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German Pages 513 Year 2009
Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Band 53
Der kartellrechtliche Schadensersatz Die zivilrechtliche Haftung bei Verstößen gegen das deutsche und europäische Kartellrecht nach Ergehen der VO (EG) Nr. 1/2003 und der 7. GWB-Novelle
Von
Hans Philip Logemann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
HANS PHILIP LOGEMANN
Der kartellrechtliche Schadensersatz
Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Erlangen-Nürnberg durch die Professoren Dr. Thomas Ackermann und Dr. Karl Albrecht Schachtschneider
Band 53
Der kartellrechtliche Schadensersatz Die zivilrechtliche Haftung bei Verstößen gegen das deutsche und europäische Kartellrecht nach Ergehen der VO (EG) Nr. 1/2003 und der 7. GWB-Novelle
Von
Hans Philip Logemann
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0947-2452 ISBN 978-3-428-12922-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Silvia
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2008 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten für die Drucklegung im Wesentlichen bis August 2008 berücksichtigt werden. Ein ganz herzlicher Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Daniel Zimmer, LL.M., für die Betreuung der Arbeit. Während der Anfertigung der Arbeit hatte er stets ein offenes Ohr und stand mir mit wertvollen Ratschlägen zur Seite. Ebenso möchte ich mich für die angenehme Zeit an seinem Lehrstuhl als wissenschaftlicher Mitarbeiter bedanken. Herrn Prof. Dr. WulfHenning Roth, LL.M., danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Den Herausgebern, den Herren Professoren Dr. Thomas Ackermann, LL.M., und Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, gebührt mein Dank für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe. Ferner danke ich dem „Arbeitskreis Wirtschaft und Recht“ im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der die Anfertigung der Arbeit durch ein großzügiges Promotionsstipendium unterstützt hat. Besonderer Dank gilt dabei Herrn Dr. Peter Hemeling und Frau Dr. Jeannine Bartmann von der Allianz SE für die hilfreichen Anregungen aus der Praxis während der Anfangsphase der Arbeit. Ebenso bin ich dem „Arbeitskreis Wirtschaft und Recht“ für die Förderung der Drucklegung durch einen Druckkostenzuschuss verbunden. Für die kritische Durchsicht der Arbeit bedanke ich mich bei meinem Studienfreund Dr. Björn Jesse. Ebenso danke ich Dr. Martin Wittmann für die gemeinsame Zeit am Institut, die ich in guter Erinnerung behalten werde. Von ganzem Herzen danke ich meinen Eltern, die mich während des Studiums und der Promotionszeit in jeder Hinsicht unterstützt haben. Ihrem immerwährenden Rückhalt kann und konnte ich mir stets sicher sein. Mein ganz besonderer Dank schließlich gilt meiner Ehefrau Silvia, die mir während der gesamten Zeit zur Seite stand und deren liebevolles Vertrauen in mich mir stets die nötige Kraft gab. Ebenso weiß ich es sehr zu schätzen, dass sie die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens übernommen hat. Sie trägt einen außerordentlichen Anteil am Gelingen dieser Arbeit. Ihr ist die Arbeit gewidmet. Köln, im August 2008
Hans Logemann
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
I.
Die private Durchsetzung im Kartellrecht vor neuen Aufgaben . . . . . . . .
25
II.
Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
III.
Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
IV.
Bedürfnis für die Effektivierung der privaten Durchsetzung? . . . . . . . . . . 1. Die Vorteile einer privaten Kartellrechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vermeintliche Schwächen einer privaten Kartellrechtsdurchsetzung . . . .
32 33 35
Kapitel 1 Der kartellrechtliche Schadensersatz in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle: Gesetzliche Regelung, Rechtspraxis und Hemmnisse
41
Die private Rechtsverfolgung im kartellrechtlichen Durchsetzungsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgestaltung der privaten Durchsetzung im GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Defensive Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Offensive Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anspruch auf Schadensersatz – die Anspruchsgrundlagen . . . . . . bb) Unterlassungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beseitigungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verbandsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung der privaten Durchsetzung im deutschen Kartellrecht . . . . . . .
41 41 42 43 43 46 47 48 50
II.
Der Schadensersatz in der Entwicklung des Kartellrechts . . . . . . . . . . . . .
54
III.
Die materiellrechtlichen Voraussetzungen für den Schadensersatz gemäß § 33 GWB a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verstoß gegen eine Schutzvorschrift oder eine Schutzverfügung . . . . . . . . a) Individualschutz im GWB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Schutzzweckdiskussion als geübte Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . c) Schutzgesetzeigenschaft des Kartellverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wettbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unmittelbare Marktgegenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Mittelbare Abnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60 60 61 64 65 66 67 69
I.
10
Inhaltsverzeichnis dd) Kartellmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutzgesetzeigenschaft der weiteren Regelungen im GWB . . . . . . . . aa) Vertikalvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einseitige wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen . . . . . . . . cc) Zusammenschlusskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verstoß gegen Schutzverfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtswidrigkeit und Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gemeinschaftliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 70 70 71 72 72 73 75 75
IV.
Der kartellrechtliche Schadensersatz im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachliche und örtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sachaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stand-alone-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Follow-on-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 77 77 78 79 80 84 88
V.
Die Hemmnisse in der privaten Durchsetzung vor der 7. GWB-Novelle . .
89
Kapitel 2 Der kartellrechtliche Schadensersatz bei Verstößen gegen das europäische Kartellrecht I.
Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes . . 1. Der kartellrechtliche Schadensersatz im europäischen Durchsetzungsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorgaben des Europarechts: von „van Gend & Loos“ zu „Courage“ und „Manfredi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unmittelbare Geltung der europäischen Wettbewerbsregeln . . . . . . . . . b) Notwendiger Rechtsschutz und der Grundsatz der Verfahrensautonomie c) Äquivalenzgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Effektivitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Unerlässlichkeit einer Schadensersatzhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Auswirkungen auf Einzelaspekte im Rahmen des Schadensersatzanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kreis der Anspruchsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Umfang des Schadensersatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der Einwand der Schadensabwälzung („passing-on defense“) . . g) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92 93 93 96 96 98 99 100 102 105 106 110 113 115 118
Inhaltsverzeichnis
11
3. Autonome gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzpflicht? . . . . . . . . . . . . a) Staatshaftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht („Francovich“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsprechung zur Haftung bei Verletzungen des EG-Kartellrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ansatz einer im Gemeinschaftsrecht begründeten Schadensersatzhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ansatz einer im nationalen Recht begründeten Schadensersatzhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119 120 120 123 126 127
II.
Schadensersatzpflicht bei Verletzungen europäischen Kartellrechts in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
III.
Schadensersatzpflicht bei Verletzungen europäischen Kartellrechts in den anderen Mitgliedstaaten der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
IV.
Die private Durchsetzung des EG-Kartellrechts im wettbewerbspolitischen Wandel – Die VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ziele der Modernisierung der Kartellrechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . 3. Die private Kartellrechtsdurchsetzung in der VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . 4. Änderungen der VO 1/2003 für den Bereich der privaten Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Übergang zum System der Legalausnahme, Art. 1 VO 1/2003 . . . . . . b) Beweislastregel, Art. 2 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden mit den Gerichten, Art. 15 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einheitliche Anwendung der Wettbewerbsregeln, Art. 16 VO 1/2003 e) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137 137 139 141 142 143 146 150 155 158
V.
Das Weißbuch der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
VI.
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Kapitel 3 Der kartellrechtliche Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
166
I.
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
II.
Behördliche Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. U.S. Department of Justice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Federal Trade Commission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. State Attorneys General . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168 168 171 173
12
Inhaltsverzeichnis
III.
Private Durchsetzung des Antitrust-Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung und Bedeutung der privaten Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsbehelfe zur privaten Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klage auf dreifachen Schadensersatz gemäß Sec. 4 Clayton Act . . . . aa) Gesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vorliegen eines Kartellverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verletzung von Unternehmen oder Eigentum des Anspruchstellers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) „any person“ i. S. d. Sec. 4 Clayton Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterrechtliche Einschränkung des Schadensersatzanspruchs . . (1) Antitrust Injury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Standing to Sue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Indirect Purchaser Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Der bevorzugte Kläger im Kartelldeliktsrecht des AntitrustRechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Dreifacher Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gemeinschaftliche Haftung und Ausschluss der Regressnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Klage auf Erlass einer gerichtlichen Verfügung gemäß Sec. 16 Clayton Act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Privatkläger im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Discovery-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Class Actions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Geschworenenprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Summary Judgment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Beweislast und Beweismaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Follow-on-Verfahren im System der privaten Durchsetzung . . . . . . . . . . . a) Beweiserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hemmung der Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zugriff auf Unterlagen der Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Aktuelle Entwicklungen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung . . . . . . . a) Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Reform Act 2004 . . . . . b) Class Action Fairness Act 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antitrust Modernization Commission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV.
175 175 178 179 180 180 180 181 182 182 183 185 188 190 190 190 194 195 196 196 198 198 199 199 201 201 202 203 204 205 206 207 207 208 210
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Inhaltsverzeichnis
13
Kapitel 4 Die 7. GWB-Novelle: Die Änderungen im Bereich des kartellrechtlichen Schadensersatzes
214
I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
II.
Ausgangslage und Ziele der Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
III.
Die 7. GWB-Novelle im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
IV.
Die Änderungen im zivilrechtlichen Sanktionssystem im Überblick . . . . 219
V.
Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund und Ziele der Neuausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Erwägungen zur „Betroffenheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Marktbeteiligter“ i. S. d. § 33 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtserheblichkeit der Beeinträchtigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die verschiedenen Personengruppen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wettbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unmittelbare Abnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mittelbare Abnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) „Nichtabnehmer“ und „Wenigerabnehmer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Abnehmer von Nicht-Kartellanten (sog. „umbrella plaintiffs“) . . c) Lieferanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Parteien der Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Teilnehmer auf Komplementär- und Substitutionsgütermärkten . . . . . f) Mittelbar Geschädigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222 223 225 226 228 231 232 233 234 235 235 237 239 239 241 243 244
VI.
Die Bindungswirkung gem. § 33 Abs. 4 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der sachliche Anwendungsbereich – Relevante Verfahren . . . . . . . . . . aa) Verfahren der deutschen Kartellbehörden sowie die Rechtsmittelverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren der Europäischen Kommission sowie die Rechtsmittelverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verfahren ausländischer Wettbewerbsbehörden oder als solche handelnder Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der räumliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der persönliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245 245 247 248 248 249 251 253 253 255 256
14
Inhaltsverzeichnis
VII. Die Verjährungshemmung gem. § 33 Abs. 5 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Wettbewerbsbehörden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Relevante Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfahrenseinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257 258 260 260 261 261 263 264
VIII. Die erweiterte Verzinsung gem. § 33 Abs. 3 Satz 4 GWB . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen und Umfang der Verzinsung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Anwendbarkeit des § 33 Abs. 5 GWB im Rahmen der Verzinsung . . 4. Auswirkungen und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265 265 267 269 270
Die Streitwertanpassung gem. § 89a GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Funktionsweise der Streitwertanpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtspolitische und verfassungsrechtliche Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
272 272 274 275 276 279
IX.
Kapitel 5 Das Problem der Schadensabwälzung im neuen Kartelldeliktsrecht („passing-on“)
281
I.
Das Phänomen der Schadensabwälzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
II.
Die Überwälzung von Kosten in der Wirtschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Auftreten einer Schadensabwälzung im Marktprozess . . . . . . . . . . . . a) Marktstruktur und Elastizität von Angebot und Nachfrage . . . . . . . . . aa) Wettbewerbsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Monopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Oligopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dauer der Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die individuelle Marktposition des unmittelbaren Abnehmers . . . . . . d) Die Art der verursachten Kostensteigerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entspricht das tatsächliche Preisverhalten dem ökonomischen Modell? . . 3. Die Bestimmung des Abwälzungsgrades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III.
Wettbewerbspolitische Betrachtung der Abwälzungsproblematik . . . . . . . 303
284 284 285 286 291 293 293 294 295 296 297 300 303
IV.
V.
VI.
Inhaltsverzeichnis
15
1. Die Bandbreite der Modelle („policy options“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Effektivität und Effizienz in der privaten Kartellrechtsdurchsetzung . . . . a) Anreize zur Durchsetzung – Wer ist der „bessere“ Kläger? . . . . . . . . . b) Praktikabilität im System der privaten Kartellrechtsdurchsetzung . . . 3. Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das US-Modell: Vorbild oder Gegenmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Bundesrecht – Die „indirect purchaser rule“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kritik im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Recht der Einzelstaaten – „Illinois Brick repealer“ . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303 307 308 312 313 315 316 319 321 323
Vorüberlegungen zur rechtlichen Betrachtung der Abwälzungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Funktion des Schadensersatzes im Kartelldeliktsrecht – Kompensation und/oder Prävention? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prävention und Kompensation in der Dogmatik des allgemeinen Schadensersatzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Präventionsaspekte in der neueren Rechtsprechung und Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Präventionsaspekte im Kartelldeliktsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europarechtliche Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansprüche mittelbarer Abnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „passing-on defense“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ersatzansprüche mittelbarer Abnehmer i. R. d. § 33 GWB n. F. – die sog. „indirect purchaser suits“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Alte Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsberechtigung – Die „Betroffenheit“ als maßgebliches Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Gesetzesmaterialien zur 7. GWB-Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Systematische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die „Courage“-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Der Verbraucherschutz im Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Die Kompensationsfunktion des Schadensersatzes . . . . . . . . . . . . . b) Begrenzung auf Kausalitätsebene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ersatzansprüche unmittelbarer Abnehmer – Der Einwand der Schadensabwälzung („passing-on defense“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Alte Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die gesetzliche (Teil-)Regelung im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . .
324 324 325 328 333 336 337 338 339 339 340 342 343 344 345 348 348 350 353 356 357 358 359 359
16
Inhaltsverzeichnis b) Die dogmatische Verortung der „passing-on defense“ . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Verortung der „passing-on defense“ nach schadensrechtlichen Grundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Verortung der „passing-on defense“ im Lichte des § 33 Abs. 3 Satz 2 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Zulässigkeit der „passing-on defense“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Verzicht auf eine gesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Allgemeine Grundsätze zur Vorteilsausgleichung . . . . . . . . . . . . . cc) Vergleichbare Fallgruppen im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Folgerungen für das Kartelldeliktsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Normative Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Kompensationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Präventionsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Der Vorrang der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII. Die Gefahr einer mehrfachen Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein hinnehmbares Risiko? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Möglichkeiten zur Vermeidung einer Mehrfachhaftung . . . . . . . . . . . . . . . a) Drittschadensliquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teilnichtigkeit (§ 138 BGB) bzw. Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Schadensabwälzung als Fall einer atypischen Gesamtgläubigerschaft (§§ 428 ff. BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Grundsätze zur Gesamtgläubigerschaft . . . . . . . . . . . . bb) Die Besonderheiten i. R. d. Schadensabwälzung . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Rechtsfolgen der Gesamtgläubigerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
361 362 366 368 368 369 371 374 374 376 378 379 382 385 386 386 390 391 393 395 395 396 398 400
VIII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
Kapitel 6 Der Schaden – Haftungsumfang und -berechnung im Kartelldeliktsrecht
407
I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
II.
Der Haftungsumfang i. R. d. § 33 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anwendbarkeit der allgemeinen Grundsätze der §§ 249 ff. BGB . . . 2. Vorgaben aus dem Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Haftungsumfang nach der ökonomischen Theorie (sog. „Optimal Deterrence Model“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
408 408 411 413
Inhaltsverzeichnis
17
a) Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der §§ 249 ff. BGB? . . . . . . . . . . . 413 b) Die optimale Schadenshöhe in der ökonomischen Theorie . . . . . . . . . 415 c) Folgerungen für die Anwendung des § 33 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 III.
Die Schäden bei Verstößen gegen das Kartellrecht und Methoden zur Quantifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 1. Die Schäden der Marktteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 2. Berechnungsmethoden für Preisüberhöhungsschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 a) Das zeitliche Vergleichsmarktkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 b) Das räumliche und sachliche Vergleichsmarktkonzept . . . . . . . . . . . . . 425 c) Die Kostenmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 d) Statistische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 e) Simulationsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 3. Berechnungsmethoden für entgangene Gewinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 a) Vergleichsmarktkonzepte und statistische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . 432 b) Die Marktanteilsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 c) Die Quantifizierung anhand konkreter Absatzverluste . . . . . . . . . . . . . 435 4. Zur Berechnung von entgangenen künftigen Gewinnen . . . . . . . . . . . . . . . 435 a) Die Kapitalisierung der erwarteten Gewinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 b) Der Unternehmenswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 c) Der Sonderfall des verhinderten Markteinstiegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
IV.
Die Schadensbestimmung im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 1. Die zivilprozessualen Rahmenbedingungen im deutschen Recht . . . . . . . . 440 2. Die Schadensbestimmung im US-amerikanischen Antitrust-Recht . . . . . . 445 3. Die Bestimmung hypothetischer Marktergebnisse in anderen Rechtsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
V.
Folgerungen für die Schadensbestimmung i. R. d. § 33 GWB . . . . . . . . . . . 454 1. Der Nachweis des Schadenseintritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 2. Die konkrete Schadensberechnung: Die Schlüsselfunktion der §§ 287 ZPO u. 252 Satz 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 3. Die „verobjektivierte“ Schadensberechnung: Der Verletzergewinn als Berechnungsgrundlage, § 33 Abs. 3 Satz 3 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 a) Hintergründe und Ziele der Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 b) Rechtliche Wirkung und Reichweite der Neuregelung . . . . . . . . . . . . . 462 c) Die Berechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 d) Der Auskunftsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 e) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
VI.
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472
18
Inhaltsverzeichnis Kapitel 7 Resümee und Ausblick
475
I.
Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
II.
Bewertung der Reformen im Kartelldeliktsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
III.
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. Abb. ABl. ABl. EG AcP a. F. AG AGG AMC Am. Law Econ. Rev. Antitrust Bull. Antitrust L. J. Arbeitspapier z. Grünbuch Arbeitspapier z. Weißuch Ariz. L. Rev. Art. Artt. Aufl. BAnz. BB Begr. Bekanntmachung: Beschwerden Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten (alte Fassung) BGB
anderer Ansicht am angegebenen Ort Abbildung Amtsblatt Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Archiv für die civilistische Praxis alte Fassung Die Aktiengesellschaft Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Antitrust Modernization Commission American Law and Economics Review Antitrust Bulletin Antitrust Law Journal Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zum Grünbuch über Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, SEC(2005) 1732 Commission Staff Working Paper accompanying the White Paper on Damages actions for breach of the EC antitrust rules, SEC(2008) 404 Arizona Law Review Artikel Artikel (Plural) Auflage Bundesanzeiger Betriebs-Berater Begründung Bekanntmachung der Kommission über die Behandlung von Beschwerden durch die Kommission gemäß Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, ABl. EG 2004, C 101/65 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags, ABl. EG 2004, C 101/54 Bekanntmachung über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 85 und 86 des EWG-Vertrags, ABl. EG 1993, C 39/05 Bürgerliches Gesetzbuch
20 BGBl. BGH BGHZ BlPMZ BKartA BR-Drs. bspw. BT-Drs. BVerfG BVerfGE bzw. ca. CAFA Chi.-Kent L. Rev. CMLRev. DB DBW ders. d.h. dies. Drs. ECLR EG
EGBGB EGKSV E.L.R. EnWG EU EuG EuGH EuR EUR EuZW EWG EWS Fed. R. Civ. P. FIW FK
Abkürzungsverzeichnis Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen Bundeskartellamt Bundesrats-Drucksache beispielsweise Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise circa Class Action Fairness Act Chicago-Kent Law Review Common Market Law Review Der Betrieb Die Betriebswirtschaft derselbe das heißt dieselbe(n) Drucksache European Competition Law Review Europäische Gemeinschaft(en); Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrags von Amsterdam Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl European Law Review Energiewirtschaftsgesetz Europäische Union; Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Amsterdam Europäisches Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Europarecht (Zeitschrift) Euro Zeitschrift für europäisches Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Federal Rules of Civil Procedure Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V. Frankfurter Kommentar zum GWB
Abkürzungsverzeichnis Fn. Fordham Corp. L. Inst. Fordham L. Rev. F.R.D. FS FTC GA GebrMG gem. Geo. L. J. Geo. Wash. L. Rev. GeschmMG ggf. GK GLJ Grünbuch
21
Fußnote Fordham Corporate Law Institute Fordham Law Review Federal Rules Decisions Festschrift Federal Trade Commission Generalanwalt beim EuGH Gebrauchsmustergesetz gemäß Georgetown Law Journal George Washington Law Review Geschmacksmustergesetz gegebenenfalls Gemeinschaftskommentar zum GWB German Law Journal Grünbuch über Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, KOM(2005) 672 endgültig Grünh. Z. Grünhut’s Zeitschrift; Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart GRUR Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht GS Großer Senat GWB Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Harv. L. Rev. Harvard Law Review HGB Handelsgesetzbuch h. L. herrschende Lehre h. M. herrschende Meinung Hrsg. Herausgeber HS Halbsatz i. d. R. in der Regel i. E. im Ergebnis IM Immenga/Mestmäcker insb. insbesondere InsO Insolvenzordnung i. R. d. im Rahmen der/des i. S. d. im Sinne der/des i. V. m. in Verbindung mit J. Ind. Econ. Journal of Industrial Economics JZ Juristen-Zeitung KG Kammergericht, Berlin KK Karlsruher Kommentar Law & Contemp. Probs. Law and Contemporary Problems (Zeitschrift) LG Landgericht Lit. Literatur
22 lit. Loy. Consumer L. Rev. MarkenG m. a. W. Mich. L. Rev. Minn. L. Rev. Mot. m. w. N. n. F. NJW NJW-RR Ohio St. L. J. OLG OLGZ ORDO OWiG p.a. PatG Rdnr. RefE RegE RG RGBl. RGZ RIW Rs. Rspr. S. Sec. SeuffA SG Slg. sog. Stan. L. Rev. StGB TKG Tul. L. Rev. Tz. u. a. UKlaG U. Pa. L. Rev.
Abkürzungsverzeichnis littera Loyola Consumer Law Review Markengesetz mit anderen Worten Michigan Law Review Minnesota Law Review Motive zum BGB mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift NJW-Rechtsprechungsreport Zivilrecht Ohio State Law Journal Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen Jahrbuch für die Ordnung der Wirtschaft und Gesellschaft Gesetz über Ordnungswidrigkeiten per annum Patentgesetz Randnummer Referentenentwurf Regierungsentwurf Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft Rechtssache Rechtsprechung Seite section Seufferts Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten Sondergutachten Sammlung sogenannte(r/s) Stanford Law Review Strafgesetzbuch Telekommunikationsgesetz Tulane Law Review Textziffer unter anderem(n) Unterlassungsklagengesetz University of Pennsylvania Law Review
Abkürzungsverzeichnis U. Pitt. L. Rev. UrhG U.S.C. usw. Utah L. Rev. u. U. UWG Vand. L. Rev. verb. VersR vgl. VO VwVfG Wash. L. Rev. wbl. Weißbuch Weißbuch (Kartellverfahrensreform) W. Comp. WRP WuW WuW/E WZG Yale J. Int’l L. z. B. ZEuP ZHR ZIP z. T. ZWeR
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University of Pittsburgh Law Review Urhebergesetz United States Code und so weiter Utah Law Review unter Umständen Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Vanderbilt Law Review verbundene Versicherungsrecht (Zeitschrift) vergleiche Verordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Washington Law Review Wirtschaftsrechtliche Blätter Weißbuch über Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, KOM(2008) 165 endg. Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, ABl. EG 1999, C 132/01 World Competition Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaft und Wettbewerb WuW-Entscheidungssammlung zum Kartellrecht Warenzeichengesetz Yale Journal of International Law zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis zum Teil Zeitschrift für Wettbewerbsrecht
Einführung I. Die private Durchsetzung im Kartellrecht vor neuen Aufgaben Die Marktordnung des freien Wettbewerbs basiert maßgeblich auf der freien Entfaltung unternehmerischer Tätigkeit. Wird diese durch private Absprachen in irgendeiner Form beschränkt, kann die Störung des Marktprozesses bekanntlich zu volkswirtschaftlichen Schäden in Form von Wohlfahrtsverlusten führen. Ferner können aber auch individuelle Schäden einzelner Marktbeteiligter hervorgerufen werden. Dem Kartellrecht kommt aus diesem Grund die Aufgabe zu, den Wettbewerb und seine Teilnehmer vor solchen schädigenden Verhaltensweisen zu schützen. Mit der Statuierung einer Wettbewerbsordnung und darin enthaltener Ge- und Verbote ist es jedoch nicht getan. Ein funktionierendes Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen setzt darüber hinaus eine wirksame Durchsetzung dieser Vorschriften voraus. Traditionell wird in Deutschland die Einhaltung der Wettbewerbsregeln über ein System der behördlichen Aufsicht erreicht. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) hält hierzu sowohl verwaltungsrechtliche wie ordnungsrechtliche Sanktionen bereit, die durch die Kartellbehörden ausgeübt werden. Sie erhalten insbesondere die Befugnis, Zuwiderhandlungen zu untersagen (§ 32 GWB), den rechtswidrig erlangten Vorteil abzuschöpfen (§ 34 GWB) und die verantwortlichen Personen und Unternehmen mit einem Bußgeld zu belegen (§ 81 GWB). Ähnliches gilt für die Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln i. S. d. Artt. 81, 82 EG.1 Auf eine strafrechtliche Sanktionsmöglichkeit ist in der deutschen und europäischen Kartellgesetzgebung, anders als etwa in den USA2 oder in Großbritannien, weitgehend verzichtet worden.3 Verletzungen des Kartellrechts haben jedoch auch Auswirkun1
Näher hierzu siehe unten, S. 93 ff. Vgl. hierzu etwa Magney/Anderson, W. Comp. 2004, S. 101 ff. 3 Allein der Submissionsbetrug ist bislang in Deutschland durch § 298 StGB kriminalisiert worden. Der Gesetzgeber ging bei Erlass des GWB davon aus, dass in der Öffentlichkeit und der Wirtschaft noch das Bewusstsein hinsichtlich der Verwerflichkeit von Kartellverstößen fehlte, vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 27 f. Seitdem ist verschiedentlich die Einführung strafrechtlicher Sanktionen diskutiert worden. Siehe zu den Kriminalisierungsbestrebungen Achenbach, in: FK, Vorbem. § 81 GWB Rdnr. 13 ff. (23 ff.); Steindorff, ZHR 138 (1974), S. 504 (505 ff.); K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 310 f.; Witthuhn, S. 86; Baumann/Arzt, ZHR 134 (1970), S. 24 ff.; zuletzt Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff.; Möschel, WuW 2006, S. 115. Für das europäische Recht vgl. Wils, S. 188 ff., der die Einführung von strafrechtlichen Sanktionen (insb. Haftstrafen) für Preiskartelle und andere verdeckte Wettbewerbsbeschränkungen 2
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Einführung
gen auf das Privatrecht. Die zivilrechtlichen Rechtsfolgen – mit ihrer zentralen Norm des § 33 GWB – reichen von dem bloßen Einwand der Nichtigkeit von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen bis hin zur Geltendmachung von Unterlassungs-, Beseitigungs- und Schadensersatzansprüchen.4 Die hierdurch erzielte Wirkung ist zweierlei: Für den Einzelnen gewährleisten sie einen Individualrechtsschutz gegen den Rechtsverletzer. Aus Sicht der Allgemeinheit kommt jedoch hinzu, dass die Sanktionen in der breiten Anwendung insgesamt zu einer „privaten Durchsetzung“ des Wettbewerbsrechts führen. Neben der behördlichen Aufsicht besteht somit auch die Möglichkeit, dass Private im Wege des Zivilprozesses eine Aufsichtsfunktion wahrnehmen. Dieser Aspekt der privaten Durchsetzung war vom Gesetzgeber durchaus beabsichtigt,5 spielte in der Vergangenheit aber nur eine untergeordnete Rolle. Dies spiegelt sich nicht nur in den geringen Fallzahlen in der Rechtspraxis wider,6 sondern kann auch an der Bedeutung festgemacht werden, die der privaten Durchsetzung lange Zeit in der Wettbewerbspolitik zugeschrieben wurde. Vielfach war man der Auffassung, dass die Wettbewerbsaufsicht am besten in den Händen der Kartellbehörden aufgehoben sei. Die zivilrechtlichen Rechtsfolgen von Kartellverstößen betrachtete man vornehmlich als (eher hinderliche) Instrumente des Individualrechtsschutzes, weniger aber als Mittel der allgemeinen Kartellrechtsdurchsetzung. Ganz anders zeigt sich das Bild in den USA. Seit vielen Jahrzehnten ist dort die Privatklage die gebräuchlichste Form der Kartellrechtsdurchsetzung, die die behördliche Aufsicht in den Fallzahlen weit übersteigt. In den letzten Jahren hat die private Kartellrechtsdurchsetzung unter dem Schlagwort des „private enforcement“ auch in der deutschen und europäischen Diskussion eine bislang nicht gekannte Bedeutung erlangt. Ihr Schattendasein in der Wettbewerbspolitik hat sie inzwischen ablegen können. Schlagartig avancierte sie vielmehr zum Hoffnungsträger für eine effektive Kartellrechtsdurchsetzung. Für diesen plötzlichen Wandel lassen sich mehrere Gründe anführen. Anstoß der jüngeren Entwicklung war die Reform des europäischen Kartellverfahrensrechts Ende der 1990er Jahre mit dem Bestreben, die nationalen Gerichte stärker in das System der Wettbewerbsaufsicht einzubinden.7 In diesem Zusammenhang wurde jedoch deutlich, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unzureichend waren, um diese neue
mit vergleichbarer Profitabilität empfiehlt; ebenfalls ders., in: Ehlermann/Atanasiu, S. 411 ff. und Zuleeg, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 453 ff. 4 Näher zu den Formen der privaten Durchsetzung siehe unten, S. 41 ff. 5 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 1. Siehe hierzu auch die Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 24. 6 Hierbei muss allerdings zwischen den verschiedenen Formen der privaten Durchsetzung differenziert werden. Insbesondere der Schadensersatz konnte keine praktische Bedeutung erlangen. Näher hierzu unten, S. 50 ff. 7 Näher hierzu unten, S. 139 ff.
I. Die private Durchsetzung im Kartellrecht vor neuen Aufgaben
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Aufgabe der privaten Kartellrechtsdurchsetzung gewährleisten zu können. In der Courage-Entscheidung aus dem Jahre 2001 mahnte der EuGH die Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes im Kartellrecht an.8 Ebenso offenbarte auch eine von der Kommission in Auftrag gegebene Studie über die derzeitigen Bedingungen für die Geltendmachung eines kartellrechtlichen Schadensersatzes einen dringenden Handlungsbedarf. In Deutschland führten die großteils erfolglosen Klagen von geschädigten Abnehmern des weltweiten Vitaminkartells der 1990er Jahre vor Augen, dass das zivilrechtliche Sanktionssystem nicht effektiv ausgestaltet war bzw. gehandhabt wurde.9 Der deutsche Gesetzgeber griff im Zuge der 7. GWB-Novelle,10 die am 1. Juli 2005 in Kraft trat, die Initiative der Kommission zur Förderung der privaten Durchsetzung des Wettbewerbsrechts auf und war bestrebt, die zivilrechtlichen Sanktionen auszuweiten und somit ein effektives Haftungsregime zu schaffen.11 Im Vordergrund der Reformbemühungen stand der Anspruch auf Schadensersatz. Zahlreiche Änderungen haben sich im Rahmen des § 33 GWB ergeben. Der Zeitpunkt für ein neues Kartelldeliktsrecht ist gut gewählt, wenn man die jüngsten Erfolge der Kartellbehörden bei der Aufdeckung von Hardcore-Kartellen durch die praktizierten Kronzeugenregelungen bedenkt.12 In Zukunft wird man deshalb häufiger mit Schadensersatzklagen rechnen müssen. Mit Spannung darf der Ausgang der derzeit vor dem Landgericht Düsseldorf anhängigen Schadensersatzklage gegen die führenden Mitglieder des 2002 aufgeflogenen Zementkartells erwartet werden.13 Das Verfahren ist nicht nur deshalb von Interesse, weil es den Grundstein für eine klägerfreundliche Rechtsprechung bilden kann, sondern auch weil die Geschädigten ihre Ansprüche erstmalig gebündelt 8
EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 – Courage. Vgl. OLG Karlsruhe WuW/E DE-R 1229 ff. – Vitaminpreise; LG Mannheim GRUR 2004, 182 ff. – Vitaminkartell; LG Mainz WuW/E DE-R 1349 ff. – Vitaminpreise Mainz. Anders aber LG Dortmund WuW/E DE-R 1352 ff. – Vitaminpreise Dortmund. 10 BGBl. I 2005, 1954. 11 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 35. 12 Vgl. die Bußgeldbescheide des Bundeskartellamts im Bereich der Zementindustrie v. 14.04.2003, des Papiergroßhandels v. 04.05.2004 und der Industrieversicherungen v. 23.03.2005 und 15.09.2005. Siehe auch die Entscheidungen der Kommission Aufzüge und Fahrtreppen v. 21.02.2007 (COMP/38.823); gasisolierte Schaltanlagen v. 24.01.2007 (COMP/38.899); Kautschukchemikalien v. 21.12.2005 (COMP/38.443); Rohtabak v. 20.10.2005 (COMP/38.281); Kupfer-Installationsrohre v. 03.09.2004 (COMP/38.069); Kohlenstoff- und Graphitprodukte v. 28.04.2004 (COMP/E2/38.359); Organische Peroxide v. 10.12.2003 (COMP/E-2/37.857); Sorbate v. 01.10.2003 (COMP/E-1/37.370). 13 LG Düsseldorf, 34 O (Kart) 147/05; siehe hierzu die Zusammenstellung der Pressestimmen im Internet unter http://www.cdcag.com/presse.html (zuletzt: 20.08. 2008). Weitere Schadensersatzklagen sind etwa im Zusammenhang mit dem Kartell für Aufzüge und Fahrtreppen angekündigt worden, vgl. Handelsblatt v. 20./21./22.04. 2007, Nr. 77, S. 11. 9
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Einführung
haben. Ein solches kollektives Vorgehen könnte Schule machen und Schadensersatzklagen neue Impulse geben. Auch nach der 7. GWB-Novelle ist die kartellrechtliche Diskussion um die private Durchsetzung nicht verebbt. Weiterhin befindet sich die Thematik im Wandel, weshalb die jüngsten Änderungen vermutlich nur die ersten Schritte im Aufbau eines schlagkräftigen Kartelldeliktsrechts gewesen sein dürften. Weitere Neuerungen sind von der europäischen Ebene zu erwarten. Im Dezember 2005 stellte die Kommission ein Grünbuch zu den Modalitäten des kartellrechtlichen Schadensersatzes wegen Verletzungen des EG-Kartellrechts vor.14 Im April 2008 wurden die Vorschläge in einem Weißbuch präzisiert.15 Weiterhin ist nicht genau absehbar, ob die Reformbemühungen tatsächlich in eine sekundärrechtliche Regelung münden werden. Für das deutsche Kartelldeliktsrecht könnte sich ein erneuter Korrekturbedarf insbesondere auf der prozessualen Seite ergeben.
II. Gegenstand der Untersuchung Insgesamt lässt sich somit feststellen, dass sich die private Durchsetzung wettbewerbspolitisch derzeit „auf dem Vormarsch“ befindet. Dies gilt insbesondere für den Anspruch auf Schadensersatz, auf den sich diese Arbeit konzentriert. Wettbewerbsrechtlich hingegen stehen wir noch immer vor vielen ungeklärten Fragen im Umgang mit der Zivilhaftung im Kartellrecht. Dies betrifft sowohl die materiellrechtliche Ausgestaltung wie auch die Handhabung von Kartellsachen im Zivilprozess. Dabei ist die rechtliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik keineswegs neu. Das Schrifttum hat sich in der Vergangenheit immer wieder mit der privaten Durchsetzung auseinandergesetzt. In den 1960er und 1970er Jahren erschienen zahlreiche Monographien, die das Für und Wider der privaten Durchsetzung neben der behördlichen Aufsicht thematisierten und bestehende Probleme bei der Durchsetzung nach der damaligen Rechtslage beleuchteten. In diesem Zusammenhang sind – in zeitlicher Reihenfolge – insbesondere Mailänder,16 Koch,17 Ullrich,18 Witthuhn,19 K. Schmidt20 und Müller-
14 Europ. Kommission, Grünbuch, KOM(2005) 672 endg. v. 19.12.2005 u. Arbeitspapier z. Grünbuch, SEC(2005) 1732. 15 Europ. Kommission, Weißbuch, KOM(2008) 165 endg. v. 02.04.2008 u. Arbeitspapier z. Weißbuch, SEC(2008) 404. Näher hierzu unten, S. 159 ff. 16 Mailänder, Privatrechtliche Folgen unerlaubter Kartellpraxis, 1964. 17 Koch, Schadensersatz bei unerlaubten wettbewerbsbeschränkenden Handlungen nach deutschem und europäischem Recht, 1967. 18 Ullrich, Das Recht der Wettbewerbsbeschränkungen des Gemeinsamen Marktes und die einzelstaatliche Zivilgerichtsbarkeit, 1971. 19 Witthuhn, Die Ausgestaltung der privaten Klage im Wirtschaftsrecht, 1976.
II. Gegenstand der Untersuchung
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Laube21 zu nennen. Einen wesentlichen Beitrag in der Diskussion lieferte auch die erste umfassende rechtsvergleichende Analyse von Linder,22 die den kartellrechtlichen Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht untersuchte. Als neuere Untersuchungen sind noch die Arbeiten von Hempel23 und Röhrig24 zu erwähnen, die die Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet aufzeigen und den kartellrechtlichen Schadensersatz einer ökonomischen Analyse unterziehen. Die rein akademische Auseinandersetzung konnte jedoch die fehlende Rechtspraxis auf diesem Gebiet nicht kompensieren. Jüngst erschienen ferner die Untersuchungen von Bulst,25 Görner26 und Jüntgen.27 Durch die 7. GWB-Novelle wurde das Kartelldeliktsrecht grundlegend neu konzipiert. Auch auf europäischer Ebene wurde das Verfahrensrecht mit der VO (EG) Nr. 1/2003 reformiert. Viele der Fragestellungen sind nunmehr in einem anderen Licht zu beantworten. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die gesetzlichen Änderungen sehr stark vom gewandelten Verständnis von der Rolle des Schadensersatzes im Kartellrecht geprägt sind. Der Klärungsbedarf resultiert zu Teilen unmittelbar aus der Reform selbst, hat doch die 7. GWB-Novelle eine Vielzahl von neuen Fragen aufgeworfen. Vielfach handelt es sich jedoch um ganz grundsätzliche Fragen, die bislang nicht geklärt werden konnten. Dazu zählt etwa die Frage, welche Marktteilnehmer überhaupt zum anspruchsberechtigten Personenkreis zählen. Wie definieren sich die verursachten Schäden und wie lassen sie sich für gerichtliche Zwecke hinreichend nachweisen? Insbesondere ist auch unklar, wie bei Abnehmerschäden das Phänomen der Schadensabwälzung („passing-on“) rechtlich zu beurteilen ist. Schließlich stellt sich auch die Frage nach den Implikationen, die sich in diesem Zusammenhang aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben. Diese Problemkreise näher zu beleuchten, ist Ziel der vorliegenden Arbeit. Die Thematik des kartellrechtlichen Schadensersatzes ist zu vielschichtig, als dass sich sämtliche hiermit verbundenen Fragen im Rahmen einer Arbeit sinnvoll behandeln ließen. Eine Schwerpunktsetzung wird 20 K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, 1977; ders., Aufgaben und Leistungsgrenzen der Gesetzgebung im Kartelldeliktsrecht, 1978. 21 Müller-Laube, Der private Rechtsschutz gegen unzulässige Beschränkungen des Wettbewerbs und mißbräuchliche Ausübung von Marktmacht im deutschen Kartellrecht, 1980. 22 Linder, Privatklage und Schadensersatz im Kartellrecht, 1980. 23 Hempel, Privater Rechtsschutz im Kartellrecht, 2002. 24 Röhrig, Schadensersatzanspruch im deutschen Kartellrecht nach der 6. GWB-Novelle, 2003. 25 Bulst, Schadensersatzansprüche im Kartellrecht, 2006. 26 Görner, Die Anspruchsberechtigung der Marktbeteiligten nach § 33 GWB, 2007. Im Weiteren konnte die Arbeit für die Drucklegung nicht mehr berücksichtigt werden. 27 Jüntgen, Die prozessuale Durchsetzung privater Ansprüche im Kartellrecht, 2007. Im Weiteren konnte die Arbeit für die Drucklegung nicht mehr berücksichtigt werden.
