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German Pages 208 [239] Year 1995
Schriften des
NIKOLAUS VON KUES in deutscher Übersetzung Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegeben von ERNST HOFFMANNt · PAUL WILPERTt und KARL BORMANN Heft21 Lateinisch-deutsche Parallelausgabe
NICOLAI DE CUSA
Idiota de mente Edidit RENATA STEIGER
IN AEDIBUS FELlCIS MEINER HAMBURGI
NIKOLAUS VON KUES
Der Laie über den Geist Mit einer Einleitung von GIOVANNI SANTINELLO auf der Grundlage des Textes der kritischen Ausgabe neu übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von RENATE STEIGER
Lateinisch-deutsch
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 432 Der lateinische Text ist der kritischen Edition der Heidelberger Ausgabe entnommen: Nicolai de Cusa opera Omnia, vol. V. Idiota de sapientia. Idiota de mente, editionem post Ludovicum Baur alteram curavit Renata Steiger, duas appendices adiecit Raymundus Klibrevem dissertationem addiderunt Carolus Borman et Iohannes Gerhardus Senger, Hamburgi i aedibuus Felicis Meiner MCMLXXXIII, p. 81–218. – Eine deutsche Übersetzung von Martin Honecker und Hildegund Menzel-Rogner erschien 1949 als Band 228 der Philosophischen Bibliothek.
Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod
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© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1995. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.
INHALT
Einleitung. Von Giovanni Santinello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX 2. Die großen Themen und ihre Gliederung . . . . . . . . . XII 3. Das Sein des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI 4. Die Erkenntnis durch Angleichung . . . . . . . . . . . . . . . XXII Zur Ausgabe. Von Renate Steiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX KuEs Der Laie über den Geist NIKOLAUS voN
Text und Übersetzung »ldiota de mente« . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Kapitel Wie ein Philosoph sich an einen Laien wandte, um in der Erkenntnis der Natur des Geistes weiterzukommen; daß der Geist an sich Geist, von seiner Aufgabe her Seele ist und benannt ist vom Messen. 2 Daß es einen natürlichen Namen gibt und einen anderen, der beigelegt ist und jenem entspricht, aber ohne Genauigkeit zu erreichen; und daß es einen einfachen Ursprung gibt, der die Kunst der Künste ist; und daß die ewige Kunst der Philosophen darin eingefaltet ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wie die Philosophen zu verstehen und in Übereinstimmung zu bringen sind; und vom Namen Gottes und der Genauigkeit; und daß, wenn ein genauer Name erkannt ist, alles erkannt wird; und vom Genügen des Wißbaren; und daß Gottes und unser Begreifen verschieden sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Daß unser Geist nicht Ausfaltung ist, sondern Bild der ewigen Einfaltung, was aber nach dem Geist
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Inhalt kommt, nicht Bild ist; und daß er ohne Begriffe ist, aber dennoch eine anerschaffene Urteilskraft hat; und warum der Leib für ihn notwendig ist. . . . . . . . . 5 Daß der Geist eine lebendige Substanz und im Leib erschaffen ist und über die Weise wie; und ob Verstand in den Tieren sei; und daß der Geist die lebendige Abbildung der ewigen Weisheit ist. . . . . . . . . . . . 6 Daß die Weisen in symbolischer Rede die Zahl das Urbild der Dinge genannt haben und über deren wunderbare Natur; und daß sie vom Geist stammt und von der Unzerstörbarkeit der Wesenheiten; und daß der Geist Harmonie ist, sich bewegende Zahl, Zusammensetzung aus Selbigem und Verschiedenem. .............................................. 7 Daß der Geist aus sich die Formen der Dinge auf dem Wege der Angleichung hervorbringt und die absolute Möglichkeit oder Materie berührt. . . . . . . . .
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8 Ob für den Geist begreifen, erkennen, Begriffe bilden und Angleichungen machen dasselbe ist; und wie nach den Ärzten die Sinneswahrnehmungen zustande kommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 9 Daß der Geist alles ist, indem er Punkt, Linie und Fläche bildet; und daß der eine Punkt sowohl Einfaltung als Vollendung der Linie ist; und über die Natur der Einfaltung; und daß er angemessene Maße für die verschiedenen Dinge hervorbringt; und woher er angeregt wird, dies zu tun. . . . . . . . . . . . 75 10 Daß das Begreifen der Wahrheit auf Vielheit und Größe beruht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 11 Wie alles in Gott in Dreieinigkeit ist, ebenso auch in unserem Geist; und daß unser Geist aus den Verstehensweisen zusammengesetzt ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 12 Daß nicht eine einzige Vernunft in allen Menschen ist; und daß die Zahl der reinen Geister, die wir nicht zählen können, Gott bekannt ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Inhalt
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13 Daß das, was Platon Weltseele nannte und Aristoteles Natur, Gott ist, der alles in allem wirkt; und wie er den Geist in uns erschafft. . . . . .. .. . . . .. .. .. . . . . .. 109 14 Über die Ansicht, daß der Geist von der Milchstraße durch die Planeten in den Leib herabsteigt und wieder zurückkehrt; und über die unzerstörbaren Begriffe der reinen Geister und unsere zerstörbaren. . . 117 15 Daß unser Geist unsterblich und unvergänglich ist. 121 Anmerkungen der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Nikolaus zitierte Namen und Autoren.............. Register zu den Anmerkungen (Handschriften, Bibelstellen und Autoren) . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis wichtiger Begriffe (lateinisch-deutsch) . . . . . .
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EINLEITUNG
1. Vorbemerkung
Die vier Dialoge, die uns schon in den frühesten Handschriften unter dem gemeinsamen Titel Der Laie überliefert sind, haben jeder einen eigenen Untertitel, der die unterschiedlichen Inhalte angibt: die ersten beiden heißen Über die Weisheit, der dritte Über den Geist und der vierte Über Versuche mit der Waage. Die gemeinsame Bedeutung ergibt sich aus der Hauptperson, die in allen Dialogen präsent ist, dem Laien. Dieser tritt in verschiedenen Gestalten auf: zuerst als einfacher armer Mann, der mit einer Weisheit begabt ist, die tiefer ist als alle Wissenschaft dieser Welt (De sapientia), dann als Handwerker, als Schnitzer von hölzernen Löffeln und anderen Tischgeräten, der seine Kunst als Abbild der unendlichen göttlichen Kunst versteht (De mente), schließlich (De staticis experimentis) wird er selbst Wissenschaftler, »ein Exponent des modernen experimentellen Zugriffs auf die Natur«. 1 Ich meine, daß die Unterschiede der verschiedenen Gestalten des Laien durch die ihnen gemeinsame polemische Funktion aufgehoben werden. Gesprächspartner des Laien in De sapientia ist ein Redner, der brillante und gebildete Vertreter der neuen humanistischen Kultur; in De mente gesellt sich ihm ein Philosoph hinzu, der den traditionellen Wissenschaftsbetrieb an den mittelalterlichen Universitäten verkörpert, und in De staticis experimentis wendet er sich den neuen Aspekten des Experimentalismus (der Mutmaßungsmethode) der Naturphilosophen zu, einem Experimentalismus mehr von der Art des Roger Bacon als eines Vorläufers von Galilei, trotz der mathematischen Elemente. Der Laie ist also berufen, eine Art Bilanz von der Totalität des Wissens zu ziehen: von der Theologie, deren Hauptgegen1
Vgl. R. Steiger, Einleitung, in: Idiotade sap. (H 1, S. X-XVIII).
Giovanni Santinello
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stand die Weisheit ist, von der Anthropologie, wo das traditionelle De anima zu De mente wird, von der Naturphilosophie, wo die vorherrschende Verbindung mit der Metaphysik nun eigenständigen experimentellen Untersuchungen einen gewissen Raum läßt. Auf dem Gebiet der Theologie gibt es eine lebhafte Auseinandersetzung mit ihrer vernünftigen systematischen Begründung, die sich durch die neue Methode der belehrten Unwissenheit verändern sollte. 2 Was die Anthropologie betrifft, sollten sich die Schulkontroversen zwischen Platonikern und Aristotelikern und innerhalb des Aristotelismus der Streit über unterschiedliche Interpretationen beruhigen und in eine >Konkordanz der Philosophen< übergehen. 3 Im Bereich der Naturphilosophie - so wie auf allen Wissensgebieten - sollte dem Autoritätsprinzip das Prinzip des freien Forschens folgen. 4 Das ist das Ziel des neuen Wissens im Verständnis des Nikolaus von Kues in seiner Polemik gegen alte und neuere Autorität, gegen die scholastische Tradition wie gegen die neue humanistische Bildung. Die Anregung dazu bekommt der Laie aus seiner >modernen< Bildung, aus seiner >evangelischen Torheit< aufgrund einer Neuinterpretation der christlichen Erziehung durch die devotio moderna S, der sich Cusanus verpflichtet wußte. Diese allgemeinen Betrachtungen beleuchten die vier Idiota-Dialoge vor ihrem historischen Hintergrund. Cusanus verfaßte das Werk während eines Aufenthaltes in Italien anläßlich des vom Papst ausgerufenen Jubeljahres 1450. Gleichzeitig feierte man die wiedergefundene Einheit der abendländischen Kirche nach dem Schisma des Basler Konzils sowie die auf dem Idiotade sap. I, h V, n.4,2-4 (H 1, S. 5-7); II n.33,1-3 (H 1, S. 57). Idiotade mente, h V, n.67,1-3; n.68,7-9. 4 Idiotade sap. I, h V, n.2,5 (H 1, S. 3); Idiotade mente, h V, n.88, 11-12. 5 Über Cusanus und die »devotio moderna« vgl. R. Steiger, Einleitung, in: Idiotade sap., S. XXIII-XXIV; R. Klibansky, in: Idiota, h V, Ad praefationem appendices, S. LXI-LXII. 2
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Einleitung
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Unionskonzil von Ferrara/Florenz (1440) wiedergewonnene Einheit der griechischen und der lateinischen Kirche. Nikolaus von Kues war einer der wichtigsten Promotoren beider Bestrebungen nach Einheit. Seine langen und fruchtbaren Bemühungen fanden am päpstlichen Hof große Anerkennung, die sich 1448 in der Ernennung zum Kardinal, 1450 im Empfang des Purpurs und in der Erhebung zum Fürstbischof von Brixen äußerte. Nikolaus von Kues war auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Ende des Jahres kehrte er als päpstlicher Legat nach Deutschland zurück, um dort die Gnaden des Jubeljahres zu verkünden. 6 Der Friede, der aufgrundder Einheit der Institutionen möglich wurde, spiegelt sich im spekulativen Frieden des Cusaners wider, der letztlich das Werk Über den Laien angeregt hat. Im Vordergrund der Dialoge steht die Polemik gegen die mittelalterliche Scholastik und den neueren Humanismus, aber nur aus der Sicht einer neuen, durch die devotio moderna angeregten Spiritualität, eben aus der Sicht einer Philosophie, die durch die methodische Anwendung der belehrten Unwissenheit und mutmaßlicher quantitativer Versuche um die concordantia philosophorum bemüht war. 7 Idiotade mente- am 23. August 1450 im Kloster von Val di Castro bei Fabriano in der Mark Ancona beendet 8 - entspricht ganz den üblichenAbhandlungenDe anima innerhalb der aristotelischen Tradition; und doch treten sofort auch wesentliche Unterschiede hervor. Was für den Laien mens bedeutet, das wird von fast allen Vertretern der aristotelischen Schule intellectus genannt. Sprechen die Aristoteliker vom Intellekt, so meinen sie damit ein bestimmtes Vermögen der Seele. Für Cusanus dagegen ist die mens eine lebendige Substanz; sie ist die für sich selbst seiende Seele als Einheit aller ihrer E. Meuthen, Nikolaus von Kues (1401-1464). Skizze einer Biographie, Münster 1964, S. 83-84. 7 Idiotade stat. exper., h V, n.162,3-4: Per ponderum differentiam 6
arbitror ... multa sciri posse verisimiliori coniectura. 8 R. Steiger, Praefatio editoris, in: I diota, h V, p. X.
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Kräfte. 9 Schon hier kündigt sich ein großes Bündel unzähliger Probleme an, die Nikolaus nicht vermeiden konnte, ist doch mens ein platonisch-augustinisch gefärbter Begriff. Gerade dies ist von entscheidender Bedeutung: Dadurch nämlich, daß Nikolaus beabsichtigt, die ganze Problematik um den intellectusBegriff der Aristoteliker zu behandeln, statt intellectus jedoch den Begriff der mens, einen typischen Ausdruck des mittelalterlichen Platonismus, verwendet, bemüht er sich um die Konkordanz beider philosophischer Überlieferungen. 2. Die großen Themen und ihre Gliederung Ich möchte die in den 15 Kapiteln von Demente dargestellten Ideen und Überlegungen gruppieren und systematisch verknüpfen. Diese Vereinfachung der reichen cusanischen Gedankenwelt soll der besseren Konzentration auf den Gedankengang des Cusanus dienen. Das Werk läßt sich in drei Teile gliedern: Der erste Teil enthält die Kapitel 1 bis 5, die auf verschiedene Weise darstellen, was man eine Ontologie des Geistes nennen könnte. Nach der etymologischen Bestimmung der Bedeutung von mens (mens wird von mensura/ mensurare- Maß/ messen benannt) kommt Nikolaus zur Einteilung der Geister (mentes) in zwei Klassen: Er unterscheidet zwischen dem unendlichen Geist (göttlicher Geist) und Bildern des unendlichen Geistes (geschaffene Geister, engelhafte und menschliche). Der menschliche Geist ist wie der der Engel ein Abbild des unendlichen, der in sich besteht. Er ist so geschaffen, daß er den menschlichen Leib beseelen kann. Von dieser Aufgabe her wird er auch Seele genannt. Geist und Seele des Menschen sind in ontologischer Hinsicht dasselbe (Kap.1). Im folgenden Kapitel I diota de mente h V, n. 80,5-8: Omnes fere Peripatetici aiunt intellectum, quem tu mentem dicere videris, fore potentiam quandam animae et intelligere accidens, tu vero aliter. Idiota: Mens est viva substantia ... (vgl. hier die deutsche Übersetzung von R. Steiger, n. 80). 9
Einleitung
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wendet sich Cusanus wieder dem Begriff der mens zu und widmet sich eingehend semantischen Problemen: der Natur des Namens, der Gattungen und Arten sowie der Übereinstimmung der Philosophen - trotz scheinbarer Verschiedenheit bei der Behandlung des Problems der Universalien (Kap.2). Nikolaus stellt fest: Alle Namen der konventionellen Sprachen sind ungenau. Könnte eine Genauigkeit der Namen erreicht werden, würde diese die Namen aller Dinge im Namen Gottes koinzidieren lassen, ebenso wie sie in dem Namen eines einzelnen Dinges die Namen aller anderen Dinge zusammenfallen ließe. Daran anschließend beginnt die im folgenden Kapitel weiter fortgeführte Erörterung des Geistes als (Ab )Bild. Gott ist die Einfaltung (complicatio) aller Dinge, der menschliche Geist das Bild dieser Einfaltung, indem er die Einfaltung der Begriffe aller Dinge ist (Kap. 3). Cusanus setzt die Diskussion über das Bild noch fort, indem er zwischen dem Bild der ewigen Einfaltung Gottes (imago complicationis aeternae) und der Ausfaltung (explicatio) unterscheidet. Die erschaffenen natürlichen Dinge sind Ausfaltung Gottes, eine Vielheit, in die sich die göttliche Einheit auflöst. Nur die erschaffenen Geister sind Abbilder, die an der Gleichheit mit Gott in verschiedenem Grade teilhaben, an der Gleichheit, die sich in höchstem Grade in seinem Wort (Verbum) verwirklicht. Darauf sieht Nikolaus eine Möglichkeit der Versöhnung von Platon und Aristoteles, indem er Aristoteles gegen Platon beipflichtet, daß der menschlichen Seele keine Begriffe anerschaffen sind, sondern die Urteilskraft. »Wenn Plato diese Kraft den anerschaffenen Begriff genannt hat, hat er nicht völlig geirrt« (Kap. 4). Als Bild Gottes hat der Geist nun eine gewisse Selbständigkeit gegenüber dem Leib, und deshalb wird der Geist eine lebendige Substanz genannt und nicht (wie der Intellekt vonseitenfast aller Aristoteliker) nur ein Vermögen der Seele. Der Geist ist nicht der Zeit, aber der Natur nach vor dem Leib dagewesen. Er besitzt ein anerschaffenes Unterscheidungsvermögen und führt, weil von Gott im Leib als höhere Form erschaffen, die niedrigere tierische Form des Leibes zur Vollkommenheit (Kap. 5).
