn nicht auf seine höchstpersönliche Ansicht kommt es an, sondern auf das, was „man" in den fraglichen Kreisen denkt und empfindet 200. Auch darf man nicht in den Fehler verfallen, falls sich abweichende Anschauungen ergeben, den Abweichenden allein um deswillen die Verständigkeit und 194
So BVerwGE 10, 164 (167); i m wesentlichen ebenso BVerfGE 7, 198 (215); Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V , 2. Halbbd. S. 820 m i t weiteren Nachweisen FN. 351; Evers, JZ 61, 242 (247) m i t Nachweisen F N 98; Ott, B a y V B l . 66, 186
(188).
195 So aber von Mangoldt-Klein, A r t . 2, A n m . I V 3, S. 185 f. u n d Hamann, K o m m . A r t . 2 A n m . 7, S. 81. 198 Vgl. dazu Weischedel, Recht u n d Ethik, pass., v o r allem S. 5, 33 ff. Schließlich darf auch i n diesem Zusammenhang das Selbstbestimmungsrecht der sittlichen Persönlichkeit, das aus A r t . 1 Abs. 1 G G folgt, nicht übersehen werden. 197 Vgl. hierzu BVerfGE 6,389 (434). iss Dagegen läßt sich nicht gut das Prinzip der repräsentativen Demokratie ins Feld führen, wonach das V o l k als solches n u r zur Entscheidung p o l i tischer Grundsatzfragen aufgerufen werde, Breithaupt, JZ 64, 283 (284). Dieses Prinzip g i l t eben, was sich auch a m Gewohnheitsrecht bestätigt, nicht ausnahmslos. 199 I m Ergebnis ebenso H. J. Wolff, V e r w R Bd. I, § 33 V a 2, S. 169; Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V 2. Halbbd. S. 820 f.; Wintrich, Problematik der Grundrechte, S. 25; Wernicke, K o m m . A r t . 2, I I b, S. 2. 200 So Engisch, Einführung, S. 124.
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die billige und gerechte Denkungsart abzusprechen 201. Vielmehr hat man sich zunächst über die Kriterien zur Erfassung der billig und gerecht Denkenden klarzuwerden. Ergibt sich danach, daß deren Anschauungen zu einer bestimmten sittlichen Frage auseinandergehen, dann ist zu erwägen, ob eine der Anschauungen so überwiegt, daß die staatliche Gewalt sie, ohne gegen das Gebot der Neutralität zu verstoßen, noch zur Grundlage ihrer Entscheidung machen kann 202 . Entgegenstehende sittliche Anschauungen auch der Minderheit der billig und gerecht Denkenden, sofern es sich nicht nur um einzelne Außenseiter aus interessierten Kreisen handelt 203 , schließen die Annahme herrschender Anschauungen als Bestandteile des Sittengesetzes aus, weil es insoweit an der erforderlichen selbstverständlichen Allgemeinverbindlichkeit fehlt 204 . Zur Feststellung ethischer Normen kann freilich eine Reihe von Indizien herangezogen werden: ζ. B. die positivrechtlichen Normen, „die das Sittengesetz deklaratorisch ,verrechtlichen' (d.h. durch Rezeption und Umschreibung positivrechtlich unbezweifelbar machen)"205; oder die Normen, die der Ergänzung und zum Schutz bestehender und allgemein anerkannter Rechtsinstitute dienen 206 ; schließlich die Ansichten der maßgebenden Religionsgesellschaften 207; allerdings ist bei den letzteren der Gefahr zu begegnen, daß der Grundrechtskatalog durch die bloßen Lehrgebäude der Kirchen relativiert wird 2 0 8 , ein Umstand der jeweils zur Prüfung zwingt, ob die kirchliche Lehrmeinung sich auch tatsächlich in den Auffassungen der Gläubigen widerspiegelt. Keinesfalls darf man es sich mit der Feststellung einer sittlichen Norm so einfach machen wie der BGH in seinem Verlobten-Beschluß vom 17.2.1954 209 . Indem der Große Senat ausführt, die sittliche Ordnung wolle, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind sei, verläßt er — gelinde gesagt — den Bereich des Erhabenen 210 ... 201 Bedenklich daher BGHSt 13, 16 (19), w o letztlich eine bestimmte s i t t liche Auffassung z u m K r i t e r i u m aller anständig u n d gesittet zu bezeichnenden Menschen gemacht w i r d . 202 Vgl. auch BVerwGE 10,164 (167). «os V g L BVerfGE 6,389 (436). 204 So Ott, B a y V B l . 66,186 (188); Bauer, J Z 65,41 (43). 205 Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 16, S. 17. 208 Z u m Institutionenschutz vgl. Steindorff, S u m m u m l u s Summa Iniuria, S. 71 ff. 207 So BVerfGE 6,389 (434 f.) ; Stümmer, B a y V B l . 65,185 (190). 2 °8 Dazu Ott, B a y V B l . 66,186 (189). 209 BGHSt 6, 46 ff.; ähnlich BGHSt 6,147 ff. 210 Vgl. die noch behutsame K r i t i k bei Engisch, Einführung, S. 125, 192. Sow i e Arthur Kaufmann, JZ 63, 137 (143 f.); Bauer, JZ 65, 41 (43); Weithaupt, JZ 64, 283 f.; Wieacker, J Z 61, 337 (344 f.); Ott, B a y V B l . 66, 186 (188); Canaris, Feststellung von Lücken, S. 114 f. m i t weiteren Nachweisen FN. 198. V o n philosophischer Seite her nachgerade vernichtend die K r i t i k v o n Weischedel, Recht u n d Ethik, S. 7,17,29, 32 f.
§ 18 Das Sittengesetz
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So sich eine mindestens nahezu einhellige Auffassung über die Existenz einer sittlichen Norm nicht überzeugend nachweisen läßt oder eine sorgfältige Analyse aller tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten und Gesichtspunkte zu keinem Prinzip führt, das die Anerkennung aller billig und gerecht Denkenden erwarten läßt 211 , dann haben die staatlichen Gewalten die Ausgangsvermutung für die Freiheit zu beachten: in dubio pro libertate 212 ! Gleich wichtig wie die Geltungsfrage ist für die Rechtserheblichkeit der sittlichen Norm ihre Verbindlichkeit im Verhältnis zur bestehenden Rechtsordnung. Die ethische Norm muß so beschaffen sein, daß es nicht gleichgültig ist, was mit ihr in der Ebene des positiven Rechts geschieht. Nicht alles, was sittlichen Tadel findet, erlangt dadurch zugleich rechtliche Relevanz 213 . Die Sittennorm muß mit einer Forderimg an die bestehende Rechtsordnung versehen sein. Die Forderung kann darin bestehen, daß zuwiderlaufenden Handlungen jede rechtliche Wirksamkeit abzusprechen ist 214 oder daß entgegenstehende Rechtsnormen der Verbindlichkeit entbehren 215 oder schließlich daß die Rechtsordnung mit ihren diversen Sanktionen die Beachtung der Sittennorm zu sichern hat 216 . Bei der Frage, wann eine solche Forderung an die Rechtsordnung besteht, wird man wiederum auf die Anschauungen der billig und gerecht Denkenden zurückzugreifen haben 217 . Der Hinweis auf eine Existenzklausel dürfte in diesem Zusammenhang nicht durchwegs geeignet sein, um die Rechtserheblichkeit einer bestehenden sittlichen Norm zu be211 Z u dieser A r t der E r m i t t l u n g sittlicher Normen vgl. Weischedel, aaO. S. 34 ff.; Weithaupt, J Z 64,285; Hanack, JZ 64,393 (396 f.). 212 Ebenso Ott, B a y V e r w B l . 66, 186 (189). Vgl. Peter Schneider, Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, Bd. I I , S. 270. 213 Ebenso Arthur Kaufmann, J Z 63, 137 (144); Gallas, JZ 60, 649 (653); Canaris, Feststellung v o n Lücken, S. 114. 214 Modell hierfür ist etwa § 138 BGB. 215 Vgl. insoweit BVerfGE 6, 389 (434): „unsittliche Gesetze gehören nie zur »verfassungsmäßigen Ordnung 1 ." 216 Vgl. BGHSt. 4, 24 (32), danach k a n n ein Verstoß gegen die guten Sitten n u r angenommen werden, w e n n die T a t zweifellos k r i m i n e l l strafwürdiges Unrecht ist. Dieser Gedanke taucht auch i n BVerfGE 6, 389 (434) auf: das S i t tengesetz k a n n der Gesetzgebung z u m Richtmaß dienen, insofern es einen sonst unzulässigen oder doch i n seiner Zulässigkeit zweifelhaften Eingriff i n die menschliche Freiheit legitimieren kann. Dennoch scheint diese Frage i m Homosexuellen-Urteil nicht hinreichend gewürdigt. Mindestens durfte das Gericht, aaO. 437, nicht ohne weiteres annehmen, daß jedes öffentliche I n t e r esse ausreicht, u m eine Bestrafung unsittlichen Handelns zu rechtfertigen. 217 Vgl. BGHSt 4, 24 (32): die T a t muß sich nach dem Anstandsgefühl aller b i l l i g u n d gerecht Denkenden als k r i m i n e l l strafwürdiges Unrecht darstellen. Kritisch hierzu Hanack, JZ 64, 393 (396); sowie schon Eb. Schmidt, JZ 54, 369 (374).
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
gründen 218 . So läßt sich ζ. B. ein Zusammenhang zwischen dem Verbot der Tierquälerei und der Bestandssicherimg der Allgemeinheit nur auf Umwegen herstellen 219 . Auch hier hat das schon oben 220 Gesagte zu gelten, so daß, falls die Forderung an die bestehende Rechtsordnung nicht offenkundig 221 genug ist, wegen der Vermutung zugunsten der Freiheit diese den Vorzug verdient. Wenn sich jedoch eine sittliche Norm als rechtserheblich im dargelegten Sinne nachweisen läßt, dann geht sie der Freiheitsgewährleistung vor, und Verfassunggeber wie Gesetzgeber sind nicht befugt, eine abweichende Regelung zu treffen. Die Berufung auf den Wortlaut eines Grundrechts wäre insoweit als Handeln ohne Recht zu qualifizieren. Wer ζ. B. Werke künstlerischen Inhalts, die aber in grobem Maß gegen die Sittlichkeit verstoßen, an Jugendliche verkaufen will, kann sich gegenüber dem Verbot aus § 6 SchmSchuG nicht auf die Freiheit der Kunst berufen, auch wenn man Art. 5, Abs. 3 S. 1 GG als selbständiges, dem Vorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG nicht unterliegendes Grundrecht ansieht 222 . Eine Tötung auf Verlangen bleibt selbst dann gemäß § 216 StGB strafbar, wenn sie religiös oder weltanschaulich motiviert ist. Zum rechtserheblichen Teil der sittlichen Normen hat man grundsätzlich auch die Regeln zu zählen, die sich im Rechtsverkehr herausgebildet haben; die zwar nicht kodifiziert sind, aber von den bereits vorhandenen Generalklauseln erfaßt werden. Das gilt vor allem für die §§ 138, 242, 826 BGB 2 2 3 . Aus diesem Grund gilt auch im Grundrechtsbereich das Schikaneverbot und das Verbot des „venire contra factum proprium". § 19 Die Selbstbestimmung
Schließlich gehört noch das Interesse an der Selbstbestimmung zu den Schutzgütern der Allgemeinheit, die aus dem an sich gewährleisteten Freiheitsbereich heraus nicht beeinträchtigt werden dürfen. 218 Freilich lassen sich auch sittliche Normen denken, die außer der Gedeihlichkeit u n d der Erträglichkeit auch die Sicherheit des menschlichen Z u sammenlebens i m Staat bezwecken, vgl. Herbert Krüger, Staatslehre, S. 489. Dennoch k a n n nicht die Gesamtheit sittlicher Normen m i t der Existenz der Allgemeinheit i n hinreichend enge gedankliche Beziehung gesetzt werden. 219 Es käme etwa der Gesichtspunkt der Störung des Friedens der A l l g e meinheit durch eine zunehmende Verrohung i n Betracht. 220 Vgl. § 15. 221 Z u m M e r k m a l der Offenkundigkeit beim Parallel-Problem des übergesetzlichen Widerstandes BVerfGE 5,85 (377). 222 So BVerwGE 1,303 (307). 223 Ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 A b s . I RdNr. 16, S. 17; RdNr. 74, S. 61 f.; Nipperdey, Grundrechte, I V . Band, 2. Halbbd. S. 824.
§ 19 Die Selbstbestimmung
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Selbstbestimmung ist in diesem Zusammenhang in erster Linie als Selbstgestaltung zu verstehen. Jede „formierte, gestalthafte, in sich wesentlich zusammenhängende, mit den wesentlichen Voraussetzungen der Staatlichkeit ausgestattete Gesamtheit" 224 hat ein Interesse nicht nur an der Bestimmimg ihres Schicksals225, sondern zunächst und vor allem an der Bestimmung ihrer Lebensform und ihres Gesellschaftszustandes22®. Es mag dahingestellt bleiben, ob es ein übergesetzliches 227 oder völkerrechtlich anerkanntes 228 Selbstbestimmungsrecht der Völker 2 2 9 gibt und wer gegebenenfalls als Träger dieses Rechts in Frage kommen könnte 230 . Gleichfalls braucht nicht auf die Konsequenzen aus dem völkerrechtlich anerkannten Selbstbestimmungsrecht der Staaten 881 eingegangen zu werden. Die Selbstbestimmung ist im Rahmen dieser Ausführungen zunächst ein Problem des innerstaatlichen Rechts. Das Grundgesetz baut auf dem demokratischen Prinzip auf. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das erfordert, daß die vorhandenen Staatsorgane für ihre Existenz und für ihr Handeln die Bestätigung durch den Willen der Aktivbürger zu suchen haben 282 . Das besagt: Die Gesamtbürgerschaft sieht sich als Träger einer Selbstgestaltungsbefugnis, die sie durch Konstituierung ausübt und zugleich weiter ausformt, indem sie durch eine Verfassung Willensbildung und Willensvollzug für 224 So die Bestimmung der A k t i v l e g i t i m a t i o n bei Herbert Krüger, Staatslehre, S. 920; vgl. auch aaO. S. 200. Ä h n l i c h von der Heydte, Festschrift f ü r Herbert Kraus, 1964, S. 139 ff. 225 Weinkauff, N J W 60, 1689 (1696), v e r t r i t t i n Anlehnung an BGHZ 13, 265 (293), die Ansicht, daß die Nation als Gebilde etwas Seinsollendes u n d v o m Recht zu Schützendes sei, daraus ergebe sich ein Recht, das Schicksal des Staates zu bestimmen. 226 So Jaspers, Die Zeit, 15. Jg. Nr. 36, S. 3; Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 15,225,228,230,232. 227 So BGHZ 13, 265 (293); Weinkauff, N J W 60, 1689 (1696); w o h l auch Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, S. 160 f. 228 Ablehnend: Berber, Lehrbuch Bd. I S. 75; Dahm, Völkerrecht, Bd. I S. 390 f.; von der Heydte, Festschrift f ü r Herbert Kraus 1964, S. 138 f., 145; von Blittersdorff, Das Internationale Plebiszit, S. 41 m i t weiteren Nachweisen FN. 92. 229 Z u r Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der V ö l k e r vgl. Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen; Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker; Kluke, Selbstbestimmung. 230 y g i hierzu Herbert Krüger, Staatslehre, S. 200, 920; von der Heydte, Festschrift für Kraus 1964, S. 141; von Blittersdorff, Das Internationale Plebiszit, S. 43 ff.; Decker, aaO. S. 59 ff.; Rabl, aaO. S. 29 f. 281
Dazu Berber, Lehrbuch Bd. I, S. 180 ff. Vgl. hierzu Maunz, Staatsrecht, § 10 I I 2; S. 61; ders.: Maunz-Dürig, A r t . 20, RdNrn. 49 ff., S. 18 ff.; Wernicke , Komm., A r t . 20, I I 2 b, S. 5, spricht das V o l k als Legitimationsfaktor an. v. Mangoldt-Klein, A r t . 20 A n m V , S. 593 ff. 232
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
die Zukunft regelt 288 . Ist dem so, dann kann man die in derselben Verfassung gewährleisteten Grundrechte auch im Hinblick auf den permanenten Selbstgestaltungsprozeß der Gesamtbürgerschaft, „le plébiscite de tous les jours" (Renan), nicht beziehungslos sehen284. Sie sind in diesen Prozeß eingebettet. Mithin wird man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß eine Grundrechtsausübung, die das prinzipielle Selbstgestaltungsrecht der Gesamtbürgerschaft angreift, unabhängig von jedweder Positivierung unzulässig ist. Nähme man die Grundrechtsgewährleistung in einem umfassenderen Sinn, so stieße man auf einen Selbstwiderspruch des Verfassunggebers. Der Wille zur ständigen Selbstgestaltung durch die Gesamtbürgerschaft und der Wille, den Bürgern eine Freiheit zu gewährleisten, die auf Beseitigung der Selbstgestaltung hinausläuft, sind unvereinbar 285 . Hier ist ein Punkt erreicht, wo das Prinzip der Demokratie und das der Freiheit, die sich für gewöhnlich ergänzen, gegeneinander stehen und das demokratische Prinzip um der Freiheit willen den Vorrang fordert, weil ohne Demokratie die Freiheit verloren ist 288 . Handlungen der Grundrechtsträger, die sich gegen das Prinzip der Selbstgestaltung durch die Gesamtbürgerschaft wenden, sei es, daß die Bevölkerung unter einen fremden Willen gebeugt, sei es, daß sie einer gesellschaftlichen Clique ausgeliefert werden soll 287 , genießen keinen Grundrechtsschutz. Wegen der engen Beziehungen mit dem spezifischen Verfassungsverständnis des Grundgesetzes als freiheitlich demokratische Grundordnung werden die Einzelheiten des hier nur berührten Fragenkreises im nächsten Abschnitt und in Verbindung mit Art. 18 GG abgehandelt.
288 Z u m Zusammenhang v o n demokratischem Prinzip u n d Selbstbestimm u n g vgl. BVerfGE 1,14 (50); 2, 1 (12); 5,34 (42); Decker, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 22 f.; Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der V ö l ker, S. 163 f.; Kluke, Selbstbestimmimg, S. 16 f. 234 Vgl. hierzu Herbert Krüger, Staatslehre, S. 544 ff. 185 Vgl. auch Düng, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 5 „Demokratie als Selbstmord", S. 4 f . 236 Hierzu Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 9, S. 6 f. 237 Vgl. Wernicke, K o m m . A r t . 20, I I 1 c, S. 4.
Dritter Abschnitt
Die dritte Mißbrauchstype: Grundrechtsausübung unter Verletzung schutzwürdiger Interessen der staatlichen Gewalten I. Z u r p r i n z i p i e l l e n A n w e n d b a r k e i t dieser Mißbrauchstype S 20 Allgemeines
Grundrechtsmißbrauch liegt vor, so wurde oben 288 gesagt, wenn eine bestimmte Grundrechtsausübung das vorrangige Interesse eines anderen am Grundrechtsverhältnis beteiligten Interessenträgers verletzt. Auch an folgendes Ergebnis der ersten Kapitels sei nochmals erinnert: Weder das Wesen der Grundrechte noch die Struktur des Grundrechtsverhältnisses vermögen ein überzeugendes Argument gegen die These zu liefern, daß die Grundrechte ebenso wie andere subjektive Rechte mißbrauchsanfällig sind und somit dem allgemeinen Mißbrauchsverbot unterliegen. Damit erledigt sich ein Einwand gegen die nun zu behandelnde Mißbrauchstype vorab. Die Berufung auf das besondere, nämlich freiheitlich getönte Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Staat und Bürger reicht für sich genommen nicht aus, um die Möglichkeit eines Grundrechtsmißbrauchs bei der reinen Bürger-Staat-Beziehung auszuschließen. Wenn man sich um einen stichhaltigen Nachweis dafür bemüht, daß es die dritte Mißbrauchstype rechtlich nicht gibt, wird man also nicht mehr vom Wesen oder vom Begriff der Grundrechte oder des Grundrechtsverhältnisses her argumentieren dürfen. Vielmehr hat man das Grundgesetz zu befragen, ob die Fälle eines erklärten Vorrangs staatlicher Interessen gegenüber den Interessen der Grundrechtsträger abschließend formuliert sind und ob eine derartige exklusive Aufzählung verfassungsrechtlich, und zwar eben im Hinblick auf die Denkfigur der verfassungswidrigen Verfassungsnorm 289, haltbar ist. An dieser Stelle bedarf es zunächst einer Bemerkung zum Begriff des „staatlichen Interesses". Wenn im folgenden von staatlichem Interesse 288 289
§7. Vgl. hierzu Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen, S. 43.
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
die Rede ist, so soll damit ein Interesse bezeichnet werden, das nicht schon der einzelne als solcher oder die Allgemeinheit als solche hat, sondern das sich erst ergibt, wenn die aus den einzelnen gebildete Allgemeinheit sich zu einem Staatswesen organisiert. Gedacht ist dabei vor allem an das Interesse des Staates an seinem Bestand (Existenz) 240 , an der Wahrung des Gesetzes, nach dem er angetreten, (Essenz)241, und an seiner Handlungsfähigkeit (Effizienz). Sicher läßt sich die Wahrung der Interessen der einzelnen und der Allgemeinheit zugleich in gewisser Hinsicht als staatliches Interesse betrachten. So liegen etwa die Schlichtung eines Interessengegensatzes zwischen einzelnen Grundrechtsträgern oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auch noch innerhalb der staatlichen Interessensphäre. Um die Zuordnung eines Interesses zum einen oder anderen Interessenbereich läßt sich daher durchaus streiten. I m Rahmen dieser Arbeit kommt es auf die Richtigkeit des Zuordnungskriteriums nicht so sehr an. Ist ein konkretes Interesse womöglich nicht dem Staat, so doch immerhin der Allgemeinheit oder dem einzelnen zuzurechnen. Es geht also als Gesichtspunkt für das Mißbrauchsdenken nicht verloren. Der Begriff „staatliches Interesse" ist mithin nicht als Beschreibung eines Vorgegebenen zu verstehen. Er ist eine Bezeichnung zum Zweck des besseren Unterscheidens. Das Grundgesetz benennt eine ganze Reihe von Schutzgütern, die mit dem staatlichen Interesse, wie es hier gemeint ist, auf das engste zusammenhängen. Die Existenz beispielsweise wird mit der Formel „Bestand der Bundesrepublik" in Art. 21 Abs. 2 und Art. 91 Abs. 1 angesprochen, die Effizienz u. a. durch die Institute des Bundeszwanges, Art. 37, und des Gesetzgebungsnotstandes, Art. 81, die Essenz schließlich mit den Begriffen „verfassungsmäßige Ordnung", Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2, „Treue zur Verfassung", Art. 5 Abs. 3, „freiheitlich demokratische Grundordnung", Art. 18, Art. 21 Abs. 2, sowie durch das Änderungsverbot des Art. 79 Abs. 3. Zur Begründung der Annahme, staatliche Interessen können der grundrechtlichen Freiheit nur vorgehen, wo das Grundgesetz das ausdrücklich ausspricht oder wo es den Gesetzgeber ausdrücklich ermächtigt, mag man einmal beim „System" der Gesetzesvorbehalte ansetzen. Doch erscheint es wenig überzeugend etwa folgendermaßen zu schließen: da zwar Art. 9 Abs. 2 die Vereinigungsfreiheit enden läßt, wo sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet, jedoch Art. 7 Abs. 4 S. 1 eine solche Grenze für die Privatschulfreiheit nicht statuiert, sei die Privatschulfreiheit insoweit unbegrenzt und unbegrenzbar. Anderen240 Z u m Begriff der Existenz i n diesem Zusammenhang Herbert Staatslehre, S. 514. 241 Ä h n l i c h Herbert Krüger, N J W 55,201 (204).
Krüger,
§2
Allgemeines
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falls müßte man davon ausgehen, daß, was dem Verfassunggeber bei der Vereinigungsfreiheit wichtig und daher schützenswert erschien, im Rahmen der Privatschulfreiheit gesellschaftlichem und individuellem Belieben preisgegeben sei. Aber kann man insoweit berechtigterweise danach differenzieren, welches Freiheitsrecht mit einem bestimmten staatlichen Interesse kollidiert? Sollte am Ende der Privatschulfreiheit im Verhältnis zur Vereinigungsfreiheit ein höherer Schutzwert zukommen oder hält man die Privatschulfreiheit für weniger gefährlich? Zweifelsohne begibt man sich dabei in eine Art Verfassungsspekulation. Näher zu liegen scheint auch hier ein Verständnis, das die speziellen Gesetzesvorbehalte nicht als System sieht, sondern als punktuelle Antworten auf historische Gefahrenlagen. Mit dieser Auffassung läßt sich zwanglos die Meinung verbinden, daß auch unabhängig von der Formulierung der Gesetzesvorbehalte Freiheitsbetätigungen wegen Verstoßes gegen besonders wichtige staatliche Interessen ohne grundrechtlichen Schutz bleiben können 242 . Eine ganz andere Frage ist es, ob das Grundgesetz etwa solcherlei Fälle des Mißbrauchs um der Freiheit willen sanktionslos läßt 243 . Zu dieser Ansicht könnte man vielleicht im Hinblick auf Art. 18 und Art. 21 Abs. 2 gelangen. In der Tat läßt sich erwägen, ob nicht dem Art. 18 eine entsprechende Sperrwirkung zukommt; etwa in dem Sinn: alleinige Mißbrauchsfolge sei bei Grundrechten die Verwirkung, das verbiete zugleich jede staatliche Reaktion auf Mißbräuche der nicht verwirkbaren Grundrechte, ζ. B. des Art. 4. Der angesprochene Fragenkomplex gehört bereits zu den Folgen des Grundrechtsmißbrauchs. Ihrer Behandlung ist das letzte Kapitel gewidmet. Wer anerkennt, daß es staatliche Interessen gibt, die einer Grundrechtsausübung vorgehen, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, er opfere die Grundrechte der Staatsräson. Um dem zu begegnen, sei auf eine frühere Überlegung 244 zurückgegriffen. Nur dasjenige Interesse darf unter Berufung auf den Mißbrauchsgedanken einer Grundrechtsausübung entgegengehalten werden, das im Verhältnis zu dem betroffenen Grundrecht vorrangig ist. Ein solcher Vorrang ist aber nur gegeben, wenn ein Interesse objektiv erkennbar von einer Norm oder einer rechtlichen Vorstellung geschützt wird, an die der Verfassunggeber selbst gebunden ist. Der Verfassunggeber darf sich, so wird man einräumen müssen, bei der Gewährleistung der Grundrechte nicht in Widerspruch set242
Ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 86, S. 76; er akzeptiert auch auf dem Gebiete des Staatsschutzes unerläßliche Voraussetzungen staatsbürgerlichen Zusammenlebens, die sich freiheitsverkürzend auswirken. 248 So anscheinend Herbert Krüger, Staatslehre S. 553 f. 244 Oben §7.
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2. Kap. : Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
zen zu seinem prinzipiellen Auftrag, einen Staat, und zwar einen bestimmten Staat zu organisieren. Mit diesem Auftrag wäre es nicht zu vereinen, wenn der Verfassimggeber dem Bürger Freiheiten gewährleistete, die zwangsläufig zur Auflösung des Staates führen 245 . Freilich wird auch hier nicht schon solchen Begrenzungen des Freiheitsbereichs das Wort geredet, die der Erhaltung eines funktionsfähigen Staates, sei es auch in Notzeiten, lediglich dienen. Was der Bürger insoweit zu leisten hat, läßt sich nicht aus irgendwelchen elementaren Nichtstörungsschranken ableiten, sondern verlangt nach ausdrücklicher Regelung. Denn, selbst wenn man annimmt, daß jeder Bürger ungeschriebenen elementaren Pflichten zu positivem Tun unterworfen ist, wie etwa der Steuerpflicht oder der polizeilichen Hilfspflicht des Nichtstörers, so ist es doch in aller Regel erst der Staat, der die Fälligkeit der Leistung und ihren Umfang bestimmt 246 . I n der Bestimmungsbedürftigkeit dessen, was der Bürger dem Staat positiv zu leisten hat, ist auch der Grund zu sehen, warum für den Fall des Notstandes mit dem Mißbrauchsgedanken allein nicht auszukommen ist 247 .
II. Der K a t a l o g der s c h u t z w ü r d i g e n I n t e r e s s e n der s t a a t l i c h e n G e w a l t e n § 2 1 Die Sicherung der Existenz
Von Georg Jellinek stammt der Satz: „An dem Faktum staatlicher Existenz hat alles Recht seine unübersteigbare Schranke 248." Der Satz hat auch für die Grundrechte Geltung. Handlungen, die darauf hinauslaufen, den Bestand des Staates zu beeinträchtigen, sind vom Grundrechtsschutz ausgenommen. Der in Art. 21 Abs. 2 und Art. 91 Abs. 1 GG ausdrücklich genannte Verfassungszweck: Sicherung des „Bestandes der Bundesrepublik" bzw. des „Bestandes des Bundes und der Länder" ist als absolut anzusehen. Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, daß die staatlichen Gewalten gezwungen sein sollten, müßig zuzusehen, wenn aus dem Grundrechtsbereich heraus an den Säulen des Staates gerüttelt wird 2 4 9 . 145 I m Ergebnis ebenso: Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 86, S. 76; Nipperdey, Grundrechte Bd. I V , 2. Halbbd. S. 818 f.; Herbert Krüger, N J W 55, 201 (204); Brill, D Ö V 48, 54. 246 Hieran v o r allem liegt es, w e n n m a n i n der Regel n u r Unterlassungspflichten zu den immanenten Schranken zählt; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 85 m i t FN. 2, S. 75 f. 247 Wenngleich es sicher auch Notstandssituationen gibt, die dem Bürger unmittelbar etwas Bestimmtes abverlangen. 248 Staatslehre, S. 358; vgl. auch Kägi, Verfassung als rechtliche G r u n d ordnung des Staates, S. 117.
§ 2 Die Sicherung der
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Schwierig jedoch ist die Feststellung dessen, was im einzelnen für den Bestand des Staates so unerläßlich ist, daß der Grundrechtsschutz ihm zu weichen hat. Angriffe auf das Staatsvolk sind bereits oben bei der zweiten Mißbrauchstype behandelt. Hier bleiben daher vor allem noch die Schutzgüter, die der Sicherung des Staatsgebietes und der Staatsgewalt dienen. I n der Tat kann wohl kein Zweifel bestehen, daß Handlungen, die objektiv darauf gerichtet sind, das Bundesgebiet zu schmälern, von vornherein vom Grundrechtsschutz ausgenommen sind 250 . Die Grenze für dasjenige, was der Bürger in dieser Hinsicht zu unterlassen hat, ist im wesentlichen durch das Staatsschutzrecht gezogen; d. h., einmal durch die einschlägigen Straftatbestände (insbesondere § 80 Abs. 1 Ziff. 2 und 3, §§ 88 ff. StGB) sowie durch die polizeiliche Eingriffsermächtigung zur Verhütung und Unterbindung dieser Handlungen. Unerläßlich für die Existenz der Staatsgewalt ist der Schutz des persönlichen und sachlichen Bestandes der Hoheitsträger. I n diesem Zusammenhang bieten sich allerdings keine neuartigen Mißbrauchssituationen. Existenzgefährdende Angriffe auf die staatsleitenden Personen, auf die Beamten, die Angestellten und die Arbeiter im öffentlichen Dienst sind durch die Strafgesetze allgemein verboten, und da es sich insoweit um ein „crimen" 251 handelt, haben schon die allgemeinen strafrechtlichen Verbotsnormen eine grundrechtsbegrenzende Wirkung. Das gleiche hat für Grundrechtsausübungen zu gelten, die sich gegen den Sachbestand der Staatsgewalt wenden. Auch hier gilt der allgemeine Rechtsgüterschutz, der die grundrechtlich gewährleistete Freiheit verkürzt.
S 22 Die Sicherung der staatlichen Grundnorm
Es gehört heute schon zu den verfassungsrechtlichen Gemeinplätzen, daß sich die Demokratie des Grundgesetzes von der demokratischen Konsequenz bis zum Selbstmord 252 gelöst hat, daß sie statt dessen „streitbar" 258 , „abwehrbereit" 254 und „militant" 255 ist. I n Art. 79 Abs. 3 bezeichnet das Grundgesetz einen Kernbereich von Regelungsvorstellungen, von denen auch im Wege der Verfassungsände249 I m Ergebnis w o h l ebenso Scheuner, Festgabe f ü r Kaufmann, S. 318; Drews-Wacke, S. 66 f. 250 Vgl. Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 86, S. 76. 251 I m Sinne Dürigs, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 76, S. 63. 252 Z u r „Garantie" des Kampfes gegen die Demokratie vgl. Kägi, Die V e r fassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 64 f. m i t FN. 11. 258 BVerfGE 5,85 (139); Wintrich, Z u r Problematik der Grundrechte, S. 12. 254 Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 79 RdNr. 29, S. 13, m i t weiteren Nachweisen FN. 1; W. O. Schmitt, D Ö V 65,433 (436); Scheuner, W D S t R L Heft 22, S. 81. 255 Thoma, Lehrfreiheit der Hochschullehrer, S. 24.
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
rung nicht abgegangen werden darf 25®. Verfassungsdogmatisch ist das keineswegs eine Neuentdeckung. Schon in der „Verfassungslehre" Carl Schmitts 257 wird ausgeführt, Verfassungsänderungen seien nur unter der Voraussetzung zulässig, „daß Identität und Kontinuität der Verfassung als Ganzes gewahrt bleiben". Keine Änderungsbefugnis reiche so weit, daß die bestehende Verfassung vernichtet oder beseitigt werden könnte. Geist und Prinzipien der Verfassung dürften nicht verletzt werden 258 . Eine Neuentdeckung liegt allenfalls darin, daß man beginnt, für die subjektiven Verfassungsrechte die Folgerungen zu ziehen, die sich aus dieser Art von Kernbereichsschutz ergeben 259. Der Gedanke liegt nur zu nahe, daß dasjenige, was der Verfassunggeber von jeder legalen Änderung ausgenommen hat, auch nicht unter dem Schutz der von derselben Verfassung eingeräumten subjektiven Rechte angegangen werden darf. Immerhin ist es für den Zivilrechtler schon lange selbstverständlich, daß ein subjektives Recht nicht dazu herhalten darf, das zugehörige Rechtsinstitut zu unterlaufen: Auf die prinzipielle Vertragsfreiheit kann sich nun einmal nicht berufen, wer darauf ausgeht, mit ihrer Hilfe andere zu „knebeln". Die Überlegung, daß sich auf die grundrechtlich geschützte Freiheit nicht berufen kann, wer die Freiheit als prinzipielle Grundlage der Verfassung abschaffen will, steht zwar in gewisser Hinsicht im Widerspruch zum Freiheitsprinzip 260 . Aber der Widerspruch verliert an Gewicht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Strapazieren des Freiheitsrechts zur Abschaffung der Freiheit auf einer ganz anderen verfassungsrechtlichen Ebene liegt als die „normale" Grundrechtsausübung. Handelt es sich im einen Fall noch um Verfassungsvollzug, wenngleich im weitesten Sinn, so geht es im anderen letztlich doch um Verfassungsänderung 261 . Wer die Freiheit so weit gesichert wünscht, daß sie auch die Befugnis zur Beseitigung umfaßt, tendiert also auf eine Art von „permanenter Revolution". Daß dabei gleichfalls Widersprüche auftreten, und zwar gerade wegen des Stabilisierungszweckes jeder Verfassung, ist offensichtlich. Schon allein aus diesem Grund wird man eine 256 Die Frage, ob A r t . 79 Abs. 3 GG auch f ü r extreme Notlagen gilt, mag hier dahingestellt bleiben. 257 Neudruck 1954, S. 102 ff. 258 aaO. S. 104 f. 259 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 64 f.; Maunz, Staatsrecht, S. 66; Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I RdNr. 86, S. 76 f.; A r t . 18, RdNr. 7, S. 5; W. O. Schmitt, D Ö V 65,433 (438 ff.). 260 Maunz, Staatsrecht, S. 122; Düng, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 8 ff., S. 6 f. 261 v g i # hierzu das von Thoma, Lehrfreiheit der Hochschullehrer, S. 26, benutzte Begriffspaar: infra-demokratisch, kontra-demokratisch.