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hierdurch unumgänglich. Im Rahmen dieser Arbeit sollen deshalb in erster Linie (1.) die europarechtlichen Implikationen, (2.) die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle, (3.) die Problematik der Schadensabwälzung und (4.) Schadensumfang und -nachweis näher untersucht werden. Nicht Gegenstand dieser Arbeit kann daher das Zusammenspiel von behördlicher und privater Durchsetzung sein. Insbesondere im Hinblick auf die von den Kartellbehörden praktizierten Kronzeugenregelungen bleibt zu klären, wie gewährleistet werden kann, dass Schadensersatzklagen nicht die behördliche Wettbewerbsaufsicht konterkarieren. Ebenso können nicht sämtliche Fragen der prozessrechtlichen Seite der Thematik behandelt werden. Die Untersuchung konzentriert sich in erster Linie auf die materiellrechtlichen Fragen. Verfahrensfragen werden nur im Zusammenhang mit dem Schadensnachweis und der neuen Streitwertherabsetzung gem. § 89a GWB diskutiert. Ausgeklammert bleibt insbesondere eine Erörterung möglicher prozessualer Erleichterungen beim Nachweis des Kartellverstoßes. Diese Frage bereitet dann Probleme, wenn dem Zivilverfahren kein behördliches Verfahren vorausgegangen ist. Ebenso bleiben Möglichkeiten einer kollektiven Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen de lege ferenda außer Betracht. Schließlich werden auch nicht die kollisionsrechtlichen Fragen rund um kartellrechtliche Schadensersatzklagen behandelt, die sich im Zusammenhang mit dem internationalen Privat- und Zivilprozessrecht ergeben. Insbesondere bei grenzüberschreitenden Kartellen bedarf es einer Auseinandersetzung darüber, in welchem Land und nach welchem Recht28 die Betroffenen Ersatzansprüche geltend machen können.
III. Gang der Untersuchung Nachfolgend soll zunächst eine genaue Bestandsaufnahme der Rechtslage und der Rechtspraxis in Deutschland vor Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle vorgenommen werden. Nur vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen lassen sich die ergangenen Neuerungen verstehen. Hierbei ist insbesondere auf die geringe praktische Bedeutung der Schadensersatzhaftung und die maßgeblichen Gründe hierfür einzugehen. Hieran anschließend soll näher auf die europarechtlichen Implikationen eingegangen werden. Im EG-Vertrag ist eine Schadensersatzfolge für Verstöße gegen das europäische Wettbewerbsrecht nicht unmittelbar geregelt. In der Literatur wird jedoch lebhaft diskutiert, ob sich dem Gemeinschaftsrecht ein ungeschriebenes, autonomes Kartelldeliktsrecht entnehmen lässt. In jedem Fall lässt sich aber anhand der Rechtsprechungspraxis der Gemeinschaftsgerichte aufzeigen, dass die nationalen Zivilgerichte bei ihrer Entscheidung über die zivilen Rechtsfolgen von Verstößen gegen die Artt. 81, 82 EG 28 Vgl. hierzu insb. Art. 6 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 vom 11.07. 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („ROM II“), ABl. EG 2007, L 199/40.
III. Gang der Untersuchung
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gemeinschaftsrechtliche Vorgaben zu berücksichtigen haben. Ebenso wird in diesem Zusammenhang näher auf die relevanten Änderungen durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 und den durch die Kommission angestoßenen Reformprozess auf dem Gebiet des kartellrechtlichen Schadensersatzes einzugehen sein. Im Kapitel 3 soll ein kurzer Überblick über die Bedeutung und Handhabung des kartellrechtlichen Schadensersatzes in den USA, dem „Mutterland“ der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, erfolgen. Dort hat die private Schadensersatzklage schon vor Jahrzehnten eine immense Bedeutung in der Rechtspraxis erlangt. Viele der Vorschläge in der aktuellen Reformdebatte beruhen auf den dortigen Anreizen zur Geltendmachung von Schadensersatzklagen. Im positiven wie negativen Sinne ist das amerikanische Recht somit zu einem Leitbild in der Frage über die Ausgestaltung der privaten Rechtsdurchsetzung im Kartellrecht geworden. Im anschließenden Kapitel 4 erfolgt sodann eine eingehende Auseinandersetzung mit der 7. GWB-Novelle und den Änderungen im Rahmen des § 33 GWB. Der Gesetzgeber hat den persönlichen Anwendungsbereich der Norm völlig umgestaltet und im Ergebnis erheblich erweitert. Hier wird eingehend zu der Frage Stellung genommen, wer künftig Schadensersatzansprüche geltend machen kann. Des Weiteren fördert das neue Recht in mehrfacher Hinsicht Privatklagen im Anschluss an kartellbehördliche Verfahren. Den hiermit verbundenen Fragen und den Auswirkungen der sonstigen Neuerungen soll näher nachgegangen werden. Eine Auseinandersetzung mit den Fragestellungen im Zusammenhang mit der Schadensabwälzung folgt sodann im nächsten Kapitel. Erstabnehmer sind häufig in der Lage, ihre Schäden (teilweise) auf die Folgevertragspartner abzuwälzen (sog. „passing-on“). Nach alter wie neuer Gesetzeslage ist nicht geregelt, welche Marktstufe innerhalb der Lieferkette (Erstabnehmer oder auch mittelbare Abnehmer) Schäden durch Preisüberhöhungen geltend machen kann.29 Kapitel 6 widmet sich schließlich dem Schaden in kartellrechtlichen Sachverhalten. Probleme bereitet den Geschädigten oftmals der Nachweis von Schaden und Schadenshöhe. In diesem Zusammenhang werden die unterschiedlichen Methoden zur Bemessung der nur schwer greifbaren wettbewerblichen Schäden aufgezeigt und es wird untersucht, inwieweit die prozessualen Rahmenbedingungen den Schwierigkeiten bei der Anwendung des § 33 GWB gerecht werden können. Ebenso sind in diesem Zusammenhang die Auswirkungen des neuen § 33 Abs. 3 Satz 3 GWB näher unter die Lupe zu nehmen. Abschließend soll anhand der Ergebnisse der Untersuchung bewertet werden, inwieweit die 7. GWB-Novelle ihren Zielen der Förderung des privaten Rechtsschutzes gerecht wird und welche weiteren Veränderungen des Kartelldeliktsrechts vorzunehmen bleiben.
29 Mit der Passing-on-Problematik befasst sich auch die Arbeit von Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006.
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IV. Bedürfnis für die Effektivierung der privaten Durchsetzung? Wie eingangs erwähnt, hat sich der Gesetzgeber sowohl auf europäischer wie auf nationaler Ebene entschlossen, die private Durchsetzung nachhaltig zu stärken, um somit eine dezentrale Wettbewerbsaufsicht zu ermöglichen.30 Nicht ganz unbeachtet bleiben sollte aber, dass dieser Ruf nach einem verschärften Kartelldeliktsrecht nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist.31 In den letzten fünfzig Jahren war die Frage nach dem Bedürfnis für eine (verstärkte) private Kartellrechtsdurchsetzung immer wieder Gegenstand der Diskussion. Dabei gab es jene, die in Anlehnung an das Beispiel der USA um eine Ausweitung des zivilrechtlichen Drittschutzes bemüht waren,32 aber auch andere,33 die das Kartelldeliktsrecht sehr kritisch bewerteten. Diese Diskussion soll an dieser Stelle nicht mehr aufgegriffen werden. Die wettbewerbspolitische Entscheidung für eine gestärkte private Durchsetzung ist nunmehr gefallen und soll hier nicht mehr in Frage gestellt werden. Vielmehr baut die nachfolgende Untersuchung auf dieser Richtungsvorgabe auf. Nicht verschwiegen werden soll aber, dass die private Wettbewerbsaufsicht mit einigen Schwächen behaftet ist, die bei der behördlichen Aufsicht in der Form nicht gegeben sind. Allerdings geht es in diesem Zusammenhang nicht um eine Entscheidung im Sinne von „entweder, oder“. Die behördliche Aufsicht ist und bleibt unverzichtbar und wird weiterhin die zentrale Form der Kartellrechtsdurchsetzung darstellen. Die Privatklage soll ihrerseits nur eine zusätzliche, entlastende Funktion wahrnehmen. Wenn man dies bedenkt, entschärft sich die Diskussion in vielerlei Hinsicht. Des besseren Verständnisses der Thematik des kartellrechtlichen Schadensersatzes wegen sollen aber im Folgenden die wesentlichen Aspekte in der Diskussion über das Für und Wider der privaten Durchsetzung wiedergegeben werden.
30 Vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 35 (für Deutschland) und Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, ABl. EG 1999, C 132/1 ff., Tz. 99 f. (für die EU); siehe auch Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 36 sowie SG Nr. 32, Tz. 64 ff. 31 Siehe etwa Möschel, WuW 2006, S. 115; Wils, W. Comp. 2003, S. 473 ff. Vgl. ferner die Stellungnahmen der Industrieverbände wie etwa BDI und DIHK zum Grünbuch der Kommission, abrufbar im Internet unter: http://ec.europa.eu/comm/compe tition/antitrust/actionsdamages/green_paper_comments.html (zuletzt: 20.08.2008). 32 Buxbaum, S. 35; Linder, S. 115 ff.; Mailänder, S. 132 ff.; Ullrich, S. 367; Steindorff, ZHR 138 (1974), S. 504 ff. (508 ff.); Witthuhn, S. 93 ff. 33 Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 4; ders., FS-Hartmann, S. 37 ff.; Scholz, S. 100; Wils, W. Comp. 2003, S. 473 ff. (in Bezug auf das EG-Kartellrecht); ebenfalls skeptisch: Möschel, WuW 2006, S. 115. In der älteren Literatur vgl. Ballerstedt, JZ 1956, S. 267 (271); Strickrodt, WuW 1957, S. 75 (90 ff.); Würdinger, WuW 1953, S. 721 (727).
IV. Bedürfnis für die Effektivierung der privaten Durchsetzung?
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1. Die Vorteile einer privaten Kartellrechtsdurchsetzung Die Vorteile, die zur Befürwortung einer effektiven privaten Rechtsverfolgung im Kartellrecht immer wieder vorgebracht werden, sind insbesondere (1.) der nur hierüber erzielbare Ausgleich zugunsten der Geschädigten, (2.) die von Schadensersatzklagen ausgehende zusätzliche Abschreckung, (3.) die Entlastung der Kartellbehörden, (4.) die insgesamt bewirkte Intensivierung der Rechtsdurchsetzung sowie (5.) die hiervon ausgehende Stärkung der Selbsthilfe der Teilnehmer am Markt, die letztlich (6.) zur Schaffung einer „Wettbewerbskultur“ beitragen können. 1. Ausgleich zugunsten der Geschädigten. Aus Sicht der Geschädigten einer Wettbewerbsbeschränkung ist wohl der wesentliche Vorzug der privaten Durchsetzung gegenüber der behördlichen Aufsicht darin zu erblicken, dass nur über erstere ein Ausgleich individuell erlittener Schäden erreicht werden kann.34 Die Behörden können den Geschädigten keine Ersatzleistungen zusprechen. 2. Zusätzliche Abschreckung. Die private Rechtsverfolgung führt weiterhin zu einer gesteigerten Abschreckung.35 Dies betrifft insbesondere den Schadensersatz. Unternehmen werden stärker darauf achten, nicht gegen die Wettbewerbsordnung zu verstoßen, wenn sie damit rechnen müssen, dass sie hierfür nicht nur mit einem Bußgeld belegt werden können, sondern darüber hinaus auch den betroffenen Personen Schadensersatz zu leisten haben. Soweit man unterstellt, dass Marktteilnehmer zweckrational handeln, werden sie sich auch bei ihrer Entscheidung über die Vornahme eines kartellrechtswidrigen Verhaltens von einer Kosten-Nutzen-Analyse leiten lassen.36 Je kostspieliger die drohende Sanktion, desto eher werden sich die Unternehmen für die Rechtstreue entscheiden. Ein effektiv ausgestaltetes Kartelldeliktsrecht wirkt somit generalpräventiv. 3. Entlastung der Kartellbehörden. Ein für die Europäische Kommission leitender Aspekt für die Stärkung des Kartelldeliktsrechts ist die damit erhoffte Entlastung der Kartellbehörden in der Erfüllung ihrer Aufgaben. Ein geübtes
34 Vgl. hierzu Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 1.2; dies., Bekanntmachung: Beschwerden, ABl. EG 2004, C 101/65 ff., Tz. 16; Kommissarin Kroes, Rede v. 22.09. 2005, SPEECH/05/533, S. 2; Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 2; sowie in der Literatur Linder, S. 55 ff.; Hempel, S. 238; Woods/Sinclair/Ashton, Competition Policy Newsletter 2/2004, S. 31 (32). 35 Vgl. hierzu die Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 1.2; dies. Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten (alte Fassung), ABl. EG 1993, C 39/6 ff., Tz. 6; Kommissarin Kroes, Rede v. 22.09.2005, SPEECH/05/533, S. 2; Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4; Linder, S. 46 ff; Koch, S. 141; Hempel, S. 242 ff.; Woods/Sinclair/Ashton, Competition Policy Newsletter 2/2004, S. 31 (32); zurückhaltend: Witthuhn, S. 132 f.; ablehnend: Scholz, S. 99. 36 So bereits Linder, S. 46.
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Einführung
Kartelldeliktsrecht führt zu einer Arbeitsteilung in der Rechtsdurchsetzung.37 Eine behördliche Aufsicht ist immer mit begrenzten Ressourcen verbunden. Obläge es ihr, Hüter aller Einzelinteressen zu sein, drohte die Gefahr, dass die Kartellbehörden von ihrer vordringlichen wirtschaftspolitischen Aufgabe abgelenkt würden.38 Die Kartellbehörden sind bereits überfordert, jeden Fall aufzugreifen, in denen Allgemeininteressen berührt sind. Aus diesem Grunde muss die staatliche Kontrolle Prioritäten setzen können, um sich auf Fälle zu konzentrieren, in denen die Gemeinwohlbelange schwerwiegend betroffen sind. Die Privatklage ist deshalb „das geeignete Mittel zum Ausgleich eines so ,kalkulierten Vollzugsdefizits.‘“ 39 Da sie zum Vollzug der Wirtschaftsordnung beiträgt, wird die Privatklage faktisch in den Dienst öffentlicher Interessen gestellt.40 4. Intensivierung der Rechtsdurchsetzung. Eng hiermit verknüpft ist der Vorzug, dass ein geübtes Kartelldeliktsrecht die Kartellrechtsdurchsetzung insgesamt intensiviert.41 Dies wird dadurch erreicht, dass (1) die Verfolgungsdichte gesteigert und Sanktionslücken geschlossen werden, (2) behördlichen Entscheidungen mehr Nachdruck verliehen wird, weil diese nicht „nur“ zu Geldbußen und Vorteilabschöpfung führen, sondern darüber hinaus Zivilverfahren anstoßen können,42 (3) der Sachverstand der Marktbeteiligten und der kartellrechtlich geschulten Anwaltschaft nutzbar gemacht wird43 und (4) die Entscheidungen der Zivilgerichte den gesetzlichen Regelungen schärfere Konturen verleihen und damit zu einer erhöhten Rechtsklarheit und -sicherheit beitragen.44 5. Aspekt der Selbsthilfe. Neben den vorgenannten, eher praktischen Vorteilen einer privaten Durchsetzung des Kartellrechts werden auch rechtstheoretische Erwägungen angeführt. In erster Linie wird in der Literatur hierbei auf den Aspekt der Selbsthilfe verwiesen.45 Im GWB ist zum Ausdruck gekommen, dass sich der Gesetzgeber für die Marktordnung des freien Wettbewerbs entschieden hat. In der liberalen Marktwirtschaft basiert der Wettbewerb auf der 37 Kommissarin Kroes, Rede v. 22.09.2005, SPEECH/05/533, S. 2; Linder, S. 39 ff.; Hempel, S. 239; Witthuhn, S. 101 ff.; Esser-Wellié, WuW 1995, S. 457 (457); Woods/ Sinclair/Ashton, Competition Policy Newsletter 2/2004, S. 31 (32); a. A.: Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 3. 38 Mailänder, S. 13. 39 Linder, S. 40. 40 Witthuhn, S. 102 f. 41 Vgl. Kommissarin Kroes, Rede v. 17.10.2005, SPEECH/05/613, S. 2; Linder, S. 37 ff.; Hempel, S. 239 ff.; Witthuhn, S. 105; Mailänder, S. 121; Ullrich, Mitarbeiter-FS Ulmer, S. 521 (534); Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81 Rdnr. 242. 42 Witthuhn, S. 105. 43 Linder, S. 41 ff.; Hempel, S. 245; Mailänder, S. 13; Woods/Sinclair/Ashton, Competition Policy Newsletter 2/2004, S. 31 (32). 44 Hempel, S. 241. 45 Linder, S. 57; Witthuhn, S. 99 ff.; Hempel, S. 239 ff.; Mailänder, S. 12; MüllerLaube, S. 11; Ullrich, S. 33; Fikentscher, BB 1956, S. 793 (796).
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treibenden Kraft des Einzelinteresses. Wettbewerb kann nicht durch staatliche Lenkung geschaffen und aufrechterhalten werden, sondern setzt vielmehr voraus, „dass die Untenehmen bereit sind, aus Gewinnstreben und aus dem Bewußtsein der Selbstverantwortlichkeit heraus sich ihre Marktstellung selbständig zu erkämpfen und sie gegen Mitbewerber zu verteidigen.“46 Einzelinteresse und Einzelinitiative werden somit zum tragenden Element. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, eine Einzelinitiative auch dort zuzulassen, wo es darum geht, den Wettbewerb gegen Beschränkungen zu verteidigen.47 6. Stärkung der Wettbewerbskultur. Als letzter Vorzug sei hier noch auf die systemerhaltende Wirkung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung hingewiesen. Zivilkartellverfahren können eher als die behördliche Aufsicht den Marktteilnehmern einschließlich der Verbraucher vor Augen führen, dass die Wettbewerbsordnung für sie von unmittelbarer Relevanz ist. Ihnen können hieraus Ansprüche entstehen, wenn sie durch Wettbewerbsbeschränkungen geschädigt werden. Ebenso müssen sie aber auch gegenüber anderen Marktteilnehmern zivilrechtlich dafür einstehen, wenn sie selbst gegen das Kartellrecht verstoßen. Der Einzelne nimmt das „Kartellrecht [. . .] nicht mehr nur als Fessel, sondern als Möglichkeit zur Gestaltung und Erhaltung einer freien Wirtschaftsordnung“ wahr.48 Die aktive Teilnahme des Einzelnen fördert sowohl das Bewusstsein als auch die Akzeptanz für die Wettbewerbsregeln, bestärkt in der Gesellschaft das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Wettbewerbs als Ordnungsmodell und schafft somit eine „Wettbewerbskultur“.49 2. Vermeintliche Schwächen einer privaten Kartellrechtsdurchsetzung Die Gründe, weshalb der privaten Kartellrechtsdurchsetzung vielfach skeptisch begegnet wird, liegen in einigen (z. T. vermeintlichen) Schwächen gegenüber der behördlichen Kartellaufsicht. So wird insbesondere (1.) eine Überforderung der Zivilgerichte befürchtet und (2.) die Ungeeignetheit des Zivilprozesses für die Klärung von Kartellsachverhalten angeführt. Ebenso sei eine verstärkte private Rechtsverfolgung problematisch, weil sie im Einzelfall (3.) zu Konflikten mit der behördlichen Durchsetzung und (4.) missbräuchlicher Inanspruchnahme 46
Ullrich, S. 367. So bereits Mailänder, S. 12; Müller-Laube, S. 11; Ullrich, S. 33; Fikentscher, BB 1956, S. 793 (796). 48 Linder, S. 58. 49 Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 7; Kommissarin Kroes, Rede v. 22.09.2005, SPEECH/05/533, S. 2; Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4; Woods/Sinclair/Ashton, Competition Policy Newsletter 2/2004, S. 31 (32); Basedow, ZWeR 2006, S. 294 (305); Böge/Ost, ECLR 2006, S. 197 (197); Linder, S. 58. 47
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führen könne. Ein Aspekt, der früher eine große Rolle in der Diskussion gespielt hat, ist (5.) die Furcht vor ruinösen Auswirkungen von Schadensersatzklagen für die Wirtschaft. 1. Überforderung der Zivilgerichte. Ein häufig erhobener Einwand gegen die private Rechtsverfolgung im Kartellrecht ist, dass sie die Zivilgerichte wegen der Komplexität kartellrechtlicher Sachverhalte,50 aber auch wegen der zusätzlichen Arbeitsbelastung51 überfordere. Diese Bedenken können im Ergebnis nicht überzeugen. Zu Recht wurde von Koch52 darauf hingewiesen, dass die Mühen einer richterlichen Überprüfung kein Grund dafür sein können, ein Rechtsgebiet von der Zivilgerichtsbarkeit gänzlich auszunehmen. Auch die Sorge der inhaltlichen Überforderung ist nicht gerechtfertigt. Zunächst einmal sind die Zivilgerichte auch im Beschwerdeverfahren gegen Verfügungen der Kartellbehörden mit der Überprüfung kartellrechtlicher Sachverhalte betraut. Weiterhin sieht das GWB über die Zuständigkeitsregeln der §§ 87 ff. GWB eine Sonderzuweisung vor, die die Heranbildung einer kartellrechtlichen Expertise in der Richterschaft ermöglicht. Schließlich gewährleistet die Beteiligung der Kartellbehörden an Zivilkartellverfahren, dass die Behörden dem Gericht mit ihrem Sachverstand zu Seite stehen können. Zuzugeben ist jedoch, dass die zunehmende „Ökonomisierung“ des Kartellrechts den entscheidenden Gerichten einen ökonomischen Sachverstand abverlangt.53 Der „more economic approach“ in der europäischen Wettbewerbspolitik ist unter dem Gesichtspunkt der Justitiabilität von daher nicht ganz unbedenklich und wird kartellzivilrechtliche Verfahren sicherlich nicht erleichtern.54 2. Ungeeignetheit des Zivilprozesses. Als weitere Schwäche der privaten Kartellrechtsdurchsetzung wird bisweilen angeführt, dass der Zivilprozess im Wirtschaftsrecht kein geeignetes Mittel für eine effektive Rechtsverfolgung darstelle. Hierbei geht es im Wesentlichen um zwei Aspekte: Zum einen biete der Beibringungsgrundsatz angesichts der z. T. schwierigen Sachverhaltsermittlung keine ausreichende Richtigkeitsgarantie für die gerichtliche Entscheidung.55 Der Kläger sei unweigerlich mit Beweisschwierigkeiten konfrontiert, weil ihm nicht 50 Vgl. hierzu Ullrich, Mitarbeiter-FS Ulmer, S. 521 (523) m. w. N.; K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 103 f. 51 Vgl. hierzu Witthuhn, S. 130 ff.; Linder, S. 59; Koch, S. 140 f.; Müller-Laube, S. 20; Buxbaum, S. 52; Collins/Sunshine, in: Slot/McDonnell, S. 50 (54). 52 Koch, S. 141. 53 Vgl. hierzu K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 103. 54 So auch Basedow, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 137 (143); Bornkamm, Die Rolle des Zivilrichters, S. 11 f.; Böge/Ost, ECLR 2006, S. 197 (203 ff.); Roth, in: Basedow, S. 61 (73). Basedow sieht aufgrund der notwendigen Berücksichtigung effizienzsteigernder Wirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen nur noch in Fällen von Followon-Verfahren und per-se-Verboten wie etwa Hardcore-Kartellen Raum für Schadensersatzklagen. Einer privaten Durchsetzung über diese Fälle hinaus aber habe der „more economic approach“ bereits den Boden entzogen, vgl. EuZW 2006, S. 97.
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die Methoden der Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung stehen, derer sich die Kartellbehörden bedienen können.56 Ebenso strebe der Richter, anders als die Behörde, nur eine punktuelle Fallgerechtigkeit an und nehme weniger auf die wirtschaftlichen Gesamtzusammenhänge Rücksicht.57 Aus wettbewerbspolitischer Sicht sei das erzielte Ergebnis deshalb nicht immer wünschenswert. Zum anderen sei der Zivilprozess auf Sachverhalte zugeschnitten, in denen sich die Parteien auf gleicher Augenhöhe begegneten. Von einer Chancengleichheit aber könne im Kartellrecht angesichts der typischerweise unterschiedlichen Wirtschaftsstärke der Parteien nicht ausgegangen werden. Der Kläger sei stets der Gefahr des „Gegenschlags“ ausgesetzt und müsse mit wirtschaftlichem Druck und Repressalien seitens des Beklagten rechnen.58 Die Konsequenz sei, so Scholz, dass der Prozess letztlich nicht durch Recht, sondern durch Wirtschaftskraft entschieden würde.59 3. Konflikte mit der behördlichen Durchsetzung. Ein weiterer häufig anzutreffender Einwand sind etwaige Konflikte mit der behördlichen Aufsicht. Diese könnten darin liegen, dass (1) Kläger- und Allgemeininteressen im Einzelfall von einander abweichen,60 (2) es zu divergierenden Entscheidungen kommt oder aber (3) die behördliche Aufsicht durch die Aktivitäten der Privatkläger regelrecht beeinträchtigt wird. Zielkonflikte zwischen privater und behördlicher Aufsicht werden darin erblickt, dass die Kartellbehörden ihr Handeln stets am Allgemeininteresse ausrichten und in ihre Entscheidungen auch wirtschafts- und gesellschaftspolitische Erwägungen61 einfließen lassen können. Das Vorgehen Privater orientiere sich hingegen ausnahmslos am Einzelinteresse und lasse die Belange anderer, nicht im Prozess vertretener Marktbeteiligter, außer Betracht.62 Diese einseitige Berücksichtigung individueller Interessen könne zu zusätzlichen Marktverzerrungen führen, weil etwa ein erfolgreicher Kläger im Vergleich zu seinen Wettbewerbern in eine verbesserte wirtschaftliche Lage versetzt werde.63 Hiergegen lässt sich jedoch einwenden, dass aus dem Umstand, dass Privatkläger bei ih55 Vgl. hierzu Ullrich, Mitarbeiter-FS Ulmer, S. 521 (521); Witthuhn, S. 140 ff.; Scholz, S. 97. Einen strukturellen Nachteil erblickt hierin auch Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 8. 56 Wils, W. Comp. 2003, S. 473 (480). 57 Vgl. hierzu Witthuhn, S. 128 f. 58 Vgl. K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 105; Witthuhn, S. 150 ff.; Scholz, S. 97. 59 Scholz, S. 97. 60 Insbesondere Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (41); ders., in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 3. Siehe hierzu bereits Linder, S. 62 f. 61 Vgl. hierzu Kahrs, S. 133; Witthuhn, S. 118 ff.; Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (46). 62 So etwa Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 9. 63 Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (43); ders., in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 3.
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rem Handeln Allgemeininteressen außer Acht lassen, nicht zwingend folgt, dass ihr Vorgehen Allgemeininteressen entgegensteht.64 Berücksichtigt man, dass das System des freien Wettbewerbs Eigeninteresse und -initiative voraussetzt, ist nicht erkennbar, warum man im Bereich der Verhinderung von Wettbewerbsbeschränkungen diesen Grundsatz umkehren sollte. Ein Konflikt zwischen behördlicher und privater Verfolgung von Wettbewerbsbeschränkungen kann auch dann auftreten, wenn das Zivilurteil und die Behördenentscheidung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Zur Eindämmung dieser Gefahr hält das Recht jedoch Mechanismen bereit. So hat der Gesetzgeber die gerichtliche Kontrolle der behördlichen Kartellaufsicht der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen.65 Weiterhin ist nach Art. 16 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1/2003 eine Entscheidung der Kommission für die Zivilgerichte bindend. Der deutsche Gesetzgeber hat mit § 33 Abs. 4 GWB n. F. nun auch eine Bindungswirkung von Entscheidungen deutscher sowie anderer europäischer Kartellbehörden eingeführt. Schließlich werden die Kartellbehörden an den Zivilverfahren beteiligt (§§ 90, 90a GWB). Problematischer erscheint deshalb der Einwand, dass die behördliche Aufsicht durch eine private Rechtsverfolgung beeinträchtigt werden kann. Ein aus heutiger Sicht vordringliches Problem sind dabei die Auswirkungen auf die Attraktivität der Kronzeugenregelungen der Kartellbehörden.66 Ein wesentlicher Anreiz der gewährten Amnestie ginge verloren, setzte sich der Kartellant durch eine Zusammenarbeit mit der Behörde allzu großen zivilrechtlichen Haftungen aus.67 Wettbewerbspolitisch erscheint es notwendig, hier Regelungen zur Lösung dieses Konflikts zu schaffen. In vielen Fällen stellt sich der Konflikt jedoch nicht: Erwägt ein Unternehmen, sich als Kronzeuge zur Verfügung zu stellen, weil es fürchtet, dass das Kartell kurz vor einer Aufdeckung durch die Behörde steht oder aber dass ein anderes Kartellmitglied ihm mit der Offenbarung zuvor kommen könnte, wird durch die Teilnahme am Kronzeugenprogramm nicht das Risiko einer zivilrechtlichen Haftung erhöht.68 Aus Sicht des entscheidenden Unternehmens wird es in jedem Fall zu einer behördlichen Feststellung des Kartellverstoßes kommen, die im Anschluss Zivilverfahren nach sich ziehen kann. In dieser Situation kann es nur noch darum gehen, zumindest die Bußgeldzah64
So Linder, S. 62. Vgl. §§ 63 Abs. 4, 74 Abs. 1, 83, 84 GWB. 66 Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen (Bonusregelung); Europ. Kommission, Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EG 2006, C 298/17. Zur Verwertung von Kronzeugenerklärungen in Zivilprozessen vgl. Jüntgen, WuW 2007, S. 128 ff. 67 Vgl. Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 31. 68 Dies setzt jedoch voraus, dass die vom Kronzeugen eingereichten Unterlagen nicht von der Behörde oder vom Kronzeugen an das Gericht bzw. an die gegnerische Partei ausgehändigt werden müssen. 65
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lungen zu vermeiden. Anders ist dies jedoch dann, wenn im Rahmen eines Compliance-Programms Alt-Kartelle aufgedeckt werden und sich das Unternehmen aufgrund der potentiellen zivilrechtlichen Haftung gegen eine Teilnahme am Kronzeugenprogramm entscheidet. Ebenso kann sich eine Teilnahme am Kronzeugenprogramm angesichts der Feststellungswirkung behördlicher Entscheidungen in späteren Zivilverfahren nachteilig auswirken. Kommt es nur zu einer Reduktion der Geldbuße, wird nämlich meist der gegen den Kronzeugen gerichtete Bußgeldbescheid zuerst bestandskräftig, weshalb der Kronzeuge als erster in Anspruch genommen zu werden droht.69 Bedenkt man zusätzlich die gesamtschuldnerische Haftung, kann dies im Einzelfall sicherlich vor einer Teilnahme an Kronzeugenprogrammen abschrecken. 4. Gefahr des Missbrauchs. Eine weitere Schwäche der privaten Rechtsverfolgung wird darin erblickt, dass sie gerade bei einer effektiven und schlagkräftigen Ausgestaltung stets Gefahr läuft, Missbräuchen Tür und Tor zu öffnen.70 Ein solches Phänomen ist tatsächlich im US-amerikanischen Antitrust-Recht zu beobachten (sog. „nuisance suits“). Dort wird die Privatklage bisweilen dazu genutzt, um gegen allzu aggressiven Wettbewerb durch die Konkurrenz vorzugehen oder aber, um einem zu Unrecht beklagten Unternehmen einen ansehnlichen Vergleich abzutrotzen. Diese Erfahrungen können jedoch nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen werden. In den USA trägt nämlich eine klägerfreundliche Kostenregelung in Kombination mit dem üblichen Erfolgshonorar für Anwälte dazu bei, dass Kartellzivilverfahren für Kläger nur mit einem minimalen Kostenrisiko verbunden sind. Eine vergleichbare Situation besteht in Deutschland nicht, so dass hier die Missbrauchsgefahr nicht in gleichem Maße besteht.71 5. Ruinöse Auswirkungen für die Wirtschaft. In früheren Jahren wehrte man sich gegen eine umfassende zivilrechtliche Haftung auch aus Sorge vor ruinösen Folgen für die Wirtschaft.72 Es könne, so Benisch, „gesamtwirtschaftlich nicht gebilligt werden, daß [. . .] Lieferanten ruiniert und vom Markt beseitigt werden. Das private Verfahren kennt keine Rücksichten auf die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Prozeßgegners und auf das gesamtwirtschaftliche Interesse an einer hinreichenden Anzahl von Marktteilnehmern.“73 Ebenso sei zu berücksichtigen, 69 So auch Böge, in: Basedow, S. 217 (221); Jüntgen, WuW 2007, S. 128 (129). Im europäischen Recht wird sogar bei einem vollständigen Erlass der Geldbuße gegenüber dem Kronzeugen die Zuwiderhandlung förmlich festgestellt. Näheres zur Wirkung des § 33 Abs. 4 GWB n. F. siehe unten, S. 245 ff. 70 So etwa Möschel, WuW 2006, S. 115. Vgl. hierzu Linder, S. 65 ff.; Hempel, S. 250 ff. 71 Linder, S. 66. Hieran ändert auch nichts die neu eingeführte Streitwertherabsetzung gem. § 89a GWB n. F. Siehe hierzu unten, S. 272 ff. 72 So insbesondere Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (46); ders., in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 7; Leo, WuW 1959, S. 485 (487). 73 Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (46).
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dass Kartelle vielfach dazu dienten, Unternehmen aus der Verlustzone zu führen.74 Müller-Laube hat dieser Argumentation zu Recht entgegengehalten, dass sie den Belangen des Delinquenten ein zu hohes Schutzinteresse zuerkenne.75 Die Ausführungen Benischs erinnern stark an die heute überholte Vorstellung, dass Kartelle nur ein notwendiges Mittel der Krisenbewältigung darstellen. Wer sich schuldhaft über die Verbote des Kartellrechts hinwegsetzt, muss – wie auch sonst im Deliktsrecht – für die finanziellen Konsequenzen seines Handelns einstehen. Darüber hinaus haben sich die Befürchtungen ruinöser Klagen trotz der erheblichen Schadensersatzsummen auch in den USA nicht bewahrheitet. Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass eine private Wettbewerbsaufsicht über Schadensersatzklagen zweifellos ihre Schattenseiten aufweist. Während viele der genannten Einwände ungerechtfertigt erscheinen, ist insbesondere das Konfliktpotential mit der behördlichen Aufsicht ernst zu nehmen. Dennoch ist die Entscheidung des deutschen und europäischen Gesetzgebers für eine verstärkte private Kartellrechtsdurchsetzung mit dem Bedürfnis eines effektiven Rechtsschutzes zugunsten der Betroffenen und einer Entlastung der Kartellbehörden zu rechtfertigen. Auch in Zukunft wird die behördliche Aufsicht unverzichtbar bleiben. Die genannten Schwächen der privaten Durchsetzung wiegen jedoch nicht so schwer, dass sie die zugedachte ergänzende Funktion in der Wettbewerbsaufsicht nicht erfüllen könnte.
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Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (46 u. 50). Müller-Laube, S. 29.
Kapitel 1
Der kartellrechtliche Schadensersatz in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle: Gesetzliche Regelung, Rechtspraxis und Hemmnisse Im folgenden Kapitel soll zunächst in einem Überblick die private Rechtsverfolgung im deutschen Kartellrecht in ihren verschiedenen Facetten vorgestellt werden. Der Blick auf die praktische Bedeutung in der bisherigen Rechtspraxis offenbart, dass private Schadensersatzklagen bislang nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die maßgeblichen Gründe hierfür sollen in Hinblick auf den Anspruch auf Schadensersatz aufgezeigt werden. Zunächst erfolgt hierzu ein kurzer Abriss der historischen Entwicklung des Schadensersatzanspruchs im deutschen Kartellrecht, bevor sodann im Einzelnen die materiellrechtlichen Voraussetzungen nach der alten Rechtslage und die prozessualen Rahmenbedingungen untersucht werden. In der Literatur finden sich bereits eingehende Darstellungen zur alten Rechtslage.1 Ziel dieses Kapitels soll es deshalb sein, einen Überblick über die wesentlichen Spezifika des kartellrechtlichen Schadensersatzes zu bieten und die grundlegenden Hemmnisse, die zu der geringen praktischen Bedeutung geführt haben, herauszuarbeiten. Nur vor diesem Hintergrund können die im Zuge der 7. GWB-Novelle erfolgten Änderungen analysiert und bewertet werden.
I. Die private Rechtsverfolgung im kartellrechtlichen Durchsetzungsregime 1. Ausgestaltung der privaten Durchsetzung im GWB Die private Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht kann auf zweierlei Weise erfolgen. Zum einen kann ein Verstoß gegen Vorschriften des GWB defensiv in Form eines Einwandes gegen einen Anspruch des Vertragspartners geltend gemacht werden [dazu I.1.a)]. Weiterhin besteht die Möglichkeit, unmittelbar aus der Zuwiderhandlung Ansprüche abzuleiten und diese offensiv durchzusetzen. Hier ist insbesondere der Schadensersatz zu erwähnen. Ferner kommen aber auch Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche 1 Vgl. hierzu u. a. Hempel, Mailänder, Koch und aus der Kommentarliteratur insb. Roth, in: FK, § 33 GWB 1999.