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Im zweiten Teil (Kap. 6 bis 10), nach der Behandlung des Seins des Geistes, erklärt Nikolaus das Erkenntnisvermögen, jenes erkennende Messen, das vom Namen mens selbst bezeichnet wird. Er beginnt mit der Zahl, dem ersten aus dem göttlichen Geist Entsprungenen, der idealen Zahl, die uns unbekannt ist, deren Abbilder jedoch die Zahlen unserer Mathematik sind. Die Erfinder dieser göttlichen Zahlenlehre waren- nach Nikolaus - die Pythagoreer, ihnen folgten Platon und Boethius (Kap. 6). Nach der Erörterung einiger von Platonikern und Aristotelikern benutzten Ausdrücke (mens als Harmonie, als sich selbst bewegende Zahl, als Zusammensetzung aus Selbigem und Verschiedenem, aus Teilbarem und Unteilbarem, als Entelechie) behandelt Nikolaus die Stufen der Erkenntnis des Geistes als Angleichung. In aufsteigender Bewegung ordnet er die Angleichung der Sinne, der Einbildungskraft und des Verstandes an. Diese Angleichungen kommen durch die Vermittlung der Arteriengeister zustande, denn der Geist wirkt bei diesen drei Stufen der Angleichung als Geist, der eingetaucht ist in den Körper, den er belebt. Die beiden letzten und höchsten Stufen werden vom Geist dadurch erreicht, daß er statt dessen sich in sich selbst als vom Körper abgetrennt betrachtet. So gelangt er zu den Formen an sich und für sich und zur höchsten Angleichung in der Schau der absoluten Wahrheit (Kap. 7). Begreifen, erkennen, Begriffe bilden sind Synonyme und bezeichnen auf verschiedene Weise die oben genannten Stufen der Angleichung. Nikolaus verweilt noch einmal bei der Erklärung der Sinneswahrnehmungen in den Begriffen der Ärzte: Die Seele bedient sich des Arteriengeistes als Hilfsmittel, um auf die sinnlichen Eindrücke zu reagieren, die ihr durch die leiblichen Organe vermittelt werden (Kap. 8). Nach dieser Erörterung der subjektiven Bedingungen von Erkenntnis kommt Nikolaus zur Beschreibung der objektiven Inhalte (Kap. 9): mathematische Erkenntnis nach Größe (Konstruktion der geometrischen Elemente Punkt, Linie, Fläche, Körper) und Vielheit (Zahlen) und physikalische Erkenntnis (Atom). Daher kann Cusanus mit Boethius schließen (Kap. 10): Das Begreifen der Wahrheit beruht auf Vielheit und Größe, auf dem Diskreten (Arithmetik
Einleitung
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und Musik) und dem Kontinuum (Geometrie und Astronomie). Der dritte und letzte Teil von Demente (Kap.11-15) enthält einzelne Fragen, die die traditionellen Probleme über die Seele betreffen. Diese Fragen befinden sich am Ende der cusanischen Schrift in einer unbestimmten Reihenfolge, so daß sie nicht unter einem gemeinsamen Titel zu behandeln sind. Als erstes greift Nikolaus kurz das Thema der göttlichen Dreieinigkeit auf. Er benutzt hier eine Formel, die er dem göttlichen Schöpfungsakt entnimmt: werden-können (posse fieri), wirken-können (posse facere) und die Verknüpfung beider (nexus). Diesem Ternar entspricht ein trinitarischer Rhythmus auf seiten unseres erkennenden Geistes (Kap. 11 ). Es folgt die Behandlung der Streitfrage mit dem Averroismus, der behauptet, es gebe nur eine einzige abgetrennte Vernunft in allen Menschen. Cusanus entgegnet, daß es eine Vielheit individueller Geister gibt, die sich nicht in die eine Weltseele auflösen; auch wenn diese Geister nach dem leiblichen Tode von aller Mannigfaltigkeit der Materie befreit sind, bleiben sie in ihrer individuellen Realität bestehen, die nur von der ontologischen Zahl Gottes her gezählt werden kann. Kein Geschöpf vermag der Zahl des göttlichen Geistes zu entfliehen (Kap.12). Was Platon die Weltseele nannte und Aristoteles als Natur bezeichnete, das ist nach dem Dafürhalten des Cusanus Gott, der das All durchdringt und alles bewirkt. Dem, was Platon das Wissen der Weltseele nannte, und dem, was Aristoteles als die Klugheit der Natur bezeichnete, ist es nach Nikolaus eigen, die Gebote Gottes auszuführen. Beides, Wissen und Klugheit, sind Weisen des endlichen Erkennens und darauf ausgerichtet, so zu handeln, wie es der Wille Gottes ist. Der allmächtige Wille Gottes jedoch, dem alles notwendig gehorcht, braucht keinen anderen Vollstrecker seines Willens. Denn in der Allmacht fallen Wollen und Ausführen zusammen. Der göttliche Geist, dessen lebendiges und vollkommenes Bild der menschliche Geist ist, wirkt alles in allem (Kap.13). Weitere Elemente platonischer Herkunft stehen im Zusammenhang mit dem Mythos vom Abstieg der Seele von der Milchstraße über die Planeten in den Körper und ihre
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Rückkehr. Cusanus interpretiert diese Vorstellungen als symbolische Bilder der Ab- und Aufstiegsbewegung der erkennenden Seele: Aristoteles setzt den Verstand als Anfang für den Aufstieg der Vernunft, der es durch die Wissenschaft ermöglicht wird, über die Vernunft-Natur hinaufzusteigen bis zur höchsten Stufe der Vernünftigkeit. Platon hingegen hat die umgekehrte Blickrichtung. Er setzt bei der Vernünftigkeit ein und verfolgt den Abstieg hinab bis zur Form der wandelbaren Materie. Am Ende geht Nikolaus der Frage nach, ob die himmlischen Geister gemäß der Abstufung in der Erkenntnis erschaffen seien. Er bejaht dies, indem er neun verschiedene Engelschöre unterscheidet (Kap.14). Im letzten Kapitel führt Nikolaus schließlich noch einige traditionelle Beweise für die Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit des Geistes an (Kap.15). 3. Das Sein des Geistes Nun möchte ich bei einigen Gedanken verweilen, die mir in der Abhandlung des Cusanus als zentral erscheinen. Zunächst beim Sein des Geistes, bei der Ontologie des Cusanus. Im Mittelpunkt seiner Ontologie steht beherrschend der Begriff des Bildes: die menschliche Seele ist das Bild Gottes. Zwar sind die beiden Vermögen Seele und Geist in ontologischer Hinsicht eigentlich dasselbe, wie Nikolaus im ersten Kapitel von Demente ausgeführt hat, doch es besteht auch ein Unterschied zwischen beiden. Cusanus unterscheidet allgemein ein in sich selbst bestehendes Seiendes von dem, das nur in einem anderen existieren kann. Darin liegt auch die Verschiedenheit von Seele und Geist. Die Seele kann z. B. im Körper einer Pflanze oder eines Tieres existieren und beseelt so den Körper als seinsgebende Form durch vegetatives und sinnliches Leben. Der Geist hingegen besteht in sich selbst. Er wird zweifach unterschieden als unendlicher Geist und als endlicher Geist, der wiederum Bild des unendlichen Geistes ist. Bild des unendlichen Geistes zu sein bedeutet keine wirkliche Unendlichkeit, sondern nur eine Ähnlichkeit mit dem unendlichen Geist. Diese Ähnlichkeit ist
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in jeder Hinsicht gültig. Der endliche Geist als Bild des unendlichen Geistes ist daher ein Wesen, das in sich selbst bestehen kann und deshalb auch nicht einen Leib braucht, um existieren zu können, wie die Engel. Der endliche Geist kann aber auch einem menschlichen Körper einwohnen. In der spekulativen Theologie der jüdisch-christlichen Tradition stehen die Engel zwischen dem reinen göttlichen Geist und der geschaffenen körperlichen Welt. In der platonisch-neuplatonischen Überlieferung hat das Bild des Geistes seinen Ort in der Region des Intellekts (nous), zwischen dem Einen und der Weltseele, die sich mit derNaturund den Körpern vereinigt. Ihrer Natur entsprechend drücken die Bilder des unendlichen Geistes verschiedene Stufen der Ähnlichkeit aus. Besteht ein endlicher Geist in sich selbst und hat keinerlei Beziehung zu Körpern, so ist er ein Engel. Hat er jedoch die Möglichkeit, eine Verbindung mit einem menschlichen Körper einzugehen, so ist es seine Aufgabe, den menschlichen Körper zu beseelen. In diesem Falle, d.h. wenn es sich um den menschlichen Geist handelt, sind Geist und Seele dasselbe: vom Wesen her Geist, von der Aufgabe her Seele (n. 57, 11-23). Die Wesensverwandschaft des menschlichen Geistes mit dem eines Engels wird von Cusanus zwar nicht an dieser Stelle behandelt, doch sie wird zumindest angedeutet, indem er das An-sich-Bestehen des engelhaften wie des menschlichen Geistes behauptet. Der Ursprung dieser Behauptung ist wohl in der von der platonischen Tradition geprägten mittelalterlichen Literatur zu suchen. 10 Nikolaus knüpft an diese Tradition an und weist dem menschlichen Geist einen Platz unter den geschaffenen Wesen zu. Allerdings betrachtet er den menschlichen Geist als ein in-sich-bestehendes Wesen, das zwar von einem Körper getrennt existieren könnte, wegen seiner Aufgabe jedoch mit einem Leib vereint ist. Da Cusanus dem menschlichen Geist eine Aufgabe zuerkennt, die ihm nicht vollkommen entspricht, unterscheidet er, wohl um die Wesensverwandtto Vgl. Anonymus, De spiritu et anima, 9 (PL 40, 784): s. R. Steiger, in: Idiotade mente, h V, 57,7-16 (Quellenapparat, S. 91).
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schaftbeider Stufen des Geistes wissend, zwischen dem englischen und dem menschlichen Geist. Dort, wo Nikolaus die »himmlischen Geister« ausdrücklich mit dem menschlichen Geist vergleicht, treten die Unterschiede besonders deutlich hervor (n.154,1). Dabei bezieht er sich immer wieder auf die »offizielle« Engellehre aus der »himmlischen Hierarchie« des Ps.-Dionysius. In der gestuften Hierarchie der Wirklichkeit gibt es ihm zufolge keinen Rang, in dem sich der englische Geist und die menschliche Geist-Seele vermischt haben. Der menschliche Geist hat eine Zwischenstellung (nexus), er steht unter dem ersten Chor der Engel und über jeder Stufe der körperlichen Natur (n.154,9-11). Um nun den ontologischen Ort des menschlichen Geistes genauer zu bestimmen, muß man vom Bezug des menschlichen Geistes zur Gesamtheit der Körper ausgehen und nicht von seinem Bezug zur Welt der Engel. Erfüllt der menschliche Geist seine Aufgabe und berührt dabei die Welt der reinen Geister, weil er gleichsam als Verknüpfung (nexus) der Gesamtheit der Seienden existiert, so ist er >>Endpunkt der Vollkommenheit der niederen Natur und Anfang der höheren« Natur (n.154,11-13). Weil der menschliche Geist also verknüpfendes Zwischenglied in der Gesamtheit der Seienden ist und ihm damit ein gewisser Vorrang vor den Engeln zukommt, ist er dem englischen Geist zugleich ähnlich und verschieden von ihm. Die Verschiedenheit besteht darin, daß der menschliche Geist die Aufgabe hat, einen Leib zu beseelen und in einem Verhältnis zu ihm zu stehen. Dies ist den Engeln nicht möglich. Worin besteht nun aber die Gesamtheit der Seienden, deren Bindeglied der menschliche Geist ist? Dies wird von Nikolaus in De venatione sapientiae näher bestimmt (n. 95,9-11 ), wo er davon spricht, daß die Aufgabe der Verknüpfung nicht nur Aufgabe des menschlichen Geistes sei, sondern des ganzen Menschen. Dabei bezeichnet er den Menschen als Mikrokosmos. Die Gesamtheit der verknüpften Seienden besteht in der Totalität aller geschaffenen Wesen, angefangen bei der niedrigsten Region der »in zeitlichem Wechsel (tempus) der Bildhaftigkeit unzulänglichen
Einleitung
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Abbilder« bis zur höheren Region der »beständigen Bildhaftigkeit« (perpetuum). Die höchste Region, die absolute Transzendenz des ewigen Einen, ist folglich ausgenommen. 11 Die Region der »beständigen Bildhaftigkeit« des perpetuums, zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen, ist die himmlische Welt des sich bewegenden Geistes der Engel. Es bleibt festzuhalten, daß das Wesen des menschlichen Geistes wie das der Engel in der Bildhaftigkeit und in der ontologischen Beständigkeit liegt, insofern sind sie sich ähnlich, sie unterscheiden sich jedoch darin, daß dem menschlichen Geist die Aufgabe zukommt, einen Leib zu beseelen, während der Engel reiner Geist ist. Die >Bildhaftigkeit< des Geistes bedeutet für ihn, daß er nicht durch Ausfaltung (explicatio) geschaffen wurde. In der cusanischen Sprache ist Ausfaltung alles, was von der göttlichen Einheit (complicatio) als Vielheit und Differenz herstammt; das Geschaffene ist also die aus der Einheit ausgefaltete Vielheit. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Durch ihre Ähnlichkeit und besondere Nähe zum göttlichen Ursprung bilden der englische und der menschliche Geist eine Ausnahme, weil sie als Bild des göttlichen Geistes von dieser Ordnung ausgenommen sind. Sie bewahren in sich das Bild der Einheit in einer solch lebendigen Nähe, daß sie nicht der zeitlich-räumlichen Vielheit unterliegen, sondern vielmehr - wie wir schon gesagt haben - der Region einer beständigen Vielheit, nämlich der Bildhaftigkeit. »Beachte, daß Bild und Ausfaltung etwas Verschiedenes sind. Denn die Gleichheit ist der Einheit Bild. Aus der Einheit nämlich einmal genommen, entsteht die Gleichheit, weswegen der 11
De ven. sap., h XII, n.30,4-6 (H 14, SS. 45-47): die sogenannten
»regiones sapientiae« sind die folgenden: Prima, in qua ipsa [sapientia] reperitur, uti est aeternaliter. Secunda, in qua reperitur in perpetua similitudine. Tertia, in qua in temporali fluxu similitudinis lucet a remotis. Nicht immer werden die drei Gebiete (regiones) so klar unterschieden: »aeternaliter«, »in perpetua similitudine«, »in temporali fluxu similitudinis«. Vgl. auch De coni., h III, n.107,22-24: mensura perpetuitatis; n.108,1-2: tempus atque successio [exit] a perpetuo (H 17, S. 126);De ludo globi (H 13, S. 69,Anm. 54).
