Der Kaspar-Hauser-Mythos: Psychoanalytisch orientierte Assoziationen auf den Spuren des rätselhaften Findlings [1 ed.] 9783896448293, 9783896730688

Die geheimnisvolle Biographie Kaspar Hausers fasziniert den Autor bereits seit Jahren. In den Monaten zwischen dem angek

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German Pages 158 [159] Year 1999

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Der Kaspar-Hauser-Mythos: Psychoanalytisch orientierte Assoziationen auf den Spuren des rätselhaften Findlings [1 ed.]
 9783896448293, 9783896730688

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Der Kaspar-Hauser-Mythos

Danksagung: Für die vielen direkten und indirekten Anregungen möchte ich mich bei Frau Univ.-Prof. MMag. Dr. Jutta MenschikBendele und Herm Univ.-Prof. Mag. Dr. Klaus Ottomeyer bedan­ ken, sowie bei Herm Univ.-Prof. Mag. Dr. Dietmar Larcher für seine motivierende Betreuung während der Entstehung dieser Stu­ die. Ein besonderer Dank gilt meiner Lebensgefährtin Frau Mag. Doris Bischof für das gründliche und unermüdliche Korrigieren diverser Fassungen dieser Arbeit und für ihre geduldige Diskussi­ onsbereitschaft. Dank schulde ich auch Herm Ulrich Hofmann, der mich auf die Spur Kaspar Hausers brachte, und Herm Wilhelm Liesinger für die wertvolle Hilfe bei der Textgestaltung. Veröffentlicht mit der Unterstützung der Forschungskommission der Universität Klagenfurt aus Förderungsmitteln der Stadt Klagen­ furt.

Gewidmet sei dieses Buch einem Familienphantom.

Herwig Oberlerchner

Der Kaspar-HauserMythos Psychoanalytisch orientierte Assoziationen auf den Spuren des rätselhaften Findlings

Verlag Wissenschaft & Praxis

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Oberlerchner, Herwig: Der Kaspar-Hauser-Mythos. Psychoanalytisch orientierte Assoziationen auf den Spuren des rätselhaften Findlings / Herwig Oberlerchner - Sternenfels ; Berlin : Verl. Wiss, und Praxis, 1999 ISBN 3-89673-068-1

ISBN 3-89673-068-1

© Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 1999 Nußbaumweg 6, D-75447 Sternenfels Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbe­ sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany

Inhalt Vorwort............................................................................................. 7

Einleitung.........................................................................................15 Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version 1 Wissenschaftstheoretischer Exkurs.............................................. 23 Ziele, Hypothesen, Methode. Introspektion, Gegenübertragung, projektive Identifizierung, freies Assoziieren

Der Kindesmord.............................................................................. 33 Erste Spur: Lloyd deMause

Die Kindheit Kaspar Hausers...................................................... 51 Zweite Spur: Die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie Kaspar Hausers Kerkerhaft......................................................... 67 Dritte Spur: Mahler, Winnicott

Die schwarze Pädagogik erprobt sich an Kaspar....................... 79 Vierte Spur: Erziehung als Schiefheilung. Der Kaspar-Hauser-Effekt

Kaspar Hauser - Versuchskaninchen Däumers........................ 91 Fünfte Spur: Das Austreiben des Kindlich-Lebendigen Wolfskinder, Mythen und Legenden........................................... 99 Sechste Spur: Ein Exkurs über „Kindergeschichten“. Das Änderte von Rinn

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Assoziationen zum Thema Autismus......................................... 109 Siebente Spur: Das Kaspar-Hauser-Syndrom

Kaspar Hauser - Der Extremtraumatisierte............................. 119 Achte Spur: Komplexe posttraumatische Belastungsstörung Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version II.................................... 129 Epilog............................................................................................. 137

Bildnachweis und Bildteil............................................................ 139

Bibliographie................................................................................. 141

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Vorwort

In periodischen Abständen taucht in meinem Leben die tragische und geheimnisumwitterte Figur des Kaspar Hauser auf. Zuerst war es der spannende Roman „Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens“, den Jakob Wassermann bereits im Jahre 1908 schrieb (Wassermann 1984), der mich erstmals mit diesem Thema in Berührung brachte. Später folgten andere Bücher, Filme und Zei­ tungsartikel über jenen Findling, der im Mai 1828 mitten in Nürn­ berg am Unschlittplatz erscheint und fünfeinhalb Jahre bis zu seiner Ermordung in Nürnberg und Ansbach lebt und damals wie heute viele fasziniert. Nach wie vor ist vieles in seinem Leben unklar, seine Herkunft noch immer nicht restlos geklärt, die Intention seiner vermuteten zwölfjährigen Kerkerhaft im Schloß Pilsach bei Neumarkt sowie seine plötzliche Freilassung geben Rätsel auf. Und obwohl die weni­ gen Jahre vom Auftauchen bis zum Attentat im Ansbacher Hofgarten von vielen Augenzeugen des Geschehens sehr genau dokumentiert wurden, bleibt auch diese Lebensphase in mancher Hinsicht dunkel. Die Geschichte dieses Menschen fasziniert nach wie vor unge­ mein, nicht nur mich, gibt Anlaß für mannigfaltige Spekulationen und beschäftigt die Phantasie von Generationen von Historikern, Pädagogen, Mystikern, Psychologen, Ärzten und Hobbyforschern. Tausende Veröffentlichungen zu Kaspar Hauser gibt es bereits bis jetzt, jeder mögliche und unmögliche Gesichtspunkt dieses einzigar­ tigen Schicksals wurde bearbeitet und behandelt, plausible aber auch

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Vorwort

absurde Theorien stehen sich gegenüber, krasse Widersprüche, aber auch sinnvolle Ergänzungen gibt es in diesen Schriften, und doch entzieht sich Kaspar Hausers Schicksal bis jetzt der endgültigen Klärung. Er war nicht nur das „aenigma sui temporis“, wie es auf seinem Grabstein in Ansbach steht, also das Rätsel seiner Zeit, er ist auch noch das „aenigma nostri temporis“, das Rätsel unserer Zeit. Im März 1996 erscheint ein Artikel in der Zeitschrift „Der Spie­ gel“. Es wird berichtet, daß man nun darangeht, Kaspar Hausers Blut, konserviert über 163 Jahre in seiner Unterhose, die er zum Zeitpunkt des Messerattentates trug, zu untersuchen und mit dem Blut zweier weiblicher Nachkommen seiner mutmaßlichen Schwestern zu vergleichen. Die Hoffnung ist, daß seine Herkunft wahrscheinlich auf diese Art geklärt werden könne, daß es sich nach der DNS-Analyse herausstellen werde, falls genug untersuchbares Material gewonnen werden kann, daß Kaspar Hauser der erstgeborene Sohn des Großherzogpaares von Baden, Stephanie de Beauhamais und Karl von Baden, sei und damit auch rechtmäßiger Thronerbe in der Linie der Zähringer (vgl. Der Spiegel 10/1996,100 f.). Zumindest war das die bis zum Zeitpunkt des mittlerweile vorliegenden Ergebnisses praktisch als gesichert geltende Anschauung der Historiker. Es bestand jedoch bis jetzt zumindest in diesem Detail der Abstammung Kaspar Hausers Unklarheit, wenn auch die Anhänger der „Prinzentheorie“ schon lange von der blaublütigen Abstammung des Findlings und damit vom dynastischen Verbrechen überzeugt waren. Doch nun liegt das Ergebnis der von der Zeitschrift „Der Spiegel“ initiierten DNS-Analyse vor, und zum Erstaunen und vielleicht auch Schrecken vieler stellt sich heraus, daß nach dieser Untersuchung der Findling nicht Sohn seiner vermeintlichen Mutter, der Großherzogin von Baden, gewesen sein kann (vgl. Der Spiegel 48/1996, 254 ff.). Stimmt das Ergebnis und ist das Blut auf der Hose wirklich das von Kaspar Hauser, so haben sich Generationen von Forschem, die Kaspar Hausers Schicksal bereits lückenlos und schlüssig darzustellen versuchten, arg getäuscht. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß das Schicksal dieser legenden­ 8

Vorwort

umwobenen Figur zum Mythos geworden ist, einem Mythos, ähnlich dem von Ödipus. Mit diesem für Historiker natürlich sensationellen Unter­ suchungsergebnis wird nun wieder das Interesse für diese Figur einen neuen Zenit erreichen und das Feuer im bereits über 160 Jahre währenden Streit der Anhänger verschiedener Theorien neuerlich entfacht werden. Der kriminologische oder historische Aspekt dieser Geschichte wird aber nicht Mittelpunkt meiner Arbeit sein. Vielmehr will ich mich mit den Ursachen der Faszination beschäftigen, die diese Figur auf so viele Menschen ausübt. Was macht diese Faszination, dieses nun schon so lange währende rege Interesse der Menschen aus? Was spricht Kaspar Hauser auch heute noch in jedem einzelnen an? Was wird hier berührt, und was korrespondiert im vermeintlichen Schick­ sal des Findlings mit dem Innenleben derjenigen, mich eingeschlos­ sen, die sich immer wieder mit dieser Figur auseinandersetzen? Ist es so, wie der Autor eines Leserbriefes im Spiegel, Prof. Unglaub, auf den angekündigten Gentest im Spiegel reagierend, schreibt, daß „seit Paul Verlaines berühmtem Gedicht ,Gaspard Hauser chante4 (1873) das ,Kind von Europa4 zur Symbolfigur des modernen Menschen geworden ist: herkunftslos, orientierungslos, unverstanden, einsam in der Gesellschaft, nicht in der Lage, Gefühle und Gedanken verständlich auszudrücken“? In der Auseinanderset­ zung damit liege das wahre Abenteuer der Gegenwart und nicht in den Genen, schreibt der Leserbriefverfasser (vgl. Der Spiegel 12/1996, 14). Das wahre Geheimnis liegt aber meines Erachtens noch woanders. Und diese Spur will ich verfolgen. Im Kaspar-Hauser-Mythos wird der Findling als ein vertauschtes, verratenes, mißhandeltes, depriviertes Kind dargestellt, ohnmächtig denen ausgeliefert, die gerade über ihn verfügen. Er ist Opfer, Spielball Mächtiger, der Inbegriff des Einsamen, ein Paradebeispiel des zwischen verschiedensten Interessen Zerriebenen, dem nicht gestattet wird, seinen Platz in dieser Welt zu finden. Er wird um sein Leben betrogen. 9

Vorwort

Man könnte nun meinen, ich beziehe das Gesagte nur auf Kaspar Hausers vermutete, aber wohl nie beweisbare, zwölf Jahre des Eingesperrtseins im dunklen Kerker von Schloß Pilsach, vielleicht auch noch auf seine letzte Zeit in Ansbach beim tyrannischen Lehrer Meyer, nein, ich gehe weiter, ich glaube, es ist dieses „Ums-LebenBetrogenwerden“ noch viel öfter zu finden, es zieht sich wie ein Hauptlebensthema durch Hausers gesamte „mythologische Biogra­ phie“. Das ist sein Elend. Und das ist auch das Elend vieler Men­ schen. Kaspar Hauser drückt seine Schwierigkeiten, sich selbst einen Platz in dieser Welt zu schaffen, der auch respektiert wird, folgen­ dermaßen aus: „Vor etliche wochen habe ich von Gartenkreß mein Namen gesähet und dieser ist recht schön gekommen der hat mir ein solche Freude gemacht das ich es nicht sagen kann und da ist einer in Garten herein gekommen hat viele Bim fortgetragen der hat mir meinen Namen Zertreten da habe ich geweint dann hat Herr Professor gesagt ich soll ihn wieder machen, ich habe ihn gemacht den andern Morgen haben mir wieder die Katzen Zertreten.“ (Pies 1985,437)

Das, was Kaspar Hauser real erleben mußte, erlebten und erleben viele Menschen als Kinder und Jugendliche, oft nur angedeutet, sel­ ten in fast ähnlicher Art, wie jüngste Berichte aus diversen Zeitungen uns erschreckend vor Augen führen. Zum Beispiel wird das Mädchen Maria K. über Jahre immer wieder in eine sargähnliche Kiste gesperrt und wird durch diese Extremtraumatisierung um Jahre der Entwicklung und der Möglichkeit einer aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt betrogen (vgl. Profil 29/1996, 52 ff.). Jedes Kind ist vom Zeitpunkt der Geburt an auch Mächtigen aus­ geliefert, von deren Wohlwollen und Liebe abhängig und hat entwe­ der die Gelegenheit, beschützt und geborgen in einem das Ich stär­ kenden Sozialisationsprozeß zu seiner Individualität heranreifen zu dürfen, oder wird in diesem Reifungsprozeß in mehr oder minder starkem Ausmaß behindert. Eltern, Bezugspersonen, Lehrer als Mächtige können Kindern helfen, ihren Platz in dieser Welt zu

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Vorwort

finden oder dazu beitragen, diesen ihren Platz für immer zu verlieren. Sie können Förderer sein oder Hemmer, Freunde oder Feinde. Kaspar Hauser hatte hauptsächlich mit zweiteren zu tun. Die Erinnerung an diese Angst und Ohnmacht, an dieses wohl in jeder Kindheit sich abspielende Drama des Ausgeliefertseins in den ersten Lebensjahren hat jeder noch in sich, im Unbewußten gespei­ chert und wird durch Kaspar Hausers Schicksal aktiviert. Was wurde mit mir gemacht? Was hat man mir vorenthalten? Was hat man an mir verbrochen? Bin ich denn am richtigen Ort? Habe ich das be­ kommen, was mir eigentlich zusteht?... Das sind die Fragen, die meines Erachtens in der Auseinanderset­ zung mit Kaspar Hauser in jedem mehr oder minder stark und mehr oder minder bewußt auftauchen. Das könnte wohl Erklärung für die Faszination, den Schauer und die innere Erregung sein, die bei so vielen „Hauserianem“ immer wieder aufflammen. Der KasparHauser-Mythos aktiviert in uns also die wohl ältesten Fragen der Menschheitsgeschichte: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Wo bin ich zu Hause? In diesem Zusammenhang ist es meines Erachtens auch müßig, sich mit den potentiellen Veränderungen, die Kaspar Hauser als Großherzog eventuell bewirken hätte können, auseinanderzusetzen. Vielleicht wäre ihm wirklich Großartiges gelungen, hätte er weitrei­ chende und in der damaligen Zeit auch dringend nötige Veränderun­ gen im sozialen und politischen Leben, wie vor allem die anthropo­ sophische Literatur behauptet, initiieren können (vgl. Tradowsky 1983, 75 ff.). Doch nichts davon ist tatsächlich geschehen. So bleibt wieder „ nur “ die bereits oben gelegte Spur, nämlich die Auseinandersetzung jedes einzelnen Interessierten mit dem, was in der Identifikation mit Kaspar Hauser sich im eigenen Inneren ab­ spielt: Was macht diese Geschichte mit mir? Was löst das Schicksal Kaspar Hausers in mir aus? Was würde ich in meiner Gesellschaft ändern, wenn ich an der Macht wäre? So wird zur neuen zentralen Figur dieser Auseinandersetzung nicht der geschichtliche Kaspar Hauser sondern der Kaspar Hauser in jedem von uns. Dieser Gedanke reifte schon während der letzten Monate der in­ tensiven Beschäftigung in mir mehr und mehr und offenbarte sich 11

Vorwort

schließlich auch in einem Traum, den ich Ende Juli in Pilsach, dem Ort von Hausers vermuteter Kerkerhaft, hatte. Am Abend erst waren wir mit dem Auto in Pilsach angekommen. Es dauerte recht lange, bis wir das zwar im Zentrum des Dorfes gelegene, doch irgendwie schwer zugängliche Schloß fanden. Uns wurde ganz unheimlich zu­ mute. Wir gingen durch einen Garten zum Schloß. Vor dem wirklich wunderbaren Schloß, umgeben von einem Wassergraben, in dem sich riesige Goldfische tummelten, saßen drei Leute an einem Tisch. Ein Mann, der sich später als Schloßbesitzer herausstellte, kam auf uns zu und fragte, was wir wollen. Wir antworteten, daß wir uns intensiv mit Kaspar Hauser beschäftigten und gerne den Kerker sehen würden. Er sagte, wir seien hier falsch, weil es nichts mehr zu sehen gebe, außerdem habe er es schon recht satt, dauernd mit der Sache Hauser konfrontiert zu werden, früher hätte er die Leute noch gerne reingelassen, jetzt aber würde er es nur mehr als störend empfinden, daß in seinem Schloß Kaspar Hauser einmal eingesperrt gewesen sein soll. Er forderte uns auf zu gehen und auch keine Fotos zu machen. Enttäuscht verließen wir das Gelände, mußten uns mit den Blicken auf das Schloß über Zäune und Mauern zufrieden geben. In der Nacht hatte ich dann folgenden Traum: Ich bin ein Schüler in einer größeren Schulklasse. Wir haben uns alle mit Büchern über Kaspar Hauser eingedeckt und mit Malsachen bewaffnet. Wir folgen unserer Lehrerin in den Schloßgarten von Pilsach. Dort studieren wir eifrig das Schloß, lesen in den Büchern nach, einige beginnen, das Schloß zu malen. Nach einer Weile fordert uns unsere Lehrerin auf, jetzt alle Sachen einmal wegzulegen, und Kaspar Hausers Schicksal auf uns wirken zu lassen. Wir setzen uns im Kreis um das Schloß und horchen ins eigene Innere hinein. Der Wassergraben beginnt im Sonnenlicht zu glitzern. Wir meditieren über Kaspars Bedeutung für uns. Diese meditative Haltung hat mich während des Schreibens stän­ dig begleitet. Bevor ich nun meinen Gedanken und Ideen weiter nachgehe, werde ich in der nun folgenden Einleitung den Kaspar-HauserMythos kurz darstellen. Im ersten Teil des Buches beschäftige ich 12

Vorwort

mich nun hauptsächlich mit der seit über 165 Jahren bestehenden Version dieses Mythos, in der davon ausgegangen wird, daß Kaspar Hauser der Sohn des Fürstenpaares war. Ob er es nun tatsächlich war oder nicht, ob das Ergebnis der DNS-Analyse wirklich gesichert ist oder nicht, tut dem Forschungsansatz, den ich in dieser Arbeit wählte, nämlich dem der identifikatorischen Auseinandersetzung, keinen Abbruch. Gegen Ende des Buches wird die nun durch das Untersuchungser­ gebnis neuerlich aktualisierte, zweite Version des Kaspar-HauserMythos bearbeitet, in der der Findling alles andere als adeliger Her­ kunft ist, sondern, an einer Erbkrankheit leidend, von Tirol nach Nürnberg gebracht wird.

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Einleitung

Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version I

Am 29. September 1812 wird in Karlsruhe ein Kind geboren. Es ist ein strammer und kräftiger Bub, der erstgeborene Sohn von Großherzogin Stephanie de Beauhamais, Adoptivtochter Napoleons, und Großherzog Karl. Er ist der potentielle Nachfolger auf den Thron des Hauses Baden in der Linie der Zähringer. Ärztliche Bulletins berichten über den guten Gesundheitszustand des Knaben. „Am 7. Oktober werden die ärztlichen Bulletins vom Hofe eingestellt. Das ,andauernde Wohlbefinden des Neugeborenen* wird noch ein letztes Mal verkündet. Man hört, daß sich der - zunächst besorgniserregende - Zustand der Wöchnerin deutlich gebessert hat, so daß ihr Mainzer Arzt und Geburtshelfer beruhigt nach Hause zurückkehren kann.“ (Leonhardt 1994, 275)

Doch völlig unerwartet erkrankt der Thronfolger am 15. Oktober 1812 schwer, stirbt am 16. Oktober 1812 und wird unter großer An­ teilnahme der Bevölkerung in der Schloßkirche zu Pforzheim be­ graben. Um gerade diese Ereignisse ranken sich nun die meisten Vermutungen und Legenden. Viele Forscher gehen davon aus, daß das verstorbene Kind nicht der Erbprinz war, sondern ein untergeschobenes Kind, das man vor­ her vermutlich durch einen Schlag auf den Kopf so verletzt hatte, daß es starb. Äußere Hämatome, aber auch innere zerebrale Blutungen, werden im Obduktionsprotokoll der Ärzte beschrieben. Interessant ist, daß nach der Erkrankung des Kindes weder die Mutter noch die Hebamme noch die Amme das Kind zu Gesicht

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Einleitung

bekommen, sodaß ein Vertauschen der Kinder möglich gewesen wäre (vgl. Leonhardt 1994, 275 ff. sowie Tradowsky 1983, 21). Alle anderen beteiligten Personen waren, so wird vermutet, wohl Teil eines Komplottes mit dem Ziel, den Erbprinzen zu beseitigen. Noch geheimnisvoller wird es, als ein zweiter Sohn des Großher­ zogpaares, Prinz Alexander, im Jahre 1817 als Einjähriger stirbt und schließlich nach dem Tod weiterer männlicher Thronberechtigter, auch hier gibt es das Gerücht, es sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, das Geschlecht der Zähringer im Mannesstamm aus­ stirbt. Der Thronanspruch geht nun über auf die Linie der Hochberg. Ab 1830 regiert Großherzog Leopold, Sohn der Gräfin Hochberg. Er ist der erstgeborene Sohn der zweiten, morganatischen Ehe („Ehe zur linken Hand“) des Großherzogs Karl Friedrich mit eben dieser Grä­ fin, der man heute eine zentrale Position in dieser Geschichte von Kindesvertauschung und Kindesmord zuspricht. Ihre Komplizen sind, so glaubt man: Markgräfin Amalie und Ludwig von Baden, Großmutter beziehungsweise Onkel des vertauschten Kindes, Hennenhofer, ein Günstling Ludwigs, verantwortlich für die Verletzung des Kindes, mitbeteiligt am Attentat und schließlich an der Ermordung des Kaspar Hauser und der Arzt Schrickel, der bereits bei der Behandlung des erkrankten Erbprinzen erwähnt wird und vermutlich auch die Pockenimpfungen vornahm, deren Narben an beiden Oberarmen der ärztliche Gutachter Dr. Osterhausen im Dezember 1830 bei Kaspar Hauser feststellt (vgl. Tradowsky 1985, 32). Das untergeschobene Kind wird von den Kaspar-HauserForschern als Sohn der Familie Blochmann identifiziert. Dieses Kind, auf Johann Ernst Jakob getauft, geboren drei Tage vor dem Erbprinzen, bietet sich für die Kindesvertauschung an, noch dazu, da Vater Blochmann im Dienst der Gräfin Hochberg steht. Das Kind Blochmann stirbt nach der schweren Verletzung, die ihm zugefugt wurde, und wird in Pforzheim in der Familiengruft der Zähringer anstatt des Erbprinzen begraben, der gesunde Erbprinz wird wegge­ bracht, wahrscheinlich, so glaubt man heute, der Familie Blochmann 16

Einleitung

übergeben, wo er vermutlich bis zum Tod von Frau Blochmann als 34-Jährige an Schwindsucht im Jahr 1815 lebt. Zweieinhalb Jahre dürfte Kaspar bei Familie Blochmann gelebt haben, nach dem Tod von Frau Blochmann wird nun aber eine an­ derweitige Unterbringung notwendig. Hier tritt erstmals Madame Dalbonne auf, eine gebürtige Französin und ehemalige Hofdame am Karlsruher Schloß. Kind und Kindfrau werden vermutlich nach Schloß Beuggen in den äußersten Süden des damaligen Großherzog­ tums Baden gebracht. Das Schloß hatte der Großherzog Karl Friedrich seiner zweiten Frau, der Gräfin Hochberg, überlassen. Dort dürfte der Erbprinz bis zu seinem fünften Lebensjahr in einem Gar­ tenhäuschen oder in einem Keller unter der Pfarrwohnung gelebt ha­ ben. Jahre später, bereits in Nürnberg, erinnert er sich an ein Wap­ pen, zeichnet es auch auf, und es wird als Wappen des Schlosses Beuggen identifiziert. Diese ersten vier Jahre seines Lebens dürften sich doch so kräftigend auf das Seelenleben des kleinen Buben aus­ gewirkt haben, daß er die nun folgenden zwölf Jahre dunkler Ker­ kereinzelhaft überhaupt überleben kann. Denn wieder wird der Erbprinz nun woanders hingebracht, den Kindesentführern wird der Ort Beuggen als Versteck wohl zu unsicher. Gerüchte kursieren nämlich im Dorf am Schloß, und es erscheint im Oktober 1816 eine Flaschenpost, die in der Presse der damaligen Zeit sehr ernst ge­ nommen und intensiv diskutiert wird. In lateinischer Sprache wird von einem Kerker bei Lauffenberg am Rhein berichtet, ein deutlicher Hinweis auf Schloß Beuggen. Das wird wohl der Grund gewesen sein, warum der Bub nach Schloß Pilsach in Bayern gebracht wird, immerhin ungefähr 450 Kilometer entfernt. Im wohl schönsten und umfangreichsten Buch über Kaspar Hauser, nämlich dem leider vergriffenen Bildband von Mayer und Tradowsky, wird zwischen dem Aufenthalt in Schloß Beuggen und der Kerkerhaft in Schloß Pilsach noch eine Zwischenstation postu­ liert. Kaspar soll kurz im Pfarrhaus des Ortes Hochsal, wenige Kilo­ meter von Schloß Beuggen entfernt, versteckt worden sein (vgl. Mayer 1984, 769 ff.). Hierüber weiß man aber nur sehr wenig, ebenso über weitere Zwischenstationen.

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Einleitung

Der Prinz wird also von Frau Dalbonne getrennt und vermutlich, so der Mythos, ab 1817 oder 1818 im Schloß Pilsach im geheimen Kerker mehrere Jahre lang eingesperrt. Welch Drama und unvorstellbares Martyrium für ein fünf- bis sechsjähriges Kind, welch Skrupellosigkeit und Härte der Beteiligten. In diesem Kerker wächst der Bub nun völlig depriviert, von Men­ schen und Umwelt vollkommen abgeschnitten, auf. Er sitzt angebunden auf Stroh, bekommt nur Wasser und Brot zu essen, wird mit Opium betäubt, wenn es nötig ist, ihn zu reinigen oder zu pflegen. Sein Spielzeug, das er vermutlich schon in Beuggen hatte, wurde ihm mitgegeben, zwei Holzpferdchen, ein Holzhund, die er nun jahrelang mit Bändern schmückt und mit seinem Wasser und Brot im Spiel füttert. Er nimmt weder Tag noch Nacht wahr, hört keine Geräusche, verlernt einen Großteil der emotionalen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten, die er bereits besaß. Ein zwölfjähriger Dämmerzustand. Sein Wärter heißt Richter, Förster im Schloß Pilsach, treu ergeben seinem Schloßherrn, Baron Grießenbeck. Er pflegt und versorgt den Buben und beobachtet sein Heranwachsen zum jungen Mann. Ein anderer Mann, so erinnert sich Kaspar Hauser später, kommt schließlich in seinen Kerker, lehrt ihn seinen Namen schreiben, ein Gebetsbüchlein lesen und ein paar Sätze sprechen und schleppt ihn schließlich im Frühling 1828 vierzig Kilometer nach Nürnberg. Warum er gerade zu diesem Zeitpunkt freigelassen wird, bleibt un­ klar. Am 26. Mai 1828 taucht nun Kaspar Hauser in Nürnberg auf. Er erinnert sich jedoch später in seinen autobiographischen Aufsätzen an die Tage vor der Freilassung, an die Versuche des Mannes, ihm das Lesen und das Schreiben seines Namens beizubringen, das ständige Vorsagen des Satzes, mit dem Kaspar Hauser die Bühne dieser Welt betritt, das Erlernen des Gehens und an die für seine des Gehens ungewohnten Füße schmerzhafte, vierzig Kilometer lange Wanderung von Pilsach nach Nürnberg (vgl. Hörisch 1994, 97 ff.). Schuster Weickmann findet Kaspar wankend und orientierungslos in Nürnberg am Unschlittplatz, man bringt ihn zur Wache, später zum Rittmeister Wessenig, an den der Brief adressiert ist, den 18

Einleitung

Kaspar in der Hand hält. Von dort wird er in den Gefängnisturm Luginsland gebracht, wo er erste recht liebevolle Betreuung durch die Familie des Turmwärters Hiltel erfahrt. Im Turm lernt er auch seinen späteren Lehrer Däumer kennen. Von der plötzlichen und so massiven Umstellung in seinem Leben, von der uneinfuhlsamen Rohheit der Besucher und Gaffer im Turm und der ermittelnden Be­ amten vollkommen überfordert, ist Hauser hier erstmals dem Tode nahe. Er übersiedelt schließlich zu Professor Däumer auf die Insel Schütt, in dem er einen recht engagierten Mentor findet. Unglaublich lernbegierig und eifrig entdeckt Kaspar unter der Anleitung Däumers zum zweiten Mal die Welt. Am 17. Oktober 1829 kommt es zu einem ersten Mordanschlag, interessanterweise zu einem Zeitpunkt, als publik wird, daß Kaspar Hauser an seiner Autobiographie schreibt. Kaspar wird im Hause Däumers von einem maskierten Mann - Statur und Stimme erinnern Kaspar an den Mann, der ihn nach Nürnberg brachte - mit einer Axt oder einem Messer am Kopf verletzt. Schwer geschockt überlebt er die relativ leichte Verletzung. Ab jetzt werden ihm, auf Anordnung König Ludwigs I. von Bayern, zwei Polizisten als Begleiter zum Schutz zur Seite gestellt. Das Interesse für Kaspars Geschichte, das bis zu diesem Zeitpunkt schon etwas abgeebbt war, wird noch einmal gesteigert. Weitere Stationen in seinem Leben sind dann folgende: Vom Jän­ ner bis Juli 1830 lebt Kaspar beim Kaufmann Biberbach. Ab 15. Juli lebt Kaspar bei seinem Vormund Freiherr von Tücher ebenfalls in Nürnberg. Im Mai 1831 tritt erstmals Lord Stanhope auf, ein engli­ scher Adeliger, der in Europa in diplomatischen Angelegenheiten Königs- und Fürstenhäuser besucht. Er spielt in Kaspars Leben eine sehr zweideutige und dunkle Rolle. Zuerst Gönner und Freund, übernimmt er die Pflegschaft Kaspar Hausers, steckt ihn aber, anstelle ihn, wie versprochen, nach England mitzunehmen, zu Lehrer Meyer nach Ansbach. Hier, in der Knechtschaft dieses Paradebeispieles eines „schwarzen Pädagogen“, wird Kaspar ein zweites Mal extrem isoliert. Die Besuche des Lord Stanhope bleiben aus, Professor Däumer hält kaum noch Kontakt, es häufen sich Gerüchte und Anklagen, schließlich sogar vonseiten Lord 19

Einleitung

Stanhopes, Kaspar sei ein Betrüger, Lehrer Meyer quält seinen Schüler mit inquisitorischen Erziehungsmethoden, nur Hausers fröhliches Gemüt und sein Kontakt zu Anselm von Feuerbach, Präsident des Ansbacher Appellationsgerichtes, und dem Pfarrer Fuhrmann sind Stützen, die ihm das Leben erträglich machen. Am meisten lebenserhaltend wirkt sich aber meines Erachtens die so starke Sehnsucht Kaspar Hausers aus, daß vielleicht doch noch seine Herkunft geklärt werden kann und er einmal seiner Mutter be­ gegnen wird, nach der er sich so sehr sehnt. Ob es, wie zum Teil be­ hauptet, tatsächlich am 4. April 1832 zu einer Begegnung zwischen Hauser und seiner vermeintlichen Mutter, der Großherzogin Stephanie, gekommen ist, ist nicht gesichert. Feuerbach ist auch derjenige, der nach langem Erforschen der Hintergründe von Kaspars Schicksal und Herkunft die Verbindung zum Haus Baden herstellt. In seinem berühmten und scharfsinnigen Memoire von 1832, also noch zu Lebzeiten Kaspars, unterrichtet er Königin Karoline von Bayern, Kaspar Hausers mutmaßliche Tante, von seinem Verdacht (vgl. Hörisch 1994, 194 ff.). Reaktionen be­ züglich Kaspar bleiben aus, Feuerbach aber wird vermutlich mit Ar­ sen vergiftet und stirbt zu Pfingsten 1833. Am 14. Dezember 1833 kommt es zum zweiten Attentat auf Kaspar Hauser. Er wird unter dem Vorwand, ihm seine Herkunft zu enthüllen, in den Hofgarten von Ansbach gelockt, mit einem Messer schwer verletzt und erliegt drei Tage später dieser Verwundung. Hausers Gegner glauben an Selbstmord oder eine appellative Selbst­ verletzung, der Obduktionsbericht des Dr. Heidenreich aus dem Jahre 1834 und die genaue Rekonstruktion der Ereignisse hingegen sprechen jedoch eindeutig für Mord (vgl. Tradowsky 1985, 116 ff.). Wieder sollen Angehörige des Hauses Baden, vor allem Großherzo­ gin Sophie, Gattin des regierenden Großherzogs Leopold, und auch wieder Hennenhofer involviert sein. Schon zu Lebzeiten, aber besonders nach seinem ominösen Tod, beginnen die Nachforschungen zum Fall Hauser. Warum wurde Kaspar nicht schon als Säugling einfach umgebracht, wenn man ihn beseitigen wollte? Wozu diente seine Kerkerhaft? 20

Einleitung

Diente er als Geisel, um zum Beispiel einen Trumpf gegen Herzog Ludwig in der Hand zu haben? Welche Rolle spielte Bayern? War er ein Pfand im Kampf um die Pfalz, auf die Bayern Anspruch erhob? Wer war an dem Kindestausch und den Morden beteiligt? Welche Rolle spielte Lord Stanhope? Warum wurden immer wieder Dokumente beseitigt? Gab es zusätzlich zum dynastischen Ver­ brechen noch eine andere Verbrechensdimension, eine Ver­ schwörung westlicher Logen? War Kaspar ein lediges Kind des Rittmeister Wessenig mit einer Tiroler Magd? Warum gab es nie eine offizielle Stellungnahme des Hauses Baden zu den nunmehr über 165 Jahre lang währenden Vorwürfen des Kindesmordes? Diese Fragen und Theorien werden in den vielen spannenden und faszinierenden Büchern behandelt, die es zum Thema Kaspar Hauser gibt, und deren Lektüre ich gerne empfehle. Die DNS-Analyse ist nun nur ein weiteres spannendes Detail des Kaspar-Hauser-Mythos. Ich aber will, wie bereits oben erwähnt, in den nun folgenden Kapiteln andere Spuren der Auseinandersetzung mit dieser faszinierenden Geschichte verfolgen. Der kriminologische Aspekt ist zwar äußerst spannend und aufregend, noch spannender aber sind die eigenen Gefühle, die im forschenden Umgang mit der KasparHauser-Geschichte auftauchen, die eigene Gegenübertragung, die ab jetzt im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen wird.