§ 22 Die Sicherung der staatlichen Grundnorm
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Brücke zu schlagen haben zwischen den in der Verfassung genannten oder sonst erkennbaren Fundamentalnormen und den subjektiven Verfassungsrechten 262. Eine Grundrechtsausübung, die darauf hinausläuft, die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 um ihre Geltung zu bringen, stellt sich entsprechend einer in anderem Zusammenhang angewandten Betrachtungsweise des Bundesverfassungsgerichts 268 „essentiell als Teilhabe der vom Volk ausgehenden Staatsgewalt dar" und würde daher über den „status activus" hinausgreifen, der dem Bürger als Glied des Staatsvolkes durch die abschließende Regelung des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG eingeräumt ist. Auch hier hat man es folglich mit einem „Handeln ohne Recht" zutun 2 6 4 . Diesem Ergebnis steht Art. 18 GG nicht entgegen. Wie noch im einzelnen dargelegt wird, besteht zwischen dem Mißbrauchstatbestand dieser Vorschrift und der Grundrechtsausübimg auf Kosten der Fundamentalnormen des Art. 79 Abs. 3 GG eine enge Verbindung, ja sogar eine Entsprechung; überdies beschränkt Art. 18 GG den politischen Grundrechtsmißbrauch nicht auf die aufgezählten Grundrechte, sondern bietet lediglich eine Sanktion für besonders gefährliche Mißbrauchsfälle. Wenn im übrigen an dieser Stelle noch nicht näher auf den Mißbrauchstatbestand des Art. 18 GG eingegangen wird, so hat das seinen Grund darin, daß diese Norm aus sich heraus, eben weil sie sowohl die freiheitliche demokratische Grundordnung als auch den Grundrechtsträger schützen soll, für einen allgemeinen Mißbrauchsvorbehalt nichts Überzeugendes hergibt. Wer die Bestimmung unbefangen liest, kann ihr für die Frage des Grundrechtsmißbrauches ebensogut einen Analogieschluß wie einen Umkehrschluß entnehmen. Zu den Vorschriften der Verfassung, deren Unverbrüchlichkeit in die Grundrechte hineinwirkt, gehören gemäß Art. 79 Abs. 3 einmal die Grundsätze, die in Art. 1 GG niedergelegt sind. Dazu zählen vor allem: die staatliche Achtungs- und Schutzpflicht gegenüber der Menschenwürde, das Bekenntnis zu prinzipiell unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, was sich besonders in der Wesensgehaltssperre auswirkt, sowie die Aktualitätsklausel des Art. 1 Abs. 3. Die Bezugnahme auf Art. 20 umfaßt zudem die republikanische und demokratische Staatsform, das Mehrheitsprinzip, die Volkssouveränität, den Grundsatz allgemeiner, freier und gleicher Wahlen, das Recht auf Bildung einer Opposition, die Rechtsstaatlichkeit, die Sozialstaatlichkeit und den 262
Vgl. Kägi, Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 64; Scheuner, Festgabe f ü r K a u f m a n n 1950, S. 316. 283 BVerfGE 8,104 (171). 264 I m Ergebnis teilweise ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I RdNr. 86, S. 76; weitergehend W. O. Schmitt, DVB1. 66,166 (171).
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2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
Grundsatz der Gewaltenteilung. Schließlich nennt Art. 79 Abs. 3 noch ausdrücklich „die Gliederung des Bundes in Länder" und „die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung"265. Die in Art. 79 Abs. 3 zusammengefaßten Fundamentalnormen sind äußerst verschiedenartig. Daher könnte man versucht sein, das eine oder andere der angesprochenen Prinzipien am Bekenntnis zur „überpositiven" Freiheit zu messen, um so eine Bresche in das verfassungsrechtliche „Tabu" zu schlagen. Denn leuchtet es noch allenfalls unmittelbar ein, daß der Grundrechtsträger um der Grundrechte der anderen willen Einbußen an seiner Freiheit hinzunehmen hat 266 . Daß er sich auch um der Bundesstaatlichkeit willen sollte Abstriche gefallen lassen müssen, scheint sehr viel weniger überzeugend 267. Dennoch ist die Differenzierung nach dieser Richtung nicht angebracht. Immerhin stimmen, wie W. O. Schmitt dargetan hat 268 , die in Art. 79 Abs. 3 genannten Prinzipien im wesentlichen in ihrem antitotalitären Charakter überein. Also darf man es wohl mit der These wagen, daß eine Grundrechtsausübung, die dem Totalitären in den in Art. 79 Abs. 3 aufgeführten Punkten Vorschub leistet, schon deswegen mißbräuchlich ist 269 . Entscheidend ist allerdings, daß solche Grundsätze betroffen werden, „mit deren Sinn und Zweck unsere Verfassungsordnung steht und fällt", bzw. „ohne deren ungeschmälerte Funktion der Fortbestand unserer freiheitlichen Demokratie mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nicht mehr möglich ist" 270 .
§ 23 Die Sicherung der Funktionsfähigkeit
Zweck jeder Verfassung ist die Organisation des staatlichen Lebens. Die Verfassung liefert das Modell für die zu bildenden Organe und deren Zusammenspiel bei der Erfüllung der staatlichen Aufgaben. Das Modell ist denknotwendig auf Effizienz angelegt 271 . Auch von daher ergeben sich mithin rechtliche Gesichtspunkte, die eine Grundrechtsausübung als mißbräuchlich erkennen lassen, sie zum „Handeln ohne Recht" machen. Die Verfassimg würde sich selbst wider265
Einzelheiten bei Düng, Maunz-Dürig, A r t . 79 RdNr. 32 ff., W. O. Schmitt, D Ö V 65, 433 (438). 2ββ Vgl. hierzu etwa Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (99). 2β7 v g l . Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I RdNr. 86, S. 77.
S. 79 ff.;
288
D Ö V 65,433 (438 ff.). Vgl. oben FN. 264. 270 W. O. Schmitt, D Ö V 65,433 (436 f.). 271 Vgl. die Ausführungen z u m „Staatsvorbehalt" bei Herbert Staatslehre, S. 766 ff. 289
Krüger,
§ 2 Die Sicherung der
t i h e
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sprechen, wenn sie einerseits Gewalten einsetzte, die das staatliche Leben tragen sollen, gleichzeitig aber den Bürgern über die Grundrechte die Befugnis sicherte, die Staatsgewalten funktionsunfähig zu machen. Dieser Widerspruch läßt sich nicht zugunsten der Freiheit des einzelnen lösen. Freilich liegt hier ein gewisser Gefahrenherd. Schließlich sollen die Grundrechte ja gerade der staatlichen Macht in verschiedener Beziehung Einhalt gebieten. Es ist jedoch zu unterscheiden zwischen der Hemmung der staatlichen Gewalten um der Grundrechte willen und der Funktionsunfähigkeit der staatlichen Gewalten. I m einen Fall bricht sich eine an sich intakte Hoheitsgewalt an gleichsam punktuellen Barrieren, im anderen Fall wird der Hoheitsgewalt so zugesetzt, daß sie, auch wo sie tätig werden dürfte, nicht mehr tätig werden kann. Die Funktionsfähigkeit der staatlichen Organe wird insbesondere in Frage gestellt, wenn die staatlichen Gewalten gehindert werden, sich ihrem Zweck entsprechend zu organisieren 272, oder wenn die für eine sachgerechte Erledigung der übertragenen Aufgaben unerläßlichen rechtlichen Voraussetzungen nicht gewahrt bleiben. Was die Organisation betrifft, so wird man eine Widersprüchlichkeit von grundrechtlicher Gewährleistung und dem Gebot der Funktionsfähigkeit zum Teil umgehen können, indem man den Grundrechtsbereich und den „status activus" des Bürgers scharf trennt. Diesen Weg wählte das Bundesverfassungsgericht in seinen Volksbefragungs-Entscheidungen278. Aber damit allein ist nicht auszukommen. Das zeigt sich ganz deutlich beim Fragenkreis um die Gehorsamspflicht des Beamten 274 . Ohne sie läßt sich eine funktionsfähige staatliche Organisation nicht aufbauen 275 . Die insoweit bestehende Polarität zwischen dem Sonderstatus des Beamten und seinem allgemeinen Status als Grundrechtsträger hat schon Carl Schmitt gesehen: „Eine prinzipiell unbegrenzte Freiheit im Sinne eines allgemeinen Menschenrechtes müßte, konsequent durchgeführt, den Begriff des Beamten aufheben 27®." Er löst den Konflikt, indem er der Institution des Beamtentums den Vorrang zuerkennt. Ganz ähnlich wird auch heute unter Berufung auf Art. 33 Abs. 5 GG argumen272 Z u r Funktionsfähigkeit als zwingendem Gebot der demokratischen rechtsstaatlichen Verfassung BVerfGE 9,268 (281); vgl. auch BVerfGE 1,208 (248); 6,104 (118); 13,1 (19); 13,243 (247); 14,121 (136). 273 BVerfGE 8,104 (115); 122 (133). 274 Voraussetzungen u n d Verästelungen des Problems i m einzelnen darzustellen, ginge hier zu weit. Es interessiert n u r der durch den Mißbrauchsgedanken eröffnete Aspekt. Dazu, daß die Grundrechte an sich a u d i f ü r den Beamten gelten vgl. v. Mangoldt-Klein, Vorbem. Β X V I 4 . , S. 136 f.; Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 33, RdNr. 72, S. 39; Schick, Z B R 63, 67; Leisner, DVB1. 60. 617 (622 f.). Α. A . anscheinend Ule, Grundrechte Bd. I V , 2. Halbbd. S. 618. 275 Vgl. Bayer. VerfGH Entsch. v. 7.11. 60, D Ö V 60, 950 m i t Nachweisen. 276 Verfassungslehre, S. 182.
96
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
tiert 277 . I m letzten läßt sich der behauptete Vorrang der Institution Beamtentum nur begründen, wenn man die Verbindung mit dem Gebot der Funktionsfähigkeit herstellt 278 . Sofern also die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums dem Beamten Pflichten auferlegen, die zur Erhaltung der staatlichen Gewalten unumgänglich sind, können die Grundrechte unter keinen Umständen entpflichtende Wirkimg haben. Die Freiheit des Beamten ist entsprechend verkürzt. Ein Beamter, der sich zur Rechtfertigung eines pflichtwidrigen Verhaltens auf ein uneinschränkbares Grundrecht beruft, mißbraucht dieses Grundrecht 279 , sofern die Handlung die Funktionsfähigkeit der staatlichen Gewalten beeinträchtigt. Insoweit bleibt der Inhalt des Grundrechts hinter dem Wortlaut der Gewährleistung zurück. Man denke zum Beispiel an einen Polizeibeamten, der sich einem Katastropheneinsatz entzieht, um an einer religiösen Veranstaltung teilzunehmen. Es war wohl Bachof, der als erster die Frage der Grundrechtsgeltung im besonderen Gewaltverhältnis unter dem Blickwinkel der mißbräuchlichen Rechtsausübung gesehen hat 280 . Allerdings leuchtet seine Folgerung nicht recht ein. Bachof hält zwar die Berufung auf ein Grundrecht bei einem gewaltverhältniswidrigen Verhalten für mißbräuchlich. Die Sanktion soll sich aber auf die Stellung des Zuwiderhandelnden im besonderen Gewaltverhältnis beschränken. Seine Grundrechtsposition hingegen soll unberührt bleiben. Solches Vorgehen wird der grundrechtlichen Gewährleistung nicht immer gerecht. I n das Grundrecht wird ja nicht nur eingegriffen, wenn man die geschützte Handlung untersagt, sondern auch wenn man diese Handlung anderweitig einer staatlichen Sanktion unterwirft. Fälle, in denen sich die Sanktion nur auf die Amtsstellung als solche auswirkt 281 , dürften die große Ausnahme sein. Was zu den unerläßlichen Voraussetzungen für eine sachgerechte Erledigung der verschiedenen staatlichen Aufgaben gehört, wird sich letztlich immer nur an Hand des einzelnen Falles ermitteln lassen. Hier soll lediglich auf einige Situationen hingewiesen werden, die zu Lasten der Freiheit des einzelnen zu entscheiden sind, weil sie, wenn das auch nicht immer ganz deutlich gesehen wird, aufs engste mit dem Gebot der Erhaltung der Funktionsfähigkeit zusammenhängen. 277
Vgl. insbesondere Schick, Z B R 63, 67 (70 f.). 278 w i e ζ. Β . ν . Münch, Freie Meinungsäußerung u n d besonderes Gewaltverhältnis, S. 37 f. u n d S. 45 f.; Ule, Grundrechte Bd. I V , 2. Halbbd., S. 622. 279
Das gilt freilich nicht, w e n n m a n der Ansicht zuneigt, daß f ü r den Beamten die Grundrechte erst durch das Beamtenverhältnis aktualisiert werden. Gegen diese Ansicht Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 33, RdNr. 72, S. 39. 280 W D S t R L Heft 12, S. 61. sei w i e etwa i m F a l l der richterlichen Befangenheit, vgl. BVerfGE 20, 9.
§ 23 Die Sicherung der Funktionsfähigkeit
97
Zunächst zur Parallelität von Grundrechtsbereich und „status activus". Die vom Volk ausgehende Staatsgewalt ist durch die Verfassung in bestimmte Bahnen gelenkt. Grundsätzlich wird sie von den Organen der Gesetzgebimg, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Einer permanenten Kongruenz des Staatswillens mit dem Willen des Volkes bedarf es nicht 282 . Das Staatsvolk ist nach den Bestimmungen des Grundgesetzes an der Ausübung der Staatsgewalt nur durch Wahlen und Abstimmungen beteiligt. Damit ist die gestaltlose Gewalt des Volkes in klar begrenzte Kompetenzkanäle geleitet. Die so verfaßte Staatsgewalt kann nur funktionieren, wenn die Trennungslinie zwischen den Rechten der Bürger auf Teilhabe an der Trägerschaft der Staatsgewalt und den Kompetenzen der einmal gebildeten Staatsorgane eingehalten wird. Jede Erweiterung der unmittelbaren Ausübung von Staatsgewalt durch das Volk ohne entsprechende Verfassungsänderung führte zu einer Verwässerimg des Kompetenzsystems. Zu Recht sieht man daher in Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G eine erschöpfende Regelung, die jede weitere Art unmittelbarer Entscheidung durch das Volk strikt ausschließt288. Eine Grundrechtsausübung, die darauf abzielte, die verfassungsmäßig „verfaßte" Staatsgewalt zu entfesseln, indem sie sie unmittelbar unter den Druck des „Volkswillens" stellte, wird vom Inhalt der Grundrechte nicht mehr gedeckt284. Weiterhin gehören in diesen Zusammenhang die verschiedenen verfahrensrechtlichen Beschränkungen bei der Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen. Schließlich kann man nicht ohne weiteres daran vorbeigehen, daß jede Berufung auf ein Grundrecht, — gleichgültig in welchem Verfahren und in welchem Rechtszweig, — zur Grundrechtsausübung gehört. Diese Ausübungsart aber ist durch eine Vielzahl prozessualer Vorschriften eingeengt, und zwar gerade auch bei Grundrechten, die an sich unbeschränkbar sind. Mag man bei der Rüge einer Grundrechtsverletzung im Wege der Verfassungsbeschwerde nach §90 BVerfGG noch mit dem Hinweis auskommen, die Verfassungsbeschwerde sei eben nur eine verfassungsprozessuale Dreingabe nach Maßgabe der gesetzlichen Gewähr. Bei der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, beim Petitionsrecht und bei der Geltendmachung einzelner materieller Grundrechte in anderen Verfahrensarten kann man sich auf diese Weise nicht behelfen. Es stellt sich also die Frage, aus welchem Grunde eigentlich der Grundrechtsträger die Rechtskraft einer Entscheidung auch gegen sich gelten lassen muß, wenn dadurch ein unbe282 Wie sich aus A r t . 20 Abs. 3, A r t . 38 Abs. 1 S. 2 u n d A r t . 97 Abs. 1 G G ergibt. 283 v g l , V t Mangoldt-Klein, A r t . 20 A n m . V 5, S. 596 ff.; Maunz, M a u n z - D ü rig, A r t . 20 RdNr. 54, S. 20. 284
I m Ergebnis ebenso BVerfGE
7 Gallwas
8,104 (115).
2. Kap.: Mißbrauchstatbestände bei Grundrechten
98
schränkbares Grundrecht betroffen wird; warum der Bürger keinen Anspruch auf Verbescheidung seiner Petition hat, wenn er sie in derselben Sache bei derselben Stelle wiederholt einreicht 285 ; wieso dem Kläger ein Kostenvorschuß aufgebürdet werden darf, obwohl Art. 19 Abs. 4 GG keinen entsprechenden Vorbehalt bietet 286 . Die Zulässigkeit solcher Beschränkungen der Grundrechtsausübimg liegt auf der Hand. Doch erscheint es zu pauschal, sie damit zu begründen, daß sich sonst Sinnwidrigkeiten einstellen würden 287 . Der wahre Grund liegt wohl darin, daß diese Beschränkungen unerläßlich sind, um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu sichern. Freilich geht es nicht nur darum, die Gerichte vor der Flut „alter Fälle" zu schützen, sondern in erster Linie um die Erhaltung der friedenstiftenden Funktion staatlicher Verfahren, kurz, um das Rechtsstaatselement: Rechtssicherheit 288. Schließlich spielen die Erfordernisse einer sachgerechten Erledigung staatlicher Aufgaben eine entscheidende Rolle für das verfassungsrechtliche Verständnis der besonderen Gewaltverhältnisse. Sofern im Grundgesetz besondere Gewaltverhältnisse ausdrücklich angesprochen oder stillschweigend vorausgesetzt sind, wird man anzunehmen haben, daß die in den besonderen Gewaltverhältnissen angelegten prinzipiellen Ordnungsstrukturen nicht ausgehöhlt werden dürfen, und zwar auch nicht von den Grundrechten her 289 . Als Maß der zulässigen Grundrechtsbegrenzungen im Beamtenverhältnis, im Schulverhältnis, im Strafvollzug usw. werden vielfach Sinn und Zweck des jeweiligen Gewaltverhältnisses angeführt 290 . Doch ist damit allzu leicht die Gefahr übermäßiger Beschneidung des Grundrechtsbereichs verbunden. Deshalb sollte man auf ein engeres und leichter feststellbares Merkmal abstellen, etwa auf das Funktionieren des konkreten, durch das besondere Gewaltverhältnis abgesteckten Aufgabenbereichs 291. 285
Vgl. BVerfGE 2,225. Vgl. BVerwG U r t . v. 6.10.1959, DVB1. 60, 34; BVerfGE 10, 264. Weitere Fälle: BVerfGE 1, 87 (89); BayerVerfGH V G H 15,1 (4); 16,137 (139); BGHSt 19, 273 (277). 287 So BVerfGE 2, 225 (232) ; BVerwG, DVB1. 60,34 (35). 288 Z u diesem Rechtsstaatselement BVerfGE 2, 380 (403); 3, 225 (237); 7,194 (195 f.); 11, 255 (261); 13, 261 (271); BGHSt 19, 273 (277). 289 Vgl. hierzu neuerdings BVerfGE 17, 319 (334); 19, 303 (321); BGH Urt. v. 8.11. 65, N J W 66, 1227 (1230); OLG Hamburg Beschl. v. 8. 7. 63, JZ 64, 504; Bad.Württ. VGH U r t . v. 14.5.63, JZ 64, 627 (628); v. Münch, DVB1. 64, 789 (793). Anders allerdings Leisner, DVB1. 60, 617 (622), nach i h m sollen Grundrechte unangetastet bleiben, w e n n sie keinen entsprechenden Gesetzesvorbehalt haben. 290 Vgl. v. Mangoldt-Klein, Vorbem. Β X V I 4, S. 137; Hamel, DVB1. 58, 37 (44); Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 17 a RdNr. 22, S. 11; O L G Hamburg, JZ 64, 504; Bad. Württ VGH, JZ 64, 628. 291 Ebenso schon v. Münch, Freie Meinungsäußerung u n d besonderes Gewaltverhältnis, S. 45 if.; ders. JZ 64, 506; H. J. Wolff, V e r w R I, § 32 I V 3, S. 163 f. 28e
Drittes
Kapitel
Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs Erster
Abschnitt
Allgemeine Folgen I. A u s g a n g s p u n k t § 24 Allgemeines
Die bisherigen Darlegungen haben gezeigt, daß der allgemeine Mißbrauchsgedanke auch bei den Grundrechten des Grundgesetzes anwendbar ist. Es wurden verschiedene Mißbrauchstypen gebildet und einzelne Mißbrauchslagen angedeutet. Nun geht es um die Frage, in welcher Weise die Staatsgewalten auf den Grundrechtsmißbrauch reagieren dürfen. Denkbar sind staatliche Reaktionen in dreifacher Hinsicht: als Verhinderung künftiger Mißbrauchshandlungen, als Unterbindung einer gegenwärtigen Mißbrauchshandlung und als Eingriff, der den durch die Mißbrauchshandlung eingetretenen Schaden ausgleichen oder sühnen soll. Gemeint sind im letzteren Fall sowohl die verschiedenen Verpflichtungen zu Ersatzleistungen wie auch strafrechtliche Sanktionen. Zwischen Verhinderung oder Unterbindung mißbräuchlicher Grundrechtsausübungen einerseits und dem Schadensausgleich bzw. der Sühne andererseits ist scharf zu trennen. Sie treffen den Grundrechtsträger auf verschiedenen Ebenen. Derjenige, dem im konkreten Fall ein mißbräuchliches Verhalten untersagt wird, büßt etwas anderes ein als derjenige, gegen den wegen desselben Verhaltens ζ. B. eine Freiheitsstrafe oder eine Sicherungsmaßnahme verhängt wird. Verhinderung und Unterbindung mißbräuchlicher Grundrechtsausübimg lassen die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre im eigentlichen unberührt. Der Grundrechtsmißbrauch steht außerhalb; er ist eben in Wahrheit „Handeln ohne Recht". Den staatlichen Organen stehen daher, soweit sie ausschließlich gegen den Mißbrauch als solchen vorgehen, die Grundrechte 7·
100
3. Kap. : Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
nicht entgegen. Der Grundrechtsträger wird hier lediglich in die bestehenden Schranken seines Rechts zurückverwiesen 1. Ganz anders ist die Situation, wenn die staatlichen Gewalten gegen den Mißbraucher vorgehen, um den durch den Mißbrauch entstandenen Schaden abzugleichen, sei es, daß sie ihm eine Ersatzleistung abfordern, ihn bestrafen oder Sicherungsmaßnahmen anordnen. Diese Reaktionen erschöpfen sich gerade nicht in der Rückverweisimg. Sie bürden dem Grundrechtsträger etwas Zusätzliches auf. Er erleidet insoweit eine echte Verkürzung der ihm an sich gewährleisteten Rechtsposition. Verfehlt wäre es, diese Verkürzung der Grundrechte gleichfalls auf den Mißbrauchsgedanken zu stützen. Das kann er nicht leisten. Aus dem allgemeinen Mißbrauchsgedanken läßt sich nur herleiten, daß der Bürger für seinen Mißbrauch keinen Grundrechtsschutz genießt, nicht aber daß der Bürger über den Mißbrauchsfall hinaus den Grundrechtsschutz verliert. Mißbrauch macht nicht vogelfrei, auch nicht partiell vogelfrei. Deshalb ist der Staat, wo er sich nicht auf Mißbrauchsabwehr beschränkt, in vollem Umfang an die Grundrechte gebunden, d. h. auf entsprechende Gesetzesvorbehalte angewiesen2. Man steht hier wieder einmal an einem Punkt, an dem ohne das „Eingriffsdenken" nicht auszukommen ist, an dem der Gesetzesvorbehalt mehr ist als nur eine „staatsrechtliche Reminiszenz"8. Wenn der staatliche Gestaltungsraum bei Verhinderung und Unterbindung von Grundrechtsmißbräuchen auch nicht durch Grundrechtsvorbehalte gebunden ist, so bleibt er doch in vielfältiger Beziehung durch andere Grundsätze der Verfassimg begrenzt. Die allgemeinen grundsätzlichen Bindungen können die staatlichen Gewalten auch bei der Mißbrauchsabwehr nicht abstreifen. Zwar bricht sich ζ. B. eine Maßnahme der Exekutive zur Unterbindung eines Mißbrauchsfalles nicht an dem mißbrauchten Grundrecht, das besagt aber nicht, daß sie auch ohne zureichende gesetzliche Grundlage ergehen dürfte. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wird durch einen Mißbrauch nicht suspendiert 4. 1 So schon Dürig, AöR 79, 86; ders. AöR 81, 149; Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 76, S. 63 f. 2 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 77 f., S. 65 ff.; insoweit einschränkend gegenüber der zu w e i t geratenen These i n AöR 79, 86. Ebenso Stree, Deliktsfolgen u n d Grundgesetz, S. 87, 229 f. Vgl. auch Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, S. 119 f. Letzterer n i m m t w o h l zu weitgehend f ü r den Regelfall eine aus Elementen der verdeutlichenden u n d solchen der eingreifenden Normen gemischte S t r u k t u r der mißbrauchsabwehrenden Normen an, S. 121, die aber einheitlicher Behandlung unterworfen werden. 8 So Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 229 f. 4 Vgl. die v o n Dürig angeführte, wenngleich auf A r t . 18 G G bezogene herrschende Lehre, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 78, S. 26 f.; m i t Nachweisen S. 27 FN. 1; Sigloch, M D R 64, 881 (883); weitere Nachweise bei Wilke, V e r w i r k u n g der Pressefreiheit u n d strafrechtliches Berufsverbot, S. 64, FN. 60.
§24 Allgemeines
101
Zu derartigen allgemeinen Bindungen treten speziellere. Das Grundgesetz enthält eine Reihe von Vorschriften, die als Sperren gegen bestimmte staatliche Mißbrauchsreaktionen in Betracht kommen. Zum Beispiel wird Art. 17 a dahin verstanden, daß Reaktionen auf gewaltverhältniswidriges Verhalten eines Soldaten nur bei den ausdrücklich genannten Grundrechten zulässig seien5. Auch die Art. 18 und 21 Abs. 2 können in gewisser Hinsicht als Sperrnormen aufgefaßt werden. Etwa wird man Handlungen, die sich in der Erfüllung des Tatbestandes der beiden Vorschriften erschöpfen, nicht in einer Weise ahnden dürfen, die das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts unterläuft 5 . Besondere Schwierigkeiten treten schließlich auf, wenn die Mißbrauchsabwehr (Verhinderung und Unterbindung) andere Grundrechte als das mißbrauchte berührt oder wenn sie bei dem mißbrauchten Grundrecht den Bereich des „Handelns ohne Recht" überschreitet und sich grundrechtsverkürzend auswirkt. Auch in diesen Fällen ist mit dem Mißbrauchsgedanken allein nicht auszukommen. Denn er vermag weder zu begründen, daß echte Eingriffe, sofern sie Nebenfolgen einer Mißbrauchsreaktion sind, auch ohne entsprechenden Vorbehalt zulässig sind, noch daß Mißbrauchsreaktionen, die solche Nebenfolgen nach sich ziehen, zu unterbleiben haben. Daher muß man differenzierend vorgehen und jeweils für den Einzelfall die Grundsätze aufspüren, die die Verfassung vorzeichnet. Hierbei wird besonders der Widerstandsfähigkeit des mitbetroffenen Grundrechts, wie sie sich aus der verschiedenartigen Ausstattung mit Eingriffsvorbehalten ergibt, aber auch dem Ubermaßgedanken eine entscheidende Rolle zukommen®. Besonderes Interesse verdient die Frage, wie das mitbetroffene, aber nicht mißbrauchte Grundrecht bzw. wie mitbetroffene, aber nicht selbst mißbräuchliche Grundrechtsausübungen entschädigungsrechtlich zu behandeln sind. Die geläufige These, daß der Störer stets ohne Entschädigung bleibe7, führt hier zu erstaunlich unbilligen Ergebnissen8. Man hat zu beachten, daß der Störer den Grundrechtsschutz nicht generell verliert, weil er Störer ist, sondern nur punktuell einbüßt, soweit er „stört". Deshalb kann ein Entschädigungsanspruch für die mitbetroffenen, aber nicht selbst mißbräuchlichen Grundrechtsausübungen nicht ohne weiteres, nicht als selbstverständlich ausgeschlossen werden 9 . 6
Vgl. BVerfGE 10,118 (123) ; 12,296 (306) ; i m einzelnen unten §§ 42,48. Eingehend hierzu Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, S. 117 ff. u n d S. 134 ff. 7 Vgl. BVerfGE 10, 89 (114); BVerwG, Urt. v. 25. 5. 65, DVB1. 65, 766; DrewsWacke, S. 205 f., 265, 267; König, Allgemeines Sicherheits- u n d Polizeirecht i n Bayern, S. 446; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I RdNr. 82, S. 73; Schnur, DVB1. 62,1 (8); Quaritsch, DVB1. 59,455, m i t weiteren Nachweisen FN. 1. 8 Vgl. etwa die Darlegungen v o n Bellstedt, D Ö V 61, 811 (816 f.). 9 So bereits Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, S. 118 ff. 6
102
3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs II. D i e M i ß b r a u c h s r e a k t i o n e n der e i n z e l n e n s t a a t l i c h e n G e w a l t e n
Die Reaktionsmöglichkeiten der verschiedenen staatlichen Organe sind durch das Gewaltenteilungsschema vorbestimmt. Die darin angelegten Kompetenzen und Kompetenzgrenzen müssen bei der Bekämpfung von Grundrechtsmißbräuchen eingehalten werden. Daraus ergeben sich Verschiedenheiten der Mißbrauchsreaktionen.
§ 25 Mißbrauchsreaktionen der Legislative
Das Schwergewicht der Reaktion des Gesetzgebers auf Grundrechtsmißbräuche liegt in der allgemeinen Verhinderung künftiger Mißbräuche. Wo immer sich Situationen abzeichnen, in denen der Grundrechtsträger seine Freiheit auf Kosten vorrangiger Interessen anderer am Grundrechtsverhältnis Beteiligter ausübt, darf der Gesetzgeber die Grenzen der grundrechtlichen Freiheit verdeutlichend nachziehen10. Dabei steht ihm eine ganze Skala von Intensitätsabstufungen zur Verfügung. Einmal kann der Gesetzgeber schon durch Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe einen breiten Bereich von Mißbrauchsfällen umreißen und Verwaltung oder Gerichte zur, wenn auch nur vorläufigen, Sistierung ermächtigen. Modelle sind etwa die polizeiliche Generalklausel und die verschiedenen Ermächtigungen zum Erlaß einstweiliger Verfügungen. Gegen eine solchermaßen im groben bleibende Bezeichnung der Mißbrauchstatbestände wird man verfassungsrechtliche Bedenken nicht anmelden können, solange dies nicht zur Setzung „vager Generalklauseln" ausartet, die die Freiheit des einzelnen der Disposition der anderen staatlichen Gewalten überantwortet. Zu Recht wird darauf abgestellt, daß — im Hinblick auf die Vielfalt der zu regelnden Lebensverhältnisse und um den Gesetzgeber nicht ständig hinter den eben auch originellen Mißbrauchern herhinken zu lassen — an die tatbestandliche Fixierung der Voraussetzungen staatlichen Einschreitens keine unerfüllbaren Anforderungen gestellt werden dürfen 11 . Der Gesetzgeber kann weiterhin bei der Regelung von Rechtsgebieten spezifische Mißbrauchsfälle präzisieren und je nach Lage generell oder punktuell verbieten. Verwaltungsrechtlich stehen ihm dabei als Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung: allgemeines Verbot, allgemeines 10 Vgl. BVerfGE 7, 320 (323 f.); Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, S. 117 ff.; Ε. v. Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte, S. 40. 11 Vgl. BVerfGE 3, 225 (243); 8, 274 (325 f.); 13, 153 (160); 14, 105 (114); 18, 353 (363).
§ 25 Mißbrauchsreaktionen der Legislative
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Verbot mit Erlaubnisvorbehalt sowie der Verbotsvorbehalt 12. Zivilrechtlich tritt neben das generelle Verbot die Möglichkeit, dem vom Mißbrauch Betroffenen ein subjektives Recht auf Unterlassung des mißbräuchlichen Verhaltens einzuräumen. Schließlich kann der Gesetzgeber im Rahmen entsprechender Vorbehalte die Befugnis zu echten Eingriffen in die Freiheitssphäre eröffnen. Beispiele sind: die Verpflichtung zu Ersatzleistungen, Strafdrohungen und Ermächtigungen zu sichernden Maßnahmen. Diese Sanktionen enthalten in der Regel zugleich ein Unwerturteil über den zugrunde liegenden Tatbestand. Das tatbestandsmäßige Verhalten wird dadurch, nachdem es an sich schon „Handeln ohne Recht" ist, zu „rechtswidrigem" Verhalten 13 . Es kann an dieser Stelle nicht eindringlich genug darauf hingewiesen werden, daß der Gesetzgeber zwar selbständig entscheidet, ob und wie er und die anderen staatlichen Organe auf einen Mißbrauchsfall reagieren; in der Frage jedoch, welche Grundrechtsausübung mißbräuchlich ist, steht ihm auch nicht das geringste an Eigenständigkeit, an Dezision zu 14 . Mißbrauchstatbestände werden nicht geschaffen, sondern erkannt. Dazu bedarf es eines gerüttelten Maßes an Evidenz. Als Faustregel mag gelten: I m Zweifel liegt kein Mißbrauch vor. Die Positivierung von Mißbrauchstatbeständen ist nie konstitutiv, sondern stets deklaratorisch. Der Gesetzgeber stellt bestehende Mißbrauchsmöglichkeiten lediglich fest und entzieht ihnen einen eventuellen, aber eben nur scheinbaren Grundrechtsschutz. Letztlich arbeitet er auf diese Weise an der jeder Legislative aufgegebenen Kongruenz zwischen positiver Rechtsformel und wahrem Rechtsinhalt. An dieser Stelle erweist sich die grundsätzliche Richtigkeit der Lehre von den „immanenten Schranken" der Grundrechte. Zweifellos ist dieser Terminus, weil er nur andeutet, daß den Grundrechten etwas immanent ist, ohne aber dieses Immanente zu umreißen, von einer brisanten Gefährlichkeit 15 . Nur allzuleicht verfällt man der Annahme, die Immanenz der Grundrechte öffne ihrer Aushöhlung Tür und Tor und führe praktisch zu einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Doch muß man sich vor Augen halten, daß die Anerkennung immanenter Schranken der Grundrechte für sich allein eben noch keinen Eingriff in ein Grundrecht rechtfertigt. Wer eine Grundrechtsbeschränkung als „immanent" hin12
Hierzu BVerfGE 2, 266 (279 f.); 6, 32 (42); 8, 71 (76); 9, 338 (353 f.); 20, 150 ff.; Herbert Krüger, D Ö V 58, 673; FHauf, JUS 62, 422. 13 Z u r Verschiedenheit dieser Qualifikation Siebert, Verwirkung, S. 100 f. 14 Ebenso E. v. Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte, S. 40 f. m i t FN. 76. 15 Vgl. Herbert Krüger, N J W 55,201 (204).
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3. Kap. : Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
stellt, darf sich nicht damit begnügen, daß den Grundrechten überhaupt etwas immanent sein kann, sondern hat den Nachweis zu erbringen, daß die konkrete Grundrechtsbeschränkung gerade diesem Grundrecht innewohnt, daß das Grundrecht rechtlich nicht ohne diese Schranke gedacht sein kann. Politisch Wünschenswertes oder die bloße Behauptung, daß die Beachtung irgendwelcher Forderungen des Gemein- oder Einzelwohls zur grundrechtlichen Freiheit gehöre, sind völlig ungeeignet, die Existenz einer „immanenten" Schranke zu begründen. Betrachtet man die Schranken, die seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes als den Grundrechten „immanent" bezeichnet wurden: das Sittengesetz, die Rechte des anderen, die strafrechtlichen Verbote, die Minimalforderungen menschlichen Miteinanders 16 , dann fällt auf, daß all diesen Begrenzungen das in dieser Arbeit aufgestellte Mißbrauchskriterium gemeinsam ist. Freiheitsausübung unter Mißachtung dieser grundrechtsimmanenten Gesichtspunkte widerspricht zugleich entweder einem Verfassungsprinzip oder einer rechtlichen Vorstellung, an die der Verfassunggeber selbst gebunden ist. Ein Gesetz, das eine diesem Kriterium entsprechende Rechtsschranke konkretisiert, indem es eine zuwiderlaufende Grundrechtsausübung untersagt, bewirkt in der Tat keine Einschränkung der Freiheit. Es bestimmt nur, was auch ohne Gesetz gelten würde, wenngleich es nicht mit gleicher Deutlichkeit erkennbar wäre 17 . Solange sich der Gesetzgeber darauf beschränkt, durch die Formulierungen der Mißbrauchstatbestände nur Ermächtigungen für rein repressive Akte der Exekutive zu schaffen, ist er auf einen Gesetzesvorbehalt nicht angewiesen. Er bewegt sich insoweit in „grundrechtsfreiem Raum" 18 . In dem Augenblick aber, in dem die Legislative Mißbrauchshandlungen anders als nur repressiv abwehrt, wenn sie also einen vermögensrechtlichen Ausgleichsanspruch statuiert, eine Strafe androht oder eine andere Maßnahme zuläßt, die zu einer echten Grundrechtsbeschneidung führt, dann ist sie an die Gesetzesvorbehalte der einzelnen Grundrechte gebunden1®. Aus diesem Grund ergeben sich zwei verschiedene Wege des Sanktionierens. Ist ein Gesetzesvorbehalt vorhanden, so dürfen zur Vermeidung künftiger Mißbrauchsfälle auch nichtmißbräuchliche Grundrechts16 Vgl. Maunz., Staatsrecht, 1412., S. 99 f.; Scholtissek, N J W 52, 561 (562 f.); Scupin, Laun-Festschrift 1953, S. 189 f.; Scheuner, Recht-Staat-Wirtschaft, Bd. I I I , S. 159 f.; Lassally, M D R 53, 76 f.; Fechner, Soziologische Grenze der Grundrechte, S. 3; Dürig, N J W 54, 1394 (1395); ders. AöR 79, 57 (631); ders. Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 73, S. 60; RdNr. 74, S.61; RdNr. 76, S. 63; Bachof, Grundrechte, Bd. I I I 1. Halbbd. S. 208. 17 So Bachof, aaO. ; Scheuner, D Ö V 56,66 (69). 18 Dazu Lassally, M D R 53,76. 19 Z u den strafrechtlichen Sanktionen Stree, Deliktsfolgen u n d G r u n d gesetz, S. 88; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 77 f., S. 65 f.