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Einheit Bild die Gleichheit ist. Und nicht ist die Gleichheit Ausfaltung der Einheit, sondern die Vielheit (ist Ausfaltung der Einheit)« (n. 74,13-18 und n.122,11-15). In diesem Text findet beinahe zufällig ein neuer Begriff Verwendung, nämlich der Begriff der Gleichheit (aequalitas). Diesen Begriff möchte ich benutzen, um den Grund der Verschiedenheit zwischen Bild und Ausfaltung zu erläutern. Cusanus hat gesagt, daß die Gleichheit das Bild der Einheit sei. Er kann insofern von der Gleichheit als dem Bild der Einheit sprechen, als die Gleichheit die höchste Stufe der Ähnlichkeit mit der göttlichen Einheit ist. Die Gleichheit der Einheit ist das Wort (Iogos) als Sohn Gottes, die ewige Zeugung als »einmalige Wiederholung der Einheit«. 12 Mit dem Begriff der Gleichheit wechselt Nikolaus aber auf das Gebiet und in die Sprache der Theologie: Nur der Sohn Gottes ist echtes und wahres Bild (Gleichheit) des Vaters. 13 Von daher kann nicht der Mensch das wahre Bild Gottes (imago Dez) sein, wie Nikolaus theologisch begründet, sondern nur ein Bild auf niederer Stufe: der Mensch ist nicht imago, sondern ad imaginem 14 • Der Unterschied zwischen imago und ad imaginem betont die Differenz zwischen der zweiten Person der Trinität (Iogos) und der Gotteskindschaft des Menschen. Trotz dieses Unterschieds wird jedoch die Gotteskindschaft des Menschen von der Ähnlichkeit bis zur Gleichheit als Teilhabe an der göttlichen Zeugung erhöht. Durch diese Teilhabe am göttlichen Lebensprozeß der Trinität aber ist der Mensch als Bild Gottes - ad imaginem- geschaffen. Aufgrund dieser Teilhabe am geheimnisvollen Leben Gottes wird der Mensch Bild Gottes genannt. Deshalb ist er nicht nur eine Stufe innerhalb der durch die Ausfaltung der Einheit in die Vielheit geschaffenen Ordnung der Wirklichkeit. De docta ign. I, n.23,9-10 (H 15a, S. 32): Unitas vero semel repetita so! um gignit unitatis aequalitatem. 13 II Cor. 4, 4: qui est imago Dei; Col. 1,15: qui est imago Dei invisibilis. 14 Sermo 248, f. 150r,25-26: Quare homo non est imago vera ut Filius, sed est ad imaginem ipsius creatus. Vgl. Thomas v. Aq., Sum. theol. I, q. 35, a. 2, ad III. 12
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Noch eine letzte Eigenschaft charakterisiert die Bildhaftigkeit des menschlichen Geistes: er ist imago viva. Die Ähnlichkeit des Abbildes zum göttlichen Urbild ist keine tote, unbewegte Eigenschaft, sondern das lebendige Vermögen des Geistes, sich dem Urbild in fortschreitender Weise anzunähern und ihm ähnlicher zu werden. »Das ist so, wie wenn ein Maler zwei Bilder malte, von denen das eine, tote, ihm in Wirklichkeit ähnlicher schiene, das andere aber, das weniger ähnliche, lebendig wäre, nämlich ein solches, das, durch seinen Gegenstand in Bewegung gesetzt, sich selbst immer gleichförmiger machen könnte. Niemand zweifelt daran, daß das zweite vollkommener ist, weil es gleichsam die Malerkunst mehr nachahmt. So hat jeder Geist, auch der unsrige, obgleich er niedriger erschaffen ist als alle anderen, von Gott die Fähigkeit, daß er in der Weise, in der er kann, vollkommenes und lebendiges Bild der unendlichen Kunst ist« (n.149,7-16).15 Der Ursprung und die Erschaffung des Geistes ist ein unmittelbarer Akt göttlicher Schöpfung und keine Addition des Geistes zu einem bereits existierenden leiblichen Wesen, wie es die pythagoreisch-platonische Präexistenzlehre behauptet. Diese findet jedoch ihren Niederschlag im Denken des Cusanus darin, daß er zwar keine Präexistenz der Seele der Zeit nach annimmt, wohl aber einen Vorrang der Natur nach. In diesem Sinn ist der platonische Ausdruck, die Seele sei älter als der Leib, zu verstehen (n. 81,4). Das Interessanteste und für das Denken des Cusanus Bezeichnende liegt in seiner Schöpfungslehre, wenn er davon ausgeht, daß die verschiedenen Weisen des göttlichen Handeins Zum Begriff des lebendigen Bildes ist besonders wichtigDer Brief an Nikolaus Albergati (Cusanus-Texte, IV. Briefwechsel des Nikolaus von Kues), dritte Sammlung: Das Vermächtnis des N. v. K., hg. von G. von Bredow, Heidelberg 1955, nn. 6-7-8: Adverte, fili, ad vivam dei 15
intellectualem imaginem ... ; nostra autem intellectualis natura ... potestatem habet continue clarior et deo conformior fieri ... ; Sicut si pictor .... Darüber G. von Bredow, Der Geist als lebendiges Bild Gottes (mens viva dei imago), in: Das Menschenbild des Nikolaus von Kues und der christliche Humanismus, MFCG 13, Mainz 1978, SS. 58-67.
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Giovanni Santinello
nicht genau (praecise) erkannt werden könnten (n.82,3). Unsere Erkenntnis ist nur Mutmaßung (coniectura), d.h. jede Erkenntnis des Geistes hat abgestuft als wahrähnliche und um eine Annäherung an die Wahrheit bemühte Form Teil an der absoluten Wahrheit selbst. Der Geist ist »ein gewisser göttlicher Same« (n. 81,9); er »tritt zur sinnlichen Seele so hinzu wie die Unterscheidungskraft zum Sehvermögen« (n.82,15); er ist mit dem Leib verbunden wie die Form eines Spiegels mit der Form eines Löffels (ein Produkt der Kunst des Laien), wobei die Form des Spiegels unabhängig davon existiert, ob der Löffel zerbricht und seine Form damit zerstört wäre, oder nicht (n. 86,12-87,19). Schließlich läßt sich der menschliche Geist mit einem Ton vergleichen, der durch das Anschlagen mit dem Finger an ein Glas erzeugt wurde. Zerbricht nun das Glas, ist zwar kein Ton mehr zu hören, der Ton selbst hat jedoch nicht aufgehört zu existieren (n.150, 9-13). Bei diesen Ausführungen zum menschlichen Geist weiß Cusanus stets um die Ungenauigkeit seiner Begrifflichkeit und um die Begrenztheit der ihm von der Sprache gegebenen Ausdrucksmöglichkeiten. Deshalb schwankt er auch fortdauernd und läßt gelegentlich auftretende Zweideutigkeiten bewußt stehen. So nimmt er z.B. einerseits eine vereinheitlichende Verbindung der Geist-Seele mit dem Leib an, andererseits sieht er auch eine dualistische Beziehung zwischen beiden. Wer nicht um die inneren Spannungen des Cusanus weiß, könnte geneigt sein, in ein und demselben individuellen Wesen eine Vielfalt von verschiedenen Formen vereinigt zu sehen. Der Begriff des Geistes wird von Cusanus deshalb bewußt in einer fruchtbaren ontologischen Zweideutigkeit belassen. 4. Die Erkenntnis durch Angleichung »Der göttliche Geist ist eine seinsverleihende Kraft, unser Geist ist eine angleichende Kraft« (n. 99,10f.). 16 Zweierlei ist diesem 16
Über die angleichende Kraft des Geistes vgl. hier R. Steiger,
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Ausdruck zu entnehmen: Menschliches Erkennen ist einmal eine Kraft und hat daher aktiven Charakter. Zum andern ist die Produktivität der menschlichen Erkenntnis begrenzt, weil sie nicht Nicht-Seiendes ins Sein setzt, sondern Gleichnisse von Seiendem. Erkennen als Angleichen aber ist der Akt eines Wesens, das zwar begrenzt und endlich, aber doch ein Bild ist, das ein unendliches Urbild widerspiegelt, welches das Sein in seiner Totalität hervorbringt. Wie nun das Unendliche schöpferisch tätig ist, so schafft auch sein Bild, der menschliche Geist. Das Erkennen ist ein Handeln, ein Tun, kein Erleiden; es ist als Akt nur dem des göttlichen Erschaffens vergleichbar. Das endlich Erschaffene ist nicht der Gegenstand des Erkennens selbst, sondern lediglich ein Mittel, das die Annäherung an dieses fördern soll. Charakteristisch für das Denken des Cusanus ist, daß er die Erkenntnis nicht als eine Identität von Erkennendem und Erkanntem betrachtet, sondern als die Erzeugung von Mitteln, die der Annäherung von beiden dienen, indem sie die Angleichung von Erkennendem und Erkanntem ermöglichen. Identität würde eine genaue und exakte Erkenntnis bedeuten, weil jede menschliche Erkenntnis aber immer nur konjekturalen Charakter hat, schließt Nikolaus in jedem Fall die Möglichkeit der Genauigkeit von vornherein aus. Die Angleichung dagegen vollzieht sich in fortschreitender Annäherung, bei der das Bild dem Urbild immer ähnlicher und gleichförmiger wird, ohne mit ihm identisch zu werden. Wie gewöhnlich drückt Cusanus diesen Sachverhalt auf verschiedene Weisen aus, die nicht immer miteinander übereinstimmen. Grundsätzlich behandelt er das Problem in De coniecturis, wo er folgende Proportionsanalogie formuliert: »Wie die reale Welt aus der unendlichen göttlichen Vernunft, so gehen entsprechend die Mutmaßungen aus unserem Geist hervor.« 17 Anm. 99,8-11; 99,11; 100-106; vgl. auch K. Kremer, Erkennen bei Nikolaus von Kues. Apriorismus -Assimilation -Abstraktion, in: MFCG
13, ss. 23-57. 17
De coni., h III, I, n.5,4-7 (H 17, S. 7): Dum enim humana mens,
alta dei similitudo, fecunditatem creatricis naturae, ut potest, partici-
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Giovanni Santinello
Die Mutmaßungen sind ein Produkt des menschlichen Geistes, das sich zu unserem Geist verhält wie die geschaffene Welt zum erschaffenden Geist Gottes. De coniecturis enthält die vollständige Entwicklung dieses Grundgedankens. In gleicher Weise drückt sich Cusanus in De beryllo aus: »Wie Gott Schöpfer der realen Seienden und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen Formen, die lediglich Ähnlichkeiten seiner Vernunft sind.« 18 In De mente nun beschreibt er dieselbe allgemeine Auffassung mit dem Begriff der Angleichung. Verstandesdinge (entia rationis), Mutmaßungen, künstliche Formen u.s.w. sind Gleichnisse, die als Vermittlung dienen, sich der realen Welt in Stufen zu nähern. Die Angleichung des Geistes, sich nämlich den realen Seienden gleichförmig zu machen, ereignet sich in einer fortschreitenden Annäherung an die Seienden. Aber auch in diesem Falle braucht man irgend etwas, das vom Geist als Hilfsmittel für die Vermittlung zur realen Welt geschaffen wird. Dieses vermittelnde Erzeugnis kommt aus einer Art Umtrieb von seiten des Geistes, aus einem organischen, körperlichen, aber feinen Element, dem Arteriengeist (n.100,12-26). 19 Der Prozeß dieser Angleichung wird von Cusanus malerisch beschrieben, die Ausdrucksweise jedoch ist manchmal umständlich und verworren. Ich versuche ihn verständlicher zu machen, indem ich die verschiedenen Phasen und Stufen dieses Prozesses analysiere. Es ist nützlich, die Stufen zuerst in zwei Gruppen zu unterteilen: Die erste Gruppe besteht aus den Stufen der Angleichungen, die den Sinnen, der Einbildungskraft und dem diskursiven Denken (ratio) entspringen. Der Geist pat, ex se ipsa, ut imagine omnipotentis formae, in realium entium similitudine rationalia exserit. 1s De her., h XI 1, n. 7,2-5 (H 2, S. 8). 19 Über den Arteriengeist vgl. R. Steiger, in: Idiotade mente, h V, nn. 100-1 06 ( Quellenapparat, S. 150 ff. ); vgl. besonders Anonymus, De spiritu et anima, capp. 10, 14, 33 (PL 40, 786; 789; 803); Albertus Magnus, De creat. II, q. 78 solut. (Borgnet 35, 637).
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bildet diese Angleichungen auf dieser Stufe, indem er als Seele in den Körper eintaucht und den Leib lebendig macht. Die zweite, höhere Gruppe enthält die Angleichungen an die Formen >>nicht so, wie sie in die Materie eingetaucht sind, sondern wie sie in sich und an sich sind«. Diese Gruppe umfaßt auch die höchste Angleichung, nämlich »die Schau der absoluten Wahrheit«. Die Formen in sich und an sich sowie die Schau der absoluten Wahrheit werden vom Geist erreicht, indem er als reiner vom Leib getrennter Geist wirkt. Betrachten wir das Problem im einzelnen: Die Angleichungen der ersten, niedrigeren Gruppe entstehen dadurch, daß die zwei aufeinander bezogenen Pole, Gegenstand und Geist, zusammentreffen. Der Gegenstand vervielfacht sich selbst zu mehreren Bildern (species), um den Geist anzuregen. Der Geist hingegen wirkt, um auf diese Anregung durch die Bilder zu reagieren, indem er vom feinen Arteriengeist zu den körperlichen Organen der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft und der Ratio hingetragen wird. Diese Wechselwirkung von Gegenstand und Geist wird als die Angleichung des Geistes an die Dinge bezeichnet. Der Arteriengeist besteht in Wirklichkeit aus einer Vielfalt von Geistern: den gröberen, die in den Sinnen wirken, sowie den ebenfalls körperlichen, aber feineren Geistern, die in der Einbildungskraft und in der Ratio tätig sind. Unsere GeistSeele gleicht sich erst dann den materiellen Dingen an, wenn sie zuvor von den Arteriengeistern in der oben beschriebenen Weise gestaltet wurden. Sie wurden in derselben Weise gestaltet wie ein Klumpen Wachs, der von einem Künstler so beseelt wird, daß das eine Wachs verschiedene Formen annehmen kann. So entsteht unsere Erkenntnis der Erfahrungsdinge durch die Vermittlung der Angleichung (nn.100-102). Bei den zwei höheren Erkenntnisstufen wirkt unser Geist ohne die Hilfe des Leibes. Zuerst wirkt er »als Geist an sich, der aber mit dem Körper vereint werden kann« (n.103,1-3). Zum andern wirkt er nicht nur als ein von der Materie abgetrennter Geist, sondern als ein Geist, der mit der Materie überhaupt nicht verbunden und nicht vereint werden kann (n.105,10-13).