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Kap. 1: Die Rechtslage in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle
in Betracht. Schließlich ist hier noch die Verbandsklage einzuordnen [dazu I.1.b)]. a) Defensive Durchsetzung Eine in der Praxis häufig auftretende Fallkonstellation,2 in der sich die Zivilgerichte mit kartellrechtlichen Zusammenhängen befassen müssen, liegt vor, wenn ein Beklagter geltend macht, die gegen ihn erhobenen Ansprüche bestünden nicht, weil sie aus einem verbotenen Rechtsgeschäft resultierten. Die unmittelbaren Auswirkungen einer Verletzung des Kartellrechts auf die Wirksamkeit einer rechtsgeschäftlichen Vereinbarung sind im GWB nicht ausdrücklich enthalten. Jedoch ergibt sich deren Nichtigkeit nach h. M. unmittelbar aus § 134 BGB, soweit die verletzte Norm ein Verbotsgesetz darstellt.3 Die Rechtsfolge der Nichtigkeit erstreckt sich nur auf die Teile der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung, die die Voraussetzungen des Verbotstatbestandes erfüllen. Sie bewirkt somit keine automatische Gesamtnichtigkeit. Die Frage, nach welchen Grundsätzen die Teilnichtigkeit zur Gesamtnichtigkeit der Vereinbarung führt, ist für das deutsche Recht anhand von § 139 BGB zu beantworten.4 Im Zusammenhang mit der Nichtigkeitssanktion ist von besonderer Bedeutung, inwieweit diese auch sogenannte Ausführungs- und Folgeverträge erfasst. 2 Laut der Datenbank des Bundeskartellamts betrafen rund 72% der im Jahre 2004 erfassten zivilgerichtlichen Entscheidungen, in denen die Verletzung kartellrechtlicher Normen geltend gemacht wurde, eine solche defensive Geltendmachung, vgl. Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4. 3 Reg.-Begr., BT-Drs. 13/9720, S. 46; vgl. Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 1; Bunte, S. 93; a. A.: IM/Zimmer (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 320 ff., der eine Nichtigkeitsfolge unmittelbar aus dem Kartellverbot ableitet. Abgestimmte Verhaltensweisen werden von § 134 BGB nicht erfasst, da sie keinen rechtsgeschäftlichen Charakter aufweisen. Von der Nichtigkeitsanordnung des § 134 BGB blieben bis zur 7. GWB-Novelle Vereinbarungen ausgenommen, die gemäß §§ 2–8 GWB a. F. freigestellt werden konnten. Freistellungsfähige Kartellvereinbarungen und -beschlüsse waren somit nur schwebend unwirksam, soweit sie ordnungsgemäß bei der Kartellbehörde angemeldet wurden, vgl. IM/Zimmer (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 323; Topel, a. a. O., § 50 Rdnr. 3. Eine Freistellung bewirkte eine Heilung ex nunc und entfaltete somit keine Rückwirkung. Hinsichtlich der Missbrauchsaufsicht über Vertikalvereinbarungen sah das Gesetz in § 16 GWB a. F. nur eine Eingriffsbefugnis der Kartellbehörde anstatt eines generellen Verbots vor. Zivilrechtlich hatte diese Lösung zur Folge, dass die Zivilgerichte grundsätzlich von der Wirksamkeit der betreffenden Vereinbarungen auszugehen hatten, solange die Kartellbehörden nicht von ihren Befugnissen Gebrauch gemacht hatten. Soweit nicht gleichzeitig ein Verstoß gegen Art. 81 EG oder ein anderes Verbot in Betracht kam, wurde die Vereinbarung erst mit einer bestandskräftigen Unwirksamkeitserklärung der Behörde ex nunc unwirksam. Die behördliche Erklärung war somit ein privatrechtsgestaltender Verwaltungsakt mit Bindungswirkung für die Zivilgerichte, vgl. IM/Zimmer (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 121 f. 4 So bereits Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 31. Vgl. auch BGH WuW/E BGH 1732 (1735) – Fertigbeton II; IM/Zimmer (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 329; Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 7 ff.
I. Der Privatrechtsschutz im GWB
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Unter Ausführungsverträgen sind diejenigen Verträge zu verstehen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung stehen, insbesondere weil sie der Durchführung, der Verstärkung oder Ausdehnung der Wettbewerbsbeschränkung dienen.5 Meist werden diese zwischen den an der beschränkenden Vereinbarung beteiligten Parteien geschlossen. Da diese Verträge eine Wettbewerbsbeschränkung zumindest bewirken, fallen sie in aller Regel selbst unter den Verbotstatbestand. Ansonsten sind sie nach Sinn und Zweck von der Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB erfasst.6 Anders hingegen sind sog. Folgeverträge, also Leistungsaustauschverträge mit kartellfremden Dritten, zu beurteilen. Werden bspw. aufgrund eines Preiskartells Lieferverträge mit Dritten geschlossen, die einen Warenbezug zu dem kartellierten Preis zum Inhalt haben, sind diese Verträge grundsätzlich wirksam.7 Aus Gründen der Rechtssicherheit sollen Dritte nicht mit der Ungewissheit über die Gültigkeit ihres Vertrages und der erworbenen Ansprüche belastet werden. b) Offensive Geltendmachung aa) Anspruch auf Schadensersatz – die Anspruchsgrundlagen Im Zusammenhang mit den offensiven Formen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ist zunächst der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehende Anspruch auf Schadensersatz zu nennen. Dieser kann sich je nach Fallkonstellation auf verschiedene Anspruchsgrundlagen stützen. Die zentrale Anspruchsgrundlage nach altem wie nach neuem Recht bildet dabei § 33 GWB.8 Bis zum Jahr 2005 bezog sich diese Norm jedoch nur auf Zuwiderhandlungen gegen das deutsche Kartellrecht. Für Einzelheiten wird auf den Abschnitt II. verwiesen. Konkurrierende Ansprüche können sich im Einzelfall aus dem allgemeinen Deliktsrecht, Lauterkeitsrecht oder der culpa in contrahendo ergeben. Im Deliktsrecht ist zunächst § 823 Abs. 2 BGB zu erwähnen, der bis 2005 in Verbindung mit den Artt. 81, 82 EG einen – inhaltlich weitgehend parallel laufenden – Anspruch auf Schadensersatz bei Verletzungen der europäischen Wettbewerbsregeln gewährte.9 Im Übrigen kommt jedoch ein zusätzlicher Anspruch nach § 823 Abs. 2 BGB wegen der lex specialis-Wirkung des § 33 GWB nicht in Be-
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Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 22; IM/Zimmer (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 340. IM/Zimmer (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 340; Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 22. 7 BGH WuW/E BGH 152 (153) – Spediteurbedingungen; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 4182 (4184) – Delkredere-Übernahme; OLG Stuttgart WuW/E OLG 1083 (1089) – Fahrschulverkauf; IM/Zimmer (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 340; Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 21. 8 Vgl. § 33 Satz 1, 2. HS GWB a. F. bzw. § 33 Abs. 3 i.V. m. Abs. 1 GWB n. F. 9 Der Schadensersatzanspruch gemäß 33 Abs. 3 i.V. m. Abs. 1 GWB n. F. erfasst nun sowohl Verletzungen nationalen wie europäischen Kartellrechts. 6
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Kap. 1: Die Rechtslage in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle
tracht.10 Lediglich im Sonderfall des Submissionsbetrugs kann sich ein zusätzlicher Anspruch aus § 823 Abs. 2 i. V. m. § 298 StGB ergeben.11 Als weitere deliktische Anspruchsgrundlage wird bisweilen § 823 Abs. 1 BGB wegen Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb herangezogen.12 Das richterrechtlich entwickelte Institut schützt die Betätigung im bestehenden Unternehmen gegen unmittelbare, d.h. betriebsbezogene Beeinträchtigungen.13 Im Bereich des Kartellrechts ist insbesondere an Fälle zu denken, in denen durch wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen, etwa durch einen Boykott, ein Mitbewerber aus dem Markt gedrängt oder ihm der Zugang zum Markt erschwert wird.14 Da dieses „sonstige Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB jedoch entwickelt wurde, um Lücken im Rechtsschutz zu schließen, handelt es sich seiner Funktion nach um einen Auffangtatbestand. Nach der h. M. gilt ein Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB deshalb auch nur subsidiär; § 33 GWB geht als Sondervorschrift vor.15 Schließlich kann sich ein deliktischer Anspruch aus § 826 BGB ergeben.16 Dieser wird nicht durch § 33 GWB verdrängt, da beide Normen unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen aufweisen. Zwischen ihnen besteht nach allgemeiner Ansicht Anspruchskonkurrenz.17 Häufige Überschneidungen ergeben sich in der Praxis zwischen dem Kartellrecht und dem Lauterkeitsrecht. Hierbei ist insbesondere an Ansprüche aus § 1 UWG a. F. bzw. § 9 i. V. m. §§ 3, 4 Nr. 10, 11 UWG n. F. zu denken. Soweit ein und dieselbe Handlung (etwa diskriminierende oder behindernde Verhaltensweisen oder Boykotte) sowohl gegen Vorschriften des GWB als auch des UWG verstößt, ist unbestritten, dass Ansprüche nach dem UWG neben solche des GWB treten.18 Hiervon zu unterscheiden sind aber Fälle, in denen der lauter-
10 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 124; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 61; so auch bereits Leo, WuW 1959, S. 485 (486). 11 IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 64. 12 BGH WuW/E BGH 653 (654) – Gebrauchte Goggomobile; OLG Stuttgart WuW/E OLG 855 (861) – Bauknecht; LG Mannheim WuW/E LG/AG 259 (263) – Zweittaxi; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 195; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 124; so auch bereits das Gutachten Coing/Kronstein/Schlochauer, S. 9; dagegen ablehnend: Witthuhn, S. 16 ff.; Mailänder, S. 181. 13 BGHZ 86, 152 (156); Palandt/Sprau, § 823 Rdnr. 126 ff. 14 Coing/Kronstein/Schlochauer, S. 9. 15 BGHZ 36, 252 (256 f.); Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 124; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 195; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 61. 16 BGH WuW/E BGH 893 (898) – Hörgeräte; OLG Karlsruhe WuW/E OLG 1268 (1270) – Abbuchungsermächtigung; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 62. 17 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 197; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 124; Witthuhn, S. 21 f.; Schmid, ZIP 1983, 652 (653). 18 BGH WuW/E DE-R 1779 (1781) – Probeabonnement; WuW/E BGH 2187 (2188) – Abwehrblatt I; WuW/E BGH 2195 (2202) – Abwehrblatt II; WuW/E BGH 2571 (2572) – Krankentransportbestellung; WuW/E DE-R 352 (356) – Kartenlesegerät; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 83; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr.
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keitsrechtliche Anspruch allein auf einem Rechtsbruch wegen Verstoßes gegen das GWB basiert.19 Durch die Qualifizierung einiger kartellrechtlicher Vorschriften als sog. wertbezogene Normen hat die Rechtsprechung in der Vergangenheit deren bloße Verletzung zur Begründung der Sittenwidrigkeit im Sinne des § 1 UWG a. F. genügen lassen.20 Ein solches Verständnis ist jedoch äußerst problematisch. Zunächst einmal ist das Bedürfnis für einen zusätzlichen Anspruch nicht zu erkennen. Schwerer wiegt jedoch, dass eine Anspruchsverdopplung die zwischen dem GWB und dem UWG bestehenden, wesentlichen Unterschiede einebnen würde.21 Insbesondere ist hierbei an die Verbandsklage zu denken, die im UWG auch Verbraucherverbänden zur Geltendmachung von Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen zur Verfügung steht und die Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung einschließt (§§ 8 Abs. 3 Nr. 3 und 10 UWG n. F.).22 Diese Unterschiede hat der Gesetzgeber im Zuge der 7. GWB-Novelle nicht beseitigt. Die Normen des Kartellrechts enthalten deshalb eine abschließende Regelung der Sanktionen,23 so dass keine zusätzlichen lauterkeitsrechtlichen Ansprüche wegen Rechtsbruchs von GWB-Normen bestehen. Diese Auffassung wurde unlängst vom BGH in Abweichung von früheren Entscheidungen bestätigt.24 Schließlich ist an einen möglichen Anspruch auf Schadensersatz aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB) zu denken, soweit der Geschädigte und der Verletzer in einer (vor-)vertraglichen Beziehung zueinander standen.25 In der Praxis hat ein solcher Anspruch keine große Bedeutung erlangt.26 Die Grenzen der Aufklärungspflichten in kartellrechtlichen Zusammenhängen sind nämlich nicht ohne weiteres ersichtlich. Eine generelle 62; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 198; Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, § 4 Rdnr. 11.12. 19 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 199. 20 BGH WuW/E BGH 1519 (1520) – 4 zum Preis von 3; WuW/E BGH 2819 (2820) – Zinssubvention; OLG Frankfurt WuW/E OLG 1669 (1671 f.) – SchokoladenRiegel. 21 Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, § 4 Rdnr. 11.12; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 199. 22 So auch Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 126. 23 Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, § 4 Rdnr. 11.12. Nach Ansicht von Roth sollen individualschützende Normen des GWB als wertneutral qualifiziert werden und sich somit lauterkeitsrechtliche Ansprüche nur bei bewusstem und planmäßigem Vorgehen zur Erzielung eines Wettbewerbsvorsprungs ergeben, ders., in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 199. 24 BGH WuW/E DE-R 1779 (1780 f.) – Probeabonnement. 25 Vgl. IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 65; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 213; Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 44; Fikentscher, BB 1956, S. 793 (797). 26 Vgl. OLG Celle WuW/E OLG 559 (561) – Brückenbauwerk; OLG Hamburg WuW/E OLG 5376 (5381) – Schlechte Verhandlungsposition; BGH (StS) WuW/E BGH 2849 (2855) – Arbeitsgemeinschaft Rheinausbau.
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Verpflichtung, seinen Vertragspartner über eine bestehende Kartellbindung aufzuklären, wird in der Literatur abgelehnt.27 Nur wenn das Kartellmitglied annehmen muss, dass der Vertragspartner bei Kenntnis der Sachlage sein Verhalten anders einrichten würde28 oder sogar der Eindruck erweckt wird, dass keine Kartellbindung vorliegt,29 solle ein Verschulden bei Vertragsschluss vorliegen. Ob ersterer Ansatz die vorvertraglichen Aufklärungspflichten wesentlich einschränkt, mag bezweifelt werden, da zumindest bei horizontalen Wettbewerbsbeschränkungen in aller Regel davon ausgegangen werden kann, dass sich der Abnehmer bei Kenntnis des Kartells um einen Vertrag zu günstigeren Bedingungen bemüht hätte. Auch wenn ihm das bei einem flächendeckenden Kartell nicht ohne weiteres gelungen wäre, kann dieser Umstand nicht zu geringeren vertraglichen Aufklärungspflichten führen. Fikentscher gelangt zu dem Schluss, dass „[j]e gewichtiger der Vertrag, je bedeutsamer die vom Kartell betroffene Vertragsbedingung, desto eher [sei] ein Verschulden bei Vertragsschluss zu bejahen“.30 Bei Submissionsabsprachen und anderen Hardcore-Kartellen dürfte ein Verstoß gegen vertragliche Aufklärungspflichten somit in aller Regel gegeben sein. bb) Unterlassungsanspruch Gemäß § 33 Abs. 1 GWB n. F. (§ 33 Satz 1 GWB a. F.) können Betroffene bei kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen Unterlassungsansprüche geltend machen. Auch wenn dies bis zur 6. GWB-Novelle im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen war, ist der Gesetzgeber aufgrund allgemeiner zivilrechtlicher Grundsätze seit jeher von dieser Möglichkeit ausgegangen.31 Gegenüber möglichen Schadensersatzansprüchen hat der Unterlassungsanspruch den entscheidenden Vorteil, dass er weder ein Verschulden noch den Nachweis eines Schadens voraussetzt. Der Unterlassungsanspruch ist auf künftiges Verhalten gerichtet. Maßgeblicher Zeitpunkt ist deshalb der Tag der letzten mündlichen Verhandlung.32 Wie auch sonst im Zivilrecht setzt er u. a. eine Begehungsgefahr voraus. Ist es bereits in der Vergangenheit zu einem Verstoß gekommen, muss der Betroffene eine Wiederholungsgefahr darlegen.33 Der Nachweis wird ihm insoweit erleichtert, als nach allgemeinen wettbewerblichen Grundsätzen bereits mit ei27 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 213; Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 44; vgl. hierzu auch Mailänder, S. 157. 28 Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 44; Fikentscher, BB 1956, S. 793 (797). 29 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 213. 30 Fikentscher, BB 1956, S. 793 (797), der aber offenbar kartellbedingten Mehrpreisen keine ausreichende Bedeutung beimisst. 31 Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 44. Außerdem sah bereits § 35 Abs. 2 GWB 1958 vor, dass ein Anspruch auf Unterlassung „auch“ von Verbänden geltend gemacht werden könne. 32 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 178. 33 Vgl. etwa IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 53.
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nem erstmaligen Verstoß eine tatsächliche Vermutung für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr besteht.34 Der Verletzer muss seinerseits diese Vermutung ausräumen. Darüber hinaus werden auch an die Widerlegung strenge Anforderungen gestellt; in aller Regel ist sie nur in Form einer strafbewehrten Unterlassungserklärung möglich, in welcher sich der Verletzer bedingungslos und uneingeschränkt zur Unterlassung verpflichtet und für den Fall der Zuwiderhandlung eine Vertragsstrafe verspricht.35 Auch ein vorbeugender Unterlassungsanspruch ist gegeben, wenn ein drohender GWB-Verstoß ernsthaft zu besorgen ist.36 Der Unterlassungsanspruch richtet sich gegen die konkrete Verletzungshandlung. In Betracht kommt etwa der Anspruch auf Aufnahme in eine Wirtschaftsvereinigung gem. § 20 Abs. 6 GWB,37 eine Belieferungspflicht in Form eines Anspruchs auf Unterlassung der Nichtbelieferung38 oder die Unterlassung des Ausspruchs weiterer Empfehlungen.39 Hinsichtlich der Rechtsfolge ist zu beachten, dass ein bestimmtes Verhalten oftmals nicht verlangt werden kann.40 Insbesondere bei Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot bleibt es dem Verletzer selbst überlassen, wie er die Diskriminierung beseitigen will.41 Ein bestimmtes Verhalten kann dann nur verlangt werden, wenn es sich hierbei um die einzige sachgerechte Möglichkeit zur Beseitigung handelt. cc) Beseitigungsanspruch Auch im Zuge der Neufassung des § 33 GWB durch die 6. GWB-Novelle wurde ein Anspruch auf Beseitigung einer Zuwiderhandlung nicht ausdrücklich in den Wortlaut mit aufgenommen. Dies hat der Gesetzgeber nun mit der 7. GWB-Novelle nachgeholt.42 Schon vorher war jedoch die Existenz eines solchen Anspruchs allgemein anerkannt und auf § 1004 Abs. 1 BGB analog gestützt worden.43 Ebenso wie der Unterlassungsanspruch gilt der Beseitigungs34 BGH WuW/E BGH 1629 (1633) – Modellbauartikel II; GRUR 1973, 208 (210) – Neues aus der Medizin. 35 Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 73; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 174. 36 BGH WuW/E BGH 1474 (1481) – Architektenkammer; OLG Koblenz WuW/E OLG 3263 (3267) – Landesapothekerverein; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 5213 (5224) – Gemischtwirtschaftliche Abfallverwertung; vgl. auch Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 175; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 53. 37 BGH WuW/E BGH 288 (291) – Großhändlerverband II. 38 OLG Karlsruhe WuW/E OLG 2085 (2091) – Multiplex; WuW/E OLG 2217 (2223) – Allkauf/Saba. 39 OLG Koblenz WuW/E OLG 3263 (3265) – Landesapothekerverein; OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 183 (186) – Berliner Positivliste. 40 Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 74. 41 BGH WuW/E BGH 759 (763) – Pharmazeutische Großhandlung. 42 Zum Beseitigungsanspruch gem. § 33 Abs. 1 GWB nach der 7. GWB-Novelle vgl. Fritzsche, WRP 2006, S. 42 ff. 43 Vgl. Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 179.
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anspruch verschuldensunabhängig. Jedoch zielt er in erster Linie darauf, einen durch rechtswidriges Verhalten eingetretenen Zustand fortdauernder, gegenwärtiger Störung zu beseitigen.44 Dem Beseitigungsanspruch kann hierbei ein sehr weites Anwendungsfeld zukommen, das sich teilweise mit dem Schadensersatzanspruch überlappt.45 Beide Ansprüche stehen dann zueinander in Anspruchskonkurrenz. So kann der Anspruch nach der Rechtsprechung des BGH unter Umständen sogar auf Zahlung gerichtet sein, wenn die Zuwiderhandlung darin besteht, dass aufgrund einer Behinderung durch unangemessen niedriges Entgelt, diskriminierender Preisstellung oder kartellbedingt überhöhter Preise dem Anspruchsteller ein Leistungsaustausch zu angemessener Vergütung verwehrt wurde.46 Problematisch hieran ist, dass es beim Beseitigungsanspruch im Gegensatz zum Schadensersatz nicht um Schadensausgleich geht, sondern lediglich um die Abstellung der Einwirkung für die Zukunft.47 Nicht die Schadensfolgen, sondern nur die Störung selbst ist Gegenstand des Anspruchs. Der BGH begründete aber seine weite Position damit, dass die Vermögenslage des Betroffenen fortdauernd beeinträchtigt sei.48 Bei einem derart weiten Anwendungsbereich unterscheidet sich der Beseitigungsanspruch in solchen Fällen nur noch insofern vom Schadensersatz, dass ein entgangener Gewinn und andere Folgeschäden nicht erfasst werden. Angesichts der Verschuldensunabhängigkeit erscheint dies bedenklich.49 dd) Verbandsklage Als letzte Form der privaten Durchsetzung des Kartellrechts ist noch die Verbandsklage gem. § 33 Abs. 2 GWB n. F. (§ 33 Satz 2 GWB a. F.) zu nennen. Diese ist in Anlehnung an den heutigen § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG eingeführt worden. Hierbei handelt es sich nicht um eine gesonderte Anspruchsform, sondern um eine Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten hinsichtlich Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen. Diese können auch von Verbänden zur Förderung gewerblicher Interessen geltend gemacht werden. Die Verbandsklageberechtigung erstreckt sich dagegen nicht auf einen Schadensersatzanspruch. 44 BGH WuW/E BGH 288 (292) = BGHZ 29, 344 – Großhändlerverband II; IM/ Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 53. 45 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 181; ders., FS-Huber, S. 1133 (1143). 46 Vgl. BGH WuW/E BGH 3074 (3076 f.) – Kraft-Wärme-Kopplung; WuW/E BGH 2805 (2811 f.) – Stromeinspeisung; WuW/E BGH 2999 (3000) – Einspeisungsvergütung; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 181; ders., FS-Huber, S. 1133 (1143); Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 92. 47 BGH WuW/E BGH 3074 (3076) – Kraft-Wärme-Kopplung; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 179. 48 BGH WuW/E BGH 3074 (3077) – Kraft-Wärme-Kopplung. 49 Im Schrifttum hat die Rechtsprechung des BGH dennoch mehrheitlich Zustimmung erfahren, vgl. Roth, FS-Huber, S. 1133 (1143 ff.) m. w. N.
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Der Gesetzgeber beabsichtigte hierdurch, Abwehrmaßnahmen für solche Fälle zu schaffen, in denen der unmittelbar Betroffene wegen eventueller wirtschaftlicher Abhängigkeit oder aus sonstigen Gründen keine eigenen Maßnahmen ergreifen kann oder will.50 Klagebefugt sind nur rechtsfähige Verbände, die nach ihrer Zielsetzung der Förderung gewerblicher Interessen dienen.51 Sachlich ist erforderlich, dass der Kartellverstoß die Interessen der Verbandsmitglieder „berührt“. Hiervon wird bereits dann auszugehen sein, wenn die Mitglieder nur potentiell betroffen sind.52 In der Praxis hat die Verbandsklage bis heute keine große praktische Bedeutung erlangt.53 Mehrfach ist überlegt worden, die Klagebefugnis entsprechend den Regelungen im UWG auch auf Verbraucherverbände zu erweitern. Bereits im Rahmen der 4. GWB-Novelle und schließlich im Zuge der siebten Novellierung sind jedoch entsprechende Vorschläge nicht Gesetz geworden.54 Auch Überlegungen zur Einführung sog. Verbands-Schadensersatzklagen sind nicht umgesetzt worden.55 Die den Verbänden zur Verfügung stehenden Ansprüche wurden mit der 7. GWB-Novelle um die in § 34a GWB n. F. vorgesehene Vorteilsabschöpfung erweitert. Hiernach kann der Verletzer bei einem vorsätzlichen Verstoß, durch den dieser zu Lasten einer Vielzahl von Abnehmern oder Anbietern einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt hat, im Wege der Verbandsklage auf Herausgabe des wirtschaftlichen Vorteils in Anspruch genommen werden. Aufgrund des Vorsatzerfordernisses wird die Vorteilsabschöpfung insbesondere in Fällen von Hardcore-Kartellen relevant.56 Weiterhin muss eine Vielzahl von Abnehmern oder Anbietern betroffen sein. Hieran wird deutlich, dass sich die Vorteilsabschöpfung nur gegen Zuwiderhandlungen mit einer gewissen Breitenwirkung richtet.57 Der ursprüngliche Regierungsentwurf sah auch eine Klagebefugnis von Verbraucherverbänden vor, die erst im Vermittlungsausschuss verworfen wurde.58 Der in der Regelung zum Ausdruck kommende Verbraucherschutz legt sogar nahe, dass der Regierungsentwurf in erster Linie auf die Verbraucher50
Vgl. v. Gamm, WRP 1987, S. 290 (290); Hempel, S. 56. BGH GRUR 1973, 78 (79) – Verbraucherverband (zu § 13 UWG a. F.). 52 Bechtold, § 33 Rdnr. 17; Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 56. 53 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 74; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 183; Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 37; v. Gamm, WRP 1987, S. 290 (290). 54 Vgl. Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/2136, S. 35 (4. GWB-Novelle) sowie Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 53 (7. GWB-Novelle). 55 Vgl. K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 35 ff.; Steindorff, ZHR 138 (1974), S. 504 (516 ff.); Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 89 ff. 56 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 55. 57 Vgl. auch Bechtold, § 34a Rdnr. 4. 58 Vgl. §§ 34a Abs. 1 i. V. m. 33 Abs. 2 Nr. 1 und 2 GWB-E, BT-Drs. 15/3640 sowie die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses, BT-Drs. 15/5735, S. 2. 51
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schutzverbände abzielte. Zweifelhaft bleibt daher, inwieweit die Interessenverbände dieser Aufgabe allein gerecht werden. Auch aus anderen Gründen ist mehr als fraglich, ob die Regelung des § 34a GWB n. F. große praktische Bedeutung erlangen wird. Die Vorteilsabschöpfung durch die Verbände ist in doppelter Hinsicht subsidiär ausgestaltet, da sie der behördlichen Abschöpfung nachrangig ist und nur unter Anrechnung bisher erbrachter Leistungen aufgrund des Verstoßes (Schadensersatz, Geldbußen oder Leistungen aufgrund einer Anordnung des Verfalls) erfolgt. Schließlich richtet sich der Anspruch nicht auf Zahlung an den Verband, sondern nur auf Abführung an den Bundeshaushalt. Die hiervon ausgehende Anreizwirkung zur Geltendmachung eines solchen Anspruchs dürfte äußerst gering sein.59 Dementsprechend wurde die Regelung in der Stellungnahme des Bundesrats als überflüssige „Schaufenstergesetzgebung“ bewertet.60 2. Bedeutung der privaten Durchsetzung im deutschen Kartellrecht Wie soeben aufgezeigt, sehen das GWB und das allgemeine Zivilrecht durchaus Instrumente für eine private Durchsetzung des Kartellrechts vor. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass nach dem Verständnis der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten insbesondere der Schadensersatz als mehr oder minder gleichwertige Sanktion neben die Geldbuße treten sollte,61 lässt sich konstatieren, dass der privaten Durchsetzung im deutschen Kartellrecht schon vor der 7. GWB-Novelle konzeptionell eine tragende Rolle zukam.62 Diese Wertung spiegelte sich bisher jedoch kaum in der Rechtspraxis wider. In der Literatur wurde immer wieder ein nicht zufriedenstellender Umgang mit dem Kartelldeliktsrecht in der Praxis bemängelt und allgemein festgestellt, dass der privaten Durchsetzung nur eine marginale Signifikanz zukomme.63 Biswei59 Vgl. Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 94; Fuchs, WRP 2005, S. 1384 (1391). Anders hingegen Bornkamm, Schriftl. Stellungnahme zum Gesetzentwurf der 7. GWBNovelle, Ausschuss-Drs. 15(9)1359, der darauf hinweist, dass auch bei Unterlassungsansprüchen ein finanzieller Anreiz fehle und die Verbände ihre Ansprüche dennoch wahrnähmen. 60 Vgl. BR-Drs. 441/04 (Beschluss), S. 13. 61 Vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 24. 62 So auch Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 15; Mailänder, S. 127; Hempel, S. 24. 63 Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 37; IM/K. Schmidt, EG-WettbR (1. Aufl.), Art. 85 Abs. 2 Rdnr. 71; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 1; Basedow, in: Liber Amicorum Mestmäcker, S. 15 (33); ders., in: Ehlermann/Atanasiu, S. 137 (139) [in Bezug auf die Anwendung der Artt. 81, 82 EG in Deutschland]; Schmid, ZIP 1983, S. 652 (652); Hartog/Noack, WRP 2005, S. 1396 (1403); Witthuhn, S. 47; Hempel, S. 82; ähnlich auch Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 15; anders dagegen Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 54.
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len urteilte man sogar, dass diese im deutschen Recht „dahin kümmere“.64 Diese Einschätzung muss vor dem Hintergrund der Praxis im US-amerikanischen Antitrust-Recht gesehen werden. Die Erfahrungen aus den USA, in denen über 90 Prozent der kartellrechtlichen Klagen von Privatklägern angestrengt werden,65 zeigen, welches Potenzial in der privaten Durchsetzung liegt, und haben somit sicherlich zu der kritischen Bewertung der deutschen Situation beigetragen. Ohne Zweifel hat die private Durchsetzung in Deutschland bei weitem nicht den Stellenwert, der ihr im Antitrust-Recht zukommt. Eingehende empirische Untersuchungen über die Bedeutung der privaten Durchsetzung in der deutschen Rechtspraxis fehlen bislang. Gewisse Rückschlüsse erlauben hier aber die im Auftrag der EG-Kommission europaweit durchgeführte Ashurst-Studie66 sowie die veröffentlichten Zahlen aus der Datenbank des Bundeskartellamtes.67 Zunächst scheinen sich die Ergebnisse dieser beiden Quellen zu widersprechen. Während die Ashurst-Studie sowohl in Bezug auf die EU wie auch auf Deutschland zu dem Ergebnis gelangt, dass auf Kartellrecht gestützte private Schadensersatzklagen völlig unterentwickelt seien,68 stellt das Bundeskartellamt anhand eigener Zahlen ein etwas anderes Bild dar und konstatiert, es zeige sich, „dass das Kartellrecht mittlerweile einen festen Bestandteil anwaltlicher Beratungspraxis darstell[e]“.69 Diese unterschiedliche Einschätzung ist aber darauf zurückzuführen, dass die Ashurst-Studie nur den kartellrechtlichen Schadensersatz und nicht die private Durchsetzung insgesamt behandelt und hierbei in erster Linie den Schadensersatz in Form von Geldersatz untersucht. Das Bundeskartellamt erhält aufgrund der Benachrichtigungspflicht der Zivilgerichte bei Kartellzivilverfahren gemäß § 90 GWB einen guten Überblick über die laufende Rechtspraxis. Die verfügbaren Daten der vergangenen Jahre zeigen, dass jedes Jahr mehrere hundert (im Jahre 2004 allein 240) Zivilverfahren mit Kartellrechtsbezug angestrengt werden.70 Im Jahre 2004 standen dem 505 neu eingeleitete behördliche Verfahren (Bußgeld- wie Verwaltungsverfahren)
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Müller-Laube, S. 11; Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (37). Vgl. hierzu unten, S. 175 ff. 66 Vgl. Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, „Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules“ und den hierfür von Wach/ Epping u. a. erstellten Deutschland-Teil. 67 Vgl. hierzu Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4. 68 Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, S. 1. 69 Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 5. So kritisiert das Bundeskartellamt, die empirische Aussage der Ashurst-Studie sei aus methodischer Sicht kaum haltbar und in ihrem Ergebnis schlicht falsch. 70 Vgl. Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4 sowie Böge/Ost, ECLR 2006, S. 197 (197 f.). Dagegen lagen der Ashurst-Studie für Deutschland nur insgesamt 159 Verfahren zugrunde. 65
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durch das Bundeskartellamt und die Landeskartellbehörden gegenüber.71 In den Zivilverfahren wurden Verletzungen des Kartellrechts mit rund 72% überwiegend im Wege des Einwands der Nichtigkeit geltend gemacht; nur in etwa 28% der Klagen wurde ein solcher Verstoß offensiv geltend gemacht.72 Über die Hälfte dieser Offensivverfahren (und damit 16% der Zivilverfahren insgesamt) hatten auch einen auf Geldersatz gerichteten Schadensersatz zum Gegenstand. Diese endeten wiederum in 19 Fällen (50%) aus Klägersicht erfolgreich.73 Der Ashurst-Studie lagen hingegen mit nur 159 Verfahren für den Zeitraum von 1999–2004 wesentlich weniger Verfahren zugrunde.74 Hiernach befassten sich im Gesamtzeitraum nur 29 der abgeschlossenen Kartellzivilverfahren (rund 24%) mit pekuniärem Schadensersatz, in lediglich 9 Fällen hatte der Kläger Erfolg. Da diese Zahlen auf unvollständigen Auskünften der Kartellgerichte beruhen, sind die absoluten Zahlen nur begrenzt verwertbar. Mehr Aussagekraft kommt aber dem Zahlenverhältnis zu. Der Ashurst-Studie lassen sich nämlich auch Angaben über die Art der zugrunde liegenden Wettbewerbsbeschränkung entnehmen. In umgerechnet rund 12% der Zivilverfahren wurde ein Verstoß gegen das Kartellverbot vorgeworfen. 71% der Verfahren dagegen betrafen Fälle von Diskriminierung, Behinderung und Boykott. Weiterhin waren in etwa 15% der Fälle Vertikalvereinbarungen Gegenstand des Verfahrens.75 Diese relativen Werte korrespondieren durchaus mit der Einschätzung des Bundeskartellamtes76 und der Literatur,77 dass Unterlassungs- und Schadensersatzklagen bei der Kontrolle marktmächtiger Unternehmen (§§ 19, 20 GWB) in der Praxis auch heute schon eine große, in Teilen sogar zentrale Bedeutung haben. Auch das Preisbindungsverbot ist häufig mit zivilrechtlichen Klagen durchgesetzt worden.78 Dagegen sind bisher Ansprüche von Opfern von Hardcore-Kartellen selten Gegenstand von Zivilverfahren gewesen und – soweit ersichtlich – bisher nur in einem Fall erfolgreich eingeklagt worden.79 Weiterhin ist festzustellen, dass bislang auf § 33 GWB gestützte Klagen vornehmlich zum Ziel haben, Nachteile für die 71 Laut Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 2003/2004 wurden im Jahr 2004 135 Verfahren durch das Bundeskartellamt und 370 Verfahren durch die Landeskartellbehörden eingeleitet, vgl. Tätigkeitsbericht, BT-Drs. 15/5790, S. 230 f. 72 Von 240 im Jahr 2004 verzeichneten Verfahren betrafen 68 eine offensive Geltendmachung und 172 eine defensive Geltendmachung, vgl. Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4. 73 Vgl. Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4. 74 Die Angaben der Ashurst-Studie beruhten auf einer Befragung der Kartellgerichte, von denen lediglich sieben die Fragen ausführlich beantworteten, vgl. Wach/Epping u. a., S. 30. 75 Wach/Epping u. a., S. 31. 76 Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4. 77 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 26; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 4; Mailänder, S. 167; Hempel, S. 82. 78 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 5. 79 LG Dortmund WuW/E DE-R 1352 ff. – Vitaminpreise Dortmund.
I. Der Privatrechtsschutz im GWB
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Zukunft zu beseitigen, indem etwa Unterlassung, Belieferung und sonstige Herstellung bzw. Abwicklung von Vertragsbeziehungen verfolgt wird. Geldersatz für in der Vergangenheit erlittene Schäden wird hingegen selten verlangt.80 In den letzten Jahren hat jedoch die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen im Zusammenhang mit Hardcore-Kartellen an Bedeutung zugenommen. Im Zuge des weltweiten Vitaminkartells haben sich die deutschen Gerichte verstärkt mit Schadensersatzansprüchen auseinandersetzen müssen, wenngleich die meisten Verfahren aus Klägersicht erfolglos geblieben sind.81 Gerade bei Hardcore-Kartellen werden auch die Kronzeugenregelungen der Europäischen Kommission82 und des Bundeskartellamtes83 zunehmend Zivilverfahren beflügeln.84 Ein weiteres Phänomen der letzten Jahre ist, dass Geschädigte ihre Ansprüche abtreten und von „professionellen Klägern“ durchsetzen lassen. Die belgische Cartel Damage Claims, S.A.85 hat hier den Anfang gemacht und sich von mehreren Abnehmern des 2002 aufgedeckten Zementkartells86 Ansprüche abtreten lassen und die Kartellanten auf Schadensersatz in Höhe von insgesamt 210 Mio. EUR verklagt. Die Zedenten werden im Erfolgsfalle an der erstrittenen Summe beteiligt. Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass sich hierdurch die Kosten für die zur Beweisführung nötige Informationsbeschaffung erheblich reduzieren und den Unternehmen erspart bleibt, gegen ihre Vertragspartner gerichtlich vorzugehen. Zusammenfassend lässt sich zur praktischen Bedeutung der privaten Durchsetzung im deutschen Kartellrecht somit feststellen, dass diese nicht pauschal als bedeutungslos bezeichnet werden kann. Im Gegensatz zu den USA überwiegt in Deutschland aber die behördliche Durchsetzung. Eine vergleichbar zentrale Rolle der privaten Rechtsverfolgung ist im Durchsetzungsregime des GWB – mit Ausnahme der Kontrolle einseitigen Marktverhaltens etwa i. R. d. § 20 Abs. 2 GWB – nicht zu verzeichnen. Weiterhin ist zwischen dem Schadensersatz und den sonstigen Formen der privaten Durchsetzung zu unterschei80 So bereits K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 340; Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (37). 81 Vgl. OLG Karlsruhe WuW/E DE-R 1229 ff. – Vitaminpreise; LG Mannheim GRUR 2004, 182 ff. – Vitaminkartell; LG Mainz WuW/E DE-R 1349 ff. – Vitaminpreise Mainz; LG Dortmund WuW/E DE-R 1352 ff. – Vitaminpreise Dortmund; siehe auch LG Berlin WuW/E DE-R 1325 ff. – Berliner Transportbeton II. 82 Vgl. Europ. Kommission, Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EG 2006, C 298/17. 83 Vgl. Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen (Bonusregelung). 84 Lübbig, WRP 2004, S. 1254 (1254). 85 Nähere Informationen zur Cartel Damage Claims, S.A., sind im Internet unter http://www.cdcag.com abrufbar (zuletzt: 20.08.2008). 86 Vgl. hierzu den Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 2003/2004, BT-Drs. 15/5790, S. 110.