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ausübungen beschränkt werden. Beispielsweise darf einem Elternteil, der sein Erziehungsrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG gegenüber dem Kind mißbraucht hat, dieses Recht präventiv, also auch für Fälle ordnungsgemäßer Rechtsausübung beschnitten oder entzogen werden 20 . Gegenstände, die zur Begehung von Straftaten dienen, können dem Täter abgenommen werden, auch wenn er dadurch die Möglichkeit einbüßt, sie rechtmäßig zu nutzen 21 . Diese konstitutive Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten hat ihre Grenze freilich dort, wo der Wesensgehalt des betroffenen Grundrechts berührt wird. Einem Bürger, der immer wieder Versammlungen unter freiem Himmel stört, darf deswegen die Teilnahme an derartigen Versammlungen nicht generell untersagt werden. Bei Grundrechten ohne entsprechenden Gesetzesvorbehalt ist es dem Gesetzgeber hingegen schlechterdings versagt, über die konkrete Mißbrauchsabwehr hinaus irgendwelche Sanktionen zu verhängen. Ein Gesetz, das in besonders gelagerten Fällen, etwa wenn ein Prozeßbeteiligter das Gericht oder andere Beteiligte grob beschimpft oder anlügt, die Aberkennung des Rechts auf rechtliches Gehör erlaubte, wäre verfassungswidrig. Ebensowenig darf ein Gesetz für Gesinnungstäter irgendeine Art „weltanschaulicher Umschulung" ansetzen22. Bei der Sanktionierung von Mißbräuchen vorbehaltsloser Grundrechte muß der Gesetzgeber daher auf andere, beschränkbare Grundrechte ausweichen. Notfalls muß er auf die Möglichkeit der Freiheitsentziehung nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG oder der Verpflichtung zu Straf-, Büß-, Ersatzleistung aus dem Vermögen gemäß Art. 2 Abs. 1 GG zurückgreifen.
S 26 Mißbrauchsreaktionen der vollziehenden Gewalt
Die Feststellung, daß ein bestimmtes Verhalten des Grundrechtsträgers mißbräuchlich ist, entbindet die Verwaltung nicht von dem in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit. Die Exekutive ist immer auf eine Norm angewiesen, die sie zur Mißbrauchsbekämpfung ermächtigt 28. Wo die vollziehende Gewalt gestützt auf tatbestandsmäßig exakt präzisierte Gesetze gegen Grundrechtsmißbräuche vorgeht, ist diese Reaktion letztlich nicht ihr, sondern dem Gesetzgeber zuzuschreiben. Dieser hat den Mißbrauchstatbestand normativ konkretisiert, jene vollzieht 20
E t w a nach §§ 1666,1676 BGB. Vgl. Stree, Deliktsfolgen u n d Grundgesetz, S. 88 f. 22 So Stree, aaO. S. 159 f.; 163 f.; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I RdNr. 78, S. 66 f. 23 Vgl. oben §24. 21
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
nur, und zwar selbst dann, wenn sie darüber entscheiden darf, ob es eines Einschreitens bedarf. Da nun aber die Mißbrauchstatbestände nicht restlos übersehbar sind und sich daher einer abschließenden Normierung durch den Gesetzgeber entziehen, steht man vor der Frage, was tut die Exekutive bei Grundrechtsmißbräuchen, deren Tatbestände vom Gesetzgeber noch nicht fixiert sind. Muß sie tatsächlich tatenlos zusehen24? Hier wird vor allem die polizeiliche Generalklausel zum Grundrechtsproblem. Es war schon davon die Rede, daß eine Handlung, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, nicht am Grundrechtsschutz teilhat 25 . Mithin würde die Exekutive bei der Konkretisierung der polizeilichen Generalklausel in gleicher Weise tätig wie der Gesetzgeber, der die Grundrechte verdeutlichend Mißbrauchstatbestände formuliert. Eine solche Durchbrechimg des Gewaltenteilungsprinzips ließe sich ebenso wie die Ausfüllung von Generalklauseln durch den Richter mit der Erwägung rechtfertigen, daß sich nur so die Fülle der Lebenssachverhalte erfassen läßt, die aus tatsächlichen Gründen einer vollständigen Normierung unzugänglich sind26. Das entscheidende Argument gegen die Anwendbarkeit der polizeilichen Generalklausel und für die prinzipielle „Polizeifestigkeit" der Grundrechte müßte also in der Polizei als Institution gesucht werden. Es liefe etwa darauf hinaus, gerade der Polizei dürfe nicht erlaubt sein, mit Hilfe einer Generalklausel gegen Grundrechtsträger vorzugehen. Damit wird die Entscheidung über die grundrechtsbegrenzende Generalklausel in den Händen der Polizei in der Tat zur rechtsstaatlichen Vertrauensfrage 27. Bei der Lösung darf man, wenn man einmal anerkannt hat, daß die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine selbstverständliche Schranke der Grundrechte ist, wohl nicht mehr differenzieren, ob ein vorbehaltsfreies Grundrecht oder ein Grundrecht mit Gesetzesvorbehalt betroffen wird. Den Umgang mit der Generalklausel kann man der Polizei nur generell versagen oder generell anvertrauen, denn die Konkretisierung der Formel „öffentliche Sicherheit und Ordnung" durch die Polizei ist für Grundrechte mit oder ohne Vorbehalt gleichermaßen gefährlich. Verfehlt die Polizei dasjenige, was die Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gebietet, dann richtet sich 24 So anscheinend Beyer, N J W 54, 713; Zeitler, N J W 54, 1068; Rohde-Liebenau, D Ö V 57, 472 (473); Löffler, D Ö V 57, 897 (899 f.). 25 Vgl. oben §17. 2 « Vgl. Drews-Wacke, S.44ff.; BVerfGE 3, 225 (243); 14, 105 (114); 18, 353 (363); BGHZ 12,197 (203). 27 So Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 81, S. 71 f.
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die entsprechende Maßnahme stets gegen einen grundrechtlich geschützten Bereich. Selbständige, konstitutiv grundrechtsverkürzende Maßnahmen jedoch darf die Polizei von Rechts wegen niemals erlassen. Wer der Polizei mißtraut, muß folglich zur „Polizeifestigkeit" aller Grundrechte kommen. Das Mißtrauen gegenüber der Polizei ist in einem rechtsstaatlichen Verfassungssystem ohne rechten Grund. Man überschätzt dabei den polizeilichen Aufgabenbereich und unterschätzt zugleich die Bindungen, denen die Polizei bei der Anwendung der Generalklausel unterworfen ist. Schließlich steht und fällt jedes polizeiliche Einschreiten mit drei Voraussetzungen, die sich für den Grundrechtsträger in besonderem Maße sichernd auswirken. Gemeint ist das Erfordernis der konkreten Gefahr, das der Erforderlichkeit und das der Verhältnismäßigkeit des eingesetzten Mittels. Sie engen den Bereich rechtmäßiger polizeilicher Maßnahmen derart ein, daß sich über die polizeiliche Generalklausel ein Leerlauf der Grundrechte wohl kaum herbeiführen läßt 28 . Freilich darf man diese Voraussetzungen ihrerseits nicht verwässern. Dies zu verhindern, ist Aufgabe der verwaltungsgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Kontrolle, der jede polizeiliche Maßnahme in vollem Umfang unterliegt 29 . Geht man, wie das hier geschehen ist, davon aus, daß die Grundrechte niemals Verhaltensweisen decken, die zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führen, und gesteht man weiter der Polizei die Kompetenz zu, den Inhalt dessen, was öffentliche Sicherheit und Ordnung im Einzelfall fordern, im Rahmen bestimmter, enger Bindungen zu konkretisieren, dann kann die Polizei jedenfalls alle unmittelbar störenden Handlungen abstoppen. Sie verweist damit den Grundrechtsträger in seine eigentliche Rechtssphäre zurück und nimmt ihm nichts von der Rechtsmacht, die ihm nach dem Grundgesetz zusteht30. I n vielen Fällen allerdings — und da beginnt die Krux — erschöpft sich die polizeiliche Maßnahme nicht in der Unterbindung oder Verhütung des störenden Tuns. Man gibt vielmehr dem Störer zugleich auf, alles Erforderliche zu tun, um die Auswirkungen der hervorgerufenen Störung zu beseitigen. Dem Grundrechtsträger wird insoweit nicht nur ein Unterlassen abverlangt, sondern eine Verpflichtung zu positivem Tun auferlegt. Solche Handlungspflichten darf die Polizei im Rahmen einer speziellen Ermächtigung sicher dann auferlegen, wenn das betroffene Grundrecht einen zureichenden Gesetzesvorbehalt hat. Wie 28
Das verkennt Rohde-Liebenau, D Ö V 57,472 (473). Vgl. die insoweit bemerkenswerte Entscheidung des BVerwGE 10, 164, nach der die polizeiliche Generalklausel nicht dazu herhalten darf, Situationen zu regeln, die eine wertende Entscheidung des Gesetzgebers erfordern. 80 So schon BGHZ 12, 197 (202 f.); Düng, AöR 79, 77 f.; ders. Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 82, S. 73. Nipperdey, Grundrechte, Bd. I V , 2. Halbbd. S. 816. 29
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
aber, wenn das nicht der Fall ist? Sollte dann die Inanspruchnahme des einzelnen zur Gefahrenbeseitigung ausnahmslos unzulässig sein? Darf sich ζ. B. der Störer, dem die Beseitigung der von ihm geschaffenen und u. U. nur durch ihn selbst zu beseitigenden Gefahrensituation angesonnen wird, darauf berufen, er sei im Begriff eine religiöse Veranstaltung oder eine Versammlung zu besuchen und werde an diesem Vorhaben durch die Polizei in grundrechtswidriger Weise behindert? Die Annahme, eine zu positivem Tun verpflichtende Maßnahme sei schon deshalb erlaubt, weil der Grundrechtsträger, indem er die Störungssituation herbeiführte, sein Grundrecht mißbraucht hat, wäre unzutreffend. Sie liefe wiederum darauf hinaus, daß das mißbrauchte Grundrecht infolge des Mißbrauchs nicht mehr seine volle Schutzfunktion erfüllt, daß es also, mindestens soweit die erforderliche polizeiliche Maßnahme reicht, verwirkt ist 31 . Damit wäre aber der Ausgangspunkt preisgegeben, nämlich die Überlegung, daß ein Grundrecht seine Schutzfunktion nur in dem Umfang verliert, in dem es mißbraucht wird, weil insoweit, aber auch nur insoweit der Mißbraucher auf den eigentlichen Grundrechtsbereich zurückgedrängt wird. Wer jedoch andererseits bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt positive Handlungspflichten ausnahmslos verneint, wird den verschiedenen Zweckrichtungen polizeilichen Vorgehens gegen den Störer nicht gerecht. Freilich, wo die auferlegten Handlungspflichten nur ein störungsfreies Verhalten des Grundrechtsträgers in der Zukunft herbeiführen sollen, handelt es sich um konstitutive Grundrechtsverkürzungen. Dazu bedarf es eines Gesetzesvorbehaltes und spezieller gesetzlicher Ermächtigung. Zu Recht nimmt Dürig an, daß die Polizei einen Verkehrssünder nicht zum Verkehrsunterricht bestellen darf, wenn dadurch der sonntägliche Kirchenbesuch in Frage gestellt wird 32 . Hiervon aber ist der Fall zu unterscheiden, in dem durch die Störungshandlung des Grundrechtsträgers eine konkrete Gefahrensituation entstanden ist, die, selbst nachdem der Störer in seinem Tim gestoppt ist, als solche fortbesteht, so daß die öffentliche Sicherheit weiterhin bedroht ist. Beruft sich der Störer gegenüber der polizeilichen Beseitigungsanordnung auf die „befreiende" Wirkung eines vorbehaltslosen Grundrechts, so handelt er erneut mißbräuchlich. Die Pflicht zur Beseitigung einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung geht jeder Rechtsausübung vor. Erst wenn man das berücksichtigt, wird es dogmatisch vertretbar, dem Störer auch dann Handlungspflichten zur Abwendung konkreter Gefahren aufzuerlegen, wenn ein vorbehaltsloses Grundrecht betroffen wird. 81 82
So anscheinend Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 83, S. 74. Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I , RdNr. 83, S. 74 FN. 2.
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Der Gedanke, daß die Beseitigung konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu den elementaren Hilfspflichten jedes Bürgers zählt, öffnet einen neuen Aspekt. Genau besehen hat die Zulässigkeit der polizeilichen Inanspruchnahme des Störers bei der Gefahrenbeseitigung ihren Grund gar nicht in der Störereigenschaft, sondern in dem ungeschriebenen Grundgebot, eine bestehende konkrete Gefahr für die Allgemeinheit nach Kräften abzuwenden33. Dieses zunächst unter Umständen noch imbestimmte Gebot wird durch die polizeiliche Anordnung inhaltlich präzisiert und auf diese Weise aktualisiert 34 . Die Störereigenschaft erfüllt bei den polizeilichen Beseitigungsanordnungen gewissermaßen nur eine selektive Funktion: Der Störer ist unter den Personen, denen die Abwendung der konkreten Gefahr möglich ist, diejenige, der dies am ehesten zugemutet werden kann. Er hat die größte Fallnähe. Die Erkenntnis, daß die Störereigenschaft nicht das konstituierende Element für die Verpflichtung zur Gefahrenbeseitigung ist, führt zu der Überlegung, daß in besonderen Fällen auch ein Grundrechtsträger, der Nichtstörer ist, polizeilich zu einer gefahrenabwehrenden Handlung herangezogen werden darf, und zwar selbst dann, wenn dadurch die Ausübung eines Grundrechts, das ohne Gesetzesvorbehalt geblieben ist, beeinträchtigt wird 35 . Das Polizeirecht erlaubte schon bisher die Inanspruchnahme eines Nichtstörers nur unter sehr begrenzten Voraussetzungen: Es muß eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bereits eingetreten sein oder eine polizeiliche Gefahr unmittelbar vor der Verwirklichung stehen. Die Polizei muß außerstande sein, die bestehende Gefahr durch Heranziehung des Störers oder mit eigenen Mitteln und Kräften abzuwenden. Dem Nichtstörer darf nicht mehr abverlangt werden, als was zur Abwehr der konkreten Gefahr unbedingt erforderlich ist. Gegebenenfalls darf die Inanspruchnahme nur so lange erfolgen, bis die Polizei ihrerseits imstande ist, die zur weiteren Gefahrenbeseitigung nötigen Mittel und Kräfte bereitzustellen. Schließlich darf die Polizei den Nichtstörer dann nicht einsetzen, wenn ihm erhebliche Gefahren für Leib oder Leben erwachsen oder wenn er wichtige Pflichten verletzen müßte 36 . 88 Durchaus zutreffend bezeichnet es Drews-Wacke, S. 247, als einen u n erträglichen Zustand i n einem geordneten Staatswesen, w e n n öffentliche Sicherheit u n d Ordnung gestört werden, obwohl eine objektive Möglichkeit vorhanden ist, diese Störung zu verhüten. 34 Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I RdNr. 85, S. 75 FN. 2, w i l l eine solche elementare Handlungspflicht nicht anerkennen; daher k o m m t er bei den v o r behaltslosen Grundrechten i n gewisse Schwierigkeiten. 85 Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 85, S. 75 hält eine derartige I n anspruchnahme f ü r unzulässig. 86 Hierzu i m ganzen Drews-Wacke, S. 250 ff.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Der Nichtstörer, der sich gegen eine polizeiliche Hilfsverpflichtung, die sich im Rahmen dieser Voraussetzungen hält, auf vorbehaltsfreie Grundrechte beruft, befindet sich, was die Grundrechte anbelangt, in derselben Situation wie ein Störer, dem die Beseitigung der von ihm geschaffenen Gefahrensituation abverlangt wird. Von beiden wird positives Tun gefordert, obwohl dadurch die Ausübung eines vorbehaltsfreien Grundrechts unmöglich wird. Beide schaffen in dem Augenblick, da sie die polizeiliche Maßnahme trifft, nicht erst die konkrete Gefahr für die Allgemeinheit, sondern sie unterlassen es nur, eine bestehende Gefahr mit eigenen Mitteln abzuwenden. Der Nichtstörer ist in diesen Fällen ebenso zu behandeln wie der Störer. Denn auch seine Berufung auf ein vorbehaltsloses Grundrecht steht im Widerspruch zu dem unabdingbaren, elementaren Interesse der Allgemeinheit an der Beseitigung konkreter Gefahrenlagen und ist daher mißbräuchliche Grundrechtsausübimg 37 . Wenn der Nichtstörer in einem solchen Fall im Gegensatz zum Störer eine Entschädigung bekommt, so läßt das nicht etwa auf das Fehlen einer entsprechenden immanenten Grundrechtsschranke schließen38, sondern hat seinen Grund allein in dem Umstand, daß der Nichtstörer eben nur subsidiär zur Gefahrenbeseitigung verpflichtet ist. Wenn es von Rechts wegen Sache des Störers bzw. des Polizeiträgers ist, die Kosten für die Gefahrenbeseitigung zu tragen, dann ist es nur folgerichtig, Dritten, die hilfsweise einspringen, den entstehenden Schaden zu ersetzen. Der Entschädigungsanspruch des Nichtstörers läßt sich vom Aufopferungsgedanken her ohne weiteres begründen. Die praktischen Auswirkungen der hier vorgetragenen Überlegungen sind nicht umwerfend. Schon mit dem bisherigen Störer-Denken konnten ähnliche Ergebnisse erzielt werden. Immerhin ist in § 330 c StGB eine weitreichende Hilfsverpflichtung für Nichtstörer normiert. I n den dort genannten Fällen braucht die Polizei gar nicht auf eine spezielle polizeirechtliche Ermächtigung gegen den Nichtstörer zurückzugreifen. Derjenige, der gegen die Hilfsverpflichtung des § 330 c StGB verstößt, wird ja insoweit zum Störer. Das bisher Gesagte — das bedarf nachdrücklicher Betonung — gilt nur für die Abwehr konkreter Gefahren und niemals bei abstrakten 37 Das w i r d v o n Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 85, S. 75 f., w o h l nicht ganz richtig gesehen. Dürig unterscheidet einmal beim Störer nicht z w i schen Sistierung der störenden Handlung u n d Beseitigung der fortbestehenden Störungslage. Z u m andern sieht er nicht die Konsequenz, die sich aus § 330 c StGB f ü r den Nichtstörer ergibt. 38 Hier versagt die v o n Düng, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 82, S. 73; RdNr. 85, S. 76, unternommene „ i n d u k t i v e Gegenprobe".
§ 26 Mißbrauchsreaktionen der vollziehenden Gewalt
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Gefahren, bei Gefahren des täglichen Lebens39. Die Befugnis, sich durch Konkretisierung der polizeilichen Generalklausel eine Ermächtigungsgrundlage für Maßnahmen gegen Grundrechtsträger zu schaffen, hat ihren Grund in der Erwägung, daß die Polizei durch ein striktes Gebot, jede Maßnahme auf eine Spezialermächtigung zu stützen, in ihrer ordnungserhaltenden Tätigkeit gehemmt oder gar gelähmt würde 40 . Um der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Dringlichkeitsfällen werden von den Forderungen der Rechtssicherheit Abstriche gemacht. Dieser Grund begrenzt zugleich die größere Befugnis der Polizei. Wo nur eine Gefahr des täglichen Lebens zu beseitigen ist, die sich noch nicht zu einer konkreten Gefahr verdichtet hat, geraten die Gebote der Rechtssicherheit und die Forderung nach Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht ernstlich in Konflikt. Führt daher eine mißbräuchliche Grundrechtsausübung nur zu einer abstrakten Gefahr, so hat die Exekutive ihr Einschreiten auf die Fälle zu beschränken, für die eine spezielle, rechtssatzmäßige Ermächtigung vorhanden ist. Gegebenenfalls muß sie auf den Erlaß einer solchen Ermächtigung hinwirken. Der Schwerpunkt der Mißbrauchsabwehr liegt dann wiederum bei den gesetzgebenden Organen. Ein Rückgriff der Exekutive auf irgendeine erst von ihr zu konkretisierende Generalklausel wäre verfassungsrechtlich nicht zulässig. Der Angelpunkt jeder letztlich selbständigen Maßnahme der Exekutive gegen einen Grundrechtsmißbrauch liegt somit im Begriff der konkreten Gefahr. Auf dessen inhaltliche Präzision, auf die Abgrenzung von der abstrakten Gefahr und von der bloß ordnungsgestaltenden Tätigkeit der vollziehenden Gewalt kommt es entscheidend an. Nur so läßt sich verhindern, daß der Beweglichkeitsfaktor der Generalklausel mit dem Machtfaktor der exekutiven Gewalt in eins zusammenfließen und so die Generalklausel aufhört, Maßstab zu sein, und zur einseitig und unkontrollierbar zu führenden Waffe wird 41 .
§ 27 Die Mißbrauchsreaktionen der richterlichen Gewalt
Gegenstand der Betrachtung sind auch hier nur die Maßnahmen, bei denen die Judikative selbständig und unmittelbar gegen den Grundrechtsträger vorgeht; nicht dagegen die Fälle, wo die Gerichte lediglich Kontrollaufgaben gegenüber der mißbrauchsabwehrenden Tätigkeit anderer staatlicher Stellen wahrnehmen. 89
Vgl. zu diesem Begriff Drews-Wacke, S. 390 m i t Nachweisen. Vgl. BGHZ 12, 197 (202 f.); BVerwGE 10, 164 (165); Nipperdey, rechte, Bd. I V , 2. Halbbd. S. 816. 41 So Hedemann, Flucht i n die Generalklauseln, S. 51 f. 40
Grund-
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3. Kap. : Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
I n zweifacher Weise hat sich die Judikative mit dem Mißbraucher zu befassen. Entweder sie reagiert auf einen Mißbrauchsfall, der sich zwischen zwei anderen Interessenträgern, ζ. B. zwischen zwei Grundrechtsträgern, abspielt oder abgespielt hat, oder sie wehrt einen Grundrechtsmißbrauch ab, der sich gegen ihre Eigeninteressen, ζ. B. gegen die Ordnungsgemäßheit des Verfahrens, richtet. I n beiden Fällen ist wieder zu unterscheiden, ob der Richter rein repressiv gegen einen Mißbraucher vorgeht, um ihn im konkreten Fall in seine Grenzen zurückzuweisen, oder ob der Richter für einen in der Vergangenheit liegenden Mißbrauchsfall eine Sanktion verhängt. Einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung bedarf es zur rein repressiven Abwehr mißbräuchlicher Grundrechtsausübungen nicht. Die richterliche Reaktion besteht in einer die Mißbrauchssituation berücksichtigenden Rechtsanwendung: Ein Antrag des Mißbrauchers auf Rechtsschutz für die mißbräuchliche Rechtsausübung wird abgewiesen42 oder einem Antrag auf Rechtsschutz gegen eine mißbräuchliche Rechtsausübung wird stattgegeben; oder man versagt anderen, während des Prozesses vorgenommenen Prozeßhandlungen den Rechtserfolg. Wenn dagegen die richterliche Reaktion über die reine Repression hinausgeht und nicht mißbräuchliche Arten der Grundrechtsausübung erfaßt, ist sie auf einen entsprechenden grundrechtlichen Vorbehalt und eine besondere gesetzliche Ermächtigimg angewiesen. Das gilt insbesondere für die Verhängung von Strafen, für Verurteilungen zur Schadensersatzleistung, aber z.B. auch dann, wenn ein Verteidiger auf Grund mißbräuchlichen Verhaltens von der weiteren Tätigkeit ausgeschlossen wird 4 8 . Vor allem die Aufgabe des Strafrichters geht über das bloß Repressive hinaus, Abwehrmaßnahmen gegen Grundrechtsausübungen, die tatbestandsmäßig strafbare Handlungen sind, hat er nicht zu treffen. So wie die Exekutive durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit gebunden ist, erfährt die Strafgewalt des Richters eine Beschränkung durch das Gebot: nulla poena sine lege. Es darf nicht, auch nicht gegenüber demjenigen, der seine Grundrechte mißbraucht hat, durchbrochen werden. In der Regel indiziert das straftatbestandsmäßige Verhalten eines Grundrechtsträgers nicht nur die strafrechtliche Rechtswidrigkeit, sondern zugleich, was im Hinblick auf das betroffene Grundrecht unerläßlich ist, ein „Handeln ohne Recht". Erst damit steht fest, daß der Grund«
Vgl. dazu etwa BVerfGE 12,1 (4) ; BGHZ 12,197 (202). Vgl. hierzu BVerfGE 15, 226; Ε. υ. Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte, S. 41 ff. behandelt dieses Problem gleichfalls, unterscheidet aber nicht scharf genug zwischen Mißbrauchsabwehr u n d Mißbrauchsvorbeugung. 43
§ 27 Die Mißbrauchsreaktionen der richterlichen Gewalt
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rechtsträger für die dem Strafgesetz zuwiderlaufende Tätigkeit keinen Grundrechtsschutz genießt. Nur so öffnen sich die Grundrechte der Verhängung einer strafrechtlichen Unrechtsfolge. Eine Ausnahme gilt dort, wo die Pönalisierung eines Verhaltens gerade wegen der Grundrechte oder wegen anderer Grundsätze des Verfassungsrechts unzulässig ist. Auch bei der Bemessung der Unrechtsfolge hat der Strafrichter auf die Grundrechte zu achten. Da ja nur das konkrete mißbräuchliche Verhalten, also nur die Verletzung der einschlägigen Strafnorm vom Grundrechtsschutz ausgenommen ist, trifft die strafrechtliche Unrechtsfolge den Grundrechtsträger eben gerade nicht an Stellen, wo er seinen Rechtsbereich überschreitet. Sie erreicht ihn erst nachträglich, wenn die Mißbrauchshandlung längst abgestoppt ist. Mithin handelt es sich um eine konstitutiv wirkende Grundrechtsverkürzung, denn sie beschneidet den Grundrechtsträger in Rechtsausübungen, die als solche nicht mißbräuchlich sind44. Daher hat der Strafrichter die von ihm verhängten Unrechtsfolgen an den formellen 45 und materiellen Eingriffsschranken auszurichten 46. I m Gegensatz zum Strafrichter stehen dem Zivilrichter auch repressive Mittel gegen Grundrechtsmißbräuche zur Verfügung. Er kann einstweilige Verfügungen erlassen, vorbeugenden Unterlassungsklagen stattgeben oder durch klagabweisende Urteile den Rechtsschutz versagen bzw. gegen den Mißbraucher Rechtsschutz gewähren. Die Befugnis zum Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß §§ 935, 940 ZPO ersetzt die polizeiliche Generalklausel für die Fälle, in denen Gefahren für ein Recht oder den Rechtsfrieden eingetreten sind, denen der „öffentliche Bezug" fehlt. Der Zivilrichter handelt insoweit gewissermaßen als „Privatrechtspolizist". I m Wege der einstweiligen Verfügung darf er auch gegen Verhaltensweisen vorgehen, die im Schutzbereich eines unbeschränkbaren Grundrechts liegen. Allerdings sind hierbei gewisse Voraussetzungen zu beachten. Nach §§ 935, 936, 920 ZPO hat der Antragsteller nur glaubhaft zu machen, daß für eines seiner Rechte eine Vereitelungsgefahr oder eine wesentliche Verwirklichungserschwerung besteht. Da jedoch nicht jedes subjektive Zivilrecht jedes Grundrecht beschränkt, vielmehr zwischen beiden eine Wechselwirkung stattfindet, die eine konkrete Interessenabwägung erfordert, genügt es zur Begründung einer einstweiligen Verfügung nicht, sich auf irgendein subjektives Zivilrecht zu berufen. Es müssen Umstände hinzutreten, deren Würdigung das Verhalten des Antragsgegners eindeutig als 44
Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 77, S. 65 f. Z u r Frage der Anwendbarkeit des A r t . 19 Abs. 1 S. 2 G G Stree, Deliktsfolgen u n d Grundgesetz, S. 229 ff. 46 I m einzelnen dazu Stree, aaO. pass. 45
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Grundrechtsmißbrauch erscheinen lassen. Aus diesem Grund darf beispielsweise in das Grundrecht nach Art. 17 GG eingegriffen und durch einstweilige Verfügung eine Petition verhindert werden, wenn und soweit diese entweder eine Formalbeleidigung (§ 192 StGB) enthält oder so offenkundig beleidigend und herabsetzend für den Antragsteller ist bzw. so offensichtlich den Zweck hat, das Ansehen seiner Person zu mindern, daß sie als Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht mehr in Betracht kommt. Gleichermaßen ist auch einer vorbeugenden Unterlassungsklage stattzugeben, wenn sich eindeutig nachweisen läßt, daß die Berufung auf ein Grundrecht zum Schutz vor dem Verpflichtungsurteil mißbräuchliche Grundrechtsausübung wäre 47 . Entsprechendes gilt auch für die Klagabweisung gegenüber dem Mißbraucher. Die Tatsache, daß er mit seiner Handlung den freiheitlichen Gehalt eines unbeschränkbaren Grundrechts realisiert, verschafft ihm keinen absoluten Rechtsschutz. Er muß es sich gefallen lassen, daß die Entscheidung zugunsten eines anderen Interessenträgers ergeht, wenn seine Rechtsausübung mißbräuchlich ist. Mit dem Einwand, ein solches Urteil verstoße gegen die Grundrechte, hatte sich der Bundesgerichtshof bereits zu befassen 48: Ein Wissenschaftler hatte versprochen, ein historisches Werk entsprechend einem von ihm gefertigten Entwurf zu verfassen. Dem fertigen Werk lag eine Weltanschauung zugrunde, die von der Tendenz des Entwurfes erheblich abwich. Der Verfasser klagte auf Zahlung des vereinbarten Preises und machte geltend, eine Klagabweisung würde sein Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG beschneiden. Die Klage wurde mit der Begründung abgewiesen: „... daß es grundsätzlich im freien Belieben des Künstlers oder Gelehrten liegt, ob er die Verpflichtung zur mustergemäßen Lieferung eines von ihm gestalteten Werkes übernehmen will. Hat er sich aber dazu entschlossen, eine solche Bindung einzugehen, so liegt ein wirksamer Vertrag vor, in dessen Rahmen die Belange des anderen Teils nicht vernachlässigt werden dürfen. Deshalb kann ein Künstler oder Gelehrter, wenn er einen sich als Kauf nach Muster darstellenden Vertrag abgeschlossen hat, wegen einer Änderung seiner künstlerischen oder wissenschaftlichen Auffassung sich nicht mit der Wirkung auf den Grundsatz der Freiheit von Kunst und Wissenschaft berufen ..., daß er dem Abnehmer ein dem Muster nicht 47 I m Ergebnis ebenso OLG München, U r t . v. 25. 4. 56, N J W 57, 795. Α. A . Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 17, RdNr. 53, S. 27 f., jedoch i m Widerspruch zu der bei A r t . 2, RdNr. 76, S. 63, dargelegten Ansicht (Sperrwirkung der Verbotsnormen des Strafrechts gegenüber jeglicher Grundrechtsausübung). Α. A. O L G München, Urt. v. 28.10. 55, N J W 57, 793 f., sowie Arndt, N J W 57, 1072 (1073); dieser stellt das gute Recht der Allgemeinheit auf Information u n d A u f k l ä r u n g i n den Vordergrund. 48 BGH, Urt. V. 26.11. 57, JZ 58, 309 f.
§28 Vorbemerkung
115
entsprechendes Werk aufzwingen und von ihm Abnahme und Bezahlung eines solchen Werkes verlangen kann." Der Zivilrichter ist aber nicht auf rein repressive Maßnahmen beschränkt. Er kann eine konkrete Mißbrauchshandlung auch durch grundrechtsverkürzende zivilrechtliche Rechtsnachteile ahnden, etwa indem er eine Vertragsstrafe zuerkennt oder den Mißbraucher zu einer Ausgleichsleistung verurteilt. So darf z.B. dem Inhaber eines Tendenzbetriebes ein Schadensersatzanspruch für den Schaden zugesprochen werden, den ihm ein Angestellter zufügt, der wegen einer Änderung seiner weltanschaulichen Einstellung ohne Berücksichtigung bestehender vertraglicher Bindungen seinen Arbeitsplatz vei;läßt. Der Grundrechtsträger kann sich nicht darauf berufen, daß diese nachteilige und mit staatlicher Hoheitsgewalt durchsetzbare Rechtsfolge die Ausübung seines Rechts aus Art. 4 Abs. 1 GG in unzulässiger Weise einengt4®.
49 Vgl. zu diesem Fragenkreis Arwed Habscheid, JZ 54,213 ff.
8·
Blomeyer,
J Z 54, 309 ff.; Bosch u n d
Zweiter Abschnitt
Die besonderen Mißbraucksfolgen des Grundgesetzes §28 Vorbemerkung
Das Grundgesetz droht für Grundrechtsausübungen, die sich gegen bestimmte verfassungsrechtliche Schutzgüter richten, besondere Sanktionen an: Wer gewisse Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte (Art. 18). Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnimg zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden, sind nach Art. 21 Abs. 2 S. 1 verfassungswidrig. Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind gemäß Art. 9 Abs. 2 verboten 50. Das führt zu der Frage, wie sich die Tatbestände dieser Sanktionsnormen zu den im zweiten Kapitel dargestellten Mißbrauchslagen verhalten 51 . Es liegt nur zu nahe, hier an verfassungsrechtlich positivierte Mißbrauchstatbestände zu denken. Weiterhin ist das Verhältnis der genannten verfassungsunmittelbaren Sanktionen zu den allgemeinen Mißbrauchsfolgen und zueinander zu klären. Dabei geht es vor allem um das Problem, ob und wieweit jede der verfassungsrechtlichen Sanktionen andere Sanktionen ausschließt, also eine Sperrwirkung entfaltet, bzw. weitere Sanktionen zuläßt, also parallel wirkt. Vorab ist vor einem Trugschluß zu warnen: Aus den positiven verfassungsrechtlichen Sanktionsnormen läßt sich keine Ausschließlichkeit für alle Mißbrauchslagen herleiten 52 . Weder Art. 9 Abs. 2 noch Art. 18, noch Art. 21 Abs. 2 vermögen die Annahme zu begründen, daß jede Be50 A r t . 26 GG, der an sich auch hierher gehört, ist f ü r die zu behandelnden Fragen ohne große Bedeutung. Z u r grundrechtsbegrenzenden W i r k u n g der Vorschrift, vgl. Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 26 RdNr. 3 f., S. 3 f. 51 I n Betracht kommen insbesondere die Mißbrauchslagen, bei denen sich die Grundrechtsausübung gegen die staatliche Existenz oder die staatliche Grundnorm richtet; vgl. oben §§ 21 u n d 22. 52 I n diese Richtung tendiert anscheinend Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (99).
§ 28 Vorbemerkung
117
tätigung, die außerhalb dieser Tatbestände bleibt, schlechterdings erlaubt sei53. Es kann gar kein Zweifel sein, daß gegen eine Vereinigung, die die öffentliche Ordnung stört oder die gegen das Sittengesetz verstößt, eingeschritten werden darf; daß der Mißbrauch elterlicher Gewalt verhindert werden kann und daß Parteifunktionäre, die sich, wenngleich in Übereinstimmung mit der Parteilinie, etwa bei Saalschlachten strafbar gemacht haben, zu bestrafen sind.
» Ebenso BGHSt 17, 38 (39); Löffler,
NJW 60, 29 (30); Copié , JZ 63, 494
(496); Stree, Deliktsfolgen u n d Grundgesetz, S. 225 FN. 30; Düng, rig, A r t . 18, RdNr. 96, S. 35.