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Wissenschaftstheoretischer Exkurs

Ziele, Hypothesen, Methode. Introspektion, Gegenübertragung, projektive Identifizierung,

freies Assoziieren

Bereits im Vorwort stelle ich die Fragen, woher denn meine Faszination für die Geschichte Kaspar Hausers stammen mag, und warum sich Generationen von Wissenschaftlern wie Laien so inten­ siv mit diesem merkwürdigen Schicksal auseinandersetzen. Auch ich habe ja in meiner Beschäftigung mit dieser Figur diese Faszination, dieses Interesse und diese Sympathie so stark verspürt. Die innere Bereitschaft, sich auf ein bestimmtes Thema intensiv einzulassen, ist zuerst da, dann tauchen plötzlich Bücher auf, gibt es Begegnungen mit Menschen, die diese Faszination teilen, verschafft man sich Reiseeindrücke vor Ort, stößt man scheinbar zufällig auf neue, interessante Details, die zwingen, die alte Sicht der Dinge zu revidieren und so weiter. Das sind Abläufe, die wohl jeder in der Auseinandersetzung mit einem besonders berührenden Thema kennt. Ich habe auch einige Antworten auf diese Frage nach der Faszina­ tion angedeutet, so zum Beispiel, daß man über den Umweg der Identifikation mit dieser Figur sich eigenen Traumata anzunähem wagt. Man erkennt im Schicksal Kaspars schmerzhafte Parallelen, korrespondierende „life events“, ähnliche Schicksalsverknüpfungen und erkennt schließlich hinter der Figur und ihrer Tragik sich selbst. In jedem der folgenden Kapitel werde ich aber nochmals diese Frage aufwerfen und, dem speziellen Thema des jeweiligen Kapitels entsprechend, zu beantworten versuchen. In der Psychoanalyse werden Gefühle, die sich während der psy­ chotherapeutischen Behandlung im Patienten regen als Übertragung

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Wissenschaftstheoretischer Exkurs

bezeichnet. Der Psychoanalytiker Greenson definiert diesen Begriff folgendermaßen: „ Übertragung ist das Erleben von Gefühlen, Trieben, Haltungen, Phantasien und Abwehr gegenüber einer Person der Gegenwart, die zu dieser Person nicht passen, sondern die eine Wiederholung von Reaktionen sind, welche ihren Ursprung in der Beziehung zu wichtigen Personen der frühen Kindheit haben und unbewußt auf Figuren der Gegenwart verschoben werden. “ (Greenson 1973, 1837

In der Übertragung werden also neurotische Konflikte, Ausdruck unerledigter Wünsche und Sehnsüchte primären Bezugspersonen gegenüber, nun verschoben auf den Therapeuten, reaktiviert. Die therapeutische Chance liegt in der Bearbeitung und Bewußtmachung dieser Übertragungsphänomene. Jene Gefühle wiederum, die sich in der Auseinandersetzung mit einem Klienten im Therapeuten regen, werden als Gegenübertragung bezeichnet. Welch rasante Entwicklung dieser Begriff in der psychoanalytischen Literatur in den Jahrzehnten des Bestehens dieser Form der Psychotherapie genommen hat, ist eindrucksvoll. Er ist sicher derzeit einer der meist diskutierten Begriffe in der psychoanalytischen Literatur. Verstand man unter Gegenübertragung am Beginn der Psychoanalyse noch Gefühle des Analytikers, entstanden ausschließlich als Reaktion auf die Übertragung des Analysanden, unabhängig vom Analytiker selbst, die den therapeutischen Prozeß eher stören und daher möglichst unterdrückt werden sollten, wird die Gegenübertragung heutzutage als wichtiges therapeutisches Werkzeug angesehen, das bewußt und gezielt im therapeutischen Prozeß eingesetzt werden soll. Aber das Spektrum der Sichtweisen zu diesem Begriff ist nach wie vor groß und reicht von der ausschließlichen Reaktion des Analytikers auf die Übertragung des Analysanden hin zur eigenständig aus der Biographie des Analytikers entstehenden und zu verstehenden Gefühlswelt des Therapeuten. Jürgen Körner schematisiert in seinem Artikel „Übertragung und Gegenübertragung, eine Einheit im Widerspruch“ die gängigen Ge24

WlSSENSCHAFTSTHEORETISCHER EXKURS

genübertragungskonzepte (vgl. Körner 1990,87 ff.). Er unter­ scheidet drei Konzepte, die nicht nur historisch gesehen hintereinander, sondern heute noch nebeneinander, existieren. Das defensiv-objektivierende Gegenübertragungskonzept sieht in der Gegenübertragung die Reaktion des Analytikers auf die Übertra­ gung des Analysanden, die den therapeutischen Prozeß stört und da­ her unterdrückt werden sollte. Die vom Analytiker geforderte strenge Abstinenz dehnt sich sogar auf sein reaktiv entstehendes Gefühlsleben aus, das nicht zugelassen werden darf, sonst würde der Therapeut die Forderung nach maximaler Zurückhaltung im Sinne der Erwartung von weitestgehender Objektivität verletzen. Analog dazu wird ja auch zum Teil heute noch in der Forschung geglaubt, daß Exaktheit, Kontrollierbarkeit und Wiederholbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse unbedingt mit der Unabhängigkeit von der Person des Forschers einhergehen müssen. Das unkom­ munikative und scheinbar neutrale Verhalten des quantitativ Forschenden stellt natürlich aus der Sicht der Psychoanalyse ein extremes Übertragungsangebot dar und fuhrt daher erst recht zu unkontrollierbaren Verzerrungen und Störungen der Ex­ perimentalsituation (vgl. Leithäuser/Volmerg 1988, 209). Instrumentelle Gegenübertragungskonzepte geben der Gegen­ übertragung des Analytikers schon viel mehr Bedeutung. Körper­ empfindungen, Gefühle, Gedanken und Handlungstendenzen sollen als Informationsquelle und Antwort auf die Übertragung des Analy­ sanden verstanden, ausgewertet und schließlich auch bewußt als Werkzeug in den therapeutischen Prozeß eingebracht werden. Dieses Konzept faßt zwar den Therapeuten nicht mehr als Spiegel auf, in dem sich das Gefühlsleben des Analysanden reflektiert, sieht aber den Therapeuten doch noch weitgehend als Reagierenden und die Achse Übertragung-Gegenübertragung weitgehend unidirektional vom Analysanden ausgehend. Dieses Konzept bietet aber die Chance, eigene, nicht durch den Analysanden induzierte Gefühle von den reaktiven Gefühlsanteilen zu differenzieren und Eigenes vom Fremden zu unterscheiden. Interaktioneile Gegenübertragungskonzepte kritisieren nun diese Sicht der Unidirektionalität und der kausalen Verknüpfung. Im Be25

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Ziehungsgeflecht Analytiker-Analysand wird nicht mehr diese stren­ ge Trennung von Eigenem und Fremdem gefordert, sondern Übertragung und Gegenübertragung sind Teile der Interaktion zweier oder auch mehrerer Personen. Die Gefühle, Gedanken, Kör­ perempfindungen und Handlungsimpulse werden als Teile einer realen Beziehung verstanden, „die von beiden Beteiligten gemäß ihrer unterschiedlichen Rollen gestaltet und fortentwickelt wird. Die Rolle des Analytikers sieht vor, die Beziehungskonflikte mit seinem Patienten nicht nur zu ,beantworten“, sondern als inneren Konflikt selbst zu erleben und durchzuarbeiten.“ (Körner 1990, 97) Daß das jeweilig verbreitete und vom einzelnen Therapeuten oder Forscher angewandte Gegenübertragungskonzept natürlich sehr stark mit der jeweiligen Person, deren Biographie und gesell­ schaftshistorischen Hintergründen zusammenhängt, zeigt Andrea Gysling sehr eindrucksvoll in ihrem Buch „Die analytische Antwort. Eine Geschichte der Gegenübertragung in Form von Autoren­ portraits.“ (Gysling 1995) Sie spannt darin einen weiten Bogen von Freuds ersten, noch eher warnenden Aussagen zum Phänomen der Gegenübertragung bis zu den modernen Gegenübertragungs­ konzepten. Wie kann man nun diese Gegenübertragungskonzepte auf die Auseinandersetzung mit einer historischen Figur wie Kaspar Hauser anwenden? Alle diese genannten Konzepte beziehen sich ja auf die Auseinandersetzung mit noch lebenden Menschen, Hauser ist aber schon seit über 165 Jahren tot, und doch glaube ich, daß zumindest das instrumentelle Gegenübertragungskonzept anwendbar und Erklärung für die bereits beschriebene Faszination sein kann. Denn ich reagiere, zwar nicht in einem therapeutischen Kontext und auch nicht auf eine noch real lebende Person, aber doch mit allen mir möglichen Gefühlen, Handlungsimpulsen, Gedanken und Körper­ empfindungen auf das außergewöhnliche Schicksal eines mich faszinierenden Menschen. Ich setze mich intensiv mit der Geschichte dieses Menschen auseinander, forsche, lese Bücher, grüble nach, spüre in mich hinein und entdecke immer wieder Neues, nicht unähnlich dem Archäologen angesichts einer neuen Ausgrabung oder dem Analytiker in der therapeutischen Begegnung 26

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mit dem Analysanden. Die Sinne sind aber nicht nur nach außen gerichtet, die Augen offen und die Ohren gespitzt, um von außen kommende Information aufzunehmen, sondern Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit sind auch nach innen gerichtet, im Sinne einer ständigen Introspektionsbereitschaft. Auch hier gibt es eine Parallele zum psychoanalytischen Behandlungskontext, denn auch der Analytiker benötigt als Werkzeug, zusätzlich zur Auf­ merksamkeit und „Responsivität“, zu verstehen als die Bereitschaft, eine vom Analysanden angebotene, komplementäre Rolle zu übernehmen, diese Introspektionsbereitschaft. Der Psychoanalytiker Wegner benennt diese drei Säulen der Psychoanalyse in einem Artikel mit den englischen Bezeichnungen „free floating attention, free floating responsiveness, free floating introspectiveness“, wobei er diese gleichschwebende Intro­ spektionsbereitschaft besonders hervorhebt, da sie eine Voraussetzung darstellt, fähig zu sein, die Gegenübertragung im eigenen Inneren überhaupt wahrzunehmen (vgl. Wegner 1992,286 ff.). Meine Arbeitsmethoden, die zum Teil meinen Hypothesen ent­ sprechen, lauten daher, 1) daß einerseits die Modellvorstellung der Gegenübertragung als Erklärungsansatz für die rege Gefühlswelt, in meinem Falle der faszinierenden Wirkung der historischen Figur Kaspar Hauser auf mich, in der Auseinandersetzung mit besonders interessierenden Forschungsfragen dienen kann. 2) daß andererseits Gegenübertragung natürlich auch ohne vorher vonstatten gegangene Übertragung, aus Mangel eines realen, lebenden Gegenübers, entstehen kann. 3) daß durch Projektion eigener Gefühlsanteile auf eine auch historische Person oder auch auf ein Objekt, die mir gleichzeitig eine breite Identifikationsmöglichkeit bieten, wie es im Falle Kaspar Hauser bei mir war, eine Durcharbeitung eigener, durch die Auseinandersetzung aktivierter, zum Teil vorerst noch

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unbewußter Persönlichkeitsanteile, Konflikte und Traumata möglich ist. 4) daß der Abwehrmechanismus der projektiven Identifizierung, eine wesentliche Quelle der Übertragung, umgekehrt werden kann in eine Art introjektive Identifizierung, Quelle der Gegen­ übertragung. Die projektive Identifizierung, ein Abwehr­ mechanismus, der sehr ausgeprägt bei Borderline-Persönlichkeitsstrukturen vorkommt (vgl. Kernberg 1991,51 f.), dient in diesem Zusammenhang auch der Externalisierung schmerzhafter oder aggressiver Persönlichkeitsanteile. Zusätzlich glaube ich aber auch, daß man im Bewußtsein dieses Abwehrmechanismus die projektive Identifizierung gezielt einsetzen kann, um sich eigenen Traumata und den damit in Verbindung stehenden zum Teil unbewußten und schmerzhaften Gefuhlsanteilen vorsichtig anzunähern. Weniger kompliziert ausgedrückt heißt das: Ich erlebe ein reges Interesse für eine bestimmte Person, sie dient mir aufgrund ihres Schicksals, zu dem ich eine Empathie entwickelt habe, als angenehme, faszinierende und willkommene Identifikationsmöglichkeit. Ich projiziere eigene Gefühle auf diese Figur, male mir aus, wie es ihr in bestimmten Lebenslagen gegangen ist. In der intensiven Erforschung und Auseinander­ setzung mit meinen auf diese Figur projizierten Persönlich­ keitsanteilen, unter genauer Beachtung der in mir sich abspielenden Vorgänge während des Prozesses der Identifikation im Sinne der Gegenübertragung, entdecke ich schließlich mich selbst. Ich mache mir dadurch abgespaltene Selbstrepräsentanzen über die Identifizierung mit einem Objekt zu eigen, kehre dadurch die Projektion um. Durch die Analyse meiner projizierten Gefühle kann ich mit ihnen im lustvollen Forschen in einer Art geschütztem Rahmen umgehen lernen und sie schließlich zu, jetzt bewußten, Introjekten machen. 5) daß die psychoanalytische Methode des freien Assoziierens sich auch in diesem Forschungskontext anwenden läßt. Ich bin dabei folgendermaßen vorgegangen. Ich habe mich in der Auseinandersetzung bewußt treiben lassen. Wenn ich auf ein bestimmtes Detail in der Kaspar-Hauser-Geschichte stieß, 28

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vertiefte ich mich in dieses Detail, las darüber nach, forschte nach Querverbindungen, hörte im Sinne der Intro­ spektionsbereitschaft in mich hinein und suchte Entsprechungen zu meiner Biographie. Ich ließ mich im Sinne des freien Assoziierens auf die einzelnen Themen ein, fand so zu interessanten Zusammenhängen und schließlich zu den Themenschwerpunkten der jeweiligen Kapitel. Ein Beispiel: Ich sehe Kaspar als vierjährigen Buben im dunklen Kerker sitzen. Er ist alleine, von der Außenwelt abgeschnitten, ohne jegliche emotionale Zuwendung. Ich spüre in der Identifikation seine abgrundtiefe Verzweiflung, seine Angst, die Unfähigkeit, die Intensität dieser Gefühle zu ertragen. Er überlebt aber trotzdem. Er überlebt diese Hölle, diese Einsamkeit, diese Beziehungs- und Mutterlosigkeit. Ich beschäftige mich mit der Frage, was ihm das Überleben ermöglicht hat. Ich schweife gedanklich durch den Kerker, sehe seine Holzspielzeuge, lese von Kaspars Reaktion auf Holzpferde nach seinem Auftauchen in Nürnberg, lese von seiner Rührung, seiner plötzlichen, absoluten Weltvergessenheit, sehe sein glückseliges Lächeln vor mir. Er hat seine Rosse wieder. War da nicht etwas bei Winnicott, der sich da in seinen Büchern mit Ersatz für die verlorene Mutter beschäftigte? Ich erstehe ein Buch, worin Winnicott seine Theorie vom Übergangsobjekt beschreibt, beginne Textstellen zu sammeln und setze mich schließlich mit einem rohen Konzept des Kapitels vor den Computer. So entstehen durch das freie Assoziieren immer wieder neue Ideen und Denkanstöße, die ich im Folgenden „Spuren“ nennen will, und die ich jeweils in den nun folgenden, eigenen Kapiteln zu bearbeiten versuche. Ich bediene mich also folgender in der psychoanalytischen Begegnung angewandter Prinzipien: der Gegenübertragung als Quelle meines Interesses, der Introspektion, der bewußt eingesetzten projektiven Identifikation und schließlich des freien Assoziierens. Ein weiterer Aspekt spielt zusätzlich eine wichtige Rolie. In der Phase der Introspektion gehe ich zu meinen Gefühlen auf eine ge­ wisse Distanz, nehme meine emotionale Beteiligung etwas zurück. 29

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Dieses Wechselspiel von Beteiligung und Distanz ist eine wesentliche Voraussetzung für die Selbstreflexion, die sich als roter Faden durch diese Arbeit zieht. Ähnliche methodische Ansätze finden wir in der psychoanalytisch orientierten Sozialforschung (vgl. Leithäuser/Volmerg 1988, 209 ff. und ganz aktuell Menschik-Bendele/Ottomeyer 1998, 5 ff), in der Ethnopsychoanalyse (vgl. Reichmayr 1995, 99 ff. und 128 ff.) und auch in der Psychohistorie (vgl. deMause 1989a, 15 ff.). Diese Techniken oder Prinzipien verwende ich nun in diesem, meinem, sehr subjektorientierten, sehr persönlichen, qualitativen Forschungsansatz. Das Ziel ist zwar auch, den historischen Kaspar Hauser und die Gesellschaft seiner Zeit zu verstehen und zu be­ schreiben, hinter diesem Vordergrund ist aber das Ergebnis ein tiefer Selbsterkenntnisprozeß. Ausgehend vom historischen Kaspar Hauser treffe ich nach dem Forschungsprozeß auf meinen Kaspar Hauser in mir, das heißt, ich, das Subjekt, und meine Erlebniswelt werden zum Forschungsobjekt. Ich glaube, daß Freud in ähnlicher Art und Weise in seiner Selbst­ analyse vorgegangen ist, oder als er sich zum Beispiel mit der Statue des Moses von Michelangelo oder mit der Novelle Gradiva des Dra­ matikers Jensen beschäftigte. Auch er näherte sich frei assoziierend diesen Kunstwerken, identifizierte sich mit ihnen, versah sie mit mannigfaltigen Projektionen und erkannte sicher in diesen Arbeiten, auch wenn er es der Sitte der Zeit gemäß vermied, allzu Persönliches mitzuteilen, sich selber (vgl. Gay 1995, 354 ff.). Hier gilt natürlich auch für mich, das richtige Mittelmaß zu finden. Es ist eine Grat­ wanderung zwischen Selbstdarstellung und Versteckspiel, zwischen Offenheit und Rückzug, zwischen Seelenstriptease und Verschlos­ senheit, zwischen Vertrauen und Mißtrauen, die bei jedem Schritt, jeder Assoziationskette neu beachtet werden muß. Ich äußere aber meine Gefühle nicht direkt, stelle autobiographi­ sche Fakten, persönliche, mit Hausers Schicksal korrespondierende life-events nicht offen dar, sondern der Leser wird konfrontiert mit einem bereits eingeleiteten und vonstattengehenden Ver- und Bear­ beitungsprozeß dieser meiner Gegenübertragung, ganz im Sinne des bereits dargestellten instrumenteilen Gegenübertragungskonzeptes. 30

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„Es bleibt auch immer eine sehr persönliche Angelegenheit, wieviel man von seinen Introspektionen der Öffentlichkeit mitteilen möchte. Das ist ins Belieben jeder Autorin und jedes Autors gestellt. Dazu darf es keine Vorschriften geben.“ (Leithäuser/Volmerg 1988,233)

Es geht um sehr intensive Gefühle in dieser Auseinandersetzung, um Trauer, Einsamkeit, Verzweiflung, Angst und Resignation. Die Konfrontation mit diesen Gefühlen wird, wie bereits erwähnt, er­ leichtert durch dem Umweg der projektiven Identifizierung. Das reicht nicht immer aus, um sich vor dem oft schwer erträglichen Schmerz und der aufkeimenden Verzweiflung in der Identifikation mit dem Extremtraumatisierten Kaspar Hauser zu schützen. Andere Mechanismen, die mir erst später, während der Arbeit, zu Bewußt­ sein kamen, spielen natürlich auch eine Rolle, zum Beispiel die Akribie, mit der ich diese so persönliche Forschung betrieb. Fast zwanghaftes, suchtartiges Jedem-Detail-Nachgehen bietet zwar neue Gegenübertragungsausgangspunkte, hilft aber auch, aufkeimende Ängste allzu großer Intensität abzuwehren. Perfektion schafft Sicherheit. In einem späteren Kapitel werde ich auf diese besonderen Phänomene der „traumatischen Gegenübertragung“ eingehen. Diese Arbeit ist und soll sehr subjektiv sein, der historische Kaspar Hauser und seine Umwelt werden zwar genau, dem aktuellen Stand der Geschichtsforschung entsprechend, dargestellt, im Mittel­ punkt stehen aber meine Person und meine Assoziationen, meine Gegenübertragungsgefühle und mein selbstreflexiver Umgang mit diesen Gefühlen. So liegt es auch auf der Hand, daß diese Arbeit lückenhaft ist und nicht alle möglichen Aspekte der Geschichte Kaspar Hausers umspannen kann. Jeder Leser aber ist eingeladen, diesen von ihm als fehlend emp­ fundenen Details nachzuspüren!

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Der Kindesmord

Erste Spur: Lloyd deMause

Kaspar Hausers unbeschwerte Kindheit währt nur sehr kurz. Geboren am 29. September 1812, stirbt er offiziell am 16. Oktober 1812. Der inoffizielle Verlauf seines Schicksals führt ihn aber, wie oben bereits beschrieben, höchstwahrscheinlich zur Familie Blochmann. 1817 wird Prinz Alexander, Kaspar Hausers Bruder, vermutlich ermordet. Wieviele Morde oder Tote rund um das Schicksal Kaspar Hausers noch zu beklagen sind, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, doch scheinen die am Komplott Beteiligten nur wenig Skrupel vor Verbrechen, Brutalität und Tötung gekannt zu haben. Was auch immer die Hintergründe für die Beseitigung der beiden Erbprinzen gewesen sein mögen, für unser heutiges Empfinden sind beide, Kindesmord und Kindesweggabe mit danachfolgender völliger Deprivation, Kapitalverbrechen, die Unverständnis, Wut, aber auch Verleugnung und Verdrängung als Reaktionen hervorrufen. Das war damals zu Hausers Zeiten, Anfang des 19. Jahrhunderts, vermutlich nicht anders. Anselm von Feuerbach beschreibt seine Sicht dieses Verbrechens an Hauser mit folgenden Worten: „Das Unternehmen, einen Menschen durch künstliche Veranstaltung von der Natur und andern vernünftigen Wesen auszuschließen, ihn seiner menschlichen Bestimmung zu entrücken, ihm alle die geistigen Nahrungsstoffe zu entziehen, welche die Natur der menschlichen Seele zu ihrem Wachsen und Gedeihen, zu ihrer Erziehung, Entwicklung und Bildung angewiesen hat: solches Unternehmen ist, ohne alle Rücksicht auf seine Folgen, an und für sich schon der strafwürdigste

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Der Kindesmord

Eingriff in des Menschen heiligstes, eigenstes Eigentum, in die Freiheit und Be­ stimmung seiner Seele.“ (Hörisch 1994, 147)

Ob Feuerbachs Empörung aber tatsächlich der Meinung der Zeit entspricht und wie vielen Menschen seiner Zeit diese Fähigkeit des Einfuhlens auch vertraut war, bleiben offene Fragen. Man könnte nun weiters meinen, daß es sich hierbei um ein äu­ ßerst seltenes, einmaliges Verbrechen handelt, wo sehr verdorbene Menschen ganz ohne Skrupel Kinder, die ihren Machtbestrebungen im Wege stehen, einfach wegräumen. Nur - so selten war das wohl nicht. Lloyd deMause, Begründer der Psychohistorie, versucht anhand historischer, demographischer Daten nachzuweisen, daß es in der Geschichte immer wieder, jedoch in verschieden starkem Ausmaß in Gesellschaften die Tendenz gab, Kinder zu töten. Dieser Infantizid, also das Töten von Kindern, war aber nie geschlechtsneutral, was er anhand statistischer Daten beweist. Diese Daten zeigen ein starkes Ungleichgewicht zu Ungunsten des weiblichen Geschlechtes. So ka­ men zum Beispiel in Florenz im 15. Jahrhundert auf 100 Mädchen 125 Buben, oder in York in England im 16. Jahrhundert auf 100 Mädchen 136 Knaben (vgl. deMause 1989a, 77). Bei allem Vorbe­ halt gegenüber der Genauigkeit dieser Zahlen, zeigt doch die Ge­ samtheit aller vorhandenen Daten diese deutliche Tendenz der Ge­ schlechtsdifferenz. Aber Lloyd deMause zählt auch Beispiele aus dem alten Griechenland auf, in denen oft noch viel krassere Geschlechterverhältnisse zu Tage treten, bis zu 4:1. Dafür gibt es, liest man bei deMause weiter, keine natürliche Erklärung. Zusätzlich jedoch zur damit historischen Tatsache des verbreiteten Kindesmordes, wurden immer mehr Mädchen als Knaben nach der Geburt umgebracht, beziehungsweise in den ersten Lebenswochen und Monaten so schlecht behandelt oder vernachlässigt, daß sie starben. Dieser selektive, geschlechtsspezifische Kindesmord ist, glaubt man den Daten und Untersuchungen von deMause und anderen, die er zitiert, eine eindeutig belegbare, historische Wahrheit, die sich von der Antike bis zum Mittelalter zieht und erst ab dem 17. Jahrhundert allmählich 34

Der Kindesmord

abnimmt. Es gab in der Antike und im Mittelalter auch Zeiten, in denen fast ein Drittel aller Neugeborenen getötet wurde, und hier wurde wiederum ungefähr ein Drittel mehr Mädchen getötet, wie computerunterstützte Schätzungen ergeben. Die Gründe dafür waren verschiedene: allgemeine Armut, Vermeidung von Besitzteilung, Unehelichkeit von Kindern und verschiedene unbewußte oder nur vorbewußte Gründe als Resultat verdrängter Traumata der Bezugspersonen. In der Familie der Zähringer verhielt es sich aber etwas anders, es kam hier zwar auch zu einem geschlechtsspezifischen Infantizid, je­ doch die Knaben betreffend. Der kleine Blochmann, stellvertretend für Kaspar, und Alexander mußten sterben, die Mädchen, Kaspars Schwestern (Luise, Josephine, Marie) wurden verschont. Sie waren ja auch von der Thronfolge ausgeschlossen. Auch wenn die Tragödie um Kaspar Hauser sich am Beginn des 19. Jahrhunderts abspielte, als also Infantizid bereits im Abnehmen begriffen war, hatte sich die Atmosphäre vergangener Jahrhunderte im Karlsruher Schloß wohl offensichtlich länger erhalten. Noch war es normal, daß die Mütter nach der Geburt ihre Kinder kaum zu Gesicht bekamen, sondern gleich Hebamme und Amme die Pflege übernahmen, sodaß kaum eine symbiotische Beziehung zwi­ schen Mutter und Kind entstehen konnte. Auch bei der plötzlichen, lebensbedrohlichen Erkrankung des vermeintlichen Erbprinzen wol­ len oder können es Mutter und Amme nicht durchsetzen, sich Zu­ gang zum Kind zu verschaffen. Auch Großherzog Karl scheint nicht wirklich Anteil am Schicksal seines Sohnes zu nehmen. Das Kind wird ohne Identifizierung begraben. Frau Blochmann gibt ihr Kind her, tauscht es gegen ein anderes aus, vielleicht auf Druck des Hofes. Hennenhofer schlägt dem kleinen Blochmann auf den Hinterkopf, wie man damals einen Hasen zu töten pflegte, und das Baby wird sterbend statt Kaspar ins Bettchen gelegt. Drei Tage dauert dessen Martyrium. Aus Gier auf den Thron wird 1817 der kleine Alexander umgebracht. Der Umgang mit Kindern am Hofe Baden erinnert also sehr an mittelalterliche Gepflogenheiten. Ein weiteres, unverständliches Detail: Zwölf Jahre lang ist später der Förster Richter, von allen als ehrbarer und aufrechter Mann be35

Der Kindesmord

schrieben, fähig, Kaspar im dunklen Verlies zu wissen und zu ver­ sorgen. In seinen Büchern skizziert Lloyd deMause nun die Atmosphäre, in der die Kinder aufwuchsen. In einer Lebensphase, in der Kinder hilflos sind, auf das Wohlwollen der Umgebung absolut angewiesen sind, Sicherheit und Geborgenheit brauchen, gab es also Gesellschaften und Zeiten, in denen jedes vierte Kind umgebracht wurde. Und er fordert auf, sich vorzustellen und auszumalen, wie es den anderen und überlebenden Kindern gelang, trotz dieser kinderfeindlichen und ständig lebensbedrohlichen Atmosphäre in den ersten Lebensmonaten doch noch zu lebensfrohen Menschen heranzuwachsen, wenn schon in den ersten Lebensphasen die vielleicht wichtigsten Faktoren der Lebensqualität, nämlich Sicherheit und Geborgenheit, fehlten. Zusätzlich beschreibt Lloyd deMause in seiner Geschichte der Kindheitserziehung noch die zum Teil grausamen Erziehungsprakti­ ken, die körperlichen Mißhandlungen, Vernachlässigung, Fehlen jeglicher emotionaler Wärme und Unsicherheit und Verzweiflung als alltägliche Gefühle in den ersten Lebensjahren. Daß ein solcher Kindheitsmodus, wie deMause das hervorste­ chendste Charakteristikum im Umgang mit Kindern nennt, natürlich Auswirkungen auf die kindliche Psyche hat, den Charakter formt und gleichzeitig Ursache vieler, kaum verarbeitbarer Kindheitsängste sein kann, liegt auf der Hand. Menschen, die als Kinder denselben Kindheitsmodus erlebten und überlebten, bezeichnet deMause als Psychoklassen. „Psychoklassen sind Gruppen von Menschen mit dem gleichen Kindheitsmodus in­ nerhalb einer bestimmten Bevölkerung.“ (deMause 1989a, 95) Das sind also jene Menschen, die einen bestimmten Erziehungsstil, ein bestimmtes Verhalten der Eltern und Erwachsenen ihnen als Kinder gegenüber erlebt haben und in Situationen, in denen sie nun über das Wohl von Kindern entscheiden können, meist unbewußt danach trachten, diesen Kindern dasselbe anzutun, um den eigenen Schmerz und die eigenen Ängste nicht zulassen zu müssen. Fünf Hauptgruppen von Arten der Kinderbehandlung oder fünf Erziehungsformen postuliert deMause in seinen Büchern, die er, wie 36

Der Kindesmord

bereits erwähnt, als Kindheitsmodi bezeichnet. Diese werden als „Kindesmord, Weggabe, Ambivalenz, Intrusion und Sozialisation“ bezeichnet, ein sechster Modus kommt noch dazu, der der „Unterstützung“, jedoch gibt es nach deMause noch keine Erwach­ senen, die in den Genuß dieser Erziehungsform gekommen sind (vgl. deMause 1989a, 57). Der Modus Unterstützung wäre nach deMause geprägt durch eine Einstellung der Eltern, die deMause folgendermaßen charakterisiert: „Wir lieben dich und werden dir helfen, deine Ziele zu erreichen.“ (deMause 1989a, 57) Jeder dieser nur zum Teil historischen Phase von Kindesbehand­ lung entspricht wiederum ein größtenteils unbewußter Wunsch der Eltern oder Bezugspersonen in bezug auf ihre Kinder, bestimmte hi­ storische Manifestationen, eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur der Kinder, die diesen Erziehungsstil erlebten; daß sich diese Atmo­ sphäre, die Kinder in ihren ersten Jahren erlebten, wiederum auf ih­ ren Umgang mit Kindern auswirkte, liegt auf der Hand. Wie ist nun deMause auf diese Persönlichkeitstypen und die ver­ schiedenen Kindheitsmodi gekommen? Mit einem Team, bestehend aus zehn Psychohistorikern, untersuchte deMause Hunderte von Do­ kumenten und Erzählungen zum Thema Kindheitserziehung und veröffentlichte schließlich im Jahre 1974 ein Buch über die Ge­ schichte der Kindheit. (deMause 1989b) In diesem Buch schließt deMause von dem, was Kinder in ihrer primären Sozialisation in ei­ ner Gesellschaft erlebt haben, auf die Struktur, die Atmosphäre und die Lebensqualität in eben dieser Gesellschaft. „Es dürfte inzwischen kein Zweifel mehr daran bestehen, daß die Geschichte der Kindheit für das Studium der menschlichen Gesellschaft von höchster Bedeutung sein muß, denn wenn, wie es heißt, das Kind der Vater des erwachsenen Menschen ist, müßte es möglich sein, durch das Verstehen der Vergangenheit eines Individuums oder einer Gruppe zu einem klügeren Urteil über die Erwach­ senenphase des Individuums wie der Gruppe zu gelangen“, schreibt William L. Langer in seinem Vorwort. (deMause 1989b, 7)

Lloyd deMause nimmt also eine Variable heraus, nämlich das Schicksal von Kindern in einer Gesellschaft, beschreibt sie akribisch

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Der Kindesmord

und schließt dann auf die Lebensqualität und das erlebbare Glück aber auch auf die psychische Struktur der Erwachsenen in dieser Ge­ sellschaft. Warum sollte man auch nicht Parameter wie Art der Kin­ dererziehung, Prügelstrafe, Kindesmord, Vernachlässigung oder das Ausmaß an Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit, das Eltern oder Bezugspersonen ihren Kindern zu geben imstande sind, heranziehen, um eine Gesellschaft zu charakterisieren? Noch einfacher ausge­ drückt: Die Stellung, die dem Kind innerhalb einer Gesellschaft zu­ teil wird, beschreibt die Gesellschaft. Wer die Erkenntnisse der Psychoanalyse und Entwicklungs­ psychologie kennt, für den ist es ja ohnehin selbstverständlich, daß frühkindliche Erfahrungen einen bestimmenden Einfluß auf den Er­ wachsenen und seine Wünsche und Bedürfnisse haben und damit auch auf die Gesellschaft, die sich ja aus diesen ehemaligen Kindern rekrutiert. Denn jene ehemaligen Kinder wiederum bestimmen und formen die Normen, Gesetze und Bedürfnisse ihrer Gesellschaft. Zur genaueren Illustration dieser Thesen habe ich nun einen der bereits erwähnten Parameter herausgenommen, nämlich den Kindes­ mord, mit dem sich Lloyd deMause sehr intensiv beschäftigt. Am Beispiel des Kindheitsmodus „Kindesmord“ will ich zeigen, wie weitreichend die Schlußfolgerungen von deMause sind. Es gab und gibt also Kinder, die in einer ständigen, latent oder manifest lebensbedrohlichen Atmosphäre heranwachsen müssen. Sie spüren den unbewußten Wunsch der Mutter: „Ich wünschte, du wärest tot, um mir die Angst zu nehmen, von meiner Mutter getötet zu werden.“ Als historische Manifestationen finden sich Kindesopfer und Kindesmord, Unduldsamkeit gegenüber kindlichem Zorn, Verhärtung, Glauben an Geister und Magie, Handel und Sodomie mit Kindern. Diese Praktiken und diese Atmosphäre haben nun wiederum massive Auswirkungen auf die Persönlichkeitsstruktur der Kinder. Dem Kindheitsmodus des Kindesmordes entspricht die gespaltene Persönlichkeit, charakterisiert durch Primär-ProzeßDenken, symbiotische Omnipotenz, Verwirrung im Bereich der Zugehörigkeit, Spaltung und projektive Identifikation als Abwehrmechanismen und sadomasochistische Störungen. Als Hauptgruppenphantasie dieser Psychoklasse herrscht die 38

Der Kindesmord

Verwandtschaftsmagie, als zentrales Reinigungsritual sind magische Opferungen an die Vorfahren als Befreiungsversuch von kindesmörderischen Ängsten zu beobachten. Diese Psychoklasse projiziert das Es in magische Objekte und Geister, und ihre „Seele wäre ruhig, wenn nur jeder den Sippengesetzen gehorchte, die die Sexualität und die Gewalt regulieren“ (vgl. deMause 1989a, 57 f. sowie deMause 1987, 258). Ähnliche Szenarien und Beschreibungen entwickelt deMause nun neben dem Kindesmord auch für die anderen Kindheitsmodi. Bei uns in Mitteleuropa ist Infantizid eine historische Tatsache, in Indien aber zum Beispiel sind geschlechtsspezifischer Kindesmord und Abtreibung weiblicher Feten eine noch heute weit verbreitete Praxis, die mit dem Brauch der für die Brautfamilien oft ruinös ho­ hen Mitgiftforderungen begründet wird (vgl. Bumiller 1990, 101 ff.). Welche Auswirkung die Persistenz dieses Kindheits­ modus auf die Kinder, vor allem Mädchen aber auch für die gesamte Gesellschaft Indiens hat, wäre eine äußerst interessante psychohistorische Forschungsfrage. Hier schließt sich nun der Kreis der Forschungsergebnisse von deMause. Jede Erziehungspraktik einer Gesellschaft erzeugt indivi­ duelle Ängste unterschiedlichen Ausmaßes. Diese können nun intra­ individuell abgewehrt werden, oder sie werden in der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse, zum Beispiel in der Erziehung, wirksam und haben daher großen Einfluß auf die Gesellschaft, die sich ja aus den ehemaligen Kindern rekrutiert. Auch wenn die Methoden von deMause für die uns bisher ver­ traute Form der Geschichtsforschung fremdartig erscheinen mögen, so sind doch seine Ergebnisse und Hypothesen spektakulär. Und in diesem Zusammenhang wird nun auch ein ganz besonders wichtiges Moment dieser Art qualitativer Forschung sichtbar, die persönliche Betroffenheit, die ja so lange in der Forschung verpönt war. Der psychohistorische Zugang zur Geschichte und Gesellschafts­ entwicklung stellt aber genau das in den Mittelpunkt, man versucht zu ergründen, -wie sich ein Individuum in einer bestimmten geschichtlichen Phase, konfrontiert mit ganz bestimmten gesell­ schaftlichen Phänomenen, fühlt, und was, an Ängsten und 39

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Sehnsüchten in ihm gespeichert, auch für die Gesellschaft -wirksam -wird. Postuliert man aber eine Evolution und stetige Veränderung der Gefühle von Menschen im Lauf der Jahrhunderte, wie deMause es tut, so tut man sich mit der konsequenten Umsetzung dieser Forde­ rung etwas schwer. Man wird es wohl nie schaffen, tatsächlich das zu erahnen, was zum Beispiel Kaspar Hauser im Kerker fühlte, es wird immer Spekulation und Interpretation bleiben. Was man aber erleben kann in der Identifikation mit Kaspar Hauser, ist eine Idee von den Gefühlen, die man selber in dieser Situation erleben würde, also die Gegenübertragungsgefühle. Und darum geht es mir ja, wie bereits im zweiten Kapitel ausführlich beschrieben, in diesem Buch. Nun sind wir im Schicksal Kaspar Hausers mit Kindesweggabe, Kindesmord, überhaupt mit einem Umgang mit Kindern konfrontiert, den man nach deMause nicht einfach auf bloßes Streben nach Macht und im besonderen Fall als Streben nach dem Thron im Großherzogtum Baden reduzieren kann. Folgt man den Spuren von deMause, so entstanden diese Verbrechen aus den Erfahrungen, die die Beteiligten wohl in ähnlicher Weise in ihrer eigenen Kindheit machten. Denn wer kann Kinder (den kleinen Blochmann und Prinz Alexander) töten, oder ein Kind gegen ein anderes vertauschen, um es danach zwölf Jahre lang ab seinem vierten Lebensjahr bei Wasser und Brot in völliger Dunkelheit vor sich hin dämmern zu lassen? Diesen Umgang mit Kindern kann man meines Erachtens nicht allein mit Ränken um die Thronfolge erklären. Nehmen wir an, die an diesen Verbrechen Beteiligten wuchsen selbst in einer absolut kindfeindlichen Atmosphäre auf, fühlten sich ständig bedroht und konnten nicht in einem kindgerechten Klima von Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit zum Individuum heran­ reifen. Jede ihrer kindlichen Entwicklungsphasen, auf die ich in ei­ nem anderen Kapitel eingehen will, wurde durch Bedrohung, Liebesentzug, Vereinsamung und vor allem multiple Ängste gestört. Eine Ich-Reife, die den anderen, das Gegenüber, akzeptieren, respektieren und in allen Eigenheiten tolerieren kann, wurde nicht erreicht. Jede Lebensphase mit ihren phasenspezifischen Konflikten 40