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Kap. 1: Die Rechtslage in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle
den. Insbesondere der Einwand der Nichtigkeit kartellrechtswidriger Vereinbarungen wird häufig erhoben. Ebenfalls dient die private Rechtsverfolgung häufig der Herstellung wettbewerbskonformer Zustände für die Zukunft. Der Schadensersatz spielte nur hinsichtlich bestimmter Formen von Wettbewerbsbeschränkungen eine maßgebliche Rolle. Hier sind insbesondere Fälle der unbilligen Behinderung und der Diskriminierung zu nennen. Kaum eine praktische Bedeutung konnte der Schadensersatz hingegen zur Durchsetzung des Kartellverbots erlangen.
II. Der Schadensersatz in der Entwicklung des Kartellrechts Die Entwicklung des kartellrechtlichen Schadensersatzes muss im Kontext der allgemeinen Entwicklung des Kartellrechts und der Wettbewerbspolitik im deutschen Rechtsraum gesehen werden.87 Bereits im Mittelalter finden sich Beispiele für Kartelle und Kartellverbote. Ein Kartell nach heutigem Verständnis setzt aber voraus, dass überhaupt ein Wettbewerb unter den Unternehmen am Markt besteht. Somit gehen die ältesten modernen Kartelle in Deutschland auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück.88 Zu dieser Zeit hatte sich erstmals in Preußen mit der Einführung der Gewerbefreiheit der Gedanke des freien Wettbewerbs durchgesetzt und damit die Wirtschaftsordnung des Merkantilismus und das noch vorherrschende Zunftwesen abgelöst.89 Nach einer königlichen Kabinettsordre vom 19. April 1813 waren der Gewerbefreiheit zuwiderlaufende Verträge zwischen „Kontrahenten“ als rechtswidrig und nichtig anzusehen.90 Unter der neuen Gewerbefreiheit, die sich später auch in der Reichsgewerbeordnung von 186991 wiederfand, war somit die wirtschaftliche Betätigung von Konzessionserfordernissen und anderen staatlichen Beschränkungen sowie von aus der Zunftverfassung herrührenden privaten Beschränkungen befreit. Ein regelrechter Aufschwung der Kartellbildung stellte sich jedoch erst gegen Ende des Jahrhunderts ein.92 Mit der anhaltenden Gründerkrise im noch jungen Deutschen Reich schwächte sich das Vertrauen in die marktordnende Kraft des 87 Hierzu eingehend Braun, S. 54 ff.; Isay, Die Geschichte der Kartellgesetzgebung, 1955; Möschel, Rdnr. 10 ff. 88 Isay, S. 26 (Fn. 1) u. 31; Möschel, Rdnr. 20. 89 Strauß, FS-Böhm, S. 603 (604); Braun, S. 55 mit Nachweisen zum Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer vom 28.10./02.11.1810, GesetzSammlung für die Kgl. Preußischen Staaten 1810, Nr. 9, S. 79 ff. 90 Gesetz-Sammlung für die Kgl. Preußischen Staaten 1813, Nr. 12, S. 69 ff. Vgl. Strauß, FS-Böhm, S. 603 (605); Möschel, Rdnr. 19; Baums, S. 10. 91 Gewerbeordnung vom 21.06.1869, BGBl. des Norddeutschen Bundes S. 245. 92 Isay, S. 31; Möschel, Rdnr. 20; Baums, S. 5; Coing, S. 176.
II. Der Schadensersatz in der Entwicklung des Kartellrechts
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freien Wettbewerbs angesichts der vorhandenen Überkapazitäten schnell ab. Man lernte Kartelle als Mittel zur Abfederung von Konjunkturschwankungen und zur Verhinderung ruinöser Konkurrenz schätzen. Kartelle waren nach damaliger Auffassung „Kinder der Not“.93 Während sich in den USA bereits das Antitrust-Recht formte, herrschte in Deutschland eine „schrankenlose Kartellfreiheit“.94 Weder gab es gesetzliche Regelungen zur Verhinderung von Kartellen noch bestand eine behördliche Kartellaufsicht. Wie der Gesetzgeber verhielten sich auch die Gerichte gegenüber auftretenden Wettbewerbsbeschränkungen gleichgültig. Maßgebende Auffassung war, dass sich die Möglichkeit der Bündelung von Wirtschaftsmacht durch Kartellierung unmittelbar aus der Privatautonomie, also aus der Vertrags- und Assoziationsfreiheit ergäbe.95 Das Reichsgericht bestätigte dies in zwei Leitentscheidungen,96 in denen es klarstellte, dass die Vertragsfreiheit Vorrang vor der Gewerbefreiheit genieße. Ähnlich hatte bereits zuvor das Preußische Obertribunal in einem Plenarbeschluss von 1877 entschieden.97 Deutschland wurde zu einem „Land der Kartelle“.98 Die kartellrechtliche Diskussion in jener Zeit befasste sich primär mit dem inneren Kartellzwang, also dem Innenrecht unter den Kartellanten, weniger aber mit den Auswirkungen auf Dritte. Dementsprechend lag dem Begriff „Kartellrecht“ noch eine völlig andere Bedeutung zu Grunde: Hierbei handelte es sich nicht um ein Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen, sondern vielmehr um ein Kartellorganisationsrecht, also im Wesentlichen um ein Gesellschaftsrecht der Kartellorganisationen.99 Es verwundert somit nicht, dass zu dieser Zeit auch die zivilrechtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Wettbewerbsbeschränkungen sehr begrenzt waren. Eine Ausnahme bestand jedoch hinsichtlich missbräuchlicher Verhaltensweisen, in denen sich Dritte auf die §§ 138, 826 BGB stützen konnten.100 Interessanterweise lagen somit die ersten Anfänge eines Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen – wenn auch nur verhalten – im Kartellzivilrecht.
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Kleinwächter, S. 126 ff. u. 143. Mailänder, S. 14. 95 Merz, FS-Böhm, S. 227 (230). 96 RGZ 28, 238 (244) – Börsenverein der dt. Buchhändler; RGZ 38, 155 (158) – Sächsisches Holzstoffkartell. Vgl. hierzu auch Böhm, ORDO 1 (1949), S. 197 ff. 97 PrOTrE Bd. 80 (1877), S. 1 ff. Ein Jahr zuvor hatte jedoch der 3. Senat (PrOTrE Bd. 77 (1876), S. 231 ff.) einen gegenteiligen Standpunkt eingenommen. Vgl. hierzu Strauß, FS-Böhm, S. 603 (606 ff.); Baums, S. 23 ff.; Coing, S. 181. 98 Böhm, ORDO 1 (1949), S. 196 (197); Möschel, 70 Jahre deutsche Kartellpolitik, S. 3; ders. Rdnr. 21. Nach Angaben von Möschel (Rdnr. 21) betrug die geschätzte Kartellierungsquote im Jahre 1907 bei Steinkohle 82%, 50% bei Rohstahl, 90% bei Papier und 48% in der Zementindustrie. 99 Hierzu K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 19. 100 Vgl. K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 106. 94
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Im Zuge der ungebremst wachsenden Kartellbewegung und im Lichte der Antitrust-Gesetzgebung der USA wurden die Rufe nach einem Kartellrecht im heutigen Sinne lauter. Die Reichsregierung berief in den Jahren 1902–1905 eine Kartellenquête,101 die jedoch keinen Bedarf für gesetzgeberisches Handeln sah. Im Jahre 1907 betrug die Kartellierungsquote der deutschen Wirtschaft bereits rund 25%.102 Die Zentralisierung der Kriegswirtschaft während des 1. Weltkrieges führte zu einer weiteren Verfestigung der Kartellwirtschaft. Erst als im Zuge der Hyperinflation die Anzahl der Kartelle in den Jahren 1922/23 dramatisch zunahm, erließ die Reichsregierung am 2.11.1923 eine „Verordnung gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen“ (sog. Kartellverordnung).103 Bei der Kartellverordnung handelte es sich um ein „Kartellpolizeigesetz“, da sie sich nur gegen Beschränkungen des freien Wettbewerbs richtete, soweit die Gesamtwirtschaft oder das Gemeinwohl gefährdet waren (§§ 4, 9, 10 KartVO).104 Grundsätzlich blieben Kartelle jedoch zulässig. Sie wurden nun der Missbrauchsaufsicht durch das Reichswirtschaftsministerium und durch ein neu eingerichtetes Kartellgericht unterstellt. Diese erhielten Eingriffsbefugnisse im Interesse der Allgemeinheit. Private Verfolgungsrechte zum Schutze von Mitbewerbern oder Kunden waren dagegen nicht vorgesehen. In der deutschen Tradition des Kartellorganisationsrechts enthielt die Kartellverordnung lediglich private Rechtsbehelfe der Kartellmitglieder hinsichtlich Rücktritt und Kündigung des Kartellvertrags (§§ 8, 10 KartVO). Ein Anspruch auf Schadensersatz kam gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 9 KartVO hinsichtlich Maßnahmen des Kartellzwangs in Betracht.105 Zivilrechtlicher Drittschutz erfolgte weiterhin nur in Ausnahmefällen über §§ 138, 826 BGB und – wie etwa im sog. „Benrather Tankstellenfall“106 – § 1 UWG.107 Die Kartellverordnung blieb während des Dritten Reichs in Kraft, wurde jedoch durch das Zwangskartellgesetz der Nationalsozialisten,108 das zur teilweisen Inkorporierung der Wirtschaft in den Staat beitrug, ergänzt.109 Die Wirtschaftspolitik jener Zeit war besonders nach 1936
101 Vgl. Nachweise bei Möschel, Rdnr. 22; Großfeld, ZHR 141 (1977), S. 442 (447 ff.). 102 Braun, S. 65. 103 RGBl. I 1923, 1067. 104 Vgl. Isay, S. 41. 105 RGZ 125, 166 (170). 106 RGZ 134, 342 (354). In diesem Fall hatten Mineralölunternehmen ein Preiskartell gebildet und versucht, eine Tankstelle, die sich hieran nicht beteiligte, durch Niedrigpreise in deren Umgebung zur Anpassung ihrer Preise an den implementierten Kartellpreis zu zwingen. 107 Möschel, Rdnr. 23. 108 Gesetz über die Errichtung von Zwangskartellen v. 15.07.1933, RGBl. I 1933, 488. 109 Isay, S. 62.
II. Der Schadensersatz in der Entwicklung des Kartellrechts
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durch zentrale Lenkungsmaßnahmen geprägt. Eine private Rechtsverfolgung war in dieser Konstellation nicht vorgesehen.110 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erließen die Alliierten nach dem Scheitern eines Viermächte-Kartellgesetzes111 für die Westzonen im Jahre 1947 übereinstimmende Dekartellierungsvorschriften.112 Zunächst verfolgten die Siegermächte hiermit vornehmlich sicherheitspolitische Ziele, da neben der Entflechtung und Demontage der deutschen Wirtschaft die Zerschlagung von Kartellen dazu dienen sollte, die Wirtschaft zu schwächen und eine weitere Bedrohung durch Deutschland zu verhindern.113 Außerdem war man der Ansicht, dass die Kartelle zu einer intensiven Verflechtung der deutschen Industrie mit dem NSRegime und somit zu dessen Kriegs- und Vernichtungspolitik beigetragen haben.114 Die Dekartellierungsvorschriften erfuhren aber auch eine starke Prägung durch das US-amerikanische Antitrust-Recht und entsprachen somit von ihrem wettbewerbspolitischen Ansatz erstmals einem Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen und weniger dem tradierten Kartellorganisationsrecht. Die Gesetze stellten wie ehemals in Preußen Anfang des 19. Jh. den Grundsatz der Wettbewerbsfreiheit wieder vor den Grundsatz der Vertragsfreiheit.115 Auch das Dekartellierungsrecht sah jedoch keine speziellen Vorschriften über Schadensersatzpflichten vor.116 Zivilrechtliche Rechtsschutzmöglichkeiten bestanden jedoch nun über die allgemeinen zivilrechtlichen Normen der §§ 134, 823 Abs. 2 BGB. So wurden die meisten Bestimmungen im Dekartellierungsrecht als
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Mailänder, S. 15. Dieses scheiterte 1946 im Alliierten Kontrollrat am Widerstand Großbritanniens gegen die von den USA favorisierte Entflechtung der deutschen Wirtschaft, vgl. Murach-Brand, S. 48 ff. 112 Vgl. Gesetz Nr. 56 v. 28.01.1947, ABl. der amerik. Militärregierung 1947, Issue C, S. 2 (für die amerik. Zone); Verordnung Nr. 78 v. 28.01.1947, ABl. der brit. Militärregierung 1947, S. 412 (für die brit. Zone) sowie Verordnung Nr. 96 v. 09.06.1947, Journal Officiel 1947, S. 784 (für die franz. Zone). Siehe hierzu Mueller, BB 1947, S. 137 ff. und Braun, S. 82 ff. Der Länderrat hatte zuvor den Entwurf des Gesetzes Nr. 56 u. a. wegen des grundsätzlichen Verbots von Kartellen abgelehnt, vgl. MurachBrand, S. 68 ff. m. w. N. Zur amerikanischen Kartellpolitik in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Allgemeinen vgl. Murach-Brand, S. 42 ff. 113 Isay, S. 62 ff. Dieses Besatzungsziel war zuvor in Teil III B Nr. 12 des Potsdamer Abkommens v. 02.08.1945 festgeschrieben worden. Vgl. hierzu auch MurachBrand, S. 39 ff. 114 So stellte Präsident Roosevelt im September 1944 fest: „The history of the use of the I.G. Farben trust by the Nazis reads like a detective story. Defeat of the Nazi armies will have to be followed by the eradication of these weapons of economic warfare.“ (zitiert in Murach-Brand, S. 42 m. w. N.). 115 Mueller, BB 1947, S. 137 (137). 116 IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 3; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 3; Witthuhn, S. 48 f.; Hempel, S. 26 f. 111
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Schutzgesetze i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB angesehen.117 Meist handelte es sich hierbei aber um Fälle von Boykotten,118 Diskriminierungen119 und Ausschließlichkeitsbindungen.120 Inwieweit auch das Verbot horizontaler Absprachen, insbesondere von Preisabsprachen, Schutzgesetzcharakter hatte, blieb unklar.121 Diese Problematik setzte sich auch während der Ausarbeitung eines bundesdeutschen Kartellgesetzes während der 1950er Jahre fort. Im Vorfeld des Erlasses des GWB wurde in der Literatur wiederholt die individuelle Rechtsverfolgung auf der Ebene des Zivilrechts abgelehnt.122 Die rund zehnjährige Gesetzgebungsgeschichte, während derer weiterhin das alliierte Dekartellierungsrecht Anwendung fand, begann im Wesentlichen durch den Entwurf des ehemaligen Leiters des Kartellreferates im Reichswirtschaftsministerium Dr. Paul Josten (sog. Josten-Entwurf123) von 1949. Eine allgemeine private Durchsetzung sah dieser nicht vor, da ihm zu großen Teilen das wettbewerbspolitische Konzept des Ordoliberalismus zugrunde lag und nach der ordoliberalen Lehre das Individuum grundsätzlich nur mittelbar an der Durchsetzung des Kartellrechts beteiligt sein sollte.124 Murach-Brand gelangt deshalb zu dem Schluss, dass obwohl der Ordoliberalismus und das traditionelle Kartellpolizeirecht der Kartellverordnung von 1923 gänzlich andere Ziele verfolgten, beide Ansätze gleichwohl dasselbe Verständnis von Individuum und Allgemeinheit beinhalteten.125 Eine Ausnahme von der generellen staatlichen Aufsicht sollte jedoch nach dem Josten-Entwurf in Fällen des Behinderungswettbewerbs gemacht werden, in denen Geschädigten ein Anspruch auf Unterlassung und auf fünffachen (!) Schadensersatz zustehen sollte.126 Der durch ein strenges Kartellverbot geprägte Ent117 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 3; Mailänder, S. 164; Witthuhn, S. 48 f.; Flume, WuW 1956, S. 457 (465); Mueller, BB 1947, S. 137 (138); Coing/Kronstein/ Schlochauer, S. 9. 118 OLG Düsseldorf WuW/E OLG 10 (11) – Filmtheater; WuW/E OLG 44 (45) – Werbering. 119 BGH WuW/E BGH 154 (157) – Darmimporteure; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 230 (233 f.) – Mühlenkartell; vgl. auch BGH WuW/E BGH 288 (290) = BGHZ 29, 344 – Großhändlerverband II. 120 BGH WuW/E BGH 65 (71) = BGHZ 13, 33 – Warenkredit; vgl. auch OLG Frankfurt WuW/E OLG 101 (105) – Zahnärztlicher Bedarf. 121 Befürwortend wohl OLG Düsseldorf BB 1952, 210 (210) – Werbeunternehmen; dagegen ablehnend Flume, WuW 1956, S. 457 (466); vgl. hierzu auch Witthuhn, S. 48 f.; Mailänder, S. 164. 122 Ballerstedt, JZ 1956, S. 267 (271); Würdinger, WuW 1953, S. 721 (727 f.); Benisch, WuW 1956, S. 481 (483); Strickrodt, WuW 1957, S. 75 (90). 123 Entwurf zu einem Gesetz zur Sicherung des Leistungswettbewerbs und zu einem Gesetz über das Monopolamt mit Stellungnahme des Sachverständigen-Ausschusses, vorgelegt am 05.07.1949. 124 Murach-Brand, S. 106; Eucken, S. 290 ff. (294). 125 Murach-Brand, S. 106. 126 Vgl. § 26 E: „(1) Wer als Inhaber wirtschaftlicher Macht einen Marktbeteiligten durch Maßnahmen des Behinderungswettbewerbs sowie des Störungs- oder Schädi-
II. Der Schadensersatz in der Entwicklung des Kartellrechts
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wurf stieß insbesondere in der Industrie auf Ablehnung, weil man den deutschen Wiederaufbau gefährdet sah, und wurde vom Bundeswirtschaftsministerium nicht zur Grundlage für die weitere Diskussion gemacht. Nach etlichen weiteren Vorentwürfen, die nicht den Vorstellungen der USA entsprachen, wurde 1952 in enger Absprache mit den Alliierten ein erster Regierungsentwurf vorgelegt.127 Dieser stellte einen Kompromiss dar, in welchem sich sowohl Elemente des US-amerikanischen Antitrust-Rechts als auch Konzepte des deutschen Ordoliberalismus wieder fanden. Dass man sich noch nicht völlig von der Tradition des Kartellorganisationsrechts gelöst hatte, zeigte sich jedoch daran, dass weitgehend auf ausdrückliche Verbotsnormen verzichtet wurde und die Anordnung der Unwirksamkeit in den Vordergrund gestellt war.128 In § 28 GWB-E waren erstmals ausdrückliche zivilrechtliche Drittschutzmöglichkeiten enthalten, die einen weit reichenden Kartelldeliktsschutz etablierten. Die Sanktion des Schadensersatzes wurde – auch für das Kartellverbot – ausdrücklich an die Seite der Geldbuße gestellt.129 Der Regierungsentwurf fand zunächst im Bundestag keine Mehrheit, weil insbesondere die Industrie ein System der Missbrauchsaufsicht in der Tradition der Kartellverordnung von 1923 den im Entwurf enthaltenen strengen Kartellverboten vorzog. Das Missbrauchsprinzip vertraute auf den Automatismus des Marktes, so dass lediglich Missbräuche einer staatlichen Steuerung bedurften. Da aber keine anderweitige Einigung erzielt werden konnte, brachte die Bundesregierung den Regierungsentwurf nochmals wortgleich in der zweiten Legislaturperiode 1955 in den Bundestag ein.130 Am 1. Januar 1958 schließlich trat das GWB in weitgehender Übereinstimmung mit dem Regierungsentwurf in Kraft.131 § 28 GWB-E fand sich in § 35 GWB wieder. Trotz einiger Veränderungen durch die vierte und sechste GWB-Novelle ist die Regelung in ihrem Kern erhalten geblieben und entsprach im Wesentlichen dem § 33 GWB von 1998.
gungskampfes in seinem Geschäftserfolg benachteiligt, kann auf Unterlassung und Schadloshaltung in Anspruch genommen werden. [. . .] (3) Der Anspruch auf Schadloshaltung geht auf den fünffachen Betrag des nachgewiesenen oder des vom Gericht nach freier Überzeugung angenommenen Schadens [. . .].“ 127 BT-Drs. I/3462. Zu den Vorentwürfen und dem Einfluss der amerikanischen Kartellpolitik auf die Entstehung des GWB vgl. Murach-Brand, S. 140 ff. 128 K. Schmidt, JZ 1976, S. 304 (304). 129 BT-Drs. II/1158, S. 24 f. 130 BT-Drs. II/1158. 131 BGBl. I 1957, 1081.
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Kap. 1: Die Rechtslage in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle
III. Die materiellrechtlichen Voraussetzungen für den Schadensersatz gemäß § 33 GWB a. F. Nach den allgemeinen Ausführungen dazu, wie sich der kartellrechtliche Schadensersatz als Element der privaten Rechtsverfolgung in das Durchsetzungsregime des deutschen Kartellrechts einfügt, und wie er sich bis zum Inkrafttreten des GWB entwickelt hat, soll im Folgenden näher auf die gesetzliche Ausgestaltung und Rechtspraxis eingegangen werden, die der kartellrechtliche Schadensersatz mit Stand der 6. GWB-Novelle erfahren hat.132 Von den tatbestandlichen Voraussetzungen sind – sowohl nach altem wie nach neuem Recht – das Vorliegen eines Kartellverstoßes, die Anspruchsberechtigung des Betroffenen und das Vorliegen eines kausalen Schadens von zentraler Bedeutung. Gemäß § 33 Satz 1 GWB a. F. war derjenige, der „gegen eine Vorschrift dieses Gesetzes oder eine Verfügung der Kartellbehörde verstößt, [. . .] sofern die Vorschrift oder die Verfügung den Schutz eines anderen bezweckt, diesem [. . . im Falle von] Vorsatz oder Fahrlässigkeit [. . .] zum Ersatz des aus dem Verstoß entstandenen Schadens verpflichtet.“ Die kartelldeliktsrechtliche Diskussion kreiste seit Inkrafttreten des GWB maßgeblich um das hierin enthaltene Schutzzweckerfordernis. Während sich die Literatur schon frühzeitig auch mit anderen Fragen im Rahmen des § 33 GWB auseinandersetzte, verharrte die Rechtsprechung insbesondere bei Ersatzansprüchen von Opfern horizontaler Absprachen im Wesentlichen bei der Frage der Anspruchsberechtigung. Viele andere Probleme in diesem Zusammenhang sind dagegen unbeantwortet geblieben. 1. Verstoß gegen eine Schutzvorschrift oder eine Schutzverfügung Notwendige Voraussetzung für einen Anspruch nach § 33 GWB a. F. war, dass der Anspruchsgegner gegen eine Vorschrift des GWB oder eine Verfügung der Kartellbehörde verstoßen hatte, die einen Schutzcharakter zugunsten des Anspruchsinhabers entfaltete. Erste Hinweise, was unter einem Schutzgesetz im Sinne der Norm zu verstehen war, ließen sich dem allgemeinen Deliktsrecht entnehmen. Dass der Wortlaut der Norm unverkennbar Parallelen zur deliktischen Generalklausel des § 823 Abs. 2 BGB aufwies, beruhte nicht auf einem Zufall. Der Gesetzgeber hatte die gesetzliche Fassung des Ersatzanspruchs bewusst hieran angelehnt, da er § 28 GWB-E als eine – lediglich um die Aufnahme von Schutzverfügungen –
132 Hierbei ist auf die Rechtslage von 1998 abzustellen. Die Ausführungen können jedoch auch auf frühere Fassungen des GWB übertragen werden, da – wie bereits ausgeführt – der materielle Gehalt seit Inkrafttreten des § 35 GWB 1958 nahezu unverändert geblieben ist.
III. Voraussetzungen für den Schadensersatz gemäß § 33 GWB a. F.
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erweiterte Fassung der Bestimmung des bürgerlichen Rechts verstand.133 In Rechtsprechung und Literatur war – soweit herrschte noch Einigkeit – deshalb anerkannt, dass die im allgemeinen Zivilrecht entwickelten Grundsätze hinsichtlich der Voraussetzungen eines Schutzgesetzes auch im Rahmen des § 33 GWB a. F. Anwendung finden sollten.134 Nach einer im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB gebräuchlichen Formel gilt als Schutzgesetz jede Rechtsnorm i. S. d. Art. 2 EGBGB, die nach ihrem Sinn und Zweck dazu zu dienen bestimmt ist, – sei es auch neben dem Schutz der Allgemeinheit – den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines Rechtsgutes oder eines bestimmten Rechtsinteresses zu schützen.135 Hierbei ist nicht die Wirkung der Norm entscheidend, sondern nur die Absicht des Gesetzgebers, gerade einen Rechtsschutz wie er im konkreten Fall geltend gemacht wird, zu gewähren. Dem Einzelnen muss die Rechtsmacht in die Hand gegeben sein, seinen Interessenbereich unmittelbar, nämlich mit Mitteln des Privatrechts, gegen den Verletzer zu schützen.136 a) Individualschutz im GWB? So einig man sich war, wie man den Begriff des Schutzgesetzes zu verstehen hatte, so uneinig war man sich über die hieraus resultierenden Konsequenzen für den privaten Rechtsschutz im Kartellrecht. Losgelöst von den einzelnen Bestimmungen des GWB war zunächst einmal die Frage beherrschend, inwieweit das Kartellrecht überhaupt einen Individualschutz zum Inhalt hatte. Ein besonderer Streitpunkt war dabei die Behandlung des § 1 GWB a. F. Ausgangspunkt der Kontroverse war die nach der Definition notwendige Intention des Gesetzgebers, einen individuellen Rechtsschutz zu gewähren. Genau hierüber bestand Uneinigkeit. Inwieweit sollte der Einzelne berechtigt sein, seinen Interessenbereich unmittelbar selbst – und nicht nur mittelbar über die behördliche Aufsicht – zu schützen? Dass diese Frage trotz des Wortlauts des § 35 GWB a. F. auftrat, verwundert nicht, wenn man sowohl das der Kartellverord133
Vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 44. Vgl. etwa BGH WuW/E BGH 1361 (1364) = BGHZ 64, 232 – KrankenhausZusatzversicherung; WuW/E BGH 1299 (1300) – Strombezugspreis; Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 6; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 9; Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 1; Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 56; a. A.: Leo, WuW 1959, S. 485 (487), der wegen der vom GWB ausgehenden Beschränkung der Vertragsfreiheit für eine engere Auslegung im Rahmen des § 35 GWB a. F. plädierte. 135 RGZ 128, 298 (300); BGHZ 12, 146 (148); 40, 306 (306); BGH NJW 1992, 241 (242); NJW 2004, 356 (357); Palandt/Sprau, § 823 Rdnr. 57; Hager, in: Staudinger, § 823 Rdnr. G 19; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 9. 136 BGHZ 40, 306 (307). Ausführlich zur Methodik der Schutzgesetzermittlung Breitkreutz, S. 7 ff. 134
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nung von 1923 zugrunde liegende System der Missbrauchsaufsicht als auch den Einfluss des Ordoliberalismus auf das GWB berücksichtigt, da beide Ansätze auf eine staatliche Durchsetzung des Kartellrechts ausgerichtet waren. Über die Reichweite des individuellen Rechtsschutzes im neuen GWB gaben Gesetz und die Gesetzesmaterialien nur bedingt Aufschluss. Welche Normen als Schutzgesetze zu qualifizieren waren, war dem GWB – anders als einigen Gegenentwürfen137 zum damaligen Regierungsentwurf – nicht zu entnehmen. Die Gesetzesmaterialien bemerkten zumindest, dass „zahlreiche Vorschriften des vorliegenden Gesetzes [. . .] derartige Schutzvorschriften“ seien.138 Eine genauere Differenzierung wurde der Rechtsprechung und der Wissenschaft überlassen.139 Besonders in den 1950–1960er Jahren entfachte sich in der Literatur ein Lehrstreit darüber, ob das GWB abgesehen von den bereits im alliierten Dekartellierungsrecht anerkannten Fallgruppen ausschließlich einen Institutionenschutz bezweckte. Für Unklarheiten bezüglich einer Privatrechtserheblichkeit des Kartellrechts sorgte zunächst die gesetzliche Formulierung vieler Bestimmungen des GWB, die oftmals nur Eingriffsbefugnisse der Kartellbehörden im Rahmen einer Missbrauchsaufsicht vorsahen oder aber in der Tradition des deutschen Kartellorganisationsrechts lediglich die Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit von Vereinbarungen als Rechtsfolge anordneten. Bereits vor Inkrafttreten des GWB hatte sich in der Literatur die Lehre vom Institutionenschutz etabliert.140 Hiernach sollte das Kartellrecht als alleiniges Ziel den Schutz des Wettbewerbs als Institution verfolgen. Für einen Individualschutz sei in einem Gebiet, das ausschließlich Gemeinwohlbelange verfolge, kein Platz. Würdinger stützte diesen Ansatz auf die unterschiedliche wettbewerbspolitische Konzeption von GWB und dem US-amerikanischen Antitrust-Recht. Während das amerikanische Kartellrecht Folge der individuellen Freiheitsidee sei, habe das deutsche Recht eine rein wirtschaftspolitische Zwecksetzung erfahren.141 Diese gesamt137 Vgl. Entwurf der Abgeordneten Höcherl, Stücklen, Seidl, Dollinger und Genossen, BT-Drs. II/1253 (hinsichtlich Diskriminierungen und diskriminierender Empfehlungen, § 11) sowie den Entwurf der Abgeordneten Böhm, Dresbach, Rufbach und Genossen, BT-Drs. II/1269 (für gleichförmiges Verhalten, § 19 Abs. 3, unerlaubten Wirtschaftskampf, § 20, und unerlaubte vertikale Freiheitsbeschränkungen, § 23 Abs. 2). 138 Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 44 (ohne Hervorhebung). 139 Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 2; Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 5; Spengler, WuW 1960, S. 410 (417); vgl. auch Deutscher Bundestag, Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht, Prot. Nr. 219 v. 31.05. 1957, S. 78. 140 Würdinger, WuW 1953, S. 721 (726); Ballerstedt, JZ 1956, S. 267 (271); Strickrodt, WuW 1957, S. 75 (81); Benisch, WuW 1961, S. 764 (768); Leo, WuW 1959, S. 485 (488). Vgl. zur Unterscheidung von Rechtsschutz und Institutionenschutz auch Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 ff. 141 Würdinger, WuW 1953, S. 721 (726). So auch Benisch, WuW 1961, S. 764 (768); Ballerstedt, JZ 1956, S. 267 (271); Strickrodt, WuW 1957, S. 75 (81).
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wirtschaftliche Motivierung, die das Kartellrecht als wirtschaftspolitisches Gegenstück zur politischen Demokratie begreife, könne nur im Sinne eines Schutzes der Institution des Wettbewerbs verstanden werden.142 Des Weiteren fehle es den gesetzlichen Bestimmungen oftmals an der nötigen Bestimmtheit, weshalb aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nur in den seltensten Fällen von einem Schutzgesetz ausgegangen werden könne.143 Die durch das Kartellrecht bewirkte Förderung wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit des Einzelnen sei nur als Reflex aus dem Institutionenschutz zu begreifen. Die Lehre vom Institutionenschutz propagierte somit eine weitgehende Verdrängung des Privatrechts aus dem Kartellrecht.144 Gegen diese Reduzierung des kartellrechtlichen Schutzes auf Gemeinwohlbelange wandten sich die Befürworter einer (zugleich) individualschutzbezogenen Zielrichtung des GWB.145 Hiernach waren die im GWB statuierten Verbote wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens als Anerkennung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit des Einzelnen zu verstehen.146 Der Wettbewerb werde nicht um seiner selbst willen geschützt, sondern um die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Individuums zu gewährleisten.147 Den Verboten wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens könne somit sehr wohl ein Schutzcharakter zukommen. Die Diskussion in dieser Form hat sich heute weitgehend erledigt. Zum einen hat der Gesetzgeber im Laufe der erfolgten Novellierungen die meisten Bestimmungen, die lediglich ein Eingriffsrecht der Behörde enthielten oder nur die Unwirksamkeit bestimmter Absprachen vorsahen, in explizite Verbotsnormen umgewandelt. Zum anderen setzte sich in der Literatur die Auffassung durch, dass eine strenge Trennung zwischen öffentlichen und privaten Interessen im Kartellrecht nur schwer zu realisieren ist und dass Individualschutz und Institutionenschutz keinesfalls als Gegensätze zu begreifen sind.148 In vielen Fällen überschneiden sich nämlich Allgemein- und Individualinteressen. Der Wettbewerb als Institution kann ebenso durch die Rechtsverfolgung Einzelner geschützt werden, wie Marktteilnehmer von einem ausschließlich gemeinwohlbe-
142
Strickrodt, WuW 1957, S. 75 (81). Spengler, WuW 1960, S. 410 (417). 144 Ullrich, Mitarbeiter-FS Ulmer, S. 521 (522). 145 Flume, WuW 1956, S. 457 (467); Fikentscher, BB 1956, S. 793 (796); Merz, FS-Böhm, S. 227 (256); Koch, S. 15; Mailänder, S. 131; Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (157). 146 Mailänder, S. 131. 147 Biedenkopf, Freiheitliche Ordnung, S. 32; Lukes, S. 187 f. 148 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 25; Mailänder, S. 117; Merz, FS-Böhm, S. 227 (254 u. 256); Scholz, S. 87; Müller-Laube, S. 13; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 63; Hempel, S. 39. 143
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Kap. 1: Die Rechtslage in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle
zogenen Wettbewerbsschutz profitieren können.149 Aufgrund dieser Erwägung befürworteten manche sogar, zur Förderung des Allgemeininteresses das private Interesse zur Durchsetzung des Kartellrechts zu instrumentalisieren und den Schutzgesetzbegriff deshalb extensiv auszulegen.150 Gegen die generelle Aberkennung eines bewirkten Individualschutzes sprach schließlich, dass sich der Gesetzgeber deutlich für die grundsätzliche Möglichkeit eines zivilrechtlichen Drittschutzes ausgesprochen hatte. Diese gesetzliche Wertung konnte nicht unter der bloßen Berufung auf einen Institutionenschutz in ihr Gegenteil verkehrt werden.151 Recht bald wurde diese Auffassung durch den BGH gestützt.152 Nach Ansicht des Kartellsenats galt allgemein für das Kartellrecht, dass die im öffentlichen Interesse erlassenen Vorschriften in der Regel auch dem privatrechtlichen Schutz eines verletzten Unternehmens dienen. b) Die Schutzzweckdiskussion als geübte Rechtspolitik Mit der Anerkennung eines teilweisen Individualschutzes verlagerte sich die Diskussion zunehmend auf die Identifizierung derjenigen Vorschriften des GWB, denen ein Schutzgesetzcharakter zukommen sollte. Ebenfalls galt es, jeweils den geschützten Personenkreis abzugrenzen. Da das Gesetz hierfür keine weitergehenden Anhaltspunkte zur Verfügung stellte, wurde bald deutlich, dass die im allgemeinen Zivilrecht gültige Abgrenzungsformel zur Bestimmung von Schutzgesetzen im Kartellrecht an ihre Grenzen stieß.153 Hinsichtlich der einzelnen Schutzgesetze im GWB war die – wenngleich nicht unbestrittene – h. M. der Ansicht, dass als solche nicht die sog. Verbietbarkeitsnormen in Betracht kommen konnten, also die Normen, die die Kartellbehörden im Falle missbräuchlichen Verhaltens zum Erlass einer Verfügung ermächtigten.154 Notwendige Voraussetzung für einen Deliktsschutz im Rahmen 149 Teilweise wird dies aus dem Verhältnis von objektivem und subjektivem Recht abgeleitet, K. Schmidt, FS-Benisch, S. 293 (297); ders., Kartellverfahrensrecht, S. 321. 150 Ullrich, S. 367; Mailänder, S. 132; Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (159); Mestmäcker, DB 1968, S. 787 (789); Steindorff, ZHR 138 (1974), S. 504 (508 ff.). 151 So auch Scholz, S. 62. 152 BGH WuW/E BGH 288 (291) = BGHZ 29, 344 – Großhändlerverband II. 153 K. Schmidt, FS-Benisch, S. 293 (299). 154 BGH WuW/E BGH 1361 (1364) = BGHZ 64, 232 – Krankenhaus-Zusatzversicherung; WuW/E BGH 1299 (1300) – Strombezugspreis; Bornkamm, in: Langen/ Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 7 f.; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 28; Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 58; Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 4; Leo, WuW 1959, S. 485 (499); Witthuhn, S. 177. Ebenfalls K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 203 ff., der insoweit von „Rechtsfolgenanordnungen kraft Verfahrens“ spricht. A. A. aber: Müller-Laube, S. 42; Koch, S. 114; Mestmäcker, DB 1968, S. 787 (789 ff.); Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbeschränkung, S. 217 ff. Näher hierzu Witthuhn, S. 166 ff.