Maunz-Dü-
Erster Unterabschnitt
Die Grundrechtsverwirkung A. Die materiell-rechtliche Seite I. D e r T a t b e s t a n d §29 Die Mißbrauchshandlung
Die nach Art. 18 S. 1 tatbestandsmäßige Handlung muß sich als Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung erweisen. Der Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung ist enger als der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung i. S. d. Art. 2 Abs. 1. Die Wortverbindung „freiheitlich demokratisch bewirkt eine Spezifizierung. Das Bundesverfassungsgericht 54 hat den Begriff folgendermaßen umschrieben: Die freiheitlich demokratische Grundordnung ist eine Ordnung, „die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition55." Das Gewicht dieser Definition liegt in der Eingangsformel: „unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft". Vorschriften des M
BVerfGE 2 , 1 (12 f.) ; 5, 85 (140). Z u m Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung: Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 46 ff., S. 16 ff.; ders., J Z 52, 513 (516); Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21, RdNr. 114, S. 40 f.; v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 4 b, S. 533; Wernicke , K o m m . A r t . 18, Erl. 1 d, S. 5 f.; Hamann, K o m m . A n m . Β 3, S. 140; Geiger, K o m m . Vorbem. vor § 36, A n m . 6, S. 135 f., Lechner, K o m m . § 13 Ziff. 1, A n m . 3, S. 70 f. Echterhölter, JZ 53, 656 f. Ruhrmann, N J W 56, 1817 ff. Wilke, V e r w i r k u n g , S. 29 ff.; W. O. Schmitt, D Ö V 65,433 ff. 55
§ 29 Die Mißbrauchshandlung
119
Grundgesetzes, die zu Freiheit und Demokratie in Beziehung stehen, sind nicht deswegen auch schon Bestandteil der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Der Begriff meint vielmehr nur die unabdingbare Grundsubstanz aller Gegensätze zum totalitären Staat 56 . Er ist am „Wertzentrum" des Art. 1 GG und am „Konstitutionszentrum" des Art. 20 GG orientiert. Daher geht er in der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG auf 57 . „Kampf" gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung ist im übertragenen Sinn zu verstehen 58. Gemeint ist jede Handlung, die auf Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung hinausläuft. Anwendung physischer Gewalt ist nicht erforderlich. Auch in der psychologischen Beeinflussung (Verführung und Mobilisierung der Massen, Unterwanderung usw.) kann ein „Kampf" liegen. Der Kampf begriff des Art. 18 setzt nicht voraus, daß nach menschlichem Ermessen Aussicht besteht, in absehbarer Zukunft mit den eingesetzten Mitteln das gesteckte Ziel zu erreichen 59. Weder nach seinem Wortlaut noch nach seinem Zweck bietet Art. 18 einen zureichenden Anhaltspunkt für die Ansicht, Gefährlichkeit der Handlung gehöre zum Tatbestand80. Das Maß der Gefahr ist erst auf der Rechtsfolgeseite zu berücksichtigen. Die einzelnen Handlungen oder deren Begleitumstände müssen allerdings eine Beeinträchtigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung erkennen lassen; sie müssen durch eine andauernde®1, planvoll erscheinende aggressive Tendenz verbunden sein62. Diese Tendenz fehlt bei sachlicher Kritik, bei gelegentlichen abwertenden Bemerkungen, bei einmaligen Entgleisungen63. Indizien für Aggressivität sind vor allem Massivität des Vorgehens und häufige Wiederholung 64 . 56 So Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 48 ff., S. 17 ff.; W. O. Schmitt, D Ö V 65, 433 (437). 67 So schon Herrfahrdt, K o m m . A r t . 79, Erl. 3, S. 3. Vgl. neuerdings die U n tersuchung v o n W. O. Schmitt, D Ö V 65, 433 ff. Danach seien alle Elemente des A r t . 79 Abs. 3 i m Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung enthalten. Schmitt neigt auch der Ansicht zu, daß sich die Grundsätze des A r t . 79 Abs. 3 u n d der Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung deckten. Α. A. Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21, RdNr. 115, 41 f.; Wilke, Verwirkung, S. 36 f. 58 v. Weber, Verhandl. d. 38. D J T (1950), E 11. 5» v g l . hierzu die beachtenswerte Parallele i m Parteiverbotsverfahren BVerfGE 5, 85 (143). 80 So aber Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 41, S. 14 m i t weiteren Nachweisen FN. 6. BVerfGE 11, 282 gibt f ü r diese Frage nichts her. (Wenn die A n griffe nicht fortgesetzt werden, fehlt es am M e r k m a l Kampf.) 61 Vgl. BVerfGE 11, 282 (283). « Vgl. die Parallele BVerfGE 5, 85 (141). 63 So auch Geiger, K o m m . Vorbem. vor § 36, A n m . 6, S. 136. 84 Vgl. v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 4 a, S. 532 f.
120
3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Die Einzelhandlungen werden in der Regel in positivem Tun bestehen. Bei der Würdigung des Gesamtverhaltens darf aber auch ein Unterlassen berücksichtigt werden. Voraussetzung ist selbstverständlich eine Pflicht zum Handeln, also eine Art verfassungsrechtliche Garantenstellung 85 . Da das Grundgesetz keine allgemeine Pflicht, für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten, statuiert, können insoweit nur solche Personen in Betracht kommen, die durch die Verfassimg oder auf Grund der Verfassung besonders in Pflicht genommen sind, wie ζ. B. der Bundespräsident (Art. 56 Abs. 2, Art. 61; die Mitglieder der Bundesregierung (Art. 64 Abs. 2); die Beamten (Art. 33 Abs. 5, § 52 Abs. 2 BBG, § 35 Abs. 1 BRRG) und die Soldaten (Art. 17 a, § 8 SoldatenG)88. Die Rechtsfolge des Art. 18, die Verwirkung ist keine Strafe, sondern eine Maßnahme des Verfassungsschutzes® 7. Deshalb sind auf der subjektiven Seite keine besonderen Anforderungen zu stellen. Es genügt, wenn die einzelnen Handlungen, die sich zu der Gesamtheit „Kampf" zusammenfügen, jeweils natürlichen Handlungswillen erkennen lassen. Ein besonderer Kampfwille in Form eines alle Einzelhandlungen umfassenden Gesamtwillens braucht nicht vorzuliegen. Ebensowenig bedarf es einer speziellen Schuldfeststellung. Es kommt also weder darauf an, daß der Grundrechtsträger vorsätzlich handelt, noch daß er das entsprechende Unrechtsbewußtsein besitzt, noch daß er schuldfähig ist 88 . Das Wort „mißbraucht" enthält kein selbständiges Tatbestandsmerkmal. Allgemein versteht man unter Rechtsmißbrauch: Ausübung eines Rechts, die dem Sinn dieses Rechts zuwiderläuft 89 . Die Sinnverkehrung liegt hier bereits im Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung 70. Aus diesem Grund gibt es neben dem unzulässigen Mißbrauch eines der in Art. 18 genannten Grundrechte nicht noch einen zulässigen Gebrauch zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung 71. Ebenso Kessler, Diss. S. 60. V o m Wortlaut des A r t . 18 her bestehen keine Bedenken, bei diesen Personen auch ein Gesamtverhalten, das sich n u r aus Unterlassungen zusammensetzt, als Mißbrauch zu qualifizieren. Denn Grundrechtsmißbrauch ist die Kehrseite des Grundrechtsgebrauchs, u n d dazu zählt jede Realisierung des freiheitlichen Gehalts eines Grundrechts. Α. A. Düng, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 36, S. 13. Doch ist diese Frage w o h l rein theoretischer Natur. 67 Vgl. unten § 34. 68 Vgl. v. Mangoldt-Klein, A r t . 18 A n m . I I I 4 a, S. 531; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18 RdNr. 38, S. 14 m i t weiteren Nachweisen. ββ Vgl. Siebert, V e r w i r k u n g u n d Unzulässigkeit der Rechtsausübung, S. 97 ff.; ders., V o m Wesen des Rechtsmißbrauchs, S. 19 f.; Wernicke , K o m m . Erl. 1 c ß S. 4; Maunz, Staatsrecht, § 16 I I 2, S. 124; Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (98). 70 So schon ν . Weber, Verh. D J T 1950, E 11. 71 Ebenso v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 4 d, S. 535; Wernicke , K o m m . A r t . 18, Erl. 1 c a, S. 4; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 36, S. 13 f. ββ
§30 Der Mißbrauchstäter
121
Tatbestandsmäßig ist nur der Mißbrauch der in Art. 18 aufgeführten Grundrechte. Das sind: die Meinungsäußerungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum und das Asylrecht. Die Aufzählung ist im Hinblick auf die Verwirkungsfolge abschließend. Die Verwirkungsfolge darf also nicht verhängt werden, sofern im Rahmen eines anderen Grundrechts, ζ. B. der Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses, des elterlichen Erziehungsrechtes oder der Privatschulfreiheit gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gekämpft wird 72 . S 30 Der Mißbrauchstäter
Den Tatbestand des Art. 18 kann jeder erfüllen, der Träger der genannten Grundrechte ist. Juristische Personen, wie natürliche Personen73, aber auch Vereinigungen ohne allgemeine Rechtsfähigkeit, denn auch sie sind Grundrechtsträger 74. Für Vereinigungen und Parteien gelten allerdings Sondervorschriften, nämlich Art. 9 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 S. I 7 5 .
II. Die Rechtsfolge 1. Der Verwirkungsbegriff
des Art. 18 GG
S 31 Deutungsmöglichkeiten
Art. 18 knüpft an das tatbestandsmäßige Verhalten die Rechtsfolge der Verwirkung. Was das Grundgesetz damit meint, ist nicht unmittelbar erkennbar. Verwirken bedeutet im Sprachgebrauch, daß man auf Grund zurechenbaren Verhaltens um etwas kommt 76 . Das läßt gerade 72 Z u der Frage, w i e sich diese Beschränkung i m übrigen auf die nicht v e r w i r k b a r e n Grundrechte auswirkt, insbesondere, ob diese Grundrechte, nachdem eine V e r w i r k u n g ausgeschlossen ist, ungehindert kämpferisch ausgeübt werden dürfen, vgl. unten § 41. 78 Vgl. Düng, Maunz-Dürig, A r t . 18 RdNr. 19 f. S. 9 f. m i t Nachweisen S. 10, FN. 1. 74 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 19 Abs. I I I , RdNr. 55 ff. S. 35 ff. 75 Wegen des Verhältnisses dieser Vorschriften zu A r t . 18 vgl. unten §§ 49 f. 78 Vgl. hierzu Siebert, V e r w i r k i m g , S. 2 8 1 ; ders. Soergel-Siebert, §242 A n m . 174, S. 852 f.; Weber, T r e u u n d Glauben, A n m . D 564 ff. S. 902 ff.; Schüle, VerwArch. 39,1 (32 f.); Forsthoff, Verwaltungsrecht, § 9, S. 165 f.; Stich, DVB1. 56, 325 (326); Wernicke, K o m m . A r t . 18, Erl. 1 g, S. 6 f. I m einzelnen Darstellungen bei Wilke, V e r w i r k u n g , S. 38 ff.; Hönsch, Diss. S. 1 ff.; Klemmer, Diss. S. 33 f.; Hartmann, Diss. S. 3 ff.; S. 43 ff.; Kind, Diss. S. 7 ff.; Hlawaty, Diss. S. 3 ff.
122
3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
die entscheidende Frage offen, nämlich welche Schutzbereiche der Grundrechte von der Verwirkung erfaßt werden. Der Verwirkungsbegriff läßt im wesentlichen drei Deutungsmöglichkeiten zu 77 .
a) Punktuelles Verwirkungsverständnis Man könnte der Ansicht sein, daß die Verwirkung nur den Grundrechtsschutz in bezug auf die konkrete Mißbrauchshandlung erfaßt. Dem läge die Vorstellung zugrunde, daß selbst der Mißbrauch nach Art. 18 sich noch unter dem Schein einer grundrechtlichen Berechtigung vollzieht und daß es — eben zum Schutz des Grundrechtsträgers — einer förmlichen Beseitigung dieses Grundrechtsscheines durch das Bundesverfassungsgericht bedarf. Dieses als „punktuell" zu bezeichnende Verwirkungsverständnis wurde in der Literatur gelegentlich vertreten. Nach ν . Mangoldt 78 bedeutet Verwirkung, daß das gewährleistete Grundrecht solange und soweit es der Grundrechtsträger mißbraucht, keinen Schutz mehr gewährt. Ähnlich faßt auch Keßler die Rechtsfolge des Art. 18 auf. Er meint, der Gegenstand des auslösenden Tatbestandes und der Gegenstand des Verlustes seien identisch. Die Grundrechte könnten nicht über ihren mißbrauchbaren Teil hinaus verwirkt werden 79 . Das „punktuelle" Verwirkungsverständnis führt zu einer weitreichenden Sperrwirkung des Art. 18 gegenüber den allgemeinen Mißbrauchsfolgen. Einmal müßte dann wohl im Wege des Umkehrschlusses aus der Aufzählung der verwirkbaren Grundrechte entnommen werden, daß gegen den Mißbrauch der in Art. 18 nicht genannten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung überhaupt nicht, also nicht einmal durch das Bundesverfassungsgericht vorgegangen werden dürfte, weil sich der Anschein einer Grundrechts-Berechtigung nach dem so verstandenen Willen des Grundgesetzes eben nicht beseitigen ließe. Zum anderen ergäbe sich, wenn man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch dazu für konstitutiv hält 80 , daß alle Maßnahmen, die vor der Verwirkungsentscheidung gegen den Mißbraucher getroffen werden, verfassungswidrig sind. 77 Das übersehen beispielsweise Süsterhenn-Schäfer, K o m m . A r t . 133, A n m . 2 c, S. 469; Bennewitz, D Ö V 49, 341 (343). 78 K o m m . A r t . 18, Anm. 2, S. 115. Ebenso HessStGH Beschl. v. 27. 7. 51, N J W 51, 734; ähnlich Scheuner, Festschrift für K a u f m a n n 1950, S. 329. 79 Kessler, Diss. S. 43 u n d S. 48. 80 Was allerdings v. Mangoldt, K o m m . A r t . 18, A n m . 2, S. 115, nicht getan hat, obgleich einiges f ü r diese rechtliche K o n s t r u k t i o n spricht. Vgl. hierzu Düng, JZ 52, 513; i h m folgend Hönsch, Diss. S. 30.
§ 31 Deutungsmöglichkeiten
123
Mit diesem Verwirkungsverständnis wäre z.B. die Weltjugendfestspiele-Entscheidung des Bundesgerichtshofes 81 nicht zu vereinbaren. Dort wird die Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Beschlagnahme kommunistischen Propagandamaterials mit der Erwägimg begründet, die Polizei dürfe immer dann eingreifen, wenn der Mißbrauch gerade darin besteht, daß sich der Bürger zur Rechtfertigung seines Tuns zu Unrecht auf seine Freiheit beruft, weil sein Verhalten über den eigenen Freiheitskreis hinauswirkt und z.B. die verfassungsmäßige Ordnung verletzt 82 . Hier könnte in der Tat von einer „kalten Grundrechtsverwirkung" gesprochen werden 83 . Als weitere Konsequenz ließe sich eine tiefgreifende Lähmung des politischen Strafrechts nicht vermeiden. Auf Grund von Straftatbeständen, die Kampfhandlungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung zum Gegenstand haben, dürfte erst bestraft werden, wenn das Bundesverfassungsgericht die einschlägigen Grundrechte über Art. 18 als mißbraucht und verwirkt festgestellt hat 84 . Insgesamt bewirkte Art. 18, wenn man den Verwirkungsbegriff „punktuell" faßt, eine Rechtsstellung des Mißbrauchers, die der Stellung einer Partei vor dem Verbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 gleichkommt 85 . Niemand dürfte sich vor dem Verwirkungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes auf die Verfassungswidrigkeit einer Handlung des Grundrechtsträgers berufen, die sich als Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung darstellt. Art. 18 erwiese sich bei dieser Auslegung nachgerade als Privileg für Angriffe auf die freiheitlich demokratische Grundordnung.
b) Generelles Verwirkungsverständnis Der Begriff Verwirkung in Art. 18 läßt sich weiterhin so verstehen, daß er für die konkrete grundrechtsmißbräuchliche Handlung keinerlei Bedeutung besitzt und lediglich den Schutz für künftige Grundrechtsausübungen betrifft. Die Verwirkung zeigt sich hier nicht als „punktuelle", gegen den Mißbrauchsfall gerichtete Maßnahme, sondern als pauschalierend generell. Dem Grundrechtsträger wird das Grundrecht für die Zukunft aberkannt. 81
BGHZ12,197. BGHZ 12,197 (203). 88 So Beyer, N J W 54, 713. 84 Eine Folge, die sich durch einen Hinweis auf A r t . 143 a. F. allenfalls abm i l d e r n ließe. 85 Vgl. hierzu unten § 48. 82
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3. Kap. : Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Diese Auffassimg wird am entschiedensten von Klein 8* vertreten. Nach ihm betrifft Art. 18 nicht die grundrechtsdynamische Rechtmäßigkeit einer konkreten Inanspruchnahme — diese soll schon im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 unzulässig sein —, sondern die grundrechtsstatische Befugnis, überhaupt — und zwar auch dann, wenn im Einzelfall die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht berührt wird — Grundrechtsbestimmungen in Anspruch zu nehmen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts soll ex nunc wirken 87 . Die Ansicht Kleins teilen u.a. Maun^ 8 , Dürig 89, Stein 90, Lechner 91, Echterhölter 92f Reissmüller 98 und Sigloch 94* 9δ. Die Sperrwirkung des Art. 18 gegenüber den allgemeinen Mißbrauchsfolgen ist bei dieser Auslegung verhältnismäßig bescheiden. Zunächst würde Art. 18 mindestens nicht schon vom Verwirkungsbegriff her ausschließen, daß man den Mißbrauch anderer als der genannten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung unterbindet und verfolgt. Derartige Maßnahmen hingen dann ja gerade nicht von einem vorhergehenden Verwirkungsausspruch durch das Bundesverfassungsgericht ab. Wer eine Privatschule aufbaut, um Kinder in antidemokratischer, totalitärer Gesinnung zu erziehen, könnte sich also gegen eine schulaufsichtliche Verfügung nicht auf das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 18 berufen 9®. Zum andern dürfte auch ohne Vorabentscheidung des Bundesverfassungsgerichts repressiv gegen den Mißbrauch der in Art. 18 genannten Grundrechte vorgegangen werden. Die Polizei wäre also ohne weiteres befugt, im Rahmen gesetzlicher Ermächtigungen die Verbreitung von 88
v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I 5, S. 520. Klein, aaO. A r t . 18, A n m . I V 2 c, S. 537. 88 Staatsrecht, § 16, 2, S. 124; i h m folgend Hamann, K o m m . A r t . 18, Β 6, S. 191. 89 Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 16, S. 9; RdNr. 68, S. 22 (abweichend v o n Düng, JZ 52, 513 [517], w o dem Verwirkungsausspruch noch R ü c k w i r k u n g auf den Zeitpunkt des mißbräuchlichen Verhaltens beigelegt wurde; dem folgend Geiger, K o m m . Vorbem. vor § 36, A n m . 4, S. 135; gegen diese Ansicht Echterhölter, JZ 53, 656 [657]; Reissmüller, J Z 60, 529 [532] m i t FN. 27). 90 Zinn-Stein, K o m m . A r t . 17, A n m . 3, S. 146 f. 91 K o m m . § 13 Ziff. 1, A n m . 1, S. 70; § 39 A n m . 1, S. 197. 92 J Z 53, 656 (657). 98 JZ 60, 529 (532) ; i h m folgend Copié, J Z 63,494 (497). 94 M D R 64, 881 (882 f.). 95 Weitere Vertreter: Wilke, Verwirkung, S. 52 f.; Hans H. Klein, D Ö V 62, 41(42); Haller, Diss. S. 41 f.; S. 88 ff.; Hartmann, Diss. S. 125; Hönsch, Diss. S. 30; Klemmer, Diss. S. 32, S. 38; Wagner, Diss. S. 36. 98 Ob eine schulaufsichtliche Verfügung i n diesem F a l l m i t A r t . 7 Abs. 4 S. 1 vereinbar ist, muß hier noch offenbleiben. Vgl. dazu i m einzelnen unten §41. 87
§32 Die Auslegungskriterien
125
Propagandamaterial, das dem Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung dient, zu untersagen 97. Ein Arbeitgeber könnte einem Arbeitnehmer, der sich im Betrieb für ein totalitäres Staatssystem einsetzt, kündigen; die Meinungsäußerungsfreiheit des Arbeitnehmers wäre insoweit ohne Gewicht 98 . Es dürften alle Maßnahmen verhängt werden, die nicht auf eine verwirkungsgleiche Aberkennung der mißbrauchten Grundrechte hinauslaufen 99.
c) Kombiniertes Verwirkungsverständnis Schließlich läßt sich auch ein Verwirkungsbegriff denken, bei dem einmal der konkreten Mißbrauchshandlung der Anschein der Grundrechtsmäßigkeit genommen und darüber hinaus dem Grundrechtsträger für die Zukunft die Möglichkeit entzogen wird, sich überhaupt auf die von der Verwirkung betroffenen Grundrechte zu berufen. Es handelt sich hier letztlich um eine Kombination des punktuellen und des generellen Verwirkungsverständnisses. Auch diese Auslegung hat ihre Anhänger. So hat sich erst neuerdings Willms zu der These bekannt: Vor dem Verwirkungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts kann der Angriff des einzelnen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung für sich allein genommen so wenig strafbegründendes Unrechtselement eines strafrechtlichen Tatbestandes wie Gegenstand administrativer Schmälerimg von Grundrechten sein 100 . Bei dieser Auffassung läuft die Sperrwirkung des Art. 18 auf eine Addition der Wirkungen hinaus, die sich beim punktuellen und beim generellen Verwirkungsverständnis ergaben.
§32 Die Auslegungskriterien
Gegen keine der dargelegten Auslegungsmodalitäten läßt sich aus dem Wortlaut des Art. 18 schlüssig argumentieren. ®7 So BGHZ 12,197 (200). 98 So BAG 2,266 (276) ; ΟVG Koblenz, A S RhPf. 1,23 (36). M So BVerfGE 10, 118 (123); 13, 46 (51); Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 65, S. 22; Reissmüller, JZ 60, 529 (530); Copié , J Z 63, 494 (498); Sigloch, M D R 64, 881 (883); Wilke, V e r w i r k u n g , S. 115. Vgl. i m übrigen auch die Rechtsprechung des BGHSt 6,336; 7, 222; 9,285; 11,171; 11, 233. 100 N J W 64, 225 (227); ähnliche Gedankengänge finden sich bei Copié , JZ 63, 494 (497); Ridder, Grundrechte, Bd. I I , S. 289 f.; Löf 1er, D Ö V 57, 897 (899 f.); Beyer, N J W 54, 713.
126
3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Die Rechtssprache verwendet den Begriff „Verwirkung" durchaus in den hier in Betracht kommenden Spielarten. Mal bedeutet „verwirken" nämlich, daß ein bestimmtes Tun eine bereits vorhandene Grenze des subjektiven Rechts sichtbar werden läßt, so daß es zum Handeln ohne Recht wird 1 0 1 — was dem punktuellen Verwirkungsverständnis entspricht —; mal bezeichnet es einen vom Gesetzgeber eigens angedrohten Rechtsverlust, der nicht schon in der Struktur des betroffenen subjektiven Rechts angelegt ist 102 — hier liegt mithin ein generelles Verwirkungsverständnis zugrunde. Neu wäre lediglich die Kombination von punktuellem und generellem Verwirkungsverständnis. Doch reicht das nicht aus, um diese Modalität auszuschließen. Auch der Hinweis in Art. 18 S.'2, daß die Verwirkimg „auszusprechen" sei, führt nicht weiter. Zwar spricht diese Formulierung für eine rein konstitutive Verkürzung an sich eingeräumter Rechtsbefugnisse. Aber damit entfällt noch nicht die Möglichkeit, daß erst der Verwirkungsausspruch die Abwehr konkreter Mißbrauchshandlungen zulässig macht. Die Aberkennung eines in diesem Fall nur vorläufigen Grundrechtsschutzes wäre eine echte Rechtsfolge und könnte rechtstechnisch einem förmlichen „Ausspruch" unterworfen werden 103 . Konstitutiv sind nämlich auch solche Urteile, bei denen die rechtskräftige Feststellung eines Tatbestandes vorliegen muß, ehe sich jemand auf diesen Tatbestand berufen darf 104 . Das Gebot, das „Ausmaß" der Verwirkung auszusprechen, trägt gleichfalls nichts zur Bestimmung des Verwirkungsverständnisses bei. Jede der dargestellten Auslegungsmöglichkeiten bietet Raum für eine Ausmaßdifferenzierung. Selbst wenn man der Ansicht folgt, daß die Verwirkung nur punktuell den konkreten Mißbrauchsfall erfaßt, kann man den Umfang der Eingriffsbefugnisse noch verschieden bemessen. Ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Art. 18 hilft kaum weiter. Nach Art. 20 HChE 1 0 5 sollte derjenige, der bestimmte Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung mißbraucht, das Recht verwirken, sich auf diese Grundrechte zu berufen, und das Bundesverfassungsgericht sollte auf Beschwerde entscheiden, ob diese Voraussetzung vorliegt. 101 E t w a i m F a l l der sogenannten „technischen V e r w i r k u n g " , dem U n t e r f a l l der nach § 242 B G B unzulässigen Rechtsausübung. 102 Vgl. die Fälle der §§ 339,1676 BGB. 103 So auch Wernicke , K o m m . A r t . 18, Erl. 2 a β, S. 8; a. A . Dürig, J Z 52, 513. 104 Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozesses, § 87 I I 2, S. 413. 105 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee v o m 10. bis 23. August 1948, S. 63.
§ 32 Die Auslegungskriterien
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Art. 20 b Abs. 2 des Entwurfs zum Grundgesetz in der Fassung der 1. Lesung des Hauptausschusses106 sah vor, daß, wer bestimmte Grundrechte mißbraucht, diese Grundrechte verwirkt. Auf Initiative des Allgemeinen Redaktionsausschusses erhielt die Vorschrift bei der 2. Lesung im Hauptausschuß den Zusatz, wonach die Verwirkung und ihr Ausmaß durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden 107 . Bei den Beratungen des Hauptausschusses zu diesem Zusatz berief sich v. Mangoldt auf die Notwendigkeit raschen Einschreitens. Es könne bei Maßnahmen gegen den Mißbraucher nicht das langwierige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht abgewartet werden 108 . Dehler hielt dem entgegen, daß ohne vorherige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Polizei zu viel Macht gewinne. Sie könne jedem Grundrechtsträger die Grundrechte absprechen und ihn dadurch vogelfrei machen109. Schmid verwies überdies auf die Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, notfalls eine einstweilige Anordnung zu erlassen 110. Die Entwürfe und Stellungnahmen sprechen dafür, daß die verschiedenen Erstreckungsmöglichkeiten des Verwirkungsbegriffs nicht gesehen und nicht auseinandergehalten wurden. Art. 20 HChE kann sowohl dahin verstanden werden, daß der Mißbraucher sich für die konkrete mißbräuchliche Handlung nicht auf das entsprechende Grundrecht soll berufen können, als auch dahin, daß er dieses Recht generell verliert. Das gleiche gilt für die Ausführungen ν . Mangoldts und Dehlers. Zwar liegt das Schwergewicht der Argumentation v. Mangoldts bei der konkreten Mißbrauchsabwehr. Seine Darlegungen lassen aber für sich genommen nicht erkennen, daß sich nach seiner Vorstellung die Grundrechtsverwirkung auf die konkrete Mißbrauchsabwehr beschränken soll. Umgekehrt hatte Dehler wohl zunächst einen umfassenden, nämlich generellen Verwirkungsbegriff im Auge, allerdings ohne die konkrete Mißbrauchsabwehr ausdrücklich auszuschließen. Angesichts dieser Ungewißheit wird man aus der Tatsache, daß der Hauptausschuß in der 2. Lesung den Zusatz über das Entscheidungsmonopol annahm, keine Rückschlüsse ziehen können. Wenig Uberzeugungskraft besitzt weiterhin die These, nur ein enger Verwirkungsbegriff sei mit Sinn und Wesen der Grundrechte verein106 Parlamentarischer land (Entwürfe), S. 46. 107 Parlamentarischer 108 Parlamentarischer 108 Parlamentarischer 110 Parlamentarischer
Rat, Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik DeutschRat, Rat, Rat, Rat,
aaO. S. 46. Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 589. aaO. S. 590. Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 619.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
bar 111 . Art. 18 ist immerhin als sinnvolle Synthese zwischen individuellem Grundrechtsschutz und Verfassungsschutz gedacht. Daher ist nicht recht einzusehen, warum bei der Interpretation Sinn und Wesen der Grundrechte letzter Auslegungsmaßstab sein sollten, hinter dem der Verfassungsschutzgedanke allemal zurückzustehen habe. Abgesehen hiervon ist eine Beweisführung solcher Art immer in der Gefahr, die Grundrechte an den entscheidenden Stellen apokryph anzureichern. Gerade weil Art. 18 den Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung bezweckt, darf man auch nicht ohne weiteres nach dem „Prinzip" auslegen, daß die Freiheit soweit wie möglich, die Schranken hingegen so eng wie möglich zu bemessen seien. Der Grundsatz: in dubio pro libertate, geht den herkömmlichen Auslegungsmethoden nicht unbesehen vor; er wird erst maßgebend, wenn diese die Grenze zwischen Freiheit und Bindung im Zweifel lassen112. Ein tragfähiges Argument ist schließlich auch nicht dadurch zu gewinnen, daß man Art. 18 in Beziehung setzt zu dem Parteienprivileg 113 des Art. 21 Abs. 2 1 1 4 . Zwar sind beide Vorschriften Ausdruck des grundgesetzlichen Willens, mit der Vorstellung der „selbstmörderischen Demokratie" aufzuräumen. Auch mag der Gedanke naheliegen, daß, was für die Parteien als Korporationen gilt, erst recht für den vom Grundgesetz in den Mittelpunkt gehobenen individuellen Grundrechtsträger zu gelten habe. Aber dem ist entgegenzuhalten, daß die parteigetragene Opposition im Staatswesen des Grundgesetzes einen anderen, und zwar einen höheren, Stellenwert hat, als außerparteiliche Opposition. Das deutet sich schon in der Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 an. Die Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung ist unvergleichlich größer, wenn eine Partei, also eine Komponente der politischen Willensbildung des Volkes, sei es auch nur vorübergehend, in ihrer Aktionsfähigkeit gelähmt wird, als wenn man den einzelnen bei der Ausübung seiner Grundrechte behindert. Das Privileg des Art. 21 Abs. 2 ist kein Spezifikum des Verfassungsschutzrechts, sondern eine Besonderheit der rechtlichen Stellung der Parteien im Grundgesetz. Aus diesem Grund verbietet sich jede Erstreckung 115. Der Begriff der Verwirkung in Art. 18 läßt sich nur teleologisch bestimmen. Dabei ist davon auszugehen, daß Art. 18 den „bewußten Willen zur Lösimg des Grenzproblems der freiheitlich demokratischen Staats111
So etwa Kessler, Diss. S. 47 ff. Vgl. hierzu auch Nawiasky, Allgem. Rechtslehre, S. 135 f. 113 BVerfGE 12, 296 (305 ff.). 114 So Willms, N J W 64, 225 (227) ; ähnlich Copié, JZ 63,494 (497). 115 Ebenso Sigloch M D R 64, 881 (883 f.). Gegen die Ausdehnung des P a r teienprivilegs auch Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 92, S. 33; Wilke, V e r w i r k u n g , S. 115 ff. 112
§32 Die Auslegungskriterien
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Ordnung" ausdrücken soll; die Schwere der Sanktionen, die für den Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung angedroht sind, verlangt nach besonderen Rechtsgarantien, damit die Sanktionen nicht leichthin verhängt werden; im ganzen soll die Vorschrift eine „sinnvolle und bindende Regelung", ein „wohlausgewogenes System" zur Sicherung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und der individuellen Grundrechte darstellen 116 . Auf dieser Basis kann man Argumente für den Umfang der Grundrechtsverwirkung gewinnen. Es bedarf dazu nur einer Vergegenwärtigung der Interessenlage in den von Art. 18 erfaßten Mißbrauchsfällen. Die staatlichen Gewalten, denen der Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung in erster Linie obliegt, haben im Verhältnis zum mißbräuchlich handelnden Grundrechtsträger zwei besonders schutzwürdige Interessen: sie müssen den gegenwärtigen Angriff auf die freiheitlich demokratische Grundordnung abwehren, und sie müssen der Gefahr begegnen, daß der Mißbrauch sich unter dem Deckmantel grundrechtlicher Gewährleistung wiederholt. Der Grundrechtsträger andererseits hat ein Interesse daran, daß eine Grundrechtsausübimg, die ihrem Inhalt nach kein Grundrechtsmißbrauch ist, auch nicht als solcher behandelt wird; vor allem darf sie nicht zu einer pauschalen Grundrechtsaberkennimg führen. Der Grundrechtsträger hat hingegen grundsätzlich kein schutzwürdiges Interesse, die Grundrechte auch in einer Weise zu benutzen, die die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet. Wer seine Rechte bis zum letzten ausnützen will, muß ein gewisses Risiko in Kauf nehmen 117 . Die stärkste Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung und gleichzeitig die größte Sicherheit für den Grundrechtsträger besteht, wenn die Staatsgewalten einem konkreten Angriff, wenn auch nur vorübergehend, nämlich bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, tatenlos zusehen müßten. Diese Situation ist deshalb so gefährlich, weil unter Umständen, sofern nur die Kampfintensität stark genug ist, was sich sowohl aus der Durchschlagskraft der eingesetzten Mittel als auch aus der Labilität der Verteidigung ergeben kann, jede staatliche Abwehrmaßnahme hoffnungslos zu spät käme. Umgekehrt liegt die stärkste Gefahr für die Position des Grundrechtsträgers und zugleich die größte Sicherheit für die staatliche Ordnung darin, daß jede staatliche Behörde, die auf einen Mißbrauchsfall stößt, unverzüglich die entsprechenden Grundrechte als verwirkt, d. h. als verlustig gegangen behandeln dürfte. Das Interesse des Grundrechtsträgers, 118 117
Vgl. BVerfGE 10,118 (123). Vgl. Wernicke, K o m m . A r t . 18, Erl. 1 c ß, S. 5.
9 Gallwas
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
seine Grundrechte nicht auf Grund einer Fehlbewertung generell zu verlieren, bliebe hier völlig unberücksichtigt. Nachdem Art. 18 einen Ausgleich bezweckt, wobei die freiheitlich demokratische Grundordnung vor dem Grundrechtsträger, aber auch der Grundrechtsträger vor den staatlichen Sachwaltern dieser Ordnung geschützt sind, wird man die Regelung des Art. 18 nur dann als sinnvoll und wohlausgewogen qualifizieren können, wenn sie die extremen Gefahren, die beiden Interessenträgern erwachsen, berücksichtigt und vermeidet. Demgemäß wird man Interpretationsmöglichkeiten auszuschließen haben, die die staatlichen Organe gegenüber Angriffen auf die freiheitlich demokratische Grundordnung zur Untätigkeit verurteilen. Das gleiche gilt für Auslegungen, die den Grundrechtsschutz sofort und im ganzen der Disposition aller mißbrauchsabwehrenden Instanzen überantworten. Diesen Anforderungen entspricht eine Regelung, die den Organen des Staates die Befugnis beläßt, im Rahmen ihrer allgemeinen Ermächtigungen punktuell gegen jeden Mißbrauchsfall einzuschreiten, ohne daß der Mißbraucher derartige Maßnahmen mit dem Hinweis auf die Grundrechte blockieren dürfte. Diese Befugnis umfaßt insbesondere alle repressiven Maßnahmen gegen den Mißbraucher 118 . Spezielle Kompetenzen zur Grundrechtsaberkennung werden den allgemeinen mißbrauchsabwehrenden Instanzen nicht eingeräumt. Die aufgezeigten extremen Gefahren für den Grundrechtsträger einerseits und die freiheitlich demokratische Grundordnung andererseits treten weiterhin nicht auf, wenn der Staat sein Interesse an präventiver Mißbrauchsabwehr durch ein rechtlich besonders gesichertes Verfahren wahrnimmt. Dem Sicherungsbedürfnis des Grundrechtsträgers ist auf diese Weise genügt, und die freiheitlich demokratische Grundordnung steht nicht auf dem Spiel, weil jede konkrete Gefahrensituation bereits vor dem Aberkennungsverfahren abgefangen werden kann. Eine maximale Sicherung der beteiligten Interessenträger liegt in folgender, gewissermaßen zweispurigen Gestaltung der Mißbrauchsfolgen: zur Abwehr einer bestimmten, gegenwärtigen Mißbrauchshandlung, die sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richtet, kann jedes staatliche Organ im Rahmen seiner gesetzlichen Befugnisse punktuelle Maßnahmen ergreifen, ohne ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts abwarten zu müssen; zusätzlich kann das Bundesverfas118 Nicht-repressive Maßnahmen dürfen n u r verhängt werden, w e n n sie nicht verwirkungsgleich sind, vgl. dazu unten § 42.