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und möglichen Konfliktlösungen wurde durch eine absolut lebensbe­ drohliche Atmosphäre geprägt, die eine solche Konfliktlösung von vornherein verhinderte oder zumindest empfindlich störte. Eine gesunde Entwicklung war also nicht möglich. Die Bedürftig­ keit und Sehnsucht aber nach Erfüllung narzißtischer Bedürfnisse, „einmal auf dem Thron zu sitzen“, danach, endlich das zu kriegen, was man eigentlich in der jeweiligen, individuellen Entwicklungs­ phase gebraucht hätte, bleibt ein Leben lang erhalten und bestimmt das Verhalten in einer Gesellschaft. Unbewältigte, persönliche Konflikte finden aber in der Gesell­ schaft oft nur Pseudolösungen, Pseudoheilungen, mittels verschiede­ ner Mechanismen werden eigene Bestrebungen zufriedengestellt, in­ nere Konflikte werden nach außen verlagert, narzißtische Defizite und Bedürfnisse werden mit Hilfe aggressiver Akte kompensiert. Dadurch wird der primär intrapsychische Konflikt auch zu einem interpersonellen, also gesellschaftlichen. Das ist einleuchtend, ist doch der Mensch auch ein soziales Wesen, das in der Auseinander­ setzung und in der Aggression (im Sinne des Aufeinander-Zugehens) mit anderen Menschen reift. Stavros Mentzos stellt in seinem Buch „Der Krieg und seine psy­ chosozialen Funktionen“ (Mentzos 1993) die Überlegung an, ob sich Nationen nur den Krieg erklären, weil sie sich direkte oder indirekte ökonomische oder machtpolitische Vorteile erhoffen, oder ob nicht auch psychosoziale Faktoren eine vielleicht größere Rolle spielen, das heißt, der Krieg eine psychosoziale Funktion hat. „Die Menschen haben über Jahrtausende hinweg durch den Krieg nicht nur ihre realen Interessenkonflikte (mehr schlecht als recht) zu lösen versucht, sondern gleichzeitig mit seiner Existenz ihre Wertsysteme mitgeprägt, ihre inneren Konflikte extemalisiert, ihre narzißtischen Defizite kompensiert, ihre Identitätskrisen bekämpft, ihre Depressivität pseudokuriert, ihre heldischen Ideale geformt und ihre Sinnlosigkeitsgefühle überspielt.“ (Mentzos 1993, 12)

Wie bereits erwähnt, postuliert Mentzos, daß Kriege nicht nur Interessenskonflikte lösen, sondern auch psychische Bedürfnisse der unterschiedlichsten Art befriedigen sollen. Diese Bedürfnisse 41

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entstehen aus einem von Mentzos als „Grundkonflikt“ bezeichneten intrapsychischen Spannungsfeld, und zwar aus dem Konflikt des Bedürfnisses des Kindes nach Nähe (Objektbezogenheit, Bindung) und Autonomie (Selbstbezogenheit, Distanz) (vgl. Mentzos 1993,65 ff.). Unter Konflikt wiederum versteht Mentzos einen eindeutigen Gegensatz von Motivationen und Absichten, die sich nicht flexibel gegenüberstehen, sondern wirklich starre Fronten bilden, sodaß es zu starren Fixierungen kommt. Wenn nun die Bipolarität zwischen Autonomie- und Bindungsstreben aufgrund einer Traumatisierung durch ungünstige Verhältnisse zu einem Konflikt erstarrt ist, so kann dies nach der psychoanalytisch orien­ tierten Entwicklungspsychologie zwei extrem entgegengesetzte Formen annehmen: Das Kind (und damit der spätere Erwachsene) kann entweder äußerst selbstbezogen und rebellisch werden und jede Objektbeziehung ablehnen, oder aber es gewinnt unter Aufgabe von Autonomie und Selbstwertgefuhl durch übertriebene Anpassung und Gehorsam die Liebe der Eltern. Auf diese Weise entstehen Dispositionen und Handlungsbereitschaften, die von großer Bedeutung für die Kommunikation, Austragung von Konflikten, Aufnehmen von Beziehungen usw. sind. Das heißt, es ist zwar dem Kind mittels verschiedener Kompensationsmechanismen und Reaktionsbildungen gelungen, doch noch irgendwie heranzureifen, doch letzten Endes bestimmt der Entwicklungsstop im Grundkonflikt jede Interaktion mit der Umwelt. So wird es klar, daß dieser primär intrapsychische Konflikt nun auch eine interpersonelle, also gesellschaftliche Dimension erhält, indem das Individuum in der Gesellschaft, in der Familie, im Staat seinen zentralen Konflikt zu lösen hofft, zum Beispiel durch Unterdrückung und Unterwerfung des Schwächeren, um eigene Größe zu erleben. Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, mit den Traumatisierun­ gen der frühen Kindheit umzugehen. Bei jedem unbewußten Ausa­ gieren eigener frühkindlicher Traumata handelt es sich aber um Schiefheilungen, wie schon Freud solche Pseudolösungen und psy­ chosozialen Arrangements innerpsychischer Konflikte nennt (vgl. Freud 1993, 104). Diese werden aber immer, da der Mensch ein so­ ziales Wesen ist, auch seine Umgebung mitbeeinflussen, denn der 42

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schwer traumatisierte Mensch neigt dazu, im Miteinander diese Konfliktsituationen zu lösen. Diese Lösungsansätze bleiben aber Schiefheilungen, weil sie nicht auf einer bewußten Durcharbeitung der kindlichen Traumata beruhen. Nebenbei sei erwähnt, daß sich Mentzos im vorliegenden Buch von der Theorie der endogenen Aggressivität des Menschen verab­ schiedet. Vielmehr sieht er die Aggression als ein notwendiges Ver­ haltensmuster, um schon verzweifelnd doch noch zu einer (Pseudo-) Befriedigung individueller Sehnsüchte und Bedürfnisse zu kommen (vgl. Mentzos 1993, 78 ff.). Ich finde diese Tendenz in seinem Buch interessant, nämlich weg vom bösen, endogen aggressiven Menschen (Stichwort: angeborener Aggressionstrieb), hin zum Menschen, der nach mehrmaliger und langjähriger Frustration Aggressivität als reaktives Verhaltensmuster einsetzt, um doch noch seine Sehnsüchte und Bedürfnisse (oft nur scheinbar) befriedigt zu sehen (vgl. Mentzos 1993, 85). Schauen wir uns noch einmal nach dem bisher Gesagten das Ver­ gehen an den drei Kindern, Kaspar, Alexander und dem kleinen Blochmann an. In diesem Zusammenhang sind diese Handlungen al­ so weniger als Ausdruck endogener Aggression zu deuten, und auch machtpolitische Bestrebungen reichen nicht aus, um die Beweg­ gründe zu solchem Handeln zu verstehen, es muß für die am Kom­ plott Beteiligten ein großes, innerpsychisches, unbewußtes Bedürf­ nis gewesen sein, sich so zu verhalten. Ich gehe davon aus, daß intrapsychisch unbearbeitete Ängste zu diesem unmenschlichen Umgang mit den Kindern führten. Omnipotenzgefühle (Ich bestimme, wer überlebt und wer nicht), Spaltung (Ich mache das ja alles nur meinen eigenen Kindern zuliebe), projek­ tive Identifikation (Ich bekämpfe meine eigenen frühkindlichen Be­ dürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit, indem ich sie dem an­ deren vorenthalte), Abspaltung (Ich nehme den Schmerz der mißhandelten Kinder nicht wahr), Verdrängung (Ich kann mich an meine eigenen frühkindlichen Traumata nicht mehr erinnern) oder Rationalisierung (Nur auf diese Art werden die Hochbergs Großherzog) könnte man denen, die die Kinder vertauschten bzw. ermordeten, als Abwehrmechanismen ihrer eigenen übergroßen und 43

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unbewältigten Angst, ein Resultat ihrer Erziehung, unterstellen. Die starren Fronten ihres Konfliktes, vielleicht nicht unähnlich den Fronten des Konfliktes von Autonomie versus Bindung, die Mentzos als Ursache von Kriegen postuliert, wurden so erträglich. Wie Mentzos den Krieg als eine ich-stabilisierende Pseudolösung innerpsychischer Konflikte interpretiert, so glaube ich auch den Krieg gegenüber Kaspar Hauser in diesem Licht sehen zu müssen. Der unschuldige Kaspar wird zum Spielball nicht nur machtpoliti­ scher Bestrebungen, sondern zum Mittel, innere unverarbeitete Traumata an ihm auszuleben. Es kommt aber zum dynastischen Verbrechen und dem Verbre­ chen am Seelenleben Kaspar Hausers ein weiteres hinzu, das Verbrechen der ganzen damaligen Gesellschaft im Umgang mit den den Erwachsenen ausgelieferten und von ihnen abhängigen Kindern. Daß nämlich eine weitere Möglichkeit einer solchen Schiefheilung die Art der Erziehungspraktiken, die eine Gesellschaft gegenüber ihren Kindern anwendet, sein kann, die aber gleichzeitig auch nur eine solche Pseudolösung eigener, innerer Konfliktkonstellationen ist, wird das Kapitel über „schwarze Pädagogik“ zeigen. Mit einer letzten Frage will ich mich in diesem Kapitel noch be­ schäftigen, nämlich wie nun diese, durch die jeweiligen Kindheits­ modi bedingten psychoklassenspezifischen Ängste von Generation zu Generation, von den Eltern auf ihre Kinder weiter gegeben wer­ den? Welche Mechanismen wenden Erwachsene an, um „gedankenlos und oft grausam die Abhängigkeit des Kindes auszubeuten, indem sie es für die psychologischen Schulden bezahlen lassen, die andere bei ihnen hinterlassen haben, und indem sie es zum Opfer der Spannungen machen, die sie in sich selber oder in ihrer Umgebung nicht zum Ausgleich bringen können oder wollen“? (Erikson 1994, 122)

Auch darauf gibt deMause eine Antwort. Wenn ein Erwachsener einem Kind gegenübersteht, das bestimmte Bedürfnisse hat, so hat der Erwachsene nach deMause drei mögliche Reaktionen zur Verfü­ gung. Er kann erstens das Kind als Vehikel für die Projektionen von Inhalten seines eigenen Unbewußten benutzen (projektive Reaktion), 44

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er kann zweitens das Kind als Substitut für eine Erwachsenenfigur benutzen, die in seiner Kindheit wichtig war (Umkehr-Reaktion), und schließlich kann er drittens versuchen, sich in die Bedürfnisse des Kindes einzufühlen und diese zu befriedigen suchen (empathische Reaktion). Bei den ersten beiden Reaktionen stehen natürlich die Bedürfnisse des Erwachsenen im Vordergrund, im Sinne der bereits erwähnten Schiefheilung eigener innerpsychischer Wünsche, Bedürfnisse und Konflikte, wird das Kind mit multiplen Projektionen besetzt und als Möglichkeit für Triebaufschub oder Triebbefriedigung benutzt. Empathische Reaktion bedeutet hingegen die Fähigkeit, sich in kindliche Bedürfnisse einzufühlen, sie von ei­ genen Bedürfnissen zu unterscheiden, um sie schließlich zu erfüllen (vgl. deMause 1989b, 20 f.). Die Eltem-Kind-Beziehungen ent­ wickeln sich aber, und immer besser gelingt es nach deMause Eltern, sich in kindliche Bedürfnisse hineinzufühlen, also empathisch zu reagieren. Dadurch kommt es nun von Generation zu Generation zu Veränderungen der Persönlichkeits- und Charakterstruktur von Menschen, was wiederum, viel stärker als Ökonomie oder Technologie, gesellschaftliche Veränderungen bewirkt (vgl. deMause 1989b, 14 ff.). Auch Horst-Eberhard Richter setzt sich in seinem 1963 erstmals veröffentlichten und schon zum Klassiker psychoanalytischer Litera­ tur gewordenen Buch „Eltern, Kind und Neurose“ (Richter 1995) mit den Auswirkungen der Persönlichkeitsstruktur von Eltern und dem affektiven Erziehungsklima auf die Entwicklung von Kindern auseinander. „Die Rolle des Kindes in der Familie, bestimmt durch die affektiven Bedürfnisse der Eltern, ist das Hauptthema dieses Buches. Je mehr Eltern unter dem Druck eigener ungelöster Konflikte leiden, umso eher pflegen sie - wenn auch unbewußt - danach zu streben, dem Kind eine Rolle vorzuschreiben, die vorzugsweise ihrer eigenen Konfliktentlastung dient. Ohne sich darüber recht klar zu sein, belasten sie das Kind mit den unbewältigten Problemen ihres Lebens und hoffen, sich mit seiner Hilfe ihr Los zu erleichtern“, schreibt Richter in seiner Einleitung. (Richter 1995, 16)

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Wie machen das nun Eltern konkret? Folgende Modelle typischer Wirkungsmechanismen traumatischer Eltemeinflüsse postuliert Richter (vgl. Richter 1995, 53 ff):

1) Elterliche Einschüchterung fördert pathogene Triebunter­ drückung. Kindliche Triebimpulse werden aus Angst vor mit Liebesverlust drohenden Eltern (Über-Ich-Angst) radikal unter­ drückt. 2) Elterliche Verführung fördert pathogene Triebstimulation. Bestimmte Triebimpulse werden beim Kind vorzeitig durch Erlebnisse mit Verführungscharakter erweckt. Man denke nur an die katastrophale Auswirkung von sexueller Gewalt auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern. 3) Elterliche Gleichgültigkeit dem Kind gegenüber und unreflek­ tierte Interaktion mit dem Kind wirken sich nicht nur schädigend auf die psychische Instanz „Es“ aus, sondern behindern auch die Reifung des Ichs. 4) Durch aktive pathogene Imitations- und Identifikationsleistungen seitens des Kindes werden elterliche Verhaltensweisen und Symptome übernommen, die nun das Kind in seiner Reifung behindern. Richter läßt es dahingestellt, inwiefern auch hier nicht doch auch unbewußte Verführung der Eltern die treibende Kraft darstellt. Richters Hauptaussage betrifft aber die unbewußten Rollenzuwei­ sungen seitens der Eltern, die einerseits auf dem Phänomen „Übertragung“ (das Kind wird zum stellvertretenden Repräsentanten einer Figur aus dem biographischen Hintergrund der Eltern, auf die der Figur aus der Vergangenheit entsprechende Gefühle übertragen werden) andererseits auf dem Mechanismus der „narzißtischen Pro­ jektion“ (das Kind wird zur Projektionssfläche und damit zum Träger der Gesamtheit oder von Teilaspekten des elterlichen Selbst) beruhen. Er unterscheidet folgende Rollen (vgl. Richter 1995, 81):

1) Das Kind als Substitut für einen anderen Partner (Elternfigur, Gatten-Substitut, Geschwisterfigur). 46

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2) Das Kind als Sustitut für einen Aspekt des eigenen Selbst (als Abbild des eigenen Selbst schlechthin, als Substitut des idealen Selbst oder der negativen Identität).

Es gibt wesentliche Punkte, in denen deMause und Richter übereinstimmen, denn beide versuchen zu erklären, wie unbewältigte Ängste von Menschen über Generationen fortwirken, indem Eltern mit und an ihren Kindern eigene unbewußte Konflikte ausleben. Diese transgenerationale Weitergabe psychischer Strukturen be­ schäftigt auch die Autoren Steck und Bürgin in ihrem Artikel „Über die Unmöglichkeit zu trauern bei Kindern trauerkranker Eltern“ in der Zeitschrift „Kinderanalyse“ (Steck/Bürgin 1996,351 ff.). Sie setzen sich mit dem Sonderfall unvollständiger Trauerarbeit bei trau­ matisch erlebten Verlusten auseinander und wie diese pathologische Trauer auch in der nächsten Generation fortwirkt. Das verlorene Lie­ besobjekt wird nicht in einem Trauerprozeß verabschiedet, sondern wird kompensatorisch in Verleugnung des Verlustes in einer Krypta, einer abgespaltenen Zone des Ich, verborgen gehalten. Die Aufnahme dieses nun im Inneren versteckten Abbildes des Liebesobjektes erfolgt mittels des Intemalisierungsprozesses der Inkorporation. „Die Inkorporationsphantasie, die zur Kryptenbildung führen kann, erlaubt eine Kontinuitätsbindung an das Objekt, von dem sich das Subjekt dadurch scheinbar nicht zu trennen braucht. Der Schmerz über das fehlende Objekt wird auf diese Weise gelindert. Inkorporationsphantasien dienen dazu, sich den wirklichen Schmerz der Wunde, die das Subjekt nicht vernarben lassen kann, nicht einzugestehen, ihn nicht wahmehmen zu müssen.“ (Steck/Bürgin 1996,356)

Im Kontakt dieser trauerkranken Eltern mit ihren Kindern wird diese Krypta als ausgeblendeter Interaktionsbereich abgebildet und das Liebesobjekt gerade durch die Verleugnung des Verlustes auf die nächste Generation weitergegeben, wo es als Phantom weiterwirkt. Entwickelt der Phantomträger Symptome, erlebt er sie als sehr ichdyston, weil sie ja ohne Bezug zur eigenen Geschichte als unbe­

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wußte Erbschaft im Inneren verborgen sind, die Auswirkungen des Phantoms jedoch sind für den Betroffenen kraftraubend und entwicklungshemmend. Anhand der Geschichte vom Gespenst von Canterviile von Oscar Wilde beschreiben Bürgin und Steck auf amüsante und eindrucksvolle Weise das Schicksal eines fiktiven Phantoms und machen dadurch das doch schwierig zu verstehende theoretische Konzept lebendig und anschaulich (vgl. Bürgin/Steck 1996, 362 ff.). Am klarsten aber stellt meines Erachtens die moderne Bindungs­ theorie diese Weitergabe unverarbeiteter Traumafolgen von einer Generation zur nächsten dar. Ganz spezifische, pathologische Mutter-Kind-Interaktionen wirken sich verheerend auf die Bindung des Kindes zur Mutter und damit auf seine Entwicklung aus (vgl. Köhler 1998, 372 ff.). Interessant wäre es, sich das Haus Baden in Bezug auf Auffällig­ keiten betreffend transgenerational weitergegebener psychischer Strukturen anzuschauen, weil hier nie eingestandene und damit be­ trauerte Verbrechen an Menschen begangen wurden, die vielleicht auch heute noch als Phantome in den Nachkommen Kaspar Hausers herumspuken. Nach dem Tod Kaspar Hausers wurden ja einige seiner vermuteten Verwandten psychisch auffällig, so wird von Ludwig von Baden, dem ältesten Sohn des Großherzogs Leopold erzählt, er sei geisteskrank gewesen und hätte auf dem Boden kniend seine Bekannte, die Herzogin Hamilton, gebeten, ihm endlich die Geschichte von Kaspar Hauser aus dem Kopf zu nehmen (vgl. Mayer 1984, 750). Von Leopold selbst wird geschrieben, er sei der Trunksucht verfallen und verzweifelt mit einem Bild Kaspar Hausers in Händen verstorben (vgl. Leonhard 1994, 353 f.). Zusammenfassend ist also zu sagen, daß es verschiedene Konzepte gibt- ich habe in diesem Zusammenhang nur vier erwähnt -, auf die ich während der Auseinandersetzung mit Kaspar Hauser gestoßen bin, mit denen versucht wird zu erklären, wie Eltern die Entwicklung ihrer Kinder pathologisch beeinflussen, mit dem (unbewußten) Ziel, eigene unerledigte Konflikte und Ängste im Sinne einer Schiefheilung zu kurieren.

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Der Kindesmord

Auch Kaspar Hauser geriet in die Hände einiger, deren Wunsch nach persönlicher Entlastung so groß war, daß sie ihn für Ihre Ziele benutzten. Aber auch heute können noch die verschiedenen Theori­ en, die es um Kaspar Hauser gibt, interpretiert werden als Ausdruck bestimmter Sehnsüchte der jeweiligen Vertreter dieser ver­ schiedenen Theorien. Was zum Beispiel mag wohl in jemandem vorgehen, der Jahre seines Lebens damit verbringt, Materialien zu sammeln, um Kaspar Hauser endlich als Lügner und Betrüger entlarven zu können? Warum andererseits ist es anderen wiederum so wichtig, ihn doch als verstoßenen Erbprinzen zu seinem Recht zu verhelfen? Stecken hinter diesen auf Kaspar Hauser verschobenen Interessen vielleicht in viel höherem Ausmaß, als bisher vermutet, sehr individuelle Motive?

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Zweite Spur: Die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie

Über Kaspar Hausers Kindheit gibt es nur in äußerst geringem Umfang Material. Man geht davon aus, daß er nach dem Austausch gegen den kleinen Blochmann bei eben dieser Familie lebt, bis seine Ziehmutter, Frau Blochmann, am 18. Januar 1815 stirbt. Kaspar ist, wenn er, wovon ich in diesem Kapitel ausgehe, der Erbprinz ist, zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre und dreieinhalb Monate alt. Danach wird er mit Frau Dalbonne nach Schloß Beuggen gebracht, wo er vermutlich bis Ende 1816 bleibt. Am 23. Oktober 1816 wird jene Flaschenpost gefunden, die wahrscheinlich zu einer weiteren Übersiedelung nach Pilsach Anlaß gab. Zwischenstationen auf dem Weg nach Pilsach werden von den Geschichtsforschern vermutet. So muß man davon ausgehen, daß Kaspar wahrscheinlich ab 1816 oder 1818 bis zu seinem Auftauchen im Mai 1828 im Kerker in Pilsach war, also circa zehn bis zwölf Jahre lang. Soweit die vermuteten Daten. Grundsätzlich muß aber gesagt werden, daß trotz mehr als 160 Jahre dauernder, angestrengter Detektivarbeit vieles noch im Dunkeln liegt und zum Teil auf Mutmaßungen beruht. Vielleicht gelangt man noch einmal zu anderen Erkenntnissen, wird noch verschollenes Material gefunden, zum Beispiel das verschwundene Tagebuch Kaspar Hausers, aber das soll nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Mir geht es ja, wie bereits erwähnt, weniger um das dynastische Verbrechen, auch nicht so sehr um die kriminologische Dimension, als vielmehr um das, was Kaspar in seinen ersten vier oder fünf Le­ bensjahren möglicherweise erlebte, wie seine emotionale 51

Dm Kindheit Kaspar Hausers

Atmosphäre war, in der er aufwuchs, also urn die Position des Kindes Kaspar in der Gesellschaft zu dieser Zeit. Trotzdem muß ich nun zum Teil auf das Wenige, das es an Details über diese Zeit gibt, eingehen, um dieses ganz grobmaschige Netz von Fakten dann mit diversen Überlegungen entwicklungs- und tie­ fenpsychologischer Art auffiillen zu können. Zum Teil diente das Kapitel auf den Spuren von Lloyd deMause bereits dazu, die kindfeindliche Atmosphäre jener Zeit zu beschrei­ ben. An drei Kindern werden Kapitalverbrechen begangen, die ich auch aus der Sicht der verdrängten Traumata jener Personen zu deu­ ten versuchte, die zu dieser Zeit um Kaspar Hauser waren. Man war damals nur eingeschränkt fähig, sich in die Bedürfnisse Neugebore­ ner hineinzuversetzen, im Gegenteil, man sah sie hauptsächlich als Möglichkeit an, eigene immer wieder aufkeimende Ängste zu bekämpfen und jene Dinge zu wiederholen, an denen man selbst gelitten hatte. Aus der generationenüberdauernden Tradition der Erziehungspraktiken konnte man nicht leicht ausscheren, weil man sie als normal und vorgegeben erachtete. Eine kritische Aus­ einandersetzung hätte der Fähigkeit schmerzhafter Eigenanalyse bedurft, zu der wohl nur wenige den Mut fanden. Ich will aber auch eine etwas anders lautende Meinung nicht un­ terschlagen, die in einem Buch, das sich hauptsächlich mit den ent­ wicklungspsychologischen Aspekten der Figur Kaspar Hauser be­ schäftigt, abgedruckt steht. Darin wird aus dem im Jahr 1960 erst­ mals erschienen Buch „Geschichte der Kindheit“ (Aries 1985) des französischen Kulturhistorikers, Philippe Aries, zitiert: „In der mittelalterlichen Gesellschaft gab es keine eigene Idee der Kindheit; d.h. aber nicht, daß Kinder vernachlässigt, verlassen oder gering geachtet wurden. Man darf die Idee der Kindheit nicht vermischen mit Zuneigung für Kinder. Sie entspricht einem Gespür für die besondere Eigenart der Kindheit, jener Eigenart, die das Kind vom Erwachsenen unterscheidet, selbst von dem jungen Erwachsenen. In der mittelalterlichen Gesellschaft fehlte dieses Gespür. Das ist der Grund, warum das Kind zur Gesellschaft der Erwachsenen gehörte, sobald es ohne dauernde Betreuung durch seine Mutter, seine Amme, oder den, der es in seiner Wiege schaukelte, leben konnte. “ (Lakies/Lakies-Wild 1978, 90)

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Aries stellt sich hier gegen die von mir bereits im vorigen Kapitel angedeutete Entwicklung der Gefühle durch Veränderung der Eltem-Kind-Interaktion, die ja einen wesentlichen Punkt in der Psychohistorie von deMause darstellt. Lloyd deMause wiederum wirft Aries aber auch anderen Autoren von Büchern über die Kindheit mangelnde Empathie vor und kritisiert deren Ansicht, daß Kinder in früheren Gesellschaften glücklich gewesen seien (vgl. deMause 1989b, 16 ff.). Die Anschauung, daß die Kindheit eine eigene Entwicklungsphase darstellt, entsteht erst mit der Herauslösung der Kinder aus der Welt der Erwachsenen, nach Aries also ab dem Entstehen der Familie als selbständige gesellschaftliche Institution, sowie ersten Vorstellungen von Erziehung, also erst ab dem 15. Jahrhundert (vgl. Aries 1985, 559 ff.). Nach meiner Auseinandersetzung mit den Meinungen von deMause und Aries kristallisierte sich für mich folgendes als Hauptunterschied heraus. DeMause glaubt an eine kontinuierliche Veränderung der Gesellschaft durch die Evolution der Gefühle, bedingt wiederum durch die Veränderung der Kindeserziehung. Aries hingegen glaubt, erst die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen hätte eine Idee von Kindheit hervorgebracht, sodaß kindliches Leid auch erst mit der Veränderung der Rolle des Kindes in der Gesellschaft bewußt erlebbar und einfühlbar wurde. Ich finde die Argumentation von Aries zwar interessant, will sie aber nicht recht übernehmen, da viele Zeugnisse aus vergangener Zeit, unter anderem auch jene, die deMause gesammelt hat, bewei­ sen, daß Kinder nicht nur im Mittelalter, sondern bis zur Zeit Kaspar Hausers vernachlässigt, verlassen und gering geachtet wurden. Es mag schon richtig sein, daß ein großer Teil der Gesellschaft noch kein Gespür für die Bedürfnisse des Kindes entwickelt hatte, nur belegen wiederum andere Berichte, daß es sehr wohl schon immer Menschen gab (in unserem Beispiel Anselm von Feuerbach), die das Kind in seiner Kindhaftigkeit erkannten und es dementsprechend behandelten und die Fähigkeit hatten, Unrecht gegen Kinder als solches zu erkennen, wenn auch die breite Masse jedoch das Kind als kleinen Erwachsenen ansah. Ich orientiere mich aber weniger an der breiten Masse und den Vertretern der jeweiligen 53

De Kindheit Kaspar Hausers

„gesellschaftlichen Bewußtseinslage“ (vgl. Leithäuser/Volmerg 1988, 18 f.), als vielmehr an den Personen, die meines Erachtens Garanten für Fortschritt und Weiterentwicklung innerhalb einer Gesellschaft sind. Mir ist klar, daß Beurteilungen dieser Zeit nicht ausschließlich aus der Sicht unserer heutigen, scheinbar so zivilisierten Menschheitsgeschichtsphase gemacht werden dürfen, und doch sollte man sich einfach nicht scheuen, sich auf diese Jahrhunderte der Unterdrückung und Verleugnung kindlicher Bedürfnisse und dunklen Kapitel der Menschheit und insbesondere der Kindheit mit dem uns heute zur Verfügung stehenden Gefühlsrepertoire einzulassen. Aber zurück zu Kaspars Jugend und Kindheit. Kaspar wird nach seiner Geburt gleich durch eine Hebamme betreut und auch einer Amme übergeben, wie es damals noch Sitte war. Enger Kontakt zur Mutter ist sicher kaum vorhanden, da diese, wie das ärztliche Bulle­ tin schreibt, im Wochenbett sich nur langsam von der Geburt erholt. Der Prinz hat die Geburt gut überstanden, ist nach den ärztlichen Bulletins kräftig und vital. Nun wird er ausgetauscht, statt ihm wird der kleine Blochmann durch einen Schlag auf den Hinterkopf schwer verwundet, schließlich stirbt dieser am 16. Oktober 1812. Kaspar hingegen kommt zur Familie Blochmann, in der Frau Blochmann nun die Aufgabe von Ersatzmutter und wohl auch Amme übernimmt. In dieser Familie gibt es zu diesem Zeitpunkt bereits drei Kinder. Wie das Verhältnis zur Ersatzmutter war und sich das Aufwachsen in der Familie gestaltete, darüber kann man nur spekulieren. Kaspars offenherziges und freundliches Wesen könnte wohl Hinweis darauf sein, daß die ersten Lebensphasen glücklich waren (vgl. Leonhardt 1994, 294 ff.). Direkte Zeugnisse aus dieser Zeit gibt es jedoch nicht, nur indirekt geben Narben an den Knien Kaspars Zeugnis von Bagatellverletzungen, wie sie jedes Kind erlebt. Und Kaspar ist gegen die Pocken geimpft, wie es damals die Impfung wurde bereits 1796 erstmals angewendet, aber erst 1807 in Bayern eingeführt - nur in hohen Ständen üblich war. Kaspar wird zweimal geimpft, wie die Narben an den Oberarmen zeigen, da man damals bereits wußte, daß der Impfkontakt mit dem Inhalt der Pusteln der an Kuhpocken Erkrankten keine lebenslange und 54

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absolute Immunität hinterläßt. Kaspar wird vermutlich im Schloß Pilsach (!) das zweite Mal geimpft. Direkte Erinnerungen an seine ersten Lebensjahre hat Kaspar später fast keine. Wie bei jedem Kind sind ja diese Jahre kaum im Gedächtnis gespeichert. Und doch tauchen einige, ganz karge Erin­ nerungsspuren auf. Kaspar erinnert sich an ein Wappen, zeichnet es auf, gibt die Zeichnung dem Lehrer Däumer. Später wird diese Zeichnung ein wichtiger Hinweis auf Schloß Beuggen. Er erinnert sich notdürftig an wenige Worte, die man als ungarisch, polnisch oder französisch interpretiert, und die ihn in große Aufregung versetzen. Im Zusammenhang mit den Sprachversuchen des Premierleutnants Pirch taucht die Erinnerung an seine Kindfrau auf (vgl. Lakies/Lakies-Wild 1978, 190 ff.). Diese fuhrt dann auf die Spur von Frau Dalbonne, der gebürtigen Französin, die mit Kaspar sehr zärtlich umging und wohl auch französisch oder ungarisch mit ihm sprach. Er erinnert sich an ein Holzpferdchen, das er schon damals hatte, und das er mit einer Kette, an der Maiskörner aufgefadelt waren, schmückte, wie er es ja danach im Kerker von Pilsach über Jahre mit seinen Pferdchen unermüdlich machte. Er erinnert sich auch an einen Stall mit Tieren auf Stroh. Eine weitere zuverlässige Gedächtnisquelle öffnet sich schließlich, das Unbewußte. Kaspar hat Träume, die auf seine Kindheit hinweisen und dokumentiert wurden. Davon will ich die deutlichsten und wichtigsten anfuhren. „Ich habe einen Traum gehabt ich habe ein recht großes Haus gehabt und da waren recht schöne Sachen darinn, viele Stielle und Kamoth, in einen Zimmer waren lauter Bücher, die habe ich alle lesen können, in einem Zimmer waren die schönsten von Silber, Schüssel und Teller die haben sehr schön geglänzt das ich mich selber so gefreut habe, daß ich es nicht sagen kann. In meinem Haus da hat die Mutter und Herr Professor die Kätha gewohnt u. mein Haus da sind schöne Sailen und Menschen von Stein ausgehaut gewesen. Die Mutter hat mir recht gut gekocht und die Käty hat recht schön gebutz“, schreibt Kaspar in seinen Aufzeichnungen. (Mayer/Masson 1995, 156)

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Die Kindheit Kaspar Hausers

Auch wenn sich im Traum in die Erinnerung die Gegenwart hinein­ mischt - Mutter und Käthe sind Mutter und Schwester Professor Däumers so scheint das doch eine interessante Erinnerung zu sein, wie Kaspar vielleicht Schloß Beuggen erlebt hat. Ein zweiter Traum spielt sich ebenfalls in einem Schloß ab. Kaspar liegt in einem Traumschloß in einem Traumbett. Da tritt eine Frau mit einem gelben Hut mit weißen dicken Federn ein, begleitet von einem Mann in schwarzen Kleidern, einem länglichen Hut auf dem Kopf, einem Degen an der Seite und auf der Brust ein Kreuz mit einem blauen Band (vgl. Leonhardt 1994,309). Die Frau mit Hut wird als Gräfin Hochberg gedeutet, die sich mit auffälligen Hüten zu kleiden pflegte, der Mann könnte Markgraf Ludwig sein oder eventuell auch Lord Stanhope, den man schon damals in das Geschehen um Kaspar Hauser verwickelt gewesen zu sein glaubt. Kaspar träumt auch lateinische Verse und schreibt sie am Morgen auf. Einmal sind es Verse von Horaz, beim zweiten Mal von Vergil, die ihm beide eigentlich noch unbekannt hätten sein müssen (vgl. Lakies/Lakies-Wild 1978, 196). Zusammen mit der Feststellung Kaspars, daß ihm manches in der lateinischen Sprache sehr bekannt vorkam, dem Traum von den Büchern im Schrank, die er alle lesen konnte, und der Tatsache, daß Kaspar an einem der ersten Tage nach seinem Auftauchen in Nürnberg mehrere Zettel mit Buchstaben vollkritzelte, wie Feuerbach in seinen Aufzeichnungen erwähnt (vgl. Hörisch 1994, 141 f.), könnten Hinweise sein, daß Kaspar vor der Kerkerhaft Unterricht in Lesen und Schreiben, vielleicht irgendwo in einem Schloß in Ungarn, gehabt hat. Denn die Leute um Kaspar ka­ men nach diesen, aus heutiger Sicht, eher mageren Ergebnissen der Sprachexperimente, in denen Kaspar, konfrontiert mit den ungari­ schen Worten, viele Erinnerungen an seine Kindfrau aufstiegen, zu dem Schluß, er sei in Ungarn gewesen, was auch später, im Juli 1831, der Grund für eine allerdings ergebnislose Ungarnreise Kaspars war. Lakies und Lakies-Wild schließen aus den Ergebnissen dieser Sprachexperimente folgendes: „Es wird nach der Durchsicht der vorgelegten Materialien sicherlich verständlich, daß die Beteiligten Nachforschungen über eine ungarische Herkunft Hausers

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Die Kindheit Kaspar Hausers

anstellten. Schließlich hatte man so gut wie nichts über seine Herkunft in den Händen und griff daher jeden noch so kleinen Hinweis gierig auf. Für eine wis­ senschaftliche Beweisführung, daß Hauser aus Ungarn stammte oder die ungarische Sprache beherrschte, reicht das Material sicher nicht aus. Seine Kenntnisse einiger Worte dieser Sprache sollten zwar nicht als gegenstandslos betrachtet werden, kann aber höchstens Hinweise darauf geben, daß er in seiner Kindheit mit der ungarischen Sprache konfrontiert wurde. Dieses konnte während eines Aufenthaltes in Ungarn oder durch ein ungarisches Kindermädchen ebenso gut geschehen sein wie durch die vermutete ungarische Abstammung.“ (Lakies/Lakies-Wild 1978, 207 f.)