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Auf der ersten höheren Stufe begreift man die Formen, wie sie in sich und an sich sind, d.h. die Formen, wie sie »in der Notwendigkeit der Verknüpfung« sind, in einer »bestimmten Notwendigkeit«. Es ist wie in der platonischen Ideenwelt, wo die reinen Formen zu einer logisch notwendigen Verbindung miteinander verknüpft und angeschaut werden können. Auf der höchsten Erkenntnisstufe wird die reine Wahrheit nicht mehr in irgendeiner Notwendigkeit geschaut, sondern in ihrer unendlichen und absoluten Genauigkeit. Der Geist gebraucht und betrachtet sich selbst in seiner Einfachheit und sieht »wie alles eins und eins alles ist« (n. 105,16-21 ). Auch diese höheren Erkenntnisstufen werden nur durch den Gebrauch eines vermittelnden Instrumentes erreicht. Dies kann aber nicht der Arteriengeist sein, weil der materiell ist, sondern es ist der Geist selbst in seiner Einfachheit und in seiner Natur als imago Dei (n.106,9-14). Die Angleichung kann also nie, auch nicht in diesen Fällen, ohne eine Vermittlung erreicht werden, gleichsam um das blendende Licht der Koinzidenz zu vermeiden durch die Unterscheidung, die der Endlichkeit der menschlichen Natur entspricht. Ein Verhältnis zwischen Gegenstand und Geist ist notwendig und keine Koinzidenz, damit sich das Endliche nicht auflöst, sondern Mittel der Offenbarung des Unendlichen sein kann. Die höchste Stufe der Anschauung selbst verwirklicht sich durch Angleichung: der Geist bedient sich seiner Einfachheit, seiner Natur als imago Dei. Dies bedeutet, daß er die absolute Wahrheit Gottes nicht unmittelbar anschaut, sondern insoweit, wie sich Gott im Geist als Bild widerspiegelt. Die verschiedenen Erkenntnisstufen erreichen je ihren eigenen Gegenstand. Sinne, Einbildungskraft und diskursives Denken (ratio) erfassen die Dinge der sinnlichen Erfahrung, d. h. die Formen, welche in der Veränderlichkeit der Materie verdunkelt sind. Daraus entstehen die mechanischen Künste sowie physikalische und logische Mutmaßungen. Zu der höheren Erkenntnisstufe gehören die von der Materie abgetrennten Formen; hier baut der Geist durch Angleichung die mathematische Wissenschaft auf. Bei der höchsten Stufe der Gottesschau schließ-
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lieh wendet sich der Geist dem göttlichen Bild, das in seinem Inneren widerscheint, zu und entwirft theologische Spekulationen. Der Inbegriff dieser Künste und Wissenschaften ist nur eine grobe Skizze der menschlichen Kultur und Bildung. Was auf diesen Gebieten wichtig ist, das ist nicht so sehr die Vollständigkeit der auf eine Karte eingetragenen menschlichen Stadt der Künste und Wissenschaften 20, sondern die Wurzeln dieser Stadt im menschlichen Tun und Handeln, was im Text deutlich wird an der insistierenden Wiederholung des Wortes facere (n.102,12; 104,1; 106,12). Darin äußert sich der Primat der tätigen Handlung gegenüber der beschaulichen Betrachtung. Es ist der handelnde Mensch, der sich seine Welt durch Angleichung an die göttliche reale Welt erbaut. Um die Wirklichkeit der realen Welt zu gewinnen, brauchen wir jene ideale oder geistige Erschaffung der Wissenschaften, der Künste, der Kultur. Das ist der tiefere Sinn der Aktivität des Geistes. Daraus erklärt sich auch die Perspektive, aus der der Geist die Theologie aufbaut. Diese Perspektive wird nicht beherrscht von der Kategorie des Einen im Schweigen der Transzendenz, sondern von der Kategorie des Dreieinigen. Er ist Schöpfer durch sein Wort, dessen sprachlicher Ternar noch einmal das Verbum facere betont: posse fieri- posse facere- nexus. 21 Der Geist ist ein Bild; die Welt der geistigen Kultur besteht aus Angleichungen, d. h. aus Abbildern, deren Wesen das Gleichsein bzw. das Ähnlichsein mit dem Urbild ist; und als
° Comp., h XI 3, nn.22-23 (H 16, SS. 31-33): das metaphorische
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Bild des Kosmographen, der »eine Gesamtaufnahme der sinnlichen Welt ... in rechter Ordnung und in den entsprechenden Größenverhältnissen auf eine Karte« einträgt. Die Karte bedeutet die kulturelle Welt als Mittel, um in die reale Welt eindringen zu können. 21 De docta ign. I (H 15a, n. 22, S. 30): Ostendamus nunc brevissime ab unitate gigni unitatis aequalitatem, conexionem vero ab unitate procedere et ab unitatis aequalitate. Das ist der häufigste Ternar der Dreieinigkeit Gottes nach N. v. K. Der mit dem Zeitwort »facere« neu erarbeitete Ternar betont hier die Beziehungen des inneren Lebens Gottes zu seiner äußeren Tätigkeit als ewige schaffende Kunst.
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Giovanni Santinello
theologische Wurzel dieser Welt von Abbildern steht die Zeugung des ersten wahren Bildes, des Wortes- Gleichheit des Vaters. Daher möchte ich vorschlagen, das ganze Buch De mente zu betrachten als das Buch von dem Bild. Deutsche Übersetzung:]ohannes SchaberOSBund Renate Steiger
ZUR AUSGABE
Die erste deutschsprachige Übersetzung des I diota de mente von Martin Bonecker (1941 t) und Hildegund Menzel-Rogner (1945 t) basierte auf der lateinischen Textfassung in der Heidelberger Ausgabe, h V, Leipzig 1937. Die Übersetzung Der Laie über den Geist wurde als Band 228 der Philosophischen Bibliothek, Harnburg 1947, veröffentlicht. Die vorliegende zweisprachige Studienausgabe gibt den lateinischen Text in der kritischen Heidelberger Ausgabe, h V, Harnburg 2 1983, fotomechanisch verkleinert wieder, wobei die Nummern- und Zeilenzählung beibehalten ist. Verzichtet wurde zu Gunsten eines umfangreicheren Anmerkungsteiles auf den Abdruck der Nummern 48-50 mit der Überschrift >>Die Kapitel des Buches vom Laien über den Geist«, da die in ihnen lediglich noch einmal zusammengefaßten Kapitelüberschriften vollständig in der Textdarbietung zweisprachig enthalten und in der vorstehenden Inhaltszusammenstellung des Bandes in der deutschsprachigen Fassung aufgeführt sind. Für den textkritischen Apparat wird auf h 2V verwiesen. Aus dem Quellen- und Parallelenapparat der großen Ausgabe sind die wichtigsten Belege in den Anmerkungsteil übernommen. Bei meiner Übersetzung hielt ich mich wiederum an den Grundsatz: so wörtlich wie möglich und so frei wie nötig. Ein Bemühen um eleganteren Ausdruck hätte zuweilen von den Schwierigkeiten der Materie abgelenkt. Heidelberg, im September 1994
Renate Steiger
NIKOLAUS VON KUES IDIOTA DE MENTE DER LAIE ÜBER DEN GEIST
IDIOTADE MENTE
Ed.paris.l fo/.81'
Capitulum I
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Quomodo philosophus ad idiotam, ut profleeret de mentis natura, accessit; quomodo mens sit per se mens, ex officio anima, et dicta sit a mensurando. Multis ob iubilaeum Romam mira devotione accurrentibus audi- 5 turn est philosophum omnium, qui nunc vitam agunt, praecipuum in ponte reperiri, transeuntes admirari. Quem orator quidam sciendi avidissimus sollicite quaerens ac ex faciei pallore, toga talari et ceteris cogitabundi viri gravitatem praesignantibus cognoscens blande salutans inquirit, quae eum causa eo loci fixum teneat. 10 PHILOSOPHUS: Admiratio, inquit. ÜRATOR: Admiratio stimulus videtur esse omnium quamcumque rem scire quaerentium. Hinc opinor, cum praecipuus habearis inter doctos, maximam eam esse admirationem, quae te adeo sollicitum teneat. 15 PHILOSOPHUS: Bene ais, amice. Nam cum ex universis paene dimatibus magna cum pressura innumerabiles populos transire conspiciam, admiror omnium fidem unam in tanta corporum diversitate. Cum enim nullus alteri similis esse possit, una tarnen omnium fides est, quae eos tanta devotione de finibus orbis advexit. 20 ORATOR: Certe dei donum esse necesse est idiotas darius fide attin- 52 gere quam philosophos ratione. Nam tu nosti, quanta inquisitione opus habet mentis immortalitatem ratione pertractans, quam tarnen
DER LAIE ÜBER DEN GEIST
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Kapitell Wie ein Philosoph sich an einen Laien wandte, um in der Erkenntnis der Natur des Geistes weiterzukommen; daß der Geist an sich Geist, von seiner Aufgabe her Seele ist und benannt ist vom Messen.
Zu der Zeit, als viele Menschen wegen des Jubeljahrs in staunenswerter Hingabe nach Rom herbeieilten, da war, so hörte man, ein unter allen Zeitgenossen hervorragender Philosoph auf einer Brücke anzutreffen, wie er die Vorübergehenden voll 10 Staunen betrachtete. Ihn suchte ein sehr wißbegieriger Redner angelegentlich, und als er ihn an der Blässe des Gesichts, dem bis auf die Knöchel reichenden Gewand und anderen Merkmalen, die die Würde des dem Denken zugewandten Mannes anzeigten, erkannte, grüßte er höflich und fragte, was ihn an die15 senOrtgebannt halte. Der PHILOSOPH sagte: Das Staunen. REDNER: Das Staunen scheint der Ansporn aller zu sein, die irgendeine Sache zu wissen suchen. Daher vermute ich, da du unter den Gelehrten außerordentlichen Ruf genießt, daß es ein 20 besonders großes Staunen ist, das dich so sehr in Unruhe hält. PHILOSOPH: Recht hast du, Freund. Denn da ich unzählige Volksmengen aus fast allen Teilen der Welt in großem Gedränge hinübergehen sehe, bestaune ich den einen Glauben aller, der in so großer Verschiedenheit von Leibern lebt. Obwohl nämlich 25 keiner dem anderen gleich sein kann, ist es doch der eine Glaube aller, der sie in so großer Hingabe von den Enden des Erdkreises hergeführt hat. 52 REDNER: Gewiß muß es ein Geschenk Gottes sein, daß die Laien mit dem Glauben klarerdaranrühren als die Philosophen mit dem Verstand. Denn du weißt, welch ausführlicher Untersuchung es bedarf, wenn man die Unsterblichkeit des Geistes 5 mit dem Verstand behandelt, die doch jeder von diesen allen
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Idiotade mente · Cap. I
nemo ex his omnibus sola fide pro indubitata non habet, cum omnium cura et Iabor ad hoc tendat, ut animae post martern nullo 5 peccato obtenebratae in lucidam atque desideratissimam vitam rapiantur. PHILOSOPHUS: Magnam rem et veram narras, amice. Ego enim omni tempore mundum peragrando sapientes adii, ut de mentis immortalitate certior fierem, cum apud Delphos praecepta sit cognitio, ut 10 ipsa se mens cognoscat coniunctamque cum divina mente se sentiat; sed hactenus nondum quaesitum adeo perfecte ac lucida ratione attigi quernadmodum hic ignorans populus fide. ORATOR: Si fas est, dicito: Quid te impulit Romam advenire, qui 53 Peripateticus videris? An putas aliquem, a quo proficias, reperire? PHILOSOPHUS: Audiveram ex templo Menti per T. Attilium Crassum in Capitolio dedicato multas sapientum de mente scripturas hoc loco reperiri. Adveni fortassis frustra, nisi tu, qui mihi bonus civis et 5 sciens videris, auxilium praestes. ORATOR: Templum Menti dedicasse Crassum illum certurn est. Sed an de mente in eo templo libri et qui fuerint, nemo post tot Romanas clades scire poterit. Verum ne doleas frustra advenisse, hominem idiotam meo iudicio admirandum, de qua re volueris, 10 audies. PHILOSOPHUS: Oro quantocius hoc fieri. ORATOR: Sequere. 54 Et cum prope templum Aeternitatis in subterraneuro quendam locellum descenderent, idiotam ex ligno coclear exprimentem alloquitur orator: Erubeo, idiota, inquit, te per hunc maximum philosophum his 5
Der Laie über den Geist · n. 52-54
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allein durch den Glauben für unzweifelhaft hält, da aller Sorge und Mühe sich darauf richtet, daß die Seelen nach dem Tod, von keiner Sünde verdunkelt, in das lichtvolle und heiß ersehnte Leben entrückt werden. 10 PHILOSOPH: Von einem großen und wahren Sachverhalt sprichst du, Freund. Ich habe nämlich allezeit auf meiner Wanderung durch die Welt weise Männer aufgesucht, um über die Unsterblichkeit des Geistes belehrt zu werden, da in Deiphi das Erkennen geboten worden ist, daß der Geist sich selbst erken15 nen und mit dem göttlichen Geist verbunden fühlen soll; aber bisher habe ich das Gesuchte noch nicht so vollkommen und mit hellem Verstand berührt wie dieses unwissende Volk mit dem Glauben. 53 REDNER: Wenn es erlaubt ist, sag mir: Was hat dich getrieben, nach Rom zu kommen, der du ein Peripatetiker zu sein scheinst? Glaubst du, jemanden zu finden, von dem du Gewinn haben kannst? 5 PHILOSOPH: Ich hatte gehört, hier fänden sich viele aus dem durch Titus Attilius Crassus auf dem Kapitol der Mens geweihten Tempel stammende Schriften weiser Männer über den Geist. Doch bin ich vielleicht vergeblich gekommen, wenn nicht du, der du mir ein vortrefflicher und gebildeter Bürger zu 10 sein scheinst, Hilfe stellst. REDNER: Daß jener Crassus der Mens einen Tempel geweiht hat, ist sicher. Aber ob in diesem Tempel Bücher über den Geist gewesen sind und welche, das wird nach den vielen Verwüstungen, die Rom erlebt hat, niemand mehr wissen können. 15 Aber damit du nicht bedauerst, vergeblich gekommen zu sein, sollst du einen Laien, der nach meinem Urteil zu bewundern ist, worüber du nur willst, hören. PHILOSOPH: Ich bitte, daß das möglichst schnell geschieht. 54 REDNER: Folge mir. Und als sie nahe beim Tempel der Aeternitas in einen kleinen unterirdischen Raum hinabstiegen, spricht der Redner einen Laien an, der gerade aus einem Holz einen Löffel schnitzt. Ich schäme mich, Laie, sagt er, daß der sehr bedeutende Philosoph hier dich mit diesen schlichten Arbeiten beschäftigt an-
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Idiotade mente · Cap. I
rusticis operibus implicatum reperiri; non putabit a te se theorias aliquas auditurum. ImoTA: Ego in his exercitiis libenter versor, quae et mentem et corpus indesinenter pascunt. Credo, si hic, quem adducis, philo10 sophus est, non me spemet, quia arti cocleariae operarn do. PHILOSOPHUS: Optime ais. Nam et Plato intereise pinxisse legitur, quod nequaquam fecisse creditur, nisi quia speculationi non adversabatur. ORATOR: Ob hoc fortassis erant Platoni de arte pingendi familiaria exempla, per I quae res grandes faciles reddidit. 15 ImoTA: Immo in hac mea arte id, quod volo, symbolice inquiro 55 et mentem depasco, commuto coclearia et corpus reficio; ita quidem omnia mihi necessaria, quantum sufficit, attingo. PHILOSOPHUS: Est mea consuetudo, cum hominem fama sapientem accedo, de his, quae me angunt, in prirnis sollicitum esse et scrip- 5 turas in medium conferre et inquirere earundem intellectum. Sed cum tu sis idiota, ignoro, quomodo te ad dicendum excitem, ut, quam habeas de mente intelligentiam, experiar. ImoTA: Arbitror neminem facilius me cogi posse, ut dicat quae sentit. Nam cum me ignorantem fatear idiotarn, nihil respondere per- 10 timesco. Litterati philosophi ac farnam scientiae habentes merito cadere formidantes gravius deliberant. Tu igitur, quid a me velis, plane si dixeris, nude recipies. PHILOSOPHUS: Paucis exprirnere nequeo. Si placet, consedentes passim 56 loquamur. ImoTA: Placet, inquam. Et positis in trigono scabellis ipsisque tribus ex ordine locatis ORATOR aiebat: Vides, philosophe, viri huius sirnplicitatem, qui nihil horum in usu habet, quae ad recipiendurn tanti ponderis virurn decentia petit. Fac
Der Laie über den Geist · n. 54-56