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des § 33 GWB a. F. war hiernach eine Verbotsnorm. Der Grund hierfür wurde in der gesetzlichen Differenzierung zwischen Schutzgesetzen und Schutzverfügungen gesehen. Entfalteten bereits Regelungen der Missbrauchsaufsicht unmittelbaren Drittschutz, wäre diese Unterscheidung sinnlos gewesen.155 Vielmehr habe der Gesetzgeber dort von einer Statuierung eines Verbots abgesehen, wo dessen unmittelbare Anwendung Schwierigkeiten bereitet hätte und deshalb die Bestimmung einer näheren Konkretisierung durch die Behörde bedurfte. Bei den Verbotsnormen des GWB war ein Rückschluss auf die Schutzgesetzeigenschaft schwierig. Weder dem Wortlaut noch dem Normzweck ließ sich ohne weiteres ein zusätzlich bezweckter Individualschutz entnehmen. Nichts anderes galt hinsichtlich des geschützten Personenkreises. Aus diesem Grund wurde die Schutzzweckdiskussion in der Literatur als wenig ertragreich156 und „scheinjuristische Spekulation“157 kritisiert. Die Schutzzweckermittlung diente letzten Endes vielfach der Rechtfertigung eines gewünschten Ergebnisses. K. Schmidt bemerkte hierzu, „[d]ie Handhabung des Schutzgesetzprinzips [sei] de lege lata geübte Rechtspolitik“158 gewesen. Festzuhalten ist, dass die Bestimmung der Schutzgesetzeigenschaft kartellrechtlicher Normen bis zuletzt einen Schwerpunkt in der kartellrechtlichen Diskussion eingenommen hatte. Die Möglichkeiten oder Grenzen eines zivilrechtlichen Drittschutzes waren bis zur 7. GWB-Novelle nicht abschließend geklärt. Dies kann insbesondere darauf zurückgeführt werden, dass die aufgeworfenen Fragen weniger rechtlicher als vielmehr rechtspolitischer Natur waren. c) Schutzgesetzeigenschaft des Kartellverbots Die Bestimmung der Schutzgesetzeigenschaft bereitete insbesondere hinsichtlich des § 1 GWB a. F. Schwierigkeiten. Anfänglich wurde der Schutzgesetzcharakter des Kartellverbots in Gänze bestritten. Das Kartellverbot war paradigmatisch für den Streit um den Individualschutz im Kartellrecht der 1950er und 1960er Jahre.159 Auch später bestanden aber noch Zweifel, weil § 1 GWB a. F. bis zur 6. GWB-Novelle als reine Rechtsschutzverweigerungsnorm ausgestaltet war und somit ein Verbot nicht explizit anordnete. Hieraus wurde gefolgert,
155
Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 58; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 28. Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 24; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 63; Buxbaum, S. 42; Scholz, S. 91. 157 Scholz, S. 91. 158 K. Schmidt, FS-Benisch, S. 293 (299). Vgl. hierzu auch Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 31. 159 Vgl. oben, S. 61 ff. Siehe etwa Benisch, WuW 1961, S. 764 (777); Leo, WuW 1959, S. 485 (492); Ballerstedt, JZ 1956, S. 267 (271); dagegen aber bereits: Fikentscher, BB 1956, S. 793 (795); Lukes, S. 185; Mailänder, S. 172 ff. (für eine Schutzgesetzeigenschaft von § 1 i. V. m. § 38 GWB). 156
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dass die Norm lediglich eine Regelung zum Innenverhältnis der Kartellbeteiligten enthielt.160 Eine hierauf gestützte generelle Versagung der Schutzgesetzeigenschaft war jedoch unter dem Einfluss der Rechtsprechung161 bald überholt und hatte sich mit der 6. GWB-Novelle gänzlich erledigt. § 1 GWB a. F. kam somit grundsätzlich als Schutzgesetz in Betracht. Die Diskussion verlagerte sich vielmehr auf die Frage, welche Personenkreise gegen welche Arten von Schädigungen geschützt würden. Eine abschließende Klärung konnte bis zuletzt nicht erzielt werden. aa) Wettbewerber Bereits früh war man der Ansicht, dass nicht dem Kartell angehörende Wettbewerber in den Schutzbereich des Kartellverbotes fallen können, soweit sie von den Wirkungen des Kartells in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit betroffen sind.162 Nach der grundlegenden Entscheidung Krankenhaus-Zusatzversicherung des BGH war dies insbesondere dann der Fall, wenn sich die wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise für die Wettbewerber als künstliche Marktzutrittsschranke auswirkt, weil das Kartellrecht der Offenhaltung der Märkte dient. Der deliktische Schutz konnte hingegen nicht so weit führen, dass Wettbewerber umfassend vor einem von horizontalen Absprachen ausgehenden Konkurrenzdruck geschützt werden. Insbesondere soweit der Wettbewerbsnachteil der Konkurrenten auf Effizienzsteigerungen der Kooperation zurückzuführen war, konnte hierauf kein Schadensersatzanspruch gestützt werden,163 da solche Nachteile gerade keine Auswirkungen eines geminderten, sondern eines gesteigerten Wettbewerbs sind. Notwendig war somit, dass die Wettbewerber rechtserheblich betroffen, d.h. in ihrer wirtschaftlichen Entfaltungsfreiheit spürbar beeinträchtigt waren.164
160 Vgl. Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 6 m. w. N. Dagegen etwa K. Schmidt, der darlegt, dass es sich hierbei um ein Scheinproblem handelt, da die Unwirksamkeitsanordnung ebenso wie etwa die Geldbuße nur die Sanktion eines dem § 1 GWB a. F. immanenten Verbots seien, ders., FS-Benisch, S. 293 (298). 161 BGHZ 64, 232 (236 ff.) = BGH WuW/E BGH 1361 – Krankenhaus-Zusatzversicherung; noch offen gelassen in BGH WuW/E BGH 941 (943) – Fahrlehrer; BGHZ 56, 327 (337) – Verbandszeitschrift. 162 BGHZ 64, 232 (236 ff.) = BGH WuW/E BGH 1361 – Krankenhaus-Zusatzversicherung; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 35; Bunte, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 1 Rdnr. 242; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 13; Breitkreutz, S. 74 ff. 163 BGHZ 96, 337 (351) = WuW/E BGH 2762 – Abwehrblatt II; Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 10; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 42. 164 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 42; IM/Zimmer (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 342; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 1 Rdnr. 14.
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bb) Unmittelbare Marktgegenseite Wesentlich größere Skepsis bestand hinsichtlich des Schutzes der unmittelbaren Marktgegenseite, also der Lieferanten und Abnehmer der Kartellanten. Ein solcher Schutz wurde zunächst mit der Begründung verneint, dass sich das Kartellverbot nur mittelbar und folglich als bloßer Reflex zugunsten der Marktgegenseite auswirke.165 Die Unklarheit rührte daher, dass sich dem Gesetz sowie den Materialien zum GWB von 1958 die Intention des Gesetzgebers nicht eindeutig entnehmen ließ. Zwar betonte die Regierungsbegründung die Bedeutung einer freien Bildung von Angebot und Nachfrage und die hieraus resultierende mögliche Schadensersatzsanktion,166 andererseits lassen sich den Protokollen des Rechtsausschusses auch sehr kritische Stimmen entnehmen.167 Die Annahme eines generellen Ausschlusses der Marktgegenseite aus dem Schutzbereich ließ sich jedoch nicht lange aufrecht erhalten, dient das Kartellverbot doch gerade dazu, die Auswahl- und Entscheidungsmöglichkeiten der Abnehmer zu gewährleisten.168 Dass letztere per se nicht im Schutzbereich des Kartellverbotes liegen, war deshalb wenig einsichtig. Um das Ausmaß der zivilrechtlichen Haftung dennoch in Grenzen zu halten, suchte man nach einer Möglichkeit zur Begrenzung des Kreises von Anspruchsberechtigten. Einen Ausweg sah man in der Statuierung eines zusätzlichen subjektiven Elementes. In der Familienzeitschrift-Entscheidung gelangte der BGH zu dem Schluss, dass die Marktgegenseite „jedenfalls dann und insoweit geschützt ist, als sich die Kartellabsprache oder das abgestimmte Verhalten gezielt gegen bestimmte Abnehmer und Lieferanten richtet.“169 Eine solche finale Schädigung ist etwa bei Submissionsabsprachen, boykottähnlichen Absprachen und Kartellen von Nachfragern 165 OLG Frankfurt WuW/E OLG 1615 (1615) – Hefekunden; OLG Karlsruhe WuW/E OLG 2085 (2086) – Multiplex; Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 7; ders., FS-Hartmann, S. 37 (39). 166 Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 25. 167 Vgl. hierzu die Stellungnahme der Abgeordneten Böhm und Wahl, nach der nicht von einer Schutzwirkung zugunsten von Abnehmern auszugehen sei. Auf keinen Fall sollten „Tausende und aber Tausende von Konsumenten oder Abnehmern auf Schadensersatz klagen [. . .], weil sie zu hohe Preise gezahlt haben.“ (Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht, Prot. 2/219, S. 76 f.). Anders hingegen äußert sich Böhm an anderer Stelle: Es werde „jeder geschützt, der in seinen materiellen Interessen dadurch benachteiligt wird, daß keine Konkurrenz besteht, daß jemand das Gesetz verletzt hat [. . .] Es soll sichergestellt werden, [. . .] daß die schwarze Kartellierung sozusagen unter denkbar größtes Risiko gestellt wird, auch unter denkbar größtes Schadensersatzrisiko, weil insofern das Kartellgesetz ein Schutzgesetz zugunsten aller ist, die durch die Einrichtung der Konkurrenz geschützt werden.“ (Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht, Prot. 2/211, S. 48). 168 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 49. 169 BGHZ 86, 325 (330) = BGH WuW/E BGH 1985 (1988) – Familienzeitschrift (ohne Hervorhebung). So auch BGH WuW/E BGH 1643 (1645) – BMW-Importe; BGH WuW/E BGH 2451 (2457) – Cartier-Uhren.
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gegeben. Richtet sich die Kartellabrede jedoch wie etwa bei Preiskartellen gegen die gesamte Marktgegenseite, konnte der geschädigte Abnehmer nach diesem Verständnis keine hinreichende Betroffenheit vorweisen. Obwohl sich aus der Formulierung des BGH („jedenfalls dann“) keinesfalls ergab, dass es sich bei dem Kriterium der Zielgerichtetheit um ein zwingendes Erfordernis im Rahmen der Anspruchsberechtigung der Marktgegenseite handeln sollte,170 wurde das Urteil überwiegend in dieser Weise interpretiert. Dieser vermeintlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung sind – zuletzt im Zuge des Vitaminkartells – viele der Instanzgerichte gefolgt.171 Diese restriktive Handhabung des Schutzgesetzerfordernisses im Hinblick auf die Anspruchsberechtigung von Abnehmern war ein wesentlicher Grund, warum die private Durchsetzung des Kartellrechts bisher in Deutschland nur eine geringe Bedeutung erlangt hat. In einigen obergerichtlichen Entscheidungen172 und insbesondere im Schrifttum173 ist das Finalitätsmerkmal zu Recht auf Widerspruch gestoßen. Zum einen führte es zu dem paradoxen Ergebnis, dass die Kartellanten bei besonders umfassenden Kartellen, die den gesamten Markt erfassten und sich somit nicht gegen einen bestimmten Marktteilnehmer richteten, privilegiert wurden.174 Karollus beschreibt diese Konsequenz als „Massenschadensbonus“.175 Auch ist das zugrunde gelegte Verständnis einer zielgerichteten Schädigung fragwürdig, da die Kartellanten auch bei umfassenden Kartellen ihre Kartellrendite durch eine planmäßige Schlechterstellung der Marktgegenseite generieren. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Kreis der Geschädigten hierbei um ein vielfaches größer ist. Auch die Befürchtung, dass die Haftung gegenüber der Marktgegenseite ohne eine Zielgerichtetheit zu unüberschaubaren und zufälli-
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So bereits Bulst, NJW 2004, S. 2201 (2202); Scheffler, EuZW 2005, S. 673
(673). 171 OLG Düsseldorf WuW/E OLG 4481 (4483) – Schmiedeeisenwaren; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 4454 (4454) – Ennepetal-Vertrag; OLG Celle WuW/E Verg 188 (188) – Feuerwehrbedarfsartikel; OLG Frankfurt WuW/E OLG 4475 (77) – Negatives Bieterabkommen; LG Berlin WW/E DE-R 1325 (1326) – Berliner Transportbeton II; LG Mainz WuW/E DE-R 1349 (1350) – Vitaminpreise; LG Mannheim GRUR 2004, S. 182 (184) – Vitaminkartell. 172 OLG Stuttgart WuW/E DE-R 161 (162 f.) – Carpartner II; OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 233 (240) – Inkontinenzhilfen („objektive Betroffenheit“); OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 143 (146) – Global One („konkretes Wettbewerbsverhältnis“ ausreichend); LG Dortmund WuW/E DE-R 1352 (1353) – Vitaminkartell (das eine unmittelbare und objektive Betroffenheit ausreichen ließ). 173 IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 16; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 53; Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 61; Breitkreutz, S. 171 ff.; Köhler, GRUR 2004, S. 99 (100); Bulst, NJW 2004, S. 2201 (2202); Berrisch/Burianski, WuW 2005, S. 878 (881). 174 Volhard, FS-Gaedertz, S. 599 (605); Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 53; Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 12. 175 Karollus, S. 351 f.
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gen Ergebnissen führen würde,176 überzeugt nicht. Bei der unmittelbaren Marktgegenseite handelt es sich um einen ohne weiteres bestimmbaren Personenkreis. Der Umstand, dass es sich hierbei um eine Vielzahl von potentiell geschädigten Akteuren handelt und dies ein beträchtliches Haftungsrisiko birgt, kann nicht als Begründung für eine Haftungsbefreiung herangezogen werden. Auch bei flächendeckenden Kartellen erleiden Abnehmer der Marktgegenseite Schäden aufgrund der beschränkten Auswahlfreiheit, wie dies etwa bei Submissionskartellen der Fall ist. Rechtspolitisch konnte es nicht überzeugen, warum Geschädigte in bestimmten Fallkonstellationen keine Kompensationsmöglichkeit haben sollten. Das Finalitätskriterium konnte schließlich auch unter europarechtlichen Aspekten nicht länger aufrechterhalten werden.177 cc) Mittelbare Abnehmer Vor dem Hintergrund der restriktiven Haltung seitens der Gerichte gegenüber dem Schutz der unmittelbaren Marktgegenseite verwundert es nicht, dass die Gerichte bislang keine Gelegenheit hatten, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob mittelbare Abnehmer (oder Lieferanten) vom Schutzbereich des § 1 GWB a. F. umfasst waren.178 Diese können einen Schaden dadurch erleiden, dass es unmittelbaren Abnehmern unter Umständen gelingt, wirtschaftliche Verluste infolge einer kartellbedingten Preiserhöhung auf sie abzuwälzen. Im Rahmen des Kapitels 5 wird näher auf diese Frage eingegangen.179 Vorwegzunehmen ist jedoch, dass mittelbare Abnehmer oder Lieferanten unter der alten Rechtslage nach der h. M. keine Möglichkeit hatten, Schadensersatzansprüche geltend zu machen, da man sie nicht vom Schutzbereich des § 1 GWB a. F. umfasst sah. dd) Kartellmitglieder Weitgehend Einigkeit bestand auch darin, dass Mitglieder des Kartells außerhalb des Schutzbereichs lagen.180 Obwohl das Kartellverbot die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der Marktteilnehmer gewährleisten soll, war man der Ansicht, dass Kartellmitglieder über die Nichtigkeit von kartellrechtswidrigen Ab-
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LG Mainz WuW/E DE-R 1349 (1350) – Vitaminkartell. Vgl. hierzu unten, S. 106 ff. 178 Mitunter wird ein Urteil des OLG Stuttgart dahingehend verstanden, dass Ansprüche mittelbarer Abnehmer in Betracht kommen sollen, vgl. WuW/E OLG 3490 (3491) – Yamaha. 179 Siehe hierzu unten, S. 339 ff. 180 KG WuW/E OLG 1903 (1905) – Air-Conditioning-Anlagen; LG Mannheim WuW/E LG/AG 259 (263) – Zweittaxi; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 39; IM/ Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 17; K. Schmidt, FS-Benisch, S. 293 (301); Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 18. 177
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reden hinreichend geschützt seien. Gegenstand des § 1 GWB a. F. war nämlich nicht der innere Kartellzwang, sondern die Außenwirkung des abgestimmten Verhaltens. Dieser generelle Ausschluss der Kartellmitglieder von zivilrechtlichen Ersatzansprüchen war allerdings im Lichte der EuGH-Rechtsprechung zweifelhaft, wenngleich in der Vielzahl der Fälle europarechtskonform.181 d) Schutzgesetzeigenschaft der weiteren Regelungen im GWB aa) Vertikalvereinbarungen Im Bereich der Vertikalvereinbarungen war die Schutzgesetzeigenschaft des Preis- und Konditionenbindungsverbots des § 14 GWB a. F. zumindest in der Literatur lange Zeit umstritten. Die Änderung der Regelung in eine Verbotsnorm im Zuge der 6. GWB-Novelle brachte hier Klärung und verlagerte den Streit auf die Bestimmung des geschützten Personenkreises. Weitgehend einig war man sich zuletzt, dass das durch die Vertikalvereinbarung gebundene Unternehmen in den Schutzbereich fiel, da die Norm in erster Linie den Zweck verfolgte, die Gestaltungsfreiheit für Zweitverträge sicherzustellen.182 Ebenso sah man die Wettbewerber des bindenden Unternehmens als geschützt an.183 Weniger eindeutig war dies hinsichtlich der Vertragspartner des Gebundenen.184 Ganz anders hingegen waren die Ansichten bezüglich des § 16 GWB a. F. Der Missbrauchsaufsicht über Ausschließlichkeitsbindungen wurde eine privatrechtliche Relevanz überwiegend abgesprochen.185 Grund hierfür war, dass die Norm nicht als Verbotsnorm ausgestaltet war, sondern lediglich die Kartellbehörde zu einem Eingreifen im Einzelfall ermächtigte. Erst eine behördliche Verfügung konnte eine Privatrechtswirkung auslösen und somit als Schutzverfügung fungieren.
181
Näher hierzu unten, S. 239 ff. Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 17; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 59; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 20; a. A. etwa MüllerLaube, S. 37 f. mit dem Hinweis, dass die Sanktion der Nichtigkeit ausreichend Schutz gewährleiste. 183 BGHZ 28, 208 (222) = WuW/E BGH 251 (259) – 4711; WuW/E BGH 2256 (2259) – Herstellerpreiswerbung; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 61; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 20; Müller-Laube, S. 39 f. (mit Nachweisen zu der damals noch ablehnenden h. L.). 184 Vgl. Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 60; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 20 (jeweils befürwortend); Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 19 (ablehnend). 185 BGH WuW/E BGH 347 (349) – Lesemappen; WuW/E BGH 1160 (1160) – Möbelkauf; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 380 (381) – cash-and-carry; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 63; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 22; Müller-Laube, S. 43; anders hingegen: Biedenkopf, Vertragliche Wettbewerbsbeschränkungen, S. 217 ff., 222; Koch, S. 114 f. 182
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bb) Einseitige wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen In großer Ausnahme zum sonstigen Kartellrecht bestand hinsichtlich einseitiger wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen nie die sonst zu verzeichnende allgemeine Skepsis gegenüber einem Individualschutz und einem privatrechtlichen Rechtsschutz zugunsten der Betroffenen. So verwundert es nicht, dass der privaten Kartellrechtsdurchsetzung einzig auf diesem Gebiet bisher eine gewisse praktische Bedeutung zukam.186 Ein Grund hierfür mag darin zu sehen sein, dass sich diese Verhaltensweisen in der Regel gegen ganz bestimmte Marktteilnehmer richten und somit die auch sonst geforderte finale Schädigung meist vorliegt. Wegen der sachlichen Nähe zu Fällen des § 826 BGB ist hier besonders offenkundig, dass man den Betroffenen einen geeigneten Rechtsschutz zur Verfügung stellen muss. Probleme hinsichtlich des sonst nur schwer abgrenzbaren berechtigten Personenkreises stellen sich darüber hinaus nicht. Einzig bei der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung (§ 19 GWB) war dies nicht von vornherein klar, weil die Vorgängernorm nur eine Eingriffsbefugnis zugunsten der Kartellbehörden, nicht aber ein ausdrückliches Verbot vorsah.187 Dieses Hindernis hatte der Gesetzgeber mit der 6. GWB-Novelle ausgeräumt, so dass hiernach kein Zweifel mehr an der Schutzgesetzeigenschaft bestand.188 Beim Behinderungsmissbrauch (§ 19 Abs. 4 Nr. 1 GWB) war das beeinträchtigte Unternehmen, beim Ausbeutungs- und Strukturmissbrauch (§ 19 Abs. 4 Nr. 2, 3 GWB) die Marktgegenseite geschützt. In Fällen eines Missbrauchs durch Zugangsverweigerung (§ 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB) gebührte der Schutz dem Unternehmen, dem der Netzzugang verweigert wird.189 Die Diskriminierungs- und Behinderungsverbote des § 20 Abs. 1–4 GWB waren seit jeher als Schutzgesetze anerkannt und können somit als „klassische Schutzgesetze“ gelten.190 In den Schutzbereich waren sämtliche unmittelbar und mittelbar betroffenen Dritten einzubeziehen. Voraussetzung war lediglich, dass das beeinträchtigte Unternehmen auf dem beherrschten Markt tätig ist.191 Auch hinsichtlich der Regelung über die Aufnahme in einen Wirtschafts- oder Berufs186
Vgl. oben, S. 50 ff. Aus diesem Grunde war die frühere h. M. der Auffassung, dass die Regelung in ihren früheren Fassungen keinen Schutzgesetzcharakter aufwies, vgl. Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 23. 188 Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 23; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 68; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 24. 189 Vgl. Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 23. 190 Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 24. Vgl. BGHZ 36, 91 (99 f.) = WuW/E BGH 442 (448) – Gummistrümpfe; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 25. 191 BGH WuW/E BGH 2483 (2490) – Sonderungsverfahren. 187
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verband (§ 20 Abs. 6 GWB) entsprach es stetiger Rechtsprechung, dass hierauf ein Anspruch auf Aufnahme gestützt werden konnte.192 Schließlich wurde auch das Boykottverbot des § 21 GWB als Schutzgesetz zugunsten der durch Boykott bedrohten oder angegriffenen Unternehmen begriffen.193 cc) Zusammenschlusskontrolle Nach weit überwiegender Ansicht wiesen weder die Regelungen über die Anmelde- und Informationspflichten bei Zusammenschlüssen (§ 39 GWB) noch die Vorschriften der materiellen Fusionskontrolle (§ 36 Abs. 1 GWB) einen Schutzcharakter auf.194 Sie dienten nicht dem Schutz bestimmter Personenkreise, sondern vielmehr dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung des Wettbewerbs als Institution. Dies zeigte sich auch daran, dass der Siebte Abschnitt des GWB über die Zusammenschlusskontrolle systematisch hinter dem § 33 GWB geregelt ist. Auch nach der 7. GWB-Novelle wird man an dieser Einschätzung festhalten müssen. e) Verstoß gegen Schutzverfügungen Neben einer Verletzung eines Schutzgesetzes kam nach § 33 GWB a. F. eine Schadensersatzpflicht darüber hinaus bei einem Verstoß gegen eine Verfügung der Kartellbehörde in Betracht, sofern die Verfügung den Schutz eines anderen bezweckte. Mit diesem Zusatz löste sich der Gesetzgeber vom Vorbild des allgemeinen Deliktsschutzes nach § 823 Abs. 2 BGB, um im Kartellrecht eine Haftungserweiterung zu erreichen.195 In der Literatur ist indes wiederholt bezweifelt worden, dass es einer ausdrücklichen Erweiterung wirklich bedurfte, um auch kartellbehördliche Verfügungen einzubeziehen.196 Der Begriff „Verfügungen“ i. S. d. § 33 GWB deckt sich mit den „Verfügungen“ oder „Anordnungen“ i. S. d. §§ 61 bzw. 81 Abs. 1 Nr. 6 lit. a GWB a. F. (§§ 61, 81 Abs. 2 Nr. 2 lit. a GWB n. F.) und erfasste somit kartellbehördliche Verwaltungsakte einschließlich einstweiliger Anordnungen.197 Wenngleich nicht unumstritten, galt 192 BGHZ 29, 344 (347 ff.) = WuW/E BGH 288 (291) – Großhändlerverband II; Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 25; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 72; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 25. 193 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 72. 194 KG WuW/E OLG 1758 (1759) – Weichschaum II; Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 59; Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 29; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 83 ff. 195 Vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 44. 196 Vgl. Nachweise zu der Diskussion bei Witthuhn, S. 42 ff. und Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 90. Für das allgemeine Deliktsrecht siehe bspw. Hager, in: Staudinger, § 823 Rdnr. G 10. 197 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 92.
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dies wohl auch hinsichtlich rein deklaratorischer Verfügungen, die einen sich unmittelbar aus dem Gesetz ergebenden Gesetzesverstoß sanktionieren, sofern die fragliche Norm als Schutzgesetz anerkannt war (etwa in Fällen der Untersagungsanordnung gemäß § 32 GWB a. F.).198 Die Frage, ob die kartellbehördliche Verfügung den Schutz eines anderen bezweckt, war nach denselben Kriterien zu beurteilen, die auch für Schutzgesetze galten.199 Neben dem Schutzzweck der der Verfügung zugrunde liegenden Norm waren Inhalt, Begründung und Zweck der Verfügung zu berücksichtigen. In der Praxis haben Schadensersatzklagen infolge eines Verstoßes gegen Schutzverfügungen keine große Bedeutung erlangen können.200 Seit im Zuge der 6. GWB-Novelle die meisten der sog. Verbietbarkeitsnormen in Verbotsnormen umgewandelt wurden und somit keiner Konkretisierung mehr durch die Kartellbehörde bedurften, bestand hierfür auch kaum noch eine Notwendigkeit. Allenfalls erfüllte die Haftungserstreckung auf Schutzverfügungen eine zusätzliche präventive Wirkung, welche die Unternehmen zur Befolgung behördlicher Verfügungen veranlasste.201 2. Rechtswidrigkeit und Verschulden Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit kartellrechtswidrigen Verhaltens gelten nach alter wie nach neuer Rechtslage dieselben Grundsätze wie im allgemeinen Deliktsrecht. Sie wird durch den Verstoß gegen das Schutzgesetz bzw. die Schutzverfügung indiziert.202 Ebenso kommen auch im Kartellrecht die allgemeinen Rechtfertigungsgründe wie etwa Notwehr, Notstand, Selbsthilfe oder Einwilligung in Betracht.203 Abzugrenzen von möglichen Rechtfertigungsgründen sind solche Umstände, die bereits auf Tatbestandsebene Berücksichtigung finden und in die Interessenabwägung einfließen.204
198 Vgl. Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 32; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 94 (alle befürwortend); dagegen: IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 34 (ablehnend). 199 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 95. 200 Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 30; Topel, in: Wiedemann, § 50 Rdnr. 67; Möschel, Rdnr. 1114. 201 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 90a. 202 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 113; Lettl, ZHR 167 (2003), S. 473 (483); Koch, S. 152; vgl. auch Palandt/Sprau, § 823 Rdnr. 59. 203 Vgl. im Einzelnen hierzu Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 115 ff. Die rechtfertigende Wirkung einer Einwilligung ist im Schrifttum jedoch nicht unumstritten. Wegen mangelnder Dispositionsbefugnis ablehnend etwa Koch, S. 152; Mailänder, S. 177. 204 So hat etwa in einer Entscheidung des BSG, der ein Boykottaufruf durch einen Physiotherapeutenverband gegen die gesetzlichen Krankenversicherungen zugrunde lag, die Berücksichtigung der Wahrnehmung berechtigter Interessen dazu geführt, dass
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Ebenso setzt eine Schadensersatzverpflichtung ein schuldhaftes Handeln voraus. Für die Bestimmung von Vorsatz und Fahrlässigkeit kann auf die allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätze verwiesen werden. Bezugspunkt für das Verschulden ist nur die Verletzung des jeweiligen Schutzgesetzes bzw. der Schutzverfügung, nicht hingegen der Schaden.205 Ebensowenig braucht dem Verletzer bekannt zu sein, dass es sich um ein Schutzgesetz handelt.206 Entscheidend ist, dass die Verletzung des Tatbestandes eines Schutzgesetzes für ihn voraussehbar und vermeidbar war. Eine Vorhersehbarkeit ist immer dann gegeben, wenn der Schädiger bei gehöriger Anspannung des Gewissens, d.h. unter Ausnutzung aller erreichbaren Erkenntnisquellen den verletzenden Charakter seines Verhaltens hätte erkennen können.207 Unter Umständen ist bereits in der Schutzgesetzverletzung ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden zu sehen.208 Wie im allgemeinen Zivilrecht ist auch im Kartellrecht nur unter sehr engen Voraussetzungen von einem entschuldbaren Rechtsirrtum auszugehen. Es reicht nicht aus, dass der Schädiger sein Verhalten für nicht durch ein kartellrechtliches Schutzgesetz verboten hält und dieser fehlerhafte Rechtsstandpunkt mangels höchstrichterlicher Klärung zu der speziellen Frage auch ernsthaft vertreten werden kann.209 Letztlich soll der Verletzer das Risiko der zweifelhaften Rechtslage tragen.210 Es ist fraglich, inwieweit diese strengen Maßstäbe auch nach der Umstellung auf ein System der Legalausnahme (insbesondere hinsichtlich vertikaler Vereinbarungen) uneingeschränkt Anwendung finden werden.211 Eine zu strenge Regelung im „Graubereich“ zwischen zulässigen und unzulässigen Verhaltensweisen kann zu einer Überabschreckung führen und Unternehmen wegen der Rechtsunsicherheit auch von kartellrechtlich zulässigen Geschäftspraktiken abhalten. Zumindest bei Hinzuziehung eines Kartellrechtsspezialisten wird dessen fachkundige Beratung den Verschuldensvorwurf in komplexen kartellrechtlichen Fragen regelmäßig entfallen lassen.212 Im Zusam-
die vorliegende Beeinträchtigung nicht als „unbillig“ i. S. d. § 21 GWB n. F. zu qualifizieren war, BSG GRUR-RR 2002, 210 (211). 205 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 120. So auch die h. M. i. R. d. § 823 Abs. 2 BGB, vgl. Hager, in: Staudinger, § 823 Rdnr. G 34. 206 BGH WuW/E BGH 54 (57) – Innungsboykott; Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 21. 207 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 124. 208 Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 120. Allgemein zu § 823 Abs. 2 BGB: RGZ 145, 107 (115); BGH VersR 1969, 181 (182); Hager, in: Staudinger, § 823 Rdnr. G 40. 209 BGH WuW/E BGH 2341 (2344 f.) – Taxizentrale Essen. Vgl. hierzu Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 33 Rdnr. 47. 210 BGH WuW/E BGH 2603 (2607) – Neugeborenentransporte. 211 So auch IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 27. 212 OLG Karlsruhe WuW/E OLG 3508 (3513) – Allkauf Saba II; WuW/E OLG 2217 (2224) – Allkauf Saba.
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menhang mit dem Europarecht ist das Verschuldenskriterium wiederholt in Kritik geraten.213 3. Schaden Eine weitere Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch ist naturgemäß das Vorliegen eines ersatzfähigen Schadens. In diesem Zusammenhang ergaben sich für die Geschädigten größte Probleme. Ein wesentliches Klagehindernis war in dem schwierigen Nachweis eines kausalen Schadens und der Bemessung der tatsächlichen Schadenshöhe zu sehen. Ebenso war nach der alten Rechtslage ungeklärt, inwieweit im Rahmen des Schadens von Abnehmern zu berücksichtigen war, dass diesen eine (teilweise) Abwälzung der kartellbedingten Überteuerungen auf ihre Folgeabnehmer gelungen war. Diese Probleme bestehen auch nach der 7. GWB-Novelle nahezu unverändert. Auf die Einzelheiten zu Schadensumfang und -bemessung wird deshalb im Rahmen des Kapitels 6 näher einzugehen sein. Für Einzelheiten zur Behandlung der sog. „passing-on defense“ nach altem und neuem Recht sei auf die Ausführungen im Kapitel 5 verwiesen.214 4. Gemeinschaftliche Haftung Bei gemeinschaftlichen Verstößen gegen das Kartellrecht (insbesondere bei Verletzungen des Kartellverbots gemäß § 1 GWB a. F.) darf beim Umfang der zivilrechtlichen Ersatzpflicht nicht die auch sonst im Deliktsrecht übliche gemeinschaftliche Haftung außer Acht gelassen werden, die zu einer erheblichen Ausweitung der potentiellen Sanktion führen kann. Ein geschädigter Abnehmer ist nämlich nicht darauf beschränkt, gegen seinen Vertragspartner vorzugehen. Auch im Kartelldeliktsrecht haften Mittäter und Beteiligte gemäß §§ 830, 840 BGB als Gesamtschuldner.215 Schließlich haben alle beteiligten Kartellmitglieder gleichermaßen zu der Verschlechterung der Marktbedingungen für den konkret Geschädigten beigetragen. Das in Anspruch genommene Kartellmitglied kann jedoch bei den anderen Kartellmitgliedern Regress nehmen (§§ 840 Abs. 2, 426 Abs. 1 Satz 1 BGB). Im Innenverhältnis wird in der Regel jedes Kartellmitglied für die Schäden seiner Abnehmer aufzukommen haben, da es als Nutznießer von der Schädigung gegenüber diesem Kunden auch profitiert hat.216 In der Literatur wurde erwogen, den Innenregress – wie in den USA217 213
Siehe hierzu unten, S. 110 ff. Siehe unten, S. 357 ff. 215 Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 44; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 139; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 6; Benisch, in: GK (4. Aufl.), § 35 Rdnr. 38; Köhler, GRUR 2004, S. 99 (101); Lettl, ZHR 167 (2003), S. 473 (491). 216 Vgl. Köhler, GRUR 2004, S. 99 (101). 217 Siehe hierzu unten, S. 195 ff. 214
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– aus Gründen der Prävention und unter Heranziehung des Gedankens der Rechtsschutzverweigerung (§ 817 Satz 2 BGB) auszuschließen.218 Für eine solche drastische Haftungsverschärfung finden sich jedoch keine Anhaltspunkte im Gesetz. Der Verweis auf § 817 Satz 2 BGB kann nicht überzeugen, da bei deliktischen Gesamtschuldnern dem Regresssuchenden notwendigerweise – sonst könnte eine gesamtschuldnerische Haftung gar nicht erst begründet werden! – auch die unerlaubte Handlung zur Last fällt. Gleichwohl verweist § 840 BGB auf die Regelungen zur Gesamtschuld ohne die Möglichkeit des Innenausgleichs auszuschließen. Auch de lege ferenda ist ein Bedürfnis für einen Ausschluss des Innenausgleichs im Kartellrecht nicht ersichtlich. Köhler weist zu Recht darauf hin, dass es eine unverhältnismäßige Sanktion darstellen würde, wenn ein Kartellmitglied, das eventuell nicht einmal Hauptverantwortlicher der Kartellabrede war, alleine für sämtliche verursachten Kartellschäden aufkommen müsste.219 Auch Gerechtigkeitserwägungen sprechen gegen eine solche Privilegierung der nicht in Anspruch genommenen Kartellmitglieder, die durch einen Regressausschluss von einer zivilrechtlichen Haftung gänzlich befreit würden.
IV. Der kartellrechtliche Schadensersatz im Zivilprozess Bei Auseinandersetzungen um eine Schadensersatzhaftung wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht handelt es sich um bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten, bei denen im Grundsatz die allgemeinen Vorschriften des Zivilprozessund des Gerichtsverfassungsrechts Anwendung finden.220 Allerdings sah das GWB von Anfang an für Kartellzivilverfahren in den §§ 87 ff. Sonderregelungen hinsichtlich der Zuständigkeit der Gerichte, Klageverbindungen und der Beteiligung des Bundeskartellamtes an den Verfahren vor. Mit Ausnahme der Zuständigkeitsregelungen soll auf die Sondervorschriften an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Befasst man sich mit der zivilprozessualen Seite des kartellrechtlichen Schadensersatzes, sind statt des gesetzlichen Sonderrechts vielmehr die faktischen Grenzen und die besonderen Auswirkungen der zivilverfahrensrechtlichen Grundsätze im Bereich des Kartellrechts von besonderer Relevanz. Hier ergeben sich im Vergleich zu sonstigen Zivilverfahren besondere Schwierigkeiten im Bereich der Sachaufklärung und des Beweisrechts.
218
So Lettl, ZHR 167 (2003), S. 473 (491 f.) in Bezug auf das Europarecht. Köhler, GRUR 2004, S. 99 (101) (Fn. 11). 220 IM/K. Schmidt (3. Aufl.), vor § 87 Rdnr. 3; Meyer-Lindemann, in: FK, § 87 Rdnr. 1. 219
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1. Zuständigkeit des Gerichts Im Rahmen der Zuständigkeit ist neben Fragen der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit bei grenzüberschreitenden Wettbewerbsbeschränkungen zu klären, ob ein deutsches Gericht überhaupt zur Verhandlung des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs international berufen ist. a) Internationale Zuständigkeit Dem Aspekt der internationalen Zuständigkeit kam jüngst wegen des Empagran-Urteils221 des US-amerikanischen Supreme Court und der Provimi-Entscheidung222 des englischen High Court eine besondere Aktualität zu.223 Transnationale Kartelle bringen das Problem des sog. „forum-shopping“ mit sich, da die Geschädigten in diesen Fällen nicht unbedingt in ihrem Heimatstaat Klage erheben, sondern vielmehr versuchen werden, ihre Ansprüche vor einem Gericht des Landes geltend zu machen, dessen Rechtsordnung prozessual wie materiell am vorteilhaftesten für sie ausgestaltet ist. Weder die Zivilprozessordnung noch das GWB enthalten ausdrückliche Regelungen hinsichtlich der internationalen Gerichtszuständigkeit. Nach deutschem autonomen internationalen Zivilprozessrecht richtet sich die Zuständigkeit deutscher Gerichte nach den Grundsätzen, die für die örtliche Zuständigkeit gelten (Grundsatz der Doppelfunktionalität).224 Hiernach ist maßgeblich, ob der Beklagte seinen Sitz in Deutschland hat (§§ 12, 13 ZPO) oder der Begehungsort der unerlaubten Handlung in Deutschland liegt (§ 32 ZPO). Im europäischen Kontext sind aber auch die vorrangigen Zuständigkeitsregeln der EuGVO,225 des EuGVÜ226 und des Luganer Übereinkommens227 zu beachten. Deutsche Zi221 F. Hoffman-LaRoche Ltd. et al. v. Empagran S.A. et al., 542 U.S. 155, 124 S.Ct. 2359 (2004). Vgl. hierzu Michaels/Zimmer, IPRax 2004, S. 451 ff. 222 High Court of England and Wales, QBD, Provimi et al. v Aventis S.A. et al. [2003] All E.R. (Comm) 683. 223 Eingehend zu der Thematik: Basedow, in: Basedow, S. 229 ff.; Zimmer/Leopold, EWS 2005, S. 149 ff. und Bulst, EWS 2004, S. 403 ff. 224 Musielak/Heinrich, ZPO, § 12 Rdnr. 17; IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 24. 225 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 2001, L 12/1 (auch Brüssel-I-VO genannt). 226 EWG-Übereinkommen v. 27.09.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen i. d. F. des 3. Beitrittsübereinkommens v. 26.05.1989, ABl. EG 1989, L 285/1. An die Stelle des EuGVÜ ist mit nur wenigen inhaltlichen Veränderungen im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten der EU die EuGVO getreten. Eine Ausnahme gilt allerdings für Dänemark (Art. 1 Abs. 3). Im Verhältnis zwischen Dänemark und den übrigen Mitgliedstaaten ist weiterhin das EuGVÜ anzuwenden. Vgl. Musielak/Heinrich, ZPO, § 12 Rdnr. 17.