Daß man jene Frau Dalbonne, die man 1830 in Ungarn in Budapest im Dienste einer Gräfin fand und die vermutlich Kaspars Kindfrau war, nicht ordentlich verhörte und Kaspar bei seiner Reise nach Un­ garn oder bei anderer Gelegenheit nicht gegenüberstellte, ist für mich eine jener eigenartigen und nicht nachvollziehbaren Schlampereien derjenigen, die Kaspars Schicksal zu klären sich bemühten. Leider gibt es nicht mehr Hinweise auf Kaspars Kindheit, und das wenige Bekannte ist vieldeutig und oft nur Spekulation. Doch auch das ist eine Parallele zu den meisten Menschen. Jeder von uns hat kaum eine bewußte Erinnerung an seine eigene Kindheit, zumindest nicht an die ersten vier bis fünf Jahre, nur ganz wenige, meist nur blitzartig auftauchende Bilder gibt es an diese Zeit. Hier gibt es also eine weitere mögliche Erklärung für die Faszination, die diese Figur immer wieder in uns auslöst. Auch wir sind fasziniert und eigenartig berührt, wenn wir mit Erzählungen oder Fotos aus unserer Kindheit konfrontiert werden. Wir stöbern oft ähnlich angestrengt, wie es die Hauser-Forscher tun, in den dunklen Archiven unserer Erinnerung. Und wir glauben oder hoffen immer wieder, die eine oder andere sensationelle Entdeckung darin zu machen, die vielleicht unser Ver­ halten oder Befinden in der Gegenwart verstehen hilft. Wie gerne lüfteten wir oft den Vorhang zu unserer eigenen Kindheit, wie wir es auch bezüglich Hausers Kindheit gerne machen würden. Interessant ist die Tatsache, daß die Analyse von Träumen und die Technik des „freien Assoziierens“, die man, um Kaspars Vergangen57

De Kindheit Kaspar Hausers

heit zu enträtseln, damals in Ansätzen praktizierte, heute die mit der Analyse von Übertragung und Gegenübertragung wichtigsten psy­ choanalytischen Werkzeuge sind, um den Schleier der so prägenden Ereignisse in den ersten Jahren des Menschen zu lüften. Und vielleicht können wir diesen Schlüssel, die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie und der Psychoanalyse, auch noch in einem ande­ ren Zusammenhang anwenden. Bevor ich mir aber Kaspar Hausers Entwicklung, Kindheit und Jugend nach der psychoanalytisch orientierten Entwicklungs­ psychologie (Freud, Erikson, Mahler) anschaue, möchte ich noch einmal auf das bereits oben erwähnte Buch der Autoren Lakies und Lakies-Wild (Lakies/Lakies-Wild 1978) eingehen, die sich mit entwicklungspsychologischen Aspekten der Figur Kaspar Hauser beschäftigen. Nach einer sehr ausführlichen Einführung zur Darstellung der Biographie Kaspars, wobei auf das erste Auftauchen in Nürnberg be­ sonderes Gewicht gelegt wird, werden die Augenzeugenberichte der ersten Zeit, vor allem von Feuerbach, Däumer, Tücher und Hiltel und auch Kaspars eigene Aufzeichnungen verwendet, um vor den Augen des Lesers ein lebhaftes Bild des gerade aufgetauchten Kaspars entstehen zu lassen. Anhand dieser Zeugnisse beschäftigt man sich vor allem mit Spracherwerb und Wortgebrauch Kaspars und kommt zu folgendem Schluß. Der Spracherwerb des Kindes wird als langwieriger Prozeß gesehen, der über verschiedene Vorstufen und Unvollkommenheitsstufen zum Ziele fuhrt. „Vergleicht man diese Aussage mit den aufgezeigten schriftlichen und mündlichen Äußerungen Hausers, so ist unschwer festzustellen, daß sein Sprachgebrauch in zunehmendem Maße differenzierter, sein Wortschatz ständig umfangreicher wird. Dies gilt auch besonders für schriftliche Aufzeichnungen von ihm selbst. Hauser konnte bei seinem Auftauchen in Nürnberg nur wenige Worte sprechen, seine sprachlichen Äußerungen beschränkten sich größenteils auf nachplappem gehörter Worte. Hauser durchlief die Stufen der Sprachentwicklung in sehr kurzer Zeit und schon nach wenigen Wochen war es möglich, sich mit ihm zu unterhalten und ohne größere Schwierigkeiten mit ihm zu verständigen. Es bleibt festzustellen, daß ihm

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Die Kindheit Kaspar Hausers

auch nach Ablauf eines Jahres ein etwas holpriger und umständlicher, teilweise auch unbeholfener Gebrauch der Sprache zu eigen war. Leider läßt sich bei Hausers Sprachentwicklung nicht rekonstruieren, wie umfang­ reich seine Sprache vor der Hospitalisierung war und inwieweit er das Sprechen gänzlich neu lernte. Ebenso fehlen vergleichbare Fälle, um konkrete Aussagen machen oder Analogien bilden zu können.“ (Lakies/Lakies-Wild 1978, 128 f.)

Man kommt aber zum Ergebnis, daß sein Sprachgebrauch ungefähr dem eines zwei- bis dreijährigen Kindes entspricht. Außerdem sieht man im stetigen und kontinuierlichen Erlernen der Sprache, ganz nach den Gesetzmäßigkeiten, wie es sich bei kleinen Kindern voll­ zieht, und anderen entwicklungspsychologisch wichtigen Para­ metern wie Lernen, Gedächtnis, Verhältnis zu Umwelt und Mitmenschen usw. den sicheren Beweis dafür, daß Kaspar Hauser kein Betrüger sein kann. Soviel Wissen und Raffinesse wäre nach Meinung der Autoren niemandem zuzutrauen. „Um die Möglichkeit eines Betruges zu haben, hätte Hauser über genaue anthropologische Kenntnisse verfügen und zudem ein geniales Vor­ stellungsvermögen besitzen müssen.“ (Lakies/Lakies-Wild 1978,219)

Auch Hausers Mimik, Gestik und emotionales Verhalten werden als so einzigartig, expressiv, echt und originell beschrieben, daß ein Betrug, noch dazu über Jahre hinweg, von den Autoren als sicher ausgeschlossen gesehen wird. Wir haben also, wie bereits oben erwähnt, nur zwei Arten von Quellen, die uns über Kaspar Hausers Kindheit Auskunft geben. Das sind einerseits seine dürftigen tatsächlichen Erinnerungen, anderer­ seits das Unbewußte, das sich in den wenigen dokumentierten Träu­ men eröffnet. Eine dritte Möglichkeit aber, Licht in Kaspars dunkle Vergangen­ heit zu bringen, findet sich bereits im Buch von Lakies und LakiesWild angedeutet. Diese Autoren bedienen sich der zeitgenössischen Dokumente, vor allem der Aufzeichnungen und Beobachtungen von Däumer, Feuerbach und Tücher über Kaspars erste Zeit nach der

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Die Kindheit Kaspar Hausers

Kerkerhaft, die in den Büchern des wohl bedeutendsten KasparHauser-Forschers, Hermann Pies (1888-1983), zu finden sind. Diese Berichte werden nun verglichen mit den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie der 60er und 70er Jahre, unter besonderer Berücksichtigung der Sprachentwicklung. Man kommt dann zum bereits oben erwähnten Schluß, daß Kaspar Hauser sich zwar verspätet, aber doch wie jedes andere Kind auch entwickelt und deswegen kein Betrüger sein kann. Es gibt aber nun meines Erachtens nach noch weitere Möglichkei­ ten, anhand der zeitgenössischen Berichte Kaspars Vergangenheit zu beleuchten, auch wenn vieles davon dem Leser vielleicht recht spekulativ erscheinen mag. Und doch halte ich die nun beschriebene Methode als äußerst interessant und gerade im Falle Kaspars als sehr vielversprechend. Ich will diese Methode anhand zweier Beispiele beschreiben. Kaspar Hausers wichtigste Förderer und Bezugspersonen waren scheinbar, blättert man so die Bücher über ihn durch, immer Männer. Däumer, Stanhope, Tücher, Feuerbach, Binder, Meyer, Hiltel sind die, die erwähnt oder zitiert werden, wenn es um besondere Beobachtungen oder Beschreibungen geht. Aber es gab auch immer, eher im Hintergrund, ganz der Sitte der Zeit entsprechend, Frauen, zu denen Kaspar ein Naheverhältnis aufbaute. Da gab es Däumers Schwester und Mutter, Frau Binder, Frau Tücher, Frau Meyer, Frau Hiltel usw., die für Kaspars verspätete sekundäre Sozialisation sicher eine wichtige Rolle spielten. Aber es fallt auf, daß Kaspar den Frauen gegenüber eine gewisse Skepsis beibehielt, mit ihnen nichts Rechtes anzufangen wußte, sie eher als überflüssig und unnütz einschätzte. Er machte zu diesem Thema, mit unseren heutigen Ohren gehört, wirklich recht frauenfeindliche Aussagen. Nun könnte man meinen, daß Kaspar Hauser einfach sehr schnell verstand, welche herabwürdigende Rolle die männerdominierte Gesellschaft der damaligen Zeit den Frauen gab und diese Anschauungen einfach rasch übernommen hatte. So könnte man folgende von Däumer wiedergegebene Meinungen Kaspars verstehen:

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Die Kindheit Kaspar Hausers

„Nichts, pflegte er zu sagen, komme ihm einfältiger vor, als das Heiraten; denn wozu brauche man eine Frau? Als man ihm sagte, Ehefrauen hätten dem Hauswesen vorzustehen, erwiderte er, man könne sich ja eine Magd halten, und da ihm bemerkt wurde, mit einer Frau könne man freundschaftlicher und vertraulicher umgehen als mit Dienstboten, daher sei dies Verhältnis annehmlicher und das Hauswesen werde so besser besorgt als durch bloße Dienstboten, die weniger treu und eifrig wären, entgegnete er, wenn man mit einer Magd nicht zufrieden sei, könne man sich eine andere wählen, es gebe recht brave Dienstboten.“ (Pies 1985, 171)

Kaspar hatte also, so könnte man sagen, die frauenfeindliche Einstel­ lung seiner Zeit schnell übernommen, er beschreibt Frauen, die nicht arbeiten, als unnütz, sie würden nur essen und trinken, hinter dem Rücken über andere reden, andere ausrichten, nichts Sinnvolles tun usw. (vgl. Pies 1985, 170 ff.). Vielleicht gibt es für diese Geringschätzung der Frau aber noch eine andere Wurzel und Erklärung. Kaspars „erste Frauen“ wechselten ja in den ersten Monaten und Jahren seines Lebens unheimlich rasch. Mutter, Hebamme, Amme, Ersatzmutter Blochmann und Madame Dalbonne begleiteten als Frauen ihn durch die ersten vier oder fünf Lebensjahre. Mindestens zweimal wurde Kaspars Vertrauen und Zuneigung gegenüber seinen Ersatzmüttern in besonders emp­ findlichen Lebensphasen grob und furchtbar enttäuscht. Mindestens zweimal wird ihm abrupt, ohne jegliche Vorbereitung, die wichtigste Bezugsperson genommen. Wen wundert es dann, wenn Kaspar schließlich zu einer sehr großen Skepsis Frauen gegenüber gelangt und vor allem vor Zärtlichkeit und Nähe zurückschreckt? „Nichts war ihm mehr zuwider als Liebesgeschichten. Er wisse gar nicht, sagte er, warum denn einer immer nur eine bestimmte Frauensperson haben wolle und keine andere; als wenn er nicht so gut eine andere nehmen könnte.“ (Pies 1985, 171)

„Unter einer Ehefrau weiß er sich nichts anderes zu denken, als eine Haushälterin oder Obermagd, die man so lange behält, als sie taugt und wieder fortschickt, wenn sie öfters die Suppe versalzen, die Hemden nicht ordentlich geflickt, die Kleider nicht gehörig rein gebürstet hat.“ (Leonhardt 1994, 216)

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De Kindheit Kaspar Hausers

Kaspar verbietet sich also den so oft schmerzhaft enttäuschten Wunsch nach einer verläßlichen Frau, die ihm besonders viel bedeu­ ten könnte, oder nach der Rückkehr der Mutter, denn die Angst vor neuerlicher Enttäuschung ist wohl zu groß. Das ist nun seine Abwehr dieses Wunsches und dieser Sehnsucht, alle Frauen sind ihm einerlei, sind unverläßlich und unnütz. Und doch begleitet Kaspar sein ganzes Leben lang die ebenso große Sehnsucht, endlich das Rätsel seiner Herkunft zu entwirren und vor allem endlich seine Mutter zu treffen. Diese Sehnsucht treibt ihn ja schließlich auch in die Hände seines Mörders in den Hofgarten von Ansbach. Auch sein Schwärmen für eine erste große Liebe, einer gewissen Frau Kannewurf aus Wien, die er in Nürnberg wenige Monate vor seinem Tod kennenlernte, hatte diesen Beiklang der so großen Sehn­ sucht nach der Mutter. Ein Brief Kaspars an Frau Kannewurf ist im Buch von Ulrike Leonhardt abgedruckt, und ein kleiner Ausschnitt zeigt das schwulstige Schwärmen und jene Reste zwar notwendiger­ weise verdrängter, aber durch die erste Liebe reaktivierter, symbioti­ scher Verschmelzungswünsche. „Ach? welchen Schmerz fühlt nicht heute mein Herz, ein so gutes und aufrichtiges Herz, wie das Ihrige ist, von mir geschieden zu wissen, ob das gute Herz auch gesund und glücklich mit ihrem zweitem Herzchen gut nach Regensburg kommen wird - Doch ein Trost macht mein Herz etwas leichter, daß ich die süße Hoffnung habe, daß Sie mir meine theuere, Nachricht geben werden, ob Sie gesund und glücklich nach Regensburg gekommen sind.“ (Leonhardt 1994, 213)

Der verdrängte, weil so oft enttäuschte Wunsch nach der Mutter taucht in den Briefen an die Geliebte wieder auf. Die Trennung der Herzen wird von Kaspar als sehr schmerzhaft empfunden. So bleiben Kaspar, der noch keine Gelegenheit hatte, die erlittenen Traumata der frühen Kindheit anderweitig zu bearbeiten, nur zwei Möglichkeiten, sich Frauen gegenüber zu verhalten: frauenfeindliche Ablehnung der unnützen und jederzeit austauschbaren Geschöpfe oder schwärmerische Verschmelzungswünsche. 62

Die Kindheit Kaspar Hausers

Anhand dieses Beispiels wollte ich demonstrieren, wie man von den zeitgenössischen Quellen auf die Vergangenheit Kaspars und von seinen Bewältigungsmodi auf tatsächlich erlittene Traumata schließen kann. Aber das ist natürlich überhaupt nichts Neues, die Psychoanalyse arbeitet ja seit Jahrzehnten nach diesem Rezept. Man nähert sich über die Analyse momentaner Probleme, Belastungen oder neuroti­ scher Bewältigungsmodi in den derzeit aktuellen Lebensbezügen den tatsächlich erlittenen Traumata in der Vergangenheit an, mit dem Ziel, diese und deren Bezug zur Gegenwart bewußt zu machen. Ein weiteres Beispiel soll das noch genauer ausführen. Von vielen Zeitgenossen wird Kaspar Hausers Feigheit besonders erwähnt. Oft wird er als Hasenfuß bezeichnet. Diese Charaktereigenschaften wer­ den natürlich durch das Attentat vom Oktober 1829 entsprechend verstärkt. „Diese Feigheit, die in dem Gedanken an den im Oktober 1829 stattgehabten Mordversuch reiche Nahrung fand, kannte überhaupt keine Grenzen, und keine, auch nicht die ernstesten Ermahnungen, Befehle, Drohungen konnten ihn dazu bringen, irgend etwas zu unternehmen, was sein Leben entfernt in Gefahr bringen konnte; so war er z.B. durch keine Gewalt zum Baden im Flusse zu zwingen, aus Furcht vor dem Ertrinken; das Fahren in einem Schiffe auf einem Teiche, zu wel­ chem er von mir gezwungen wurde, machte ihn krank, und ich bin es überzeugt, mehr infolge der ausgestandenen Todesangst, als weil er etwa die schaukelnde Bewegung des Fahrens nicht vertragen konnte. Mit Zittern und Beben fuhr er mit mir zweimal über eine Schiffsbrücke, was ganz bestimmt, hätte die ausgestandene Angst länger angedauert, bedeutendes Übelbefinden hervorgebracht hätte.“ (Hörisch 1994, 65)

So wird Tücher im Buch von Hörisch zitiert. Auch wenn man dieses Zitat als Beweis für mangelndes Mitgefühl und Verständnis seitens Tuchers werten kann, so ist doch Kaspars Angst vor Unternehmun­ gen oben beschriebener Art auffällig. Er hat kein Vertrauen, furchtet sich vor Wasser, Baden im Fluß, Fahrten mit dem Schiff und so weiter. Zwar gibt es hier genug Erklärungen für solche Ängste im Leben Hausers zum damaligen Zeitpunkt, vor allem das Attentat, und doch weist die Spur auch wieder in die Vergangenheit. 63

Die Kindheit Kaspar Hausers

Erik H. Erikson, ein in die USA emigrierter deutscher Psychoana­ lytiker, entwirft in seinem zwar schon 1959 geschriebenen, doch noch immer sehr aktuellen Buch „Identität und Lebenszyklus“ (Erikson 1994) ein äußerst interessantes und brauchbares Konzept. Im Gegensatz zur klassischen tiefenpsychologischen Anschauung gibt es seiner Meinung nach das ganze Leben eines Menschen hin­ durch typische, phasenspezifische Konfliktkonstellationen. Das heißt, nicht nur die ersten Jahre des Kindes bringen bestimmte Konflikte mit sich und verlangen besondere phasenspezifische Konfliktlösungen, sondern auch noch das Erwachsenenalter erfordert solche. Erikson stellt diese Konflikte in Form von scheinbar sich widersprechenden Gegensatzpaaren dar. So lautet der Konflikt für das Schulalter zum Beispiel „Werksinn versus Minder­ wertigkeitsgefühl“ oder für das reife Erwachsenenalter „Integrität versus Lebensekel“ (vgl. Erikson 1994, 150 f). Es ist also die unmittelbare Lebensaufgabe des Betroffenen, die jeweiligen Konflikte seiner momentanen Lebensphase integrierend zu lösen. Nicht gelöste oder unbewältigte Konflikte wiederum tauchen in späteren Lebensphasen immer wieder störend und den Lebensvollzug beeinträchtigend auf. Im Zusammenhang mit Kaspar Hauser interessiert uns natürlich besonders das phasenspezifische Problem der Säuglingsphase, das Erikson mit „Urvertrauen versus Mißtrauen“ tituliert. „Als erste Komponente der gesunden Persönlichkeit nenne ich das Gefühl eines UrVertrauens, worunter ich eine auf die Erfahrungen des ersten Lebensjahres zurückgehende Einstellung zu sich selbst und zur Welt verstehen möchte. Mit ,Vertrauen4 meine ich das, was man im allgemeinen als ein Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens kennt, und zwar in bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst.“ (Erikson 1994, 62)

Wie bereits mehrmals dargestellt, war die Phase, in der sich dieses Urvertrauen konstituiert, ja für Kaspar eine besonders traumatische. Wenige Tage nach der Geburt bereits wird er zu einer ihm vollkom­ men fremden Frau gebracht. Aber auch danach wird es ihm kaum er­ möglicht, Vertrauen zu entwickeln, sondern bald wird er wieder aus 64

Die Kindheit Kaspar Hausers

der Familie Blochmann gerissen und ein oder zwei Jahre später, nachdem er vermutlich gerade Vertrauen zu Frau Dalbonne gewon­ nen hat, auch noch von dieser dramatisch und extrem traumatisierend getrennt und in seinen Kerker gesperrt. So kann es nicht verwundern, daß Kaspar mit so vielen Ängsten und auch düsteren Vorahnungen zu kämpfen hat, vor allem, wenn er mit Situationen konfrontiert ist, die mit Wasser oder Baden oder Bootsfahrten zu tun haben. Hier gibt es einen interessanten Bezug zur psychoanalytischen Symbolik, stehen doch Wasser oder Meer immer für die Mutter, de­ ren Nähe für Kaspar zugleich sehr verführerisch, aber doch auch gefährlich, weil unzuverlässig und frustrierend, war. Anhand dieser zwei meines Erachtens besonders eindrucksvollen und prägnanten Beispiele wollte ich zeigen, daß es durchaus möglich ist, von Kaspars Äußerungen, Verhaltensweisen und Gefühlen auf die Ereignisse in seiner Vergangenheit zu schließen. Die Gegenwart wird so zum Abbild der Vergangenheit. Hätte man bereits damals um das Unbewußte gewußt, hätte man wohl noch einiges mehr an Erkenntnissen gewinnen und weniger die Fakten als viel mehr die Atmosphäre seiner ersten Lebensjahre ergründen können. Von der Rekonstruktion der Ereignisse hätte Kaspar bei entsprechender Begleitung wohl auch selber sehr profitieren können. Auch hier will ich noch einmal auf die Parallele zu jedem von uns hinweisen. Auch wir können durch Selbstanalyse oder Psychoana­ lyse uns den prägenden Ereignissen unserer Sozialisation annähern. Wenn diese Zusammenhänge transparent gemacht werden können, verlieren etwaige ungelöste Konflikte der Vergangenheit ihren stö­ renden Stachel für die Gegenwart. Dabei geht es nicht so sehr um die Frage des Verursachers oder der Schuld, sondern vielmehr um die Befreiung von hemmenden, energieraubenden und Lebensgenuß nicht zulassenden Altlasten der ersten Jahre.

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Kaspar Hausers Kerkerhaft

Dritte Spur: Mahler, Winnicott

Obwohl nicht alle Details über Dauer und Art der Kerkerhaft Kaspar Hausers bekannt und erst recht nicht bewiesen sind, gehe ich in mei­ nen folgenden Überlegungen vom derzeitigen Stand der Forschung aus. Kaspar war, folgt man der Erbprinzentheorie, im Schloß Pilsach eingesperrt und zwar vom fünften bis zum 16. Lebensjahr, wurde dort nur mit dem fürs Überleben Notwendigsten versorgt und schließlich aus noch unklaren Gründen plötzlich freigelassen. Wann immer ich mit jemandem über dieses Martyrium Kaspars rede, taucht die erstaunte Frage auf, wie man das überhaupt überleben kann. Wie konnte er diese so lange Isolation durchstehen? Warum starb er nicht, wie die vernachlässigten Kinder, die Rene Spitz (siehe Kapitel „Assoziationen zum Thema Autismus“) beschreibt? Was gab es in diesem dunklen, lautlosen, ihn von der Umwelt absolut abschneidenden Kerker, das ihn am Leben hielt? Diese Fragen beziehen sich immer eher auf die Isolation und Deprivation, erstaunlich ist es meines Erachtens aber auch, daß er, rein physiologisch betrachtet, diese vielen Jahre überlebte. Warum traten keine tödlichen Mangelerscheinungen auf, keine Vitaminman­ gelzustände zum Beispiel, die Reifung, Entwicklung und das Über­ leben überhaupt verhindert hätten, wenn Kaspar Hauser wirklich über all die Jahre nur Wasser und Brot bekam? Dieses Fehlen einer Hypovitaminose oder von Eiweißmangelerscheinungen ist ja auch ein starkes Argument gegen die langjährige Kerkerhaft. Das sind nun Fragen, die eher die medizinische Dimension dieses Falles berühren. Einige Überlegungen dazu will ich mir aber als Arzt 67

Kaspar Hausers Kerkerhaft

doch auch zu diesem Thema erlauben. Kaspar Hauser konnte sich in diesem dunklen Kerker kaum bewegen, er dürfte einen Energieum­ satz nahe am Grundumsatz gehabt haben, das heißt, mit minimalster Energiezufuhr durch seine Nahrung ausgekommen sein, so daß Er­ halt des Lebens und auch Wachstum möglich waren. Weiters dürfte sich sein Körper über diese lange Zeit der Haft, so vermute ich, auf diese Art der Ernährung durch unglaublich sparsame Stoffwechsel­ vorgänge angepaßt haben. Schließlich war Kaspar in einem Kerker, der ums ganze Jahr gleich beschaffen war, gleiche Dunkelheit, glei­ che Temperatur und so weiter. Er fand also extrem konstante Lebensbedingungen vor, die vom Körper ein Minimum an energieverbrauchenden Regulations- und Anpassungsvorgängen erforderten. Ein weiterer Aspekt ist sicher die Beschaffenheit des Brotes. Es muß sich wohl um ein sehr hochwertiges Vollkornbrot gehandelt haben, das, wie Kaspar sich erinnert, auch mit verschiedenen Kräutern und Gewürzen gebacken war. Offensichtlich hatte ihn das Brot mit allen wichtigen Nährstoffen versorgt. Weitere körperliche Phänomene, wie Kaspars stark vergrößerte Leber und seine Neigung, vor allem in Streßsituationen mit Gelb­ sucht zu reagieren, seine nach dem Auftauchen beschriebenen, epileptiformen Zuckungen der linken Gesichtshälfte, die vor allem bei kognitiver Anstrengung auftraten, sind Rätsel und physiologische Besonderheiten, auf die ich im letzten Kapitel eingehen werde. Auch ist mir völlig unverständlich, daß Kaspar, der ja in einem fast völlig dunklen Raum eingesperrt war, keine Vitamin-D-Mangelerscheinung, also keine Rachitis hatte. Jedenfalls erscheinen mir die Dauer und Art der Kerkerhaft aus sowohl physiologischen als auch psychologischen Gründen sehr un­ wahrscheinlich. Trotzdem will ich mich in der gewohnten Form mit diesem Teil des Mythos auseinandersetzen. Was die Atmosphäre und Lebensgestaltung in seinem Kerker be­ trifft, so will ich Kaspar selbst zu Wort kommen lassen. Er schrieb ja auf Anregung seiner frühen Beobachter und Förderer Selbst­ zeugnisse. Das älteste Fragment dieser Autobiographie, geschrieben im November 1828, will ich nun zum Teil wiedergeben und damit 68

Kaspar Hausers Kerkerhaft

Kaspar selbst die Gelegenheit geben, uns seine Erinnerungen an diese lange Periode seiner Kindheit im Kerker zu schildern. „Diese Geschichte von Kaspar Hauser will ich selber schreiben! Wie ich in den Gefängniß gelebt habe, und beschreibe, wie es ausgesehnen hat, und alles was bey mir darin gewesen ist; Das Gefängniß war in der Größe sechs bis sieben Schu lang gewesen, und in der Breyte vier Schu, da waren zwey kleine Fenster, die sind acht bis neu zohl in der Höhe und auch breit gewesen, und oben auf der Decke war es wie in einen Keller. Da war aber nichts („darin, war nichts“: durchstrichen) anders als das Stroh, wo ich gelegen bin, und gesessen, und die zwei Pferd, der Hund, und die Wohlen Decke, und in der Erde, neben mir war ein runtes Loch, wo ich meine Nothdurft hin ein gethan habe, und der Wasserkrug; und sonst war gar nichts darin, es ist auch kein Offen gewesen. Ich wiel (korrigiert in: „will“) es ihnen erzählen, was ich imer gethan habe, und was ich immer zu Essen bekom(m)en habe; und wie ich mein la(n)ge Zeit gelebt hab: und zu gebracht; ich habe zwey spill Pferd, und ein Hund gehabt, und so Rothe bänder wo ich die Pferd damit Butz habe; und meine Kleider die Ich an gehabt habe dieses war ein Kurze hosen und ein schwarzer hosen träger, und ein Hemd, aber den Hosenträger und die Hosen habe ich auf den Bloßen Leib; gehabt und das Hemd, ausen her, und die Hosen war in Hintertheil zehrrissen, daß ich die Nothdurft verrichten habe können, ich habe ja die Hosen nicht aus ziehen kön(n)en, weil es mir niemand gelehrt hat; Ich will ein Gleichniß angeben von ein Tag wie ich es imer gemacht und gethan habe, wie ich mein Tag gehalten habe. Wen ich auf wachte; da war das Wasser und Brod neben mir,. Da ist mein erstes gewesen; daß ich das Wasser getruncken habe, dann ein wenig Brod gessen: bis ich satt war, dann habe den Pferden, und den Hund, ein Brod und Wasser geben: dan habe ich es ganz aus getruncken. Jetz fange ich zu Spillen an, da habe ich die Bänder runder gethan: da habe ich sehr lange gebraucht, bis ich ein Pferd gebutz habe, wen eins Butz gewesen ist, da habe ich wieder ein wenig Brod gessen; und da habe ich noch ein wenig Wasser gehabt, dieses habe ich aus truncken, dan habe ich daß zweyte Butz, da hat es auch ein so lange Zeit Dauert; als wie mit den ersten, dan hat mich wieder gehungert; dann habe ich ein wenig Brod gessen, und ein Wasser hätte ich auch gerne truncken: aber da habe ich schon keines mehr gehabt, daß ich meinen Durst bestählen (korrigiert in bestiehlen) hätte könen. Da habe ich den Krug gewiß zehn mal in die Hände genohmen, und habe Trincken wollen, da war niemals kein Wasser darin gefunden, weil ich gemeint daß Wasser komt selbst. Da habe ich noch eine Zeit lang, den Hund Butz, wen mir der Durst gar zu arg gewesen ist, da habe ich iemer ain geschlaffen, weil ich vor durst nicht mehr spiellen kon(n)te, da her kan

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ich es mir vorstehlen, daß ich sehr lange, geschlaffen haben muß, wen ich auf wachte, ist im(m)er daß Wasser da gewesen, und das Brod. Aber das Brod habe ich auch imer alles gessen von schlaffen auf daß andere, Brod habe ich immer gnug gehabt aber daß Wasser nicht, weil der Krug nicht groß war, da ist nicht genug Wasser hinein gangen, vielleicht hat mir der Mann nicht mehr, Wasser geben kön(n)en; weil ich kein größern Krug erhalten kon(n)te, und wie lange ich gespielt habe dieses kan ich nicht beschreiben weil ich nicht wußte, was eine Stunde, oder ein Tag ist, oder ein Woche; Ich bin imer vergnügt gewesen, und zu frieden, weil mir niemals was weh gethan habe; und so habe ich es die ganze; Lebenszeit gemacht, bis der Man gekomen ist,... “ (Pies 1985, 439 f.)

Dieser Mann bringt ihm etwas Schreiben bei, zerrt ihn schließlich in der Nacht aus dem Kerker, lehrt ihn auf der zweitägigen Wanderung nach Nürnberg mehr recht als schlecht das Gehen, lehrt ihn auch ein paar Sätze, darunter den berühmten Satz „Ih möcht ä sechtene Reutä wähn, wie mei Votta aner wähn is ...“, und stellt ihn schließlich mit einem Brief, adressiert an den Rittmeister Wessenig am Unschlitt­ platz in Nürnberg ab. Die genauen Ereignisse nach dem Auftauchen Kaspars in Nürnberg kann der Interessierte in einem weiteren Buch von Pies (Pies 1987) sehr detailreich geschildert nachlesen. In der oben zitierten Beschreibung Kaspars von seinem Leben im Kerker finde ich seine so enge Verbundenheit mit seinen Holzpfer­ den immer wieder von neuem rührend und auffällig. Einen Großteil des Tages verbringt er damit, die Pferde mit Bändern zu schmücken und mit Essen zu versorgen. Und wenn man seiner im vorigen Kapi­ tel erwähnten Erinnerung Glauben schenkt, so hatte er bereits im Schloß Beuggen diese Holzpferdchen und die Angewohnheit, diese mit Bändern zu behängen, und vielleicht waren sie schon sein Spiel­ zeug bei Familie Blochmann. Die ersten Bänder, an die sich Kaspar erinnert, sind noch auf Fäden aufgefadelte Maiskörner, die sein Wärter im Kerker zu Pilsach dann durch Lederbänder ersetzt. Wie stark seine emotionale Bindung an diese Pferdchen war, läßt sich daraus ermessen, wie Kaspar reagiert, als er nach der langen Tren­ nung von seinen Pferden endlich in Nürnberg von einem einfühlsa­ men Polizeisoldaten wieder ein solches geschenkt bekommt. Im

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Buch von Lakies und Lakies-Wild wird ein Zeitzeuge, Anselm von Feuerbach, zitiert, der dieses Ereignis beobachtet. „ Das auch hier so oft ■wiederholte: Roß! Roß! gab eines Tages einem der Polizei­ soldaten, der sich mit dem seltenen Jünglingskinde am meisten zu thun machte, den Einfall, ihm ein weißes, hölzernes Spielpferd auf die Wachstube zu bringen. Kaspar, der sich bisher fast immer nur unempfindlich, gleichgültig, untheilnehmend oder niedergeschlagen gezeigt hatte, wurde beim Anblick dieses hölzernen Rosses, plötzlich wie umgewandelt, und benahm sich nicht anders, als hätte er in diesem Pferdchen einen alten, langersehnten Freund wiedergefunden. Ohne lärmende Freude, aber mit lächelndem Gesichte weinend, setzte er sich sogleich auf den Boden zu dem Pferde hin, streichelte, tätschelte es, hielt unverwandt seine Augen darauf geheftet, und suchte es mit allen den bunten, glänzenden, klingenden Kleinigkeiten zu behängen, womit das Wohlwollen ihn beschenkt hatte. Erst nunmehr, da er das Rößchen damit ausschmücken konnte, schienen alle diese Dinge den rechten Werth für ihn gewonnen zu haben. “ (Lakies/Lakies-Wild 1978, 170 f.)

Kaspar ist selig, vergißt die Welt um sich, befindet sich für Momente wieder in seinem Kerker, denn er sehnte sich ja, gequält durch die seine Sinne überfordernden Umweltreize, dorthin zurück, er sehnte sich zu dem Mann zurück, bei dem er immer gewesen sei. Zu Hause (in seinem Loch), äußerte er, habe er niemals so viele Schmerzen im Kopf gehabt, und man habe ihn nicht so gequält, wie jetzt auf der Welt (vgl. Hörisch 1994, 155). Nachdem Kaspars Liebe zu Spielzeugpferden bekannt geworden war, bekam er gleich mehrere geschenkt. Feuerbach nimmt diese be­ sondere Beziehung Kaspars zu den Pferdchen wahr und bringt sie zu Papier. „Diese Rosse waren von nun an, solange er sich zu Haus befand, unausgesetzt seine Gesellschafter und Gespielen, die er nicht von seiner Seite, noch aus seinen Augen ließ, und mit denen er - wie man durch eine verborgene Öffnung in der Tür beobachten konnte - sich beständig zu schaffen machte. Ein Tag war darin dem andern, eine Stunde der andern gleich, daß Kaspar neben seinen Rossen, mit gerade vor sich ausgestreckten Füßen, auf dem Boden saß, seine Rosse beständig bald auf diese, bald auf jene Weise mit Bändern, Schnüren oder bunten Papierfetzen schmückte, mit Münzen, Glöckchen, Goldflittern behing und darüber zuweilen in

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tiefes Nachdenken versunken schien, wie er diesen Putz durch abwechselndes Dahin- oder Dorthinlegen verändern möge. Auch führte er sie zum öfteren, ohne sich dabei von der Stelle zu bewegen oder seine Lage zu verändern, neben sich hin und her, doch sehr vorsichtig und ganz leise, damit, wie er späterhin äußerte, das Rollen der Räder kein Geräusch verursache, und er nicht dafür geschlagen werde. Nie aß er sein Brot, ohne zuvor jeden Bissen den Pferdchen an den Mund gehalten, trank nie sein Wasser, ohne zuvor ihre Schnauze hineingetaucht zu haben, die er dann jedesmal sorgfältig wieder abzuwischen pflegte.“ (Hörisch 1994, 133 f.)

Diese innige Beziehung zu seinen Pferdchen - eines davon wurde bei Renovierungsarbeiten im Schloß Pilsach im Jahr 1982 gefunden hatte auf Kaspar Hauser, so glaube ich, einen in seiner Kerkerhaft so stabilisierenden Einfluß, daß sie ihm wahrscheinlich das Überleben ermöglichte. Um diese Hypothese zu erläutern, muß ich etwas weiter ausholen und will den Leser einladen, mir auf einer Assoziationskette zu folgen, die uns über das Mahlersche Entwicklungskonzept zum Übergangsobjekt von Winnicott fuhren wird. Margaret Mahler, die sich in ihren Werken mit der Entwicklung des Säuglings und des Kleinkindes beschäftigt, hat ein äußerst prak­ tikables Entwicklungskonzept erarbeitet. In diesem spielen vor allem die Bindung an die Mutter oder primären Bezugspersonen, sowie die sukzessive Ablösung von denselben eine zentrale Rolle. Die Ablö­ sung von der Mutter, die Wendung hin zur für das Kind immer reiz­ voller werdenden Welt, die dabei entstehenden Ängste des Kindes, die Reaktion der Mutter auf diesen Verselbständigungsprozeß usw. werden als besonders störungsanfallige und kritische Teilbereiche dieser Entwicklungsphase gesehen. Hier nun eine kurze Darstellung des Mahlerschen Entwicklungs­ konzeptes, entnommen aus ihrem Buch „Die psychische Geburt des Kindes“ (vgl. Mahler 1993, 57 ff.): 1) Autistisches Stadium (Primärer Narzißmus): Diese Phase, die bis zum Ende des ersten Lebensmonates dauert, möchte ich kurz mit ein paar Sätzen beschreiben. Das Kind ver­ harrt in einem dem intrauterinen Dasein ähnlichen, schlafähnli72

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chen Zustand. Durch eine hohe Reizschwelle gelangen Umwelt­ reize kaum zur Wahrnehmung. Es überwiegen physiologische Reize wie Hunger, Durst ..., zusätzlich sprechen andere Autoren von einem sogenannten Affekthunger, also einem starken Be­ dürfnis nach emotionaler Zuwendung. Wenn diese Bedürfnisse befriedigt werden, sinkt das Kind in den Schlaf zurück. Die Mutter hat in dieser Phase eine wichtige Schutzfunktion, die die kindlichen Bedürfnisse befriedigen und emotionale Nähe garan­ tieren soll. Bei guter mütterlicher Fürsorge wird bald eine ge­ steigerte sensorische Wahrnehmung und Kontaktaufnahme mit der Umwelt möglich. 2) Symbiotische Phase: Diese Phase dauert vom 1. bis circa zum 6. Lebensmonat und ist gekennzeichnet durch ein zunehmendes Absinken der Wahrneh­ mungsschwelle. Die Wahrnehmung verschiebt sich von haupt­ sächlich vegetativen Sensationen aus dem Körperinneren zu einer mehr peripheren Wahrnehmung über die Haut und den Tastsinn. Das ermöglicht die zunehmende Kontaktaufnahme mit der Mutter, die aber noch als Teil des eigenen Selbst erlebt wird. Das Kind fühlt sich mit der Mutter verschmolzen. Diese Symbiose bietet ein neues, aber erweitertes Schutzschild statt der ge­ borstenen Reizschwelle, sodaß die Perzeption der Umwelt in stärkerem Ausmaß möglich ist. Das gute Durchlaufen dieser ersten beiden Phasen ist Vor­ bedingung für den Beginn des normalen 3) Loslösungs- und Individuationsprozesses, den Margaret Mahler in vier Subphasen unterteilt. Es kommt da­ bei zu einer zunehmenden Loslösung von der Mutter und einer zunehmenden Differenzierung der Selbst- und Objektwahrneh­ mung. Das Kind entdeckt sich als von der Umwelt und der Mut­ ter getrenntes Subjekt. Das zuerst in seiner Wahrnehmungsfä­ higkeit noch sehr begrenzte Individuum dehnt sich nun also über den symbiotischen Umkreis hinaus aus.