§ 32 Die Auslegungskriterien
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sungsgericht eine Grundrechtsverwirkung aussprechen, was zur Folge hat, daß der Grundrechtsträger sich auf diese Grundrechte auch dann nicht berufen kann, wenn er sich eigentlich im Rahmen der grundrechtlichen Gewährleistung bewegt. Dieser Gestaltung der Mißbrauchsfolgen entspricht das oben 119 aufgeführte generelle Verwirkungsverständnis, nach dem die Verwirkung i. S. d. Art. 18 ausschließlich den Grundrechtsschutz für zukünftige Grundrechtsausübungen erfaßt, während die Mißbrauchshandlung selbst von vornherein vom Grundrechtsschutz ausgenommen ist, so daß also die „Verwirkung" niemals punktuelle, gegen dçn konkreten Mißbrauchsfall gerichtete, sondern stets pauschalierend generelle Maßnahme ist. Diese Lösung hat noch den Vorzug, daß sie dem bei der Formulierung des Art. 18 verwendeten Begriff „mißbraucht" zwanglos Rechnung trägt. Die Benutzung der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung genießt als „Handeln ohne Recht" ganz von selbst keinerlei Grundrechtsschutz. Nimmt man hingegen an, daß die in Art. 18 genannten Grundrechte bis zum Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts ungehindert mißbraucht werden dürfen, gerät man in rechtssystematische Schwierigkeiten; es gäbe einen Rechtsmißbrauch, der rechtlich geschützt ist 120 . Die in der Entstehungsgeschichte des Art. 18 liegenden Intentionen werden durch diese Auslegung des Verwirkungsbegriffes weitgehend gewahrt. Die Übertragung der Entscheidungskompetenz auf das Bundesverfassungsgericht sollte einer Disposition der Exekutive über die Grundrechte vorbeugen. Diese Gefahr besteht bei der vorgeschlagenen zweispurigen Gestaltung der Mißbrauchsfolgen nicht. Eine generelle Aberkennung der Grundrechte durch die Exekutive ist ausgeschlossen. Zulässig ist allein eine punktuelle und daher sachlich klar begrenzte Mißbrauchsabwehr. Es wird nicht verkannt, daß das generelle Verwirkungsverständnis nicht mit allen bei der Entstehung des Art. 18 geäußerten Meinungen, vor allem nicht mit den Ansichten v. Mangoldts und Schmids übereinstimmt. Dies ist aber angesichts der Tatsache, daß nicht zwischen punktueller und genereller Mißbrauchsabwehr differenziert wurde, auch gar nicht möglich. Immerhin trägt die Auslegung den 119
§ 31 b. Dürig, JZ 52, 513 (516) hält den Mißbrauch nach A r t . 18 sogar f ü r rechtswidriges Handeln; dasselbe folgern v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 2 a, S. 522, aus der Ausgestaltung der Verwirkung. Diese Qualifikation ist aber hier ohne Bedeutung. Daß rechtswidriges Handeln rechtlich geschützt sein soll, ist rechtssystematisch noch weniger erklärbar. Vgl. hierzu auch Sigloch, M D R 64, 881 (883). 121 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 590. 120
9*
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Befürchtungen Dehlers 121, die sich in Art. 18 S. 2 niedergeschlagen haben, Rechnung. Bei der hier getroffenen Unterscheidung zwischen einer jederzeit zulässigen punktuellen Mißbrauchsabwehr und der Grundrechtsaberkennung durch das Bundesverfassungsgericht treffen die irreparablen Folgen eines Irrtums der mißbrauchsabwehrenden Instanzen über das Bestehen einer Mißbrauchslage allerdings immer den Grundrechtsträger. Diese Folge sollte aber nicht überbewertet werden. Ein staatliches Organ, das willkürlich eine Mißbrauchssituation annimmt, um in den Grundrechtsbereich einzudringen, würde sich wohl ebenso willkürlich über das Erfordernis einer Vorabentscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinwegsetzen122. Wenn jedoch das eingreifende staatliche Organ nicht willkürlich handelt, sondern weil der Grundrechtsträger den Anschein einer Mißbrauchssituation hervorgerufen hat, dann bedarf er ebensowenig rechtlichen Schutzes wie jemand, der den Anschein einer polizeilichen Gefahr erweckt.
§ 33 Die Vereinbarkeit des generellen Verwirkungsverständnisses mit Art. 1 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 2 G G
Das generelle Verwirkungsverständnis steht weder zu Art. 1 Abs. 2 noch zu Art. 19 Abs. 2 im Widerspruch. Wohl könnte man daran denken, daß eine generelle Aberkennung von Grundrechten, die wie ζ. B. das Recht der freien Meinungsäußerung oder der Versammlungsfreiheit Menschenrechtsqualität haben, nicht mit dem Bekenntnis zur Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte in Einklang zu bringen sei. Daß sich insoweit eine gewisse Diskrepanz auftut, hat schon Apelt m hervorgehoben. Dürig 124 versucht ihr mit einem „dogmatischen Kunstgriff" 125 beizukommen. Er nimmt an, „die Aberkennung könne von vornherein nur gegen ein Ausfluß- und Ausübungsrecht des Grundgesetzes gerichtet sein, ohne daß über das Grundrecht als solches tenoriert werden dürfe", „die Stoßrichtung des Art. 18 GG gehe gegen den öffentlichen Rechtsschutzstatus des Antragsgegners und treffe sein subjektives öffentliches Recht auf Rechtsschutzgewährung in bezug auf bestimmte Grundrechte" 126 . 122
Vgl. hierzu die v o n Carl Schmitt beschriebene Erscheinung der Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht, Legalität u n d Legitimität, i n : V e r fassungsrechtliche Aufsätze, S. 288. 128 J Z 51, 351 (354). 124 JZ 52, 513 (517). 125 So Dürig selbst, AöR 81, 117 (152), allerdings i n anderem Zusammenhang. 126 Vgl. aber die etwas weitere Auffassung, Maunz-Dürig, A r t . 18 RdNr. 63, S. 21. Ebenso Geiger, K o m m . § 36, A n m . 4, S. 135; Herbert Krüger, DVB1. 53, 97
§ 33 Vereinbarkeit m i t A r t . 1 Abs. 2 u n d A r t . 19 Abs. 2 G G
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Es muß jedoch bezweifelt werden, ob tatsächlich in dieser Weise zwischen Rechtsinhalt und Rechtsausübung unterschieden werden darf. Mindestens wäre darzutun, warum Menschenrechte nur ihrem Inhalt, nicht aber ihrer Ausübungsbefugnis nach „unverletzlich" und „unveräußerlich" sein sollten. Mit Recht bezeichnet Klein 127 die Auslegung Dürigs als fragwürdig. Klein hält Eingriffe von der Art des Art. 18 überhaupt für zulässig und begründet dies mit dem Hinweis auf die Positivierung anderer intensitätsgleicher Grundrechtsschranken wie ζ. B. der lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Klein folgert, daß sowohl Art. 1 Abs. 2 als auch Art. 19 Abs. 2 den einzelnen nur davor schützen, daß die Grundrechte durch den einfachen Gesetzgeber generell in ihrem Wesensgehalt verletzt werden; Einzeleingriffe hingegen seien zulässig128. Von entscheidender Bedeutung für das hier angesprochene Problem ist letztlich, ob die Verwirkung nach Art. 18 überhaupt den Menschenrechtsgehalt eines Grundrechts im Sinne des Art. 1 Abs. 2 „verletzt". Sollte nämlich das Gebot der „Unverletzlichkeit" jede Beeinträchtigung des Rechtsstatus erfassen, dann wären eine Verwirkung, sofern sie Menschenrechte berührt, und auch die lebenslängliche Freiheitsstrafe unrettbar verfassungswidrig. Gegen die Annahme, der Grundgesetzgeber habe den Begriff der Unverletzlichkeit in dieser Strenge gemeint, spricht schon der Gebrauch desselben Wortes in Art. 2 Abs. 2 S. 2 und der Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Auch dort scheitert ein Eingriff auf Grund eines Gesetzes nicht an der Proklamation der Unverletzlichkeit der Freiheit der Person. Eine innere Rechtfertigung dafür, daß eine Verwirkung Grundrechte mit Menschenrechtsqualität nicht verletzt, mag darin gesehen werden, daß das Bekenntnis des Art. 1 Abs. 2 nicht den Menschenrechten schlechthin, sondern den „Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" gilt. Der Staat hat die Aufgabe, diese Basis zu erhalten. Für den Fall, daß es hart auf hart geht, daß der Schutz der Menschenrechte jedes einzelnen mit dem Schutz der Menschenrechte als objektive Grundlage der Gemeinschaft kollidiert, gibt die Verfassung in Art. 18 die erforderliche Kollisionsnorm 120. Die Bestimmung verstößt nicht (99 f.); Wertenbruch, Grundgesetz u n d Menschenwürde, S. 75 f.; Hamann, K o m m . A r t . 18, A n m . Β 5, S. 191; Schunck-Giese, A r t . 18, A n m . I I 2, S. 56. Α. A . Wernicke , K o m m . A r t . 18, Erl. I I 2 d ß, S. 11; Zinn-Stein, A r t . 17, A n m . 3, S. 146. 127 DVB1. 53,677 f.; v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 2 b, S. 524 ff. 128 ν . Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 2 b, S. 527; ebenso Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, S. 246 f. 129 Vgl. auch Wernicke, K o m m . A r t . 18, Erl. S. 2; Hamann, K o m m . A r t . 18, A n m . A . 1, S. 189; Hönsch, Diss. S. 50 f., einschränkend S. 81.
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3. Kap. : Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
gegen Art. 1 Abs. 2 GG, sie erweist sich vielmehr auch insoweit als Ausdruck des bewußten verfassungspolitischen Willens zur Lösung des Grenzproblems der freiheitlich demokratischen Staatsordnung 130. Art. 19 Abs. 2 GG steht dem generellen Verwirkungsverständnis nicht entgegen; selbst wenn man die Wesensgehaltssperre nicht nur auf gesetzliche Einschränkungen der Grundrechte 131, sondern zugleich auf hoheitliche Einzelmaßnahmen bezieht 132 , auch wenn man zudem den Wesensgehaltsbegriff nicht vom Ausmaß des Eingriffs her 133 , sondern vom Wesenskern der jeweils betroffenen Grundrechte her konkretisiert 134 . Ein absoluter, vom Wesen des Einzelgrundrechts aus zu bestimmender Kernbereich wäre zwar durch eine Verwirkungsentscheidung, eben weil sie eine Berufung auf die betroffenen Grundrechte generell ausschließt, angetastet135. Man muß jedoch dem Art. 18 auch insoweit den Rang einer Spezialregelung mit derogierender Kraft einräumen. Die Verwirkungsentscheidung stützt sich auf die durch den Mißbrauchsfall indizierte Wahrscheinlichkeit, daß der Grundrechtsträger sich auch in Zukunft verfassungsfeindlich betätigen werde. Wegen dieser Hypothek verdient der von der Verwirkung Betroffene weniger Schutz als die Grundrechtsträger, deren Grundrechte durch den potentiellen Verfassungsfeind gefährdet werden. Würde man den Mißbraucher über Art. 19 Abs. 2 vor der Grundrechtsaberkennung schützen, so ginge dies letztlich zu Lasten der verfassungstreuen Grundrechtsträger. Die nach Art. 18 zulässige Aberkennung von Grundrechten gleicht insofern der auf Art. 104 Abs. 1 GG beruhenden Befugnis zur lebenslänglichen Freiheitsentziehung 136 » 137 .
§ 34 Der Charakter der Sanktion des Art. 18 G G
Die Rechtsfolge des Art. 18, der Ausspruch der Verwirkung und ihres Ausmaßes, ist ihrem Wesen nach keine Strafe. Der Tatbestand des Art. 18 S. 1 enthält keinen Anhaltspunkt für ein Schuldelement138, von dem her auf einen Strafcharakter der Verwirkung geschlossen werden 130
BVerfGE 10,118 (123). So v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 2 b, S. 527. 132 So Herbert Krüger, D Ö V 55, 597 (599). 133 So BVerwGE 1, 48 (51); BGHZ 16,71 (80). 134 So Dürig, ZgesStW 109, 326 (329) ; BVerfGE 2, 266 (285). 135 Α. A . w o h l Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (100). 136 Vgl. hierzu Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 104, RdNr. 4, S. 5. 137 Vgl. zu dem Problemkreis i m übrigen Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, S. 246 f.; Hönsch, Diss. S. 82; Haller, Diss. S. 55 ff. 138 w e d e r der Begriff „ K a m p f " noch der Begriff „Mißbrauch" enthalten ein Schuldelement, vgl. oben § 29. 131
§ 35 Die Notwendigkeit einer Ausmaßbestimmung
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könnte. Auch die Rechtsfolge selbst gibt für eine derartige Qualifizierung nichts her 139 . Jede von der Rechtsordnung angedrohte Unrechtsfolge kann Strafe oder Sicherungsmaßnahme sein. Das jeweilige Unterscheidungsmerkmal ergibt sich aus dem gesetzgeberischen Zweck 140 . Wird das Übel zugefügt, um einen Angriff auf den Rechtsfrieden zu sühnen und durch Schaffung wirksamer Gegenmotive den einzelnen Rechtsbrecher und allgemein jedermann von künftigen Angriffen abzuschrecken, so spricht dies für den Strafcharakter. Bei einer Sicherungsmaßnahme dagegen erfolgt die Zufügung des Übels im Interesse eines wirksamen Schutzes der Allgemeinheit vor Wiederholungen; der Gedanke von Schuld und Sühne tritt dabei zurück 141 . Nichts im Grundgesetz spricht dafür, daß die Rechtsfolge des Art. 18 der Sühne und der Abschreckung dienen soll. Dagegen ist das Motiv, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu sichern, unbezweifelbar. Mithin wird man die Grundrechtsaberkennung als verfassungsrechtliche Sicherungsmaßnahme, ähnlich den Sicherungsmaßregeln des Strafrechts, zu charakterisieren haben 142 .
2. Die Ausmaßbestimmung nach Art. 18 GG § 35 Die Notwendigkeit einer Ausmaßbestimmung
Mit der Feststellung, daß die Grundrechtsverwirkung den Grundrechtsschutz für künftige Handlungen, die ihrerseits nicht mißbräuchlich zu sein brauchen, erfaßt, ist nur das Objekt der Sanktion bestimmt, noch nicht ihr Umfang. Die Formulierung in Art. 18: „... verwirkt diese Grundrechte", deutet auf den Sinn: verliert diese Grundrechte. Das liefe auf einen prinzipiellen Totalverlust hinaus. Die Verwirkung hätte zur Folge, daß der Grundrechtsträger so gestellt würde, als stehe ihm das entsprechende Grundrecht überhaupt nicht mehr zu. Für eine Ausmaßregelung wäre nur noch insoweit Raum, als über den bloßen Grundrechtsverlust hinausgegangen würde, etwa bei der Auferlegung besonderer Beschränkungen. Zwingend ist diese Auffassung aber nicht. Der Verwirkungsbegriff ist auch in dieser Beziehung nicht verläßlich. Das Wort „verwirken" be139
Α. A . v. Weber, JZ 53, 293 (294) ; die V e r w i r k u n g sei Statusstrafe. Vgl. BVerwGE 3, 297 (299); Schönke-Schröder, Vorbem. §§ 13 ff., S. 89 f.; Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgem. Teil, § 65 Β 3, S. 749 f. 141 Schönke-Schröder, Vorbem. § 42 a ff., S. 182. 142 Ebenso Dürig, JZ 52, 513 (516); ders., Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 39, S. 14; Echterhölter, JZ 53, 656 (657); v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 4 a, S. 531 m i t Nachw.; Scheuner, Festgabe für Kaufmann, 1950, S. 329. 140
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
zeichnet nämlich mal den Vorgang, der einen im übrigen fixierten oder fixierbaren Rechtsnachteil auslöst143, mal den Vorgang samt dem ausgelösten Rechtsnachteil144. Die Ausgestaltung des Art. 18 S. 2 spricht dafür, daß mit „Verwirkimg" nur der Vorgang des Rechtsverlustes gemeint ist. „Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen." Der ausdrückliche Hinweis auf die Kompetenz, die Folgen der Verwirkung zu bestimmen, läßt es unwahrscheinlich erscheinen, daß schon der Verwirkungsbegriff Ausmaßelemente enthalten sollte 145 . Demnach ist die Rechtsfolge des Mißbrauchstatbestandes in Art. 18 exakt genommen nicht die „Verwirkung", sondern erst die durch die Ausmaßbestimmung des Bundesverfassungsgerichts inhaltlich fixierte Verwirkung. Ein Ausspruch der Verwirkung ohne Ausspruch des Ausmaßes wäre unvollständig und besäße keinerlei rechtliche Wirkung. Dieses dem Art. 18 zugrunde liegende Verhältnis von Verwirkung und Ausmaßbestimmung hat man bei der Normierung des § 39 BVerfGG nicht recht erkannt 14 ·. Die Bestimmung baut nämlich auf einem mindestens teilweise bereits vorfixierten Verwirkungsbegriff auf. (Nur so kann § 39 BVerfGG verstanden werden. Anderenfalls ergäbe sich die Möglichkeit, daß sich der Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts auf den Eintritt einer inhaltlich unbestimmten Rechtsfolge beschränkt 147, was einigermaßen sinnlos wäre.) § 39 BVerfGG beschneidet folglich eine Befugnis, die das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht eingeräumt hat. Um das zu vermeiden, wird man die Vorschrift folgendermaßen zu verstehen haben: Erweist sich der Antrag als begründet, so stellt das Bundesverfassungsgericht fest, welche Grundrechte des Antragsgegners verwirkt sind und welches Ausmaß die Verwirkung hat. 148
So der Sprachgebrauch i n § 339 BGB. So i m F a l l des § 1676 B G B u n d des aus § 242 B G B entwickelten Rechtsinstituts der V e r w i r k u n g . 145 W o h l ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 71, S. 24; Kind, Diss. S. 57. A . A . Wernicke , K o m m . A r t . 18, Erl. 2 d, S. 11; f ü r i h n bedeutet V e r w i r k u n g zunächst V o l lv e r w i r k u n g ; i n der Ausmaßbestimmung sieht er eine Befugnis, die V o l l v e r w i r k u n g zu unterschreiten. Doch ist dies n u r ein U n t e r schied i n der Konstruktion. Die Ergebnisse sind die gleichen, denn i n beiden Fällen hat das Bundesverfassungsgericht eine Ausmaßbestimmung zu treffen. Auch Wilke, V e r w i r k u n g , S. 70, geht v o n einem inhaltlich fixierten V e r w i r kungsbegriff aus; er hält i h n aber f ü r praktisch wertlos. Letzteres werde durch die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, eigenständige Rechtsfolgen zu verhängen, ausgeglichen. 14e Vgl. dazu Echterhölter, J Z 53, 656 (658), m i t Nachweisen FN. 23; Lechner, K o m m . § 39, A n m . 1, S. 197. 147 Schließlich sind auch die Ausmaßbestimmungen des § 39 Abs. 1 S. 2 u. 3 n u r Kann-Vorschriften. 144
§ 36 Ausmaßbestimmung u n d verwirkbare Grundrechte
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§ 36 Die Ausmaßbestimmung und die verwirkbaren Grundrechte
Art. 18 S. 1 bestimmt, daß, wer die einzeln aufgeführten Grundrechte mißbraucht, „diese Grundrechte verwirkt". Dabei bleibt offen, ob die Verwirkung alle aufgezählten Grundrechte ergreift oder nur die jeweils mißbrauchten. Beide Ansichten werden vertreten. Wernicke 148 qualifiziert den Art. 18 als Ausnahmevorschrift und hält deshalb eine enge Auslegung für geboten. Geiger leitet dasselbe Ergebnis aus der Natur der Freiheitsrechte her und aus dem Wortlaut des Art. 18, und zwar soll es sich speziell daraus ergeben, daß Pressefreiheit und Lehrfreiheit ausdrücklich benannt sind14®. Reissmüller 150 schließlich vertritt einen „Grundsatz der Identität von mißbrauchtem und verwirktem Grundrecht". Demgegenüber meint Dürig, der Mißbrauch eines der in Art. 18 genannten Grundrechte könne die Verwirkung aller aufgeführten Grundrechte nach sich ziehen 151 . Er hält den Identitätsgrundsatz für wirklichkeitsfremd; dieser bewirke einen „sukzessiven Verfassungsschutz", wobei der Mißbraucher ein Possenspiel treiben könne, indem er jeweils auf ein noch nicht mißbrauchtes Grundrecht ausweiche. Die Ansicht Dürigs verdient den Vorzug. Die Argumente der Gegenmeinung sind nicht überzeugend genug. Auch hier darf das Prinzip der engen Auslegung von Ausnahmevorschriften nicht unbesehen angewendet werden 152 . Mindestens dort, wo es darauf hinausläuft, den Zweck der Ausnahmevorschrift zu vereiteln, hat es keinen Raum. Dasselbe muß gelten, wenn die Verfolgung des mit der Ausnahme angestrebten Zwekkes ohne einleuchtenden Grund erschwert wird. Wer also bei Art. 18 eine Auslegung wählt, die über die eindeutigen Garantien wie: Beschränkung der an sich verwirkbaren Grundrechte, Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts hinaus den Verfassungsschutz lähmt, muß triftige Gründe haben. Die Identitätslehre wäre dann ausreichend motiviert, wenn entweder das Interesse des Mißbrauchers an der Bewahrung der noch nicht mißbrauchten Grundrechte dem Verfassungsschutzzweck eindeutig vorginge oder wenn dem Bundesverfassungsgericht bei der Erstreckimg der Ver148 K o m m . A r t . 18, Erl. 1 f., S. 6; ebenso Maunz, Staatsrecht, § 16 I I 2, S. 123 f.; Hönsch, Diss. S. 60 f.; Schmitz, Diss. S. 101. 140 Geiger, K o m m . § 39, A n m . 1, S. 144 f.; vgl. auch Klemmer, Diss. S. 49. 150 JZ 60, 529 (533); i m Ergebnis ebenso Düng, JZ 52, 513 (517 f.); i h m folgend Haller, Diss. S. 76. 151 Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 31 ff., S. 12 f. 152 Bei konsequenter A n w e n d u n g des Prinzips gelangte m a n zum p u n k tuellen Verwirkungsverständnis, dann allerdings w ü r d e auch der Identitätsgrundsatz gelten.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Wirkung auf andere, zwar verwirkbare, aber nicht mißbrauchte Grundrechte in besonderem Maße zu mißtrauen wäre. Beides ist nicht zu belegen. Auch auf den Wortlaut des Art. 18 kann sich die Gegenmeinung nicht stützen. Die besondere Aufzählung der Pressefreiheit und der Lehrfreiheit soll lediglich klarstellen, daß auch diese Spezialrechte, und nicht nur die allgemeine Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1, mißbrauchbar und verwirkbar sind 153 . Das Bundesverfassungsgericht kann daher, selbst wenn nur eines der Grundrechte mißbraucht wurde, die Verwirkung gegenständlich auf alle Grundrechte, die Art. 18 nennt, ausdehnen154.
§ 37 Die Ausmaßbestimmung und die nicht verwirkbaren Grundrechte
Daß der Mißbraucher nach Art. 18 „diese Grundrechte verwirkt", wirft noch in anderer Beziehung Fragen auf, und zwar im Hinblick auf die nicht genannten Grundrechte. Fest stehen dürfte insoweit, daß, wer andere als die aufgeführten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung mißbraucht 155 , weder die mißbrauchten noch die in Art. 18 genannten Grundrechte verwirkt 1 5 6 . Gleichermaßen eindeutig ist, daß das Bundesverfassungsgericht bei Mißbrauchsfällen nach Art. 18 nicht die verwirkten Rechte belassen und statt dessen andere Grundrechte aberkennen darf. Das Bundesverfassungsgericht kann also aus Art. 18 nicht die Befugnis herleiten, einem Privatschulunternehmer, der seine Schule einer verfassungsfeindlichen Gruppe zur Ausbildung des Nachwuchses überläßt oder der verfassungsfeindliche Pressekampagnen startet, das Recht aus Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG abzusprechen. Problematisch wird es in den Fällen, wo die Aberkennung des verwirkten Rechts auf ein nicht verwirkbares Grundrecht übergreift. Die Frage kann in den verschiedensten Schattierungen auftauchen. Zum Beispiel bewirkt die Verwirkung der Pressefreiheit eine Benachteiligung des Betroffenen wegen seiner politischen Anschauung (Art. 3 Abs. 3 GG). Die Verwirkung der Meinungsäußerungsfreiheit trifft einen Uber153 Vgl. Maunz, Staatsrecht, § 16 I I 2, S. 123; Wernicke , K o m m . A r t . 18, Erl. 1 b a, S. 3. 154 Abweichung von den Ausführungen, die als Dissertation vorgelegt wurden. 155 Z u r Frage, ob hier überhaupt ein sanktionierbarer Grundrechtsmißbrauch vorliegt, vgl. unten § 41. ΐ5β wegen der insoweit dennoch zulässigen Sanktionen vgl. unten § 42.
§ 37 Ausmaßbestimmung u n d nicht verwirkbare Grundrechte
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zeugungstäter zugleich in der Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG). Die Verwirkung der Lehrfreiheit kann sich bei einem Staatsrechtslehrer zu einer Beeinträchtigung der Berufsfreiheit auswachsen157. Noch problematischer wird es, wenn sich die Beeinträchtigung eines nach Art. 18 nicht verwirkbaren Grundrechts nicht nur als Folge, also gewissermaßen reflexweise ergibt, sondern vom Bundesverfassungsgericht eigens verhängt wird, wie ζ. B. bei der Aberkennung des Wahlrechts oder der Wählbarkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, daß es auf Grund des Art. 18 einem verantwortlichen Redakteur, der die Pressefreiheit mißbraucht, für bestimmte Zeit auch die Berufsausübung untersagen könnte 158 . Die Begründung enthält aber nicht die geringste Stellungnahme zu dem hier angedeuteten Fragenkreis, wenngleich dies wegen der Unverwirkbarkeit des Art. 12 GG geboten gewesen wäre 159 . Dürig versucht eine Lösung mit Hilfe der These, „daß jedes in Art. 18 ausdrücklich genannte Grundrecht im Falle seiner Aberkennung lebensmäßig und rechtslogisch auf andere Grundrechte einwirkt und diese Auswirkung des Art. 18 auch dann rechtmäßig ist, wenn das betroffene Grundrecht in Art. 18 überhaupt nicht ausdrücklich erscheint" 160. Zur Begründung verweist er auf das grundrechtliche Wert- und Anspruchssystem, dem die Vorstellung einer beziehungslosen Hintereinanderreihung der Grundrechte bzw. isolierter Grundrechte fremd sei 161 . Die Gegenposition hat W. O. Schmitt bezogen162. Er betont, daß die Aberkennung nicht mit Ubergriffen auf andere Grundrechte verbunden sein muß. Mithin seien isolierte Aberkennungen möglich. Wo dies der Fall sei, dürften nicht verwirkbare Grundrechte nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Er folgert: das Bundesverfassungsgericht dürfe gestützt auf Art. 18 weder ein Berufsverbot verhängen 163 noch das passive Wahlrecht aberkennen 164 . Für den aufgezeigten Fragenkreis lassen sich aus Art. 18 nur drei schlüssige Erwägungen ableiten: Die Übertragung der Ausmaßbestimmung an das Bundesverfassungsgericht darf man nicht isoliert sehen. Sie ist keine eigenständige Kom157 Weitere Beispiele bei Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 29, S. 12. iss BVerfGE 10,118 (122). 159 Kritisch daher schon Reissmüller, JZ 60, 529 (533, FN. 39 a); Wilke, V e r w i r k u n g , S. 71; Schwenk, N J W 62,1321 (1323). 180 Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 29, S. 12. 181 I m Ergebnis ebenso Wilke, Verwirkung, S. 73 ff. 162 N J W 66,1734 ff. 183 Ebenso schon Löffler, Presserecht, Anh. § 23/29 RPG, RdNr. 22, S. 439. 184 Wegen des aktiven Wahlrechts vgl. W. O. Schmitt, N J W 66, 1734 (1736).
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
petenznorm zur Aberkennung von Grundrechten, die nach Art. 18 nicht verwirkt werden können. Art. 18 S. 2 koppelt mit der Formulierung „ihr Ausmaß" Ausmaßbestimmung und Verwirkung. Aberkennung, gleichviel welchen Grades, setzt Verwirkbarkeit voraus 165 . Verwirkbar sind grundsätzlich nur die in Art. 18 ausdrücklich genannten Grundrechte. Der Wille der Verfassimg, daß „diese Grundrechte" und eben nicht die Grundrechte insgesamt verwirkt werden, ist soweit wie möglich zu respektieren 166. Übergriffe auf nicht verwirkbare Grundrechte sind daher prinzipiell unzulässig167. Es kann insoweit keinen wesentlichen Unterschied machen, ob ein nicht verwirkbares Grundrecht direkt oder nur reflexweise, d. h. im Wege der „Mitverwirkung" aberkannt wird. Denn es gibt keinen verfassungsrechtlich belegbaren Rechtssatz, wonach der Grundrechtsträger alle Beeinträchtigungen, die als Reflex an sich zulässiger staatlicher Maßnahmen auftreten, hinzunehmen hat 168 . Der Grundsatz der Ausschließlichkeit der nach Art. 18 verwirkbaren Grundrechte darf ausnahmsweise durchbrochen werden, wenn anderenfalls eine nach Art. 18 zulässige, zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung unabweisbar gebotene Maßnahme des Bundesverfassungsgerichts blockiert würde16®. Nur in diesem engen Bereich ist eine „Mitverwirkung" verfassungsrechtlich haltbar. Es ist nämlich davon auszugehen, daß der Grundgesetzgeber um die Uberlagerung der Grundrechtsbereiche wußte. Weiter darf angenommen werden, daß er im Hinblick auf die Gefahr für die freiheitlich demokratische GrundOrdnung bei keinem der Verwirkungstatbestände des Art. 18 einen Leerlauf wollte 170 . Zu einem Leerlauf käme es aber, wenn das Bundesverfassungsgericht mit einer nach Art. 18 an sich zulässigen Grundrechtsaberkennimg an einem nicht verwirkbaren Grundrecht scheiterte 171. Das Interesse eines Grundrechtsträgers an der Erhaltung seiner nicht verwirkbaren Grundrechte hat in diesen Fällen hinter dem Interesse an der Erhaltung der freiheitlich demokratischen Grundordnung zurückzustehen. 165
Ebenso W. O. Schmitt, N J W 66,1734 (1735); Wagner, Diss. S. 50 f. So Reissmüller, JZ 60, 529 (531); W. O. Schmitt, aaO. D e m trägt § 39 Abs. 1 S. 3 B V e r f GG Rechnimg. 1β8 Einen solchen Grundsatz scheint aber Haller, Diss. S. 78, anzunehmen. 169 I n bezug auf die Berufsfreiheit ebenso Copié , JZ 63, 494 (500); Dagtouglou, Wesen u n d Grenzen der Pressefreiheit, S. 15; Rehbinder, N J W 62, 2140 (2141). 170 Das w i r d v o n Kind, Diss. S. 75, nicht genügend beachtet. 171 Dies hinwiederum ist nicht n u r der Fall, w e n n die V e r w i r k u n g eines Grundrechts denkgesetzlich ein anderes, nicht verwirkbares beschränkt, sondern auch w e n n i m konkreten F a l l die V e r w i r k u n g eines Grundrechts n u r auf Kosten eines nicht v e r w i r k b a r e n Grundrechts desselben Rechtsträgers möglich ist. Z u eng daher W. O. Schmitt, N J W 66,1734 (1738). I m Ergebnis w i e hier Haller, Diss. S. 78 f. 1ββ 187
§ 38 Die Intensität der Ausmaßbestimmung
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Nur in dem dargelegten Rahmen erwächst dem Bundesverfassungsgericht unmittelbar aus Art. 18 die Befugnis, den Kreis der verwirkungsbetroffenen Grundrechte auszudehnen172. Weitere Kompetenzen kann das Gericht allenfalls durch Spezialgesetze erlangen, wobei jeweils zu prüfen ist, ob der Gesetzgeber die im Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht vorgezeichneten Kompetenzen für das Verwirkungsverfahren insoweit überhaupt erweitern durfte 178 . Es wäre nicht zutreffend, wenn man aus Art. 18 entnähme, daß alle Kompetenzen, die der Gesetzgeber dem Bundesverfassungsgericht zusätzlich gewährt, schon deshalb verfassungswidrig seien, weil sie die verfassungsunmittelbaren Kompetenzen übersteigen 174. Für die oben angeführten Beispiele ergibt sich nach dem Vorstehenden folgende Lösimg: Wer die Pressefreiheit verwirkt, kann sich nicht auf Art. 3 Abs. 3 berufen. Art. 4 Abs. 1 schützt nicht vor einer Aberkennung der Meinungsäußerungsfreiheit. Die Beschränkung der Lehrfreiheit ist selbst dann zulässig, wenn dies schwerwiegende Folgen für die berufliche Stellung des Grundrechtsträgers hat. Dagegen darf ein gesondertes Berufsverbot nicht ausgesprochen werden. Gleichfalls ist es dem Bundesverfassungsgericht verwehrt, allein auf Grund des Art. 18 175 das aktive oder passive Wahlrecht abzusprechen.
8 38 Die Intensität der Ausmaßbestimmung
Die äußerste Grenze der Ausmaßbestimmung bemißt sich nach dem Inhalt des verwirkten Rechts. Dabei eröffnen sich den verschiedenen Freiheitsstufen der Grundrechte folgend mehrere Eingriffsbereiche. Das Bundesverfassungsgericht kann dem Grundrechtsträger den Grundrechtsschutz für ein bestimmtes Tun entziehen. Das hat zur Folge, daß der Betroffene insoweit in einen grundrechtsfreien Raum verstoßen wird. Zwar kann er sich noch beliebig betätigen, aber es ist ihm versagt, 172 U m das dogmatisch sauber auch f ü r Grundrechte ohne entsprechenden Vorbehalt zu begründen, bedarf es letztlich des allgemeinen Mißbrauchsgedankens. Eine Grundrechtsausübung auf Kosten unabweisbar gebotener Maßnahmen z u m Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung ist eben w i e oben dargelegt (§ 22) mißbräuchlich. M i t der Implikationsthese allein ist hier nicht geholfen. Denn sie bleibt die A n t w o r t auf die Frage schuldig, w a r u m u n d w a n n etwas als „ i m p l i z i e r t " festgestellt werden darf. Das übersieht W. O. Schmitt, N J W 66,1734 (1738 f. F N 57). 178 Vgl. hierzu unten § 42. 174 Aus diesem G r u n d ist es keineswegs ein „nutzloser Umweg", w e n n m a n die Gültigkeit des § 39 Abs. 2 B V e r f G G auf A r t . 38 Abs. 3 G G zu stützen v e r sucht. So aber W. O. Schmitt, N J W 66,1734 (1735). 175 Z u der Frage, ob § 39 Abs. 2 B V e r f G G die Aberkennung des Wahlrechts trägt, vgl. unten § 42.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
staatlichen Maßnahmen, die dem Verfassungsschutz dienen, verwirkte Grundrechte 176 entgegenzuhalten177. Das Gericht kann die Wirksamkeit der „Verwirkung" steigern, indem es nicht beim einfachen Grundrechtsentzug stehenbleibt, sondern dem Mißbraucher bestimmte Tätigkeiten untersagt. Es handelt sich hier nicht eigentlich um eine Verschärfung des Grundrechtsentzuges. Das Bundesverfassungsgericht stößt vielmehr selbst, an Stelle des Gesetzgebers, in den durch die Aberkennung grundrechtsfrei gewordenen Raum vor. Diese Befugnis ist noch durch die Ermächtigung zur Ausmaßbestimmung gedeckt. § 39 Abs. 1 S. 3 BVerfGG ist also nur eine Konkretisierung des Art. 18 S. 2 1 7 8 . Vom Inhalt der Freiheitsrechte her gesehen ist es auch mindestens theoretisch denkbar, daß dem Mißbraucher das Recht auf Unterlassung einer Tätigkeit genommen wird und daß man ihm ein bestimmtes Tun auferlegt 179 . Das Bundesverfassungsgericht kann seine Maßnahmen auch in Richtung auf die an sich grundrechtsgebundenen staatlichen Gewalten variieren. Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung können einzeln oder kombiniert aus der Bindung des Art. 1 Abs. 3 GG gelöst werden. Dabei ist zu beachten, daß alle anderen Bindungen der staatlichen Organe, insbesondere die nach Art. 20 Abs. 3 GG bestehen bleiben. Das Gericht darf bei der Ausgestaltung der Verwirkungsfolge den Gesetzgeber nicht aus der verfassungsmäßigen Ordnung herausheben und auch nicht die Rechtsprechung oder die vollziehende Gewalt von ihrer Achtungspflicht gegenüber Gesetz und Recht befreien. Unbezweifelbar dienen auch die Bindungen des Art. 20 Abs. 3 GG der rechtlichen Sicherheit der Grundrechtsträger, aber sie sind weder mit den Grundrechten identisch noch grundrechtsbedingt. Man hat es mit selbständigen Konstitutionselementen des vom Grundgesetz geschaffenen Rechtsstaats zu tun 180 . Aus diesem Grund kann der Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts den Grundrechtsträger niemals „out of law" stellen 181 . 176 Oder andere subjektive Rechte, die von diesen Grundrechten her m o t i viert sind. Ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 85, S. 29. 177 Vgl. hierzu die Darstellung bei v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, Anm. I I I 3 b, S. 530 f., für das Recht auf Eigentum. 178 Α. A. Hönsch, Diss. S. 97, der A r t . 93 Abs. 2 GG bemüht; ebenso Wilke, Verwirkung, S. 71. 179 Α. A. v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 3 a, S. 528; Hönsch, Diss. S. 98; aber w i e sollte sich dann die V e r w i r k u n g des Asylrechts realisieren lassen. Allerdings ist die Frage ansonsten nicht zuletzt wegen des Grundsatzes der Erforderlichkeit ohne große Bedeutung. 180 Ebenso Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 78 ff., S. 26 ff., m i t Nachweisen FN. 1 S. 27. 181 Anders Wernicke, K o m m . A r t . 18, Erl. 2 d ß, S. 11; Arndt, DVB1. 52,1 (3).