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trifft; er wird nicht glauben, daß er von dir irgendwelche tieferen Betrachtungen zu hören bekommt. LAIE: Ich beschäftige mich gern mit solchen Übungen, die 10 Geist und Leib unablässig weiden. Ich glaube, wenn dieser Mann, den du mitbringst, ein Philosoph ist, wird er mich nicht verachten, weil ich die Kunst des Löffelschnitzens pflege. PHILOSOPH: Du hast ganz recht. Denn auch Plato soll bisweilen gemalt haben, was er, so glaubt man, niemals getan hätte, 15 wenn es dem Denken abträglich gewesen wäre. REDNER: Deshalb waren vielleicht Plato die Beispiele aus der Malkunst so vertraut, durch die er gewaltige Dinge leicht faßlich gemacht hat. 55 LAIE: Ja. In dieser meiner Kunst untersuche ich das, was ich will, auf symbolischem Wege und weide den Geist, verkaufe die Löffel und erquicke den Leib. So erreiche ich alles, was für mich notwendig ist, zur Genüge. 5 PHILOSOPH: Es ist meine Gewohnheit, wenn ich zu einem Menschen komme, der im Ruf steht, weise zu sein, daß ich vor allem um die Dinge besorgt bin, die mich bedrängen, und Schriften vorlege und nach ihrem Sinn frage. Aber da du ein Laie bist, weiß ich nicht, wie ich dich zum Reden bringen soll, 10 um zu erfahren, welches Verständnis vom Geist du hast. LAIE: Ich glaube, niemand kann leichter als ich dazu gebracht werden, zu sagen, was er meint. Denn da ich bekenne, ein unwissender Laie zu sein, fürchte ich mich vor gar keiner Antwort. Gelehrte Philosophen, Männer, die im Ruf des Wissens 15 stehen, fürchten mit Recht, durchzufallen, und überlegen bedächtiger. Du wirst also, wenn du klar sagst, was du von mir willst, unverhüllt Antwort erhalten. 56 PHILOSOPH: In wenigen Worten kann ich es nicht ausdrücken. Wenn's recht ist, setzen wir uns und besprechen es, wie es sich ergibt. LAIE: Einverstanden. Und nachdem sie im Dreieck Schemel aufgestellt und sich alle drei der Reihe nach hingesetzt hatten, sagte der Redner: Du siehst, Philosoph, die einfache Art dieses Mannes, der nichts von dem tut, was die Schicklichkeit zum Empfang eines
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Idiotade mente · Cap. I
in his experimentum, quae magis, ut aiebas, te angunt Nihil enim de his, quae sciverit, te latebit Experieris, puto, te non vaeue 10 adductum. PHILOSOPHUS: Adhue omnia placent. Ad rem deseendam. Tu interim tacitumus sis quaeso, nee te prolixior turbet eollocutio. ORATOR: Experieris me eontinuationis sollicitatorem potius quam fastidientem. PHILOSOPHus: Die igitur, idiota - ita tu tibi nomen esse ais -, si 57 quam de mente habes eoniecturam. IDIOTA: Puto neminem esse aut fuisse hominem perfectum, qui non de mente aliqualem saltem feeerit eoneeptum. Habeo quidem et ego: mentem esse, ex qua omnium rerum terminus et mensura. Mentem quidem a mensurando diei eonieio. PHILOSOPHUS: Putasne aliud mentem, aliud animam? IDIOTA: Puto eerte. Nam alia est mens in se subsistens, alia in eorpore. Mens in se subsistens aut infinita est aut infiniti imago. Harum autem, quae sunt infiniti imago, eum non sint maximae et 10 absolutae seu infmitae in se subsistentes, posse aliquas animare humanum eorpus admitto, atque tune ex officio easdem animas esse eoneedo. PHILOSOPHUS: Coneedis igitur eandem esse mentem et hominis ani1s mam: mentem per se, animam ex offieio? ImorA: Coneedo, uti una est vis sensitiva et visiva oeuli in animali.
Der Laie über den Geist · n. 56-57
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so bedeutenden Mannes verlangt. Mach einen Versuch mit den 10 Fragen, die dich, wie du sagtest, besonders bedrängen. Denn nichts von dem, was er weiß, wird dir verborgen bleiben. Du wirst erfahren, glaube ich, daß du nicht umsonst hergeführt worden bist. PHILOSOPH: Bis jetzt gefällt mir alles. Ich will zur Sache kom15 men. Sei du inzwischen bitte still und laß es dich nicht stören, wenn das Gespräch länger wird. REDNER: Du wirst erfahren, daß ich eher um eine Fortsetzung bemüht als seiner überdrüssig sein werde. 57 PHILOSOPH: Sag also, Laie- so sagst du ja, ist dein Name-, ob du irgendeine Mutmaßung über den Geist hast. LAIE: Ich meine, daß es keinen erwachsenen Menschen gibt oder gegeben hat, der sich vom Geist nicht wenigstens einen ir5 gendwie gearteten Begriff gemacht hätte. So habe freilich auch ich einen, nämlich: Der Geist ist das, woraus aller Dinge Grenze und Maß stammt. Mens, der Geist, wird nämlich von mensurare, messen, her benannt, vermute ich. PHILOSOPH: Glaubst du, daß Geist und Seele etwas Verschiede10 nes sind? LAIE: Das glaube ich sicher. Denn der eine ist der Geist, der in sich besteht, der andere der im Leib. Der Geist, der in sich besteht, ist entweder unendlich oder Abbild des Unendlichen. Von denen aber, die Abbild des Unendlichen sind, gebe ich zu, 15 daß einige- da sie nicht die größten und absoluten oder unendlichen sind, die in sich selbst bestehen- den menschlichen Leib beseelen können, und dann räume ich ein, daß diese von ihrer Aufgabe her Seelen sind. PHILOSOPH: Du räumst also ein, daß das nämliche Geist und 20 Seele des Menschen ist: Geist an sich, Seele von seiner Aufgabe her? LAIE: Das räume ich ein, so wie die Sinnes- und die Sehkraft des Auges beim Lebewesen eine ist.
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Idiotade mente · Cap. II Capitulum II
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Quomodo est vocabulum naturale et aliud impositum secundum illud citra praecisionem; et quomodo est principium simplex, quod est ars artium; et quomodo complicatur ars aeterna philosophorum.
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PHILOSOPHus: Aiebas mentem a mensurando dici. Hanc partem neminem legi tenuisse inter varias verbi derivationes. Primum oro, ut causam dicti aperias. ImoTA: Si de vi vocabuli diligentius scrutandum est, arbitror vim illam, quae in nobis est, omnium rerum exemplaria notionaliter 10 complicantem, quam mentem appello, nequaquam proprie nominari. Q!Iemadmodum enim ratio humana quiditatem operum dei non attingit, sie nec vocabulum. Sunt enim vocabula motu rationis imposita. Nominamus enim unam rem vocabulo uno et per certarn rationem et eandem alio per aliam, et una lingua habet propriora, alia 15 magis barbara et remotiora vocabula. Ita video, quod, cum proprietas vocabulorum recipiat magis et minus, vocabulum praecisum ignorarl. PHILOSOPHus: Ad alta properas, idiota! Nam secundum illa, quae 59 dicere videris, ob hoc vocabula sunt minus propria, quia ad placitum opinaris instituta, prout cuique imponenti ex rationis motu occurrebat. ImoTA: Volo, ut me profundius intelligas. Nam etsi fatear omne 5 vocabulum eo ipso unitum, quo forma materiae advenit, et verum sit formam adducere vocabulum, ut sie vocabula sint non ex impositione, sed ab aetemo, et impositio sit libera, tarnen I non arbitror
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Kapitell Daß es einen natürlichen Namen gibt und einen anderen, der beigelegt ist und jenem entspricht, aber ohne Genauigkeit zu erreichen; und daß es einen einfachen Ursprung gibt, der die Kunst der Künste ist; und daß die ewige Kunst der Philosophen darin eingefaltet ist.
PHILOSOPH: Du sagtest, mens (der Geist) werde von mensurare (messen) her benannt. Ich habe niemals gelesen, daß bei den 10 verschiedenen Ableitungen des Wortes jemand diese Ansicht vertreten hätte. Ich bitte zunächst, daß du den Grund für das Gesagte darlegst. LAIE: Wenn die Bedeutung des Namens sorgfältiger zu untersuchen ist, so glaube ich, daß jene Kraft in uns, die aller Dinge 15 Urbilder in Begriffe einfaltet und die ich Geist nenne, keineswegs im eigentlichen Sinn benannt wird. Wie nämlich der menschliche Verstand die Washeit der Werke Gottes nicht erreicht, so auch nicht der Name. Denn die Namen sind durch eine Bewegung des Verstandes beigelegt. Wir nennen nämlich 20 ein Ding aus einem bestimmten Grund mit dem einen Namen und das gleiche aus einem andern mit einem anderen, und die eine Sprache hat dem Wesen näherkommende, die andere fremdere und entferntere Namen. So sehe ich, da die Angemessenheit der Namen dem Mehr und Minder unterliegt, daß man den 25 genauen Namen nicht kennt. 59 PHILOSOPH: Hoch hinaus eilst du, Laie! Denn nach dem, was du offenbar sagst, sind die Namen deshalb weniger charakteristisch, weil sie, wie du meinst, nach Belieben festgesetzt worden sind, so wie es einem jeden, der sie beilegte, aufgrundder Bewe5 gung seines Verstandes einfiel. LAIE: Ich möchte, daß du mich tiefer verstehst. Denn wenn ich auch bekenne, daß jeder Name mit dem Benannten eben dadurch vereint ist, daß die Form zur Materie hinzutritt, und wenngleich es wahr ist, daß die Form den Namen herbeiführt, 10 so daß also die Namen nicht aus der Beilegung kommen, sondern von Ewigkeit her sind, und (andererseits) die Beilegung
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aliud quam congruum nomen imponi, licet illud non sit praecisum. PHILOSOPHUS: Fac te quaeso planiorem, ut quod velis capiam. 10 IDIOTA: Perlibenter. Et nunc me ad hanc artem cocleariam converto. Et primum volo scias me absque haesitatione asserere omnes humanas artes imagines quasdam esse infinitae et divinae artis. Nescio, si tibi id ipsum videatur. PHILOSOPHUS: Tu alta exigis, neque fas est ad illa passim respondere. 60 IDIOTA: Miror, si umquam philosophum legeris, qui hoc ignoraverit, cum de se pateat. Manifestum est enim nullam humanam artem perfectionis praecisionem attigisse omnemque finitam esse et terminatam. T erminatur enim ars una in suis terminis, alia in aliis suis, et s quaelibet est alia ab aliis, et nulla ornnes complicat. PHILOSOPHUS: Quid ex hoc inferes? ImoTA: Artern omnem humanam finitam. PHILOSOPHUS: Quis haesitat? ImoTA: Impossibile est autem plura esse infinita realiter distincta. 10 PHILOSOPHus: Et hoc ipsum fateor, quoniam alterum foret in altero finitum. ImoTA: Si igitur hoc sie est, norme solum absolutum principium est 61 infiniturn, quia ante principium non est principium, ut de se patet, ne principium sit principiatum? Hinc aeternitas est ipsa sola infinitas seu principium absolutum. PHILOSOPHUs: Adrnitto. lDIOTA: Est igitur sola et unica absoluta aeternitas ipsa infinitas, quae est sine principio. Quare omne finitum principiatum ab infinito principio. PHILOSOPHUS: Negare nequeo. IDIOTA: Omnis ergo ars finita ab arte infinita. Sicque necesse erit 10
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frei ist, so glaube ich dennoch, daß nur ein passender Name beigelegt wird, wenn er auch nicht genau ist. PHILOSOPH: Drück dich bitte klarer aus, damit ich begreife, was du willst. LAIE: Sehr gern. Und jetzt wende ich mich dieser Kunst des Löffelschnitzeng zu. Und zuerst wisse, daß ich ohne Zögern behaupte, alle menschlichen Künste sind gewisse Abbilder der unendlichen und göttlichen Kunst. Ich weiß nicht, ob du derseihen Ansicht bist. PHILOSOPH: Du fragst nach Hohem, und es ist nicht recht, darauf zu antworten wie es gerade kommt. LAIE: Mich nimmt wunder, ob du jemals einen Philosophen gelesen hast, der das nicht wußte, da es von sich aus klar ist. Es ist nämlich offenbar, daß keine menschliche Kunst die Genauigkeit der Vollkommenheit erreicht hat und daß jede endlich und begrenzt ist. Denn die eine Kunst wird in ihren Grenzen eingegrenzt, die andere in anderen, die die ihrigen sind, und jede ist von den anderen verschieden, und keine umfaßt alle. PHILOSOPH: Was willst du daraus folgern? LAIE: Daß alle menschliche Kunst endlich ist. PHILOSOPH: Wer zweifelt daran? LAIE: Es ist aber unmöglich, daß es mehrere Unendliche gibt, die real verschieden sind. PHILOSOPH: Eben das bekenne ich auch, da ja sonst das eine im andern begrenzt wäre. LAIE: Wenn es sich also so verhält, ist dann nicht allein der absolute Ursprung unendlich, weil vor dem Ursprung kein Ursprung ist, wie aus sich klar ist, damit nicht der Ursprung ein Entsprungenes ist? Infolgedessen ist die Ewigkeit die eine Unendlichkeitselbst oder der absolute Ursprung. PHILOSOPH: Das lasse ich gelten. LAIE: Es ist also einzig und allein die absolute Ewigkeit die Unendlichkeit selbst, die ohne Ursprung ist. Deshalb ist alles Endliche vom unendlichen Ursprung hervorgebracht. PHILOSOPH: Das kann ich nicht leugnen. LAIE: Jede endliche Kunst also stammt von der unendlichen Kunst. Und so wird die unendliche Kunst notwendig aller
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infinitam artem omnium artium exemplar esse, principium, medium, finem, metrum, mensuram, veritatem, praecisionem et perfectionem. PHILOSOPHUS: Prosequere ad quae properas, quia nemo his dissentire 62 potest. ImoTA: Applicabo igitur ex hae eoclearia arte symbolica paradigmata, ut sensibiliora fiant quae dixero. PHILOSOPHUS: Rogo sie agas. Video enim te viam tenere ad ea, ad 5 quae anhelo. ImoTA sumpto eocleari ad manum aiebat: Coclear extra mentis nostrae ideam aliud non habet exemplar. Nam etsi statuarius aut pictor trahat exemplaria a rebus, quas figurare satagit, non tarnen ego, qui ex lignis coclearia et seutellas et ollas ex 1o luto edueo. Non enim in hoe imitor figuram cuiuseumque rei naturalis. Tales enim formae eocleares, scutellares et ollares sola humana arte perficiuntur. Unde ars mea est magis perfectoria quam irnitatoria figurarum creatarum et in hoe infinitae arti similior. PHILOSOPHUS: Plaeet id ipsum. 15 ImoTA: Esto igitur, quod artem explicare et formam eoclearitatis, 63 per quam eoclear eonstituitur, sensibilem faeere velim. Quae eum in sua natura nullo sensu sit attingibilis, quia nee alba nee nigra aut alterius eoloris vel voeis vel odoris vel gustus vel tactus, eonabor tarnen eam modo, quo fieri potest, sensibilem faeere. Unde materiam, 5 puta lignum, per instrumentorum meorum, quae applieo, varium motum dolo et cavo, quousque in eo proportio debita oriatur, in qua forma eoclearitatis eonvenienter resplendeat. Sie vides formam eoclearitatis simplieem et insensibilem in figurali proportione huius ligni quasi in imagine eius resplendere. Unde veritas et praecisio 10 eoclearitatis, quae est immultiplicabilis et ineommunicabilis, nequa-
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Künste Urbild sein, Ursprung, Mitte, Ziel, Maßeinheit, Maß, Wahrheit, Genauigkeit und Vollkommenheit. PHILOSOPH: Verfolge weiter, worauf du hinaus willst, denn dem kann niemand widersprechen. LAIE: Ich will also aus dieser Löffelschnitzkunst symbolische Beispiele beibringen, damit sinnenfälliger wird, was ich sagen will. PHILOSOPH: Tu das so, bitte. Denn ich sehe, daß du den Weg dahin eingeschlagen hast, wohin ich verlange. Der LAIE nahm einen Löffel zur Hand und sagte: Der Löffel hat außer der von unserem Geist geschaffenen Idee kein anderes Urbild. Denn wenn auch ein Bildhauer oder ein Maler die Urbilder von den Dingen hernimmt, die nachzugestalten er sich müht, so tue ich das doch nicht, der ich aus Hölzern Löffel und Schalen und Töpfe aus Ton hervorbringe. Dabei ahme ich nämlich nicht die Gestalt irgendeines Naturdinges nach. Solche Formen von Löffeln, Schalen und Töpfen kommen nämlich nur durch menschliche Kunst zustande. Daher besteht meine Kunst mehr im Zustandebringen als im Nachahmen geschöpflieber Gestalten und ist darin der unendlichen Kunst ähnlicher. PHILOSOPH: Damit bin ich einverstanden. LAIE: Angenommen also, ich wollte die Kunst entfalten und die Form des Löffelseins, die einen Löffel zum Löffel macht, sinnenfällig machen. Obwohl diese in ihrer Natur mit keinem Sinn erreichbar ist, weil sie weder weiß noch schwarz noch von anderer Farbe ist noch Ton oder Geruch oder Geschmack oder Tastbarkeit hat, so werde ich dennoch versuchen, sie in der Weise, in der es möglich ist, sinnenfällig zu machen. Daher bearbeite und höhle ich eine Materie, nämlich das Holz, durch die verschiedene Bewegung meiner Werkzeuge, die ich anwende, so lange, bis in ihr die gebührende Proportion entsteht, in der die Form des Löffelseins angemessen widerstrahlt. So siehst du die einfache und mit den Sinnen nicht wahrnehmbare Form des Löffelseins im Gestaltverhältnis dieses Holzes gleichsam in ihrem Abbild widerstrahlen. Daher kann die Wahrheit und Genauigkeit des Löffelseins, die nicht vervielfacht und nicht mit-