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a) Differenzierungsphase (4. bis 10. Lebensmonat) : Der sukzessive Ausstieg aus der Symbiose wird ermöglicht durch folgende Faktoren: längere Wachphasen, motorische Ent­ wicklung, Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit. Zunehmend erhält das Kind so die Möglichkeit, die Mutter und die Umgebung zu erforschen. b) Übungsphase (10. bis 16. Lebensmonat) : Durch die motorische Entwicklung, Krabbeln später Gehen, er­ weitert sich der Aktionsradius des Kindes gewaltig. In einem fast submanischen Hochgefühl genießt das Kind die Lust an den körperlichen Funktionen, mit großer Aktivitätsfreude wird die neue und faszinierende Umwelt entdeckt, oft die Mutter zwischendurch fast vergessen. c) Wiederannäherungsphase (15. bis 22. Lebensmonat) : Das Kind nimmt das Getrenntsein von der Mutter plötzlich schmerzhaft wahr, Trennungs- und Verlustängste treten auf, ge­ folgt von der Tendenz zur Wiederannäherung. Das Kind steckt in der Ambivalenz Autonomie versus Selbstzweifel. Hier sei die Bedeutung des Vaters als „Retter aus dem Nestsog“ besonders erwähnt. Diese Phase wird dem Kind durch zunehmende Sprachentwicklung, Spielfähigkeit und Identifikationsmöglich­ keit mit den Eltern erleichtert. d) Konsolidierungsphase (22. bis 36. Lebensmonat) : In dieser Phase entsteht nach und nach ein stabiles Gefühl der eigenen Existenz, Selbstgrenzen werden erweitert, es kommt zur Identitätsbildung. In diese Phase gehören die Schlagworte Ob­ jektkonstanz und Selbstrepräsentanz als phasenspezifische Ziele. Alle diese Teilschritte bringen Kind und Mutter in besondere, phasenspezifische Konfliktkonstellationen. Jede dieser Phasen hat ganz bestimmte Problemstellungen und stellt besondere An­ forderungen an Mutter und Kind. Dabei wird aber immer wieder von vielen Autoren die Separationsphase als besonders störanfällige Phase beschrieben. Zuerst ist, wie oben erwähnt, das Kind noch ganz begeistert von seinen zunehmenden Fähigkeiten, sich aktiv mit der Umwelt 74

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auseinanderzusetzen. Doch scheinbar plötzlich verifiziert es seine Schutzbedürftigkeit und strebt zur Mutter zurück. Die Fähigkeit der Mutter nun wieder, mit dieser Ablösungstendenz und plötzlichen Wiederannäherung umzugehen, nicht beleidigt oder gar abweisend zu reagieren, ist nun ein ganz entscheidender Punkt. Hier werden die Weichen dafür gestellt, wie das Kind mit seiner Sehnsucht nach zunehmender Individuation umzugehen lernt. Verzichtet es wegen einer die Ablösungsbestrebungen bestrafenden Mutter auf jede weitere Individuation? Gelingt der Separationsprozeß von der Mutter? Wie geht es als Kind und später als Erwachsener mit Nähe und Distanz um? Darf es autonom und selbstbestimmend sein, ohne gleich Liebesentzug befurchten zu müssen? Gelingt jedoch eine Lösung des zentralen Konfliktes dieser Phase, nämlich „Autonomie versus Bindung“, so kann das Kind sich in der Annäherung hin zu einer oft verwirrend und bedrohlich scheinenden Welt auf eine innere Zuversicht und Stärke stützen, die durch eine in dieser Phase stärkende und Geborgenheit vermittelnde Mutter erzeugt wurde. Daß diese Phase aber nun wiederum an die Mütter besondere Anforderungen stellt, liegt auf der Hand. Nur eine Mutter, die den Ablösungstendenzen des Kindes nicht strafend begegnet, sondern verständnisvoll und wohlwollend zu bleiben vermag, kann in dieser Phase das Kind in seiner Individuation ermutigen. Wird diese Phase von Mutter und Kind nicht bewältigt, so können verschiedenste Störungen, psychische Krankheiten, aber auch Pseu­ dolösungen verschiedenster Art beobachtet werden. So wird zum Beispiel mit dieser Phase das Entstehen des Borderline-Syndroms in engen Zusammenhang gebracht (vgl. Rohde-Dachser 1995, 132 ff.) oder der Krieg als mögliche Schiefheilung eines nie vollzogenen, weil nie erlaubten Ablösungsprozesses (vgl. Mentzos 1993, 65 ff). So produktiv und befreiend für den späteren Erwachsenen die Auswirkungen eines gelösten Konfliktes sein können, nämlich die Fähigkeit zu besitzen, sich frei von Angst und Zweifel einen Platz in dieser Welt zu suchen, so schmerzhaft sind die Auswüchse des ungelösten, phasenspezifischen Entwicklungsauftrages, nicht nur für den unmittelbar Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft.

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Kaspar Hausers Kerkerhaft

Doch das soll nicht Thema dieses Kapitels sein, vieles davon wurde schon und wird noch zum Teil in anderen Kapiteln angedeutet. In diesem Kapitel will ich mich eher mit einer Hilfsmöglichkeit für das Kind in dieser schwierigen Phase beschäftigen, dem von Winnicott so genannten Übergangsobjekt. Dieses Übergangsobjekt stellt eine bei vielen Kindern beobachtbare Hilfe in der Loslösungsund Differenzierungsphase, und hier wiederum in der Übungsphase, dar. Diese „steht antriebspsychologisch gesehen unter der Dominanz der kaptativen und ersten motorisch-aggressiven Tendenzen (Muskel- und Skelettentwicklung) und reicht etwa bis zum 18. Monat. Das Kind beginnt zu krabbeln, zu stehen und zu laufen und kann dadurch übend seinen Aktionsradius weg von der Mutter erweitern. Es lernt also, Nähe und Trennung selbst und aktiv zu handhaben, wobei die Mutter als Hilfs-Ich noch den Reizschutz übernimmt. Als Überbrückungshilfe schafft sich das Kind ein Übergangsobjekt (Winnicott): ein unbelebter Gegenstand (eine Schmusedecke, ein Teddy, ein Kissen) wird zum Nachfolge-Garanten für die noch weiterbestehenden symbiotischen Nähewünsche nach Mütterlichem - mit dem Vorteil, über diesen Gegenstand, der keine eigenen Bedürfnisse kennt, ebenso frei verfügen zu können, wie bisher scheinbar über die Mutter selbst. Heiß geliebt, oft noch lange notwendig zur Selbstberuhigung und zum Einschlafen, gibt das Übergangsobjekt eine Rückversicherung scheinbar weiterbestehender Symbiose, die die reale Abwesenheit der Mutter ertragen hilft.“ (Elhardt 1990, 92 f.)

Das Übergangsobjekt hilft also dem Kind, die Umwelt so ganz ohne Geborgenheit und Schutz durch eine Mutter zu verkraften. Es hilft dem Kind aber auch, sich in den Momenten des Zweifels und der Unsicherheit in der Konfrontation mit der oft bedrohlich wirkenden Welt nicht gleich wieder in die Arme der Mutter flüchten zu müssen, es kann also die Wiederannäherung etwas hinausgezögert werden. Und häufig ist die Illusion des tröstenden Teddys oder der Sicherheit vermittelnden Schmusedecke viel konstanter und sicherer als der Trost der realen Mutter. Winnicott nennt nun alle Verhaltensweisen des Kindes wie Daumenlutschen, Lallen, das Bearbeiten von Gegen­ ständen mit dem Mund usw. Übergangsphänomene. Wenn diese autoerotischen Verhaltensweisen wiederum an besondere Gegenstände gebunden sind, die für das Kind immer wichtiger und 76

Kaspar Hausers Kerkerhaft

schließlich unersetzbar werden, so spricht er von Übergangsobjek­ ten. Gleichzeitig weist Winnicott darauf hin, daß diese Über­ gangsobjekte auch sehr häufig den ersten Besitz des Kindes repräsentieren (vgl. Winnicott 1994, 300 f.). Was haben nun diese Übergangsobjekte, die nach Winnicott ab dem vierten Lebensmonat auftauchen, nun mit unserem ab dem fünften Lebensjahr im Kerker sitzenden Kaspar zu tun? Auch darauf gibt Winnicott eine Antwort. „Im Säuglingsalter gebildete Verhaltensmuster können bis in die Kindheit hinein erhalten bleiben, so daß der ursprüngliche weiche Gegenstand weiterhin zur Schlafenszeit, wenn das Kind sich einsam fühlt oder wenn eine Depression droht, absolut unentbehrlich ist. Beim gesunden Kind erweitert sich jedoch allmählich das Interessengebiet, und schließlich wird die Erweiterung selbst dann beibehalten, wenn depressive Angst im Anzug ist. Das Bedürfnis nach einem spezifischen Objekt oder einem Verhaltensmuster, das schon sehr früh entstanden ist, kann später wieder auftauchen, wenn irgendein Entzug droht.“ (Winnicott 1994, 304 f.)

Kaspar erinnert sich im Traum an seine Pferdchen und seinen ihm eigenen Umgang mit ihnen. Diese seine früh erlernte Verhaltenswei­ se, ganz sicher im Sinne eines Übergangsphänomens zu deuten, an seinen Pferdchen, die wiederum Übergangsobjekte darstellten, halfen ihm, diese fürchterlich langen Jahre im Kerker zu überleben. Der Entzug von aller Umwelt, die vollkommene Deprivation ließ gar nichts anderes zu als eine Regression zu diesen frühkindlichen Ver­ haltensmustern. Es gab für Kaspar nur eine Möglichkeit, sich in sei­ ner unendlichen Verzweiflung und Einsamkeit zu trösten und sich die Illusion eines anwesenden Menschen zu erhalten, nämlich über das Spiel mit den Pferdchen. Seine Rösser waren für ihn alles. Trö­ ster, Begleiter, Freunde, Vertraute, kurz alles, was für ein Kleinkind die Mutter bedeutet. So kann ich auch nun meine bereits weiter oben angedeutete Hy­ pothese konkretisieren: Kaspar Hauser konnte diese langen Jahre im Kerker nur überleben, weil er emotional in die Illusion regredierte, er hätte eine Mutter bei sich im Kerker!

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Die schwarze Pädagogik erprobt sich an Kaspar Vierte Spur: Erziehung als Schiefheilung. Der Kaspar-Hauser-Effekt

Bevor ich im besonderen auf die Zeit Kaspar Hausers im Haus des Lehrer Meyer in Ansbach eingehe, will ich zuerst den Begriff der „schwarzen Pädagogik“ erklären. Was ist darunter zu verstehen? Unter „schwarzer Pädagogik“ versteht man ein komplexes System erzieherischer Maßnahmen mit dem Ziel, das Kind auf die Forderungen des bürgerlichen Tugendkataloges, auf die Gebote von Ordnung und Reinlichkeit, Dankbarkeit, Ehrlichkeit, Gehorsam, Fleiß und Bescheidenheit systematisch abzurichten. Schwarze Pädagogik kennzeichnet jene Ziele und Methoden, mit denen Kinder und Jugendliche seit dem 18. Jahrhundert konfrontiert wurden, um gesellschaftsfähiges Verhalten zu erzeugen (vgl. Koch 1995, 23). Das Ziel dieser Pädagogen war es, Kinder möglichst lang „rein und unverdorben“ zu erhalten und vor den schlechten Einflüssen der Umwelt mit ihren Leidenschaften und ihrer Schlechtigkeit zu bewahren. Denn man ging davon aus, daß die Kinder so lange frei von Neid, Haß, Begierde, Mißgunst, Falschheit usw. bleiben würden, solange es den Erziehern gelingen würde, die verderbenden zivilisatorischen Einflüsse von den Kindern abzuhalten. „Um diese Einflüsse abzuschirmen, genügte es nicht, die Cherubinen zu bemühen. Väter, Mütter und alle professionellen Erzieher waren aufgerufen, das Geschäft der Pädagogik ernst zu nehmen. Kinder sollten von klein auf gewissenhaft beobachtet werden. Zeigte sich nur der geringste Verdacht, daß das Kind in seiner paradiesischen Unschuld befleckt war, so war Alarm angesagt.“ (Koch 1995, 32)

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Die schwarze Pädagogik erprobt sich an Kaspar

So entstanden viele Bücher der ironischerweise sich Philanthropen nennenden Pädagogen, voller Tips für die Eltern, wie man Kinder aushorcht, belauscht, sich ihr Vertrauen erschleicht, um nur bei kleinsten Anzeichen moralischen Verfalls korrigierend einzugreifen, immer unter dem Vorwand für die Kinder ja nur das Beste zu wollen. „Je besser man ein Kind kennt, je nützlicher kann man auch an ihm arbeiten. Man muß aber, um sie desto sicherer kennenzulernen, ihnen die schon gerühmte edle Offenheit gegen sich selbst und gegen andere angewöhnen. Man muß sie anhalten, ihre Schwächen und Fehler frei zu bekennen. Man muß ihnen erlauben, ihre Nei­ gungen und Gelüste frei zu entdecken. Und wenn man in diesen etwas Unordentli­ ches, Fehlerhaftes oder Unartiges sieht, so muß man nicht gleich so streng sein, daß die Kinder die Lust verlieren, aufrichtig und freimütig zu sein; sondern man muß mit Freundlichkeit, mit Lächeln sagen: , Mein liebes Kind , was du hier getan hast, oder was dich gelüstet, ist eben nicht allzu vernünftig; siehe, ich will dir sagen, welche Beschaffenheit es damit hat/ Auf solche Weise behält man die Kinder bei der Lust, freimütig zu sein, und so werden sie sich immer in ihrer wahren Gestalt sehen lassen. Wenn man hingegen hart, gebieterisch, mit ihnen wie mit Sklaven umgeht, so werden sie heuchlerisch, sie verstellen sich und betrügen also ihre Eltern, in deren Gegenwart sie sich ganz anders als in ihrer Abwesenheit anstellen. Damit man nun auch die Denkungsart der kleinen verborgeneren Neigungen und Vorurteile der Kinder entdeckt, so muß man oft ihre Gedanken über allerhand Sachen von ihnen vernehmen. Zu diesem Zweck muß man von allem, was sie gelesen, gehört und gesehen, ihre Gedanken aufschreiben lassen, wobei man sich aber in acht zu nehmen hat, daß sich die Kinder nicht zwingen, etwas zu schreiben, das sie nicht empfinden, oder daß sie nur solche Sachen nachschreiben, die sie von andern gehört haben. Sie sprechen sich gegen ihresgleichen am liebsten aus. Sie erzählen sich ohne Zwang und ohne Verstellung ihre Gedanken. Wenn sie also etwas schreiben müssen, so muß es sein, als wenn sie es an ihresgleichen schrieben. Und die Eltern und Lehrer müssen vor allen Dingen trachten, ihre Kinder und Untergebenen sich so zu Freunden zu machen, daß sie gegen sie ebenso aufrichtig und frei sind, als gegen ihresgleichen. Dies geschieht, wenn man sich in seiner Denkungsart, so viel als es sich tun läßt, nach der Kinderart richtet, wenn man mit ihnen nach ihren Begriffen von Sachen spricht, wenn man an ihren Geschäften, Spielen und Neigungen teilnimmt. Wenn ihr es nun so weit gebracht habt, daß sie frei gegen euch sind, so fangt einen Briefwechsel mit ihnen an, welcher von lauter solchen Sachen handelt, daran sie Geschmack haben, und wenn es angeht, so laßt

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sie auch mit andern Kindern in Korrespondenz kommen. Aus ihren Briefen werdet ihr allemal ihre Denkungsart und eine natürliche Abbildung ihres Gemütes sehen und so die Kinder recht kennen lernen.“ (Rutschky 1977,188 f.)

Rutschky zitiert hiermit in ihrem Buch über „schwarze Pädagogik“ ein Kapitel eines der Vordenker der „schwarzen Pädagogen“, J. Sulzer, mit dem Titel „Der Nutzen einer genauen Ausforschung der Kinder“ von 1748. Die Kemaussage des oben zitierten Textes ist folgende: Kinder sollen möglichst früh, möglichst intensiv und möglichst immer zu Offenheit und Ehrlichkeit gegenüber ihren Eltern erzogen werden, damit die Eltern alles erfahren, was die Kinder bewegt, was in ihnen vorgeht, was sie tun. Jede Regung muß erforscht und bekannt wer­ den, jede Schwäche und jeder Fehler den Eltern gebeichtet werden, um so möglichst früh Fehlentwicklungen in Gemüt und Denkungsart zu erfassen und korrigieren zu können. Der Autor gibt Tips, wie man sich langsam und vorsichtig das Vertrauen der Kinder erschleicht und ihnen jene Offenheit abringt, die sie für die Eltern zum offenen Buch macht. Erkennt man dann Schwächen, darf man nicht tadeln oder strafen, sondern muß durch intensives Appellieren an die kind­ liche Vernunft korrigierend eingreifen. Ohne jegliche Selbstkritik, ohne auch nur den leisesten Versuch, sich ins Kind hineinzuversetzen, wird eine grausame und sture Stra­ tegie empfohlen, mit dem Ziel, das Innenleben des Kindes offen zu legen. Unbeirrbar und mit Scheuklappen wird von der Richtigkeit des Gesagten ausgegangen, Alternativen oder gar Konsequenzen werden gar nicht erst erwähnt. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Kindern wird zur Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leser sol­ cher Bücher, dem jegliche Variation des Gesagten vorenthalten wird. Ein kompliziertes, menschenverachtendes, pädagogisches Konstrukt ohne einen Hauch von Selbstreflexion als Absicherung gegen neue und andere Erfahrungen. Was steckt hinter einem solchen Erziehungsstil? Was geht im oben zitierten Autor vor, welche Absichten hat er? Man kann davon ausgehen, daß sich in diesem Text nicht nur die Einstellung des Au­ tors, sondern eines Großteils der Gesellschaft zum Kind in der da­ 81

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maligen Zeit widerspiegelt. Das Kind ist, nach dem Wirksamwerden zivilisatorischer Einflüsse, schlecht, Böses lauert im Inneren, bricht immer wieder hervor, muß rechtzeitig erkannt und korrigiert werden. Was ist aber dieses Böse? Die Intimität, das heißt, das Eigenleben des Kindes, die kindliche Vorsteilungswelt, eigene Ideen und Phan­ tasien des Kindes, die langsam vonstattengehende Individuation und das damit verbundene Abrücken von den Eltern. Das kindlich Unbe­ schwerte, aber auch das Seibständigwerden soll unterdrückt und verhindert werden. Macht der Autor das so, weil er sich den Haß gegenüber den eigenen Eltern, die, so kann man wohl vermuten, nach ähnlichen Gesichtspunkten erzogen haben, nicht eingestehen will, oder treibt ihn die Verlustangst gegenüber seinen eigenen Kindern oder die Angst vor den kindlich-chaotischen Anteilen des eigenen Unbewußten in diese menschenverachtende Erziehungs­ strategie? Hier kann man nur mutmaßen. Ziel jedoch dieser pädagogischen Empfehlungen ist es, Reifungs­ prozesse der Kinder zu unterdrücken, Kritikfähigkeit, Selbständig­ keit und Individualität als Gefährdung der Autorität der Eltern, der Obrigkeit und der Gesellschaft zu verhindern. Für Alice Miller ist die schwarze Pädagogik eine Haltung, eine Ideologie, die das schwache Kind verachtet und verfolgt, sie unter­ drückt das Lebendige, Kreative, Emotionale im Kind, aber auch im Erzieher selbst. Die Mittel dieser Unterdrückung des Lebendigen sind: Fallen stellen, Lügen, Listanwendung, Verschleierung, Mani­ pulation, Ängstigung, Liebesentzug, Isolierung, Mißtrauen, Demüti­ gung, Verachtung, Spott, Beschämung, Gewaltanwendung, also alles Dinge, die der Erzieher praktiziert, gleichzeitig er aber dem Kind, noch bevor sie in ihm entstanden sind, schon austreiben will (vgl. Miller 1983, 76 f.). Ein weiteres Beispiel für die Denkweise und Methodik der schwarzen Pädagogen will ich noch anführen: „Als die ersten Proben, an denen sich die geistig-erzieherischen Grundsätze be­ währen sollen, sind die durch grundloses Schreien und Weinen sich kundgebenden Launen der Kleinen zu betrachten... Hat man sich überzeugt, daß kein richtiges

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Bedürfnis, kein lästiger oder schmerzhafter Zustand, kein Kranksein vorhanden ist, so kann man sicher sein, daß das Schreien eben nur ein Ausdruck einer Laune, einer Grille, das erste Auftauchen des Eigensinns ist. Man darf sich jetzt nicht mehr wie anfangs ausschließlich abwartend dabei verhalten, sondern muß schon in etwas positiverer Weise entgegen treten: durch schnelle Ablenkung der Aufmerksamkeit, ernste Worte, drohende Gebärden, Klopfen ans Bett..., oder wenn dieses alles nicht hilft - durch natürlich entsprechend milde, aber in kleinen Pausen bis zur Beruhigung oder zum Einschlafen des Kindes beharrlich wiederholte körperlich fühlbare Ermahnungen... Eine solche Prozedur ist nur ein - oder höchstens zweimal nötig, und - man ist Herr des Kindes für immer. Von nun an genügt ein Blick, ein Wort, eine einzige drohende Gebärde, um das Kind zu regieren. Man bedenke, daß man dadurch dem Kinde selbst die größte Wohltat erzeigt, indem man ihm viele seinem Gedeihen hinderliche Stunden der Unruhe erspart und es von allen jenen inneren Quälgeistern befreit, die außerdem gar leicht zu ernsteren und immer schwerer besiegbaren Lebensfeinden emporwuchem.“ (Schatzmann 1984, 32 f.)

Schatzmann zitiert hier Dr. Schreber, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Erziehungsbücher schrieb, die in Deutschland weite Verbreitung fanden. Gerade in dieser Passage wird der ganze kindverachtende Zynismus der „schwarzen Pädagogik“ deutlich. Man will das Kind regieren, es beherrschen, auch wenn man sein erzieherisches Verhalten durch verschiedenste, zum Teil an den Haaren herbeigezogene Rationalismen zu begründen sucht. Dahinter liegend, kann man aber ein ganz anderes Bedürfnis den Eltern unterstellen: Es ist das Bedürfnis nach Macht. Die Eltern wollen mit allen Mitteln im ungleichen Kampf gegen die Kinder siegen. Das Ziel ist die Austreibung des Kindlichen, des Bedürftigen, des Schwachen, zugunsten von Kontrolle und Vernunft. Das vorgegebene Ziel, die Kinder vor Schlechtigkeit zu bewahren, ist ein solcher Rationalismus, leicht läßt sich dahinter die Sehnsucht der Eltern und Erzieher eruieren, sich selbst überlegen und triumphierend zu erleben, wenn man das keimende Selbst­ bewußtsein und die Eigenständigkeit schon in der Wiege oder im Gitterbettchen erstickt. Die Eltern erreichen durch den Sieg über die Kinder ihre narzißtische Zufuhr. Die Rechnung bezahlen wieder die Kinder, denen es kaum noch gelingt, ihre Individuation zu erleben.

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Nach Abschluß einer solchen Erziehung sind die Kinder autoritätsgläubig, aggressionsgehemmt, ängstlich überangepaßt, vollkommen verunsichert den eigenen Regungen gegenüber und haben ihre übermächtige Wut verdrängt. Setzen sie sich mit ihrer Wut, ihrer Ohnmacht, ihrer Verzweiflung nicht auseinander, werden ihre Kinder wieder zum Opfer von „schwarzen Pädagogen“ werden. Übrigens ist jener Dr. Schreber der Vater des Senatspräsidenten Dr. Daniel Paul Schreber, den Freud in seinen Falldarstellungen als Beispiel für einen Menschen mit einer paranoiden Psychose darstellt (vgl. Freud 1989, 79 ff.), und der selbst auf so eindrucksvolle Weise sein komplexes Wahnsystem in seinem 1903 erstmals erschienen Buch „Ansichten eines Nervenkranken“ schildert (Schreber 1995). Obwohl Freud Nachforschungen über den Vater Schrebers anstellt, geht er dem Verdacht, Schrebers Psychose könnte etwas mit dem Erziehungssystem des Vaters zu tun haben, nicht richtig nach (vgl. Gay 1995,321 f.). Es gehört aber nicht besonders viel dazu, zur Überzeugung zu gelangen, daß Schrebers Psychose wohl ursächlich mit der Erziehungspraxis des Vaters zusammenhängt, noch dazu, da dieser die Methoden der schwarzen Pädagogik möglichst früh, so ab dem fünften Lebensmonat, einzusetzen empfahl (vgl. Miller 1983, 18). Diese so frühe Konfrontation des Kindes, noch vor der Herstellung klarer Subjekt- und Objektrepräsentanzen, mit der oben geschilderten Atmosphäre von Überwachung, ständiger Frustration und Hoffnungslosigkeit bei gleichzeitiger kontinuierlicher Störung der Ich-Reifung und kontinuierlichem Anbieten einer emotionalen Doppelbotschaft legt wohl den besten Grundstein für die Entstehung einer Psychose. Eindrucksvolle Beispiele für die literarische Bearbeitung dieser Atmosphäre der „schwarzen Pädagogik“ sind „Der Schüler Gerber“ (Torberg 1930) und „Unterm Rad“ (Hesse 1906). Wie erging es nun Kaspar Hauser, konfrontiert mit den Erzie­ hungsidealen dieser Zeit? Hier hatte Kaspar Hauser vor allem unter Lehrer Meyer in Ansbach schwer zu leiden, denn dieser hatte die Bücher der Philanthropen wohl genauestens studiert.

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Anfangs aber gab es bei Kaspar Hauser nicht viel zu korrigieren, er glich einem engelhaften Wesen, wird als unschuldig und rein be­ schrieben, einer, der den bürgerlichen Tugendkatalog personifiziert. „In seiner Seele voll kindlicher Güte und Milde, die ihn unfähig machte, einem Wurm oder einer Fliege, geschweige einem Menschen wehe zu tun, die sich in jeder Beziehung so fleckenlos und rein erwies, wie der Abglanz des Ewigen in der Seele des Engels ...“, zitiert Tradowsky Feuerbach. (Tradowsky 1983, 44 f.)

„Er war in der ersten Zeit seines geistigen Lebens das unschuldige Kind von dem reinsten, fleckenlosen Gemüte, mit allen kindlichen Neigungen und Trieben, das keine Ahnung eines Unterschiedes von Gut und Böse hat und kein Übel kennt als den körperlichen Schmerz“, wird Tücher von Tradowsky zitiert. (Tradowsky 1983,47)

„Als Hauser aus seiner Verborgenheit hervor in die Welt trat, war seine Seele der Spiegel und Abglanz einer himmlischen Güte, Reinheit und Unschuld, wie sonst noch kein Beispiel vorgekommen oder bekannt geworden war ... Es war die ganz einzige Kindlichkeit und Lieblichkeit seines Wesens und die makellose Schönheit seiner Seele, was einen so wunderbaren Zauber übte ... Es stand ein paradiesischer Urmensch im Sinne der moralischen Fassung vor Augen, ein anbetungswürdiges Wunder in einer grundverderbten, in einen Abgrund von Selbstsucht und Bosheit versunkenen Menschenwelt“, wird Däumer von Koch zitiert. (Koch 1995, 33)

Koch stellt in seinem wunderbar aufbereiteten Buch, durch viele Zitate aus den Augenzeugenberichten untermauert, dar, wie sehr Hauser den pädagogischen Ansprüchen seiner Zeit genügte. Er war extrem ordnungsliebend, reinlich, dankbar, ehrlich, gehorsam, flei­ ßig, bescheiden und, was besonders wichtig war, er war ein sexuelles Neutrum (vgl. Koch 1995, 30 ff.). Man kann nun diese Charaktereigenschaften auf verschiedenste Art und Weise interpretieren. Man kann Kaspar als Engel auf Erden sehen, zur Rettung der Menschheit berufen, oder zumindest vom Schicksal zu höchster Aufgabe bestimmt (vgl. Tradowsky 1983, 236 ff.). Man kann ihn als Bestätigung der Theorie Rousseaus sehen, als Verkörperung Emiles, als paradiesischen Urmenschen, dessen gute Anlagen sich, ihrer Natur folgend, entwickeln. 85

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„Rousseau beginnt daher seinen berühmten Erziehungsentwurf,Emile - oder über die Erziehung* zunächst einmal kritisch mit dem grundlegenden Satz: ,Alles was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen der Menschen*.“ (Gudjons 1995, 77)

Nebenbei sei bemerkt, daß, obwohl Rousseau sein Werk eher als philosophisches verstand, es von den Philantropen als pädagogisches interpretiert wurde. Oder Kaspar Hauser war jemand, bei dem die Pädagogik seiner Zeit bereits Früchte getragen hatte. Bereits als Kleinkind mehrmals von seinen Hauptbezugspersonen auf dramatische und traumatische Weise getrennt, ungeliebt, verschleppt, versteckt, isoliert aufge­ wachsen und schließlich vollkommen depriviert untergebracht im Kerker von Pilsach, von seinem Wärter Richter geschlagen, als er einmal zu laut mit seinem Holzpferdchen spielte (vgl. Hörisch 1994,43), in einer Gesellschaft blind, uneinfuhlsam, und teil­ nahmslos für die Bedürfnisse des Kindes, hatte er seine Lektion, die Hauptziele der schwarzen Pädagogik gelernt: Gib jeden Impuls zur Eigenständigkeit in dir auf. Sei so, wie die anderen es wollen, auch wenn du es nicht verstehst. Erlebe auch das Schmerzhafteste, das sie dir antun, als Ausdruck ihrer Liebe. Diese Lektionen verinnerlicht, konnte Kaspar Hauser auch nie­ mandem mehr böse sein. Weder dem Wärter im Kerker - Kaspar protestierte energisch, als man den Mann als böse bezeichnet - noch seinem Lehrer Meyer, bei dem er sich noch im Sterben bedankt, noch seinem Attentäter, als er bereits im Sterben sagt, niemand hätte ihm je Böses getan. Wer solche Aussagen als Ausdruck eines absolut verinnerlichten Christentums interpretiert, verteidigt schwarze Pädagogik! Noch vor seinem Tod aber wird Kaspar Hauser von Lehrer Meyer in die Enge getrieben. Er beschattet ihn, macht ihm ständig Vorwür­ fe, bezichtigt ihn des Lügens, wirft ihm Faulheit, Unverschämtheit und Gefährdung in sexueller Hinsicht vor. Eindrucksvoll beschreibt Koch diese inquisitorischen Maßnahmen Meyers (vgl. Koch 1995, 59 ff.). Derart gequält, bleibt Kaspar Hauser nur ein Weg of­ fen, seine mühsam erkämpfte Individualisierung zu bewahren und zu 86

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verteidigen, indem er genau so wird, wie es die schwarze Pädagogik verhindern will. Seine Tugenden kehren sich daher ins Gegenteil. Das war abzusehen, denn „schwarze Pädagogik treibt den Zögling zu jenem Verhalten, das sie mit ihren Methoden so emsig verhindern möchte ... Schwarze Pädagogik ist eine sich selbst erfüllende Pro­ phetie. Ihre Ergebnisse entsprechen ihren Erwartungen und bestäti­ gen somit stets aufs neue die Einschätzungen und Prognosen ihrer Vertreter.“ (Koch 1995, 61) In den Meyerschen Tenor stimmen dann auch Tücher, Biberbach - ein eindrucksvolles Beispiel ist der Brief von Frau Biberbach an Frau Meyer, in dem sie Kaspar in jeglicher Hinsicht denunziert (vgl. Hörisch 1994, 57 ff.) -, sogar Däumer ein, nur Feuerbach sieht den Sachverhalt klarer. Der Arzt Dr. Horlacher zitiert Feuerbach in sei­ nem Gutachten, das er nach dem Tode Kaspar Hausers im Auftrage des Untersuchungsrichters erstellen soll: „In der v. Feuerbachschen bekannten Schrift heißt es, daß die Lage H.s ihn be­ ständig an die Abhängigkeit seiner Person von der Gunst oder Ungunst der Men­ schen erinnern mußte, daher seine ihm gleichsam zur Notwehr abgedrungene Fertigkeit in Beobachtung der Menschen; sein umsichtiger Scharfblick, womit er schnell ihre Eigentümlichkeiten und Schwächen auffaßte; die Klugheit, von Übelwollenden Schlauheit oder Pfiffigkeit genannt, womit er sich in diejenigen, die ihm wohl oder wehe tun konnten, zu bequemen sich gefällig zu erweisen, seine Wünsche geschickt anzubringen, dem guten Willen seiner Gönner und Freunde sich dienstbar zu machen wußte.“ (Tradowsky 1985,109)

Hauser war also wirklich mit dem gesamten Repertoire der schwar­ zen Pädagogik konfrontiert. Daraus erklärt sich auch seine Isolation und Einsamkeit, die er gegen Ende seines Lebens durchmachte. Koch nennt nun diese Isolation und Vereinsamung inmitten der Gesellschaft den Kaspar-Hauser-Effekt, das Resultat der „schwarzen Pädagogik“. Die Beschreibung dieses Effektes wird von Koch so treffend formuliert, daß ich diese etwas längere Passage ungekürzt und unverändert wiedergeben möchte: „Mein Begriff charakterisiert einen negativ verlaufenden Erziehungsvorgang. Dieser Prozeß ist gekennzeichnet durch eine dogmatische Vorstellung von dem Wesen des

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Kindes und seiner Rolle in der Gesellschaft. Er geht von radikal vereinseitigten Zielvorstellungen aus, die ich mit den verabsolutierten Einzeltugenden der bürgerlichen Gesellschaft vorgestellt habe. Die Durchsetzung der Tugendgebote erfolgt mit Methoden, die zwanghaft sind. Die Fixierung auf die Norm läßt dem Erzieher keinen Raum, weder für alternative Zielvorstellungen noch für abwei­ chende methodische Maßnahmen. Das Instrumentarium dieses Erziehungsprozesses besteht aus den Faustregeln der Schwarzen Pädagogik. Sie lassen der Spontaneität und einer eigenen Entwicklung des Kindes keinen Spielraum. »Hoffnungsvoll* verläuft dieser Prozeß, wenn es dem Erzieher gelingt, die lebendigen Impulse des Kindes zu unterdrücken. Als gelungen wird die Erziehung bezeichnet, wenn sie erreicht, daß das Kind die vorgegebenen Normendiktate zu seinen eigenen Bedürfnissen uminterpretiert. Scheitert die Erziehung, so gerät der Zögling in einen Kessel pädagogisch verstandener Verfolgung. Am Ende dieses Prozesses steht die Ausgliederung. Sowohl die negative Konsequenz dieser Erziehung als auch die - im Sinne ihrer Vollstrecker - positive Entwicklung des Kindes haben eines gemeinsam: Sie führen beide zur Desintegration. Die Erziehungszwänge lassen den Menschen unbehaust, weil sie ihm den Weg zu einer Selbstfindung versperren. Das Ergebnis dieses Erziehungsvorgangs ist die Einsamkeit, sowohl die des vordergründig Angepaßten als auch die desjenigen, der sich den Anforderungen widersetzt hat. Das ist der Kern dessen, was der Kaspar-Hauser-Effekt beschreibt. Er meint nicht die räumliche Ausstoßung des Kindes, sondern seine erzieherisch bedingte Vereinsamung inmitten der Gesellschaft.“ (Koch 1995, 72 f.)

Zurück nun zu meiner Frage im Vorwort. Woher kommt diese Fas­ zination für die Figur des Kaspar Hauser? Dazu muß ich etwas weiter ausholen. Ich gehe davon aus, daß die Erziehungsprinzipien der Schwarzen Pädagogik zum Teil noch quasi im Original Verwendung finden, zu einem anderen Teil abge­ schwächt über die Generationen fortwirken und zu einem dritten Teil in modifizierter, sublimierter Form, um interpretiert nach den Bedürfnissen unserer Zeit, weiter angewandt werden. Das heißt, viele Kinder erleben noch immer dieselbe kreativitäts-, individuations- und lebendigkeitsfeindliche Erziehung. Dazu eine Geschichte, die sich tatsächlich, wie beschrieben, auf meiner Reise durch Deutschland auf den Spuren Kaspar Hausers so zutrug: Ich stehe in Ansbach vorm neuen, vom Lions-Club errichteten KasparHauser-Denkmal, lasse es auf mich wirken, fotografiere. Eine junge

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Familie kommt vorbei. Der ungefähr dreieinhalbjährige Bub schaut verwundert die Figur Kaspar Hausers an, versteht offensichtlich nicht, was sie bedeuten soll und richtet fragende Augen auf seinen Vater. Der belehrt seinen Sohn mit den Worten: „Weißt du, das ist ein Bub gewesen, der ganz lange im dunklen Keller eingesperrt war. Und wenn du schlimm bist, dann wird mit dir dasselbe gemacht.“ Ich war so erstaunt und erschrocken, daß ich dem Mann nur einen perplexen Blick mit dem Ausdruck meiner absoluten Mißbilligung zuwerfen konnte und zum Buben sagte: „Du Armer, ich hoffe, es passiert dir das nie.“ Viele von uns kennen also diese oben beschriebene Isolation, den Kaspar-Hauser-Effekt, in den die Methoden der „schwarzen Pädagogik“ treiben können. In der Auseinandersetzung und Identifi­ kation mit der Figur und dem Schicksal Kaspar Hauser gibt es eine Möglichkeit, uns selbst in dieser Isolation zu trösten, indem wir uns mit ihm verbünden. Indem wir ihn zu einer uns faszinierenden und spannenden Figur machen, erleichtern wir uns durch die Solidari­ sierung mit ihm unseren eigenen tief im Inneren noch immer lodernden Schmerz als Rest der Verletzungen durch die schwarze Pädagogik.