§ 39 Die Dauer der Aberkennung
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Die Freistellung von der Bindung des Art. 1 Abs. 3 GG bewirkt, daß der Gesetzgeber nicht mehr der Formel: Gesetze nach Maßgabe der Grundrechte, unterliegt; es gilt praktisch die Umkehrung: Gewährleistung der Grundrechte nach Maßgabe der Gesetze182. Sie führt weiter dazu, daß die Exekutive, sofern sie sich mit ihren Maßnahmen im Rahmen gesetzlicher Ermächtigungen hält 183 , die verwirkten Grundrechte außer acht lassen darf; was vor allem bei der Anwendung verwaltungsrechtlicher Generalklauseln eine Rolle spielen kann. I n der Rechtsprechung schließlich sind Klagen als unzulässig abzuweisen, bei denen gerade das verwirkte Grundrecht als Zulässigkeitsvoraussetzung fungiert. Nur in diesem Rahmen kann es zu der von Dürig 184 angeführten „a limine"-Abweisung kommen. Zur negativen Verfahrensvoraussetzung für das gesamte Rechtsschutzsystem wird sich die Aberkennung nicht auswachsen185. Denn für die Zulässigkeit einer Klage gegen hoheitliche Maßnahmen genügt in der Regel, daß eine Rechtsverletzung auch nur in Betracht kommt. Das dürfte angesichts des Umfangs des Grundrechtskatalogs, vor allem aber im Hinblick auf das nicht verwirkbare Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG 1 8 6 stets der Fall sein 187 . Allerdings spielt die Frage der Grundrechtsaberkennung eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Begründetheit von Rechtsbehelfen. Soweit die Verwirkung reicht, fehlt es allemal an einer Rechtsverletzung.
§ 39 Die Dauer der Aberkennung
Art. 18 besagt nichts über den Zeitraum, für den die Verwirkung ausgesprochen werden darf. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit freie Hand. Es kann die Aberkennung je nach Erforderlichkeit befristen oder unbefristet lassen. § 39 Abs. 1 S. 2 BVerfGG bestimmt allerdings, daß eine Befristung unter einem Jahr nicht in Frage kommt. Die Vorschrift soll offensichtlich vermeiden, daß das Gericht die Verwirkung in allzu kleiner Münze ausgibt. Man wird sie daher als Verfahrensregel auf Art. 94 Abs. 2 GG stützen können 188 . 182 Einzelheiten bei Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 73 ff., S. 24 ff., Vgl. auch Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (100); K i n d , Diss. S. 95 f. 183 Das schmälert allerdings den G e w i n n der Exekutive; vgl. Herbert Krüger, aaO. S. 100 f. 184 JZ 52, 513 (518). 185 Kritisch zur Ansicht Dürigs Herbert Krüger, DVB1. 53, 97 (101); i h m folgend Reissmüller, JZ 60,529 (532, FN. 28); ebenso Schmitz, Diss. S. 108 f.; Klemmer, Diss. S. 48; Hartmann, Diss. S. 149; Kind, Diss. S. 72 f. 186 Vgl. hierzu die weite Auffassung des BVerfGE, 6, 32 (38); 17, 306 (313). 187 So jetzt auch Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 84, S. 29. 188 A. A. Kind, Diss. S. 63, er hält § 39 Abs. 1 S. 2 BVerfGG insoweit für verfassungswidrig, w e i l die Befugnis des Gerichts aus A r t . 18 S. 2 verengt w i r d .
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Fraglich erscheint, ob das Verwirkungsurteil in die Vergangenheit zurückwirken darf 189 . Das wird vor allem wichtig, wenn in der Zwischenzeit grundrechtswidrige Verwaltungsakte ergangen sind. Könnte ein Verwirkungsurteil ex tunc wirken, dann wäre der Grundrechtsträger nach Erlaß der Entscheidimg mit einer entsprechenden Rüge ausgeschlossen. Die ex-tunc-Wirkung hat eine höchst bedenkliche praktische Konsequenz. Da sie die Möglichkeit eröffnet, daß ein Grundrechtsträger sich nach Erlaß der Verwirkungsentscheidung auf frühere Grundrechtsverletzungen nicht mehr berufen kann, entsteht die Gefahr, daß ein staatliches Organ in der Hoffnung auf ein ex-tunc-wirkendes Verwirkungsurteil grundrechtswidrig gegen einen Mißbraucher vorgeht. Es schliche sich also durch die Hintertür eben der Effekt ein, der durch das Entscheidungsmonopol ausgeräumt werden sollte: die Grundrechte stünden zur Disposition der allgemein mißbrauchsabwehrenden Behörden 190 . Argumente gegen die ex-tunc-Wirkung der Aberkennung lassen sich zudem aus dem Zweck und der Ausgestaltung des Art. 18 gewinnen. Die Verwirkung dient dem Bestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Das geschieht, indem einem erklärten Verfassungsfeind der Grundrechtsschutz für Handlungen generell entzogen wird, die möglicherweise wiederum den Tatbestand des Art. 18 erfüllen. Für solcherlei sichernde Maßnahmen kommen aber nur gegenwärtige oder zukünftige Handlungen in Betracht 191 . Nur bei ihnen besteht die dem Sicherungszweck korrespondierende Ungewißheit. Abgeschlossene Handlungen hingegen sind ohne weiteres darauf nachprüfbar, ob sie Grundrechtsgebrauch oder Grundrechtsmißbrauch waren. Eine Verwirkungsentscheidung wäre bei ihnen unangebracht. Erweist sich nämlich eine abgeschlossene Handlung als Grundrechtsmißbrauch i. S. d. Art. 18, dann bleibt sie ohnehin außerhalb des Grundrechtsschutzes; eine Verwirkung wäre insoweit, d. h. in bezug auf diese Handlung, gegenstandslos192. Hielt sich dagegen eine Handlung, die in der Vergangenheit liegt, im Rahmen der grundrechtlichen Gewährleistung, dann bedarf es keiner Sicherungsmaßnahme. 189
Bejahend noch Dürig, JZ 52, 513 (517). Diese Konsequenz u n d die m i t i h r verbundene Unsicherheit f ü r den Grundrechtsträger bemängelte schon Echterhölter, J Z 53, 656 (657); zustimmend v. Mangoldt-Klein, A r t . 18 A n m . I V 2 c, S. 537; Reissmüller, JZ 60, 529 (532, FN. 27); Hönsch, Diss. S. 38; einschwenkend Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 68, S. 22 f. 191 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Geiger, K o m m . Vorbem. § 36, A n m . 4, S. 135. 192 Das Argument g i l t freilich nur, w e n n m a n v o n einem generellen V e r wirkungsverständnis i n A r t . 18 ausgeht; bei einem punktuellen läßt sich eine R ü c k w i r k u n g durchaus vertreten. Sie müßte allerdings als Aufhebung eines Verfolgungshindernisses konstruiert werden. 190
§ 40 Grenzen der Gestaltungsfreiheit
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S 40 Die Grenzen der Gestaltungsfreiheit bei der Ausmaßbestimmung
Auch innerhalb des dargestellten Rahmens ist das Bundesverfassungsgericht nicht völlig frei. Es ist vielmehr den allgemeinen Vorschriften unterworfen, die für hoheitliche Eingriffe in Freiheit und Vermögen gelten. Die Rechtsfolge des Art. 18 soll künftige Angriffe auf die freiheitlich demokratische Grundordnung verhindern. An dieser Intention hat sich jede Ausmaßbestimmung zu orientieren. Daraus folgt einmal, daß dem Betroffenen nichts auferlegt werden darf, was sich zur Erreichimg des Sicherungszweckes nicht wirklich eignet. Eine Handlung, die aus dem Gefährdungsbereich völlig ausscheidet, wie z.B. die Veröffentlichung eines unpolitischen, wissenschaftlichen Werkes, darf nicht untersagt werden 198 . Die Ausmaßbestimmung muß sich weiterhin im Rahmen dessen halten, was zur Erreichung des Sicherungszweckes erforderlich ist. Auch hier gilt der allgemeine rechtstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 194 . Was im konkreten Fall erforderlich ist, kann, weil die Verwirkung pro futuro wirkt, nur hypothetisch ermittelt werden. Den Maßstab hierfür bietet in erster Linie die Gefährlichkeit des Grundrechtsträgers in der konkreten politischen Situation. Dabei fallen die Person und die Stellung des Mißbrauchers ebenso ins Gewicht wie die Art der einzelnen Mißbrauchshandlungen und die Anfälligkeit der Umwelt für verfassungsfeindliche Bestrebungen 195. Das Prinzip der Erforderlichkeit schließt eine „Totalverwirkung" in aller Regel aus. Auch die Belastung mit Handlungspflichten dürfte letztlich an ihm scheitern. Für den Sicherungszweck des Art. 18 genügt es, wenn man die Wiederholung von Angriffen auf die freiheitlich demokratische Grundordnung unterbindet. Aus diesem Grund darf bei Verwirkung der Pressefreiheit nicht verlangt werden, daß nunmehr verfassungstreue Artikel zu publizieren seien. Eine Grundrechtsaberkennung, die sich in den dargestellten Grenzen hält, ist in ihrer Wirkung nicht auf das Grundrechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger beschränkt. Sie kann auch auf Rechtsverhältnisse ausstrahlen, die zwischen den einzelnen Grundrechtsträgern bestehen. In193 v g l . Düng, Maunz-Dürig, A r t . 18, RNr. 71, S. 24; Copiò, J Z 63, 494 (498). 104 Vgl. hierzu auch Dürig, J Z 52, 513 A n m . I I I 3, S. 528 m i t Nachweisen; Lerche, S. 135. A . A . anscheinend Echterhölter, JZ sungsgericht sei nicht befugt zu überprüfen, deren M i t t e l n erreicht werden kann". m Düng, aaO. S. 517; v. Mangoldt-Klein, vgl. auch BVerfGE 11,282 (283).
10 Gallwas
(517); v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, Übermaß u n d Verfassungsrecht, 53, 656 (657), das Bundesverfas„ob der erstrebte Zweck m i t anA r t . 18, A n m . I I I 4 a, S. 531 ff.;
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
soweit hat sie Drittwirkung 19®. Zum Beispiel wird die Aberkennung des Rechts, politische Artikel zu schreiben, nicht dadurch unzulässig, daß ein Zeitimgsunternehmen einen vertraglichen Anspruch auf eine Serie solcher Artikel hat. Ein Argument gegen die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ist aus Art. 18 wohl nicht zu gewinnen 197 . Dazu fehlt die Basis. Denn die Aberkennung einer ausschließlich drittgerichteten Grundrechtsausübung kommt bei Art. 18 überhaupt nicht in Betracht. Mithin läßt sich aus dem Umfang der Verwirkungsfolgen nicht auf den Wirkungsbereich der Grundrechte schließen.
I I I . D i e S p e r r w i r k u n g d e s A r t . 18 G G Die Frage, wie sich Art. 18 zu dem allgemeinen Mißbrauchsvorbehalt und zu den allgemeinen Mißbrauchsfolgen verhält, zielt in zwei Richtungen. Einmal ist zu untersuchen, ob die verfassungsrechtliche Positivierung von Mißbrauchstatbeständen es ausschließt, Kampfhandlungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, die im Zusammenhang mit in Art. 18 nicht genannten Grundrechten auftreten, als mißbräuchlich zu qualifizieren. Wäre dies der Fall, dann hätte Art. 18 in bezug auf den Tatbestand von Grundrechtsmißbräuchen eine Sperrwirkung. Zum anderen bedarf der Prüfung, ob und in welchem Umfang die dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltene Grundrechtsaberkennung anderen Mißbrauchssanktionen entgegensteht (Sperrwirkung des Entscheidungsmonopols) .
§ 41 Die Sperrwirkung des Tatbestandes
Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung ist der Sache nach auch in Freiheitsbereichen möglich, die Art. 18 unerwähnt läßt. Das allgemeine Freiheitsrecht kommt hier ebenso in Betracht wie die Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses; die Privatschulfreiheit ebenso wie die Berufsfreiheit; selbst das Elternrecht und das Petitionsrecht können in gewisser Beziehung kämpferisch ausgeübt werden. Hielte man die Aufzählung der Grundrechte in Art. 18 auch im Hinblick auf mögliche Mißbrauchstatbestände für abschließend, dann wäre die Abwehr entsprechender Kampfhandlungen in anderen Grundrechts196 197
Vgl. hierzu Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 18, S. 9. So aber Dürig, Festschrift f ü r Nawiasky, S. 175 f. ; Haller, Diss. S. 91.
§41 Die Sperrwirkung des Tatbestandes
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bereichen schlechterdings unzulässig. Es handelte sich insoweit eben von Verfassungs wegen positivrechtlich nicht um Grundrechtsmißbrauch, sondern um Grundrechtsgebrauch 198. Eine derartige Sperrwirkung ergibt sich zwangsläufig, wenn man den Verwirkungsbegriff in Art. 18 punktuell versteht 199 . Solange nämlich das Bundesverfassungsgericht, was insoweit erforderlich wäre, die konkrete Grundrechtsausübung nicht grundrechtslos gestellt hätte, bliebe der volle Grundrechtsschutz erhalten; der Grundrechtsträger stände im Genuß des ihm verfassungsrechtlich zugebilligten Mißbrauchsprivilegs 200. Erst recht hätte das für Grundrechte zu gelten, die nicht einmal über Art. 18 der Disposition des Bundesverfassungsgerichts unterworfen sind. Nachdem das punktuelle Verwirkungsverständnis bereits als unzutreffend abgelehnt wurde, braucht auf diesen Denkansatz nicht mehr näher eingegangen zu werden. Zu der beschriebenen Sperrwirkung gelangt man aber auch, wenn man Art. 18 folgendermaßen liest: „Wer die aufgezählten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung benutzt, mißbraucht diese Grundrechte und verwirkt sie deshalb201." Unversehens gerät man von hier aus zu dem Schluß, daß, wer andere als die genannten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung benutzt, diese anderen Grundrechte eben nicht mißbraucht 202 . Die „verdeutlichende" Lesart bietet jedoch keinen tragfähigen Grund für diesen Umkehrschluß. Nach dem Willen ihrer Befürworter soll sie lediglich den immerhin denkbaren Schluß vermeiden helfen, wonach es neben dem unzulässigen Mißbrauch der eigens benannten Grundrechte auch noch einen erlaubten Gebrauch dieser Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gäbe. Die Verwendung des Wortes „Mißbrauch" in Art. 18 wird im übrigen sinnvoll, wenn man annimmt, daß es auch für den Grundgesetzgeber 198 Diese Qualifikation wäre möglicherweise auch noch dort zu beachten, wo einzelne Grundrechte m i t einem allgemeinen Vorbehalt versehen sind, der Abwehrmaßnahmen an sich zuließe, w i e z. B. A r t . 2 Abs. 1 u. 2, A r t . 5 Abs. 1, A r t . 6 Abs. 2 u. 3. 199 Vgl. hierzu oben § 31 a. 200 So Kessler, Diss. S. 47 ff.; i m Ergebnis w o h l auch Kind, Diss. S. 122 F N 1. 201 So Wernicke, K o m m . A r t . 18, Erl. 1 c α S. 4; Düng, JZ 52, 513 (516). 202 Diesem Schluß scheint Wernicke, aaO. Erl. 1 c ß, S. 4 tatsächlich erlegen zu sein, w e n n er i n dem tatbestandsmäßigen Kampfverhalten eine inhaltliche Begrenzung „dieser Grundrechte" u n d „der i n Frage kommenden G r u n d rechte" (womit jeweils die i n A r t . 18 genannten Grundrechte gemeint sind) erblickt. I n dieselbe Richtung tendierend Herbert Krüger, DVB1. 52, 97 (99); w o h l auch Düng, JZ 52, 513 (516 m i t FN. 31), insoweit aber klarstellend Düng, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 23, S. 10.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
eine Selbstverständlichkeit war, daß die Benutzung irgendeines Grundrechts zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung unzulässige Rechtsausübung ist, und daß er mit Art. 18 nur eine besondere Mißbrauchsfolge für besonders gefährliche Mißbrauchsfälle schaffen wollte. Auf dem Boden dieser Annahme wird man den Tatbestand des Art. 18 nicht als unkorrekt formuliert auffassen. Man braucht dann nämlich das Wort „mißbraucht" nicht als pleonastische Wertung des schon durch die Sanktion für unzulässig erklärten Gebrauches der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnimg zu verstehen. Vielmehr kann man sie als Indiz für eine Aussage des Verfassimggebers nehmen, die alle Grundrechte betrifft. Für das Verhältnis des Art. 18 zu den Grundrechten ergibt sich somit: Jeder Gebrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung ist Grundrechtsmißbrauch und daher „Handeln ohne Recht" 208 ; die Verwirkung ist die besondere Mißbrauchsfolge in den von Art. 18 bezeichneten Fällen. Der Tatbestand des Art. 18 erweist sich somit als Ausschnitt der allgemeinen Mißbrauchslage: Grundrechtsausübung auf Kosten der staatlichen Grundnorm 204 .
§ 42 Die Sperrwirkung des Entscheidungsmonopols
Da sich der Grundrechtsmißbrauch i. S. d. Art. 18 tatbestandsmäßig als Mißbrauchslage des allgemeinen Mißbrauchsvorbehalts gezeigt hat, ist nunmehr das Verhältnis der Grundrechtsaberkennung nach Art. 18 zu den allgemeinen Mißbrauchsfolgen zu bestimmen. Einige Konturen haben sich schon abgezeichnet205: Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts erstreckt sich nicht auf rein repressive Maßnahmen. I n allen Grundrechtsbereichen dürfen staatliche Organe gegen Kampfhandlungen einschreiten, wenn die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet erscheint. Als Sanktion ist jedes Mittel recht, das durch die Verfassung selbst oder auf Grund der Verfassung zur Verfügung steht. Ausgenommen sind nur solche Maßnah208 j m Ergebnis ebenso Geiger, Komm., Vorbem. v o r § 36, A n m . 6, S. 135; Maunz, Staatsrecht, § 16 I I 2, S. 123; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 2, RdNr. 86, S. 76; A r t . 18, RdNr. 23, S. 10; W. O. Schmitt, DVB1. 66, 166 (171); Haller, Diss. S. 41 ff. Sigloch, M D R 64, 881 (883); vgl. auch v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 4 d, S. 535; Lechner, K o m m . § 13 Ziff. 1, A n m . 1 S. 69. 204
Vgl. oben §22.
205
Vgl. oben §32.
§ 42 Die Sperrwirkung des Entscheidungsmonopols
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men, die sich als Verwirkung i. S. d. Art. 18 darstellen oder ihr gleichkommen 206 . Diese Ansätze bedürfen noch der Präzisierung. Sicher ist, daß der einfache Gesetzgeber den Kreis der nach Art. 18 verwirkbaren Grundrechte nicht erweitern darf 207 . Weder das Bundesverfassungsgericht noch ein anderes staatliches Organ dürfen bei nicht verwirkbaren Grundrechten eine Verwirkung aussprechen oder eine verwirkungsgleiche Maßnahme verhängen 208 . Sicher ist auch, daß der Gesetzgeber keine Regelung treffen darf, nach der die Verwirkung ipso iure mit dem Mißbrauchstatbestand eintritt oder durch andere staatliche Organe als das Bundesverfassungsgericht zu verhängen ist 209 . Die Schwierigkeiten beginnen eigentlich erst bei der Frage, wann eine staatliche Maßnahme einer Verwirkimg gleichkommt. Hier ist nur eines unbestreitbar: Wenn die Grundrechtsverwirkung darin besteht, daß der Grundrechtsträger für die Zukunft das betroffene Recht verliert, können ausschließlich repressive Maßnahmen niemals verwirkungsgleich sein. Wer den Mißbraucher in die Schranken seines Rechts zurückverweist, nimmt ihm nichts von der ihm an sich zustehenden Rechtsmacht. Art. 18 steht daher nach dem hier vertretenen Verwirkungsverständnis rein repressiven Maßnahmen nicht entgegen210. Als verwirkungsgleich kommen folglich nur solche Maßnahmen in Frage, die zu einer echten Grundrechtsminderung führen. Allerdings ist eine allein auf den Effekt abstellende Betrachtungsweise nicht brauchbar. Man gelangte zu absurden Ergebnissen. Die Sperrwirkung des Art. 18 erfaßte nämlich alle Präventivmaßnahmen gegen Grundrechtsträger, und zwar unabhängig von dem verfolgten Zweck. Eine Verwirkung der elterlichen Gewalt, wie sie § 1666 BGB zum Schutz des Kindes 208 Ebenso BVerfGE 10, 118 (122 f.); Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 93, S. 34; Reissmüller, JZ 60, 529 (531 f.); Copié , JZ 63, 494 (498); Stree, Deliktsfolgen u n d Grundgesetz, S. 225, FN. 30; Wilke, Verwirkung, S. 108 ff.; Bettermann, J Z 64, 601 (606 f.); Haller, Diss. S. 124. 207 Ebenso v. Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 1, S. 520; Reissmüller, JZ 60, 529 (530); Wilke, V e r w i r k u n g , S. I l l ; W. O. Schmitt, N J W 66,1734. 208 Haller, Diss. S. 124. 208 So BVerfGE 10, 118 (123); Reissmüller, J Z 60, 529 (530 f.); Haller, Diss. S. 114. 210 Ebenso ν . Mangoldt-Klein, A r t . 18, A n m . I I I 4 d , S. 535; Dürig, MaunzDürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 86, S. 76; A r t . 18, RdNr. 69, S. 23; einschränkend A r t . 18, RdNr. 91, S. 32 m i t FN. 2; Echterhölter, JZ 53, 656 (657); Wilke, V e r w i r k u n g , S. 113 m i t weiteren Nachweisen. Vgl. auch BGHZ 12,197 (200 f.). Α. Α., u n d zwar jeweils auf einem anderen, hier abgelehnten Verwirkungsverständnis aufbauend Willms, N J W 64, 225 (227 f.); ähnlich Copié , JZ 63, 494 (497); Ridder, Grundrechte, Bd. I I , S. 289 f.; Löffler, D Ö V 57, 897 (899 f.); Beyer, N J W 54, 713; v. Mangoldt, K o m m . A r t . 18, A n m . 2, S. 115; Kessler, Diss. S. 43 u n d 48; Hess. StGH, Beschl. v o m 27. 7. 51, N J W 51,734.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
vorsieht, wäre ebenso verfassungswidrig wie eine Gewerbeuntersagung nach § 35 GewO. Eine allein am Effekt orientierte Sperrwirkung erstreckte sich zudem auf alle Akte, die zwischen reiner Repression und reiner Prävention liegen, also insbesondere auf alle Freiheitsstrafen 211. Denn was den Effekt anbelangt, bedeutet jede Freiheitsstrafe eine Minderung des Rechtsstatus, den Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG einräumt. Durchaus folgerichtig bemühte man sich daher um eine exaktere Eingrenzung der Sperrwirkung, indem man den Effekt an ein finales Element koppelte. Nur solche Grundrechtsminderungen kämen danach einer Verwirkung gleich, die präventiv, zur Verhinderung künftiger Angriffe auf die freiheitlich demokratische Grundordnung verhängt werden 212 . Nach dieser Ansicht wäre beispielsweise die Anordnung eines Berufsverbotes nach § 421 StGB verfassungswidrig, wenn sie zur Vermeidung künftiger Kampfhandlungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung erfolgt 218 . Diese Auffassung leidet zunächst an einem Schönheitsfehler. Es ist nicht recht einleuchtend, warum jedes Vergehen und Verbrechen, das im Zusammenhang mit einer beruflichen Tätigkeit begangen wurde, das Berufsverbot nach sich ziehen kann, nicht aber eine unter Strafe gestellte verfassungsf eindliche Handlung 214 . Hinzu kommt die grundrechtssystematische Problematik der Freiheitsstrafe. Der Freiheitsentzug weist den Grundrechtsträger gerade nicht nur in die Grenzen seines Rechts zurück, wirkt daher nicht nur repressiv 215, sondern enthält zugleich präventive Komponenten 218 . Die Freiheitsstrafe bei verfassungsfeindlichen Handlungen dient ja unter anderem auch dem Zweck, künftige Kampfhandlungen zu verhindern 217 . 211 U n d nicht n u r auf das politische Strafrecht, w i e Reissmüller, J Z 60, 529 (532) meint. 212 So Reissmüller, J Z 60, 529 (532); Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 91 ff., S. 32 ff.; Haller, Diss., S. 122 f. 218 So Reissmüller, JZ 60, 529 (533); Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 96, S. 35; Stree, Deliktsfolgen u n d Grundgesetz, S. 225 FN. 30; Löffler, N J W 60, 30; i m Ergebnis ebenso Copié, JZ 60, 494 ff.; vgl. auch Bettermann, JZ 64, 601 (606 f.). 214 A u f den Widersinn dieses Ergebnisses weist auch Schröder hin, Schönke-Schröder, § 42 I, RdNr. 1, S. 203. 215 Wie es Dürig noch annimmt, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 94, S. 34 f. 218 Ebenso Haller, Diss. S. 126 f.; f ü r das politische Strafrecht. 217 Vgl. Schönke-Schröder, Vorbem. zu §§ 13 ff., RdNr. 2, S. 89 f. m i t Nachweisen.
§ 42 Die Sperrwirkung des Entscheidungsmonopols
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Mithin entbehrt es nicht der Konsequenz, wenn man sie in den Kreis der verwirkungsgleichen Sanktionen einbezieht 218 . Mit dem Begriffspaar: präventiver Verfassungsschutz — repressiver Verfassungsschutz, ist dem Problem der Sperrwirkung nicht restlos beizukommen. Das gelingt erst, wenn man neben dem Effekt und dem finalen Element der staatlichen Maßnahme noch ein Drittes berücksichtigt, nämlich dies, daß die Verwirkung nach Art. 18 an die Verwirklichung des generalklauselartigen Tatbestandes: „Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung" anknüpft. Die Grundrechtsaberkennung ist nicht allein deswegen dem Bundesverfassungsgericht anvertraut, weil es sich um eine besonders einschneidendè Sanktion handelt 219 , auch nicht vorwiegend deshalb, weil die Sanktion dem Schutz der Verfassung dient 220 , sondern, und zwar wohl in erster Linie, weil hier eine verfassungsrechtliche Generalklausel zu konkretisieren ist. Erst dieser Aspekt liefert ein brauchbares Kriterium für die Aussonderung verwirkungsgleicher Hoheitsakte. Verwirkungsgleich sind die staatlichen Maßnahmen, die gestützt auf den konkretisierungsbedürftigen Tatbestand: „Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung" eine Grundrechtsminderung herbeiführen, um künftigen Kampfhandlungen vorzubeugen. Mit diesem Kriterium entfallen im Hinblick auf Art. 18 alle Bedenken gegen staatliche Sanktionen, die nur im Effekt einer Verwirkung gleichkommen oder sie wie z. B. die lebenslängliche Zuchthausstrafe — wenigstens faktisch — noch übertreffen. Das gilt auch dann, wenn derartige Sanktionen ganz oder teilweise der Prävention gegen künftige Kampfhandlungen dienen 221 . Art. 18 schließt nur aus, daß andere staatliche Organe als das Bundesverfassungsgericht eine konkrete Handlung unter Anwendung der Generalklausel: „Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung" als Mißbrauch werten und daraufhin vorbeugend grundrechtsmindernde Sanktionen verhängen. 218 So Wilke, V e r w i r k u n g , S. 108 ff. (mit Nachweisen, S. I l l , FN. 20); allerdings k l a m m e r t er die Delikte aus, die schon i n A r t . 143 G G a. F. enthalten waren (S. 122 f.). 219 So BVerfGE 10, 118 (123); Maunz, Staatsrecht, §16112, S. 124; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 64, S. 21; aber schließlich gibt es Sanktionen, die ungleich schwerer wiegen. 220 Dem Grundgesetz ist keine generelle Tendenz zu entnehmen, Verfassungsschutzmaßnahmen beim Bundesverfassungsgericht zu konzentrieren; vgl. etwa A r t . 9 Abs. 2 u n d A r t . 143 a. F. 221 Insoweit abweichend von den Ausführungen, die als Dissertation v o r gelegt wurden, was sich bei der Vereinbarkeit eines Berufsverbotes nach § 421 StGB u n d der Wahlrechtsaberkennung nach § 39 Abs. 2 B V e r f G G m i t A r t . 18 auswirkt.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Für das politische Strafrecht folgt daraus, daß alle strafrechtlichen Sanktionen: Strafen wie Maßregeln der Sicherung und Besserung ausgesprochen werden dürfen, da sie nicht auf Grund der verfassungsrechtlichen Generalklausel, sondern gestützt auf strafrechtliche Spezialtatbestände ergehen 222. Die Frage, ob innerhalb des von Art. 18 umschriebenen Mißbrauchsbereiches nach Maßgabe des Strafbedürfnisses und der Strafmöglichkeit speziellere strafrechtliche Tatbestände gebildet werden dürfen, sollte im übrigen nicht mit der Sperrwirkung des Art. 18 vermengt werden 223 . Art. 143 GG a. F. bietet insoweit ein beweiskräftiges Indiz für eine Normierungsbefugnis des Strafgesetzgebers 224. Gegen ein entsprechendes Gesetz kann sich das Bundesverfassungsgericht nicht auf sein Entscheidungsmonopol aus Art. 18 S. 2 berufen, sondern nur auf sein allgemeines Normenkontrollrecht 225 . An Hand des genannten Kriteriums läßt sich auch das gesamte Gebiet der Normierimg von sogenannten Ehrenfolgen aus dem Sperrbereich des Art. 18 lösen. Ehrenfolgen mindern zwar auch den Rechtsstatus des Betroffenen. Aber sie werden nicht verhängt, um bestimmten, vom Recht mißbilligten Handlungen vorzubeugen, sondern weil der Betroffene eine bestimmte, vom Recht mißbilligte Handlung begangen hat und deshalb nicht mehr die Erwartungen erfüllt, die die Rechtsordnung mit der in Frage stehenden Rechtsposition verbindet. Ob solche Ehrenfolgen ausgesprochen werden dürfen, richtet sich ausschließlich nach der besonderen grundgesetzlichen Ausgestaltung der jeweiligen Rechtsposition22·. Demgemäß bestehen im Hinblick auf Art. 18 keine Bedenken gegen §§ 7 Ziff. 1,14 Ziff. 2 BRAO, wonach die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu versagen, bzw. zurückzunehmen ist, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Verwirkung ausgesprochen hat 227 . Gleichfalls steht Art. 18 den Vorschriften der §§ 48 S. 2 BBG, 24 S. 2 BRRG nicht entgegen, die ein Verwirkungsurteil des Bundesverfassungsgerichts zum Endigungsgrund 222 F ü r das Berufsverbot nach § 42 1 StGB i m Ergebnis ebenso BGHSt 17, 38; Scilönke-Schröder, § 421, RdNr. 1 S. 203; Schnur, W D S t R L 22, 143 ff.; Scheuner, W D S t R L 22, 71 f.; v. Weber, Verh. D J T (1950) E 13; Willms, N J W 64, 225 (227 f.), allerdings verlangt er, daß zunächst die V e r w i r k u n g ausgesprochen w i r d . Umfassender Haller, Diss. S. 134 ff. 228 So aber Reissmüller, J Z 60, 529 (531, 532). 224 Ebenso, allerdings n u r f ü r das „repressive" politische Straf recht Düng, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 91, S. 22 m i t Hinweis auf Copié, J Z 63, 494 (499 FN. 59). 225 Vgl. hierzu auch Sigloch, M D R 64, 881 (883 f.). 22β y o n da her ist v o r allem die Frage zu entscheiden, ob Ehrenfolgen an einen Tatbestand geknüpft werden dürfen, der w i e der des A r t . 18 k e i n V e r schulden erfordert. 227
Ebenso Haller, Diss. S. 152 ff.
§ 43 A r t . 18 GG u n d die Landesgrundrechte
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für Beamtenverhältnisse machen228. Schließlich läßt sich unter diesem Aspekt auch die Aberkennung des Wahlrechts, der Wählbarkeit und der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter gem. § 39 Abs. 2 BVerfGG rechtfertigen 229.
S 43 Das Verhältnis des Art. 18 G G zu den Grundrechten der Landesverfassungen
Die Grundrechtsgewährleistungen der Landesverfassungen sind von Art. 18 her betrachtet in mehrfacher Beziehung problematisch. Wie, wenn das Landesverfassungsrecht die grundgesetzliche Garantie übertrifft; wie, wenn es hinter ihr zurückbleibt? Von Interesse sind vor allem folgende Fragenkreise: Darf das Landesverfassungsrecht für Landesgrundrechte abweichend von Art. 18 ein Mißbrauchsprivileg einräumen, so daß gegen eine konkrete Kampfmaßnahme erst nach einem Verwirkungsausspruch vorgegangen werden dürfte? Darf das Landesverfassungsrecht die verwirkbaren Grundrechtsbereiche anders abstecken als Art. 18, etwa die Lehrfreiheit von der Verwirkbarkeit ausnehmen oder die Privatschulfreiheit einbeziehen? Darf das Landesverfassungsrecht für die Landesgrundrechte eine ipso-iure-Verwirkung oder ein besonderes Verfahren vorsehen? Die Lösung muß bei der Kollisionsnorm des Art. 142 GG ansetzen. Nach dieser Vorschrift bleiben zunächst alle landesverfassungsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen in Kraft, die mit Art. 1 bis Art. 18 übereinstimmen. Bestehen bleiben auch solche Gewährleistungen, die in den Art. 1 bis Art. 18 keine thematischen Entsprechungen haben 280 . Während thematisch Widersprechendes hinfällig ist 281 . Folglich kann sich auf materielle Landesgrundrechte nicht berufen, wer bei Kampfhandlungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung lediglich repressiv in seinen Grundrechtsbereich zurückgehe Ebenso Haller, Diss. S. 143 ff. 229 Den hier entscheidenden Gesichtspunkt hat W. O. Schmitt, N J W 66, 1734 ff., nicht berücksichtigt. I m Ergebnis w i e hier Düng, Maunz-Dürig, A r t . 18 RdNr. 23 f., S. 10; A r t . 19 Abs. I I I , RdNr. 19, S. 8 m i t FN. 3; Friesenhahn, V e r fassungsgerichtsbarkeit, S. 96; Schmitz, Diss. S. 117; Haller, Diss. S. 79 ff., letzterer m i t der w e n i g überzeugenden Begründung, der „status activus" stehe außerhalb des Schutzbereiches des A r t . 18. Ä h n l i c h Klemmer, Diss. S. 51 ; Wagner, Diss. S. 55 ff. 280 Vgl. v. Mangoldt, K o m m . A r t . 142, S. 665. 281 So Maunz, Staatsrecht, § 13 I I 4 b, S. 88; zu eng Holtkotten, K o m m . A r t . 142, Erl. 2, S. 2; Erl. 4 a, S. 7 f., nach i h m sollen alle Landesgrundrechte auch insoweit i n K r a f t bleiben, w i e sie mehr gewähren als die Grundrechte des GG. Z u eng auch Hamann, K o m m . A r t . 142, Erl. 4, S. 505.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
drängt wird 2 8 2 . Die Gewährleistung von Grundrechten in den Landesverfassungen muß sich in den Grenzen halten, die der Verwirkungsvorbehalt 233 und die Sperrwirkung des Art. 18 ziehen 234 . Verwirkungen oder Sanktionen, die einer Verwirkung gleichkommen, dürfen weder nach Art. 18 unverwirkbare Freiheitsbereiche erfassen noch ipso iure eintreten oder von irgendeinem Landesorgan ausgesprochen werden 235 .
B. D i e verfahrensrechtliche Seite § 44 Die Eröffnung des Verwirkungsverfahrens
Eröffnet wird das Verwirkungsverfahren durch einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht. Antragsberechtigt sind gemäß § 36 BVerfGG der Bundestag, die Bundesregierung oder eine Landesregierung. Diese Organe haben nach den für das Zustandekommen ihrer Beschlüsse geltenden Regeln über die Stellung des Antrages zu entscheiden. Die Entscheidung steht in ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Geiger 236 hält die Antragsberechtigten zugleich für antragsverpflichtet und räumt lediglich die Befugnis ein, den Zeitpunkt festzulegen. Diese Ansicht findet im Gesetz keine Stütze. Aus Art. 18 läßt sie sich nicht herleiten. Der Wortlaut des § 36 BVerfGG spricht eindeutig gegen sie 237 . Das Antragsrecht der Landesregierung erfordert nach § 36 BVerfGG keine besondere persönliche Beziehimg des Antragsgegners zum antragstellenden Land. Dennoch wollen es Lechner 238 und Thoma 239 auf die Fälle beschränken, in denen der Antragsgegner seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem entsprechenden Land hat. Thoma folgert dies aus dem Grundsatz, daß Landesverwaltung Selbstverwaltung in eigenen Angelegenheiten sei. Dabei wird aber wohl nicht genügend beachtet, daß sich Kampfaktionen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung ihrer Natur nach kaum auf ein Land lokalisieren lassen, sondern nicht 232
Ebenso Zinn-Stein, A r t . 17, A n m . 3, S. 146; a. A . Süsterhenn-Schäfer, A r t . 133, A n m . 2 c, S. 469. 258 Ebenso Geiger, K o m m . § 39, A n m . 10, S. 150. 284 Ebenso Reissmüller, JZ 60, 529 (531). 235 So Wernicke, K o m m . A r t . 18, Erl. 2 b γ, S. 9; Reissmüller, J Z 60, 529 (530) m i t Nachweisen FN. 9; a. Α . Maunz, Staatsrecht, § 13 I I 4 b, S. 88; Geiger, K o m m . § 39, A n m . 10, S. 150. Vgl. i m übrigen zum gesamten Problemkreis Haller, Diss. S. 84 ff.; Hönsch, Diss. S. 110 ff.; Kind, Diss. S. 93 f. 238 K o m m . § 36, A n m . 3, S. 138. 237 Vgl. auch Echterhölter, JZ 53, 656 (567). 238 K o m m . § 36, A n m . 4, S. 194. 238 Lehrfreiheit der Hochschullehrer, S. 40, FN. 26.