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vilgerichte sind hiernach bei Kartellprivatklagen gemäß Art. 2 Abs. 1 EuGVO/ LugÜ zum einen zuständig, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in Deutschland hat. Weiterhin kann eine Partei bei einer unerlaubten Handlung vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht (Art. 5 Nr. 3 EuGVO/LugÜ). Der Begriff der unerlaubten Handlung ist gemeinschaftsrechtlich autonom auszulegen und umfasst auch Schädigungen durch Kartellverstöße.228 Als Ort des schädigenden Ereignisses gelten sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort,229 nicht jedoch der Ort des bloßen Schadenseintritts. Bei Ansprüchen gegen mehrere Beklagte wegen desselben Kartellverstoßes kann sich zum Zwecke einer Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen eine umfassende Zuständigkeit für alle Klagen nach Art. 6 Nr. 1 EuGVO/LugÜ ergeben. b) Sachliche und örtliche Zuständigkeit Die Sonderregelungen des GWB hinsichtlich der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit für Kartellzivilverfahren führen zu einer Verfahrenskonzentration. Der Gesetzgeber, der ursprünglich die Einrichtung eines obersten Bundesgerichts für alle Kartellrechtsstreitigkeiten erwogen hatte,230 beabsichtigte mit der Konzentration zum einen die Heranbildung besonderen juristischen Sachverstands im Bereich des Kartellrechts und zum anderen die Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsprechung in diesem recht komplexen Bereich.231 Die Notwendigkeit eines zusätzlichen ökonomischen Sachverstands bei der Entscheidung über Kartellsachen wurde mit der VO (EG) Nr. 1/2003 und der 7. GWBNovelle umso dringlicher, da die Gerichte nun auch im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG bzw. § 2 GWB über die positiven ökonomischen Auswirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen zu entscheiden haben. Erst kürzlich wurde deshalb erwogen, für den Bereich des Kartellrechts eine erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte einzuführen.232 Vorerst bleibt es jedoch bei der Zuständigkeit gemäß § 87 Abs. 1 GWB, nach der ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes die Landgerichte für Kartellrechtssachen ausschließlich sach227 Luganer Übereinkommen (LugÜ) über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 16.09. 1988, ABl. EG 1988, L 319/9. Das LugÜ gilt im Verhältnis der EFTA-Staaten untereinander und im Verhältnis zwischen den EG- und den EFTA-Staaten (Art. 54b LugÜ). 228 Vgl. Zimmer/Leopold, EWS 2005, S. 149 (150) m. w. N. 229 EuGH, Rs. 21/76, Slg. 1976, 1735, Rdnr. 25 – Mines de Potasse d’Alsace; Rs. C-51/97, Slg. 1998, I-6511, Rdnr. 27 f. – Réunion européenne; IM/Rehbinder (3. Aufl.), § 130 Abs. 2 Rdnr. 257; Zimmer/Leopold, EWS 2005, S. 149 (150). Näher hierzu Bulst, EWS 2004, S. 403 (405). 230 Reg.-Begr., BT-Drs. II/1158, S. 29. 231 Meyer-Lindemann, in: FK, § 87 Rdnr. 1; Ullrich, Mitarbeiter-FS Ulmer, S. 521 (524). 232 Näher hierzu Lübbig/le Bell, WRP 2006, S. 1209 (1211).
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lich zuständig sind. Entscheidend hierfür ist, dass sich der Klageanspruch aus einem Lebenssachverhalt ergibt, der nicht ohne Berücksichtigung kartellrechtlicher Normen und Grundsätze zu beurteilen ist.233 Im Berufungsverfahren ist beim Oberlandesgericht ein spezialisierter Kartellsenat zuständig. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich im Grundsatz nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 12 ff. ZPO. Neben dem allgemeinen Gerichtsstand kommen in Kartellzivilverfahren insbesondere der Gerichtsstand des Erfüllungsortes (§ 29 ZPO) und der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung (§ 32 ZPO) in Betracht. Das GWB enthält in §§ 89, 92 Ermächtigungen, die örtliche Zuständigkeit für mehrere Gerichtsbezirke bei einem Landgericht bzw. im Berufungsverfahren bei einem Oberlandesgericht zu konzentrieren. Die meisten Bundesländer haben hiervon Gebrauch gemacht.234 Infolgedessen wurden in diesen Ländern spezialisierte „Kartell-Landgerichte“ gebildet, die über eine gewisse kartellrechtliche Expertise verfügen. 2. Sachaufklärung Die Sachaufklärung bereitet dem Kläger bei kartellrechtlichen Sachverhalten oftmals große Schwierigkeiten. Anders als im behördlichen Verfahren und den anschließenden Beschwerdeverfahren gilt nämlich in Kartellzivilverfahren der auch sonst im Zivilprozess herrschende Beibringungsgrundsatz.235 Der Kläger muss somit die Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch darlegen. Dies wird ihm nicht immer leicht fallen. Als vorgelagertes faktisches Problem erweist sich bereits die Informationsasymmetrie zwischen Schädiger und Geschädigtem. In vielen Fällen hat der Betroffene gar keine Kenntnis von dem Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung oder wertet die die Wettbewerbsbeschränkung begründenden Sachumstände nicht als einen Kartellrechtsverstoß. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das im sonstigen Deliktsrecht in aller Regel nicht anzutreffen ist. Der Geschädigte ist deshalb darauf angewiesen, dass er Insider-Informationen aus dem schädigenden Unternehmen bzw. Hinweise aus der Presse erhält oder aber aufgrund eigener Marktbeobachtungen ein Verdacht hinsichtlich eines Rechtsverstoßes entsteht. Insbesondere die Teilnehmer der Marktgegenseite werden aber oftmals erst durch ein Herantreten der Kartellbehörden im Rahmen der behördlichen Ermittlung oder durch ein publik gewordenes Verwaltungsverfahren auf den Kartellverstoß und einen hierdurch begründeten Ersatzanspruch aufmerksam. 233
Vgl. Meyer-Lindemann, in: FK, § 87 Rdnr. 21. Vgl. etwa die Auflistung bei IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 23. 235 IM/K. Schmidt (3. Aufl.), § 87 Rdnr. 54. 234
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Aber selbst wenn ein Geschädigter davon überzeugt ist, dass er Opfer einer Wettbewerbsbeschränkung geworden ist, muss er für eine gerichtliche Geltendmachung seines Ersatzanspruches die dafür nötige Informationsbeschaffung betreiben. In den meisten Fällen fehlen ihm die nötigen Dokumente, um einen Verstoß darzulegen, und handfeste Informationen, auf die sich Kausalität und Schaden stützen ließen. Für eine Sachaufklärung bedarf es in aller Regel umfassender Erkenntnisse über den Markt, um den relevanten Produktmarkt, die Erreichung maßgeblicher Schwellenwerte (etwa bei Bagatellfällen i. S. d. de minimis-Regelungen) und die Auswirkungen der in Frage stehenden Verhaltensweise auf den Markt substantiiert benennen zu können. Die verstärkte wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Beurteilung von wettbewerbsbeschränkendem Marktverhalten („more economic approach“) kann darüber hinaus eine ökonomische Analyse erforderlich machen. Erfahrungen aus dem eigenen Geschäftsverlauf des Geschädigten reichen hierfür selten aus und machen unter Umständen umfassende Markterhebungen erforderlich. Hinsichtlich der Schwierigkeiten bei der Sachaufklärung kann zwischen Privatklagen, die unabhängig von behördlichen Verfahren initiiert werden (sog. Stand-alone-Verfahren), und Zivilverfahren im Anschluss an eine behördliche Entscheidung (sog. Follow-on-Verfahren) unterschieden werden. a) Stand-alone-Verfahren Die beschriebenen Schwierigkeiten ergeben sich insbesondere in Stand-aloneVerfahren. Hier bieten sich dem Kläger nur wenige Instrumente, die eine Informationsbeschaffung erleichtern können. Eine „pre-trial discovery“ wie im USamerikanischen Zivilprozessrecht,236 die einer Partei ein umfassendes Vorlagerecht bezüglich aller verfahrensrelevanten Dokumente sowie Befragungen der Gegenpartei oder Dritter erlaubt, kennt das deutsche Zivilverfahren nicht. Im deutschen Recht gibt es keine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht der Gegenseite.237 Auch die Ermittlungsmöglichkeiten der Kartellbehörden stehen einer Privatperson nicht zur Verfügung. Eine gewisse Hilfestellung für den Kläger können die Regelungen der §§ 142, 144 ZPO bieten, die – aufgrund einer Durchbrechung des Beibringungsgrundsatzes – Möglichkeiten einer gerichtlichen Aufklärung vorsehen. Gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann das Gericht anordnen, dass eine Partei die in ihrem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt. Die Entscheidung hierüber liegt im Ermessen
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Vgl. hierzu unten, S. 199 ff. BGH NJW 1990, 3151 (3151); Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 108 Rdnr. 8 mit Nachweisen der Gegenansicht. 237
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des Gerichts.238 Eine solche Möglichkeit hilft dem Kläger jedoch nur bedingt, wenn er keine bestimmten Dokumente benennen kann.239 Das Gericht kann nicht aufgrund eines unsubstantiierten, ins Blaue hinein erfolgten Parteivortrags Urkunden anfordern.240 Die Urkunden müssen aus dem Schriftsatz oder den eingereichten Unterlagen hervorgehen.241 An die Substantiierung dürfen aber keine überspannten Anforderungen gestellt werden; es genügt, wenn eine Identifizierung der vorzulegenden Unterlagen unschwer möglich ist.242 Eine weitere Durchbrechung des Beibringungsgrundsatzes liegt im § 144 ZPO, nach dem das Gericht nach freiem Ermessen und ohne Antrag der Parteien die Begutachtung durch Sachverständige anordnen kann. Wegen der Komplexität von Kartellrechtsstreitigkeiten ist zu Recht eine konsequente Anwendung dieser Möglichkeiten durch die Zivilgerichte befürwortet worden.243 Weiterhin kann der Kläger bei der Sachaufklärung auf materiellrechtliche Informationsansprüche zurückgreifen. Zu nennen ist hier etwa der Anspruch auf Vorlage der Handelsbücher nach §§ 102, 258 ff. HGB. Weiterhin kann unter Umständen aus den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ein allgemeiner Auskunftsanspruch hergeleitet werden.244 Schließlich kann unter Umständen auch die Beteiligung der Kartellbehörde am Zivilverfahren als sog. amicus curiae einen Beitrag zur Sachaufklärung leisten. Die Teilnahme der Kartellbehörden war bereits nach alter Rechtslage in § 90 GWB geregelt. Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 GWB kann der Präsident des Bundeskartellamts (in gewissen Fällen an dessen Stelle der Leiter des Landeskartellamts, vgl. Abs. 3), sofern er es zur Wahrung des öffentlichen Interesses als angemessen erachtet, aus den Mitgliedern des Bundeskartellamts eine Vertretung bestellen, die befugt ist, dem Gericht schriftliche Erklärungen abzugeben, auf Tatsachen und Beweismittel hinzuweisen, den Terminen beizuwohnen, in ihnen Ausführungen zu machen und Fragen an Parteien, Zeugen und Sachverständige zu richten. Die Entscheidung hierüber steht im freien Ermessen der Behörde.245 Aufgrund der Beteiligung wird die Behörde jedoch keine Prozesspartei, so dass weder die Dispositionsmaxime noch der Beibringungsgrundsatz hierdurch beeinträchtigt werden. Die Rechtsausführungen der Behörde sind 238
Zekoll/Bolt, NJW 2002, S. 3129 (3129). So auch Berrisch/Burianski, WuW 2005, S. 878 (883). 240 Zöller/Greger, ZPO, § 142 Rdnr. 2; Musielak/Stadler, ZPO, § 142 Rdnr. 4; Zekoll/Bolt, NJW 2002, S. 3129 (3130). 241 Zekoll/Bolt, NJW 2002, S. 3129 (3130). 242 Musielak/Stadler, ZPO, § 142 Rdnr. 4. 243 Hempel, S. 68; Kirchhoff, WuW 2004, S. 745 (751). 244 BGH WuW/E DE-R 303 (307) – Taxi-Krankentransporte; ZIP 1994, 974 (976 f.) – Cartier-Armreif; IM/Emmerich (3. Aufl.), § 33 Rdnr. 45; Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 206; Hempel, S. 59. Näheres hierzu unten, S. 469 ff. 245 Meyer-Lindemann, in: FK, § 90 Rdnr. 12. 239
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reine Anregungen, die das Zivilgericht in seiner Entscheidung nicht binden. Tatsachenvorträge werden nur dann zum Prozessstoff, wenn mindestens eine der Parteien sich diese zu eigen macht.246 Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollte die Beteiligung der Kartellbehörden weniger als Instrument der Sachaufklärung dienen oder dem Zivilgericht die Rechtsfindung erleichtern, sondern ausschließlich die Wahrnehmung öffentlicher Interessen bezwecken.247 Die Kartellbehörden sollen somit nicht „einer Partei zum Sieg verhelfen, sondern dem Wettbewerb.“248 Infolgedessen kann sich ein Opfer wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen die Sachkenntnis der Kartellbehörden nicht gezielt zur eigenen Informationsbeschaffung zunutze machen.249 Auf europäischer Ebene ist die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Zivilgerichten und der Kommission in Art. 15 VO (EG) Nr. 1/2003 geregelt. Die Pflicht der Kommission, die nationalen Gerichte bei der Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln zu unterstützen, wird bereits aus der allgemeinen Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit nach Art. 10 EG abgeleitet.250 Die Zusammenarbeit erfolgt ausschließlich zwischen dem jeweiligen Gericht und der Behörde, nicht aber direkt mit den Parteien des Rechtsstreits.251 Ebenso wie die Beteiligung der Kartellbehörden nach § 90 GWB ist die Zusammenarbeit objektiv und neutral ausgestaltet und dient nicht den Interessen der Prozessparteien, sondern allein dem öffentlichen Interesse.252 Die Prozessparteien können eine Beteiligung der Kommission vor ihrem Zivilgericht anregen, ein Antragsrecht hingegen besteht nicht.253 Im Unterschied zum GWB aber soll die Zusammenarbeit mit der Kommission durchaus dem Gericht die Anwendung des EG-Wettbewerbsrechts erleichtern.254 Die Kommission kann den nationalen Gerichten durch die Übermittlung von Informationen sowie durch nicht bindende 246 Hitzler, WuW 1982, S. 509 (512); IM/K. Schmidt (3. Aufl.), § 90 Rdnr. 8; Meyer-Lindemann, in: FK, § 90 Rdnr. 15. 247 Meyer-Lindemann, in: FK, § 90 Rdnr. 1; Hitzler, WuW 1982, S. 509 (510). 248 Hitzler, WuW 1982, S. 509 (513). 249 Nach Ansicht Ullrichs hat das Bundeskartellamt nur in unzulänglicher Weise die nötige Hilfestellung gegeben, da sich die Stellungnahmen oftmals nur auf Rechtsausführungen beschränkten. Viel wichtiger hingegen seien Analysen des relevanten Marktes und die Schilderung konkreter wirtschaftlicher Zusammenhänge, ders., MitarbeiterFS Ulmer, S. 521 (528 f.). 250 EuGH, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935, Rdnr. 53 – Delimitis; Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 15. 251 Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 15 Rdnr. 3. 252 Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 19. 253 Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 15 Rdnr. 3. 254 Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 17. Vgl. auch EuGH, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935, Rdnr. 53 – Delimitis.
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Stellungnahmen als Sachverständiger zur Verfügung stehen (Art. 15 Abs. 1, 3 VO (EG) Nr. 1/2003). Bei den Informationen kann es sich grundsätzlich um alle Arten von Informationen und Unterlagen handeln, über die die Kommission (etwa aufgrund eigener Ermittlungen) verfügt.255 Hierunter können z. B. Datenerhebungen wie Statistiken, Marktstudien und Wirtschaftsanalysen fallen.256 Möglich ist ebenfalls, dass die Kommission Untersuchungen oder Wirtschaftsanalysen aufgrund der Angaben des einzelstaatlichen Gerichts erstellt, so dass sie in diesen Fällen wie ein Rechts- oder Wirtschaftsgutachter beratend tätig wird.257 Die Verwertbarkeit der übermittelten Dokumente richtet sich nach den Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts (in Deutschland insbesondere nach § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).258 Noch nicht geklärt ist die Frage, ob ein von Amts wegen ergangenes gerichtliches Ersuchen um Informationen mit der Parteimaxime im deutschen Zivilprozess vereinbar ist.259 Stellungnahmen der Kommission zu wirtschaftlichen, sachlichen oder rechtlichen Aspekten260 können auf Ersuchen des Zivilgerichts (Abs. 1) oder von Amts wegen ergehen, wenn die kohärente Anwendung der Artt. 81 oder 82 EG dies erfordert (Abs. 3 Satz 3). Mündliche Stellungnahmen waren bislang nach Art. 15 Abs. 3 Satz 4 VO (EG) Nr. 1/2003 nur mit Erlaubnis des betreffenden Gerichts möglich.261
255
Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 15 Rdnr. 5. Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten (alte Fassung), ABl. EG 1993, C 39/6, Tz. 40; Kerse/Khan, Rdnr. 5-060; IM/K. Schmidt, EG-WettbR Bd. 2 (1. Aufl.), Verfahren B, Rdnr. 92. 257 EuGH, verb. Rs. C-174/98 P und C-189/98 P, Slg. 2000, I-47, Rdnr. 25 – Niederlande/van der Wal. Nach der Ansicht Forresters hat die Kommission jedoch oft vermieden, zu schwierigen Fragen Stellung zu nehmen, so dass sich die Zusammenarbeit nicht immer als hilfreich erwiesen habe, vgl. Diskussionsbericht, in: Ehlermann/ Atanasiu, S. 16. 258 Siehe hierzu die Ausführungen von Zuber, S. 115 ff.; Bartels, S. 190 ff. (192 ff.); Baur/Weyer, in: FK, Art. 81 (Zivilrechtsfolgen) Rdnr. 219 ff.; IM/K. Schmidt, EG-WettbR Bd. 2 (1. Aufl.), Verfahren B, Rdnr. 92. Vgl. ebenfalls: BGH WuW/E BGH 2183 (2186) – Grundig-Vertriebsbindungssystem; OLG Stuttgart WuW/ E OLG 3490 (3490) – Yamaha; OLG Hamm WuW/E OLG 4127 (4130) – Stadthallen-Restaurant; OLG Köln WuW/E 4499 (4502) – Getränkebezugsvertrag; OLG München WuW/E OLG 4415 (4418) – Brauereigaststätte. 259 Vgl. hierzu nur Zuber, S. 115 ff.; Bartels, S. 190 ff. (192 ff.). Bartels hält eine Befragung der Kommission durch ein deutsches Gericht in Analogie zu den §§ 96, 90 Abs. 2 GWB und unter Hinweis auf die gesteigerte Prozessleitungspflichten des Richters nach der ZPO-Reform von 2001 für möglich. 260 Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 27. Vgl. auch EuGH, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935, Rdnr. 53 – Delimitis/Henninger Bräu AG. 261 Der deutsche Gesetzgeber hat diese Befugnis jedoch im Rahmen der 7. GWB Novelle erweitert. Nach § 90a Abs. 2 Satz 5 GWB ist eine Zustimmung des Zivilgerichts auch für mündliche Stellungnahmen nicht erforderlich. 256
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Auch wenn somit Kartellopfern mit der teilweisen Durchbrechung des Beibringungsgrundsatzes (§§ 142, 144 ZPO), etwaige Auskunftsansprüchen und einer Beteiligung der Kartellbehörden Instrumente für eine erleichterte Informationsbeschaffung zur Verfügung standen, änderten diese nichts daran, dass Kläger in Kartellzivilverfahren auf immense Schwierigkeiten bei der Sachaufklärung stießen. b) Follow-on-Verfahren Ein wenig anders stellt sich die Situation in sog. Follow-on-Verfahren dar. Auch hier können dem Kläger die im Rahmen der Stand-alone-Verfahren genannten Instrumente von Nutzen sein. Darüber hinaus aber kann der Kläger unter Umständen von den Erkenntnissen des vorangegangenen behördlichen Verfahrens profitieren. Insbesondere hinsichtlich der Frage, ob der Beklagte einen Kartellrechtsverstoß begangen hatte, besteht die Möglichkeit, sich auf eine behördliche Feststellung eines Verstoßes zu berufen und Einsicht in die Akten der Kartellbehörde zu nehmen. Nach der alten Rechtslage kam der behördlichen Feststellung eines Verstoßes gegen ipso iure geltende Verbote des Kartellrechts, etwa im Rahmen einer Untersagungsverfügung gemäß § 32 GWB a. F. oder eines Bußgeldbescheids (§ 81 GWB), – anders als jetzt nach § 33 Abs. 4 GWB – keine das Zivilgericht bindende Wirkung zu.262 Gleichwohl waren behördliche Entscheidungen im Kartellzivilverfahren nicht ohne Bedeutung. Der Kläger konnte sich nämlich auf die behördliche Feststellung berufen, um den Verstoß substantiiert vorzutragen.263 Dies hatte zur Folge, dass der Beklagte sich nicht auf ein einfaches Bestreiten beschränken konnte, sondern seinerseits gehalten war, sich substantiiert zu äußern (§ 138 Abs. 2 ZPO).264 Das Zivilgericht konnte darüber hinaus ge262 IM/Emmerich (3. Aufl.), § 32 Rdnr. 13; Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 32 Rdnr. 17, 34; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 241 ff., 244; Hempel, WuW 2005, S. 137 (140); OLG Düsseldorf OLGZ 1994, 80 (81) (im Falle einer Bußgeldentscheidung), aber offen gelassen OLG Stuttgart WuW/E DE-R 161 (162) – Carpartner II; a. A.: Bornkamm, ZWeR 2003, S. 73 (81 f.); Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, S. 213 (219). Bornkamm/Becker gehen jedoch von einem eingeschränkten Verständnis einer Bindungswirkung aus. Hiernach sei es den Zivilgerichten lediglich verboten, durch ihre Entscheidung eine Behördenentscheidung zu konterkarieren (etwa die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs aus einem Vertrag, dessen Durchsetzung die Behörde untersagt hat). Nicht hingegen soll die bloße Feststellung des Verstoßes bindend sein, vgl. ZWeR 2005, S. 213 (219 f.) (Fn. 19). Hingegen kam konstitutiven Entscheidungen der Kartellbehörde durchaus eine privatrechtsgestaltende Wirkung zu und war somit auch für die ordentlichen Gerichte bindend, vgl. IM/Emmerich (3. Aufl.), § 16 Rdnr. 122. 263 OLG Düsseldorf OLGZ 1994, 80 (84); a. A.: KG KG-Report 1994, 60 ff. 264 OLG Düsseldorf OLGZ 1994, 80 (83). Allgemein: Zöller/Greger, ZPO, § 138 Rdnr. 8a. Laut dem OLG Düsseldorf konnte ein pauschales Bestreiten event. bereits die Voraussetzungen einer Geständnisfiktion i. S. d. § 138 Abs. 3 ZPO erfüllen, wonach die behaupteten Tatsachen als unstreitig anzusehen wären, vgl. OLGZ 1994, 80 (84).
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mäß § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die behördlichen Akten beiziehen und als Beweismittel würdigen, wenn eine Partei sich hierauf bezogen hatte.265 Wenngleich somit keine Bindungswirkung bestand, kam behördlichen Entscheidungen in anschließenden Kartellzivilverfahren durchaus eine Indizwirkung in Form eines prima-facie-Beweises und somit eine faktische Bindungswirkung zu.266 Eine rechtliche Verbindlichkeit kam bereits vor der 7. GWB-Novelle Entscheidungen der Kommission zu. Art. 16 VO (EG) Nr. 1/2003 sieht hierzu vor, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten bei Anwendung der Artt. 81 oder 82 EG keine Entscheidungen erlassen dürfen, die einer bereits getroffenen Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen.267 Zumindest hinsichtlich des Vorliegens eines Kartellrechtsverstoßes waren dann dem Kläger die immensen Schwierigkeiten bei der Sachaufklärung genommen. Einen weiteren Vorteil kann ein Kartellopfer aus einem abgeschlossenen Verfahren der Kartellbehörde ziehen, wenn es ihm gelingt, unmittelbar – und nicht erst über das Gericht im Wege der Beiziehung gemäß § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO – Zugriff auf die behördlichen Akten zu nehmen. Ging dem Zivilprozess ein Bußgeldverfahren voraus, kommt hier ein Recht auf Akteneinsicht gemäß §§ 81 ff. GWB i. V. m. §§ 46 Abs. 1, 3 Satz 4, 2. HS OWiG, 406e StPO in Betracht.268 Da Kartellverstöße in § 81 GWB als Ordnungswidrigkeiten normiert sind, finden im Rahmen des Bußgeldverfahrens das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten und ergänzend auch Regelungen der Strafprozessordnung Anwendung. Das Akteneinsichtsrecht nach §§ 46 OWiG, 406e StPO steht nur dem durch die verfolgte Ordnungswidrigkeit unmittelbar Verletzen zu und kann grundsätzlich nur von einem Rechtsanwalt ausgeübt werden. „Verletzte“ i. S. d. § 406e StPO sind die unmittelbar an ihrem Körper, Eigentum oder Vermögen Geschädigten.269 Gegenstand des Einsichtsrechts können zum einen Akten, also etwa Geschäftsunterlagen, Unterlagen, die den Gang der Ermittlungen dokumentieren oder beigezogene Akten, und zum anderen amtlich verwahrte Beweisstücke sein.270 Weiterhin muss der Verletze ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht schlüssig darlegen. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Geltend-
265
Näher hierzu Hempel, WuW 2005, S. 137 (141). Vgl. Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 12 f.; Böge/Ost, ECLR 2006, S. 197 (199). 267 Die Frage, ob Zivilrichter an Verbotsentscheidungen der Kommission gebunden sind, war zu Zeiten der alten Kartellverfahrensverordnung 17/62 in der Literatur umstritten. Vgl. hierzu Zuber, S. 53 ff.; Bornkamm, ZWeR 2003, S. 73 (79 f.); C. Jones, S. 109 ff. Näher zu Art. 16 VO 1/2003 siehe unten, S. 155 ff. 268 Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK, Anh. § 81 Rdnr. 75 f.; Jüntgen, WuW 2007, S. 128 (130). 269 KK/Lampe, OWiG, § 46 Rdnr. 47a. 270 KK/Lampe, OWiG, § 46 Rdnr. 47a. 266
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machung möglicher zivilrechtlicher Ansprüche geprüft werden soll.271 Die Einsicht ist aber nach § 406e Abs. 2 StPO zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen (etwa wegen der Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen272) entgegenstehen. Gerade die Einsicht in Kronzeugendokumente dürfte deshalb versagt bleiben.273 Im Verwaltungsverfahren gab es bisher ein allgemeines Recht auf Akteneinsicht nur über § 29 VwVfG und § 72 GWB.274 Dieses galt jedoch nur den Beteiligten des Verwaltungsverfahrens und endete mit Abschluss des Verfahrens.275 Ein zusätzlicher, weitergehender Zugang zu behördlichen Informationen eröffnet sich nun nach dem am 1. Januar 2006 in Kraft getretenen Informationsfreiheitsgesetz (IFG).276 Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 IFG hat grundsätzlich jeder gegenüber den Behörden des Bundes, und somit auch gegenüber dem Bundeskartellamt, einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen. Gegenstand des Anspruchs sind sämtliche Aufzeichnungen, die amtlichen Zwecken dienen, ohne Rücksicht auf die Art der Speicherung. Informationen, die im Laufe eines Verwaltungsverfahrens gewonnen oder verarbeitet wurden, unterliegen ebenso dem Anspruch wie Informationen, die eine Behörde im Zuge der allgemeinen Verwaltungstätigkeit gesammelt hat.277 Der Informationsanspruch gilt jedoch nicht unbegrenzt. Schranken findet der Anspruch im Schutz von personenbezogenen Daten (§ 5), von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (§ 6) sowie im Schutz öffentlicher Interessen, wie etwa dem Schutz laufender Behördenverfahren (§ 4). Gemäß § 3 Nr. 1 d) IFG besteht ein Anspruch auf Informationszugang ebenfalls nicht, wenn das Bekanntwerden der Information nachteilige Auswirkungen auf die Kontroll- und Aufsichtsaufgaben der Wettbewerbsbehörden haben kann.278 Ein Bekanntwerden von Unternehmens- und Marktdaten, die die Kartellbehörden im Rahmen ihrer Tätigkeit erhalten und ausgewertet haben, kann u. U. den Wettbewerb zwischen den Unternehmen behindern oder verfälschen.279 Das neue IFG soll nicht dazu genutzt werden, Konkurrenten auszuspähen und sich dadurch Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Es bleibt deshalb ab271
Göhler/Seitz, § 46 Rdnr. 20d; so auch Lampert/Weidenbach, WRP 2007, S. 152
(158). 272
Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 406e StPO, Rdnr. 9. Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006, Tz. 22; kritisch Lampert/Weidenbach, WRP 2007, S. 152 (158). 274 IM/K. Schmidt (3. Aufl.), § 56 Rdnr. 11. 275 Vgl. hierzu Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 29 Rdnr. 37 f. 276 BGBl. I 2005, 2722. Zum Informationsanspruch gegenüber Kartellbehörden: Burholt, BB 2006, S. 2201 ff.; Leopold, WuW 2006, S. 592 ff. Allgemein zum IFG: Rossi, Handkommentar IFG (2006); Kugelmann, NJW 2005, S. 3609 ff.; Schmitz/Jastrow, NVwZ 2005, S. 984 ff. 277 Kugelmann, NJW 2005, S. 3609 (3610). 278 Vgl. Rossi, IFG, § 3 Rdnr. 22; Burholt, BB 2006, S. 2201 (2203). 279 Vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. 15/4493, S. 9 f. 273
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zuwarten, inwieweit das IFG die Bemühungen der Kläger bei der Sachaufklärung in Kartellzivilverfahren tatsächlich erleichtern wird. Möchte eine Prozesspartei von einem Kartellverfahren der Kommission profitieren, können sich insbesondere Ansprüche auf Einsicht der Behördenakten aus Art. 255 EG und der sog. Transparenzverordnung VO (EG) Nr. 1049/2001280 ergeben.281 Die Kommission hat in den Jahren seit Inkrafttreten eine stetige Steigerung der Antragszahlen verzeichnet. Unter anderem wird gerade dem Bereich Wettbewerb ein gesteigertes Interesse entgegengebracht. Hinsichtlich Untersuchungen im Bereich der Wettbewerbspolitik wurden Anträge jedoch mehrfach unter Berufung auf den Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten (Artikel 4 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1049/2001) verweigert.282 Kronzeugendokumente dürften in jedem Fall vor einer Einsichtnahme geschützt sein.283 Neben den Rechten aus der Transparenzverordnung kann sich unter bestimmten Umständen für Außenstehende auch unmittelbar aus dem Kartellverfahrensrecht ein Recht auf Akteneinsicht ergeben. So hat jüngst das EuG in der Rechtssache Österreichische Postsparkasse entschieden, dass auch Verbraucher, die weder Beschwerdeführer noch unmittelbar an dem Kartellverfahren beteiligt sind, Einsicht in eine nichtvertrauliche Fassung der Akten nehmen können, sofern sie durch die etwaige Wettbewerbsbeschränkung in ihren wirtschaftlichen Interessen beeinträchtigt sind.284
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ABl. EG 2001, L 145/43. Vgl. hierzu auch Jüntgen, WuW 2007, S. 128 (130); Lampert/Weidenbach, WRP 2007, S. 152 (153 ff.). Vgl. aber auch Soltész/Marquier/Wendenburg, EWS 2006, S. 102 ff., die der Auffassung sind, dass das Recht auf Akteneinsicht im Kartellverfahren gem. Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 als lex specialis den Regelungen der Transparenzverordnung vorgehe. 282 Vgl. hierzu den Bericht der Kommission über die Ausführung der VO 1049/ 2001 für das Jahr 2004, KOM(2005) 348 endgültig, Tz. 4.1, 4.3, 5.3. Siehe ferner die Entscheidung des EuG, Rs. T-2/03, Slg. 2005, II-1121 – VKI /Kommission = EuZW 2005, 566 m. Anm. Nordmann. In der zugrundeliegenden Kommissionsentscheidung wurde die Akteneinsicht sowohl auf Art. 4 Abs. 2, 3. Gedankenstrich mit Hinweis auf das noch anhängige Nichtigkeitsverfahren gegen die Entscheidung und einen zu befürchtenden Konflikt mit der Kronzeugenregelung als auch auf Art. 4 Abs. 2, 1. Gedankenstrich (Schutz geschäftlicher Interessen) sowie 2. Gedankenstrich (Schutz von Gerichtsverfahren) und Art. 4 Abs. 1, lit. b (Schutz der Privatsphäre und der Integrität des Einzelnen) gestützt. Das Gericht musste hierzu jedoch keine Stellung nehmen, da sich die Nichtigkeit der Verweigerung bereits daraus ergab, dass die Kommission die Akteneinsicht vollständig abgelehnt hatte und nicht hinreichend darlegen konnte, dass der Arbeitsaufwand aufgrund des Umfanges der betreffenden Akte einer konkreten und individuellen Prüfung der enthaltenen Dokumente entgegenstand. Siehe hierzu auch Soltész/Marquier/Wendenburg, EWS 2006, S. 102 ff. 283 Europ. Kommission, Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EG 2006, C 298/17 Tz. 40; Jüntgen, WuW 2007, S. 128 (130). 284 EuG, verb. Rs. T-213/01 u. T-214/01, Slg. 2006, II-1601, Rdnr. 106 ff. – Österreichische Postsparkasse. 281
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3. Beweisführung Bleiben trotz aller Versuche einer umfassenden Sachaufklärung Wissenslücken bestehen – und dies wird in kartellzivilrechtlichen Verfahren sehr häufig der Fall sein –, so stellt sich die Frage, inwieweit den Geschädigten im Rahmen der Beweisführung Erleichterung zu verschaffen ist. Denn auch zur Geltendmachung eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs muss ein Kläger grundsätzlich sämtliche Anspruchsvoraussetzungen (insb. Kartellrechtsverstoß, Kausalität und Schaden) beweisen. Gemäß dem im deutschen Zivilprozessrecht herrschenden Grundsatz der freien Beweiswürdigung entscheidet das Zivilgericht nach freier Überzeugung über das Ergebnis der Beweisaufnahme (§ 286 ZPO). Maßgeblicher Stand für den Vollbeweis ist die persönliche Gewissheit des Richters. Gerade in Kartellzivilverfahren werden dem Kläger diese zivilprozessualen Grundsätze des Beweisrechts besondere Schwierigkeiten bereiten. Eine gewisse Entlastung kann sich in Einzelfällen mittels gesetzlicher Vermutungen, eines verminderten Beweismaßes und sonstiger Beweiserleichterungen ergeben. Im Rahmen der Beweisführung ist zunächst zu beachten, dass solche Umstände gar nicht beweisbedürftig sind, für die eine gesetzliche Vermutung besteht.285 Eine solche widerlegliche Vermutung sieht das GWB etwa in § 19 Abs. 3 Satz 1 hinsichtlich des Vorliegens einer marktbeherrschenden Stellung vor. Diese materielle Beweislastregel findet nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im Zivilprozess Anwendung.286 Eine ähnliche Regelung findet sich in § 20 Abs. 2 Satz 2 GWB bezüglich der Annahme relativer Marktmacht.287 Eine wichtige Form der Beweiserleichterung bietet der Anscheinsbeweis (prima facie-Beweis). Hierbei werden mit Hilfe der allgemeinen Lebenserfahrung fehlende konkrete Indizien bzw. Informationslücken bei der Beweiswürdigung überbrückt.288 Er erlaubt bei typischen Geschehensabläufen insbesondere den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs oder eines schuldhaften Verhaltens ohne exakte Tatsachengrundlage, sondern auf Grund von Erfahrungsgrundsätzen.289 Der Gegner kann den Anschein durch einen vereinfachten Gegenbeweis erschüttern. Hierzu muss er nur die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs nachweisen. Als gesetzliche Form des Anscheinsbeweises ist die Vermutung des § 20 Abs. 5 GWB zu verstehen.290 Hiernach obliegt es einem Unternehmen, den Anschein einer Ausnutzung der Marktmacht zu widerlegen, sofern sich auf Grund bestimmter Tatsachen nach 285 286 287 288 289 290
Vgl. Zöller/Greger, ZPO, vor § 284 Rdnr. 10. IM/Markert (3. Aufl.), § 20 Rdnr. 27; IM/Möschel (3. Aufl.), § 19 Rdnr. 90. Vgl. hierzu IM/Markert (3. Aufl.), § 20 Rdnr. 83 ff. Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 12 Rdnr. 17. Zöller/Greger, vor § 284 Rdnr. 29. IM/Markert (3. Aufl.), § 20 Rdnr. 322.
V. Die Hemmnisse in der privaten Durchsetzung vor der 7. GWB-Novelle
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allgemeiner Erfahrung ein solcher Anschein ergibt. Letztlich kann ein Kläger im Rahmen des Schadensnachweises vom reduzierten Beweismaßstab des § 287 ZPO profitieren. Einzelheiten hierzu sind im Rahmen des Kapitels 6 zu behandeln.