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Kaspar Hauser-Versuchskaninchen Däumers

Fünfte Spur: Das Austreiben des Kindlich-Lebendigen

Zusätzlich zum reinen und unverdorbenen Charakter nahmen diejenigen, die Kaspar kurz nach seinem Auftauchen kennenlemten, noch anderes Außergewöhnliches an ihm wahr. Das waren einerseits einmal körperliche Besonderheiten, die in den Gutachten der Ärzte, die ihn in Nürnberg untersuchten, aufscheinen. Weder an den Handflächen noch an den Fußsohlen wies Kaspar Hauser Hornhaut oder Schwielen auf. Außerdem zeigte er das so bezeichnete „Kniekehlenphänomen“. Dr. Preu beschreibt das in seinem Gutachten vom Dezember 1830 unter den Punkten 11 und 12: „11) Beide Kniee zeigen eine eigentümliche Bildung. Die Gelenkköpfe der Oberund Unterschenkel treten stark nach hinten zurück und sinken dagegen vorn samt der Kniescheibe beträchtlich ein; daher liegen, wenn Hauser sich auf die platte Erde setzt, die Füße in der Kniekehlen-Gegend so scharf auf, daß auch nicht ein Blättchen Papier durchgeschoben werden kann, während bei andern Menschen man füglich eine geballte Faust durchbringt. 12) Mit dieser Sonderbarkeit ist sogleich eine andere in Verbindung zu bringen, welche sich an Hauser in der oben angegebenen Stellung bemerken läßt. Er hält nämlich dabei seinen Rücken ganz gerade aufrecht, die Hände frei in die Luft hinausstreckend', dagegen jeder andere Mensch in dieser Lage seines Körpers und seiner Hände den Rücken zu krümmen gezwungen ist.“ (Tradowsky 1985, 17 f.)

Diese Beobachtungen werden oft als die kräftigsten und unwiderleg­ baren Beweise für Kaspar Hausers langjährigen Kerkeraufenthalt an­ geführt, den er ja, wenn er nicht schlief, hauptsächlich in sitzender Position verlebte.

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Kaspar Hauser- Versuchskaninchen Däumers

Aber noch etwas faszinierte und fiel am Anfang bei der Auseinan­ dersetzung mit Kaspar Hauser auf. Diese Erscheinungen sind wohl am ehesten als Folge der langjährigen Isolation in einer völlig von der Außenwelt abgeschirmten und extrem an Sinneseindrücken ar­ men Situation zu erklären. Kaspars Sinne hatten eine unerhört hohe Sensitivität aufzuweisen. Kaspar konnte bei fast völliger Dunkelheit noch sehen, Farben differenzieren, sein Gehör war sehr gut, und sein Geruchsorgan war sehr fein geworden. Und er „fühlte“, er fühlte, wenn Menschen auch in großer Entfernung ihre Hand nach ihm ausstreckten oft kalte Schauer, er konnte Metalle, die abgedeckt lagen, an ihrer Ausstrahlung erkennen usw. So war er natürlich für all jene seiner Zeit, die sich mit Magnetismus oder Animismus be­ schäftigten, ein äußerst interessantes Wesen. Für diese hohe Empfindsamkeit hatte Kaspar aber, was im Kerker ja nicht nötig war, keinen wie immer gearteten Wahrnehmungsfilter entwickelt, sodaß ihn alle Reize, mit denen er nach seinem Auftau­ chen konfrontiert war, völlig ungeschützt trafen. Man kann sich vorstellen, was er fühlte, als er nun in Nürnberg allen möglichen seine Sinne überfordernden Reizen ausgesetzt war. Gleich zu Beginn testeten die Polizisten in der Wachstube Kaspars Reaktion auf Schnupftabak und Alkohol, sie überforderten sein Ge­ hör mit Flintenschüssen aus nächster Nähe (vgl. Mayer/Masson 1995, 185 ff.) und fanden Spaß an dem unendlichen Schrecken, den sie Kaspar damit einjagen konnten. Seine Nase war so empfindlich, daß ihn jeder Geruch schmerzte, jede laute Stimme ließ ihn erschüt­ tern, er hatte ständig Kopfschmerzen, litt unter Schwächeanfallen, Übelkeit, ständigen Entzündungen der Augen, epileptiformen Anfallen, die immer mit einem Zucken der linken Gesichtshälfte begannen und sich auf die Extremitäten ausdehnten, wobei Kaspar auch mitunter die Augen überdrehte, Schweißausbrüchen, multiplen Schmerzzuständen, Fieber, also einer Vielzahl von ihn sehr quälenden körperlichen Symptomen, die wohl Ausdruck dieser Reizüberflutung waren (vgl. Mayer/Masson 1995, 111 ff.). Und obwohl bereits in den ersten Tagen vom Nürnberger Bürgermeister Binder erkannt worden war, daß Kaspar „weder verrückt noch blödsinnig, aber offenbar auf die heilloseste Weise von aller 92

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menschlichen und gesellschaftlichen Bildung gewaltsam entfernt“ (Hörisch 1994,24) worden war, sah man keinen Grund ihn zu schonen und langsamer an die Lautstärke, Gerüche und Sinneseindrücke im allgemeinen zu gewöhnen. Weiter durfte jeder, der ihn sehen wollte, zu ihm in den Turm und Experimente mit ihm machen, er war die bestaunte Sensation in einer Menagerie. „Kaspar hatte damals noch immer seine Wohnung auf dem Luginsland am VestnerTore, wo jedermann zu ihm gelassen wurde, der ihn zu besehen Lust hatte. - Wirklich genoß Kaspar vom Morgen bis zum Abend kaum eines geringeren Zuspruchs, als das Känguruh und die zahme Hyäne in der berühmten Menagerie des Herm van Aken.“ (Hörisch 1994, 150) „Ich brachte von meinem Besuch die Überzeugung mit mir zurück, welche ich auch am gehörigen Ort geltend zu machen suchte, daß Kaspar Hauser entweder an einem Nervenfieber sterben oder in Wahnsinn oder Blödsinn untergehen müsse, wenn nicht bald seine Lage geändert würde. Nach wenigen Tagen gingen meine Besorgnisse zum großen Teil in Erfüllung. Kaspar wurde krank, wenigstens so kränklich, daß eine gefährliche Krankheit zu befürchten stand“, schreibt Feuerbach. (Leonhardt 1994, 95 f.)

Erst Feuerbach setzte dem unmenschlichen Treiben ein Ende. Hauser wurde in die Obhut des Prof. Däumer gegeben, wo er sich langsam erholte. „Denn als Hauser von dem Herm Professor Däumer aufgenommen wurde, fühlte er sich so erschöpft, daß sein Leben in der größten Gefahr schwebte und seine Erholung langsam erfolgte“, äußert Dr. Osterhausen in seinem ärztlichen Gutachten vom 30. Dezember 1830. (Hörisch 1994, 55)

Wer jetzt meint, Kaspar hätte sein Martyrium hinter sich gebracht, täuscht sich. Obwohl Däumer und die Atmosphäre in seinem Haus immer als sehr positiv beschrieben werden, wird nun Kaspar auf mindestens zweierlei Hinsicht weiter gequält. Statt Kaspar Hauser langsam, liebevoll und behutsam in die neue, alte Welt zu begleiten, erachtet man es zuerst einmal als wichtig, ihn stumpf zu machen und den Umwelteinflüssen gegenüber abzuhärten. 93

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Zu diesem Zweck wird es als unbedingt notwendig erachtet, daß er Fleisch essen soll. Man glaubt, damit seine Sinne dumpfer und unsensibler machen zu können. Obwohl er in einer Liste der für ihn schlimmsten Gerüche an erster Stelle Fleisch erwähnt, das er viel widerlicher empfindet als zum Beispiel Stockfisch oder Katzenkot (vgl. Mayer/Masson 1995, 198 f.), er über mehrere Jahre hinweg nur Wasser und Brot, mit Kümmel, Fenchel, Anis, Salz und Koriander gewürzt, bekommen hat und auf Fleisch immer mit Abscheu reagiert, bekommt er im August 1828 erstmals Fleischbrühe und zwar einen Tropfen aufs Brot. „Es dauerte über 14 Tage bis dieser Tropfen ihm den Nervenreiz, den er das Laufen nannte, zu verursachen aufhörte.“ (Mayer/Masson 1995, 208) Darunter verstand Kaspar Schwindel, ein eigenartiges Kribbeln in den Armen und Beinen, als würde Wasser an ihm hinun­ terlaufen, Magenschmerzen und ein Zucken im linken Arm. Trotz dieser für Kaspar äußerst unangenehmen und angsteinflößenden Sensationen, bekommt er weiter Fleischbrühe, schließlich erste Muskelfleischfasern und schlußendlich Bratenfleisch. „43 Tage nachdem er den Tropfen, und 14 Tage nachdem er Fleischsuppe und Gemüse zu genießen anfing, (18. Novbr.) roch und schmeckte ihm zum erstenmale die Fleischkost gut“, triumphiert Däumer. (Mayer/Masson 1995, 213)

In der Frage der Ernährung wird also sehr unsensibel mit Kaspar umgegangen. Er, der eine unheimliche Verbundenheit mit der beleb­ ten Natur, vor allem auch mit Tieren hatte, wird gezwungen, Fleisch zu essen. Diese tiefe Verbundenheit mit den Tieren wird als einer seiner innigsten Charakterzüge zwar oft geschildert, aber in diesem Zusammenhang einfach übergangen. In den Aufzeichnungen von Zeitgenossen sind einige Beispiele dieser Nähe Hausers zu Tieren erwähnt. „Ich mußte ihm einst erlauben, einem Vogel, der gebraten werden sollte, die Freiheit zu geben, um nicht sein Gemüth gegen mich zu empören. Man kann keine Vorstellung von der rührenden Kindlichkeit haben, mit der er für ihn bat, und von dem Entzücken, mit dem er den Vogel davonfliegen sah. Er erzählte mir einst mit

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einem Ausdruck unendlicher Wehmut h, Herr *** habe heute einen Hasen und zwei Vögel aufder Jagd geschossen, die er noch bluten gesehen. Wie es möglich sey, daß die Menschen kein Erbarmen mit diesen Thieren hätten, die doch Niemand etwas zu Leide thäten? Als man ihm sagte, man tödte diese Thiere, um sich von ihrem Fleische zu nähren, erwiederte er, man könne ja etwas anderes essen, z.B. Brod, wie er." (Lakies/Lakies-Wild 1978, 182)

Auch in diesem Zusammenhang kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, es ging um mehr, als Kaspars Sinne stumpf zu machen oder ihm die Konfrontation mit der Umwelt zu erleichtern. Vielleicht war es einfach auch ein Machtkampf zwischen Däumer und seinem Schützling und eine Gelegenheit, ihm eben seine „rührende Kindlichkeit“ auszutreiben. Denn es ist für mich schwer verständlich, daß sich Däumer in seinen Beobachtungen und schriftlichen Aufzeichnungen einerseits so begeistert von Kaspars Sensitivität und außergewöhnlichen Fähigkeiten zeigt und andererseits dann so hartnäckig, fast gewaltsam ihm eben diese Eigenschaften auszutreiben versucht. Nun könnte der Leser sagen, daß meine Formulierungen etwas überzogen sind, es ja wirklich notwendig war, Kaspar an Normalkost zu gewöhnen, auch wenn sein Körper an tierische Produkte noch nicht gewohnt war, oder daß Däumer dabei vielleicht etwas zu hart, aber doch gut in seiner Intention verstehbar, vorgegangen sei. Als sich bei mir selbst dann schon Zweifel regten, ob ich das Gewöhnen an Fleisch wirklich im Zusammenhang mit den Praktiken der „schwarzen Pädagogik“ überhaupt erwähnen sollte, oder ob ich als Vegetarier vielleicht in diesem Zusammenhang etwas überreagierte, fand ich in einem Buch eine von Däumer selbst gegebene Antwort. Offensichtlich beschäftigte sich Däumer später selbstkritisch mit der Richtigkeit seines Vorgehens. „Ja, ich kann es nicht leugnen und muß es bei dieser Gelegenheit offen gestehen: ich habe mich bei meiner Behandlung Hausers eines großen Fehlers schuldig gemacht, den mir zwar niemand vorhält und den ich deshalb gar nicht zu berühren brauchte, den ich mir selbst aber kaum vergeben kann, wiewohl ich aus guter Absicht handelte. Die übermäßige Reizbarkeit und Empfindlichkeit Hausers für die

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Eindrücke der Außenwelt waren für ihn eine Quelle unaufhörlicher Schmerzen und Leiden: besonders sein Umgang mit Menschen wurde ihm dadurch verbittert, daß er gegen animalische Einwirkungen, die für gewöhnliche Menschen gar nicht existieren, so außerordentlich empfänglich war. Ich dachte mir, dies werde sich ändern, sowie es gelänge, ihn an animalische Kost zu gewöhnen... Die Absicht, die ich gehabt, ihn von diesen qualhaften Empfindungen zu befreien, wurde hiedurch wirklich erreicht; die physiologischen Wunder verschwanden, und die waren nicht nötig; und so wäre die Sache ganz gut gewesen. Aber es trat zugleich auch eine höchst fatale Verminderung seiner Fassungskraft und seines Denkvermögens und eine höchst bedauerliche Abstumpfung seines moralischen Gefühles ein, welche beide Eigenschaften zuvor in so hohem Grade bemerklich gewesen. Es war das für mich eine bedeutende Erfahrung in Rücksicht auf die Frage, ob animalische Nahrung dem Menschen natürlich, nützlich, insbesondere in höherer Rücksicht vorteilhaft sei. Daß ich den Findling daran gewöhnt, mußte ich jedenfalls schwer bereuen.“ (Mayer/Masson 1995,366 f.)

Nachdem man Kaspar auf die oben beschriebene Art die verschiede­ nen Nahrungsmittel nähergebracht hatte, war ein weiterer Plan ge­ reift. Man wollte an ihm die damals gerade populär werdende Ho­ möopathie erproben. Unter dem Vorwand, dem ständig kränkelnden, weil in der Auseinandersetzung mit der Umwelt überforderten, Kaspar helfen zu wollen, ging man daran zu hoffen, „daß durch die­ ses merkwürdige Individuum Vater Hahnemanns Lehre nicht allein ihre volle Bestätigung finden - nein! auch zugleich eine allen menschlichen Glauben übersteigende Ausdehnung erhalten sollte.“ (Tradowsky 1985, 48) Nur kurz will ich die homöopathischen Versuche mit Kaspar Hauser schildern. Man verabreichte ihm jeweils kleinste Einheiten verschiedenster Arzneimittel und beobachtete dann akribisch die je­ weils festgestellten Wirkungen. Ein Martyrium beginnt. Auf Schwefel reagiert Kaspar mit wiederholtem dünnem Stuhlgang, starkem Nasenbluten, Kopfschmerzen, Schweißaus­ brüchen und einer Vielzahl weiterer Symptome, die über drei Tage dauern. Auf Silicea (Kieselsäure) wird er blaß, hat das Gefühl, als wäre ihm ein Schlag versetzt worden, es folgen Schweißausbruch, Übelkeit, Aufstoßen, Augenstechen, die Augen entzünden sich und werden rot, Ohrenschmerzen, roter Bodensatz im Urin, Haarausfall,

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Kopfschmerzen, Erbrechen, mehrtägige Mattigkeit ... Alle Symp­ tome dauern in wechselnder Intensität mehrere Wochen. Ipecacuanha (Brechwurzel) bekommt Kaspar wegen krampfartigem Husten. Er reagiert darauf mit Husten, großer Hitze, heftigem Brust­ und Kopfschmerz und Augenentzündung. In der linken Brustseite bekommt er Drücken und Stechen, er hat das Gefühl zu ersticken, morgendliches Erbrechen und Gelbsucht. Weil Kaspars Männlichkeit noch nicht erwacht ist, gibt man ihm Lycopodium (Bärlapp). Er bekommt Schmerzen beim Urinieren und hat sieben Tage lang eine Morgenerektion (vgl. Tradowsky 1985, 56 ff.). Diese Liste der Versuche mit Kaspar Hauser wird in der Zusam­ menfassung der Arztberichte noch länger und ausführlicher fortge­ setzt. Kein einziges Mal tauchen Zweifel bezüglich dieser Experimente auf, kein einziges Mal werden ethische Gesichtspunkte diskutiert, nie wird über mögliche negative Auswirkungen nachgedacht, nie wird Kaspar um Einverständnis gefragt. Kaspar wird als einmalige Gelegenheit erachtet, mit dem man zu neuer wissenschaftlicher Er­ kenntnis vordringen kann. Es liegt mir fern, hier den Vertretern der Homöopathie etwas anzulasten, ich wählte die Beispiele des Fleischessens und dieser Arzneimittelprüfungen nur, um die rauhe, unsensible, menschen­ verachtende Atmosphäre darzustellen, mit der Hauser über Jahre konfrontiert war. Und wieder, wie im vorigen Kapitel, komme ich zu dem Schluß, daß auch das Ausdruck der kindfeindlichen Einstellung dieser Zeit war. Man war einfach nicht fähig, kindliches Empfinden nachzuempfinden. Man konnte, wollte oder durfte sich nicht mehr erinnern, wie Kinder empfinden und man selbst als Kind empfunden hat. Und Kaspar? Protestierte er nie? Er hatte es nicht gelernt. „Feuerbach schilderte ihn als .gehorsam, willig, nachgebend*. Kaspars Folgsamkeit war .unbedingt und ohne Schranken*.“ ... „Als Feuerbach Hauser einmal nach den Gründen für seinen .pünktlichen Gehorsam* fragte, gab er zur Antwort ,der Mann, bei dem ich immer gewesen, hat mich gelehrt, daß ich tun müsse, was man mir heißt*.“ (Koch 1995, 45 und 46)

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Vieles wurde Kaspar Hauser in seinen Jahren in Nürnberg und Ansbach beigebracht, aber auf eines vergaß man: auf die kritische Auseinandersetzung mit der Gesinnung der Leute, mit denen er zu tun hatte. Aber das war wohl damals, und ist es auch noch heute, eher ungewöhnlich, müßten doch die meisten Eltern selbst sich vor den kritischen Blicken und Fragen ihrer Kinder schützen. Wie oft wohl erleben Kinder dieses oben beschriebene Dilemma Kaspar Hausers? Es wird etwas mit ihnen gemacht, sie wissen nicht, warum und was das soll. In ihrem Unvermögen, Verhalten ihrer Be­ zugspersonen ihnen gegenüber zu hinterfragen, wählen die Opfer der schwarzen Pädagogik in ihren Entscheidungen den einzigen ihnen bekannten Weg, den des Gehorchens und Erduldens. Wie es Hauser erleben mußte, daß an ihm Erwachsene die Rich­ tigkeit ihrer (Alltags-) theorien beweisen wollten, so erleben es wohl Generationen von Kindern, daß ihre Eltern an ihnen die Richtigkeit ihres Weltbildes beweisen wollen. Diese Alltagstheorien können bei jeder Diskussion über Erziehungsmaßnahmen gehört werden: Kinder sollen möglichst schnell an die Anforderungen der Gesellschaft ge­ wöhnt werden; Härtet die Kinder ab, die Welt ist auch hart; Bleiben Kinder zu lange kindlich, gehen sie im Alltag unter; Holt die Kinder aus ihrer verträumten Märchenwelt, sonst sind sie ewige Verlie­ rer ... Diese Liste pädagogischer Alltagstheorien ließe sich endlos fortsetzen. Und nur wenigen Erziehern gelingt es, wie Däumer, Jahre nach den begangenen Fehlern sich selbstkritisch mit diesen Theorien auseinanderzusetzen und Rückschau zu halten. Und noch schwieri­ ger ist es für Kinder, sich von diesen Anschauungen zu befreien. Kaspar Hauser war also auch ein „sacrificium sui temporis“, ein Opfer seiner Zeit. Er fand aber schließlich doch irgendwo noch die Fähigkeit zur Kritik, zwar nicht direkt an seinen Erziehern, aber zumindest an den Ärzten seiner Zeit. Denn er wunderte sich über die Torheit der Menschen, die, wenn sie krank seien, Ärzte kommen lie­ ßen, um noch kränker zu werden, denn Ärzte, sagte Kaspar Hauser, wären Leute, welche die Kranken durch ihre Arzneien noch kränker machen würden (vgl. Mayer/Masson 1995, 158).

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Wolfskinder, Mythen und Legenden Sechste Spur: Ein Exkurs über „Kindergeschichten“. Das Änderte von Rinn

Kaspar Hauser ist sicher der spektakulärste und aufregendste Fall aller Geschichten, in denen es um rätselhafte Findlinge unbekannter Herkunft und dunkler Vergangenheit geht. Die Gründe dieser Fas­ zination, die dieser Fall ausübt, wurden ja schon zum Teil darge­ stellt, nun will ich in diesem Kapitel noch eine weitere Spur verfol­ gen. Immer wieder gab und gibt es solche oder ähnliche Geschichten von Kindern unklarer Herkunft, die lebhaftes Interesse erregen. Im Buch „Die wilden Kinder“ von Lucien Malson werden die rätselhaf­ testen und dokumentierten Fälle dieser „homines feri“ zusammenge­ faßt, und es wird auch das Schicksal Kaspar Hausers kurz beschrie­ ben (vgl. Malson/Itard/Mannoni 1972, 72 ff.). Legenden vom beson­ deren Schicksal besonderer Kinder bleiben ungewöhnlich lange im Gedächtnis der Menschen gespeichert, man denke nur an die Mythen über Ödipus, Romulus und Remus, Parsifal ..., sie spielen offen­ sichtlich in ihrem Gehalt für die Menschen eine besondere Rolle. Schon Freud hatte sich mit den Gemeinsamkeiten dieser Kinder­ schicksale auseinandergesetzt, die er folgendermaßen charak­ terisiert: „Im Anschluß an Otto Ranks Schrift Der Mythos von der Geburt der Helden vermutet Freud, daß die Schemata dieser Heldengeschichte - die meist vornehmste Herkunft bei kompliziertesten elterlichen Verhältnissen, eine kurz vor oder nach der Geburt träum- oder orakelhafte Warnung des Vaters vor dem Kind, die daraufhin veranlaßte, zur Aussetzung gemilderte oder verschobene Tötung des Kindes, seine Rettung durch Tiere oder sozial Deklassierte, eine lange und dunkle Latenzzeit und

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die schließliche, freilich meist selbstdestruktive Wiedereinsetzung in die oder gar Überbietung der ererbten Herrschaftsrechte zusammenstellen - auf urgeschichtliche Projektionen des frühkindlichen Konflikts zwischen narzißtischer Ichinflation und .großartiger Überschätzung des Vaters* abbildbar sind.“ (Hörisch 1994, 267 f.)

So könnte man an das Verständnis der Faszination, die solche Ge­ schichten auslösen, herangehen. Es sind Projektionen frühkindlicher Konflikte. Nicht umsonst verwendet Freud ja auch den Ödipusmy­ thos, um den zentralen Konflikt des Kindes in der genitalen Phase zu beschreiben. Das heißt, diese, im Falle Kaspar Hausers teilweise realen, in Mythen und Legenden fiktiven Geschichten dienen als Möglichkeit, die durch Konflikte verursachten Ängste und Traumata, die Kinder im vor allem so komplizierten Verhältnis zu den Eltern, Geschwi­ stern oder primären Bezugspersonen während der ersten Lebens­ jahre erleben, zu kanalisieren, zu erleichtern und auch zu verarbei­ ten. In diesem Sinne haben diese Mythen eine ähnliche Funktion wie Märchen. Ihr Ursprung ist das Unbewußte. Der Erwachsene erlebt nun in der Auseinandersetzung mit diesen Geschichten das schaurig-schöne Wiederaufflackem längst bewältigt oder vergessen geglaubter Konflikte seiner frühesten Kindheit. Anhand einer weiteren Geschichte und des Schicksals eines Kin­ des will ich das Angedeutete verdeutlichen. Im Buch „Anna und das Änderte“ (Strobl 1995) beschäftigt sich die Autorin Ingrid Strobl mit dem Anderle-Mythos und geht dessen Wurzeln nach. Es wird diese literarisch aufbereitete Recherche, in dieser Art auch ein Vorbild für meine Arbeit, aber auch zu einer Reise ins eigene Innere, da ihre Biographie von der fiktiven des Änderte nicht zu trennen ist. Anna, Erzählerin und Hauptfigur im Buch von Ingrid Strobl, stammt aus Tirol, studierte in Wien und hat jetzt einen kleinen Buchladen in Deutschland. Dort verkauft sie auch Bücher, die sich kritisch mit Faschismus, Nationalsozialismus, Antisemitismus usw. auseinandersetzen. Eines Tages fahrt sie in ihre Heimat auf der Su­ che nach ihren Wurzeln und den Wurzeln des Antisemitismus. Auf dieser Reise in die Vergangenheit stößt sie unter anderem auf die Ritualmordlegende des „Änderte von Rinn“. 1462 muß eine

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Taglöhnerin ihr Kind, das Anderle, dem Patenonkel überlassen. Der Göd verkauft es gegen einen Hutvoll Gold an großnasige Männer mit seltsamen Hüten, die es wiederum anderen seltsamen Fremden übergeben. Diese Männer, fahrende Juden, Schächten das dreijährige Anderle. Auf einem Stein, dem späteren Judenstein, wird das Kind von den Männern erstochen, ein Stück seiner Wange wird ihm herausgeschnitten, und schließlich wird ihm die Kehle durchgeschnitten, damit das Blut herausrinnt, das die Juden angeblich für ihre rituellen Bräuche brauchen. Grausam und herzlos seien die Männer gewesen, nur der Stein, auf dem Anderle lag, hätte sich erweicht, wie man noch heute an der Form des Steines in der Kirche deutlich sehen kann. Danach hängen sie das bleiche Kind an einer Birke auf, wo es die verzweifelte Mutter später findet. Diese hatte schon die ganze Zeit bei der Arbeit ein ungutes Gefühl, als sich aber der Himmel öffnet und ihr drei Tropfen Blut auf die Hand fallen, weiß sie Bescheid. Als sie das Anderle findet, wünscht sie sich die Rückkehr der Juden, damit sie sie auch umbringen, so groß sei ihr Schmerz gewesen. Judenstein nahe Rinn, ein Pilgerort mit Wallfahrtskirche, zeigt noch heute stolz den Judenstein. Das Deckenfresko, das die grausige Szene des Mordes am Anderle darstellte, wurde hingegen übermalt. Holzfiguren, die in den 60er Jahren entfernt werden mußten, standen um den Stein, darauf das Anderle mit einem Strick um den Hals. Dahinter wetzte einer der großnasigen Männer mit dickem Geldbeutel am Gürtel ein Messer, um damit das Anderle zu erstechen und ausbluten zu lassen. Ein Pilgerort und ein beliebtes Ziel für Schulwandertage, wie Anna als Kind leidvoll erfahren muß, als sie als Zehnjährige der Le­ gende erstmals begegnet. Sie reagiert verstört und erschüttert. Alles erfunden, ergibt Annas und damit Strobls Recherche, die ganze Legende das Werk eines gewissen Hippolyt Guarinoni, Juden­ hasser offensichtlich, der Anfang des 17. Jahrhunderts auf der Suche nach Ritualmorden diese Geschichte von seiner italienischen Heimat Trient nach Tirol verpflanzte, wo er eine einflußreiche Stelle beklei­ dete (vgl. Profil, 28/1993, 38 f.). Schnell war man damals mit Be­ weisen für die Blutgier der Juden bei der Hand, schnell konnten die 101

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Juden zu Schuldigen gemacht werden für Taten, die andere begangen hatten, und ebenso schnell wurde mit solchen Beschuldigungen die Saat des Antisemitismus gelegt. Die Legenden von Ritualmorden im Mittelalter durch Juden haben bis heute nichts an ihrer Aktualität für viele Tiroler verloren, sie werden gepflegt und verteidigt. Teile der Bevölkerung protestieren, als der inzwischen aus Altersgründen zurückgetretene Innsbrucker Bischof Stecher 1985 den Wallfahrtsort und die Kapelle des Anderle von Rinn umwidmet und sie den „unschuldigen Kindern“ weiht. Halbherzige Gedenktafeln sagen, „daß durchreisende Juden es getötet hätten, sei eine uns völlig unbewiesene Beschuldigung.“ (Strobl 1995,38) Auch der Bischof wagt es nicht, jenen Tirolern, die von der Heilkraft des Anderle überzeugt sind, mitzuteilen, daß alles erfunden wurde, um die Juden zu diskriminieren, es das Anderle nie gab. Ähnlich grausige Mythen gibt es wohl überall. Warum hielt und hält diese Legende sich aber gerade in Tirol so lange, fragt sich die Autorin. Sie paßt einfach gut in die jahrhundertelange antisemitische „Tradition“ der Tiroler, ist ihre Antwort. In Tirol, belegt sie, wurden Juden schon immer verfolgt, verleumdet, enteignet und ermordet. Eine durchgehende Linie von den Kinderritualmordbeschuldigungen im Mittelalter, für die Juden zur Verantwortung gezogen wurden, über die Greueltaten der Nazis bis hin zum heute noch immer existierenden Antisemitismus, wie Strobl anhand von Beispielen von damals und heute erschütternd aufzeigt. Anna erkennt diese Tradition des Antisemitismus in Tirol. Dort ist sie aufgewachsen, in dieser Tradition wurde sie erzogen, so ist es naheliegend, bei sich selbst Reste dieser Gesinnung zu suchen. Während der Studentenzeit in Wien sympathisiert sie mit der Lin­ ken, setzt sich für die Palästinenser ein und wird zur Antizionistin. „Seit einiger Zeit schon hege ich die böse Vermutung, es könne eine Verbindung geben zwischen der Tirolerin, die ich bin, und der Antizionistin, die ich wurde. Es gibt einen Strang, vielleicht auch nur einen Faden, der das eine mit dem andern verbindet, das Alte mit dem Neuen, das Rechte mit dem Linken, den Antisemitis­ mus der aufrechten Tiroler mit meinem Antizionismus. Sie sehen sich auf den

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ersten Blick, und auch auf den zweiten, nicht ähnlich, und doch muß dieses eine der Wurzeln für jenes sein.“ (Strobl 1995, 63)

So ist die Saat des Antisemitismus doch auch noch bei ihr aufgegan­ gen. Was es bedeutet, wie ein Jude behandelt zu werden, erfahrt Anna auch. Die Fensterscheiben ihres Buchladens werden mit braunen Hakenkreuzen beschmiert. Ein paar Gedanken und Fragen zu dieser Ritualmordlegende ha­ ben sich mir, als ich das Buch so nach der Lektüre auf mich wirken ließ, aufgedrängt. Anderles Mutter vertraut das Kind dem Göd an, dem sie aber eigentlich nicht traut. Warum gibt sie das Kind jeman­ dem, dem sie nicht traut? Wenn es keinen Vater gibt - wenn nicht der Göd für den Vater steht-, dann war das Anderle wohl ein uneheliches Kind. Welch Schande im erzkonservativen, heiligen Land Tirol und welch schwierige Situation für die Mutter! Vielleicht war er gar nicht so sehr erwünscht, der uneheliche Bub. Wo kommt das Blut an der Hand der Mutter her, wie man an ei­ nem Fresko erkennen kann? Blut fallt nicht so leicht vom Himmel, und eine Sichel hat sie auch in der Hand. Hat am Ende die Mutter alleine oder mit dem Göd das Kind getötet und zwar so, daß die Schuld sofort den Juden in die Schuhe geschoben werden konnte, wie es Strobl im Buch auch nahelegt? Ein nur vorgetäuschter Ri­ tualmord? Wie ist denn der Göd moralisch zu bewerten, der Tiroler, der Kinder verkauft, noch dazu an dessen zukünftige Mörder? Wieder will ich in diesem Zusammenhang kurz an Lloyd deMause und seine psychohistorische Studie „Hört Ihr die Kinder weinen“ (deMause 1989b) erinnern. In diesem Buch belegt er, daß Kinder immer wieder, nicht nur in der Phantasie, mit der Gefahr konfrontiert waren, daß sie umgebracht werden. Ich will mich aber jetzt einmal eher mit der Phantasie der Kinder auseinandersetzen. Sie erleben ja die Eltern als übermächtig, wissen nicht nach dem, was sie so beobachten und fühlen, ob die Eltern es wirklich immer gut mit ihnen meinen. Sie haben multiple Ängste, die sich zum Teil aus dem realen Verhalten der Eltern erklären lassen können, aber auch aus inneren Konflikten, die sie durchleben. Wie wird Vater reagieren, wenn ich mich in Mutter verliebe? Wie wird Mutter 103

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reagieren, wenn ich mich einmal kurz ihrer Einflußsphäre entziehe? Werden sie böse sein, mich verkaufen, mich weggeben, gar an fremde Menschen, die dann... Was wird mit mir geschehen, wenn Vater und Mutter sterben werden? Was wird passieren, wenn ich mir den Tod meines Rivalen, meines Geschwisterchens, wünsche? Auch Marie Langers Buch „Das gebratene Kind“ (Langer 1987), in dem die Autorin ebenfalls einer Kindesmordlegende nach­ recherchiert, legt eine ähnliche Spur. In dieser Legende, die im Juni 1949 in Barcelona überall erzählt wurde und daher auch vor dem Hintergrund der Schreckensszenarien des Zweiten Weltkriegs gesehen werden muß, vertraut ein junges Ehepaar sein Kind dem neu eingestellten Dienstmädchen an, um ins Kino zu gehen. Als sie nach Hause kommen, präsentiert das Dienstmädchen im Hochzeitskleid der Mutter den Eltern im vollerleuchteten Haus auf einer großen Platte das Kind, gebraten und mit Kartoffeln angerichtet. Die Mutter wird verrückt, der Vater erschießt das Dienstmädchen und wird danach nicht mehr gesehen (vgl. Langer 1987, 17 ff.). Auch in dieser Legende werden zum Teil unbewußte Ängste so­ wohl der Kinder als auch der Eltern kanalisiert. Geschichten wie diese haben meines Erachtens drei besonders wichtige, voneinander aber nicht scharf abgrenzbare Funktionen und Bedeutungen. Erstens verschieben sie die Angst und Ohnmacht der Kinder vor der Macht der Eltern wie auch im Märchen auf andere. Nicht die Mutter ist gefährlich und böse, sondern die Hexe oder das neue Dienstmädchen, nicht die Mutter ist eine potentielle Mörderin, son­ dern der großnasige Mann mit dem seltsamen Hut, auch wenn das Kind, das diese Geschichte hört, sehr wohl die versteckten Andeu­ tungen mit dem Blut, das vom Himmel fallt, und der Sichel in der Hand der Mutter als zweite Botschaft versteht. Zweitens stellen Ritualmordbeschuldigungen natürlich einen Aspekt des Antisemitismus dar. Der Jude dient als Container für bestimmte Projektionen unbewußter, unerledigter Konflikte. Er übernimmt die im Erwachsenen schlummernde Phantasie der Beseitigung unerwünschter Geschwister, mit denen man Nahrung, Sicherheit und Liebe der Mutter plötzlich teilen muß. 104

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„In der Geschichte erweckten Juden als unbekannte und fremdartige Wesen bei ihren Nachbarn tiefsitzende primitive und ungelöste Feindseligkeiten, die ursprünglich gegen jüngere Geschwisterfiguren oder auch gegen jeden anderen gerichtet waren, dem unterstellt wurde, daß er in die als rechtmäßiges Eigentum empfundenen Sphären eindringen wolle. Die charakteristische Phantasie älterer Geschwister besteht darin, das Neugeborene zu vernichten, indem es gefressen und einverleibt wird. Diese Vision von Kindesmord und Kannibalismus enthält nicht nur die Beseitigung des jüngeren Geschwisters. Sie erfüllt auch einen Phantasiewunsch, nämlich den Platz des Babys einzunehmen, indem man es sich einverleibt und sich somit mit ihm identifiziert. Die Beschuldigung des Ritualmordes entspringt, so meine Hypothese, der Projektion dieser unbewußten Wünsche der Kindestötung und des Kannibalismus von den Christen auf die Juden.“ (Arlow 1992,1130)