§ 44 Die Eröffnung des Verwirkungsverfahrens
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zuletzt durch die Publikationsmedien ausstrahlen. Es besteht daher stets die Gefahr der Übertragung von Kampfaktionen in ein anderes Bundesland. I m Interesse eines möglichst frühen und möglichst wirksamen Verfassungsschutzes sollte man auf einen besonderen Anknüpfungspunkt verzichten. Um gefährliche negative Kompetenzkonflikte zu vermeiden, müssen Überschneidungen in Kauf genommen werden 240 . Antragsgegner kann jeder Grundrechtsträger sein, also grundsätzlich auch juristische Personen im Rahmen des Art. 19 Abs. 3 GG 2 4 1 . Für die Abgeordneten des Bundestages gilt Art. 46 Abs. 3 GG. Es muß zuvor die Genehmigung des Bundestages eingeholt werden. Eine entsprechende Regelung zum Schutze der Landtagsabgeordneten fehlt. Da kein sachlicher Differenzierungsgrund vorliegt, wird man dem Vorschlag Geigers zustimmen können, Art. 46 Abs. 3 GG analog anzuwenden242. Der Verwirkungsantrag muß schriftlich beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden und ist mit einer Begründung zu versehen, §23 BVerfGG. Fraglich ist, ob der Antrag zurückgenommen werden darf 243 . Es lassen sich Fälle denken, in denen es dem Antragsteller politisch zweckmäßig erscheinen mag, das Verwirkungsverfahren zu stoppen. Das Gesetz sieht eine Rücknahme des Antrags nicht vor. Eine Einstellung des Verfahrens ähnlich den §§ 206 a, 260 StPO kennt es nicht. Doch das ist kein überzeugender Hinderungsgrund 244. Immerhin könnte das Bundesverfassungsgericht einen zurückgenommenen Antrag als unzulässig behandeln und verwerfen. Weder aus dem Grundgesetz noch aus dem BVerfGG ergibt sich, ob der Antrag ein Erfordernis des Verfahrensbeginns oder eine Urteilsvoraussetzung ist; ob das Bundesverfassungsgericht, wenn einmal ein zulässiger Antrag eingegangen ist, unabhängig vom Antragsteller Herr des Verfahrens wird oder ob der Wille des Antragstellers, eine Verwirkungsentscheidung zu erlangen, bis zum Zeitpunkt der Entscheidung fortbestehen muß. Eine Lösung ergibt sich jedoch aus der Funktion, die das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht im Verwirkungsverfahren zugedacht hat. Die Übertragung der Entscheidungskompetenz auf das Gericht dient 240
Vgl. hierzu Herbert Krüger, D Ö V 60,725 (729). 241 v g l . Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 20, S. 10. Wegen der Besonderheiten, die sich aus A r t . 9 Abs. 2 G G ergeben vgl. unten § 48. 242
K o m m . § 39, A n m . 8, S. 150. Bejahend Lechner, K o m m . § 36, A n m . 5, S. 194; verneinend K o m m . § 36, A n m . 6, S. 139. 244 Α . A . Geiger, aaO. 248
Geiger,
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§ 44 Die Eröffnung des Verwirkungsverfahrens
dem Schutz des Grundrechtsträgers. Das Monopol soll verhindern, daß gegen einen nur vermeintlichen Verfassungsfeind überhaupt oder gegen einen tatsächlichen Verfassungsfeind zu scharf vorgegangen wird. Zieht der Antragsteller seinen Antrag zurück, verzichtet er also darauf, sich außerordentliche Befugnisse gegen einen Grundrechtsträger zu verschaffen, dann braucht das Bundesverfassungsgericht dem Grundrechtsträger keinen Schutz zu gewähren. Würde es das Verfahren ex officio weiterbetreiben, so wechselte es über in die Rolle eines selbständigen Staatsschutzorgans245. Der Antrag führt zunächst zu einem Vorverfahren. Dabei erhält der Antragsgegner Gelegenheit zur Äußerung. Dieser Verfahrensabschnitt endet durch einen Beschluß. War der Antrag unzulässig oder nicht hinreichend begründet, so wird er zurückgewiesen, § 37 BVerfGG. Das Erfordernis hinreichender Begründung dient dem Schutz des Antragsgegners; er soll erst dann dem Verfahren ausgesetzt werden, wenn eine Grundrechtsaberkennung nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich ist, weil hinreichende Beweise für eine Mißbrauchshandlung vorliegen 246 . Ein als unzulässig abgewiesener Antrag kann jederzeit in zulässiger Weise wiederholt werden. Insoweit hat die zurückweisende Entscheidung keine Ausschlußwirkung 247. Ist aber ein Antrag abgewiesen, weil ihm die hinreichende Begründung fehlt, dann ist i. S. d. § 41 BVerfGG sachlich entschieden248, denn dann ist in der Sache festgestellt, daß entweder die Tatsachen selbst oder ihre Beweismöglichkeit für die Entscheidung nicht ausreichen. Die Entscheidung wirkt präklusiv. Das Gericht braucht inhaltlich gleiche Anträge nicht wiederholt zu überprüfen, und der Antragsgegner erlangt die Gewißheit, daß die vorgetragenen Tatsachen abschließend gewürdigt sind. Lechner sieht alle Entscheidungen nach § 37 BVerfGG als prozessualer Art an 249 . Doch verwickelt er sich in Widersprüche, da er an anderer Stelle äußert 250 , der abweisende Beschluß nach § 37 BVerfGG erwachse gemäß § 41 BVerfGG in Rechtskraft, ein weiteres Verfahren müsse daher auf neue Tatsachen gestützt werden. Die Ausschlußwirkung des § 41 BVerfGG setzt aber gerade eine „sachliche Entscheidung" voraus. Die „Neuheit" der Tatsachen, § 41 BVerfGG, richtet sich nicht danach, ob die Tatsachen, die die konkrete Mißbrauchshandlung belegen sollen, 245 246 247 248 248 250
So aber Geiger, K o m m . § 36, A n m . 6, S. 139. Geiger, K o m m . § 37, A n m . 2, S. 140; Lechner, K o m m . § 37, A n m . 2, S. 195. Α. A . Geiger, K o m m . § 37 A n m . 4, S. 140. Ebenso Geiger, K o m m . § 37, A n m . 4, S. 140. Komm., § 37, A n m . 3, S. 195. Komm., § 41, A n m . 1, S. 200.
§ 45 Die prozessuale N a t u r der Verwirkungsentscheidung
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zur Zeit des Abweisungsbeschlusses schon existent waren, sondern allein danach, ob sie zu dieser Zeit dem Antragsteller bekannt waren. Die Entscheidung nach § 37 BVerfGG ist „summarisch"; sie erfordert keine intensive Ausleuchtung aller Tatumstände. Bei derartigen Verfahren wird das Antragsrecht nicht hinsichtlich des gesamten historischen Komplexes verbraucht. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet nur, daß dieselben Tatsachen mehrmals oder sukzessive benutzt werden, es gebietet aber nicht, daß der Antragsgegner wegen einer Mißbrauchshandlung auch dann unbehelligt bleibt, wenn erst nachträglich Tatsachen bekannt werden, die eine entsprechende Qualifikation erlauben. Geiger vertritt allerdings die Ansicht, nur solche Tatsachen seien neu, die erst zu einem Zeitpunkt eingetreten sind, zu dem sie das Gericht nicht mehr berücksichtigen konnte. Dafür spreche die im Verwirkungsverfahren herrschende Offizialmaxime 251 . Solange das Bundesverfassungsgericht die Durchführimg des Verfahrens noch nicht beschlossen hat, gilt aber gar nicht die Offizialmaxime. Es ist ja gerade Sache des Antragstellers, für eine zureichende Begründung zu sorgen. Entspricht der Antrag dieser Anforderung nicht, so hat das Gericht ihn abzuweisen und darf keine eigenen Untersuchungen zur Aufhellung des Tatsachenkomplexes vornehmen. Eine selbständige Voruntersuchung nach §38 Abs. 2 BVerfGG könnte das Gericht nicht anordnen. Sie ist der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung vorbehalten 252 . Erweist sich ein Antrag als zulässig und hinreichend begründet, beschließt das Bundesverfassungsgericht, daß eine Verhandlung durchzuführen ist, § 37 BVerfGG.
S 45 Die prozessuale Natur der Verwirkungsentscheidung
Über die Rechtsnatur der Verwirkungsentscheidung bestehen verschiedene Ansichten. ν . Mangoldt hält die Entscheidung für deklaratorisch 258. Die überwiegende Zahl der Autoren, die sich mit Art. 18 befassen 254, mißt der Entscheidung konstitutive Bedeutung bei. Schließlich wird noch die Ansicht vertreten, die Verwirkungsentscheidung sei teils deklaratorisch, teils konstitutiv 255 . 251
Komm., § 41, A n m . 3, S. 153 f. Vgl. hierzu Geiger, K o m m . § 38 A n m . 1, S. 141. 2 M Komm., A r t . 18, A n m . 2, S. 115. 254 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 67, S. 22 m i t Nachweisen FN. 2; Wilke, Verwirkung, S. 58 m i t FN. 39; Kind, Diss. S. 71; Schmitz, Diss. S. 105 ff.; Klemmer, Diss., S. 48; Hönsch, Diss., S. 33 ff.; Haller, Diss., S. 20 m i t FN. 44. 255 So Geiger, Komm., § 39 A n m . 4, S. 148; ebenso Kessler, Diss., S. 94 ff. 252
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Für die Bestimmung der Reehtsnatur haben die Vorschriften des Art. 18 S. 2 und des § 39 Abs. 1 S. 2 BVerfGG, soweit dort die Rede ist, daß die Verwirkung „ausgesprochen" bzw. „festgestellt" wird, allenfalls indiziellen Wert 2 5 6 . Maßgebend allein ist das Verwirkungsverständnis. Es ist keinesfalls zufällig, daß einerseits v. Mangoldt, der von einem punktuellen Verwirkungsverständnis ausgeht, die Entscheidung für deklaratorisch hält, und andererseits von denen, die sich zum generellen Verwirkungsverständnis bekennen, konstitutive Wirkung angenommen wird. Folgt man der oben dargelegten Ansicht, daß die Verwirkimg des Art. 18 gerade nicht darin besteht, einen bloß scheinbaren Grundrechtsschutz punktuell zu beseitigen, sondern die betroffenen Grundrechte generell abzuerkennen, dann kann die Entscheidung nicht in dem Sinn deklaratorisch sein, daß das Bundesverfassungsgericht nur etwas bereits Vorliegendes bestätigt. Anderenfalls stünden die Grundrechte wiederum bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Disposition der staatlichen Organe und man wäre bei eben der Situation angelangt, die durch das Entscheidungsmonopol verhindert werden sollte. Die Verwirkungsentscheidung wirkt konstitutiv, und zwar ausschließlich. Das folgt daraus, daß die Verwirkung nach Art. 18 inhaltlich nicht bestimmt ist 257 . Die bloße Feststellung, ein Grundrecht sei verwirkt, hat für sich genommen keinerlei rechtliche Wirkung. Daher dürfte auch die Annahme nicht zutreffen, daß das Bundesverfassungsgericht in Form einer Feststellung die Gestaltung vollzieht, wie es beim Verfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG der Fall ist 258 . Das Bundesverfassungsgericht muß in allen Verwirkungsfällen noch das Ausmaß der Rechtsfolge bestimmen. Es spricht folglich stets gestaltend aus, was mit dem verwirkten Grundrecht wird 2 5 9 .
§ 46 Die einstweilige Anordnung i m Verwirkungsverf ahren
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG darf das Bundesverfassungsgericht unter bestimmten Voraussetzungen durch einstweilige Anordnung einen Zustand vorläufig regeln. Da die Vorschriften für das Verwirkungsverfahren keine Besonderheiten über die Zulässigkeit einstweiliger Anordnungen enthalten, gilt die allgemeine Vorschrift des § 32 BVerfGG auch für dieses Verfahren. Das entspricht dem rechtspolitischen Motiv der 25β v g l . Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 67, S. 22. 257 Vgl. oben §35. 258 Vgl. dazu BVerfGE 12, 296 (304 f.); BGHZ 31,1 (3 f.); Maunz, MaunzDürig, A r t . 21, RdNr. 121, S. 43; Copié , J Z 63, 494 (498 FN. 46), der i n diesem Zusammenhang v o n einer „ f o r m e l l konstitutiven Theorie" spricht. 259 vgL Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozesses, § 8711, S. 411.
§ 46 Die einstweilige Anordnung i m Verwirkungsverfahren
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einstweiligen Anordnimg. Sie soll einer nachteiligen Entwicklung begegnen, die sich unter Umständen daraus ergibt, daß die verfassungsrechtlichen Differenzen der Streitbeteiligten zu Rechtsunsicherheit und Störung im normalen Ablauf der Staatsfunktion geführt haben, zugleich soll sie verhindern, daß der Verfassung aus dem Institut des gerichtlichen Verfassungsschutzes in anderer Hinsicht Nachteile erwachsen 260. Allerdings ist zu erwägen, ob die „einstweilige Anordnung" überhaupt mit der „Verwirkung" nach Art. 18 vereinbar ist. Bedenken ließen sich vielleicht aus Art. 18 S. 2 herleiten. Es könnte sein, daß diese Vorschrift sogar vorläufigen Maßnahmen des Bundesverfassungsgerichts entgegensteht. Voraussetzung hierfür wäre, daß die einstweilige Anordnung im Verwirkungsverfahren ihrer Natur nach einer Verwirkung gleichkäme. Schon das ist zu verneinen. Eine Anordnung nach § 32 BVerfGG ist nicht verwirkungsgleich. Sie greift nicht in einen durch die Grundrechte gewährleisteten Freiheitsbereich ein. Die einstweilige Anordnung ist nur zulässig, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Sie dient also der Abwendung von Gefahren, die während des Verfahrens den Beteiligten und Betroffenen drohen. Letztlich sichert sie auf diese Weise die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichtes 261. Von den Grundrechten her gesehen erfaßt die einstweilige Anordnung folglich nur Rechtsausübungen, die sich besonders gravierend auf den Interessenbereich anderer am Grundrechts-Verhältnis Beteiligter auswirken. Alle Anordnungsgründe 262 nach § 32 BVerfGG sind zugleich Mißbrauchslagen 263. Eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG wirkt daher stets punktuell. Sie weist den Grundrechtsträger in die Grenzen zulässiger Grundrechtsausübung zurück 264 . I m Anordnungsverfahren kann das Bundesverfassungsgericht eine generelle Grundrechtsaberkennung nicht aussprechen. Vorläufige Maß2βο go Fuß, D Ö V 59, 201 (202); vgl. auch Franz Klein, Maunz-Sigloch, § 32, RdNr. 5 ff., S. 4 ff.; ders., JZ 66, 461 (462). 2βι V g L F r a n z Klein, J Z 66,461 (463). 282 A u f die Streitfrage, ob sich die Worte „ z u m gemeinen W o h l " n u r auf den „anderen wichtigen Grund" oder auch auf die ersten beiden Eingriffsvoraussetzungen bezieht, k o m m t es hier nicht an. Vgl. dazu Fuss, D Ö V 59, 201 (205, FN. 38); Lechner, K o m m . §32, A n m . 3 c, S. 185; Geiger, Komm., §32, A n m . 3, S. 119; Franz Klein, J Z 66,461 (462). 283 Vgl. oben § 21, § 23. 284 Das sieht Geiger, K o m m . § 32, A n m . 9, S. 121, w o h l nicht deutlich genug. Er ist anscheinend der Ansicht, daß Handlungen, die nach § 32 B V e r f G G unterbunden werden dürfen, zum Grundrechtsgebrauch zählen. Vgl. i n diesem Z u sammenhang auch Fuss, D Ö V 59, 201 (209), er verweist auf die „clear and present danger"-Klausel des amerikanischen Verfassungsrechts.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
nahmen müssen auf die Unterbindimg bestimmter, „akuter" Gefahren gerichtet sein. Die Kompetenz aus §32 BVerfGG reicht nicht aus, um einen Grundrechtsträger in einen grundrechtsfreien Raum zu verstoßen. Überdies würde eine einstweilige Anordnung, die Grundrechte generell aberkennt, für zwischenzeitliche Grundrechtsausübungen vollendete Tatsachen schaffen, die unter Umständen die endgültige Entscheidimg nicht mehr aus der Welt schaffen kann. Sie würde also die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, ohne daß dies zur Sicherung der künftigen Entscheidung geboten wäre2®5. Für eine vorläufige generelle Grundrechtsaberkennung fehlt mithin jedes Sicherungsinteresse. Dem punktuellen Charakter der einstweiligen Anordnung ist durch möglichst große inhaltliche Präzision Rechnung zu tragen. Verhaltensweisen, die den Bereich anderer Interessenträger unberührt lassen oder nur vergleichsweise geringere Interessen in Mitleidenschaft ziehen, dürfen nicht untersagt werden. Folglich ist eine Anordnung unzulässig, die dem Antragsgegner jegliche Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit oder jede Teilnahme an Versammlungen verbietet26®, es sei denn, es liegen konkrete Anhaltspunkte vor, daß der Antragsgegner nur auf diese Weise zwischenzeitlich gehindert werden kann, vollendete Tatsachen in seinem Sinn zu schaffen.
265 Vgl. hierzu Lechner, K o m m . § 32, A n m . 4, S. 185; Fuss, D Ö V 59, 201 (207 m i t FN. 69); Franz Klein, J Z 66, 461 (462 f.); ders., Maunz-Sigloch, § 32, RdNr. 9, S. 6. 206 Bedenklich wäre daher eine einstweilige Anordnung w i e die des BVerfGE 1, 349 (Untersagung „jeglicher Propaganda u n d öffentlicher Werbung i n Wort, Ton, B i l d u n d Schrift"). Skeptisch insoweit auch Fuss, D Ö V 59, 201 (207).
Zweiter Unterabschnitt
Vereinigungsverbot und Parteiverbot § 47 Das Vereinigungsverbot nach Art. 9 Abs. 2 G G
Unvergleichlich einfacher als der rechtliche Aufbau des Art. 18 GG ist der des Art. 9 Abs. 2 GG. Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnimg oder den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten2®7. Es kann wohl kein Zweifel bestehen, daß als Strafgesetze i. S. d. Vorschrift nur Tatbestände in Betracht kommen, die sich materiell als „crimen"2®8 darstellen, also nur besonders schwerwiegende Verstöße gegen andere am Grundrechtsverhältnis beteiligte Interessenträger. Weiterhin ist der Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung" nicht gleichbedeutend mit dem gleichlautenden in Art. 2 Abs. 1 GG. Gemeint ist hier vielmehr das, was das Grundgesetz an anderer Stelle mit freiheitlich demokratischer Grundordnung umschreibt2®9. Die Sanktion, das Vereinigungsverbot, knüpft also gleichfalls an Ausübungen der Vereinigungsfreiheit an, die in den beschriebenen allgemeinen Mißbrauchslagen ihre Entsprechung haben. Die Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 2 gegenüber den allgemeinen Mißbrauchsfolgen ist jedoch gering. Sie besteht eigentlich nur darin, daß Vereinigungen als solche nicht aus anderen als den ausdrücklich genannten Gründen verboten
267 Das Verbot bedarf allerdings der förmlichen Feststellung, BVerwGE 4, 188; 6, 333; vgl. auch BVerfGE 13,174 (176 f.). 268 I m Sinne Dürigs, Maunz-Dürig, A r t . 2 Abs. I, RdNr. 76, S. 63 f. 269 So Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 47, S. 16 f.; Hamann, K o m m . A r t . 9, A n m . B. 4, S. 132 m i t Nachweisen; Ridder, D Ö V 63, 321 (325); Willms, N J W 64, 225 (226 m i t FN. 11); Walter Schmidt, N J W 65, 424 (425 m i t FN. 12). I m Ergebnis ebenso Füsslein, Grundrechte, Bd. I I , S. 436 f. A. A. Wernicke, K o m m . Erl. 2 c, S. 7 f.; ν . Mangoldt-Klein, A r t . 9, A n m . I V 4, S. 324.
11 G a l l w a s
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
werden dürfen 270 . Art. 9 Abs. 2 hat hingegen keinerlei Bedeutung für die Frage, in welcher Rechtsform eine Vereinigung auftreten darf. Daher darf ζ. B. einem rechtsfähigen Verein mit politischer Zielsetzimg im Rahmen der Gesetze auch aus anderen, mit den in Art. 9 Abs. 2 genannten in keinem Zusammenhang stehenden, Gründen die Rechtsfähigkeit entzogen werden. Auf Grund von Art. 19 Abs. 3 GG stehen den Vereinigungen als solchen auch die Individualgrundrechte zu. Damit öffnet sich ein zusätzlicher weiter Bereich an Eingriffsmöglichkeiten; man denke etwa an Vermögenseinziehungen und Beschlagnahmen im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG, an Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses oder auch der allgemeinen Handlungsfreiheit. A l l diese Befugnisse erfahreó von Art. 9 Abs. 2 her keine Einbußen 271 . Diese Vorschrift darf nicht so verstanden werden, daß alle Maßnahmen gegen Vereinigungen mit Ausnahme des speziell vorgesehenen Verbots unzulässig wären. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, daß die allgemeinen Mißbrauchsfolgen gegen einzelne Mitglieder der Vereinigungen verhängt werden. Zum Beispiel kann ein Vereinigungsmitglied wegen einer im Rahmen der Vereinigungstätigkeit begangenen Straftat verurteilt werden; man kann ihm auch nach Art. 18 GG entsprechend mißbrauchte Grundrechte aberkennen lassen. Diesem Durchgriff auf die Mitglieder steht Art. 9 Abs. 2 nicht entgegen. Was außerhalb einer Vereinigung verboten ist, wird nicht dadurch erlaubt, daß es in Übereinstimmung mit dem Gesamtwillen einer Vereinigung geschieht272.
S 48 Das Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 G G
Komplizierter liegen die Dinge beim Parteiverbot des Art. 21 Abs. 2 2 7 3 . Zwar bestehen gewisse Übereinstimmungen mit dem Vereinigungsverbot des Art. 9 Abs. 2 GG. So sind die Verbotsgründe hier wie dort zu270 Z u dem aus dem Rechtstaatsprinzip folgenden Gebot, daß eine Vereinigung nicht schon vor der förmlichen Auflösungsverfügung als verboten behandelt werden darf, vgl. BVerwGE 4, 188; Füsslein, Grundrechte Bd. I I , S. 438 f.; Willms, N J W 57, 1617 f.; Pfeifer, Die Verfassungsbeschwerde i n der Praxis, S. 89. 271 Das schließt freilich nicht aus, daß der Gesetzgeber der Exekutive entsprechende Beschränkungen auferlegt. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 1 Abs. 2 VereinsG bestehen daher keine Bedenken. Z u m Regelungsmonopol vgl. Maunz, Staatsrecht, § 14 6 b, S. 112 f.; Seifert, DÖV 64, 685 (686). 272 Ebenso Füsslein, Grundrechte, Bd. I I , S. 433 m i t FN. 35. 278 Vgl. hierzu i m einzelnen v. Mangoldt-Klein, A r t . 21, A n m . V I I , S. 627 ff.; Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21, RdNr. 99 ff.; S. 36 ff.; Henke, Komm., A r t . 21, RdNr. 53 ff., S. 37 ff.; Seifert, D Ö V 61, 81 ff.
§ 48 Das Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG
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gleich Mißbrauchslagen. Auch eine Partei darf nicht aus anderen als den in der Verfassung ausdrücklich genannten Gründen aus dem staatlichen Leben ausgeschlossen werden. Wie die Vereinigungen unterliegen auch die Parteien, soweit sie grundrechtsfähig sind 274 , prinzipiell den allgemeinen Mißbrauchsschranken; sie müssen die allgemeinen Mißbrauchsfolgen hinnehmen, sofern diese überhaupt auf Parteien anwendbar sind 275 . Gleichermaßen ist grundsätzlich der Durchgriff auf die Parteianhänger zulässig, wenn diese ihre Grundrechte, sei es auch „parteikonform", mißbrauchen, etwa indem sie bei Wahlversammlungen ihre politischen Gegner verprügeln. Das Parteiverbot hat aber, und darin unterscheidet es sich maßgeblich vom Vereinigungsverbot, einen neuralgischen Punkt. Er liegt dort, wo eine Partei oder ihre Anhänger die freiheitlich demokratische Grundordnung beeinträchtigen oder den Bestand der Bundesrepublik gefährden. Hier nämlich beginnt die Schutzwirkung des in Art. 21 Abs. 2 niedergelegten Parteienprivilegs 276 . Dem Parteienprivileg liegt die Erwägung zugrunde, daß die Parteien, eben weil sie verfassungsrechtlich relevante Integrationsfaktoren sind, besonderen Schutzes bedürfen 277 . Daher geht es nicht an, daß vor dem Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts ζ. B. die Polizei gegen die Partei als solche vorgeht 278 oder die bloße Tätigkeit für eine Partei, auch wenn diese die freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpft, bestraft wird 2 7 9 . Das Privileg blockiert mithin alle allgemeinen Mißbrauchsfolgen, die gegen eine Partei wegen eines allgemeinen Mißbrauchstatbestandes verhängt werden könnten, sofern es sich lediglich um einen Mißbrauchstatbestand handelt, der zugleich den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 erfüllt 280 . I n diesem Fall ist das Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten 281 . Bewegt sich aber eine Partei beim Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gleichzeitig 274 Vgl. Düng, Maunz-Dürig, A r t . 19 Abs. I I I , RdNr. 59, S. 36 f.; Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 178 ff. 275 ζ. B. muß es sich eine Partei gefallen lassen, daß i h r die Verbreitung einer Schrift beleidigenden Inhalts durch einstweilige Verfügung untersagt wird. 276 Vgl. BVerfGE 12,296 (305); 13,46 (52); 123 (125); 17,155 (166 f.). 277 BVerfGE 2 , 1 (11); 12,296 (304 ff.). 278 Vgl. BVerfGE 5, 85 (140); 13,123 (126). 279 Vgl. BVerfGE 12, 296; 17,155. 280 I m Ergebnis ebenso v. Mangoldt-Klein, A r t . 21, A n m . V I I 5; S. 631 f.; vgl. auch BVerfGE 2,1 (13). 281 Nur d a s BVerfG kann, w e n n es die Partei zwar nicht als solche, w o h l aber i n gewisser Beziehung (Ziele, Betätigung usw.) f ü r verfassungswidrig hält, entsprechende Handlungen verbieten; so auch Maunz, Staatsrecht, § 11 I I 3, S. 73.
11·
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
in andern Mißbrauchslagen, dann ist sie entsprechenden punktuellen Abwehrmaßnahmen ausgesetzt. Auch im Schutzbereich des Art. 21 Abs. 2 darf eine Partei weder beleidigen noch drohen. Allerdings dürfen die insoweit ohne weiteres zulässigen Abwehrmaßnahmen niemals zu einem Parteiverbot führen. Beim Durchgriff gegen Funktionäre, Mitglieder und sonstige Anhänger, die sich im Rahmen der Parteiziele und der Parteidirektiven in Mißbrauchslagen verwickelt haben, ist folgendermaßen zu differenzieren: Zunächst ist zu prüfen, ob die Handlung überhaupt in den Schutzbereich des Art. 21 Abs. 2 fällt. Nur dann ist nämlich zu erwägen, ob sie um des Parteienschutzes willen bis zum Verbotsurteil hinzunehmen wäre. In den Schutzbereich des Art. 21 Abs. 2 fallen alle Handlungen, die auf eine Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung bzw. auf eine Gefährdung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland ausgehen. Gegen eine Betätigung, die diese Schutzgüter unberührt läßt, jedoch gegen andere Schutzgüter verstößt, darf jederzeit eingeschritten werden. Art. 21 Abs. 2 soll nur verhindern, daß sich die staatlichen Gewalten unter dem Vorwand der Verfassungswidrigkeit lästiger Opposition entledigen. Die Vorschrift führt aber nicht zu einer allgemeinen Immunität der Parteianhänger. Ein Saalschläger kann sich daher auf das Parteienprivileg nicht berufen, und zwar auch dann nicht, wenn die Partei ihn deckt 282 . Nur dann darf auch gegen den einzelnen nicht vorgegangen werden, wenn die Maßnahme nur als Deckmantel diente, um an die Partei heranzukommen und sie handlungsunfähig zu machen283. Hierbei sind alle Momente zu beachten, die bei Kompetenzmißbräuchen eine Rolle spielen, wie ζ. B. das Einschreiten zur Unzeit, etwa unmittelbar vor Beginn eines Parteitages; oder die UnVerhältnismäßigkeit einer Beeinträchtigung. Verstößt die Tätigkeit hingegen ausschließlich gegen die in Art. 21 Abs. 2 genannten Schutzgüter, so ist jede staatliche Abwehrmaßnahme bis zum Spruch des Bundesverfassungsgerichts schlechterdings verfassungswidrig; das gilt auch, wenn diese Schutzgüter noch zusätzlich strafrechtlich abgesichert sind 284 . Die Garantie des Art. 21 Abs. 2 darf nicht 282 Das BVerfG benutzt i m m e r wieder die Formel, der einzelne sei durch das Parteienprivileg geschützt, soweit er sich i m Rahmen des allgemein E r laubten halte, vgl. E. 12, 296 (305); 13, 46 (52); 123 (126); 17, 155 (166). Das ist jedoch irreführend, weil, w i e sich bei § 129 u n d § 90 Abs. 3 StGB gezeigt hat, das „allgemein Erlaubte" erst von A r t . 21 Abs. 2 her zu bestimmen ist. 283 Vgl. i n diesem Zusammenhang BVerfGE 9,162 (166). 284 Wenig einleuchtend die Differenzierung bei Henke, Das Recht der p o l i tischen Parteien, S. 197 f.; K o m m . A r t . 21, RdNr. 31, S. 25 m i t weiteren Nachweisen.
§ 48 Das Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG
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auf dem Umweg über punktuelle Maßnahmen gegen einzelne Parteianhänger ausgehöhlt werden. Sie wirkt sich also reflexweise zugunsten der Parteianhänger aus. Subjektive Rechte entstehen ihnen freilich nicht 285 . Aus diesem Grund kann z.B. eine Kampagne, die die Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung auf „legalem" Weg bezweckt, nicht durch polizeiliche Maßnahmen etwa gemäß Art. 5 Abs. 2 Ziff. 3 lit. a BayPAG unterbunden werden. Aus demselben Grund war auch § 90 a Abs. 3 StGB verfassungswidrig 286 und darf schließlich § 129 287 und § 93 Abs. 1 Nr. 1 StGB 288 nicht auf Parteianhänger angewendet werden. Auch im übrigen hat die Rechtsordnung die insoweit verfassungsrechtlich legale Tätigkeit zu achten289 und sich nachteiliger Rechtsfolgen zu enthalten 290 . Beispielsweise könnte weder die vertraglich festgelegte Überlassung eines Versammlungslokals unter Berufung auf ein nachweisbar verfassungsfeindliches Vorhaben der Partei rückgängig gemacht werden; noch dürfte einem Arbeitnehmer, der einer verfassungsfeindlichen, aber noch nicht verbotenen Partei angehört, allein aus diesem Grund gekündigt werden 291 . Anders ist es, wenn die Handlungen zusätzlich zu den in Art. 21 Abs. 2 genannten noch weitere Schutzgüter verletzen, wenn etwa unter dem Einsatz von Gewalt oder Drohung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gekämpft wird; wenn ein Arbeitnehmer in seinem Betrieb für eine verfassungsfeindliche Partei derart agitiert, daß der Betriebsfrieden darunter leidet 291a . Derartige Handlungen sind schon, wenn sie nicht aus Verfassungsfeindschaft begangen werden, ohne grundrechtlichen Schutz und können daher staatlicherseits verhindert oder geahndet werden 292 . Das Parteienprivileg kann sich hier nicht „heilend" auswirken 293 . Auch ein „politischer" Mord bleibt Mord; daß ihn eine Partei geplant hat und Funktionäre ihn verübten, ändert nichts. 285 Dazu Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 197. Der Reflexwirk u n g w i r d nicht genügend Rechnung getragen bei Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21, RdNr. 104, S. 37 f. 28β BVerfGE 12,296. 287 BVerfGE 17,155. 288
BGHSt 6, 318. So auch Reissmüller, JZ 60, 529 (532, FN. 29). 298 Vgl. BVerfGE 13, 46 (52), sowie Reissmüller, JZ 60,122 (124). Α. A. Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 199; ders. K o m m . A r t . 21, RdNr. 32, S. 25 f., doch w i r d insoweit w o h l nicht genügend differenziert. Vgl. auch Kölble, AöR 87, 48 (62), der das Parteienprivileg unterschiedlich w i r k e n läßt, je nachdem ob es sich u m Anhänger oder sonstige Personen handelt. 291 Das BAG, A S 2,266 (271) ließ diese Frage noch offen. 291a Ebenso BAG AS 2, 266 (271 ff.). 292 I m Ergebnis ebenso BVerfGE 9,162. 293 Ebenso Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 200; a. A . Hamann, Komm. A r t . 21, A . 3, S. 216. 289
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Freilich besteht auch hier eine Wechselwirkung zwischen dem allgemeinen Rechtsgüterschutz und dem Parteienprivileg. Ein geringfügiger Verstoß darf nicht zum Anlaß für Maßnahmen dienen, die sich nachhaltig und tiefgreifend auf den Bestand und die Funktion der Partei auswirken.
Dritter Unterabschnitt
Das wechselseitige Verhältnis von Verwirkung, Vereinigungsverbot und Parteiverbot § 49 Das Verhältnis zwischen Vereinigungsverbot und Verwirkung
Art. 9 Abs. 2 und Art. 18 sind in mehrfacher Weise aufeinander bezogen. Wenn sich eine Vereinigung gegen die verfassungsmäßige Ordnung i. S. d. Art. 9 Abs. 2 wendet, liegt zugleich ein Grundrechtsmißbrauch nach Art. 18 vor. Deshalb bedarf es der Erwägung, ob nicht wenigstens in diesem Umfang dem Vereinigungsverbot ein Verwirkungsausspruch vorauszugehen habe; ob womöglich dem Verbot aus Art. 9 Abs. 2 die den einzelnen Mitgliedern gewährleistete Vereinigungsfreiheit entgegensteht; schließlich ob etwa umgekehrt ein Verwirkungsausspruch nach Art. 18 gegen einzelne Vereinigungsmitglieder ein Verbot der Vereinigung voraussetzt. E . R. Huber nimmt an, der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung in Art. 9 Abs. 2 sei weiter zu verstehen als der der freiheitlich demokratischen Grundordnung in Art. 18 und für den Uberschneidungsbereich gehe Art. 18 als lex specialis vor 294 . Seine These vom Vorrang des Verwirkungsverfahrens scheitert aber an zwei Überlegungen: Erstens, nachdem sich die Meinung durchgesetzt hat, daß „verfassungsmäßige Ordnung" in Art. 9 Abs. 2 und „freiheitlich demokratische Grundordnung" i. S. d. Art. 18 identisch sind 295 , würde einer der Verbotsgründe in Art. 9 Abs. 2 völlig leerlaufen. Zweitens, auf diese Weise kämen Vereinigungen, die die freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpfen, in eine Rechtsposition, die dem Parteienprivileg nach Art. 21 Abs. 2 im wesentlichen entspricht. Die letztere Bestimmung wäre also nicht mehr das große Zugeständnis an die Parteien in ihrer Eigenschaft als Träger des politischen Lebens im Staat, sondern nur mehr eine überflüssige Wiederholung; denn auch Parteien sind Vereinigungen i. S. d. Art. 9 Abs. 2. Aus diesen Gründen wird man wohl nicht umhin können, 294 Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I, S. 154 f.; i h m folgend ν . MangoldtKlein, A r t . 18, A n m . 115, S. 519 f.; Reissmüller, JZ 60, 529 (533); Pfeifer, Die Verfassungsbeschwerde i n der Praxis, S. 158. Ridder, DÖV 63, 321 (325 f.) hält den Gedanken zwar f ü r „bestechend", äußert aber Bedenken. 295 Vgl. oben § 47 FN. 269.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
das Verbotsverfahren nach Art. 9 Abs. 2 im Verhältnis zum Verwirkungsverf ahren als das speziellere anzusehen296. Das Vereinigungsverbot nach Art. 9 Abs. 2 schließt ein Verwirkungsverfahren auch für die Zeit vor Erlaß der Verbotsverfügung (§ 3 VereinsG) aus. Die von Dürig 297 vertretene Gegenthese ist nicht recht überzeugend. Ein Verwirkungsverfahren gegen Vereinigung war nur so lange zulässig, wie das Verbot nach Art. 9 Abs. 2 mangels der erforderlichen Vollzugsbestimmungen noch nicht durchgeführt werden konnte. Damals war die an sich bestehende Spezialitätswirkung des Art. 9 Abs. 2 gegenüber Art. 18 blockiert. Das hat sich mit Erlaß des Vereinsgesetzes geändert 298. Nunmehr ist, falls eine Vereinigung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung kämpft, der Zustand herbeizuführen, der dem verfassungsrechtlichen Verbot aus Art. 9 Abs. 2 entspricht. Es gibt keine Entscheidungsbefugnis, an Stelle der an sich gebotenen Verbotsverfügung „nur" die Aberkennung einzelner oder aller Grundrechte, die Art. 18 nennt, herbeizuführen. Ein dennoch gestellter Antrag nach § 36 BVerfGG wäre unzulässig299. Jedes Vereinigungsverbot greift zugleich in das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit der gegenwärtigen und künftigen Mitglieder ein. Das individuelle Grundrecht der Mitglieder kann jedoch gegen das Vereinigungsverbot nichts ausrichten. Art. 9 Abs. 2 ist lex specialis im Verhältnis zu den aus Art. 9 folgenden individuellen Grundrechten 300 und ihrer sich aus Art. 18 ergebenden Sicherung 301. Das Verfahren nach Art. 18 gegen ein einzelnes Mitglied einer Vereinigung ist auch dann zulässig, wenn sich das Mitglied bei seiner Kampfhandlung noch im Rahmen des Gesamtwillens der Vereinigung hielt. Die individuelle Grundrechtsverwirkung ist unabhängig vom Verbot der Vereinigung. Die Verfahren können ohne weiteres parallel laufen. Für die rechtliche Notwendigkeit eines Vorab-Verbotes der Vereinigung gibt das Grundgesetz keinerlei Anhaltspunkt. Es ist für sie auch sonst kein überzeugender Grund ersichtlich. 296 So auch Haller, Diss., S. 50. I m Ergebnis ebenso BVerfGE 13, 174 (177); BVerwGE 1, 184 (191); 4,188 (189); BayVGH, U r t . v. 28.1. 65, BayVBl. 65, 170; Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 86, S. 30; Seifert, DÖV 54, 353 (357); Willms, N J W 64, 225 (226 f.). 297 Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 86, S. 30 f.; ebenso Haller, Diss. S. 49 m i t FN. 43. Vgl. auch Hönsch, Diss. S. 106 f. 298 Eine ganz andere Frage ist, ob nicht dann, w e n n die obersten Landesbehörden bzw. der Bundesminister des Innern sich weigern, die Verbotsverfügung zu erlassen, ein Verwirkungsverfahren durchgeführt werden kann. 299 Vgl. hierzu BVerfGE 13,174 (176 f.). 300 U n d zwar auch zu A r t . 9 Abs. 3, a. A . Walter Schmidt, N J W 65, 424 (426 f.). 301 Ebenso Willms, N J W 64,225 (227).