V. Die Hemmnisse in der privaten Durchsetzung vor der 7. GWB-Novelle Wie eingangs dargestellt, konnten die private Kartellrechtsdurchsetzung und im Besonderen der Schadensersatz in Deutschland bislang keine große Bedeutung erlangen. Der Blick auf die geschichtliche Entwicklung des kartellrechtlichen Schadensersatzes, insbesondere aber die Analyse der materiellrechtlichen Voraussetzungen und der prozessualen Rahmenbedingungen zeigen, dass hierfür handfeste Gründe vorliegen. Die teilweise in der älteren kartellrechtlichen Literatur unternommene Deutung, die geringe Anzahl von Privatklagen lasse sich darauf zurückführen, dass die Geltendmachung von Ersatzansprüchen dem „deutschen Unternehmergeist“ widerspreche, der eine Bereicherung unter Berufung auf das „ungeliebte Kartellgesetz“ nicht zulasse,291 kann somit nicht geteilt werden. Vielmehr haben sich bei der Betrachtung zahlreiche faktische, gesetzlich bedingte aber auch richterrechtlich verursachte Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Durchsetzung von Ansprüchen nach § 33 GWB gezeigt. Als erste Hürde sind die enormen faktischen Schwierigkeiten anzuführen. Im Bereich des Kartelldeliktsrechts ist sehr häufig eine Informationsasymmetrie zwischen Schädiger und Geschädigtem zu verzeichnen. Diese Informationsdefizite können zum einen dazu führen, dass letzterem bei verdeckten Wettbewerbsbeschränkungen die unerlaubte Handlung (zunächst) nicht bewusst wird. Zum anderen bereiten die Defizite dem Kläger in jedem Fall Probleme bei der Sachaufklärung und der nötigen Beweisführung vor Gericht. In prozessualer Hinsicht ist zu bedenken, dass der Nachweis des Kartellrechtsverstoßes, wie auch von Kausalität und Schaden äußert schwierig zu erbringen ist.292 Im Übrigen sind Kartellzivilverfahren angesichts der üblichen Streitwerte und des Aufwandes für eine Sachaufklärung mit hohen Kostenrisiken verbunden.293 Dieses Kostenrisiko hat sicherlich insbesondere kleinere Unternehmen von der Klageerhebung abgehalten. Als wesentlich günstigere Alternative dürfte es sich manches Mal erwie291
So aber Benisch, FS-Hartmann, S. 37 (37). So bereits Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81 Rdnr. 243; Basedow, in: Liber Amicorum Mestmäcker, S. 15 (33 ff.); Volhard, FS-Oppenhoff, S. 509 (510); Hempel, S. 83; Witthuhn, S. 81; Scheffler, EuZW 2005, S. 673 (673); Zäch, FS-Soltysinski, S. 1059 (1062). 293 K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 105; Soell, FS-Wahl, S. 439 (443 ff.); Hempel, S. 84; Witthuhn, S. 81; Scheffler, EuZW 2005, S. 673 (673); Zäch, FS-Soltysinski, S. 1059 (1063). 292
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Kap. 1: Die Rechtslage in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle
sen haben, die Kartellbehörde auf Regelverstöße hinzuweisen. So konnte zumindest für die Zukunft ein wettbewerbskonformes Verhalten des Delinquenten erzielt werden. In materiellrechtlicher Hinsicht lag eine wesentliche Hürde in dem Schutzgesetzerfordernis des § 33 GWB a. F.294 Zunächst war dieses Tatbestandsmerkmal Anknüpfungspunkt für die langjährige Diskussion über einen ausschließlichen Institutionenschutz durch das GWB. In den letzten Jahrzehnten war jedoch hiermit mehr die Frage verbunden, wer in den Schutzbereich der einzelnen Verbotsgesetze fiel. Die sehr enge Auslegung der kartellrechtlichen Normen hinsichtlich des geschützten Personenkreises durch die Zivilgerichte stand insbesondere Abnehmerklagen im Wege. Schon vor 30 Jahren wurde deshalb in der Literatur bemängelt, dass die Schwierigkeiten im Rahmen der Anspruchsberechtigung weniger Probleme des gesetzlichen Kartelldeliktsrechts, als vielmehr Schwächen der verbreiteten Gerichtspraxis waren.295 So gesehen ist das Schutzgesetzerfordernis in der Praxis unnötig zum Hindernis in der privaten Durchsetzung gemacht worden.296 Ein weiteres materiellrechtliches Defizit lag in der ungeklärten Rechtslage hinsichtlich der Handhabung der Schadensabwälzung bei Ansprüchen von Erstabnehmern. Die restriktive Haltung einiger Instanzgerichte machte Abnehmerklagen zusehends unattraktiv. Insgesamt kann die nur zögerliche Gewährung von Ersatzansprüchen durch die Rechtsprechung der letzten 50 Jahre auch historisch erklärt werden. Sie spiegelt die Skepsis wider, die lange Zeit – und teilweise noch bis zum heutigen Tage – einer Durchsetzung des Kartellrechts durch Privatpersonen entgegengebracht wurde. Den sehr komplexen Bereich der Wettbewerbsaufsicht wollte man lieber den Aufsichtsbehörden überlassen. Kein Grund für die geringe Bedeutung der privaten Durchsetzung kann hingegen in den mangelnden Anreizen gesehen werden, die die Gewährung eines einfachen Schadensersatzes bewirkt. Zweifellos würde die Vervielfachung des tatsächlich erlittenen Schadens den Anreiz zur Klageerhebung verstärken. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, dass ein einfacher Schadensersatz per se keinen ausreichenden Anreiz schaffen kann. Auch im sonstigen Deliktsrecht stellt ein einfacher Schadensersatz kein Hindernis zur Rechtsdurchsetzung dar. Vielmehr muss ein Mehrfachschadensersatz als ein Mittel zur Überwindung anderweitiger Defizite verstanden werden. Ein weiteres Hemmnis für Ansprüche nach § 33 GWB dürfte in der (hier nicht näher diskutierten) schwierigen Handhabung des materiellen Kartellrechts zu sehen sein, die das Prozessrisiko für Schadensersatzklagen zusätzlich erhöht. Beim Kartellrecht handelt es sich um eine sehr komplexe Materie, deren Be294 Witthuhn, S. 78; Hempel, S. 83; Hartog/Noack, WRP 2005, S. 1396 (1403); Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1125); Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 38. 295 K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 11. 296 Scheffler, EuZW 2005, S. 673 (673).
V. Die Hemmnisse in der privaten Durchsetzung vor der 7. GWB-Novelle
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handlung neben rein juristischen Fragen die Berücksichtigung ökonomischer Erwägungen erfordert.297 Letzteres wird zunehmend dadurch verstärkt, dass in der neueren Wettbewerbspolitik ein Bestreben besteht, einer nach Effizienzgesichtspunkten geleiteten Anwendung des materiellen Kartellrechts mehr Raum zu geben (sog. „more economic approach“). Von eindeutigen Fällen wie etwa Hardcore-Kartellen abgesehen, gibt es einen großen Graubereich von Verhaltensweisen, deren kartellrechtliche Beurteilung ex ante nicht eindeutig zu bestimmen ist. Die Beurteilung durch das Gericht ist vor diesem Hintergrund nur sehr schwer vorhersehbar. Letztlich ist in Fällen, in denen der Geschädigte in wirtschaftlicher Abhängigkeit zum Delinquenten steht, die Sorge vor Repressalien ein ausschlaggebender Faktor für die bisherige Zurückhaltung der Geschädigten. Ein bestehendes wirtschaftliches Ungleichgewicht senkt naturgemäß die Abwehrbereitschaft des Betroffenen.298 Hält sich der erlittene wirtschaftliche Verlust in Grenzen, wird das primäre Interesse des Geschädigten darin liegen, die Wettbewerbsbeschränkung nur für die Zukunft aus der Welt zu schaffen, während auf weitere Maßnahmen aus Rücksichtnahme auf die künftige Geschäftsbeziehung verzichtet wird. Mögliche Vergeltungsmaßnahmen könnten nämlich in ihrem wirtschaftlichen Ausmaß den bisher eingetretenen Schaden empfindlich übersteigen. Viele der hier aufgeführten Gründe für die geringe Bedeutung der privaten Durchsetzung im Kartellrecht wurden vor einigen Jahren im Zuge der Zivilklagen im Anschluss an das Vitaminkartell noch einmal bestätigt. Nicht zuletzt die Erfahrungen dieser jüngsten Rechtsprechung haben den Gesetzgeber dazu veranlasst, das Kartelldeliktsrecht neu zu fassen.
297 Basedow, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 137 (143); Bornkamm, Die Rolle des Zivilrichters, S. 11. 298 Witthuhn, S. 80.
Kapitel 2
Der kartellrechtliche Schadensersatz bei Verstößen gegen das europäische Kartellrecht Zivilrechtliche Ersatzansprüche kommen nicht nur bei Verletzungen nationalen Kartellrechts, sondern auch bei Verstößen gegen das europäische Kartellrecht in Betracht. Mit den Artt. 81, 82 EG wurden durch den EG-Vertrag eigenständige Wettbewerbsregeln geschaffen, die parallel zum nationalen Recht Anwendung finden, sofern eine wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel spürbar zu beeinträchtigen. Hierbei genießen sie grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht.1 Wie sich im Folgenden zeigen wird, richtet sich die Schadensersatzhaftung als Rechtsfolge bei Verletzungen des europäischen Kartellrechts allein nach nationalem Recht, wenngleich das Europarecht den einzelstaatlichen Rechtsordnungen Vorgaben hinsichtlich der näheren Ausgestaltung macht. Spätestens seit der Reform des europäischen Kartellverfahrensrechts, die zu der Verabschiedung der Verordnung (EG) Nr. 1/20032 (im Folgenden: VO 1/2003) geführt hat, befindet sich die private Durchsetzung des Kartellrechts auch auf europäischer Ebene im wettbewerbspolitischen Wandel. Im neuen Durchsetzungsregime wird auf die private Durchsetzung verstärkt Gewicht gelegt. Zu diesen Bestrebungen steht jedoch in Kontrast, dass sowohl in Deutschland wie auch in den restlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Schadensersatzansprüche bei Verstößen gegen die Artt. 81, 82 EG – nicht anders als bei Verletzungen des nationalen Kartellrechts – bisher kaum eine praktische Bedeutung erlangen konnten. Die VO 1/2003 hat erste Änderungen im Verfahrensrecht herbeigeführt, die unter anderem die stärkere Einbindung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Kartellrechts ermöglichen sollen. Die Kommission möchte es hierbei nicht belassen, sondern ist entschlossen, die weitere Entwicklung in den Mitgliedstaaten intensiv zu verfolgen und gegebenenfalls mit einer sekundärrechtlichen Regelung auf dem Gebiet des kartellrechtlichen Schadensersatzes tätig zu werden. Dem im April 2008 vorgelegten Weißbuch kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu.
1
Art. 3 VO (EG) Nr. 1/2003. Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. EG 2003, L 1/1. 2
I. Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes
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I. Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes 1. Der kartellrechtliche Schadensersatz im europäischen Durchsetzungsregime Das europäische Kartellrecht enthält nahezu keine Regelungen zu den zivilrechtlichen Folgen, die Verletzungen der Wettbewerbsregeln nach sich ziehen können. Im Primärrecht findet sich lediglich in Art. 81 Abs. 2 EG die Anordnung der Nichtigkeit von Vereinbarungen oder Beschlüssen, die nach Art. 81 Abs. 1 EG verboten sind. Auch in den sekundärrechtlichen Bestimmungen sucht man vergeblich nach einer Regelung von Schadensersatzfolgen. Sowohl die alte VO (EWG) Nr. 17/1962 (im Folgenden: VO 17/62)3 als auch deren Nachfolgeverordnung und die Fusionskontrollverordnung (EG) Nr. 139/20044 klammern diesen Bereich aus. Aus dem Fehlen einer näheren Regelung folgt jedoch nicht, dass das europäische Kartellrecht nach seiner Konzeption keinerlei privatrechtliche Relevanz aufweist.5 Das zeigt bereits die Nichtigkeitsanordnung des Art. 81 Abs. 2 EG. Noch bis in die 1970er Jahre war jedoch der privatrechtliche Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts verschiedentlich mit der Begründung angezweifelt worden,6 das europäische Kartellrecht diene ausschließlich der Verwirklichung der Ziele der Europäischen Gemeinschaft, namentlich der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes, bezwecke aber nicht den Schutz und die Erhaltung der Freiheit der Einzelnen im Privatrechtsverkehr. Spätestens seit der Entscheidung BRT/SABAM7 des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) kann diese Ansicht jedoch als überholt gelten.8 Vielmehr erklärt sich die Regelungslücke im EG-Vertrag dadurch, dass die Artt. 81, 82 EG zum einen nur das materielle Kartellrecht, nicht aber eventuelle Sanktionen statuieren und zum anderen ganz generell dadurch, dass sich die Regelungen des EG-Vertrags in erster Linie an die Mitgliedstaaten und nicht an den Einzelnen richteten. Erst im Laufe der Zeit wurde durch die Rechtsprechung des EuGH klargestellt, dass viele Bestimmungen des EG-Vertrags auch den Einzelnen als Rechtssubjekt treffen und unmittelbare Wirkung im Verhältnis zu den Bürgern der Mitgliedstaaten entfalten. 3 Verordnung (EWG) Nr. 17/62 des Rates: Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages vom 06.02.1962, ABl. EG 1962, S. 204 ff. 4 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20.01.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EG 2004, L 24/1. 5 Vgl. hierzu auch Ullrich, S. 4 ff. 6 So etwa Schumacher, WuW 1971, S. 165 (168); Gleiss/Hirsch (2. Aufl.), Art. 85 Anm. 104 u. Art. 86 Anm. 27. Vgl. zur Diskussion Mestmäcker (1. Aufl.), S. 569 sowie Baur, EuR 1988, S. 257 (257). 7 EuGH, Rs. 127/73, Slg. 1974, 51 – BRT/SABAM. 8 Näher hierzu unten, S. 130 ff.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Das Ausbleiben einer ausdrücklichen Regelung zeigt aber ebenso wie die Konzeption des Durchsetzungssystems der frühen 1960er Jahre, dass der privaten Kartellrechtsdurchsetzung zunächst keine tragende Rolle zuteil wurde. Obwohl die Wettbewerbsregeln des EWG-Vertrags bereits am 1. Januar 1958 in Kraft traten, wurden Regelungen zu deren Durchführung erst mit der Verabschiedung der VO 17/62 im Jahre 1962 geschaffen. Diese erste Durchführungsverordnung richtete das europäische Kartellrecht primär auf eine behördliche Durchsetzung durch die Kommission aus. Gemäß Art. 1 VO 17/62 bedurften die Verbote der Artt. 85 Abs. 1, 86 EWG für ihre Wirksamkeit zwar keiner vorherigen Entscheidung der Kommission, so dass auch die nationalen Behörden und Gerichte die Wettbewerbsregeln anwenden konnten. Gleichwohl war die Kommission die in erster Linie für die Durchsetzung des europäischen Kartellrechts zuständige Behörde. Die herausragende Stellung wurde insbesondere daran deutlich, dass die VO 17/62 für Freistellungen nach Art. 85 Abs. 3 EWG ein zentrales Anmeldungs- und Genehmigungsverfahren bei der Kommission vorsah und diese ausschließlich zur Anwendung des Art. 85 Abs. 3 EWG berufen war.9 Für ein solches Modell der zentralen behördlichen Aufsicht hatte man sich bewusst entschieden, da man es für die Schaffung einer europäischen Wettbewerbskultur notwendig erachtete.10 Zum damaligen Zeitpunkt hatte sich in vielen Mitgliedstaaten noch keine Wettbewerbspolitik nachhaltig herausbilden können. Ebenso sprach das Bedürfnis nach einer einheitlichen Anwendung der auslegungsbedürftigen Wettbewerbsregeln11 für eine zentrale Verantwortung der Kommission. Schließlich war die Europäische Gemeinschaft vom Bestreben der Integration der nationalen Märkte geprägt. Die Wettbewerbsregeln sollten hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten. Die geringe konzeptionelle Bedeutung der privaten Durchsetzung ist somit in erster Linie dem Bedürfnis nach einer Zentralisierung geschuldet. Ein privates Durchsetzungssystem, das naturgemäß auf eine kumulierte Durchsetzung durch Private im Einzelfall angelegt ist, war in dieser Hinsicht einer behördlichen Aufsicht unterlegen. Dennoch darf hierin keine Entscheidung gegen einen durch die Wettbewerbsregeln bewirkten Individualschutz gesehen werden. Die Kommission war bereits bei der Ausgestaltung der VO 17/62 der Auffassung, dass auch die zivilrechtlichen Rechtsfolgen der Nichtigkeit und der Schadensersatzhaftung einen Teil des geschaffenen Sank9
Art. 9 Abs. 1 VO 17/62. Vgl. hierzu Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Zusammenfassung Tz. 4. 11 Europ. Kommission, Vorschlag der Kommission an den Rat hinsichtlich der ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages vom 28.10. 1960, IV/KOM(60) 158 endg., S. 2 (abgedruckt in den Sitzungsdokumenten des Europäischen Parlaments 1960–1961, Dok. 104); ebenso das Europäische Parlament (EP), Bericht des Binnenmarktausschusses („Deringer-Bericht“), Sitzungsdokumente des Europäischen Parlaments 1961–1962, Dok. 57, Tz. 83. Das EP befürwortete sogar eine ausschließliche Zuständigkeit der Kommission für die Anwendung von Art. 85 Abs. 1 und Art. 86 EGV. 10
I. Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes
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tionssystems bildeten.12 Ebenso erachtete das Europäische Parlament eine Schadensersatzpflicht für notwendig, war jedoch der Ansicht, dass es aufgrund des abweichenden Schadensersatzrechtes in den Mitgliedstaaten verfrüht gewesen wäre, bereits in der ersten Durchführungsverordnung eine einheitliche Regelung hierzu vorzusehen.13 Eine Initiative des Europäischen Parlaments zur sekundärrechtlichen Regelung der Schadensersatzpflichten wie auch ein späterer Versuch durch die Kommission Ende der 1980er Jahre blieben ohne Ergebnis.14 Nichtsdestoweniger hat die Kommission seit Inkrafttreten der VO 17/62 der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen immer wieder großes Interesse entgegengebracht und Studien in diesem Bereich durchführen lassen.15 Sie sah hierin eine sinnvolle Ergänzung ihrer eigenen Schritte zur Wettbewerbsaufsicht.16 In ihrem 13. Wettbewerbsbericht für das Jahr 1983 kündigte die Kommission an, der verstärkten Einschaltung der nationalen Gerichte bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln vorrangige Bedeutung zuzumessen. Schadensersatzklagen sollten gefördert werden, um so einen Beitrag zur Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts leisten zu können.17 Festzuhalten bleibt somit, dass das europäische Kartellrecht mit der VO 17/ 62 zunächst eine primär behördliche und zugleich zentralisierte Durchsetzung durch die Kommission erfahren hatte. Von einer gesetzlichen Regelung einer Schadensersatzhaftung für Verletzungen europäischen Kartellrechts hatte man bewusst abgesehen. Nichtsdestotrotz war der kartellrechtliche Schadensersatz in 12 Europ. Kommission, Vorschlag der Kommission an den Rat hinsichtlich der ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages vom 28.10. 1960, IV/KOM(60) 158 endg., S. 3 (abgedruckt in den Sitzungsdokumenten des Europäischen Parlaments 1960–1961, Dok. 104). 13 Europäisches Parlament, Bericht des Binnenmarktausschusses („Deringer-Bericht“), Sitzungsdokumente des Europäischen Parlaments 1961–1962, Dok. 57, Tz. 123. Vgl. auch Entschließung des Europäischen Parlaments, ABl. EG 1961, S. 1409 (1410), Ziff. 11. 14 Laut C. Jones scheiterte die Initiative der Kommission am Widerstand des von den Mitgliedstaaten besetzten Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen, vgl. C. Jones, S. 33 (Fn. 67). Vgl. hierzu auch Temple Lang, FIDE-Kongress 1998, S. 265 (267) und Europ. Kommission, Dreizehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, Tz. 218. 15 Vgl. Europ. Kommission, Schadensersatzansprüche bei einer Verletzung der Artikel 85 und 86 des Vertrages zur Gründung der EWG (1966); Germer, Schadensersatzansprüche bei Verletzung der Art. 85 und 86 des Vertrages zur Gründung der EWG, Dok. IV 292/85 (1985) (unververöffentlicht); Braakman, Die Anwendung der Artikel 85 und 86 des EG-Vertrages durch die Gerichte der Mitgliedstaaten (1997); sowie zuletzt Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules (2004) (sog. Ashurst-Studie). 16 Vgl. Europ. Kommission, Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 519/72 von Herrn Vredeling, ABl. EG 1973, C 67/55 Tz. 1. 17 Europ. Kommission, Dreizehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, Tz. 217 f. Vgl. ebenso Europ. Kommission, Vierzehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, Tz. 47; dies., Fünfzehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, Tz. 38 ff.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
der europäischen Wettbewerbspolitik nicht ohne Bedeutung. Von Anfang an ging man von der Möglichkeit einer Schadensersatzhaftung (nach nationalem Recht)18 aus. Zunehmend betrachtete man die private Durchsetzung und insbesondere die Schadensersatzklage als sinnvolle Ergänzung zur Aufsichtstätigkeit der Kommission bei der Unterbindung von Wettbewerbsbeschränkungen im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr. 2. Die Vorgaben des Europarechts: von „van Gend & Loos“ zu „Courage“ und „Manfredi“ Trotz des Fehlens einer europarechtlichen Regelung zum Kartelldeliktsrecht überlässt das Gemeinschaftsrecht die Ausgestaltung der Haftungsfolgen nicht gänzlich den nationalen Rechtsordnungen.19 Vielmehr haben sich aus der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte seit Inkrafttreten des EG-Vertrags allgemeine Grundsätze über die Wirkung und den Vollzug des Gemeinschaftsrechts entwickelt, die auch bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln zu beachten sind.20 Aus diesen Prinzipien lassen sich Vorgaben ableiten, die die Sanktionen nach dem Recht der Mitgliedstaaten für Verletzungen des Gemeinschaftsrechts maßgeblich beeinflussen. a) Unmittelbare Geltung der europäischen Wettbewerbsregeln Das europäische Gemeinschaftsrecht ist als eigenständige Rechtsordnung geschaffen worden, die mit einer autonomen Gemeinschaftsgewalt ausgestattet ist. Wesentliches Charakteristikum der so verfassten Rechtsordnung ist – neben dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts – die unmittelbare Geltung zahlreicher Bestimmungen.21 Die vom EuGH entwickelten Grundsätze über die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts stellen den Ausgangspunkt für die nähere Betrachtung der europarechtlichen Vorgaben dar und können somit als deren Wurzel bezeichnet werden.22 Erstmals in seiner Entscheidung van Gend & Loos23 stellte der EuGH klar, dass auch für den Einzelnen die Möglichkeit besteht, sich auf gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zu berufen, ohne dass es hierfür eines besonderen gesetzlichen Umsetzungsaktes in nationales Recht oder einer behördlichen Durch18 Vgl. aber zur nun aufgekommenen Diskussion über eine autonome gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzhaftung unten, S. 119 ff. 19 Zur Diskussion über eine autonome gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzhaftung siehe unten, S. 119 ff. 20 Vgl. hierzu Roth, FS-Gerhardt, S. 815 (823 ff.). 21 EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079, Rdnr. 21. 22 Vgl. Wahl, S. 68. 23 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos.
I. Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes
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setzung bedarf. Vielmehr stellt das Gemeinschaftsrecht eine Rechtsordnung dar, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind.24 Diese unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts führt jedoch nicht nur dazu, dass dem Einzelnen Rechte entstehen. Kehrseite dieses Grundsatzes ist, dass dem Bürger die europarechtliche Vorschrift unter Umständen auch unmittelbar als Pflicht entgegengehalten werden kann.25 Mit dieser Begründung subjektiv-öffentlicher Rechte und Pflichten wird der Einzelne persönlich in die Gemeinschaftsrechtsordnung einbezogen.26 Der EuGH stützte seine Ansicht maßgeblich auf die Erwägung, dass die im EG-Vertrag begründeten Garantien wirkungslos blieben, wenn ein Verstoß nur ein Vertragsverletzungsverfahren zur Folge haben könnte.27 „Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten [. . .] ausgeübte Kontrolle ergänzt.“28 Voraussetzung für die unmittelbare Geltung von Normen des Gemeinschaftsrechts ist, dass die jeweilige Bestimmung rechtlich vollkommen ist, d.h. (1) inhaltlich hinreichend genau sowie (2) unbedingt formuliert ist und (3) keiner im Ermessen stehenden Ausführungshandlung bedarf.29 Der EuGH hat in nachfolgenden Entscheidungen einer Reihe von Vertragsvorschriften eine unmittelbare Geltung zugesprochen30 und auch ansonsten den Anwendungsbereich der unmittelbaren Geltung etwa hinsichtlich der vertikalen Direktwirkung von Richtlinien sukzessive ausgeweitet.31 Im Bereich des Kartellrechts war die unmittelbare Geltung der Wettbewerbsregeln jedoch zunächst fraglich, wenngleich sie mit Art. 1 VO 17/62 sekundärrechtlich statuiert war. Der EuGH hatte nämlich vor dem van Gend & Loos-Urteil in seiner BoschEntscheidung32 im Interesse der Rechtssicherheit das Prinzip der „vorläufigen Gültigkeit“ von solchen Vereinbarungen und Beschlüssen entwickelt, die schon vor Inkrafttreten der VO 17/62 bestanden hatten und dementsprechend nicht freigestellt werden konnten.33 Ein solcher Ansatz sprach zunächst gegen eine unmittelbare Wirkung des schon seit 1958 geltenden Primärrechts. Spätestens
24
EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rdnr. 14/16 – Simmenthal. 26 Oppermann, S. 185. 27 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (26) – van Gend & Loos. 28 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (26) – van Gend & Loos. 29 EuGH, Rs. 44/84, Slg. 1986, 29, Rdnr. 47 – Hurd. 30 Herdegen, Rdnr. 167; Wahl, S. 67. 31 EuGH Rs. 33/70, Slg. 1970, 1213, Rdnr. 14/16 ff. – Spa Sace; Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rdnr. 21 ff. – Becker. 32 EuGH, Rs. 13/61, Slg. 1962, 99 – Bosch. 33 EuGH, Rs. 13/61, Slg. 1962, 99 (119) – Bosch. Vgl. hierzu auch die Entscheidung, verb. Rs. 209 bis 213/84, Slg. 1986, 1425, Rdnr. 61 ff. – Nouvelles Frontières. 25
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
seit der Entscheidung BRT/SABAM34 und zahlreichen Folgeentscheidungen gilt jedoch als geklärt, dass die in den Artt. 81 Abs. 1 und 82 EG enthaltenen Verbote „ihrer Natur nach geeignet sind, in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen zu erzeugen [. . . Sie lassen] unmittelbar in deren Person Rechte entstehen, welche die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben“.35 b) Notwendiger Rechtsschutz und der Grundsatz der Verfahrensautonomie Der Grundsatz der unmittelbaren Geltung erhöht maßgeblich die Wirksamkeit des Europarechts und gewährleistet dessen autonome Gültigkeit, da es unabhängig vom nationalen Recht durchgesetzt werden kann. Gleichwohl handelt es sich hierbei nur um eine Mindestgarantie, die für sich allein nicht ausreicht, um eine uneingeschränkte Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.36 So bietet die unmittelbare Geltung bei Verletzungen des Europarechts nur Abhilfe für die Zukunft. Bereits eingetretene Verletzungen und deren Folgen bleiben hiervon unberührt. Für eine umfassende Wirksamkeit des Europarechts sind deshalb zusätzliche Sanktionen bzw. Rechtsbehelfe zur Durchsetzung der subjektiven Rechte notwendig. Sofern das Gemeinschaftsrecht hierzu keine besonderen Vorschriften vorsieht, sind gem. Art. 10 EG die Mitgliedstaaten gehalten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten.37 Diese Verpflichtung bindet auch die Zivilgerichtsbarkeit. In ständiger Rechtsprechung des EuGH müssen die nationalen Gerichte die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht.38 Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass die Wettbewerbsregeln Teil der öffentlichen Ordnung sind und somit von Amts wegen Anwendung finden müssen.39
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EuGH, Rs. 127/73, Slg. 1974, 51 – BRT/SABAM. EuGH, Rs. 127/73, Slg. 1974, 51, Rdnr. 15/17 – BRT/SABAM. Im Ansatz bereits in EuGH, Rs. 48/72, Slg. 1973, 77, Rdnr. 6 – de Haecht II; vgl. ebenfalls EuGH, Rs. 155/73, Slg. 1974, 409, Rdnr. 18 – Sacchi; Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935, Rdnr. 45 – Delimitis; Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 23 – Courage. 36 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 20 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III). 37 EuGH, Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965, Rdnr. 23 – Komm./Griechenland. 38 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 23 – Courage; verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 32 – Francovich; Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Rdnr. 19 – Factortame I; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rdnr. 14/16 – Simmenthal. 39 EuGH, Rs. C-126/97, Slg. 1999, I-3055, Rdnr. 36 ff. – Eco Swiss; verb. Rs. C430/93 u. C-431/93, Slg. 1995, I-4705, Rdnr. 13 f. – van Schijndel. Vgl. ebenfalls Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 3. 35
I. Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes
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Hinsichtlich des zu gewährleistenden Rechtsschutzes ist zunächst einmal entscheidend, dass Verletzungen überhaupt verfolgt werden und dem Einzelnen Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen. Hierbei bleibt es im Ausgangspunkt dem einzelnen Mitgliedstaat überlassen, welche konkreten Maßnahmen er trifft, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Diesen Grundsatz der Verfahrensautonomie begründete der EuGH in seiner Rewe-Entscheidung und führte hierzu näher aus: „Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung [. . .] sind deshalb die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten.“ 40
Soweit in diesem Zusammenhang vom „Verfahren“ die Rede ist, ist zu beachten dass der EuGH diesem Begriff traditionell ein sehr weites Verständnis beimisst. Hiervon sind nicht nur die prozessualen Rahmenbedingungen der Klagen erfasst, sondern darüber hinaus auch die eigentlichen Ansprüche, die die subjektiven Rechte gegen Verletzungen durch Dritte schützen und die nach deutschem Rechtsverständnis dem materiellen Recht zuzuordnen sind.41 Folge der Verfahrensautonomie – sofern sie uneingeschränkt Anwendung fände – wäre somit, dass die mit einer Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts verbundenen zivilrechtlichen Folgen – unbeschadet des Art. 81 Abs. 2 EG – in den Zuständigkeitsbereich der nationalen Rechtsordnungen fielen. Die Mitgliedstaaten wären zwar verpflichtet, einen Rechtsschutz zur Gewährleistung der aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden individuellen Rechte zu garantieren, blieben aber in der näheren Ausgestaltung grundsätzlich frei. c) Äquivalenzgrundsatz Eine tatsächliche Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung besteht jedoch nur vordergründig. Im Lichte der Rechtsprechung des EuGH wird deutlich, dass der Grundsatz der Verfahrensautonomie nur den Ausgangspunkt darstellt, in Wirklichkeit aber zahlreichen Einschränkungen unterliegt. Der Gerichtshof hat eine Reihe von Mindestvoraussetzungen bei der Bestimmung der zivilrechtlichen Ansprüche aufgestellt. Die erste Einschränkung erfolgt durch 40 EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rdnr. 5 – Rewe/Landwirtschaftskammer Saarland. Vgl. auch EuGH, Rs. 50/76, Slg. 1977, 137, Rdnr. 32 – Amsterdam Bulb; Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, Rdnr. 11/18 – Comet; Rs. 811/79, Slg. 1980, 2545, Rdnr. 12 – Ariete; für das EG-Kartellrecht: EuGH, Rs. C-242/95, Slg. 1997, I-4449, Rdnr. 24 – GT-Link; EuG, Rs. T-24/90, Slg. 1992, II-2223, Rdnr. 50 – Automec II; Rs. T395/94, Slg. 2002, II-875, Rdnr. 298 – Atlantic Container Line. 41 Vgl. hierzu v. Gerven, CMLRev. 2000, S. 501 (502) sowie Jacobs/Deisenhofer, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 187 (216).
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
den Äquivalenzgrundsatz bzw. das sog. Diskriminierungsverbot. Hiernach dürfen die innerstaatlichen Rechtsfolgen bei Übertretungen des Europarechts in ihren Bedingungen nicht ungünstiger ausgestaltet sein als „gleichwertige Klagen, die das nationale Recht betreffen“.42 Hinsichtlich der Frage der Gleichwertigkeit wird es maßgeblich darauf ankommen, ob die jeweilige nationale Bestimmung und die europäischen Wettbewerbsregeln vergleichbare Zwecke verfolgen.43 Nationales Kartellrecht und unter Umständen auch Bestimmungen des Lauterkeitsrechts kommen hierbei insbesondere in Betracht. Sieht somit das nationale Recht zivilrechtliche Ansprüche für Verletzungen des nationalen Kartellrechts vor – wie etwa das GWB i. R. d. § 33 – müssen diese Möglichkeiten ebenfalls den Betroffenen in Fällen von Verstößen gegen das europäische Kartellrecht zur Verfügung stehen. Auch die Anspruchsvoraussetzungen und die Haftungsfolgen dürfen im Zusammenhang mit Verstößen gegen das EG-Kartellrecht nicht nachteiliger formuliert sein. Das Diskriminierungsverbot legt somit die Zivilrechtsfolgen des nationalen Kartellrechts als Minimalstandard für das gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsrecht fest. Der nationalen Rechtsordnung werden hiernach noch keine positiven Vorgaben gemacht. Unter dem Aspekt des Äquivalenzgrundsatzes bliebe es somit einem Mitgliedstaat unbenommen, von bestimmten zivilrechtlichen Rechtsfolgen bei Verletzungen des nationalen und europäischen Kartellrechts abzusehen. d) Effektivitätsgrundsatz Eine weiterreichende Einschränkung der Verfahrensautonomie erfolgt jedoch durch den sog. Effektivitätsgrundsatz. Dieser geht in seiner Wirkung über den Äquivalenzgrundsatz hinaus und begründet im Einzelfall auch positive Vorgaben. Der EuGH hat zur näheren Umschreibung des Effektivitätsgrundsatzes mehrere Formeln entwickelt. Nach der bereits im Rewe-Urteil angelegten und weithin üblichen Formulierung dürfen die materiellen und formellen Voraussetzungen, die die nationalen Rechtssysteme für Folgeansprüche enthalten, nicht so ausgestaltet sein, dass sie „die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte [. . .] praktisch unmöglich machen oder übermäßig er-
42 EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rdnr. 5 – Rewe/Landwirtschaftskammer Saarland; Rs. 158/80, Slg. 1981, 1805, Rdnr. 44 – Rewe/Hauptzollamt Kiel; Rs. 199/ 82, Slg. 1983, 3595, Rdnr. 12 – San Giorgio; verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 43 – Francovich. Vgl. hierzu auch Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 10 lit. c; Jacobs/Deisenhofer, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 187 (215). 43 Wahl, S. 71 mit Verweis auf die Palmisani-Entscheidung des EuGH, Rs. C-261/ 95, Slg. 1997, I-4025, Rdnr. 38. Zur Frage der Vergleichbarkeit siehe auch Mäsch, EuR 2003, S. 825 (838).
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schweren“.44 In der Marshall II-Entscheidung formulierte der Gerichtshof etwas anders und hob hervor, dass die Maßnahmen, die das nationale Recht zur Gewährleistung der aus dem Europarecht erwachsenden Rechte vorsieht, „angemessen“ sein müssen.45 Wiederum anders ausgedrückt – so entschied der EuGH in der Rechtssache Factortame I – dürfe das nationale Sanktionssystem nicht dazu führen, dass die „volle Wirksamkeit“ des Gemeinschaftsrechts abgeschwächt würde.46 Allen diesen Ansätzen liegen zwei Gedanken zugrunde: Zunächst einmal muss das nationale Recht den gemeinschaftsrechtlich begründeten subjektiven Rechten durch Rechtsbehelfe zur vollen Wirksamkeit verhelfen, wenn die unmittelbare Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung allein hierfür nicht ausreicht. Im Bereich des Kartellrechts ist dies etwa dann der Fall, wenn die Verletzung der Wettbewerbsregeln bereits Schäden verursacht hat. Hier muss dem Betroffenen ein tatsächlicher und wirksamer Rechtsschutz zur Verfügung stehen, auch wenn dies bei vergleichbaren Verstößen gegen das innerstaatliche Recht nicht der Fall ist. Darüber hinaus wird aus der genannten Rechtsprechung aber auch deutlich, dass die Ausgestaltung und Anwendung der Rechtsfolgen stets von dem Ziel geleitet sein müssen, das objektive Gemeinschaftsrecht durchzusetzen, damit dieses seine volle Wirksamkeit entfalten kann (effet utile).47 In diesem Zusammenhang knüpft die zu gewährleistende Effektivität nicht mehr an den Schutz von Individualrechten, sondern an das objektive Recht an. Hinsichtlich des europäischen Wettbewerbsrechts trat dieser Aspekt insbesondere in der CourageEntscheidung des Gerichtshofs hervor: „Die volle Wirksamkeit des Artikels 85 EG-Vertrag und insbesondere die praktische Wirksamkeit des in Artikel 85 Absatz 1 ausgesprochenen Verbots wären beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, [. . . der ihm durch eine wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise entstanden ist. Ein solcher Anspruch] erhöht nämlich die Durchsetzungskraft der gemeinschaftlichen Wettbe-
44 EuGH, verb. Rs. C-430/93 u. C-431/93, Slg. 1995, I-4705, Rdnr. 17 – van Schijndel; Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rdnr. 5 – Rewe/Landwirtschaftskammer Saarland; Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, Rdnr. 11/18 – Comet; verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 43 – Francovich; verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 20 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III); Rs. C-261/95, Slg. 1997, I4025, Rdnr. 38 – Palmisani. 45 EuGH, Rs. 217/91, Slg. 1993, I-4367, Rdnr. 26 – Marshall II. Der ehemalige Generalanwalt van Gerven differenziert in diesem Zusammenhang und bezieht die Vorgabe der „Angemessenheit“ ausschließlich auf die Ausgestaltung der Ansprüche, während das Verbot, die Durchführung praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, eher den Verfahrensfragen im engeren Sinne zuzuordnen sei. Vgl. v. Gerven, CMLRev. 2000, S. 501 (503 f.). 46 EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Rdnr. 19 – Factortame I. 47 So auch Mäsch, EuR 2003, S. 825 (836).
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werbsregeln und [. . . kann] wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Gemeinschaft beitragen.“48
Der Gerichtshof instrumentalisiert an dieser Stelle das subjektive Recht für die Durchsetzung des objektiven Gemeinschaftsrechts.49 Röhrig spricht insoweit von einer „funktionalen Subjektivierung objektiver Rechtsnormen“.50 Das Europarecht stellt somit die Privatklage bewusst in den Dienst der Allgemeinheit. Dadurch erfüllt der Betroffene auch eine öffentliche Funktion und fungiert – wie auch im US-amerikanischen Antitrust-Recht – als „private attorney general“.51 Wie weitgehend die Konsequenzen aus dem Effektivitätsgrundsatz sind, wird im Einzelfall nicht immer eindeutig zu bestimmen sein. Bezogen auf das Kartelldeliktsrecht wird der Effektivitätsgrundsatz aber erfordern, auch in Detailfragen die Modalitäten des nationalen Rechts an der Vorgabe der vollen Wirksamkeit zu messen. Insbesondere die Hürden, die sich einem Kläger in Kartellzivilverfahren stellen, können im Lichte dieser Vorgabe neu zu bewerten sein. e) Unerlässlichkeit einer Schadensersatzhaftung Angesichts des Effektivitätsgrundsatzes stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der zivilrechtlichen Folgen von Verletzungen der europäischen Wettbewerbsregeln notwendigerweise einen Anspruch auf Schadensersatz in ihrer Rechtsordnung vorsehen müssen, um einen „angemessenen“ Rechtsschutz gewährleisten zu können. In praktischer Hinsicht kommt dieser Frage keine gesteigerte Bedeutung zu, da in allen Mitgliedstaaten – sei es über spezielle kartelldeliktsrechtliche Ansprüche oder im Wege des allgemeinen Deliktsrechts – die Möglichkeit besteht, Schadensersatzansprüche gegenüber Delinquenten geltend zu machen.52 Dennoch gibt sie wichtigen Aufschluss über das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht und zeigt, wie weitreichend die Konsequenzen des Effektivitätsgrundsatzes sind. Im Schrifttum war die Frage einer zwingenden Vorgabe der Schadensersatzhaftung bislang umstritten.53 Im Ausgangspunkt spricht der Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie hiergegen. Dieser würde durch eine solche Vor-
48 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 26 f. – Courage; so auch EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 60 – Manfredi. 49 So auch Roth, FS-Huber, S. 1133 (1135); Brinker/Balssen, FS-Bechtold, S. 69 (75). 50 Röhrig, S. 162. 51 Vgl. zum US-Recht unten, S. 175 f. 52 Vgl. Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, S. 27 ff. 53 Vgl. hierzu nur Baur/Weyer, in: FK, Art. 81 (Zivilrechtsfolgen) Rdnr. 144. Ablehnend etwa Brinker, in: Schwarze, S. 107 (109 f.).