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quam potest per quaecumque etiam instrumenta et quemcumque horninem perfecte sensibilis fieri, et in omnibus coclearibus non nisi ipsa simplicissima forma varie relueet, magis in uno et minus in 15 alio et in nullo praecise. Et quamvis lignum recipiat nomen ab adventu formae, ut orta 64 proportione, in qua eoclearitas resplendet, 'eoclear' norninetur, ut sie nomen sit formae unitum, tarnen impositio norninis fit ad beneplacitum, cum aliud imponi posset. Sie etsi ad beneplacitum, tarnen non aliud et penitus diversum a naturali nomine forrnae unito; sed 5 vocabulum naturale post Iformae adventum in omnibus variis nominibus per quaseumque nationes varie impositis relueet. Impositio igitur vocabuli fit motu rationis. Nam motus rationis est circa res, quae sub sensu cadunt, quarum discretionem, eoneordantiam et differentiam ratio facit, ut nihil sit in ratione, quod prius non fuit 10 in sensu. Sie igitur vocabula imponit et movetur ratio ad dandum hoe nomen uni et aliud alteri rei. Verum eum non reperiatur forrna in sua veritate in his, circa quae ratio versatur, hine ratio in eonieetura et opinione oeeumbit. Unde genera et species, ut sub vocabulo cadunt, sunt entia rati- 65 onis, quae sibi ratio fecit ex coneordantia et differentia sensibilium. ~are, eum sint posterius natura rebus sensibilibus, quarum sunt sirnilitudines, tune sensibilibus destructis remanere nequeunt. Quieumque igitur putat nihil in intellectu cadere posse, quod non 5 cadat in ratione, ille etiam putat nihil posse esse in intellectu, quod prius non fuit in sensu. Et hie neeessario dieere habet rem nihil esse nisi ut sub vocabulo cadit, et huius studium est in omni
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geteilt werden kann, auf keine Weise, auch nicht durch irgendwelche Werkzeuge und durch irgendeinen Menschen vollkommen sinnenfällig gemacht werden, und in allen Löffeln strahlt nur die einfachste Form selbst in verschiedener Weise wider, 20 mehr im einen und weniger im andern und in keinem genau. 64 Und obwohl das Holz den Namen vom Hinzukommen der Form erhält, so daß es, sobald das Formverhältnis entstanden ist, in dem das Löffelsein widerstrahlt, >>Löffel« genannt wird, so daß auf diese Weise der Name mit der Form vereint ist, ge5 schieht dennoch die Beilegung des Namens nach Belieben, da ein anderer beigelegt werden könnte. So ist er, obgleich nach Belieben beigelegt, dennoch nicht ein anderer und völlig verschieden von dem natürlichen, mit der Form vereinten Namen; sondern der natürliche Name strahlt nach dem Hinzutreten der 10 Form in allen verschiedenen, durch beliebige Völker verschieden beigelegten Namen wider. Die Beilegung des Namens geschieht also durch eine Bewegung des Verstandes. Denn die Bewegung des Verstandes bezieht sich auf die Dinge, die unter die Sinne fallen, deren Unterscheidung, Übereinstimmung und 15 Verschiedenheit der Verstand bewirkt, so daß nichts im Verstand ist, was nicht zuvor im Sinn war. So legt also der Verstand die Namen bei und wird bewegt, dem einen Ding diesen Namen und dem andern einen anderen zu geben. Da aber die Form in den Dingen, mit denen sich der Verstand beschäftigt, 20 nicht in ihrer Wahrheit angetroffen wird, sinkt der Verstand in Mutmaßung und Meinung dahin. 65 Daher sind die Gattungen und Arten, wie sie unter einen Namen fallen, Verstandesdinge, die sich der Verstand aufgrund von Übereinstimmung und Unterschied der sinnlichen Dinge gebildet hat. Da sie von Natur aus später sind als die sinnlichen 5 Dinge, deren Abbilder sie sind, können sie nicht weiterbestehen, wenn die sinnlichen Dinge zerstört sind. Wer also glaubt, daß nichts in die Vernunft fallen kann, was nicht in den Verstand fällt, der glaubt auch, daß nichts in der Vernunft sein kann, was nicht vorher im Sinn gewesen ist. Und der muß not10 wendig sagen, daß ein Ding nichts ist, außer wie es unter einen Namen fällt, und sein Bestreben ist, in jeder Untersuchung den
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inquisitione quid nominis profundare. Et haec inqulSII:io grata est homini, quia motu rationis discurrit. Hic negaret formas in se et in 10 sua veritate separatas esse aliter quam ut sunt entia rationis, et exemplaria ac ideas nihili faceret. Q!ii vero in mentis intelligentia aliquid esse admittunt, quod non fuit in sensu nec in ratione, puta exemplarem et incommunicabilem veritatem formarum, quae in sensibilibus relucent, hi dicunt exemplaria natura praecedere sensibilia sicut 15 veritas imaginem. Et ordinem dant talem, ut primo ordine naturae sit humanitas in 66 se et ex se, scilicet absque praeiacenti materia, deinde homo per humanitatem, et quod ibi cadat sub vocabulo, deinde species in ratione. Unde destructis omnibus hominibus humanitas, ut est species, quae sub vocabulo cadit et est ens rationis, quod ratio 5 venata est ex similitudine hominum, subsistere nequit, nam ab hominibus dependebat, qui non sunt. Sed propter hoc non desinit esse humanitas, per quam fuerunt homines, quae quidem humanitas non cadit sub vocabulo speciei, prout vocabula motu rationis sunt imposita, sed est veritas speciei illius sub vocabulo cadentis. Unde imagine 10 destructa manet in se veritas. Et hi omnes negant rem non aliud esse quam ut cadit sub vocabulo. Eo enim modo, ut sub vocabulo cadit, de rebus fit logica et rationalis consideratio, quare illam logice inquirunt, profundant et laudant. Sed ibi non quiescunt, quia ratio seu logica circa imagines formarum tantum versatur, sed res ultra vim t5 vocabuli theologice intueri conantur et ad exemplaria et ideas se
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Gehalt des Namens zu ergründen. Und diese Art der Untersuchung ist dem Menschen angenehm, weil er dabei mittels der Bewegung des Verstandes von Punkt zu Punkt am Gegebenen 15 fortschreitet. Der Besagte würde bestreiten, daß die Formen in sich und in ihrer Wahrheit gesondert bestehen, anders als sie als Verstandesdinge sind, und Urbilder und Ideen würde er für nichts erachten. Diejenigen aber, die zugeben, daß es in der Vernunfteinsieht des Geistes etwas gibt, das nicht im Sinn und 20 nicht im Verstand gewesen ist, nämlich die urbildliehe und nicht mitteilbare Wahrheit der Formen, die in den Sinnendingen widerstrahlen, die sagen, daß die Urbilder von Natur aus den Sinnendingen vorangehen wie die Wahrheit dem Abbild. 66 Und sie geben folgende Ordnung an, daß zuerst in der Ordnung der Natur die Menschhaftigkeit in sich und aus sich, d.h. ohne vorausliegende Materie, sei, sodann der Mensch durch die Menschhaftigkeit, und daß diese dort unter den Namen fällt, 5 sodann der Artbegriff im Verstand. Daher kann, wenn alle Menschen vernichtet sind, Menschhaftigkeit als Artbegriff, der unter den Namen fällt und ein Verstandesding ist, das der Verstand aus der Ähnlichkeit der Menschen erjagt hat, nicht bestehen, denn er hing von den Menschen ab, die nicht (mehr) 10 sind. Aber darum hört die Menschhaftigkeit nicht auf zu sein, durch die sie Menschen waren. Diese Menschhaftigkeit nämlich fällt nicht unter die Benennung der Art, so wie die Namen durch eine Tätigkeit des Verstandes beigelegt worden sind, sondern ist die Wahrheit jenes Artbegriffs, der unter den Namen 15 fällt. Daher besteht, wenn das Abbild zerstört ist, die Wahrheit in sich fort. Und diese alle bestreiten, daß ein Ding nichts anderes ist als wie es unter einen Namen fällt. Auf die Weise nämlich, wie es unter einen Namen fällt, geschieht die logische und verstandesmäßige Betrachtung der Dinge. Darum untersuchen 20 und ergründen sie es logisch und lassen es in logischer Weise gelten. Aber damit lassen sie es nicht gut sein, weil der Verstand oder die Logik sich nur mit den Abbildern der Formen befaßt; sondern sie versuchen, die Dinge über die Bedeutung des Namens hinaus auf theologische Weise zu schauen, und wenden 25 sich den Urbildern und Ideen zu. Ich meine, mehr Weisen der
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eonvertunt. Arbitror non posse plures inquisitionum modos dari. Si tu, qui es philosophus, alias legisti, scire potes. Ego sie eonicio. PHILOSOPHUS: Mirabiliter omnes omnium tangis philosophorum sectas, Peripatetieorum et Acadernieorum. 20 ImoTA: Hae omnes et quotquot eogitari possent modorum differen- 67 tiae facillime resolvuntur et eoneordantur, quando mens se ad infinitatem elevat. Nam sieut orator hie praesens tibi latius ex his, quae a me habet, explanabit, tune infinita forma est solum una et simplicissima, quae in omnibus rebus resplendet tamquam omnium et sin- 5 gulorum formabilium adaequatissimum exemplar. Unde verissimum erit non esse multa separata exemplaria ae multas rerum ideas. ~am quidem infinitam formam nulla ratio attingere potest. Hine per omnia vocabula rationis motu imposita ineffabilis non eomprehenditur. Unde res, ut sub vocabulo cadit, irnago est ineffabilis exempli 10 sui proprii et adaequati. Unum est igitur verbum ineffabile, quod est praeeisum nomen 68 otnnium rerum, ut motu rationis sub vocabulo cadunt. Quod quidem ineffabile nomen in omnibus norninibus suo modo relueet, quia infinita norninabilitas omnium nominum et infinita vocabilitas omnium voee expressibilium, ut sie omne nomen sit imago praeeisi 5 norninis. Et nihil aliud omnes eonati sunt dieere, lieet forte id, sJ' quod dixerunt, melius I et clarius dici posset. Omnes enim neeessario eont:ordarunt unam esse infinitam virtutem, quam deum dieimus, in qua neeessario omnia eomplicantur. Neque ille aliud dieere voluit, qui aiebat humanitatem, ut non cadit sub vocabulo, esse praeei- 10 sionem veritatis, quam ineffabilem illam infinitam formam. Quam, dum ad humanam formam respieimus, eius praecisum exemplar
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Untersuchung können nicht angegeben werden. Wenn du, der du ein Philosoph bist, es anderswo gelesen hast, kannst du es wissen. Ich vermute es so. PHILOSOPH: Bewundernswert berührst du alle Richtungen alJo !er Philosophen, der Peripatetiker und der Akademiker. 67 LAIE: Alle diese Unterschiede der Untersuchungsweisen, und so viele man sich noch denken könnte, lösen sich ganz leicht auf und kommen in Übereinstimmung, wenn der Geist sich zur Unendlichkeit erhebt. Denn, wie dir der hier anwesende Red5 ner aufgrund dessen, was er von mir hat, ausführlicher erklären wird, ist die unendliche Form dann nur eine und ganz einfach. Sie strahlt in allen Dingen wider als das aller und jeder einzelnen formbaren Dinge entsprechendste Urbild. Deswegen ist vollkommen wahr, daß es nicht viele gesonderte Urbilder und 10 viele Ideen der Dinge gibt. Diese unendliche Form freilich kann kein Verstand erreichen. Daher wird sie, durch alle Namen, die durch Verstandesbewegung beigelegt sind, unaussagbar, nicht erfaßt. Deshalb ist ein Ding, wie es unter einen Namen fällt, Abbild seines unaussagbaren eigentümlichen und entsprechen15 den Urbildes. 68 Nur ein unaussprechliches Wort gibt es also, das der genaue Name aller Dinge ist, wie sie aufgrund der Verstandesbewegung unter einen Namen fallen. Dieser unaussprechliche Name strahlt freilich in allen Namen auf seine Weise wider, denn er ist 5 für alle Namen die unendliche Möglichkeit, Name zu sein, und für alles mit der Sprache Ausdrückbare die unendliche Möglichkeit, ausgedrückt zu werden, so daß auf diese Weise jeder Name Abbild des genauen Namens ist. Und nichts anderes haben alle zu sagen versucht, wenn auch vielleicht das, was sie ge10 sagt haben, besser und klarer ausgedrückt werden könnte. Alle nämlich stimmten notwendig darin überein, daß es eine unendliche Kraft gibt, die wir Gott nennen, in der notwendig alles eingefaltet wird. Und auch jener, der behauptete, die Menschhaftigkeit, wie sie nicht unter einen Namen fällt, sei die Genau15 igkeit der Wahrheit, wollte nichts anderes sagen, als daß sie jene unaussprechliche unendliche Form ist. Diese nennen wir, während wir die menschliche Gestalt betrachten, deren genaues
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Idiota de mente · Cap. II- III
nominamus, ut sie ineffabilis, dum ad eius imagines intuemur, omnium nominibus nominetur et unum simplicissimum exemplar seeundum exemplatorum specificas differentias per rationem nostram formatas plura esse exemplaria videatur. Capitulum III
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Quomodo intelligantur et eoneordentur philosophi; et de nomine dei et praecisione; ae quomodo uno praeciso nomine eognito omnia eognoseuntur; et de sufficientia scibilium; et quomodo differunt eoneeptus dei et noster. Mirabiliter Trismegisti dieturn dilueidasti, qui aiebat deum omnium rerum nominibus ae omnes res dei nomine nominan. ImorA: Complica nominari et nominare in coincidentiam altissimo intellectu, et omnia patebunt Nam deus est cuiuscumque rei prae- 10 cisio. Unde si de una re praecisa seientia haberetur, omnium rerum seientia neeessario haberetur. Sie si praecisum nomen unius rei seiretur, tune et omnium rerum nomina scirentur, quia praecisio citra deum non est. Hine qui praeeisionem unam attingeret, deum attingeret, qui est veritas omnium scibilium. 15 ORATOR: Declara quaeso de praecisione nominis. 70 ImorA: Tu nosti, orator, quomodo nos exserimus ex vi mentis mathematicales figuras. Unde dum triangularitatem visibilem faeere voluero, figuram facio, in qua tres angulos eonstituo, ut tune in figura sie habituata et proportionata triangularitas relueeat, eum qua 5 uniturn est vocabulum, quod ponatur esse 'trigonus'. Dieo igitur: Si 'trigonus' est praeeisum vocabulum figurae triangularis, tune scio praeeisa vocabula omnium polygoniarum. Seio enim tune, quod figurae quadrangularis vocabulum esse debet 'tetragonus' et quinPHILOSOPHUS:
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Urbild, so daß so die unaussprechliche (Form), während wir auf ihre Abbilder schauen, mit aller Namen genannt wird und zo das eine ganz einfache Urbild gemäß den durch unseren Verstand gebildeten spezifischen Unterschieden der nach dem Urbild gestalteten Dinge eine Mehrzahl von Urbildern zu sein scheint. 69
Kapitel3 Wie die Philosophen zu verstehen und in Übereinstimmung zu bringen sind; und vom Namen Gottes und der Genauigkeit; und daß, wenn ein genauer Name erkannt ist, alles erkannt wird; und vom Genügen des Wißbaren; und daß Gottes und unser Begreifen verschieden sind.