§ 51 Das Verhältnis zwischen Parteiverbot und Verwirkung
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§ 50 Das Verhältnis zwischen Parteiverbot und Vereinigungsverbot
Spezialität besteht auch zwischen Art. 21 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 8 0 2 . Das ist ganz eindeutig für den Fall, daß eine Partei gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung kämpft oder in ihren Zwecken bzw. in ihrer Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderläuft, die den Bestand der Bundesrepublik Deutschland sichern 803. Fraglich könnte allenfalls sein, ob Parteien, bei denen zwar nicht die Verbotsgründe nach Art. 21 Abs. 2 gegeben sind, wohl aber die des Art. 9 Abs. 2 dem Verbot aus dieser Vorschrift unterliegen. Diese Frage wird insbesondere aktuell bei einer Partei, die ζ. B. den Gedanken der Völkerverständigung bekämpft. Art. 21 Abs. 2 ist auch insoweit unabänderlich Spezialnorm. Auf Gründe, die Art. 21 Abs. 2 nicht nennt, darf ein Verbot unter keinen Umständen gestützt werden 304 . Anderenfalls wäre der von der Norm bezweckte, besondere Schutz für politische Parteien leichthin zu unterlaufen. Das besagt nun freilich nicht, daß Art. 21 Abs. 2 ein Freibrief für die Parteien wäre; daß sie alles tun dürften, was nicht dort ausdrücklich verboten ist. Selbstverständlich darf, notfalls durch das Bundesverfassungsgericht, einer Partei untersagt werden, eine Pressekampagne gegen die Völkerverständigung durchzuführen 805. Nur verbieten darf man sie deswegen nicht.
§ 51 Das Verhältnis zwischen Parteiverbot und Verwirkung
Zwar können auch Parteien Träger von Grundrechten sein 308 , aber ein Verwirkungsverfahren gegen sie ist ausgeschlossen. Art. 21 Abs. 2 ist auch gegenüber Art. 18 lex specialis307. Problematisch ist die Beziehung zwischen Art. 21 Abs. 2 und Art. 18 bei der Grundrechtsverwirkung Parteiangehöriger. Dabei sind verschiedene Fallgestaltungen denkbar. 302 Vgl. BVerfGE 2, 1 (13); 12, 296 (304); 17,155 (166); Füsslein, Grundrechte, Bd. I I , S. 432; v. d. Heydte, Grundrechte, Bd. I I , S. 490; Seifert, D Ö V 56, 3 (5). Α. A . Hesse, W D S t R L 17,11 (45), A r t . 21 normiere ein „aliud". 803 Vgl. Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21, RdNr. 38, S. 18; Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 181 f. 304 Ebenso Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21, RdNr. 38, S. 17 f. m i t Nachweisen FN. 2 S. 18; Hamann, K o m m . A r t . 21, A n m . A 3, S. 215 f. Α. Α. υ. Mangoldt , K o m m . A r t . 21, A n m . 3, S. 146; A n m . 4, S. 148; ebenso Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 182. 305 Vgl. Maunz, Staatsrecht, § 11 I I 3, S. 73. 306 Vgl. Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 19 Abs. I I I , RdNr. 59, S. 36 f.; Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 178 ff. so? v g l . Dürig, Maunz-Dürig, A r t . 18, RdNr. 87, S. 31; Haller, Diss. S. 51.
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3. Kap.: Die rechtlichen Folgen des Grundrechtsmißbrauchs
Ein Verwirkungsverfahren gegen einen Parteianhänger nach dem Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 21 Abs. 2 ist ohne weiteres zulässig308. Der Schutzzweck des Art. 21 Abs. 2 wird in diesem Fall nicht mehr berührt. Das gleiche gilt für einen Parteianhänger, dessen Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht der Partei zuzurechnen ist30®. Die Zugehörigkeit zu einer Partei begründet für sich allein keinen Schutz vor einem Verwirkungsverfahren. Ein solcher Schutz käme allenfalls in Betracht, wenn ein Verwirkungsverfahren in die nach Art. 21 Abs. 2 privilegierte Tätigkeit der Partei eingriffe. Das wäre ζ. B. der Fall, wenn ein Parteifunktionär in Übereinstimmung mit der Parteilinie die freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpft und man zwar gegen ihn das Verwirkungsverfahren, aber gegen seine Partei nicht das Verbotsverfahren durchführte. Hier ließe sich an die Thesen denken, daß eine Partei bis zu dem Zeitpunkt, da das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit feststellt, in ihrer politischen Tätigkeit nicht gehindert werden darf, und daß sich dieses Privileg auch auf die Funktionäre und Anhänger erstreckt, die mit allgemein erlaubten Mitteln für die Partei tätig sind 810 . Doch eine solche Betrachtungsweise wäre vordergründig. Motiv des Parteienprivilegs ist der Oppositionsschutz. Es soll vermieden werden, daß die staatlichen Stellen eine etwaige Kompetenz mißbrauchen und mißliebige, wenn auch verfassungsmäßige Opposition lähmen. Die Entscheidung, ob eine bestimmte Partei noch verfassungsmäßige Opposition oder schon verfassungsfeindliche Subversion betreibt, ist aber nun mal aus einem gewissen Vertrauen heraus dem Bundesverfassungsgericht übertragen. Es ist nicht einzusehen, warum die Feststellung eines Kampfes gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung im Rahmen eines Verwirkungsverfahrens gegen einen Parteifunktionär nicht auch gegen die Partei wirken dürfte. Immerhin stammt die — freilich nur reflexweise — gegen die Partei wirkende Entscheidung von eben der Stelle, die von Verfassungs wegen berufen ist, über die Verfassungsmäßigkeit einer Partei insgesamt zu entscheiden. Mit verfassungswidrigen Übergriffen in den Bereich legaler Opposition ist insoweit nicht zu rechnen. Dem Motiv des Parteienprivilegs fehlt also mindestens im Verhältnis zum Verwirkungsverfahren die Basis. 808
Vgl. auch BVerfGE 11,282. Hierzu BVerfGE 5, 85 (143); Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21, RdNr. 112, S. 40; Henke, Das Recht der politischen Parteien, S. 202. 310 So BVerfGE 17,155 (166). 309
§ 51 Das Verhältnis zwischen Parteiverbot und V e r w i r k u n g 1 7 1 Ein Verwirkungsverfahren gegen Parteianhänger ist mithin völlig unabhängig vom Parteiverbotsverfahren 811. Das Ergebnis erscheint auch durchaus praktisch. Eröffnet es doch die Möglichkeit, mit einem rechtlich unsicheren oder politisch unzweckmäßigen Parteiverbotsantrag abzuwarten und dennoch bei den wirklich gefährlichen Mitgliedern der betreffenden Partei zügig durchzugreifen. I m übrigen kann sich auch der individuelle Sicherungseffekt des Art. 18 im Parteiverbotsverfahren nicht zugunsten der Partei auswirken. Art. 21 Abs. 2 ist auch in dieser Hinsicht lex specialis zu Art. 18. Das Parteiverbot wäre eine total unbrauchbare Waffe, wenn ihm die Aberkennung der Vereinigungsfreiheit der Parteianhänger vorauszugehen hätte. Art. 18 steht schließlich auch Nebenentscheidungen, die an das Parteiverbot anknüpfen und die Rechtsstellimg von Parteianhängern beeinträchtigen, nicht entgegen. Das gilt insbesondere für die Aberkennung der Mandate im Bundestag oder in den Länderparlamenten 812 . Diese Maßnahmen sind weder Verwirkungen i. S. d. Art. 18 noch sind sie verwirkungsgleich 81S .
811
Ebenso Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21 RdNr. 104, S. 38. Ebenso BVerfGE 2 , 1 (74 f.); Haller, Diss., S. 51 f. Vgl. auch BVerfGE 5, 85 (392); Maunz, Maunz-Dürig, A r t . 21, RdNr. 99, S. 36 m i t Nachweisen FN. 2; A r t . 38, RdNr. 28, S. 33 f.; Henke, Komm., A r t . 21, RdNr. 18, S. 15; ders. Das Recht der politischen Parteien, S. 104 ff.; Hamann, Komm. A r t . 21, Anm. Β 8 c, cc, S. 221; Nathusius, Verh. 38. D J T (1950) C 76; Seifert, D Ö V 61, 81 (86). Weitere Nachweise bei v. Mangoldt-Klein, A r t . 38, A n m . I V 4 d, S. 891 ff.; Haller, Diss., S. 52, FN. 53. 313 Vgl. oben S. 151. 812
Thesen 1. Die zivilrechtliche Lehre vom Rechtsmißbrauch knüpft an der abstrakten Formulierung gesetzlicher Tatbestände an. Nach ihr unterbricht die mißbräuchliche Rechtsausübung den Automatismus zwischen tatbestandsmäßigem Verhalten und zugeordneter Rechtsfolge. Von diesem Ansatzpunkt her ist die Mißbrauchslehre prinzipiell auch auf Grundrechte anwendbar. 2. Die Anwendung der Rechtsmißbrauchslehre scheitert weder an der Stellung und dem Wesen der Grundrechte noch am System der Gesetzesvorbehalte. 3. Der Grundrechtsmißbrauch kann darin bestehen, daß ein Freiheitsrecht in einer konkreten Lage überhaupt ausgeübt wird, aber auch darin, daß man von seiner Freiheit in bestimmter Weise Gebrauch macht. Wesentlich ist jeweils, daß bei der Rechtsausübung das Interesse eines am Grundrechtsverhältnis Beteiligten geschmälert wird. Als Beteiligte kommen in Betracht: andere Grundrechtsträger, die Allgemeinheit und der Staat. 4. Mißbräuchlich sind nur solche Grundrechtsausübungen, bei denen Interessen verletzt werden, die durch eine höherrangige Verfassungsnorm, durch eine vorverfassungsrechtliche Grundidee oder durch einen überpositiven Rechtsgedanken objektiv erkennbar geschützt sind. 5. Nach den verschiedenen Mißbrauchsrichtungen lassen sich drei Mißbrauchstypen unterscheiden: a) Grundrechtsausübung unter Verletzung vorrangiger Interessen eines anderen Grundrechtsträgers. b) Grundrechtsausübung unter Verletzung vorrangiger Interessen der Allgemeinheit. c) Grundrechtsausübung unter Verletzung schutzwürdiger Interessen der staatlichen Gewalten. 6. Zur ersten Mißbrauchstype gehören Grundrechtsausübungen, die gegen die Menschenwürde, gegen den Gleichheitssatz oder die Sozialstaatsklausel verstoßen. Aber auch die Verletzimg strafrecht-
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Thesen lieh oder zivilrechtlich geschützter Interessen einzelner wird in der Regel mißbräuchlich sein.
7. Mißbrauchslagen der zweiten Mißbrauchstype sind insbesondere Freiheitsbetätigungen, die sich gegen den physischen Bestand der Allgemeinheit, gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung, gegen das Sittengesetz oder gegen die Selbstbestimmung richten. 8. Der dritten Mißbrauchstype lassen sich die Fälle zuordnen, in denen vom Grundrechtsbereich her die staatliche Existenz, die staatliche Grundnorm oder die Funktionsfähigkeit der staatlichen Organe in Mitleidenschaft gezogen werden. 9. Der Grundrechtsmißbrauch hat zur Folge, daß sich der Grundrechtsträger insoweit nicht auf das Grundrecht berufen kann. Er handelt ohne Recht. Legislative, Exekutive und richterliche Gewalt können jeweils im Rahmen ihrer Kompetenzen die Grenze zwischen Grundrechtsgebrauch und Grundrechtsmißbrauch verdeutlichend nachziehen und den Grundrechtsträger in seine Schranken weisen. 10. Die Rechtsfolgen der Art. 18, Art. 9 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 GG bauen auf Tatbeständen auf, die Mißbrauchslagen im Sinne eines allgemeinen Mißbrauchsvorbehalts sind. Sie sind daher als besondere Mißbrauchsfolgen zu qualifizieren. 11. Die Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG führt zu einer generellen Aberkennung der verwirkbaren Grundrechte. Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich nur auf Maßnahmen, die verwirkungsgleich sind, weil sie gestützt auf die verfassungsrechtliche Generalklausel: Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, zu einer generellen Minderung des allgemeinen Grundrechtsschutzes führen. Vor dem Verwirkungsausspruch können punktuelle Maßnahmen gegen den Mißbraucher getroffen werden, um Mißbrauchssituationen zu unterbinden, zu verhüten und zu ahnden. Derartige punktuelle Maßnahmen dürfen auch verhängt werden, wenn Grundrechte, die Art. 18 GG nicht nennt, zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung mißbraucht werden. 12. Das Vereinigungsverbot nach Art. 9 Abs. 2 GG ist lex specialis im Verhältnis zu Art. 18 GG. Verwirkungsverfahren gegen Vereinigungen sind unzulässig. 13. Das Parteiverbot gemäß Art. 21 Abs. 2 GG ist sowohl gegenüber Art. 9 Abs. 2 GG als auch gegenüber Art. 18 GG eine Sonderregelung. Das Parteienprivileg blockiert alle allgemeinen Mißbrauchsfolgen,
Thesen
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sofern sie an den Tatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG anknüpfen. I m übrigen sind die allgemeinen Mißbrauchsfolgen anwendbar, solange sie nicht eine Ausschaltung der Partei aus dem staatlichen Leben bewirken. Das Parteienprivileg verschafft den Parteianhängern keine Immunität. Gegen sie kann insbesondere ein Verwirkungsverfahren durchgeführt werden, ohne daß zuvor die Partei für verfassungswidrig erklärt werden müßte.
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Sachverzeichnis Abgeordneter 155 Abstimmungen 97 Abstraktion 66 „a limine"-Abweichung 143 Allgemeinheit 33 f., 66, 69 f., 70, 72 f. Anstandsgefühl aller b i l l i g u n d gerecht Denkenden 79 ff., 81 ff. Antinomie 16 Apotheken-Urteil des B V e r f G 58 Arbeitsverhältnis 58 Asylrecht 31, 142 F N 179 Auffangrecht 52 A u f opferungsgedanke 110 Ausbildungsstätte 44 Ausübungsschranke 13 Automatismus, logischer 12 Beamte 120 Beamtentum 95 f. —, Berufsbeamtentum, Grundsätze 96 —, Beamtenverhältnis 98, 153 Befangenheit 96 F N 281 Beruf 31 —, Berufsfreiheit 146 —, Berufsverbot 139 f., 150 Beschlagnahme, polizeiliche 123 Bestand, staatlicher 88 —, Bestandsklausel 72 ff. —, Bestand der B R D 163 f., 169 Betriebsfrieden 165 Boykott 46 Bundespräsident 120 Bundesregierung 120, 154 Bundesstaat, 20, 93 Bundestag 154 Bundestreue 20 Bundeszwang 88 clausula rebus sie stantibus 75 F N 169 „clear and present danger"-Klausel 159 F N 264 „crimen" 76 F N 173, 91, 161
Demokratie 91, 93 —, demokratisches Prinzip 85 f. Denkmodell 66 Dezision 103 Dreiecksverhältnis 38, 52, 68 D r i t t w i r k u n g 40 F N 9, 45, 56, 58 F N 102, 60, 63 f., 146 Dualismus 52, 62 Effizienz 88, 94 f. Ehrenfolgen 152 f. Eingriff 28, 74 —, Eingriffsdenken 100 —, Eingriffsvorbehalt 17, 69 f., 72, 78, 101 Einstweilige Verfügung 102, 113 f. —»Voraussetzungen 113 Elternrecht 146 —, elterliche Gewalt 117, 149 —, Erziehungsrecht 41, 54, 105 Entschädigung 101, 110 Entscheidungsmonopol 101, 124, 127, 137, 144, 146, 148 ff., 158 Entstehungsgeschichte des A r t . 18 GG 28, 126 f., 131 f. Erforderlichkeit 72 F N 150, 107, 145 Erlaubnisvorbehalt 103 Ersatzleistungen 99 f., 103, 105, 112 E t h i k 19, 79 F N 188, 81 Evidenz 23 f., 30, 36, 103 Existenz 73 —, Existenz, staatliche 88, 90 —, Existenzklausel 83 Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ä m t e r 153 „faktisches Synallagma" 14 Fallnähe 109 Fallreihen 34 Fehlberufungen 26 F i k t i o n 25
188
averzeichnis
Freiheit 28 f., 43 —, Bindungsseite 25 —, hemmungslose 17 —, schrankenlose 39, 47 freiheitlich demokratische Grundordnung 28, 88, 93, 116, 118 ff., 122, 124 ff., 128 ff., 140, 145, 148, 151, 163 ff., 169 f. Freiheitsprinzip 92 Freiheitsrecht 24 f. —, Begriff 24 —, „allgemeines" 40, 45, 52, 58 f., 63, 146, 162 Formalbeleidigung 114 Fundamentalnormen 59, 93 Funktionsfähigkeit 94 ff. —, des BVerfG 159 Garantenstellung, verfassungsrechtliche 120 Gebotsnormen 51 Gefahr —, abstrakte 110 f. —, konkrete 107 ff. Gefährdungssituationen, historische 69 Gefährlichkeit des Kampfes i. S. d. A r t . 18 GG 145 Gemeinschaftsbezogenheit 68 Gemeinschaftsgut 70 Gemeinwohl 43 —, klausel 18 F N 44, 69, 72 Generalklausel 17 F N 35, 29, 32, 71, 84, 102, 143 —, polizeiliche 76 f., 102, 106 ff. —, privatrechtliche 56 F N 91, 62, 64 —, verfassungsrechtliche 151 Gerechtigkeitsidee 24 Gesamtbürgerschaft 85 Gesamtordnung 27 Gesellschaft 67 F N 129, 68 —, gesellschaftliche W i r k l i c h k e i t 66 Gesellschaftsvertrag 70 F N 154 Gesellschaftsform 85 Gesetze, „allgemeine" 50, 53 F N 79, 58 F N 100, 61 F N 112 Gesetzesvorbehalt 26, 28 f., 39 f., 50, 53 ff., 69 f., 72 F N 150, 76, 88 f., 100, 103 ff.
Gesetzgeber, Erkenntnisgrenzen 12 —, Macht 12 Gesetzgebungsnotstand 88 Gesetzmäßigkeit der V e r w a l t u n g 15 f., 100, 105 „Gesetz u n d Recht" 30, 40, 142 Gesinnungstäter 105 Gewaltenteilung 93, 102, 106 Gewaltverhältnis, besonderes 96, 98 Gewerbebetrieb 61 Gewerbeuntersagung 150 Gewissen 22 Gewissensfreiheit 56 f. Glauben 22 GlaubensabWerbung 41 Gleichheitssatz 40, 42 ff., 45, 47, 49 —, Auffangfunktion 45 f. Gleichordnung 14 „government" 67 F N 130 Grundidee —, vorrechtliche 27 —, vorverfassungsrechtliche 35 Grundrechte —, A b w e h r f u n k t i o n 55 —, Aktualisierung 56 F N 91, 62 f. —, Ausgestaltung 21 —, Geltungskraft 21, 52 —, Leerlauf 107 —, Mißbrauchsanfälligkeit 17, 21 —, Mißbrauchbarkeit 23 —, nicht verwirkbare 121, 138 f. —,—»Aberkennung 139 ff. —, —, Beeinträchtigung 139 ff. —, rechtstechnische Präzision 21 —, Relativierung 55 —, Schranken 19, 49, 51, 100 —, Schrankenformulierung 33 —, —, F u n k t i o n 28 —, Schrankensystem 29 —, Schrankentrias 18, 56 F N 90, 77 —, Schrankenvorbehalt 42, 53 —, S t r u k t u r 21 —, v e r w i r k b a r e 121 f., 149, 153 —, —, Totalverlust 135 f. —, Wertordnungsnormen 62, 64 Grundrechtsausübung 17 —, deliktische 50 Grundrechtsformel 17
Sachverzeichnis Grundrechtsgebrauch, richtiger 27 F N 85, 29 F N 92 Grundrechtskatalog 25, 64 Grundrechtsmißbrauch, Definition 35 Grundrechtsmündigkeit 45 F N 36 Grundrechtsverhältnis 27, 33 ff., 43, 52, 62, 66, 68, 145 Grundrechtsvorbehalt u n d Generalklausel 17 F N 39 Güterabwägung 46 „Handeln ohne Recht" 11, 13, 25, 56 f., 65, 84, 94, 99, 101, 103, 112, 126, 131, 148 Handeln ohne Grundrecht 35 Handlungsfähigkeit des Staates 88 Handlungspflichten 52, 107 f., 145 Herrschaftsvertrag 72 F N 154 Hilfspflichten 49, 51 —, elementare 109 f. Homosexuellen-Urteil des B V e r f G 80 F N 192, 83 F N 216 Identitätsgrundsatz 137 immanente Schranken 52 F N 73, 76 F N 173, 90 F N 246, 103, 110 Immanenzdenken 18 Immanenzlehren 19 I m m u n i t ä t der Parteianhänger 164 „ i n dubio pro libertate" 26, 83, 128 „ i n d u k t i v e Gegenprobe" 110 F N 38 Institutionenschutz 82 F N 206 Integration 25 f. Integrationsfaktoren 163 Interesse, Begriff 32 —, Drittinteresse 32 —, grundrechtsbegrenzendes 18 —, individuelles 14 —, öffentliches 14 —, staatliches, Begriff 87 f. Interessenabwägung 42, 45, 57, 67 —, Abwägungsgrundsätze 42 —, Gleichwertigkeit 42, 45, 60, 71 Interessenabwertung 63 Interessenanalyse 45 Interessenaufwertung 61, 63 Interessenausgleich 32
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Interessenbefriedigung 46 —, rücksichtslose 49 Interessenkonflikt 32 „ K a m p f " i m Sinne des A r t . 18 GG 28, 118 f. —, Erfolgsaussicht 119 —, Gefährlichkeit 119 —, K a m p f w i l l e 120 —, Schuld 120 K a m p f aller gegen alle 39 Kasuistik 23 Klagabweisung 114 Koalitionsfreiheit 64 K o l l e k t i v 47 Kompetenz 102 Kompetenzsystem 97 Konfliktsituationen 28 Konkretisierung 24 Kontrollaufgaben 111 K o r r e k t i v 15 Kostenvorschuß 98 K ü n d i g u n g 57 Kultursystem 25 Kunstfreiheit 22, 41, 50, 60, 84, 114 Lehrmeinungen, kirchliche 82 Leistungsgebot 16 Lösungstype 28 L ü t h - U r t e i l des B V e r f G 46, 52, 58 F N 100 Landesgrundrechte 153 Landesregierung 154 Mandats verlust 171 Meinung, öffentliche 46 Meinungsfreiheit 31, 34, 46, 50, 59, 61, 125 Meinungsumfrage 81 „Menschenbild" 68 Menschenrechte 73, 93, 132 f. Menschenwürde 22, 24, 39 ff., 59, 61, 71, 93 „Menschenzucht" 41 Methode —, Analogie 78, 93 —, —, Schrankenanalogie 78
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averzeichnis
Methode, Auslegungskunst 23 —, Betrachtungsweise, „vordergründig formale" 22, 33 —, Erkenntnisgewißheit 14 —, Grenzbegriff 47 F N 50 —, institutionelle 73 —, Interpretation, geisteswissenschaftliche 23 —, Konkretisierung, 22, 24 —, Sinnerfahrung, wertmateriale 23 —, Umkehrschluß 93, 122, 147 Minimalforderungen 104 Mißbrauch, politischer 28 —, von Formen u n d Gestaltungsmöglichkeiten 16 Mißbrauchsfolgen, allgemeine u n d verfassungsunmittelbare Sanktionen 116 Mißbrauchsgedanke 25 Mißbrauchshandlung i. S. d. A r t . 18 GG 118 Mißbrauchsklauseln, positivierte 19 F N 46 Mißbrauchskriterien 27 Mißbrauchslehre 17 f., 20, 23 f., 26, 28 Mißbrauchsreaktionen, staatliche 99 —, des Gesetzgebers 102 ff. —, der richterlichen Gewalt 111 ff. —, der vollziehenden Gewalt 105 ff. Mißbrauchsrichtungen 33 Mißbrauchstäter 121 Mißbrauchstypen 31, 33, 38, 71, 87, 99 Mißbrauchsprivileg 123, 147 Mißbrauchsvorbehalt 17 F N 37, 19, 21 Mißbrauchsverbot 16, 18, 20 M i t t e l , „allgemein erlaubte" 170 M i t v e r w i r k u n g 140 Nächstenhilfe 49 F N 64 N a t u r der Sache 24 Naturrecht 24 Nebenfolgen 102 Neutralität 82 Nichtstörer 90, 109 f. —, Handlungspflichten 75 F N 170 Nichtstörungsschranke 78 f. Norm, absolute 24 Normenkontrollrecht 152
Normierungsgewalt 70 f. Normierungsbefugnis 152 Notstand 90 „ n u l l a poena sine lege" 112 numerus clausus 44 Offenkundigkeit 84 F N 221 Opposition 93, 164, 170 Parteien 116, 161 ff., 169 ff. Parteianhänger 169 ff. Parteienprivileg 128, 163 ff., 167 ff., 170 Parteiverbot 162 ff., 169 ff. Persönlichkeitsentfaltung 22, 34 Petitionsrecht 51, 97 f., 114, 146 Pönalisierung 18, 50, 113 Polizei 106 ff., 124 Polizeifestigkeit der Grundrechte 77, 106 f. Polizeinähe 35 Präambel 73 P r a k t i k a b i l i t ä t 65 Privatautonomie 64 Privatrechtsordnung 52 Privatschulfreiheit 34, 88 f., 146 Rangstufen 42 rechtliches Gehör 105 Recht, subjektives 31, 44, 103, 165 —, subjektives öffentliches 17, 24 —, überpositives 15, 24, 30 Rechte anderer 39, 59, 104 Rechtsanwaltschaft, Zulassung 152 Rechtsanwendung 53 F N 77 Rechtsauffassung, vertretbare 11 Rechtsausübung 12 —, scheinbare 11 —, unzulässige 20, 35 —, zweck- u n d funktionswidrige 20 f. Rechtsbegriff, beschreibender 22 —, unbestimmter 77, 102 Rechtsbewußtsein, allgemeines 12 F N 7 Rechtsgedanke, allgemeiner 13 f., 17 —, überpositiver 35 Rechtsgenosse 33
Sachverzeichnis Rechtsgewissen 39 Rechtsgrundsatz, allgemeiner 14, 24, 30, 36, 57 f., 63 Rechtsidee 42 Rechtsinhalt 11 f., 14, 21, 24, 26, 103 Rechtskraft 97 Rechtsmißbrauch 11 f., 14, 16, 21 —, Abgrenzungskriterien 14 f., 21 Rechtsnorm, F u n k t i o n u n d Zweck 13, 24, 27 —, ungeschriebene 30 Rechtsobjekt 31 Rechtspflege 98 Rechtspflichten, elementare 40 Rechtsprinzip 14 Rechtsprinzipien, überpositive 25 Rechtsschein 12, 14, 21, 24, 26 Rechtsschutz 112 ff. —, Rechtsschutzstatus 133 Rechtssicherheit 26, 111 Rechtsstaatlichkeit 40, 93 Rechtsstaatsprinzip 30 Rechtstugenden 13 Rechtsüberzeugung 30 Rechtsverhältnis 21 Rechtsweggarantie 97 Rechtswidrigkeit 13, 103, 112 Religionsausübung 22, 34, 41, 51, 60 Religionsgesellschaften 82 Religionsfreiheit 24, 79 Religionsunterricht 54 f. „ r e i vindicatio" 60 Richterspruch, konkretisierender 22 Rückverweisung 100 Sanktion 31 —, strafrechtliche 99, 103 Schadensersatz 57, 112 Schikaneverbot 84 Schranken, siehe Grundrechte Schulverhältnis 98 Selbstaufopferung 49 F N 69 Selbstbestimmung 84 f. Selbstbestimmungsrecht —, der V ö l k e r 85 —, der Staaten 85
Selbsterhaltung 73 F N 157 Selbstgestaltungsbefugnis 85 Selbstgestaltungsprozeß 86 Sicherheit u n d Ordnung 75 ff., 106 ff. Sicherungsmaßnahmen 99 f., 103 Sinnentleerung 23 Sitten, gute 12 f., 26 f., 43, 63, 77 Sittengesetz 67 F N 131, 79 f., 82, 104, 117 —, Bestrafung unsittlichen Handelns 83 F N 216 —, Rechtserheblichkeit sittlicher Normen 80, 83 Sittlichkeit, Terror der 47 F N 47 Soldaten 101, 120 Sozialbezug 50 Sozialstaatlichkeit 93 Sozialstaatsklausel 47 ff. Sozialstaatsvorbehalt 48 Spannungsverhältnis 38 Sper r wir k u n g 28, 89, 116, 122, 124 f., 146 ff., 161 Sprachgebrauch 22 Subsumtionsautomat 12 Synthese 54 —, grundrechtskonforme 55 ff., 61, 63, 65 Staat 33 f., 67 F N 129, 68 —, Bestand 90 Staatsbewußtsein 25 Staatsgebiet 91 Staatsgewalt 91, 93 Staatsinteresse 54 Staatsräson 89 Staatsrecht 19, 20, 26 —, Begriff 20 Staatsschutz 89 F N 242 Staatsschutzrecht 91 Staatstheorie 67 Staatsvolk 25 Staatsvorbehalt 74 Staatswirklichkeit 59 Stabilisierungszweck 92 „status activus" 93, 95, 97
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Steuerpflicht 16, 90 Steuerrecht 15 Steuertatbestand 16 Steuerrechtsverhältnis 15 Störer 101, 107 ff. Strafe 104, 112 —, Freiheitsstrafe 99, 150 Strafgesetze 161 Strafgewalt 80, 112 Strafnorm 76 Strafrecht 49 ff., 104 —, politisches 123, 152 Straf richter 112 f. Straftatbestand 50 Strafvollzug 98 Stufentheorie 70 Tatbestandselemente 23 Tatsachenfeststellung 53 F N 77 Tendenzbetrieb 115 Testierfreiheit 64 F N 123 Tierquälerei 84 Totalv e r w i r k u n g 145 Tötung auf Verlangen 84 Treu u n d Glauben 12 ff., 22, 26 f., 43, 63, 77 —, i m öffentlichen Recht 14 f. —, i m Staatsrecht 19 f. —, i m Steuerrecht 15 f. —, normbegrenzende F u n k t i o n 15 T y p i k 18 Übermaß 101 Überschaubarkeit 15 Unrechtsfolge 113 Unterlassung 103 Unterlassungsklage 60, 113 f. Unterlassungspflicht 52 F N 73 U n w e r t u r t e i l 130 venire contra factum p r o p r i u m 15, 58 F N 98, 84 Verbot, allgemeines 102 Verbotsnormen 51 Verbotsvorbehalt 103 Vereinigung 116 f., 161 ff., 167 f.
Vereinigungsfreiheit 88 f. Vereinigungsmitglieder 162 Vereinigungsverbot 161 f., 167 f., 169 Verfahrenssicherung 112 Verfassungsänderung 91 f. Verfassungsbeschwerde 97 verfassungsmäßige Ordnung 18 F N 44, 73 f., 78, 79 F N 191, 83 F N 215, 88, 118, 161, 167 Verfassungsnorm, höherrangige 28, 30, 35 —, verfassungswidrige 29, 87 Verfassungsprinzipien 24 Verfassungszweck 90 Verhältnismäßigkeit 72 F N 150, 107, 145 Verhaltensmodell 72 Verkehrsunterricht 108 Verkehrswesen 74 Verlobten-Urteil des B G H 80 F N 192, 82 V e r m u t u n g 26, 29, 30, 61, 70, 71 F N 149, 83 f. Verschulden 36 Versorgung 74 Vertrag 114 Vertragsfreiheit 56 f., 65 F N 123 Vertragsstrafe 115 V e r w i r k u n g 28, 89, 120 ff., 159, 168, 169 ff. —, Ausmaß 126 —, Ausmaßbestimmung 135 ff. —, —, Dauer 143 —, —, Intensität 141 ff. V e r w i r k u n g , „Ausspruch" 126 —, Begriff 122, 126, 135 f. (siehe auch Verwirkungsverständnis) —, —, enger 128 —, —, Sprachgebrauch 121 V e r w i r k u n g , D r i t t w i r k u n g 146 —, „ex n u n c " - W i r k u n g 124 —, „ex t u n c " - W i r k u n g 144 —, Grenzproblem 128, 134 —, Interessenlage 129 —, „ipso iure" 153 —, Rechtsgarantien 129 —, Rechtsnatur 120, 134 f. —, —, verfassungsrechtliche Sicherungsmaßnahme 135
Sachverzeichnis V e r w i r k u n g u n d Menschenrechte 132 —, u n d Rechtsschutz 143 —, u n d Wesensgehalt 134 —»Verlust des Ausübungsrechts 132 —, Verwirkungsverständnis —, —, generelles 123 ff., 126, 131 f., 158 —, —, kombiniertes 125 —, —, punktuelles 122 f., 126, 158 verwirkungsgleiche Maßnahme 149 ff., 171 —, Effekt 149 —, finales Element 150 Verwirkungsverfahren 154 ff., 167 f., 169 ff. —, A n t r a g 154 ff., 168 —, —, Rücknahme 155 Verwirkungsverfahren, Antragsberechtigung 154 —, Antragsgegner 154 f. —, —, Abgeordnete 155 —, —, juristische Personen 155 Verwirkungsverfahren, Einstellung 155 —, „neue" Tatsachen 156 f. —, einstweilige Anordnung 158 f. —, —, Anordnungsgründe 159 —, —, Entscheidung i n der H a u p t sache 160 Verwirkungsverfahren, Offizialmaxime 157 —, Voruntersuchung 157 —, Vorverfahren 156 —, Entscheidung, Rechtsnatur 157 f. —, —, R ü c k w i r k u n g 124 F N 89, 144 Völkerverständigung 161, 169 V o l k 73
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Volksbefragung 95 Volksgesundheit 70, 74 Volkssouveränität 93 Wählbarkeit 139, 153 Wahlen 93, 97 Wahlrecht 139, 153 Wahrnehmung berechtigter I n t e r essen 114 Wechselwirkung 18, 46, 55, 58, 61 F N 112, 66, 79, 80, 113, 166 Weltjugendfestspiele-Entscheidung des B G H 123 Wertbetonung, objektive 52 Wer tent Scheidung 41, 62 Wertung 22, 50 f. —, pleonastische 148 —, Umakzentuierung 65 Wertordnungsnormen 61 ff. Wertsystem 52, 61 Wesensgehalt 18, 39 F N 41, 60, 93, 105, 134 W i l l k ü r 43, 60 Wissenschaftsfreiheit 41, 114 Zielformel 43 Zivilgesetzgeber 55 Zivilrecht 42, 52 f., 57 f., 61, 64 Zivilrechtsnorm 53, 58 ff., 60, 62 f. Zivilrechtsstreit 54 Zivilrichter 55, 113 f. —, „Privatrechtspolizist" 113 Z i v i l u r t e i l 53, 57, 61 Zulassungsbeschränkung 44 Zumutbarkeit 51 Zwangsbehandlung 75