Der unbewußte Rivalitätskonflikt wird also durch Projektion und In­ korporation abgewehrt. Anstelle der Juden können natürlich auch Ausländer, Asylbewerber oder Flüchtlinge, weil fremd und deshalb angstauslösend und potentielle Konkurrenten am gemeinsamen Tisch, als Projektionsfläche dienen. Drittens entlasten sich die Eltern durch solche Legenden, denn sie projizieren ihre gesellschaftlich verpönte Wut und ihre Vernich­ tungswünsche den Kindern gegenüber auf andere, in diesem Fall auf die Juden oder das Dienstmädchen. Diese trachten den Kindern nach dem Leben, nicht sie. Und doch ist viel Aggressivität seitens der Mutter bzw. der Eltern spürbar. Das Kind wird dem Göd anvertraut, dem die Mutter gleichzeitig mißtraut, das andere Kind dem neuen, noch unbekannten Dienstmädchen. Ständig hat die Mutter des An­ derle ein Gefühl der Vorahnung und des Unbehagens, doch sie un­ ternimmt nichts, und wer weiß, vielleicht ist das Blut an ihrer Hand gar das des Anderle. Daß natürlich auch in die Mutter Tötungs­ wünsche dem rivalisierenden Geschwister gegenüber hinein­ interpretiert werden können, muß in diesem Zusammenhang nochmals erwähnt werden. Die Mutter mit der Sichel in der Hand hätte dann dem Wunsch nach Tötung des Rivalen bereits stattgegeben. Doch dieser Aspekt der Mutter darf nur ganz kurz auftauchen, er ist unerträglich und zu angstbesetzt, der Jude muß zuletzt zum Täter werden. Die erste Fassung der Projektion wird 105

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also noch einmal verschoben. Hinter diesen Verhaltensweisen und Abwehrmechanismen offenbaren sich also unbewußte Phantasien, ausgelöst durch primitive Kindheitskonflikte, und die ganze ambivalente Einstellung (im Sinne einer unversöhnlichen Front) zum Kind, sowohl zum Kind im außen, als auch zum Kind im eigenen Inneren wird sichtbar. Tirol wird von Strobl als sehr konservatives, sehr traditions­ verhaftetes Land präsentiert. Die Kirche, die Eltern, und überhaupt alles, was früher war, gilt es zu ehren. Alles Fremde, Unvertraute ist verdächtig, macht Angst, wird deshalb mit allen möglichen Vorurteilen und Projektionen besetzt, so wie es den Juden über Jahrhunderte hinweg passiert ist. In einer solchen Kultur wird jemand wie Hitler mit seiner Herrenrassenidee, seiner Polarisierung, seiner erwarteten Treue und Ergebenheit Traditionen und Autoritäten gegenüber natürlich leichtes Spiel haben. Seine Ideen setzten ja schon vorhandene Ideen nur fort, konkretisierten oder verschärften sie vielleicht nur, wenn es auch zu einer Umsetzung dieser Ideen in einem bisher noch nie gekannten Ausmaß an Grausamkeit und Brutalität kam. Aber auch er und seine Getreuen hatten es in der Hand, über Leben und Tod seiner Untergebenen zu entscheiden, so wie Eltern es im Mittelalter laut Lloyd deMause getan haben, und wie Kinder es ängstlich in gerade auf Gehorsam und Autorität aufgebauten Erziehungssystemen immer wieder erleben. Alles eigene Böse wird projizierend in die Juden gepackt und mit ihnen vernichtet, der Tiroler selber steht dann geläutert und gesäubert da und hat die Liebe der Eltern, der Autoritäten und auch Hitlers endlich für sich alleine. Er braucht keine Angst mehr davor zu haben, für das Schlechte und Böse in ihm, eventuell von den eigenen Leuten, von der eigenen Mutter bestraft oder gar getötet zu werden. Das bedeutet natürlich eine unglaubliche, kollektive Entlastung und Erleichterung, allerdings wieder auf Kosten der anderen, der Juden, der Zigeuner, der Ausländer usw. Logisch, daß man solche Zeiten dieser emotionalen Entlastung gerne immer hätte oder ihnen zumindest lange nachtrauert. Wie verständlich wird es dann, daß der Tiroler aufschreit, wenn man ihm das Anderle wegnehmen will, wenn man die seines Glau106

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bens historische Tatsache zum Mythos macht. Das Anderle ist doch zu einem großen Teil er selber, das kleine bedrohte, ängstliche, aber auch bedrohende und eifersüchtige Kind in ihm. Eines muß ihm aber endlich klar werden, der Bedrohende ist nicht der Jude, sondern die Gesellschaft, die Familie, die Eltern und nach abgeschlossener Intro­ jektion und Identifikation er selber! Und wieder sind wir mit dieser Auseinandersetzung möglichen Schiefheilungen, Pseudolösungen innerpsychischer Konflikte, auf die Schliche gekommen, der des Nationalsozialismus, insbesondere des Antisemitismus aber auch der Ausländerfeindlichkeit. Unbewußte Inhalte eigener, unerledigter frühkindlicher Konflikte werden in andere projiziert und dort bekämpft. In diesem Lichte müssen also solche Geschichten, Mythen und Legenden über rätselhafte Kinder auch gesehen werden. Bruno Bettelheim, und damit komme ich zu einem weiteren Aspekt dieser Geschichten, beschäftigt sich in einem Kapitel seines Buches „Die Geburt des Selbst“ auch mit dem anfangs erwähnten Mythos der Wolfskinder, und hier vor allem mit den zwei im Jahre 1920 in Indien angeblich in einer Höhle in Gesellschaft von Wölfen gefundenen Mädchen Amaia und Kamala (vgl. Bettelheim 1995, 448 ff.). Die Wildheit der Mädchen, ihr an Wölfe erinnerndes Abwehrverhalten, ihr Laufen auf allen Vieren usw. werden als deut­ liche Indizien verwendet, um zu glauben, die Mädchen seien von Wölfen aufgezogen worden. Bettelheim bezweifelt diesen Teil der Geschichte der zwei Mädchen, vergleicht das an wilde Tiere erin­ nernde Verhalten der zwei indischen Mädchen mit dem Verhalten autistischer Kinder, mit denen er Erfahrung hat, und kommt zu fol­ gendem Schluß: „Ein Vergleich des sogenannten ,homo ferus* mit den bekannten und eingehend erforschten Fällen von wilden oder stillen autistischen Kindern läßt vermuten, daß das Verhalten dieser Geschöpfe großenteils oder vielleicht ganz und gar darauf zurückzufuhren ist, daß sie in frühester Kindheit auf eine extreme emotionale Iso­ lierung reagieren mußten, die sich mit Erfahrungen verband, welche sie als ihr Leben bedrohend interpretierten. Das Verhalten dieser Kinder ist offenbar großen­ teils auf die Unfähigkeit ihrer Eltern, ihrem Kind das zu geben, was es braucht,

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Wolfskinder, Mythen und Legenden

zurückzuführen; und nicht zurückzufilhren ist es auf ein menschliches Verhalten, das ein Tier gegenüber diesen Kindern an den Tag gelegt haben soll.“ (Bettelheim 1995, 500)

In diesen Mythen, deutet Bettelheim an, verbergen sich mehrere wohl unbewußte Mitteilungen. Zuerst der elterliche Wunsch, die Kinder seien tot, dann das Nicht-Wahrhaben-Wollen des „Tierischen“ im Menschen, und schließlich lenken sie von der Tatsache und vor allem von den Gefühlen, die verbunden mit dieser Tatsache auftauchen müßten, ab, daß nämlich der Autismus der Wolfskinder auch zu einem großen, wesentlichen Teil durch emotionale Vernachlässigung seelenblinder, zu Liebe und Hingabe unfähiger Eltern verursacht wird. Doch noch einmal zurück zu Kaspar Hauser, den Bettelheim als ein Beispiel für den ruhigen autistischen Typus heranzieht (vgl. Bettelheim 1995, 488). Auch in dieser, im Gegensatz zu den beiden oben erwähnten Legenden (das „Anderle“ und das „Gebratene Kind“) jedoch zum Teil realen Geschichte, besteht in der Identifizierung mit ihm die Möglichkeit, eigene Ängste und Phantasien, die jedes Kind in den einzelnen Entwicklungsphasen erlebt, wieder aufleben zu lassen. Werde ich, bevor ich den Thron besteigen kann, beseitigt? Wird der Vater mich, den Rivalen, beseitigen lassen? Wird es mir gelingen, auch nach der Strafe der Isolation, doch noch meine Aufgabe in dieser Welt erfüllen zu können? Wer wird mir Verbündeter sein, wem kann ich vertrauen? Warum konnten meine Eltern mich nicht lieben? Warum sperrt niemand meinen Rivalen in den dunklen Kerker? Der Kaspar-Hauser-Mythos kann heute wie damals also noch einer kollektiven Entlastung dienen. Sein Schicksal berührt die emotionalen Entsprechungen in unserem Unbewußten. Durch die Auseinandersetzung mit ihm werden diese Ängste und Phantasien aktiviert, erinnerbar, und wir werden, wenn die Konfrontation mit ihnen bewußt gemacht wird, auch nach und nach von ihnen geheilt. Ein Grund mehr, sich auf das Schicksal Kaspar Hausers einzulassen.

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Assoziationen zum Thema Autismus

Siebente Spur: Das Kaspar-Hauser-Syndrom

Der erste, der meines Wissens die Geschichte Kaspar Hausers mit dem Phänomen Hospitalismus in Zusammenhang brachte, war bereits im Jahre 1962 ein gewisser Dr. Abegg. Er beschreibt in einem Artikel in der Zeitschrift „Der Psychologe“ den von ihm so genannten, psychischen Heimschaden. Unter diesem Begriff sub­ sumiert er folgende Symptome: verzögerte Sprachentwicklung, Mangel an Kontaktfahigkeit mit der Außenwelt, eventuelles Zurück­ bleiben der Intelligenz, eingeschränkte Gedächtnisleistung und Abstraktionsfähigkeit, Antriebsstörung bis zur Apathie, all das bedingt durch ausgeprägte affektive Vernachlässigung (vgl. Abegg 1962, 12). Den Artikel, in dem er kurz das Schicksal Kaspar Hausers Revue passieren läßt, schließt Abegg folgendermaßen: „Zusammenfassend handelt es sich also um einen Jüngling mit guter Erbmasse, der seine ganze Jugend ohne jede menschliche Liebe und ohne jede äußere Anregung, bei extremer »seelischer Mangelernährung4 verbracht hat und nach seinem Eintritt in die Kulturwelt das Bild des Heimschadens in geradezu klassischer Form zeigte. In den folgenden Jahren hat er die retardierte Entwicklung zunächst in einer optimalen Pflegefamilie zum Teil nachgeholt, kam aber nach mehrfachem Wechsel seiner Unterbringung zu einem Stillstand, sodaß er ein affektiver und intellektueller Krüppel geblieben ist. Wir möchten Vorschlägen, das Bild des extremen Heimschadens nach diesem einzigartigen Fall als Kaspar-Hauser-Syndrom zu bezeichnen und betonen, daß es selbst nach einer so schweren inanitio mentis gelingt, das Versäumte in einem liebevollen und anregenden Milieu zum großen Teil wieder aufzuholen.“ (Abegg 1962, 16)

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Assoziation zum Thema Autismus

Dieser Anregung folgten die Autoren Nau und Cabanis in ihrem 1966 erschienen Artikel, in dem sie kurz einen Fall eines KasparHauser-Syndroms infolge extremer Kindesvemachlässigung skizzie­ ren (vgl. Nau/Cabanis, 1966, 929 ff). Sie sehen die Genese ihres Kaspar Hausers, eines vierjährigen Mädchens, multifaktoriell: he­ reditäre Komponenten, diffuse frühkindliche Himschäden und die emotionale Vernachlässigung spielen zusammen und fuhren zu aus­ geprägten Verhaltensauffalligkeiten, Kommunikationsstörung und intellektuellem Tiefstand. Durch intensive sonderpädagogische Maßnahmen konnte dieses Kind jedoch einen Großteil seines Ent­ wicklungsrückstandes aufholen. Hier gilt es nun einige Begriffe zu klären. Der von Abegg so be­ zeichnete Heimschaden, ein Syndrom, verursacht durch affektive Vernachlässigung und durch die affektfreie Atmosphäre von Institu­ tionen, ist mit dem Begriff Hospitalismus, den Rene Spitz verwen­ det, gleichzusetzen. Er war der erste, der in den 40er und 50er Jahren das Problem des Entzuges affektiver Zufuhr und dessen Auswirkung auf Kinder aus psychoanalytischer Sicht erforschte. In seinem inter­ essanten Buch aus dem Jahre 1965 „Vom Säugling zum Kleinkind“ (Spitz 1992) beschreibt er seine Forschungsergebnisse. Spitz beob­ achtete Kinder in Säuglingsheimen und Findelhäusern, in denen Kinder zwar sehr sauber, fast steril, betreut wurden, genug Nahrung bekamen, aber in den ersten Lebensmonaten Phasen durchlebten, in denen es zu einem partiellen oder totalen Entzug affektiver Zufuhr durch Fernbleiben der Mütter oder zu geringe emotionale Zuwen­ dung durch die Betreuerinnen kam. Die Folge der partiellen affekti­ ven Vernachlässigung nennt Spitz nun anaklitische Depression. Zu­ erst wurden die Kinder weinerlich, anspruchsvoll und anklammemd, später kam es zu Gewichtsverlusten und einem Sistieren der Ent­ wicklung. Schließlich verweigerten die Kinder Kontakt, lagen im Bettchen auf dem Bauch, verloren weiter an Gewicht, Schlafstörun­ gen stellten sich ein, eine motorische Verlangsamung war zu beob­ achten, und schließlich entstand ein spezifischer, starrer Gesichts­ ausdruck. Die Kinder wurden immer lethargischer. Dieser Zustand war jedoch reversibel, wenn die Kinder wieder in Kontakt mit ihrem Liebesobjekt, zum Beispiel der Mutter, kamen. Blieb der Entzug af110

Assoziation zum Thema Autismus

fektiver Zufuhr aber weiter aufrecht, so entstand das Vollbild des Hospitalismus. „Die Verlangsamung der Motorik kam voll zum Ausdruck; die Kinder wurden völlig passiv; sie lagen in ihren Bettchen auf dem Rücken. Sie erreichten nicht das Stadium motorischer Beherrschung, das notwendig ist, um sich in die Bauchlage zu drehen. Der Gesichtsausdruck wurde leer und oft schwachsinnig, die Koordination der Augen ließ nach. Wenn nach einiger Zeit die Motilität wieder auflebte, geschah es bei manchen Kindern in Form des ,spasmus nutans*; bei anderen zeigten sich seltsame Bewegungen der Finger, die an athetotische Bewegungen erinnern.“ (Spitz 1992,290)

Der Entwicklungsquotient nahm sukzessive ab, durch erhöhte Infektanfalligkeit kam es schließlich zu einer deutlich erhöhten Sterblichkeit der betroffenen Kinder. Spitz kam also zum Schluß, daß emotionale Deprivation und das Fehlen einer angemessenen Stimulierung zu anaklitischer Depression und schwerwiegender emotionaler und intellektueller Retardierung fuhren. Im Extremfall resultieren Marasmus und der Tod. Dabei handelte es sich an und für sich ja um keine neue Erkennt­ nis. Schon die von Friedrich II. veranlaßten Experimente im 13. Jahrhundert mit Säuglingen, die in einer Atmosphäre völliger emotionaler Vernachlässigung aufwachsen mußten, brachten die überlieferte Erkenntnis, daß der Mensch ohne emotionale Nähe anderer Menschen nicht überleben kann (vgl. Bettelheim 1995, 500 f.). Heute werden solche Deprivationsversuche KasparHauser-Versuche genannt. Der Hospitalismus mit seinem Entzug affektiver Zufuhr kann nun wiederum nicht getrennt gesehen werden vom Phänomen des Autis­ mus. Auch bei der Entstehung des Autismus spielt emotionale Ver­ nachlässigung eine Rolle, obwohl es unklar ist, ob zuerst die Ver­ nachlässigung seitens der Bezugspersonen vorhanden ist, oder aber eine tiefgreifende Entwicklungs- und Wahrnehmungsstörung beim Kind, im Sinne einer angeborenen oder erworbenen Himschädigung. Neueste Erkenntnisse der Hirnforschung beschreiben und betonen, im Gegensatz zu Bettelheim, doch eine ausgeprägte Himreifungsstö-

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Assoziation zum Thema Autismus

rung im Bereich des Temporallappens, dem ja unter anderem eine wesentliche Rolle bei der Steuerung sozialer Interaktion zugespro­ chen wird. Beim frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom), und diese Krankheit trifft wohl auf die meisten Fälle der sogenannten Wolfs­ kinder zu, besteht von den ersten Lebenstagen an eine deutliche Kontaktstörung. „Diese Kinder strecken die Arme nicht nach der Mutter aus, sie entwickeln kein Lächeln, die Zuwendung ist vom ersten Lebenstag an gestört; sie bleiben im Zuge ihrer Sprachentwicklung zurück, zwei Drittel der Fälle lernen zwar später etwas sprechen, sie machen aber dann vom Ich-Begriff keinen Gebrauch; sie sprechen über sich nur durch die Nennung ihres Vornamens oder in der dritten Person; manche Fälle erreichen überhaupt kein Sprachniveau, die Sprache wird als Aus­ drucks- und Kommunikationsmittel nicht verwendet; selbst bei den schwersten Fällen bleibt die Fähigkeit, Melodien und auch Gedichte zu merken und darauf zu reagieren, erhalten. Der äußere Eindruck dieser Kinder ist unauffällig, man würde sie rein aspektmäßig nicht als oligophren bezeichnen. Sie hantieren mit den Objekten geschickt und haben manchmal auch zu diesen eine sehr positive Beziehung. Trotzdem ist ihr äußerer Eindruck unkindlich, sie verhalten sich so, als ob sie ,nicht von dieser Welt wären*; jede Änderung der äußeren Umwelt oder der Versuch, diese Kinder in einen Handlungsablauf miteinzubinden, wird von ihnen als störend empfunden und mit Erregung und Abwehr beantwortet.“ (Spiel/Spiel 1987, 228)

Ätiologisch stehen sich, wie bereits erwähnt, zwei Meinungen ge­ genüber, die psychodynamische Sicht betont die gestörte MutterKind-Beziehung, die andere Sichtweise glaubt eher, daß ein wesent­ licher Faktor für die gestörte Entwicklung durch eine pränatale oder perinatale Hirnschädigung, eine Sinnesdeprivation oder Sprachent­ wicklungsstörung gegeben ist, also eine Art somatische Grundlage für diese tiefgreifende Entwicklungsstörung vorhanden ist, deren Hauptsymptom aber sicher die Störung des affektiven Kontaktes ist. Stimmen die Annahmen, die Kindheit und Jugend Kaspar Hausers betreffend, so litt er wohl auch einerseits unter schrecklicher emo­ tionaler Deprivation, jedoch erst ab dem vierten oder fünften Lebensjahr, andererseits sprechen Organbefunde für eine doch recht 112

Assoziation zum Thema Autismus

ausgeprägte Veränderung des Gehirnes - vor allem auch den Temporallappen betreffend worauf ich im nächsten Kapitel genauer eingehen will. Die ersten Jahre seiner Sozialisation müssen aber relativ günstig gewesen sein, sodaß es ihm möglich war, die Kerkerjahre zu überleben. Auf die von mir vermutete Rolle der Pferdchen im Sinne eines Übergangsobjektes habe ich schon in einem eigenen Kapitel hingewiesen. Bruno Bettelheim, der ja eher die erlebnisreaktive Entstehung au­ tistischer Erkrankungen betont, bezeichnet Kaspar Hauser, wie be­ reits erwähnt, als Autisten. Die langjährige Isolation, verbunden mit der extremen affektiven Deprivation, hat sicher zu einer ausgeprägten Regression geführt, ja fuhren müssen, um überhaupt ein Überleben zu ermöglichen. Kaspars Verhalten, seine Art zu sprechen, seine Kontaktaufnahme zu Mitmenschen scheinen diese lange Zeit der Trennung von Mitmenschen und Umwelt zu bestätigen. Neben dem frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom) wird un­ ter dem Begriff des Autismus-Syndroms in der Fachliteratur noch ein zweites autistisches Zustandsbild beschrieben, nämlich die autistische Psychopathie nach Asperger. Auch bei diesen Kindern und Jugendlichen ist die Art der Kontaktaufnahme zu Menschen und zur Umwelt allgemein schwer gestört. Die Beziehungen werden oberflächlich gestaltet, auffällig ist das Aussehen, ihre Mimik und Gestik, bizarr ihr Verhalten und die Motorik. Sie sind wirkliche Originale, pointierte Charaktere mit verarmtem Gefühlsleben bei meist guter Intelligenz. Im Vordergrund stehen schwere soziale Einordnungs- und Anpassungsschwierigkeiten. Nicht selten sind ausgeprägte Sonderbegabungen zu finden (vgl. Spiel/Spiel 1987, 229 f.). Dustin Hoffman spielt einen dieser „Aspergerschen Autisten“ be­ sonders eindrucksvoll im Film „Rain Man“. Auch hier bleibt die Ursache unklar, die Theorien sprechen von Restzuständen frühkindlicher Psychosen oder von frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehungsstörungen. Ich sehe mich in der Diskussion der möglichen Krankheitsbilder Kaspar Hausers mit der Tatsache konfrontiert, daß nichts und gleich113

Assoziation zum Thema Autismus

zeitig alles auf ihn zutrifft. Er hatte unter einem fürchterlichen Ent­ zug affektiver Zufuhr zu leiden, wenn auch vermutlich erst ab dem vierten oder fünften Lebensjahr, sodaß anaklitische Depression und das Hospitalismussyndrom nicht mehr auftraten. In der Obduktion ergaben sich zwar Mißbildungen des Gehirnes, sodaß eine somati­ sche Grundlage auch für einen frühkindlichen Autismus vorhanden gewesen wäre, die Beschreibung von Kaspars Verhalten und Innen­ leben paßt aber wiederum eher zum Typ der autistischen Psychopa­ thie Aspergers. Wie Kaspars Beziehung zu seinen, vermutlich mehr­ mals wechselnden Bezugspersonen war, läßt sich nicht mehr rekon­ struieren, ebensowenig ist die These eines Restzustandes nach früh­ kindlicher Psychose von der Hand zu weisen. Kaspars Schicksal ist so einmalig, gleichzeitig aber auch so voller Ungewißheiten und Rätsel, daß mir der Vorschlag Abeggs, Kaspars psychisches Zustandsbild, sein Verhalten, seine Besonderheiten unter dem Begriff Kaspar-Hauser-Syndrom zusammenzufassen, immer besser gefällt. Eine Gemeinsamkeit liegt aber in allen in diesem Kapitel verwen­ deten Begriffen, nämlich der Erklärungsmodus der Störung der Ob­ jektbeziehung durch schwere Traumata. Anaklitische Depression, Hospitalismus, autistische Syndrome, frühkindliche Psychosen und schließlich auch das Kaspar-Hauser-Syndrom können nur verstanden werden, wenn man sich des Erklärungsmodells der Objektbezie­ hungstheorie bedient. Diese psychoanalytisch orientierte Theorie, repräsentiert durch Autoren wie Klein, Mahler, Spitz oder Winnicott, legt weniger Gewicht auf die von Freud entwickelte Triebtheorie, im Sinne der phasenhaften Entwicklung der Libido, sondern mehr auf die frühkindlichen Interaktionen zwischen Kind und Bezugsperson, wie im Kapitel über die Mahlersche Entwick­ lungspsychologie bereits dargestellt. Ein weiteres faszinierendes Buch möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen, in dem durch Fallbeispiele Traumata in der frühen Mutter-Kind-Beziehung und ihre pathogenen Auswirkungen beschrieben werden, nämlich das im Jahre 1979 veröffentlichte Buch von Margaret Mahler „Studien über die ersten drei Lebensjahre“. (Mahler 1992)

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Assoziation zum Thema Autismus

Ich interpretiere die Phase dieser frühen Objektbeziehung so: Langsam, Schritt für Schritt, wird das Kind aus seinem autistischen Schneckenhaus hervorgelockt, muß zur Wahrnehmung der Welt verfuhrt werden, wird langsam ermutigt sich als selbst- und eigen­ ständiges Wesen wahrnehmen zu können und auch zu wollen. Immer wieder gibt es (auf beiden Seiten) Unsicherheiten, tritt Angst auf, immer wieder aber wird das Kind ermutigt, zum Entdeckungs­ reisenden in dieser Welt zu werden. Das Kind selber ist aber nicht hilflos der Bezugsperson ausgeliefert, es selber ist natürlich auch Verführer und Ermutiger in dieser ersten Liebesbeziehung. Gerade diese soziale Kompetenz des Säuglings, aber auch seine bereits früh vorhandene Wahrnehmungsschärfe und Fähigkeit zur aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umwelt werden in Büchern, die sich mit den neuesten Ergebnissen der Säuglingsforschung be­ schäftigen, beschrieben. Es werden aufgrund beobachtbarer Wahr­ nehmungsleistungen und Aktivitäten des Säuglings zunehmend Zweifel daran geäußert, ob der Säugling wirklich autistische oder symbiotische Zustände erlebt, ob er nicht bereits in der präverbalen Phase viel kompetenter ist als bisher vermutet (vgl. Dornes 1995). Dornes stützt sich dabei in seinem Buch hauptsächlich auf die von Stern (1985) und Lichtenberg (1983) gemachten Untersuchungen, betont die bereits früher als bisher angenommen, ausgereiften perzeptiven, interaktionalen und kognitiven Fähigkeiten der Säug­ linge und glaubt damit Argumente gefunden zu haben, die Autismus und Symbiose ausschließen. Hier verwechselt Dornes kognitive Fähigkeiten mit der emotionalen Situation des Säuglings. „Obwohl die Säuglingsforschung eine Vielzahl von Erkenntnissen über die .Leistungen' Neugeborener hervorgebracht hat, ist das psychoanalytische Konzept der Symbiose zwischen Mutter und Kind deshalb nicht hinfällig geworden. Die von der Säuglingsforschung beschriebene Interaktion zwischen Baby und Mutter orientiert sich mehr am Nachweis der kognitiven Fähigkeiten des Säuglings, wo­ hingegen die Objektbeziehungstheorie die innere Realität der beteiligten Personen zu beschreiben versucht. So sehr eine Integration beider Ansätze nützlich wäre, ersetzt das eine weder das andere.“ (Menschik-Bendele 1996,45)

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Diese Diskussion will ich aber in diesem Zusammenhang hier nur andeuten. Gerade aber als Erklärungsmodell für die sogenannten Frühstörungen bleibt die Objektbeziehungstheorie ein äußerst kost­ bares Werkzeug. Wie Neuropsychologie und Objektbeziehungs­ theorie sich also gegenseitig nicht ausschließen, so können auch Objektbeziehungstheorie und Triebtheorie nebeneinander existieren. Es sind nur unterschiedliche Sichtweisen derselben Medaille. Wäh­ rend für die Neurosen zum Beispiel die Triebtheorie als Erklärungs­ modell besser geeignet scheint, ist es für die Psychosen die Objekt­ beziehungstheorie. Alexander Mitscherlich setzt sich in seinem Artikel „Ödipus und Kaspar Hauser“ mit dieser Frage auseinander (vgl. Mitscherlich 1983, 151 ff.). Er fragt sich, ob denn der Ödipuskonflikt wirklich der zentrale und ursprünglichste Konflikt des Menschen sei. Er sieht die Bedeutung des Ödipuskomplexes in unserer Zeit des gesellschaftli­ chen Umbruchs schwinden und sieht einen Verfall der scheinbar natürlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen. Während der Ödipuskonflikt noch zu Freuds Zeiten der bedeutendste Konflikt des Kindes war, sieht Mitscherlich das Kind unserer Gesellschaft, ge­ prägt durch ein Abwenden der Erwachsenen im allgemeinen und der Eltern im besonderen von der Zwischenmenschlichkeit hin zur Di­ stanzierung und zum Eigenleben, eher konfrontiert mit Gefühlen von Einsamkeit und Verlassenheit. “So entsteht für das soeben geborene Kind eine anfänglichste Verlassenheit, deren seelische Folgen ich auch mit der Figur eines Menschen charakterisieren will, der die Gemüter in anderer Weise seit seinem Auftreten beschäftigt hat. Ich möchte sagen, daß der Mensch unserer Zeit in hohem Maße ein Lebensschicksal erleidet, das mit dem Kaspar Hausers sich deckt. Nicht die intelligenteste Fürsorge für das Kind, nicht die beste Hygiene, die es daran hindert, frühzeitig wieder zu sterben, können uns darüber hinwegtäuschen, daß der Komplex des modernen Massen­ menschen ein Komplex im Stile Kaspar Hausers ist.“ (Mitscherlich 1983, 159)

Mitscherlich glaubt also, daß der Kaspar-Hauser-Komplex unserer heutigen Gesellschaft entspricht, so wie der Ödipuskomplex der Ge­ sellschaft zu Freuds Zeiten entsprach. Also wäre der Ödipuskonflikt 116

Assoziation zum Thema Autismus

eigentlich der Konflikt des modernen, der Kaspar-Hauser-Konflikt der des postmodernen Menschen. Ich persönlich aber glaube - und folge hier einer Bemerkung von Frau Univ.-Prof. MMag. Dr. Menschik-Bendele daß Mitscherlich Triebtheorie und Objektbeziehungstheorie miteinander vermischt, sodaß es mir auch unnötig erscheint, die Bedeutung dieser zwei Komplexe miteinander zu vergleichen. Beide Theorien können ne­ beneinander existieren und sind sinnvolle Ergänzungen zueinander. Die Frage, welcher Komplex mehr Bedeutung hat, kann meines Er­ achtens nur in der besonderen Bedeutung dieser Komplexe für das Individuum beantwortet werden. Meine Assoziationskette hat uns in diesem Kapitel über die emo­ tionale Vernachlässigung, die Kaspar Hauser, sei es im Kerker von Pilsach oder woanders, erlebte, zur Beschreibung des Hospitalismus­ syndroms von Rene Spitz geführt. Es gibt deutliche Parallelen zwi­ schen dem Verhalten der Wolfskinder und autistischen Kindern, wie auch zwischen Kaspar Hauser und extrem vernachlässigten Kindern. Mit dem Werkzeug meiner Gegenübertragung erlebte ich während der Arbeit an diesem Kapitel die projizierte Einsamkeit Kaspar Hausers, seinen so großen Schmerz ob dem Mangel an liebevoller Zuneigung. Ich erinnerte mich an meine „autistischen“ Züge in meiner Kindheit, meine „Holzpferdchen“, meine Versuche, doch noch tapfer die oft angstbesetzte Welt zu erobern, meine Rückschläge, meine Hoffnungen und doch immer wiederkehrenden Tendenzen, mich in eine für andere nicht zugängliche Welt zu verkriechen. Ich erinnerte mich an Phasen voller Resignation nach Verlusterlebnissen, aber auch an Phasen voller starrsinniger Überzeugung, diese Welt habe mir nichts zu bieten, an Gefühle von Allmacht und Ohnmacht, Wut und Enttäuschung, Dankbarkeit und Freude. Ich erinnerte mich an die Unfähigkeit mancher der Pädagogen, mit denen ich zum Beispiel in der Schule konfrontiert war, an Phasen der Bedürftigkeit und Todessehnsucht als Kind, die meine Eltern nicht wahrnahmen (wahrnehmen konnten), an Augenblicke, in denen mir die Welt eisigkalt und nicht erlebenswert vorkam und in denen ich mich hilflos und allein gelassen fühlte. Kurz, ich erlebte den Kaspar Hauser in mir. 117

Kaspar Hauser - Der Extremtraumatisierte

Achte Spur: Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

Läßt man sich auf die Biographie Kaspar Hausers ein, studiert man die Berichte der Zeitzeugen und beschäftigt man sich vor allem mit den Jahren seines Lebens bis zum Auftauchen in Nürnberg, so ist man mit einer Kette von äußerst dramatischen Ereignissen in Hausers Leben konfrontiert, die man durchaus als Extremtraumata bezeichnen kann. Mehrmalige Trennung von primären Bezugs­ personen, mehrmaliger Wechsel der für die Reifung von Kindern wichtigen, konstanten Umgebung und schließlich die Jahre im Kerker des Schlosses Pilsach haben sich deformierend auf seine Persönlichkeitsentwicklung ausgewirkt. Die positiven und kräf­ tigenden Momente seiner Sozialisation, das Aufwachsen bei Familie Blochmann, die Beziehung zu Frau Dalbonne, die Rolle des Holzpferdes im Kerker, die bereits erwähnt wurden, stellen zwar einen gewissen Gegenpol dar, konnten aber nicht verhindern, daß Kaspar Hauser nach der Freilassung unter den Folgen der Extremtraumatisierung massiv zu leiden hatte und viele Symptome eines Extremtraumatisierten zeigte. In der Diagnosetradition der Psychiatrie beschränkte man sich lange auf die Beschreibung von Symptomen, man beschäftigte sich fast ausschließlich mit dem phänomenologisch-deskriptiven Aspekt psychischer Störungen und kaum mit den möglichen Ursachen der­ selben. Freud hingegen widmete sich anfänglich in der Auseinander­ setzung mit seinen hysterischen Patientinnen der Idee eines erlitte­ nen Traumas als objektive Gewalteinwirkung auf das Subjekt. Im gemeinsam mit Breuer 1895 veröffentlichten Buch „Studien über 119

Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

Hysterie“ spricht er von psychischen Traumata, meist Ereignissen aus der Kinderzeit, die für die Symptome der Hysterie verantwortlich zu machen sind (vgl. Breuer/Freud 1991,27 ff.), verläßt aber später mehr oder weniger die Idee des objektiv traumatisierenden Ereignisses, verlagert das Trauma von der Realität in die Phantasie und von der Lebensgeschichte des Individuums in die Geschichte der Gattung. Die Frage, in welchem Ausmaß Freud wirklich die Verführungstheorie aufgab, fuhrt immer wieder zu heftigsten Diskussionen mit Vorwürfen und Verteidigungen von den verschiedenen Seiten, dieser hitzigen Debatte will ich mich aber in diesem Zusammenhang nicht stellen. Denn ich gehe auch in diesem Kapitel von der Erbprinzentheorie und Einkerkerung Kaspar Hausers als Tatsache aus und interpretiere seine Symptome als Auswirkungen einer real erlittenen Extremtraumatisierung. Hauser selbst aber mußte sich Zeit seines Lebens immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein Schwindler, ein phantasie­ begabter Lügner und raffinierter Hochstapler, weil an der Richtigkeit seiner Schilderungen gezweifelt wurde. Wie tief und auf welche Art sich Extremtraumata in die psychi­ schen Strukturen von Menschen hineinfressen, stellen Ehlert und Lorke bedrückend anschaulich in ihrem Artikel „Zur Psychodynamik der traumatischen Reaktion“ (Ehlert/Lorke 1988) dar. Auch wenn sie sich in ihrer Arbeit auf die Auswirkung von Verfolgungstraumata beschränken, so läßt sich meines Erachtens ihre Darstellung der Auswirkung dieses speziellen Traumas auf Extremtraumatisierung im allgemeinen ausweiten. Diese Traumata sind geprägt von einem radikalen Gefälle von Macht und Ohnmacht. Der Täter bestimmt über Leben und Tod, das Opfer ist absolut hilflos und ohnmächtig. Dieses Machtgefälle verursacht eine das Ich überflutende Angst, die zwangsläufig zu einer ausgeprägten Regression und Reinfantilisierung des Opfers führen muß. Diese Regression, das Auftreten massiver, unkontrollierbarer Reize und die Reaktivierung infantiler Ängste schwächen das Ich, behindern insbesondere die Realitätsprüfung, das Opfer kann schließlich in einem psychosenahen Zustand Realität und Phantasie nicht mehr klar unterscheiden. Die Regression betrifft aber nicht nur das Ich, 120

Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

was zu einer Rückkehr zu primitiven Abwehrmechanismen (zum Beispiel Verleugnung, Spaltung oder Introjektion) führt, es kommt auch zu einer Objektregression, also zu einer Rückkehr zu allmächtigen, narzißtisch besetzten Objekten der frühen Kindheit. Sehnsucht nach einem Hilfs-Ich und Verschmelzungswünsche mit einem omnipotenten Objekt treten gerade in den ausweglosesten Situationen auf, in denen Handeln keinen Sinn mehr macht. Und das bildet wiederum die Grundlage für die eigentliche Tragödie der Extremtraumatisierten. „Die Delegation der Ichfunktionen, das Liebesbedürfnis und die Verschmelz zungswünsche, die das Verfolgungstrauma im Opfer induziert, richten sich auf niemand anderen als auf den Täter. Er, der ja de facto über Leben und Sterben, über Wert oder Unwert des Opfers entscheidet, wird vom Opfer erlebt, als sei er das Primärobjekt. Der Täter gerät also in die Position der frühesten Elternimagines, und er erhält damit deren Allmacht und deren narzißtische Qualitäten; er wird zum Garanten des psychischen Überlebens des Opfers.“ (Ehlert/Lorke 1988, 510)

Das Trauma bedeutet für das Opfer also einen fundamentalen Lie­ besverlust und zerstört das Urvertrauen. Die Wiederherstellung des lebensnotwendigen Gefühls geliebt zu werden und des Urvertrauens gelingt dem Opfer nur auf eine sehr unvollständige und pervertierte Art und Weise, nämlich mittels des Mechanismus der Introjektion. Das Opfer nimmt das ihm vom Täter angebotene Selbstbild in sich auf und besteht somit darauf, zu Recht so behandelt worden zu sein, wie es vom Täter behandelt wurde. „Die ganze Tragik der Verfolgungsopfer besteht in unserer Sicht darin, daß sie an dieses einmal introjizierte Selbstbild gebunden bleiben, weil die ersehnte Versöh­ nung, die allein dieses Introjekt auflösen könnte, ausbleibt. Das traumatische Introjekt kann nicht aufgegeben werden, weil es das Versprechen der Versöhnung enthält, auf die das Opfer nicht verzichten kann.“ (Ehlert/Lorke 1988, 520)

Introjektion in diesem Zusammenhang bedeutet aber nicht nur, daß das Opfer das vom Täter angebotene Selbstbild in sich aufnimmt, sondern auch das Aufnehmen von zum Beispiel aggressiven und un­ berechenbaren Eigenschaften des Täters. Zusätzlich kollidiert das 121

Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

introjizierte Selbstbild mit dem Über-Ich und dem Ich-Ideal, was zu einem kräfteraubenden Dauerkonflikt fuhrt mit den unterschiedlich­ sten Symptomen, inklusive autoaggressiver Akte. Die amerikanische Psychiaterin Judith Lewis Herman befaßt sich in ihrem Buch „Die Narben der Gewalt“ (Herman 1993) mit den verschiedenen Arten von Extremtraumata und den daraus resultierenden traumatischen Störungen, wobei sie mit der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Hysterie und den sogenannten Kriegsneurosen des ersten und zweiten Weltkriegs beginnt und mit häuslicher und sexueller Gewalt endet. Die oft unvorstellbaren, traumatisierenden Erlebnisse sexuell mißbrauchter Kinder, vergewaltigter Frauen, politisch Verfolgter, von Folteropfern, Kriegsteilnehmern und Kriegsopfern, Überlebenden aus Konzentrationslagern, Katastrophenopfern, Opfern von Geiselnahmen usw. ähneln sich in ihrer Auswirkung auf das Seelenleben. Sie verlaufen alle nach der oben beschriebenen Psychodynamik, mit der Herman weitgehend übereinstimmt, und fuhren je nach Art und Ausmaß des Traumas, prämorbider Persön­ lichkeit und den individuellen Ressourcen des Opfers zu vergleich­ baren Symptomen, die Herman als die Symptomenkomplexe Übererregung; Konstriktion und Intrusion bezeichnet (vgl. Herman 1993, 53 ff.). Unter Übererregung kann man sich eine allgemeine, ständig er­ höhte Alarmbereitschaft des gesamten Organismus vorstellen, die sich zum Beispiel in Schlafstörungen oder Reizbarkeit äußert. Intrusion bedeutet das plötzliche und unkontrollierbare Wieder­ erleben des traumatischen Ereignisses, zum Beispiel durch plötzlich auftretende Erinnerungen oder Träume. Konstriktive Symptome bestehen in einer Vermeidungshaltung und inneren Starre bis hin zu dissoziativen Zuständen und daraus resultierendem sozialen Rückzug als Ausdruck des zutiefst erschütterten Vertrauens in die Mitmenschen. Früher wurden (und auch noch heute werden) solche Patienten, also Opfer von Extremtraumata, je nach Überwiegen der verschiedenen Symptome, ohne die Frage nach der Ursache zu stellen, als depressiv oder schizophren beschrieben oder als 122

Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

verschiedenste Formen von Persönlichkeitsstörungen (dependent, masochistisch, selbstschädigend, hysterisch, Borderline-...) diagnostiziert, was Herman schlicht als Fehldiagnose bezeichnet. Seit 1980 aber gibt es nun die psychiatrische Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-III-R), worin die Symptome recht gut zusammengefaßt und beschrieben werden und vor allem auch der Genese dieser Erkrankung nicht nur in der Bezeichnung dieser Störung Rechnung getragen wird (vgl. Diagnostische Kriterien und Differentialdiagnosen des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen DSM-III-R 1989, 210 ff.). Herman ist aber mit dieser Beschreibung nicht zufrieden, denn „in ihrer derzeitigen Formulierung umfaßt die posttraumatische Bela­ stungsstörung weder die vielgestaltige Symptomatik nach langem, wiederholtem Trauma noch die tiefgreifenden Persönlichkeitsverän­ derungen, die Gefangenschaft bewirken kann.“ (Herman 1993, 166) Sie schlägt daher die Bezeichnung „komplexe posttraumatische Be­ lastungsstörung“ und definiert diese folgendermaßen: 1. Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft unterworfen wie zum Beispiel Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder Aussteiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären Beziehungen totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen geschlagen, als Kinder physisch mißhandelt oder sexuell mißbraucht wurden oder von organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden.