PHILOSOPH: Wunderbar hast du das Wort des Trismegistus erhellt, der sagte, Gott werde mit den Namen aller Dinge und alle Dinge mit dem Namen Gottes genannt. 10 LAIE: Falte Benanntwerden und Nennen in der höchsten Vernunft ins Zusammenfallen ein, und alles wird klar werden. Denn Gott ist eines jeden Dinges Genauigkeit. Hätte man daher von einem einzigen Ding genaues Wissen, so hätte man notwendig das Wissen von allen Dingen. Wüßte man so den ge15 nauen Namen eines einzigen Dinges, dann wüßte man auch aller Dinge Namen, weil es Genauigkeit nur in Gott gibt. Wer daher eine einzige Genauigkeit erreichte, der würde Gott erreichen, der die Wahrheit alles Wißbaren ist. 70 REDNER: Erkläre bitte die Genauigkeit des Namens. LAIE: Du weißt, Redner, daß wir aus der Kraft des Geistes die mathematischen Figuren hervorbringen. Will ich also die Dreieckigkeit sichtbar machen, so bilde ich eine Figur, in der ich drei 5 Winkel anordne, damit dann in der so gestalteten und ins Verhältnis gebrachten Figur die Dreieckigkeit widerstrahlt, mit der der Name vereint ist, der »Dreieck« sei. Ich sage also: Wenn »Dreieck« der genaue Name der dreiwinkligen Figur ist, dann weiß ich die genauen Namen aller Vielecke. Dann weiß ich 10 nämlich, daß der Name der vierwinkligen Figur» Viereck« sein
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quangularis 'pentagonus' et ita deinceps. Et ex notitia nomuus 10 unius cognosco figuram nominatarn et omnes nominabiles polygonias et differentias et concordantias earundem et quidquid circa hoc sciri potest. Pariformiter aio, quod, si scirem praecisum nomen unius operis dei, omnia nomina omnium dei operum et quidquid sciri possetnon ignorarem. Et cum verbum dei sit praecisio omnis nomi- 15 nis nominabilis, solum in verbo omnia et quodlibet sciri posse constat. ORATOR: Palpabiliter more tuo explanasti. PHILOSOPHUS: Miram doctrinam tradidisti, idiota, omnes philosophos 71 concordandi. Nam dum adverto, non possum nisi tecum consentire non voluisse omnes philosophos aliud dicere quam id ipsum, quod dixisti per hoc, quod nemo omnium negare potuit deum infinitum, in quo solo dicto omnia, quae dixisti, complicantur. Mirabilis est 5 haec sufficientia omnium scibilium et quomodocumque tradi possibilium. Amplius ad mentis tractatum descende et dicito: Esto, quod «mens» a «mensura•• dicatur, ut ratio mensurationis sit causa nominis: quid mentem esse velis? ImoTA: Scis, quomodo simplicitas divina omnium rerum est com- 72 plicativa. Mens est huius complicantis simplicitatis imago. Unde si hanc divinam simplicitatem infinitam mentem vocitaveris, erit ipsa nostrae mentis exemplar. Si mentem divinam universitatem veritatis rerum dixeris, nostram dices universitatem assimilationis rerum, ut 5 sit notionum universitas. Conceptio divinae mentis est rerum productio; conceptio nostrae mentis est rerum notio. Si mens divina est absoluta entitas, tune eius conceptio est entium creatio, et nostrae mentis conceptio est entiurn assimilatio. Q!iae enim divinae menti ut infinitae conveniunt veritati, nostrae conveniunt menti ut propinquae 10
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muß, der fünfwinkligen »Fünfeck« und so fort. Undaufgrund der Kenntnis eines einzigen Namens erkenne ich die benannte Figur und alle nennbaren Vielecke und ihre Unterschiede und Übereinstimmungen und alles, was man darüber wissen kann. Gleicherweise sage ich: Wüßte ich den genauen Namen eines einzigen Werkes Gottes, so wüßte ich recht wohl alle Namen aller Werke Gottes, und was immer man wissen kann. Und weil das Wort Gottes die Genauigkeit jedes nennbaren Namens ist, steht fest, daß man allein im Wort alles und jedes einzelne wissenkann. REDNER: Handgreiflich hast du es auf deine Weise erklärt. PHILOSOPH: Eine wunderbare Lehre hast du vorgetragen, Laie, alle Philosophen in Eintracht zu bringen. Denn wenn ich es genau bedenke, so kann ich nur mit dir übereinstimmen darin, daß alle Philosophen nichts anderes sagen wollten als eben das, was du damit gesagt hast, daß keiner von allen leugnen konnte, daß Gott unendlich ist. In diesem Satz allein wird alles, was du gesagt hast, eingefaltet. Wunderbar ist dieses Genügen alles Wißbaren und wie immer Mitteil baren. Laß dich nun weiter auf die Erörterung des Geistes ein und sag: Angenommen, »mens« (Geist) ist von »mensura« (Maß) her benannt, so daß das Wesen des Messens der Grund für den Namen ist: was ist dann deiner Meinung nach der Geist? LAIE: Du weißt, daß die göttliche Einfachheit alle Dinge einfaltet. Der Geist ist dieser einfaltenden Einfachheit Bild. Wenn du daher diese göttliche Einfachheit den unendlichen Geist nennst, wird er unseres Geistes Urbild sein. Wenn du den göttIichen Geist das Gesamt der Wahrheit der Dinge nennst, wirst du den unseren das Gesamt der Angleichung der Dinge nennen, so daß er die Gesamtheit der Begriffe ist. Das Begreifen des göttlichen Geistes ist Hervorbringen der Dinge; das Begreifen unseres Geistes ist begriffliches Erkennen der Dinge. Wenn der göttliche Geist die absolute Seinsheit ist, dann ist sein Begreifen Erschaffung der Seienden, und unseres Geistes Begreifen ist Angleichung der Seienden. Was nämlich dem göttlichen Geist als der unendlichen Wahrheit zukommt, kommt unserem Geist als seinem nahestehenden Abbild zu. Wenn alles im göttlichen
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eiUs imagini. Si omnia sunt in mente divina ut in sua praecisa et propria veritate, omnia sunt in mente nostra ut in imagine seu similitudine propriae veritatis, Ihoe est notionaliter; sirnilitudine enim fit eognitio. Omnia in deo sunt, sed ibi rerum exemplaria; omnia in nostra 73 mente, sed ibi rerum sirnilitudines. Sieut deus est entitas absoluta, quae est omnium entium eomplicatio, sie mens nostra est illius entitatis infinitae imago, quae est omnium imaginum eomplicatio, quasi ignoti regis prima irnago est omnium aliarum secundum ipsam s depingibilium exemplar. Nam dei notitia seu facies non nisi in natura mentali, euius veritas est obiectum, deseendit, et non ulterius nisi per mentem, ut mens sit imago dei et omnium dei irnaginum post ipsum exemplar. Unde quantum omnes res post simplieem mentem de mente partieipant, tantum et de dei imagine, ut mens sit 10 per se dei imago et omnia post mentem non nisi per mentem. Capitulum N
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Q!lomodo mens nostra non est explicatio, sed imago eomplicationis aeternae, sed quae post mentem sunt, non sunt imago; et quomodo est sine notionibus, habens tarnen iudicium eoncreatum; et eur est eorpus sibi neeessarium. Videris ex multa mentis tuae plenitudine dieere velle mentem infinitam esse vim forrnativam absolutam, sie mentem finitam vim eonforrnativam seu eonfigurativam. ImoTA: Volo quidem hoe modo. Nam quod dieendurn est, convenienter exprirni nequit. Hine multiplicatio serrnonurn perutilis est. Attende aliam esse imaginem, aliam explicationem. Nam aequalitas est unitatis imago. Ex unitate enim semel oritur aequalitas, unde PHILOSOPHUS:
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Geist als in seiner genauenund eigentlichen Wahrheit ist, so ist alles in unserem Geist als im Bild oder der Ähnlichkeit der eigentlichen Wahrheit, d. h. begrifflich. Durch Ähnlichkeit nämlich kommt Erkenntnis zustande. 73 Alles ist in Gott, aber dort als Urbilder der Dinge; alles ist in unserem Geist, aber dort als Ähnlichkeiten der Dinge. Wie Gott die absolute Seinsheit ist, die aller Seienden Einfaltung ist, so ist unser Geist jener unendlichen Seinsheit Bild, das aller Ab5 bilder Einfaltung ist, gleichwie das erste Bild eines unbekannten Königs das Urbild für alle anderen Bilder ist, die nach ihm gemalt werden können. Denn die Kenntnis von Gott oder sein Angesicht steigt nur in die geistige Natur hinab, deren Gegenstand die Wahrheit ist, und darüber hinaus nur durch den Geist, 10 so daß der Geist das Bild Gottes ist und Urbild aller Abbilder Gottes, die nach ihm kommen. In dem Maße also, wie alle Dinge nach dem einfachen Geist am Geist teilhaben, haben sie auch am Bild Gottes teil, so daß der Geist an sich selbst Gottes Bild ist und alles nach dem Geist nur durch den Geist. 15
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Kapitel4 Daß unser Geist nicht Ausfaltung ist, sondern Bild der ewigen Einfaltung, was aber nach dem Geist kommt, nicht Bild ist; und daß er ohne Begriffe ist, aber dennoch eine anerschaffene Urteilskraft hat; und warum der Leib für ihn notwendig ist.
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PHILOSOPH: Aus der großen Fülle deines Geistes heraus willst du offenbar sagen, daß der unendliche Geist die absolute formgebende Kraft ist, und so der endliche Geist eine nachformende und nachgestaltende Kraft. LAIE: Das will ich, und zwar in folgender Weise. Denn was zu sagen ist, kann man nicht angemessen ausdrücken. Darum ist es sehr nützlich, es auf mehrfache Art zu sagen. Beachte, daß Bild und Ausfaltung etwas Verschiedenes sind. Denn die Gleichheit ist der Einheit Bild. Aus der Einheit nämlich einmal genommen entsteht die Gleichheit, weswegen der Einheit Bild die Gleich-
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Idiotade mente · Cap. IV
unitatis imago est aequalitas. Et non est aequalitas unitatis explicatio, sed pluralitas. Complicationis igitur unitatis aequalitas est imago, 15 non explicatio. Sie volo mentem esse imaginem divinae mentis simplieissimam inter omnes imagines divinae eomplicationis. Et ita mens est imago eomplicationis divinae prima omnes imagines eomplicationis sua simplicitate et virtute eomplicantis. Sieut enim deus est eomplicationum eomplicatio, sie mens, quae est dei imago, est 20 irnago eomplicationis complicationum. Post imagines sunt pluralitates rerum divinam eomplicationem explicantes, sieut numerus est explicativus unitatis et motus quietis et tempus aeternitatis et eompositio simplieitatis et tempus praesentiae et rnagnitudo puncti et inaequalitas aequalitatis et diversitas identitatis et ita de singulis. 25 Ex hoe eliee adrnirandam mentis nostrae virtutem. Nam in vi 75 eius eomplicatur vis assimilativa eomplicationis puncti, per quam in se reperit potentiam, qua se omni magnitudini assimilat. Sie etiam ob vim assimilativam eomplicationis unitatis habet potentiam, qua se potest omni multitudini assimilare, et ita per vim assimilativam s eomplicationis nune seu praesentiae omni tempori et quietis omni motui et simplicitatis omni eompositioni et identitatis omni diversitati et aequalitatis omni inaequalitati et nexus omni disiunctioni. Et per imaginem absolutae eomplicationis, quae est mens infinita, vim habet, qua se potest assirnilare omni explicationi. Et talia multa 10 per te vides dici posse, quae mens nostra habet, quia est imago infinitae simplieitatis omnia eomplicantis. PHILOSOPHUS: Videtur, quod sola mens sit dei imago. 76 ImoTA: Proprie ita est, quoniam omnia, quae post mentem sunt, non sunt dei imago nisi inquantum in ipsis mens ipsa relueet, sicut plus relueet in perfectis anirnalibus quam imperfectis et plus in
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heit ist. Und nicht ist die Gleichheit Ausfaltung der Einheit, sondern die Vielheit (ist Ausfaltung der Einheit). Die Gleichheit ist daher Bild der Einfaltung der Einheit, nicht Ausfaltung. 20 So meine ich, daß der Geist das einfachste Bild des göttlichen Geistes ist unter allen Bildern der göttlichen Einfaltung. Und so ist der Geist das erste Bild der göttlichen Einfaltung, die alle Bilder der Einfaltung in ihrer Einfachheit und Kraft einfaltet. Denn wie Gott die Einfaltung der Einfaltungen ist, so ist der 25 Geist, der Gottes Bild ist, Bild der Einfaltung der Einfaltungen. Nach den Bildern kommen die Vielheiten der Dinge, die die göttliche Einfaltung ausfalten, wie die Zahl die Einheit ausfaltet und die Bewegung die Ruhe und die Zeit die Ewigkeit und die Zusammensetzung die Einfachheit und die Zeit die Gegenwart Jo und die Größe den Punkt und die Ungleichheit die Gleichheit und die Verschiedenheit die Selbigkeit und so fort. 75 Daraus entnimm die bewundernswerte Kraft unseres Geistes. Denn in seiner Kraft wird die angleichende Kraft der Einfaltung des Punktes eingefaltet, durch die er in sich die Kraft findet, durch die er sich jeder Größe angleicht. So hat er auch 5 dank der angleichenden Kraft der Einfaltung der Einheit die Kraft, mit der er sich jeder Vielheit angleichen kann, und ebenso durch die angleichende Kraft der Einfaltung des Jetzt oder der Gegenwart (die Kraft), sich jeder Zeit, (durch die Kraft) der Ruhe, sich jeder Bewegung, der Einfachheit, sich je10 der Zusammensetzung, der Selbigkeit, sich jeder Verschiedenheit, der Gleichheit, sich jeder Ungleichheit, und der Verknüpfung, sich jeder Trennung anzugleichen. Und durch das Bild der absoluten Einfaltung, die der unendliche Geist ist, hat er die Kraft, mit der er sich jeder Ausfaltung angleichen kann. Du 15 siehst, daß du noch vieles dergleichen nennen kannst, was unser Geist hat, weil er das Bild der unendlichen, alles einfaltenden Einfachheit ist. 76 PHILOSOPH: Es scheint, daß allein der Geist Gottes Bild ist. LAIE: Im eigentlichen Sinn ist es so, weil alles, was nach dem Geist kommt, nur so weit Gottes Bild ist, als in ihm der Geist selbst widerstrahlt, wie er stärker widerstrahlt in den vollkom5 menen Lebewesen als in den unvollkommenen und stärker in
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Idiotade mente · Cap. IV
sensibilibus quam vegetabilibus et plus in vegetabilibus quam mine- 5 ralibus. Unde creaturae mente carentes sunt potius divinae simplicitatis explicationes quam imagines, lieet seeundum relueentiam mentalis imaginis in explicando de imagine vane participent. PHILOSOPHUS: Aiebat Anstoteies menti seu animae nostrae nullam 77 notionem fore eonereatam, quia eam tabulae rasae assimilavit. Plato vero aiebat notiones sibi eoncreatas, sed ob corpons molem animam oblitam. ~id tu in hoe verum eenses? ImoTA: Indubie mens nostra in hoe eorpus a deo I posita est ad sui 5 profectum. Oportet igitur ipsam a deo habere omne id, sine quo profeeturn aequirere nequit. Non est igitur eredendum animae fuisse notiones eoncreatas, quas in eorpore perdidit, sed quia opus habet eorpore, ut vis concreata ad actum pergat. Sieuti vis visiva animae non potest in operationem suam, ut actu videat, nisi excitetur ab 10 obiecto, et non potest exeitan nisi per obstaeulum speeierum multiplicatarum per medium organi et sie opus habet oeulo, sie vis mentis, quae est vis eomprehensiva rerum et notionalis, non potest in suas operationes, nisi excitetur a sensibilibus, et non potest excitan nisi mediantibus phantasmatibus sensibilibus. Opus ergo habet eorpore 15 organieo, tali scilieet, sine quo exeitatio fien non passet. In hoe igitur Anstoteies videtur bene opinan animae non esse notiones ab initio eoncreatas, quas ineorporando perdident. Verum quoniam non potest profieere, si omni caret iudieio, sicut surdus numquam profieeret, ut fieret eitharoedus, postquam zo nullum de harmonia apud se iudieium haberet, per quod iudicare passet an profeeent, quare mens nostra habet sibi eonereatum
Der Laie über den Geist · n. 76-77
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den sinnenbegabten als in den pflanzlichen und stärker in den Pflanzen als in den Gesteinen. Daher sind die Geschöpfe, die keinen Geist haben, eher Ausfaltungen der göttlichen Einfachheit als Bilder, wenn sie auch je nach dem Widerschein des gei10 stigen Bildes beim Ausfalten in verschiedener Weise am Bild teilhaben. 77 PHILOSOPH: Aristoteles sagte, unserem Geist oder unserer Seele sei kein Begriff anerschaffen, weil er sie einer unbeschriebenen Tafel verglich. Plato dagegen sagte, die Begriffe seien ihr anerschaffen, aber die Seele habe sie infolge der Last des Leibes 5 vergessen. Was hältst du hierin für wahr? LAIE: Zweifellos ist unser Geist zu seinem Besten von Gott in diesen Leib gesetzt worden. Er muß also von Gott alles das haben, ohne das er sein Bestes nicht erreichen kann. Man darf daher nicht glauben, der Seele seien Begriffe anerschaffen ge10 wesen, die sie im Leib verloren hat, sondern daß sie des Leibes bedarf, damit die anerschaffene Kraft zur Verwirklichung gelangt. So wie die Sehkraft der Seele nicht fähig ist zu ihrer Tätigkeit, daß sie wirklich sieht, wenn sie nicht von einem Gegenstand angeregt wird, und nur angeregt werden kann durch das 15 Entgegentreten der durch das Medium des Organs vervielfachten Abbilder, und so des Auges bedarf, so ist die Kraft des Geistes, die eine die Dinge erfassende und begriffliche Kraft ist, nicht fähig zu ihren Tätigkeiten, wenn sie nicht von Sinnenfälligem angeregt wird, und sie kann nur angeregt werden vermit20 tels sinnlicher Vorstellungsbilder. Sie bedarf also eines mit Organen ausgestatteten Leibes, eines solchen nämlich, ohne den es keine Anregung geben könnte. Darin scheint also Aristoteles der richtigen Meinung zu sein, daß der Seele keine Begriffe von Anfang an anerschaffen sind, die sie beim Eintritt in den Leib 25 verloren hätte. Weil unser Geist indessen nicht vorankommen kann, wenn ihm jedes Urteil fehlt- so wie ein Tauber niemals Fortschritte machen würde, ein Zitherspieler zu werden, weil er bei sich kein Urteil über den Zusammenklang hätte, durch das er urtei30 len könnte, ob er Fortschritte macht-, deshalb hat unser Geist eine ihm anerschaffene Urteilsfähigkeit, ohne die er keine Fort-
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Idiotadernente · Cap. IV
iudicium, sine quo proficere nequiret Haec vis iudiciaria est rnenti naturaliter concreata, per quarn iudicat per se de rationibus, an sint debiles, fortes aut concludentes. Q!Iarn virn si Plato notionem norni- 25 navit concreatam, non penitus erravit. PHILOSOPJIDS: 0 quarn clara est tua traditio, cui quisque audiens 78 cogitur assentire! Indubie haec sunt diligenter attendenda. Nam clare experimur spinturn in rnente nostra loquentern et iudicantern hoc bonurn, hoc iustum, hoc verurn, et nos reprehendentern, si declinarnus a iusto. Quam loquelam et quod iudicium nequaquarn didicit, 5 sed sibi cannaturn est. ImorA: Experirnur ex hoc rnentern esse virn illarn, quae licet careat ornni notionali forma, potest tarnen excitata se ipsam ornni formae assimilare et ornniurn rerurn notiones facere, similis quodammodo sano visui in tenebris, qui nurnquarn fuit in luce; hic caret ornni 10 notione actuali visibiliurn, sed durn in lucern venit et excitatur, se assirnilat visibili, ut notionern faciat. ORATOR: Aiebat Plato tune ab intellectu iudiciurn requiri, quando 79 sensus contraria sirnul rninistrat. IDIOTA: Subtiliter dixit. Narn curn tactus sirnul dururn et rnolle seu grave et leve confuse offerat, contrarium in contrario, recurritur ad intellectum, ut de quiditate utriusque, si confuse sentitum plura 5 discreta sint, iudicet. Sie curn visus rnagnurn et parvurn confuse praesentat, nonne opus est iudicio discretivo intellectus, quid rnagnurn quidve parvurn? Ubi vero sensus per se sufficeret, ad iudiciurn intellectus rninirne recurreretur, ut in visione digiti contrariurn non habentis, quod simul accedat. 10
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schritte machen könnte. Diese Urteilskraft ist dem Geist von Natur aus anerschaffen. Durch sie urteilt er selbständig über Beweisgründe, ob sie schwach, stark oder schlüssig sind. Wenn Plato diese Kraft den anerschaffenen Begriff genannt hat, hat er nicht völlig geirrt. PHILOSOPH: 0 wie klar ist deine Lehre! Jeder, der sie hört, muß ihr beistimmen. Zweifellos muß man dies sorgsam beachten. Denn deutlich erfahren wir einen Geist, der in unserem Geist spricht und urteilt, dies sei gut, dies gerecht, dies wahr, und uns tadelt, wenn wir vom Rechten abweichen. Diese Rede und dieses Urteil hat er niemals erlernt, sondern es ist ihm angeboren. LAIE: Wir erfahren daraus, daß der Geist jene Kraft ist, die, obgleich ihr jede begriffliche Form fehlt, dennoch, einmal angeregt, sich selbst jeder Form angleichen und Begriffe von allen Dingen bilden kann, vergleichbar in gewisser Weise einem gesunden Sehvermögen im Finstern, das nie in der Helligkeit war; diesem fehlt jede wirkliche Kenntnis vom Sichtbaren, aber während es ins Licht kommt und angeregt wird, gleicht es sich dem Sichtbaren an, so daß es sich einen Begriff macht. REDNER: Plato sagte, von der Vernunft werde dann ein Urteil verlangt, wenn der Sinn Gegensätzliches gleichzeitig vorlegt. LAIE: Scharfsinnig hat er das gesagt. Denn da der Tastsinn zugleich Hartes und Weiches oder Schweres und Leichtes ungeordnet anbietet, Gegensätzliches im Gegensätzlichen, geht man auf die Vernunft zurück, damit sie über die Washeit beider, ob das ungeordnet Wahrgenommene mehrere verschiedene Dinge sind, urteile. Ebenso, wenn der Gesichtssinn Großes und Kleines ungeordnet zeigt, braucht man dann nicht das unterscheidende Urteil der Vernunft, was groß oder was klein ist? Wo jedoch der Sinn für sich genügte, da würde man keineswegs auf das Urteil der Vernunft zurückgreifen, wie etwa beim Sehen eines Fingers, der ja kein Gegenteil hat, das gleichzeitig aufträte.
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Idiotade mente · Cap. V Capitulum V
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Q!!omodo mens est viva substantia et in corpore creata et de modo quomodo; et an ratio sit in brutis; et quomodo mens viva descriptio aetemae sapientiae.
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PHILOSOPHUS: Omnes paene Peripatetici aiunt intellectum, quem tu s mentem dicere videris, fore potentiam quandam anirnae et intelligere accidens, tu vero aliter. ImoTA: Mens est viva substantia, quam in nobis interne loqui et iudicare experimur et quae omni vi alia ex omnibus viribus spiritualibus, quas in nobis experimur, infinitae substantiae et absolutae 10 formae plus assimilatur. Cuius officium in hoc corpore est corpus vivificare, et ex hoc «anima•• dicitur. Unde mens est forma substantialis sive vis in se omnia suo modo complicans, vim animativam, per quam corpus animat vivificando vita vegetativa et sensitiva, et vim ratiocinativam et intellectualem et intellectibilem complicans. 1s PHILOSOPHUS: Visne mentem, quam et animam fateris intellectivam, 81 ante corpus fuisse, prout Pythagoras et Platonici, et postea incorporatam? ImoTA: Natura, non tempore. Nam, ut audisti, eam visui in tenebris comparavi. Visus autem nequaquam actu fuit I ante oculum nisi natura tantum. Unde quia mens est quoddam divinum semen sua vi complicans omnium rerum exemplaria notionaliter, tune a deo, a quo hanc vim habet, eo ipso, quod esse recepit, est simul et in convenienti terra locatum, ubi fructum facere possit et ex se rerum universitatem notionaliter explicare; alioquin haec vis seminalis frustra data 10 sibi foret, si non fuisset sibi addita opportunitas in actum prorumpendi.
Der Laie über den Geist · n. 80-81 80
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KapitelS Daß der Geist eine lebendige Substanz und im Leib erschaffen ist und über die Weise, wie; und ob Verstand in den Tieren sei; und daß der Geist die lebendige Abbildung der ewigen Weisheit ist.
PHILOSOPH: Fast alle Peripatetiker sagen, die Vernunft, die du offenbar den Geist nennst, sei ein bestimmtes Vermögen der Seele und das Erkennen ein Akzidenz, du sagst es aber anders. LAIE: Der Geist ist eine lebendige Substanz, die wir in uns er10 fahren, wie sie innerlich spricht und urteilt, und die sich mehr als jede andere von allen geistigen Kräften, die wir in uns erfahren, der unendlichen Substanz und absoluten Form angleicht. Ihre Aufgabe in diesem Leib ist, den Leib zu beleben, und aufgrund dessen wird sie »Seele« genannt. Daher ist der 15 Geist eine substantielle Form oder Kraft, die in sich alles auf seine Weise einfaltet, sowohl die beseelende Kraft, durch die er den Leib beseelt, indem er ihn mit vegetativem und sinnlichem Leben belebt, als auch die verstandesmäßige, die vernunfthafte und die zur geistigen Schau fähige Kraft. 81 PHILOSOPH: Glaubst du, daß der Geist, den du auch als vernunfthafte Seele hinstellst, vor dem Leib dagewesen ist, wie Pythagoras und die Platoniker >mens