2. Störungen der Affektregulation, darunter - anhaltende Dysphorie - chronische Suizidgedanken - Selbstverstümmelung - aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend) - zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität (eventuell alternierend)

3. Bewußtseinsveränderungen, darunter - Amnesie oder Hypermnesie, was die traumatischen Ereignisse anbelangt

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Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

- zeitweilig dissoziative Phasen - Depersonalisation/Derealisation - Wiederholungen des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung oder als ständige grüblerische Beschäftigung 4. Gestörte Selbstwahrnehmung, darunter - Ohnmachtsgefuhle, Lähmung jeglicher Initiative - Scham- und Schuldgefühle, Selbstbezichtigung - Gefühl der Beschmutzung und Stigmatisierung - Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden (der Patient ist etwa überzeugt, etwas ganz Besonderes zu sein, fühlt sich mutterseelenallein, glaubt, niemand könne ihn verstehen oder nimmt eine nicht menschliche Identität an)

5. Gestörte Wahrnehmung des Täters, darunter - ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter (auch Rachegedanken) - unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird (Vorsicht: Das Opfer schätzt die Machtverhältnisse eventuell realistischer ein als der Arzt) - Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit - Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung - Übernahme des Überzeugungssystems oder der Rationalisierungen des Täters

6. Beziehungsprobleme, darunter - Isolation und Rückzug - gestörte Intimbeziehungen - wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und Rückzug) - anhaltendes Mißtrauen - wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz 7. Veränderung des Wertesystems, darunter - Verlust fester Glaubensinhalte - Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung (Herman 1993, 169 f.)

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Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

Liest man die Bücher der Zeitgenossen über Kaspar Hauser aufmerksam durch, so fallt bald auf, wie sehr seine Eigenartigkeiten im Charakter, seine oft bizarren Verhaltensweisen, seine inter­ mittierend auftretenden Bewußtseinsveränderungen, seine psychosomatischen Beschwerden, sein Selbstbild, seine Stimmungs­ schwankungen, seine Angstzustände und seine besondere Art der Kontaktaufnahme mit Mitmenschen doch dem oben beschriebenen Symptomenkomplex der Extremtraumatisierten entsprechen. Erst recht paßt diese neue Diagnose auf die Symptome von Ex­ tremtraumatisierten, zum Beispiel auf Menschen mit Erfahrungen mit sexueller Gewalt (vgl. Wirtz 1989,75 ff.), auf Opfer von Geiseldramen (vgl. Ploeger/Schmitz-Gielsdorf 1980, 354 ff.) oder auf Überlebende von Konzentrationslagern (vgl. Grubrich-Simitis 1979,999 ff.). Mit dieser neuen Art von Diagnose wird nun aber auch eine klare Grenze gezogen zu sonstigen psychiatrischen Er­ krankungen, deren Symptome vielleicht den oben genannten ähneln, deren Genese aber eine ganz andere ist. Durch diese Diagnose wird auch die Traumatheorie reaktiviert, was meines Erachtens einen ganz wichtigen Prozeß auslöst, nämlich eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Traumata auf die Psyche der Opfer und vor allem auf die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Denn das Bewußtsein und Wissen um Traumata und deren Auswirkung auf die Psyche des Menschen ist Bedingung für eine wirkliche Therapie, die das Durcharbeiten und Betrauern der erlittenen Traumata inkludieren muß. „Die Trauerarbeit, ein Lernprozeß des Abschiednehmens, ist die Vorbedingung dafür, daß Neues gedacht und wahrgenommen werden kann, Verhaltensweisen sich zu ändern vermögen, Aktionen und Reaktionen auf ihre unbewußten Motive untersucht werden können, andere als sadomasochistische Beziehungsarten, neue Identifikationen sich aufbauen lassen. Der Trauerprozeß verhindert die zwangs­ neurotische Wiederholung des immer Gleichen.“ (Mitscherlich 1993, 16)

Mitscherlich meint in ihrem Buch die Trauerarbeit, die die Deut­ schen leisten müssen, um die Ereignisse der Jahre des „Dritten Rei­ ches“ bewältigen zu können. Genauso müssen aber auch alle

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Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

anderen Traumata und ihre Auswirkungen, um sie zu überwinden, betrauert werden. Diese Trauerarbeit inkludiert Erinnerungsarbeit, die das Opfer, beraubt um Entwicklungschancen und Urvertrauen, aufbringen muß, die der Täter, weit entfernt von gesundem, menschlichem Handeln zu leisten hat, und auch die Gesellschaft muß sich erinnern und trauern um Verlust von Kultur und Ordnung aufgrund der Tatsache, daß Menschen fähig sind, anderen Menschen so schreckliches Leid anzutun, wie es zum Beispiel im Dritten Reich passiert ist. Die intraindividuelle Auseinandersetzung mit dem Erlittenen äh­ nelt sehr der gesamtgesellschaftlichen Fähigkeit zur Konfrontation mit diesem düsteren Menschheitskapitel. Mal gelingt es dem Indivi­ duum wie der Gesellschaft, sich auf diese Traumata und deren Auswirkung einzulassen, mal werden alle Abwehrmechanismen ein­ gesetzt, um nur ja eine Bewußtwerdung des Erlittenen zu verhindern, was aber sowohl eine Reifung der Gesellschaft wie auch des Individuums blockiert. Wenn man sich das Leid von Opfern des Holocaust oder Art und Ausmaß von Gewalt gegenüber Kindern vor Augen führt, so ist es auch nicht leicht, die in der Identifikation mit dem Opfer erlebten Gefühle zu ertragen. Auch Psychoanalytikern gelingt es oft nicht, sich diesen schmerzhaften Gegenübertragungsgefühlen zu stellen, auch sie neigen zu Abwehrmechanismen wie Einfuhlungsverweigerung, Verharmlosung sogar bis hin zu einem Gefühl der Verachtung gegenüber dem Leidenden und einer Verschwörung des Schweigens, wie Grubrich-Simitis beschreibt (vgl. Grubrich-Simitis 1979, 1014 ff). Viele wollen sich einfach nicht auf diese Gefühle der Ohnmacht, Hilflosigkeit und des totalen Ausgeliefertseins einlassen, „weil dies schwerste, sonst von der Kindheitsamnesie überdeckte Infantilängste oder psychophysische Angstäquivalente mobilisieren könnte, die aus jener Anfangszeit stammen, in der das eigene physische und psychische Überleben einmal buchstäblich von der ständigen Gegenwart eines ausreichend guten, beschützenden Ob­ jekts abhängig gewesen ist.“ (Grubrich-Simitis 1979, 1018) Die Gegenübertragungsgefuhle des Therapeuten rühren also, wenn man sich auf sie einläßt, an eigene Urängste. Zwar nicht so intensiv wie 126

Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

das Opfer selbst erlebt der Therapeut Gefühle von Angst, Wut, Ver­ wundbarkeit, Ohnmacht und Verzweiflung, aber auch Gefühle von Grandiosität und Überlegenheit bis hin zu identifikatorischer Nähe mit dem Täter, alles Reaktionen, die man unter dem Begriff trauma­ tische Gegenübertragung zusammenfassen kann. Diese Sonderform der Gegenübertragung, ich erinnere an die Darstellung der Gegen­ übertragungskonzepte im Kapitel „Wissenschaftstheoretischer Exkurs“, verstehe ich nicht als ausschließliche Reaktion auf die „traumatische Übertragung“ seitens des Opfers. Daß die therapeutische Arbeit mit Extremtraumatisierten daher nicht nur als Herausforderung sondern auch als große Belastung zu verstehen ist, sei in diesem Zusammenhang erwähnt. Klaus Ottomeyer geht in seinem Buch „Kriegstrauma, Identität und Vorurteil“ (Ottomeyer 1997) noch einen Schritt weiter. Sehr of­ fen stellt er einerseits seine persönlichen Reaktionen und Gegen­ übertragungsgefühle auf die Begegnungen und therapeutischen Be­ ziehungen mit Traumatisierten, zum Beispiel Flüchtlingen aus ExJugoslawien dar, andererseits enthüllt er auf bestechende Art und Weise einige in unserer Gesellschaft zu beobachtende, kollektive Abwehrmechanismen angesichts der oft unvorstellbaren Leiden von Extremtraumatisierten als Gegenübertragungsreaktionen großer Teile unserer Gesellschaft, deren gemeinsames Substrat die Abwehr äußerst bedrohlicher Ängste und Einfühlungsverweigerung darstellen (vgl. Ottomeyer 1997, 75 ff.). Nicht zuletzt wirft er gerade auch der Psychiatrie und ihren Vertretern Verschleierungs- und Ver­ leugnungstaktiken vor, auch deshalb, weil noch immer Extrem­ traumatisierte als schizophren oder schizoaffektiv diagnostiziert werden (vgl. Ottomeyer 1997, 32 und 85 f.). In diesem Zusammen­ hang bin auch ich davon überzeugt, daß die Auseinandersetzung mit der bereits besprochenen Diagnose „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ einen großen Fortschritt im Denken von Psychiatern bedeuten könnte, weil wir es wahrscheinlich mit einem äußerst hohen Prozentsatz von Traumatisierten und reaktiv Kranken unter den Patienten der psychiatrischen Abteilungen zu tun haben. Amerikanische Statistiken sprechen von sexuellem Mißbrauch und/oder Mißhandlung bei 50 bis 60 Prozent der stationär aufge127

Kaspar Hauser - der Extremtraumatisierte

nommenen Patienten (vgl. Herman 1993,170 f.). Das Wissen um diese Diagnose, um die Psychodynamik der Traumatisierung und um die Besonderheiten bezüglich Übertragung und Gegenübertragung sowie der Symptome der Opfer inkludiert natürlich auch andere, speziellere Formen der Therapie, die Herman als dreigliedrig in ihrem Buch darstellt, und die hier nur kurz skizziert werden sollen. Diese Therapie ist langwierig, für Opfer und Therapeuten eine besondere Belastung und umfaßt drei Phasen. In der ersten Phase soll dem Opfer, dem Patienten Sicherheit vermittelt werden, was zum Teil durch Schaffung einer sicheren Umgebung erreicht wird, in der zweiten Phase geht es um Erinnern und Trauern, also um Rekonstruktionsarbeit, in der dritten schließlich um Wiederanknüpfung, was ein Zurückfinden in einen normalen Lebensprozeß bedeutet (vgl. Herman 1993, 183 ff.). So gerafft klingt das vielleicht alles sehr nüchtern und einfach, wer mit Extremtraumatisierten aber bereits therapeutisch gearbeitet hat, weiß, wie schwierig und kräfteraubend dieser Genesungsprozeß verläuft. Kaspar Hauser stieß als Extremtraumatisierter auf wenig Ver­ ständnis in seiner Umwelt, kurz sind zwar in seiner Biographie An­ sätze aller drei Genesungsphasen zu entdecken, doch zuletzt im Hause Meyer in Ansbach und durch den Kontakt mit Lord Stanhope brechen alle erzielten Fortschritte wieder zusammen, und Kaspars mühselig und nur in Ansätzen aufgerichtete Persönlichkeit zieht sich wieder zurück und zerfallt. Darin liegt wohl auch die besondere Tragik seines Falls, daß nämlich Kaspar Hauser trotz verzweifelter Versuche und unendlicher Sehnsucht nach Heilung die Genesung vorenthalten blieb.

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Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version II

Diese zweite Version des Mythos, die nun natürlich durch das DNSAnalyseergebnis wieder aktualisiert und aufgewertet wird, möchte ich im folgenden Kapitel kurz darstellen und mich dann, frei assoziierend wie bisher, mit meiner Gegenübertragung auseinander­ setzen. In dieser Version ist Kaspar Hauser nicht adelig, hat mit dem Hause Baden bis zu seinem Auftauchen in Nürnberg nichts zu tun. Sein skurriles Erscheinungsbild, seine äußerlich sichtbaren, körper­ lichen Auffälligkeiten, seine somatischen Besonderheiten, die im Obduktionsbericht von Dr. Heidenreich (vgl. Tradowsky 1985, 116 ff.) erwähnten Mißbildungen in der Ausformung des Gehirnes (Mikrozephalie mit Vergröberung und Verminderung der Zahl der Hirnwindungen, auffallende knöcherne Konfiguration des Felsenbeines und Keilbeines) zusammen mit der Beobachtung epi­ leptischer Anfälle sprechen für eine Erbkrankheit mit dem Namen „Epidermolysis bullosa hereditaria“. Diese Meinung, Kaspar Hauser sei aufgrund einer Erbkrankheit behindert gewesen, gibt es ja schon recht lange. Verschiedene Theo­ rien wurden nach dem mehr oder minder sorgfältigen Studium der Berichte über ihn gebildet, von Pseudologia phantastica (phantastisches Lügen) ist die Rede, von einem Imbezillen mit Hirn­ anomalie oder von einem im vorigen Kapitel bearbeiteten KasparHauser-Syndrom bei extremer Kindesvernachlässigung (vgl. Stumpfe 1969, 299). 129

Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version II

Eine dieser Theorien, die bereits im Jahre 1967 beschrieben wird, wird nun noch einmal im Spiegel aufgefrischt. Die Annahme eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, Dr. Hesse, lautet, Kaspar Hauser hätte an der bereits oben genannten hereditären Epidermolyse, der Epidermolysis bullosa hereditaria, gelitten. Diese mit Bla­ senbildung, vor allem nach mechanischer Belastung einhergehende, erbliche Hautkrankheit sei bei Kaspar Hauser mit einer Temporallappenepilepsie, Muskelschwäche und Schwachsinn aufgrund einer Mikrozephalie einhergegangen (vgl. Hesse 1967, 156 ff. sowie Der Spiegel, 48/1996, 273). Auf dem Boden einer zentralnervösen Entwicklungsstörung deutet Hesse auch viele der an Kaspar Hauser beobachteten Be­ sonderheiten. Er sieht die Empfindungen unangenehmer Gerüche, die Bewußtseinsveränderungen, die vegetativen Erscheinungen, optische Sinnestäuschungen, Kaspars Schlafanfälle, seine Körper­ schemastörungen, die beschriebenen Dämmerattacken und schließlich seine Stimmungsschwankungen als Ausdruck von Begleitphänomenen bei Temporallappenepilepsie, deren somatisches Substrat er in der Beschreibung der rechts mehr als links aus­ geprägten Himmißbildung findet. Diese Phänomene wurden ja bisher immer als Beweis der unverdorbenen Natürlichkeit Kaspars, seiner übersinnlichen Fähigkeiten oder seiner Kerkerhaft inter­ pretiert. Gleichzeitig versucht Hesse die jahrelange Kerkerhaft Kaspars, sowie die Betäubung durch Opium als Märchen zu entlarven (vgl. Hesse 1967, 160). Kaspar nichts weiter als ein Epileptiker mit einer besonders viel­ fältigen und bunten Anfallsproblematik? Hesse geht in seinem spannenden Artikel zumindest in Andeutun­ gen noch weiter. Er behauptet, daß Kaspar von allen seinen Bezugs­ personen, vor allem aber von Däumer, in eben diesen Mythos, der uns bisher beschäftigt hat, mit aller Gewalt gepreßt wurde. Der sug­ gestible, schwerst vernachlässigte Bub war jeder Interpretation seines Schicksals, jeder Deutung seiner Herkunft zugeneigt, wurde ihm doch damit auch eine wohltuende Flut von Interesse und Aufmerksamkeit zuteil. Er konnte und wollte gar nicht widersprechen, daß er von seinen Förderern zum Symbol des 130

Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version II

verratenen, adeligen, seines Thrones beraubten, aber mit einem unbändigen Lebenswillen ausgestatteten Kindes hochstilisiert wurde. Sind wir hier wieder einer kollektiven Schiefheilung auf der Spur? Hat der Mythos um Kaspar Hauser schon von Beginn an gar nichts mit ihm zu tun? Wurde so lange an seinem Schicksal gefeilt und her­ umgedeutet, bis es den unbewußten Bedürfnissen seiner Förderer entsprach? Kaspar Hauser, ein Opfer seiner Zeit, geprägt vom Be­ dürfnis nach romantisch-mystischer Verklärung? Noch einmal zurück zu Kaspar Hausers Organveränderungen und Krankheitssymptomen. Kaspar Hauser wird ja nach seinem Tod ob­ duziert. Hier verwundert mich das Ergebnis der Obduktion, nicht so sehr die äußerst exakte Beschreibung des Stichkanals und der ent­ zündlichen Veränderungen (Kaspar stirbt erst am dritten Tag nach dem Attentat), als vielmehr die Beschreibung seiner Leber. Der die Obduktion durchführende Arzt, Dr. Heidenreich, beschreibt sie fol­ gendermaßen: „Die Leber, namentlich der linke Lappen, der verletzt worden war, war ganz mürbe und breiartig, so daß in der Umgebung der Wunde eine Sonde nach allen Richtungen in der Lebersubstanz bewegt werden konnte. Auch die Substanz der Leber war erweicht. Die gesamte Leber war sehr groß, und der kleine Lappen er­ streckte sich ungemein weit nach links hinüber ... Die Leber war sehr groß und hypertrophisch. Dem Landgerichtsarzte, der sich gutachtlich auszusprechen hatte, konnte es daher nicht entgehen, daß diese Ver­ größerung und Hypertrophie mit Hausers früherer Einkerkerung in Verhältnis zu setzen sei, indem auch Tiere, denen man in engen Käfigen wenig Bewegung ge­ stattet, große Leber bekommen ... In Übereinstimmung mit den verhältnismäßig kleinen Lungen finde auch ich die Vergrößerung der Leber ganz natürlich, indem diese beiden Organe sich physiologisch bedingen als Ausscheidungsorgane des Kohlenstoffes, die Leber im Fetus für die Lunge funktioniert und in der Tierreihe um so mehr hervortritt, je mehr die Lunge sich zurückzieht. Konnte sich bei weniger Bewegung und in der dumpfen Luft des Kerkers die Lunge nur wenig entwickeln, so mußte das Übergewicht auf die Leber fallen. Ist es aber ausgemacht, daß Hauser lange Zeit nur kohlenstoffhaltige Vegetabilien (trockenes Brot) und kein stickstoffhaltiges Fleisch zur Nahrung erhalten hatte, so wurde durch vermehrtes Bedürfnis, den Kohlenstoff

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Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version II

auszuscheiden, auch die Vergrößerung der Leber und die dicke, zähe, schwärzliche Galle bedingt.“ (Tradowsky 1985, 131 und 140.)

Im Zusammenhang mit Kaspars Leber ist ein weiteres Detail interes­ sant. Die ungarischen Sprachexperimente mit Pirch setzen Kaspar Hauser in große Aufregung, seine Hautfarbe wird danach als gelb beschrieben (vgl. Lakies/Lakies-Wild 1978, 199). Und auch nach ei­ nem zweiten Ereignis, nämlich dem Riechen von Terpentin, das Hauser in seinem Befinden sehr beeinträchtigt, wird seine Haut gelb (vgl. Tradowsky 1985, 19). Ob diese krankhaften Veränderungen der Leber mit der Neigung, ein ikterisches Hautkolorit in Streßsituationen zu entwickeln, nun Folge der vermuteten langjährigen Kerkerhaft, dem Mangel an Be­ wegung und der extrem eintönigen Nahrung sind, ist eine Erklä­ rungsvariante. Ebensogut könnte es sich hier aber auch um ein weiteres Indiz und Symptom eines doch sehr schweren Mißbildungssyndroms handeln. Doch diese Diskussion und Deutung der körperlichen Symptome will ich Kompetenteren überlassen. Die Theorie einer schweren Erbkrankheit ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Interessant in diesem Zusammenhang ist nun, daß zumindest die Epidermolysis bullosa in Tirol als Erbkrankheit verbreitet war, in ei­ ner Gegend, die vom 6. bayrischen Cheveaulegers-Regiment um die Zeit von Kaspar Hausers Geburt besetzt war. Vielleicht wurde des­ wegen Kaspar Hauser, versehen mit einem Brief an den Rittmeister Wessenig, der der vierten Schwadron der Cheveaulegers angehörte, geschickt. Vielleicht war er das ledige Kind des Rittmeisters oder ei­ nes anderen Angehörigen der leichten Reiterei mit einer Tirolerin und wurde den „Schwolischen“, wie das Reiterregiment genannt wurde, zurückgeschickt. Es hätte damals in Tirol auch einen Kaspar Hauser gegeben, ein Mitglied der Schützenkompanie „Viertl Reit“, der gegen die Bayern kämpfte und fiel und vielleicht unserem Kaspar Hauser als Namens­ patron diente.

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Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version II

„Durchaus denkbar, daß die verärgerten Gebirgler einen .depperten Bankert' (Hesse), der aufgrund seiner Krankheit für nichts Vernünftiges zu gebrauchen war, bei seinen Erzeugern ablieferten - über die ,Bäiernsche Gränz', wie der Begleitbrief lautete. Und ganz plausibel, daß sie sich dabei einen bösen Scherz leisteten: Sie versahen den Ausgestoßenen mit dem Namen eines ihrer im Kampf gegen die Besatzer gefallenen Freiheitshelden.“ (Der Spiegel, 48/1996,273)

Soweit eine Variante dieses zweiten Mythos, in dem Kaspar Hauser, behaftet mit einer schweren Erbkrankheit, nach Nürnberg abgescho­ ben wird. Diese Variante weicht weit ab von der Erbprinzentheorie, stellt geradezu einen Kontrapunkt zu jenem Mythos dar, in dem Kaspar Hauser von so hoher und edler Herkunft geglaubt wird. Diese ver­ breitete, oft bei Kindern zu beobachtende Sehnsucht, von edler Her­ kunft zu sein und der dringende Verdacht, daß unsere Herkunft nicht jene, vertraute, bescheidene sei, sondern eine höhere, aber uns noch unbekannte, ist ein Phänomen, das Freud als den „Familienroman“ bezeichnet. Als Ursache ftir diese Sehnsucht nach der edlen Ab­ stammung vermutet Freud aber weniger die enttäuschte Abwendung des Kindes von den frustrierenden Eltern, als viel mehr den Versuch, die Eltern wieder als die in der frühen Kindheit so groß und all­ mächtig erschienenen ersten Bezugspersonen zu fantasieren. „Ja, das ganze Bestreben, den wirklichen Vater durch einen vornehmeren zu ersetzen, ist nur der Ausdruck der Sehnsucht des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit, in der ihm sein Vater als der vornehmste und stärkste Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau erschienen ist.“ (Freud 1941, 231)

Vielleicht ist das auch eine mögliche Erklärung für die mit mir wohl von vielen geteilte und erlebte Enttäuschung, als publik wurde, Kaspar Hauser könne nicht der Sohn der Stephanie de Beauharnais sein. Es zog mir ja wirklich kurz den Boden unter den Füßen weg, so groß war die Überraschung, so absolut überzeugt war ich selber bis zu diesem Zeitpunkt von der Prinzentheorie. Mein Kaspar soll nicht adelig gewesen sein, sondern ein Imbezil­ ler mit einer Erbkrankheit? 133

Der Kaspar-Hauser-Mythos, Version II

Hier sträubte sich vieles in mir, und kurz war ich fast geneigt, zum Kämpfer für die Prinzentheorie zu werden, die „Tirol-Theorie“ und das Ergebnis der Gen-Analyse anzuzweifeln, vergaß in der Aufregung fast völlig auf eines, nämlich, daß die Identifikation mit dieser faszinierenden Figur völlig unabhängig vom realen Schicksal Kaspars ist. Der Mythos ist aufregend genug, und die neu hinzugekommene Variante stellt eher eine Bereicherung dar als eine Bedrohung. Und doch, in der Identifikation mit dem verratenen, verschleppten, heimatlosen, weggesperrten, vom Thron verstoßenen Kind, wird eine solche neue Theorie, noch dazu, wenn sie so überraschend auftaucht, wahrscheinlich nicht nur von mir als schmerzhaft erlebt. Unabhängig davon schließe ich mich aber der Meinung Stumpfes an, daß all die Männer, die mit Kaspar nach seinem Auftauchen in Nürnberg zu tun hatten, im Umgang mit Menschen wohl erfahren genug waren, um zu beurteilen, ob sie es mit einem Schwachsinnigen oder einem Betrüger zu tun hatten (vgl. Stumpfe 1969, 299). Ebenso sprechen die Beobachtungen der Zeitzeugen bezüglich Kaspar Hausers körperlichen und seelischen Zustandes, sein Verhal­ ten und schließlich seine Entwicklung, nicht zuletzt auf künst­ lerischem Gebiet, meines Erachtens eher für eine langjährige Kerkerhaft mit der dadurch bedingten Deprivation und extremen emotionalen Vernachlässigung als für eine Erbkrankheit. Auch „Die Zeit“ wirft dem „Spiegel“ vor, alle Indizien für die Verbindung Kaspar Hausers zum Hause Baden mit der „Dampfwalze der DNS-Technik“ plätten zu wollen. In einem im November 1996 erschienen Artikel wird mit viel Sachkenntnis die fast lückenlose Verwobenheit Kaspar Hausers mit dem Hause Baden dargestellt und die Frage gestellt, was denn nun durch die GenAnalyse eigentlich wirklich bewiesen worden sei. „Daß der verletzte und blutende Träger einer uralten Unterhose nicht mit Stephanie Beauhamais verwandt war und deshalb auch nicht der ,Märchenprinz4 (so der Zynismus des Spiegels) aus dem Haus Baden sein konnte, den eine machtgierige, angeheiratete Zähringerin mißhandelt und eine noch skrupellosere beseitigt haben

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soll. Dies, daß der Produzent des Blutflecks in der ominösen Leinenhose nicht mit den Zähringer-Badenern verwandt ist, ist bewiesen, kein Jota mehr. Nicht bewiesen ist, daß die Leinenhose von Kaspar Hauser stammt und daß der Blutfleck die Folge des Mordes in Ansbach am 17. Dezember 1833 war.“ (Die Zeit 49/1996, 48 f.)

Noch konkreter drückt sich ein Leserbriefschreiber im „Spiegel“ aus: „Die DNS-Wissenschaftler haben lediglich in einer PR-Aktion herausgefunden, daß die in Ansbach aufbewahrte Hose nicht mit Stephanie de Beauharnais verwandt ist.“ (Der Spiegel 50/1996, 7)

Peter Tradowsky sieht in der Darstellung des Spiegels gar eine Fortsetzung der bereits seit dem Auftauchen Kaspar Hausers immer wiederkehrenden Versuche von verschiedenenen Autoren, „in ihrem verräterischem Eifer, den Kaspar-Hauser-Fall endlich vom Tisch zu bekommen.“ (Tradowsky 1996, 437) Von dieser aufgeregten Diskussion kann sich wohl jeder Forscher auf den Spuren Kaspar Hausers selber ein Bild machen und dann Position beziehen. Konsequenterweise müßte man die körperlichen Überreste Kaspar Hausers in seinem Grab am Ansbacher Friedhof untersuchen, um Aufschluß über seine Herkunft zu bekommen, oder das in der Fami­ liengruft der Zähringer in der Schloßkirche zu Pforzheim bestattete Kind, sofern dies überhaupt noch möglich wäre. Doch auch die neuesten Ergebnisse weiterer Untersuchungen werden meines Erach­ tens am Mythos nichts ändern. Noch so harte Daten der Forschung werden das Märchenhafte und geheimnisvoll Faszinierende an der Figur Kaspar Hausers nicht beseitigen können. Doch noch einmal zurück zur Theorie Hesses. Ich halte die Theorie mit der hereditären Epidermolyse, mit Kaspars Tiroler Ab­ stammung als zu wenig belegt und nach dem Studium der Schriften der Zeitzeugen als zu wenig glaubhaft im Vergleich mit der schein­ bar so schlüssigen Erbprinzentheorie. Gleichzeitig ist aber der An­ satz Hesses so klar und gut dargestellt, sodaß ich nichts gegen die

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Hypothese einzuwenden habe, daß Kaspar eventuell an einer Tem­ porallappenepilepsie litt. Müssen sich Epilepsie und Kerkerhaft aus­ schließen? Und wieder tauchen schon vertraute Fragen auf: Vielleicht war die Phase der Deprivation viel kürzer als bisher geglaubt? Aber warum sperrt man einen Jungen weg, der mit den Fürsten von Baden nichts zu tun hat? Wenn aber Kaspar nicht der Sohn der Stephanie de Beauharnais war, sondern der Tiroler Schwachsinnige, warum wurde er einmal fast, schließlich tatsächlich Opfer eines Attentates? Wer hatte Interesse daran, ihn, den schwachsinnigen Tiroler, zu töten? Waren es doch „nur“ Selbstmordversuche oder Unfälle? Warum paßt alles, jedes Detail zur Erbprinzentheorie, nur das Ergebnis der Gen-Analyse nicht? War Kaspar Hauser vielleicht... Er war jedenfalls nicht nur das „aenigma sui temporis" sondern ist mehr denn je das „ aenigma nostri temporis

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Epilog

Es fällt mir nicht leicht, nach Jahren der intensiven Auseinander­ setzung mit dem Schicksal Kaspar Hausers, mich nun von dieser Figur zu trennen. Durch die Beschäftigung mit seiner realen aber auch mythologischen Biographie und mit den in den verschiedenen Büchern so unterschiedlich dargestellten Aspekten des Lebens Kaspar Hausers ist er mir zum treuen Begleiter und Freund geworden. Mit seiner Hilfe konnte ich mich auf Gefühle, Emp­ findungen und schmerzhafte Erinnerungen einlassen, was ich wohl ohne ihn und der durch ihn ermöglichten identifikatorischen Auseinandersetzung nicht in dem Ausmaß gewagt hätte. Immer wieder tauchen aber noch Assoziationen auf, Spuren, die ich wohl noch verfolgen werde, zum Beispiel die Frage der psycho­ therapeutischen Behandlung von extremtraumatisierten, vernachläs­ sigten oder autistischen Kindern, die Position der anthroposophi­ schen Kaspar-Hauser-Forscher, die Kaspar Hausers Schicksal mit Zahlenmystik und Weltverschwörungsphantasien zu erklären trach­ ten (vgl. Tradowsky 1983) oder die Frage, inwiefern Kaspar Hausers Schicksal dem Ideal der Selbstopferung in unserer christlichen Religion entspricht. Diesen Fragen werde ich sicher weiter nachgehen, auch wenn ich jetzt, um diese Arbeit beenden zu können, mich vorübergehend von Kaspar Hauser verabschieden muß. Das will ich tun mit einem Zitat von Peter Handke, der auf sprachlich so eindrucksvolle Weise darstellt, was in der Identifikation mit Kaspar Hauser möglich ist, nämlich ein Selbsterkenntnisprozeß, den Hauser selbst leider nicht zu Ende fuhren konnte. 137

Epilog

„Als ich bin, war ich. Als ich war, bin ich. Wenn ich bin, werde ich sein. Wenn ich sein werde, war ich. Obwohl ich war, werde ich sein. Obwohl ich sein werde, bin ich. Sooft ich bin, bin ich gewesen. Sooft ich gewesen bin, war ich. Während ich war, bin ich gewesen. Während ich gewesen bin, werde ich sein. Indem ich sein werde, bin ich gewesen. Indem ich gewesen bin, bin ich. Dadurch, daß ich bin, war ich gewesen. Dadurch, daß ich gewesen war, war ich. Ohne daß ich war, war ich gewesen. Ohne daß ich gewesen war, werde ich sein. Damit ich sein werde, war ich gewesen. Damit ich gewesen war, bin ich gewesen. Bevor ich gewesen bin, war ich gewesen. Bevor ich gewesen war, bin ich. Ich bin, so daß ich gewesen sein werde. Ich werde gewesen sein, so daß ich war. Ich war, sobald ich gewesen sein werde. Ich werde gewesen sein, sobald ich sein werde. Ich werde sein, während i c h gewesen sein werde. I c h werde gewesen sein, während i c h gewesen bin. Ich bin gewesen, weil ich gewesen sein werde. Ich werde gewesen sein, weil ich gewesen war. Ich war gewesen, weil ich gewesen sein werde. Ich werde gewesen sein, weil ich bin. Ich bin, der ich bin. Ich bin, der ich bin. Ich bin, der ich bin.“ (Handke 1968, 55 f.)

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Bildnachweis

Umschlagsbild: “Aenigma-Kaspar-Hauser “. (Öl auf Papier, 40 mal 60 cm, 1996, vom Verfasser gemalt) Abb.:l: Porträt einer der beiden Bronzefiguren des vom Lions Club errichteten Kaspar-Hauser-Denkmals in Ansbach. (Foto beim Verfasser)

Abb.: 2: Inschrift am Denkmal für Kaspar Hauser an der Mordstelle im Hof­ garten von Ansbach: „Hier ist ein Unbekannter durch einen Unbe­ kannten umgebracht worden.“ (Foto beim Verfasser) Abb.: 3: Ansicht von Schloß Pilsach. (Foto beim Verfasser) Abb.: 4: Inschrift am Grabstein Kaspar Hausers am Ansbacher Friedhof: „Hier ruht Kaspar Hauser, das Rätsel seiner Zeit, unbekannt seine Herkunft, dunkel sein Tod 1833.“ (Foto beim Verfasser)

Abb.: 5: Bronzefigur des vom Lions Club errichteten Kaspar-Hauser-Denkmals in Ansbach. (Foto beim Verfasser)

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HIC 0 CCULTUS

OCCULTO OCCISUS EST XIV DEC:

icccxxxin

HIC JACET

AENIGMA 7 pF’ J*; t Vf .. '1 SUI TEMPORISH IGNOTA NATIVITAS

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