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gabe zunehmend ausgehöhlt. So hatte auch der EuGH in seiner ButterfahrtenEntscheidung zunächst klargestellt, dass die von den Mitgliedstaaten zu erfüllende Gewährleistung der europarechtlich begründeten subjektiven Rechte nicht die Schaffung neuer Rechtsbehelfe erforderlich macht.54 In der Rechtssache Factortame I entschied der Gerichtshof jedoch dann, dass den Gerichten im Einzelfall die Möglichkeit gegeben sein müsse, einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren.55 Ob hierin tatsächlich ein Widerspruch zur Butterfahrten-Entscheidung zu sehen ist, hängt davon ab, was man unter einem „neuen“ Rechtsbehelf verstehen muss.56 Für die Zwecke des Kartelldeliktsrechts wird aber deutlich, dass der Grundsatz der Verfahrensautonomie nicht ausschließt, dass das nationale Recht eine Schadensersatzmöglichkeit für Betroffene bereithalten muss. Erste Hinweise für die Unerlässlichkeit einer Schadensersatzhaftung lassen sich der Rechtsprechung über die Staatshaftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht entnehmen. In der Rechtssache Francovich führte der Gerichtshof aus: „Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden [. . .].“57
Die hierin zum Ausdruck gebrachte Verpflichtung zu einer Schadensersatzmöglichkeit, die später in Brasserie du Pêcheur58 Bestätigung fand, rekurriert jedoch auch auf die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 EG.59 Eine entsprechende Verpflichtung für den Einzelnen besteht hingegen nicht, so dass eine Übertragbarkeit auf die Haftung von Privatpersonen fraglich erscheint. Andererseits hat der EuGH bereits in der Entscheidung van Gend & Loos klargestellt, dass den Einzelnen auch Verpflichtungen aus den unmittelbar geltenden Bestimmungen des EG-Vertrags treffen können.60 Ebenfalls ist unbestritten, dass der Effektivitätsgrundsatz auch in horizontalen Beziehungen zwischen Privatpersonen Gültigkeit beansprucht. Einiges spricht somit dafür, dass der Francovich-Rechtsprechung ein aus dem Effektivitätsgrundsatz abgeleitetes, allge-
54 EuGH, Rs. 158/80, Slg. 1981, 1805, Rdnr. 44 – Rewe/Hauptzollamt Kiel (Butterfahrten). 55 EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Rdnr. 21 – Factortame I. 56 Die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung war nämlich nur im konkreten Fall ausgeschlossen, nicht jedoch dem nationalen Recht gänzlich unbekannt, vgl. hierzu C. Jones, S. 68 ff. 57 EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 33 – Francovich. 58 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 20 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III). 59 EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 36 – Francovich. 60 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos.
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meines Prinzip zugrunde liegt, das sich durchaus auf das Kartelldeliktsrecht übertragen lässt. In der Rechtsprechung zum Wettbewerbsrecht hat das Europäische Gericht erster Instanz (EuG) mehrfach betont, dass Verletzungen der Artt. 81, 82 EG Schadensersatzansprüche begründen können.61 Eine Notwendigkeit zur Begründung von Schadensersatzansprüchen lässt sich hierin jedoch nicht explizit erkennen. Wesentlich deutlicher hingegen hat der EuGH im Courage-Urteil den Zusammenhang zwischen dem Effektivitätsgrundsatz und Schadensersatzansprüchen bei Kartellrechtsverstößen hervorgehoben: „Die volle Wirksamkeit des Artikels 85 EG-Vertrag [. . . wäre] beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, [. . .]“ den er durch eine wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise erlitten hat.62 Ebenso führte GA Mischo in den Schlussanträgen zum Umfang des nötigen Rechtsschutzes aus, dass dieser „für die Einzelnen das Recht ein[schließe], gegen die nachteiligen Wirkungen geschützt zu werden, die ein ipso iure nichtiges Kartell hat erzeugen können“.63 Hierin kommt deutlich zum Ausdruck, dass aus Sicht des Gerichtshofs ein effektives zivilrechtliches Sanktionssystem ohne die Möglichkeit von Schadensersatzansprüchen nicht denkbar ist. In der Manfredi-Entscheidung wurde dies noch einmal ausdrücklich bestätigt.64 Die Courage-Rechtsprechung wurde somit von der Kommission65 und Teilen der Literatur66 dahingehend interpretiert, dass das Europarecht Schadensersatzansprüche für Verletzungen des EG-Kartellrechts zwingend vorgibt. Im Ergebnis erscheint dieses Verständnis sachgerecht, weil es eine konsequente Fortführung der Rechtsprechung hinsichtlich der aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden subjektiven Rechte darstellt. Die nähere Betrachtung des Prinzips der unmittelbaren Wirkung hat gezeigt, dass die Wettbewerbsregeln Individualrechte zugunsten des Einzelnen begründen. Diese zu schützen, ist
61 EuG, Rs. T-24/90, Slg. 1992, II-2223, Rdnr. 50 – Automec II; verb. Rs. T-185/ 96, T-189/96 und T-190/96, Slg. 1999, II-93, Rdnr. 51, 69 – Riviera Auto Service; Rs. T-395/94, Slg. 2002, II-875, Rdnr. 298 – Atlantic Container Line. 62 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 26 – Courage. Ebenso GA Jacobs im Verfahren AOK Bundesverband, verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C355/01, Slg. 2004, I-2493, Rdnr. 104. 63 Schlussanträge des GA Mischo, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 37. 64 EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 60 – Manfredi. Vgl. hierzu die Anmerkung von Bulst, ZEuP 2008, S. 178 ff. 65 Vgl. Europ. Kommission, Grünbuch, S. 4 und Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 21. Ebenso Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 10 lit. b. 66 So Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81 Rdnr. 252; Brinker/Balssen, FSBechtold, S. 69 (73); Mestmäcker/Schweitzer, § 22 Rdnr. 3; Roth, FS-Gerhardt, S. 815 (829); Wurmnest, in: Behrens/Braun/Nowak, S. 213 (221); ders., RIW 2003, S. 896 (897); Nowak, EuZW 2001, S. 717 (717). So auch Bulst, S. 213. A. A.: Weyer, ZEuP 2003, S. 318 (328).
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Aufgabe der nationalen Gerichte, wobei die unmittelbare Wirkung der Artt. 81, 82 EG nur einen Minimalstandard darstellen kann. Zusätzlich müssen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einen wirksamen Rechtsschutz bereithalten. Unterlassungsansprüche können in vielen Fällen sachgerechte Abhilfe schaffen. Hat der Verstoß jedoch bereits in der Vergangenheit Schäden verursacht, reicht ein Anspruch auf Unterlassen nicht aus, um die wirtschaftlichen Folgen zu beseitigen. Adäquaten Rechtsschutz kann in diesen Fällen nur ein Anspruch auf Schadensersatz bieten.67 Des Weiteren trägt die Vorgabe über die Unerlässlichkeit eines Ersatzanspruchs im nationalen Recht dem wachsenden Bewusstsein einer im allgemeinen Interesse liegenden privaten Durchsetzung im Kartellrecht Rechnung. Die Unerlässlichkeit einer Schadensersatzmöglichkeit findet nun auch in der neuen VO 1/2003 ihren Ausdruck.68 f) Auswirkungen auf Einzelaspekte im Rahmen des Schadensersatzanspruchs Bei der Untersuchung der europarechtlichen Vorgaben für die kartellrechtliche Schadensersatzhaftung ist aus Sicht der Praxis weitaus wichtiger, welche konkreten Auswirkungen insbesondere vom Effektivitätsgrundsatz auf die Gestaltung und Auslegung der einzelnen Anspruchsvoraussetzungen und Verfahrensregeln ausgehen. Die Unbestimmtheit des Effizienzgebots einerseits und die beachtliche Tragweite seiner Konsequenzen andererseits führen dazu, dass sich nicht genau sagen lässt, was im Einzelnen aus den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben folgt. Näheres zu den Modalitäten einer Schadensersatzklage lässt sich jedoch in gewissem Umfang aus der Rechtsprechung zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft gemäß Art. 288 Abs. 2 EG sowie zur Staatshaftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht ableiten.69 Im Folgenden soll auf die Vorgaben hinsichtlich [aa)] des Kreises der Anspruchsberechtigten, [bb)] des Verschuldens, [cc)] des Schadensumfangs und [dd)] der Frage der Schadensabwälzung eingegangen werden.
67 Soweit hier vom notwendigen Ersatzanspruch gesprochen wird, sind hiervon auch Beseitigungsansprüche umfasst. Bedenkt man die z. T. recht extensive Auslegung des Beseitigungsanspruchs im deutschen Recht, könnte auch hierüber Rechtsschutz gewährt werden. Im Einzelnen kommt es auf die konkrete Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung an. Unter gewissen Umständen erscheint es denkbar, auch mit anderen Mitteln, wie etwa Bereicherungsansprüchen oder Entschädigungen im Behördenverfahren, eine adäquate Gewährleistung der Individualrechte zu erzielen. 68 Vgl. dort Erwägungsgrund Nr. 7. 69 v. Gerven, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 53 (61 f.); ders. bereits in den Schlussanträgen in der Rechtssache Banks, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 49. Vgl. auch Weyer, ZEuP 1999, S. 424 (449).
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aa) Kreis der Anspruchsberechtigten Die Gemeinschaftsgerichte haben sich bisher noch nicht explizit dazu geäußert, wie eine Abgrenzung des Kreises der Anspruchsberechtigten sachgerecht vorzunehmen ist. Aus deutscher Sicht stellt sich vor dem Hintergrund der alten Rechtslage insbesondere die Frage, inwieweit Begrenzungen der Anspruchsberechtigung auf final Geschädigte zulässig sind und ob sich europarechtliche Vorgaben zur Berechtigung mittelbarer Abnehmer ergeben.70 Begreift man den Ersatzanspruch im Europarecht als flankierenden Schutz der unmittelbaren Geltung, erscheint nur konsequent, auch die Anspruchsberechtigung i. R. d. Schadensersatzes an das Merkmal der unmittelbaren Geltung zu knüpfen.71 Gleichwohl ist im Schrifttum umstritten, ob nicht zusätzlich auch Erwägungen des Normzwecks herangezogen werden können.72 Hierfür könnte sprechen, dass der EuGH i. R. d. außervertraglichen Haftung gem. Art. 288 Abs. 2 EG maßgeblich auf eine Schutznormverletzung abstellt.73 Der dort zum Ausdruck kommende Schutznormcharakter ist jedoch keinesfalls mit den im deutschen Recht entwickelten Grundsätzen der Schutznormtheorie vergleichbar. Das Kriterium ist wesentlich weiter und liegt bereits dann vor, wenn die fragliche Norm nur mittelbar die individuellen Interessen schützen soll.74 Eine Übertragung der Rechtsprechung zu Art. 288 Abs. 2 EG auf das Kartelldeliktsrecht erscheint jedoch unabhängig davon unpassend, da zusätzliche Einschränkungen der persönlichen Reichweite nur schwer mit der unmittelbaren Wirkung der Artt. 81, 82 EG in Einklang gebracht werden können. Der EuGH hat u. a. in der Entscheidung Brasserie du Pêcheur deutlich gemacht, dass bereits für die Begründung der unmittelbaren Geltung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen ist, ob die Norm „bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen“.75 Ist einmal die Gewährung eines individuellen Rechts festgestellt, sind darüber hinausgehende Beschränkungen daher nicht sachgerecht. So hat auch der Gerichtshof in Courage allein auf die unmittelbare Geltung der Wettbewerbsregeln abgestellt.76
70 Vgl. hierzu auch Brinker/Balssen, FS-Bechtold, S. 69 ff. Zur Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer siehe eingehend unten, S. 339 ff. 71 So etwa GA van Gerven in den Schlussanträgen in der Rechtssache Banks, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 50; ebenfalls C. Jones, S. 186 ff. 72 Vgl. hierzu Röhrig, S. 166 m. w. N. Ablehnend Bulst, S. 259 ff. 73 Vgl. Gilsdorf/Niejahr, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 288 EG Rdnr. 41; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 288, Rdnr. 68 ff. 74 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 288, Rdnr. 69. 75 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 51 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III). 76 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 25 – Courage.
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Die Maßgeblichkeit der unmittelbaren Geltung beantwortet jedoch noch nicht die Frage nach dem persönlichen Anwendungsbereich im Rahmen eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs. Entscheidend ist nämlich, zu wessen Gunsten die Verbote der Artt. 81, 82 EG unmittelbar anwendbar sind. Eine Passage in der Courage-Entscheidung legt einen sehr weiten Anwendungsbereich nahe. Nach der gewählten Formulierung des Gerichtshofs wäre die volle Wirksamkeit des Art. 81 EG beeinträchtigt, „wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist“.77 Ebenso äußerte sich Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache AOK Bundesverband.78 Teilweise will die Literatur die Wortwahl des Gerichtshofs ausschließlich auf den zugrunde liegenden Sachverhalt (eines gegen Art. 81 EG verstoßenden vertikalen Vertriebsvertrags) verstanden wissen und spricht ihr demgemäß eine generelle Bedeutung ab.79 Berücksichtigt man jedoch die sehr allgemein gehaltene Formulierung des EuGH, für die keinerlei Notwendigkeit bestand, und den zeitlichen Kontext des Urteils – bereits zum damaligen Zeitpunkt wurde in der kartellrechtlichen Diskussion der Einfluss des Europarechts auf die private Kartellrechtsdurchsetzung eingehend erörtert –, erscheint diese Ansicht äußerst zweifelhaft.80 Ebenso lässt sie die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache AOK Bundesverband unberücksichtigt. Im Jahr 2006 hat der Gerichtshof die umstrittene Formulierung nun erneut seiner Manfredi-Entscheidung zugrunde gelegt, ohne sie dabei näher einzugrenzen. Ganz im Gegenteil: Als maßgebliches Abgrenzungskriterium stellt der EuGH allein auf die Kausalität ab. Jeder, dem durch ein verbotenes Kartell ein Schaden entstehe, könne Ersatz verlangen, „wenn zwischen [dem Schaden] und dem Kartell oder Verhalten ein ursächlicher Zusammenhang besteht“.81 Sowohl die Courage- wie auch die Manfredi-Rechtsprechung reichen über den konkreten Einzelfall hinaus. Ihnen lässt sich durchaus entnehmen, dass der Gerichtshof im Rahmen der Anspruchsberechtigung prinzipiell einen sehr extensiven Ansatz verfolgt. Deutet die Wortwahl „jedermann“ aber zunächst darauf hin, dass der EuGH die Schadensersatzhaftung in Richtung einer Popularklage ausweiten könnte, ist 77 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 25 – Courage (ohne Hervorhebung). 78 Schlussanträge des GA Jacobs, verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C355/01, Slg. 2004, I-2493, Rdnr. 104 – AOK Bundesverband. 79 Roth, FS-Huber, S. 1133 (1149); Mäsch, EuR 2003, S. 825 (837). Vgl. auch LG Mannheim GRUR 2004, 182 (183); LG Mainz, NJW-RR 2004, 478 (480). 80 Im Ergebnis ebenso Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 8; Bulst, S. 234 ff.; ders., ZEuP 2008, S. 178 (187 ff.). Vgl. ebenso Jaeger, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 81 Abs. 2 Rdnr. 35. 81 EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 63 – Manfredi.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
dies keineswegs zwingend.82 Auch im Bereich des Gemeinschaftsrechts gibt es gute Gründe dafür, die privatrechtliche Durchsetzung nur von demjenigen ausgehen zu lassen, dessen Interessen durch das Wettbewerbsrecht geschützt werden.83 So finden sich in der Judikatur des EuGH auch Beispiele dafür, dass der Effektivitätsgrundsatz durchaus Differenzierungen bei der Sanktionierung von Verstößen gegen unmittelbar geltende Bestimmungen zulässt. Im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs aufgrund geschlechterbezogener Diskriminierung bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses (§ 611a BGB a. F.) kann nach der Ansicht des Gerichtshofs in der Rechtssache Draehmpaehl das nationale Recht durchaus aussichtslose Bewerber für einen Arbeitsplatz weniger schützen, als solche mit einer reellen Chance.84 Röhrig ist darüber hinaus der Ansicht, dass sich auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Rechtssachen Simmenthal,85 Salgoil 86 und Roks87 entnehmen lasse, dass im Rahmen des Konzepts der unmittelbaren Geltung nur demjenigen, der ein „unmittelbares Interesse“ an der Anwendung der Wettbewerbsregeln dartun könne, Ersatzansprüche zukämen.88 Für eine vergleichbare Differenzierung i. R. d. kartellrechtlichen Schadensersatzes lassen sich eventuell die Regelungen zum öffentlich-rechtlichen Drittschutz im EG-Kartellrecht gewinnen. Dort ist im Rahmen der Antrags- und Anhörungsrechte Dritter entscheidend, dass dieser ein „ausreichendes Interesse“89 oder ein „berechtigtes Interesse“90 darlegen kann.91 Für die Anwendung des nationalen Kartelldeliktsrechts lässt sich aus dem Gemeinschaftsrecht Folgendes ableiten: Die Rechtsprechung des EuGH gibt eindeutig zu verstehen, dass eine allzu restriktive Handhabung der Anspruchsberechtigung nicht mit dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz zu vereinbaren ist. Das in der deutschen Rechtsprechung zu § 33 GWB a. F. entwickelte Kriterium der Zielgerichtetheit, wonach ein Anspruch der Marktgegenseite nur in Betracht kam, wenn die Kartellanten die Wettbewerbsbeschränkung gezielt gegen einen Geschädigten eingesetzt haben, erweist sich hiernach als offensichtlicher Verstoß gegen das Europarecht. Eine solche Einschränkung der Berechtigung der Marktgegenseite kann sich weder auf den Wortlaut der Wettbewerbs82 Vgl. hierzu auch Bulst, S. 252 ff. unter Rückgriff auf das Merkmal der „unmittelbaren Kausalität“. 83 Schlussanträge des GA Geelhoed in den verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 31 – Manfredi. 84 EuGH, Rs. C-180/95, Slg. 1997, I-2195, Rdnr. 37 – Draehmpaehl. 85 EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 ff. – Simmenthal. 86 EuGH, Rs. 13/68, Slg. 1968, 679 ff. – Salgoil. 87 EuGH, Rs. C-343/92, Slg. 1994, I-571 ff. – Roks. 88 Röhrig, S. 172 ff. 89 Art. 19 Abs. 2 Satz 2 VO 17/62 bzw. Art. 27 Abs. 3 Satz 2 VO 1/2003. 90 Art. 3 Abs. 2 lit. b VO 17/62 bzw. Art. 7 Abs. 2 VO 1/2003. 91 Hierzu Röhrig, S. 177 ff.
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regeln noch auf die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte stützen. Vielmehr kommt die unmittelbare Geltung der Artt. 81, 82 EG unabhängig von einer etwaigen Finalität in Betracht.92 Hinsichtlich der Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer ist verschiedentlich aus der „jedermann“-Rechtsprechung des EuGH in Courage gefolgert worden, dass eine Begrenzung von Schadensersatzansprüchen auf die unmittelbare Marktgegenseite europarechtlich ausgeschlossen ist.93 Für diese Ansicht kann angeführt werden, dass sowohl Art. 81 wie auch Art. 82 EG ausdrücklich die Verbraucher erwähnen. Grundsätzlich kommen auch diese in den Genuss der unmittelbaren Geltung der Art. 81 und 82 EG. Infolgedessen muss eine Anspruchsberechtigung auch dann in Betracht kommen, wenn der Geschädigte nicht in Vertragsbeziehungen zum Schädiger steht.94 GA Mischo führt zum nötigen Rechtsschutz bei Verletzungen des EG-Kartellrechts in den Schlussanträgen in der Rechtssache Courage aus: „Dies schließt für die Einzelnen das Recht ein, gegen die nachteiligen Wirkungen geschützt zu werden, die ein ipso iure nichtiges Kartell hat erzeugen können. Die Einzelnen, die diesen Schutz erhalten können, sind natürlich in erster Linie Dritte, d.h. die Verbraucher und die Wettbewerber, die durch das verbotene Kartell geschädigt werden.“95 Ein solches Ergebnis wird dadurch gestützt, dass mittelbare Abnehmer, soweit Schäden an sie weitergegeben werden, durchaus ein berechtigtes Interesse vorweisen können. Sie wurden als Glied in der Lieferkette und damit unmittelbar im Marktprozess durch die Wettbewerbsbeschränkung betroffen. Dies legt nahe, dass Ihnen ebenfalls die Individualrechte aufgrund der unmittelbaren Geltung der Wettbewerbsregeln zuteil werden.96 Eine Einschränkung ließe sich allerdings unter Hinweis auf den effet utile begründen. Die Kommission gibt in ihrem Arbeitspapier zum Grünbuch zu bedenken, dass Klagen mittelbarer Abnehmer aufgrund der nötigen Berücksichtigung der Schadensverteilung über die 92
So auch Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 53. Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 39 u. 72; Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 8. In der deutschen Literatur: Lettl, § 11 Rdnr. 51; ders., ZHR 167 (2003), S. 472 (480 f.); Mestmäcker/Schweitzer, § 22 Rdnr. 35; Bunte, in: Langen/Bunte, § 1 Rdnr. 306; Jaeger, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 81 Abs. 2 Rdnr. 38; Keßler, WRP 2006, S. 1061 (1067); so auch Norberg, 32 Fordham Corp. L. Inst., S. 243 (255 ff.) [2005]; Pheasant, ECLR 2006, S. 365 (369). Vgl. auch Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 37. A. A.: Bornkamm, in: Langen/ Bunte, § 33 Rdnr. 36; Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 16; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1149); Koch, WuW 2005, S. 1210 (1220 f.). 94 Schlussanträge des GA Mischo, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 37 f. – Courage; Temple Lang, 10 Fordham Corp. L. Inst., S. 219 (295) [1983]; v. Gerven, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 53 (57) (Fn. 30); Steindorff, ZHR 162 (1998), S. 290 (307 f.); Stillfried/Stockhuber, wbl. 1995, S. 301 (305). 95 Schlussanträge des GA Mischo, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 37 f. (ohne Hervorhebung). 96 Für eine Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer ebenfalls C. Jones, S. 195. 93
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verschiedenen Marktstufen die ohnehin schwierigen Kartellzivilverfahren noch komplexer werden lassen. Da vornehmliches Ziel jedoch eine effektive Durchsetzung des Kartellrechts sei, müsse man überlegen, ob den Erwägungen des effet utile gegenüber den Individualinteressen der mittelbaren Abnehmer der Vorzug zu geben ist.97 Zusammenfassend bleibt daher festzuhalten, dass die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben über die subjektive Reichweite der zivilrechtlichen Sanktionen bis heute alles andere als geklärt sind.98 Im Ausgangspunkt ist der Kreis der Anspruchsberechtigten aufgrund der Courage- und der Manfredi-Rechtsprechung prinzipiell weit zu fassen.99 Gleichwohl wird hierdurch nicht generell die Möglichkeit zur Vornahme von Differenzierungen ausgeschlossen. Schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass die Anspruchsberechtigung nicht das einzige Merkmal ist, anhand dessen sich Haftungsbeschränkungen erreichen lassen. Eine uferlose Haftung kann auch im Rahmen der Kausalitätsprüfung vermieden werden.100 Hier belässt der EuGH in der Manfredi-Entscheidung der nationalen Rechtsordnung ausdrücklich Spielraum, die näheren Einzelheiten zu regeln.101 bb) Verschulden Hinsichtlich der Ausgestaltung der zivilen Rechtsfolgen im nationalen Recht stellt sich des Weiteren die Frage, ob ein Schadensersatzanspruch für Verletzungen der Artt. 81, 82 EG an ein Verschulden geknüpft werden kann. Bedenken könnten sich auch hier in Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz ergeben, da sich – wie auch die Ashurst-Studie102 gezeigt hat – ein Verschuldenserfordernis je nach Ausformung als Hindernis bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen auswirken kann.103 Für Deutschland wird dieser Problematik z. T. keine große praktische Bedeutung zugemessen,104 weil hier ein entschuldbarer Rechts97 Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 179. In diesem Sinne Reich, CMLRev. 2005, S. 35 (47); Brinker/Balssen, FS-Bechtold, S. 69 (77 ff.). 98 Roth, FS-Huber, S. 1133 (1149). 99 So auch Keßler, WRP 2006, S. 1061 (1064 f.). 100 So auch Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 37; Jaeger, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 81 Abs. 2 Rdnr. 38; Bulst, S. 252 ff. Vgl. hierzu EuGH, verb. Rs. 64 u. 113/76, 167 u. 239/78, 27, 28 u. 45/79, Slg. 1979, 3091, Rdnr. 21 – Dumortier Frères (Gritz); Schlussanträge des GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 52 – Banks. 101 EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 64 – Manfredi. 102 Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules, 2004. 103 Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 102. 104 Vgl. Wurmnest, RIW 2003, S. 896 (898).
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irrtum nur unter sehr engen Voraussetzungen in Betracht kommt.105 Mit dem Übergang zum System der Legalausnahme i. R. d. Art. 81 Abs. 3 EG durch die VO 1/2003106 ist jedoch fraglich, inwieweit diese strengen Maßstäbe auch weiterhin Anwendung finden können. Das von nun an geltende Prinzip der Selbsteinschätzung wird insbesondere im Graubereich der ex ante schwer einschätzbaren Kartellrechtsverstöße eine differenzierte Betrachtung bei der Vorwerfbarkeit des rechtswidrigen Handelns erforderlich machen.107 Die Rechtsprechung des EuGH zum EG-Kartellrecht gibt über die Frage der Vereinbarkeit eines Verschuldenserfordernisses mit dem Gemeinschaftsrecht keinen Aufschluss. Der Kartellrechtsverstoß an sich setzt zunächst einmal kein Verschulden voraus. Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003, der in Bußgeldsachen auf eine vorsätzliche oder fahrlässige Begehung abstellt,108 zeigt jedoch, dass ein Verschulden auf der Ebene der Ahndung von Kartellrechtsverletzungen gleichwohl in Betracht kommen kann. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass im Deliktsrecht der meisten Mitgliedstaaten ein allgemeiner Grundsatz der Verschuldenshaftung gilt und sich dies auch im Kartellzivilrecht der Rechtsordnungen niedergeschlagen hat.109 Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit eines Verschuldenserfordernisses mit dem Effektivitätsgrundsatz ergeben sich jedoch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Staatshaftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht. In der Entscheidung Brasserie du Pêcheur stellte der EuGH klar, dass die Schadensersatzhaftung nicht von einem Verschuldenskriterium abhängig gemacht werden kann, das über die Voraussetzung des „hinreichend qualifizierten Verstoßes“ gegen das Gemeinschaftsrecht hinausgeht.110 Der Gerichtshof gab hiermit zu verstehen, dass ein Verschuldenskriterium im Widerspruch zum Effektivitätsgrundsatz stehen kann.111 Eine Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung auf die Haftung von Privatpersonen erscheint allerdings fraglich, weil dann i. E. der Einzelne strenger haften würde als die Mitgliedstaaten, deren Haftung zumindest einen hinreichend qualifizierten Rechtsverstoß erfordert.112 Dieses Kriterium ist darüber hinaus in gewisser Weise mit dem 105
Vgl. bereits oben, S. 73 ff. Näher hierzu unten, S. 143 ff. 107 So auch Bulst, S. 268 f. 108 Vgl. Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003. 109 Die Ashurst-Studie hat gezeigt, dass von den 25 Mitgliedstaaten nur in Großbritannien, Irland, der Slowakei, Tschechien und Zypern eine verschuldensunabhängige Schadensersatzhaftung besteht, vgl. Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, S. 50. 110 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 79 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III). 111 Weyer, ZEuP 1999, S. 424 (448). 112 Gegen eine Übertragbarkeit sprechen sich daher etwa Wurmnest, RIW 2003, S. 896 (898) und Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (484) aus. Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass die Voraussetzung einer hinreichend qualifizierten Verletzung maßgeblich auf dem Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten beruht, der diesen bei der Um106
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Verschuldensmerkmal vergleichbar, da für dessen Bewertung viele Aspekte herangezogen werden, die auch im Rahmen des Verschuldens zum Tragen kommen.113 Stärkere Anhaltspunkte für eine verschuldensunabhängige Haftung lassen sich der Rechtsprechung zur Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsleben entnehmen, da es sich hierbei um eine Haftung von Privatpersonen handelt. Im Draehmpaehl-Urteil stellte der EuGH klar, dass der „Ersatz eines [. . .] Schadens nicht vom Vorliegen eines Verschuldens abhängig [gemacht werden könne], gleichgültig, wie leicht der Nachweis dafür zu erbringen [sei]“.114 Bei dieser Entscheidung dürfte die Erwägung für eine effektive Durchsetzung des Diskriminierungsverbots ausschlaggebend gewesen sein.115 Ein weiteres Beispiel für eine verschuldensunabhängige Haftung findet sich im harmonisierten Produkthaftungsrecht. Ob sich aus dieser Rechtsprechung ein auch für die Anwendung der Artt. 81, 82 EG geltendes Prinzip der Gefährdungshaftung ableiten lässt, ist bislang umstritten.116 Der Ansatz einer verschuldensunabhängigen Haftung geht maßgeblich auf die Schlussanträge des Generalanwalts van Gerven in der Rechtssache Banks zurück. Dieser stützt sich – unter Hinweis auf die bereits genannten Parallelen in der Rechtsprechung des EuGH – auf die Erwägung, dass die Wettbewerbsregeln „einen unverfälschten Wettbewerb und die Wettbewerbsfreiheit der auf dem Gemeinsamen Markt tätigen Unternehmen gewährleisten [sollten], wobei es auf die Wirkung der verbotenen Verhaltensweisen und nicht auf die Absicht der Urheber dieser Verhaltensweisen ankomm[e]“.117 Im Ergebnis kann jedoch die Ansicht, dass ein Verschuldenserfordernis unabhängig von seiner setzung von Gemeinschaftsrecht zukommt. Fehlt ein solcher Gestaltungsspielraum, kann die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts ausreichen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen, vgl. EuGH, Rs. C-312/00 P, Slg. 2002, I-11355, Rdnr. 54 – Camar. 113 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 78 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III). 114 EuGH, Rs. C-180/95, Slg. 1997, I-2195, Rdnr. 21 – Draehmpaehl. Vgl. ebenfalls EuGH, Rs. 177/88, Slg. 1990, I-3941, Rdnr. 25 – Dekker. 115 Roth, FS-Huber, S. 1133 (1150). 116 Für eine verschuldensunabhängige Haftung sprechen sich aus: GA van Gerven in den Schlussanträgen in der Rechtssache Banks, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 53; ders., in: Basedow, S. 19 (28); Brinker, in: Schwarze, S. 107 (114); Norberg, 32 Fordham Corp. L. Inst., S. 243 (247 ff.) [2005]; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1150 f.); Temple Lang, FIDE-Kongress 1998, S. 265 (277); Wahl, S. 212; Wagner, AcP 206 (2006), S. 352 (420 f.); Weyer, ZEuP 1999, 424 (448 f.); wohl auch Steindorff, ZHR 162 (1998), S. 290 (306). Für gemeinschaftsrechtlich zulässig erachten ein Verschuldenskriterium hingegen Bulst, S. 265 ff.; ders., ZEuP 2008, S. 178 (192 f.); Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (485); Röhrig, S. 159 f.; Stillfried/Stockenhuber, wbl. 1995, S. 345 (350) und Wurmnest, RIW 2003, S. 896 (898). 117 Schlussanträge des GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 53 – Banks (ohne Hervorhebung). van Gerven hat später einen Entwurf für eine harmoni-
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konkreten Ausgestaltung und Handhabung europarechtlichen Vorgaben per se zuwiderläuft, nicht überzeugen. Ein angemessener Individualschutz erfordert nicht zwingend den Verzicht auf ein Verschulden. Dies lässt sich bereits dem Deliktsrecht der Mehrheit der Mitgliedstaaten entnehmen. Auch unter dem Aspekt der effektiven Rechtsdurchsetzung kann nichts anderes gelten. Gerade im Bereich nicht eindeutiger Wettbewerbsbeschränkungen könnte eine Gefährdungshaftung insgesamt zu einer Überabschreckung führen, da Unternehmen aus Sorge vor einer Haftung auch von zulässigen, effizienzsteigernden Verhaltensweisen Abstand nähmen. Geht es aber um eine Ersatzhaftung für HardcoreVerstöße, wird die Effektivität der Rechtsdurchsetzung ohnehin nicht durch ein Verschuldenskriterium beeinträchtigt, da hier ein entschuldbarer Rechtsirrtum kaum denkbar erscheint. Dem Effektivitätsgrundsatz sollte deshalb nur insoweit Beachtung geschenkt werden, dass die in vielen Fällen schwierige Beurteilung kartellrechtlicher Verhaltensweisen nicht dazu führen kann, dass Verstöße gegen das Kartellrecht häufig aus dem Bereich der Fahrlässigkeit fallen. Ebenso dürfen bei der Handhabung des Verschuldenskriteriums durch die Gerichte keine übersteigerten Anforderungen an den Nachweis durch den Kläger gestellt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint ein Verschuldenserfordernis im nationalen Recht gemeinschaftsrechtskonform und ein genereller Verzicht hierauf auch rechtspolitisch zweifelhaft. Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass der EuGH den Effektivitätsgrundsatz zum Anlass nehmen wird, künftig auf ein Verschulden zu verzichten.118 Ebenso ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Kommission in ihrem Weißbuch zur Diskussion gestellt hat, den Nachweis eines fehlenden Verschuldens bzw. eines entschuldbaren Irrtums dem Rechtsverletzer aufzuerlegen.119 cc) Umfang des Schadensersatzes Hinsichtlich des Umfangs der Ersatzleistung finden sich im Gemeinschaftsrecht weitestgehend vergleichbare Maßstäbe wie im deutschen Recht, die bei der Anwendung der §§ 249 ff. BGB keine nennenswerten Korrekturen erfordern.120 Der Mindestumfang des zu gewährenden Schadensersatzes ergibt sich nach dem Äquivalenzgrundsatz zunächst aus dem nationalen Schadensersatzrecht. Der Schadensersatz bei Verletzungen des europäischen Kartellrechts darf hiernach nicht weniger umfassen als derjenige in vergleichbaren nationalen Sachverhalten. Sieht das nationale Schadensersatzrecht die Möglichkeit eines zusätzlichen Strafschadensersatzes vor – wie etwa das englische Recht in Form sierende Verordnung vorgestellt, der ebenfalls auf ein Verschulden i. R. d. Schadensersatzes verzichtet, ders., in: Ehlermann/Atanasiu, S. 53 (91). 118 So bereits Roth, FS-Huber, S. 1133 (1151). 119 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.4. 120 Siehe auch unten, S. 411 ff.
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der sog. „exemplary damages“121 – und findet dieser auch in nationalen Kartellzivilverfahren Anwendung, so muss er auch Opfern von Verstößen gegen das EG-Kartellrecht offenstehen.122 Weitergehende Vorgaben ergeben sich aus dem Effektivitätsgrundsatz. Dieser verlangt, dass der Ersatzanspruch im nationalen Recht eine „volle Kompensation“ ermöglicht. Nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH ist anerkannt, dass die Ersatzleistung bei Verletzungen des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zum verursachten Schaden „angemessen“ sein muss und nicht rein symbolisch sein darf.123 Das bedeutet, dass sie den tatsächlichen Schaden in voller Höhe ausgleichen muss.124 Der Schadensersatz soll soweit wie möglich das Vermögen des Betroffenen wiederherstellen, um das Opfer in die Lage zu versetzen, in der es sich befunden hätte, wenn die schädigende Handlung nicht geschehen wäre.125 Es zeigt sich hieran, dass auch nach den Maßstäben des EuGH die Schadensermittlung weitestgehend anhand einer Differenzhypothese erfolgt.126 Aus diesem Prinzip der vollen Kompensation hat der Gerichtshof drei Grundsätze in Bezug auf die Einzelheiten der Entschädigung abgeleitet. Zunächst darf der nationale Schadensersatzanspruch keiner Höchstbegrenzung unterliegen, da eine solche Festlegung einer Obergrenze unter Unterständen einer angemessenen Wiedergutmachung entgegensteht.127 Weiterhin darf der Schadensersatz nicht nur auf den positiven Schaden (damnum emergens) begrenzt sein, sondern muss auch den entgangenen Gewinn (lucrum cessans) umfassen.128 Schließlich setzt 121 Vgl. hierzu Rookes v. Barnard, [1964] AC 1129, [1964] 1 All ER 367. Vgl. hierzu C. Jones, S. 232 ff. 122 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 90 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III); EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I6619, Rdnr. 93 – Manfredi. 123 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, Rdnr. 23 f. – von Colson und Kamann; verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 82 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III); Rs. C-180/95, Slg. 1997, I-2195, Rdnr. 27 – Draehmpaehl; Rs. C-261/ 95, Slg. 1997, I-4025, Rdnr. 26 – Palmisani. Vgl. ebenfalls Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 10 lit. a. Vgl. auch Jaeger, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 81 Abs. 2 Rdnr. 35. 124 EuGH, Rs. 217/91, Slg. 1993, I-4367, Rdnr. 26 – Marshall II; verb. Rs. C-104/ 89 und C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Rdnr. 34 – Mulder I. 125 EuGH, Rs. C-308/87, Slg. 1994, I-341, Rdnr. 40 – Grifoni/EAG; verb. Rs. C104/89 u. C-37/90, Slg. 2000, I-203, Rdnr. 63 – Mulder II. 126 EuGH, Rs. 238/78, Slg. 1979, 2955, Rdnr. 13 – Ireks-Arkady (Quellmehl); verb. Rs. C-104/89 u. C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Rdnr. 26 – Mulder I; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 288 EGV Rdnr. 26. 127 EuGH, Rs. 217/91, Slg. 1993, I-4367, Rdnr. 30 – Marshall II; Rs. C-180/95, Slg. 1997, I-2195, Rdnr. 30 – Draehmpaehl. 128 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 87, 90 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III); verb. Rs. C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, I3061, Rdnr. 26 – Mulder I; verb. Rs. C-104/89 u. C-37/90, Slg. 2000, I-203, Rdnr. 63 – Mulder II; verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 95 – Man-
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die volle Kompensation eine Verzinsung des Schadens voraus. In der Rechtssache Marshall II führte der Gerichtshof hierzu aus, „daß für die völlige Wiedergutmachung des [. . .] entstandenen Schadens nicht von Umständen abgesehen werden kann, die, wie der Zeitablauf, den tatsächlichen Wert der Wiedergutmachung verringern können. Die Zuerkennung von Zinsen nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften ist daher als unerläßlicher Bestandteil einer Entschädigung anzusehen [. . .]“.129 Im konkreten Fall ging es um eine Zuerkennung von Zinsen auf den Hauptbetrag vom Tag der Diskriminierung bis zum Tag der Zahlung der Entschädigung. Übertragen auf die zivilen Rechtsfolgen einer Verletzung der Wettbewerbsregeln würde dies eine Verzinsung bereits ab der Schädigung nahe legen. Da das deutsche Recht mit der erweiterten Verzinsung des § 33 Abs. 3 Satz 4 GWB n. F. auch diesen Anforderungen genügen würde, ergibt sich insoweit jedoch kein Korrekturbedarf. dd) Der Einwand der Schadensabwälzung („passing-on defense“) Besondere Schwierigkeiten im Rahmen von Kartellzivilverfahren bereitet die Handhabung des Einwands der Schadensabwälzung (sog. „passing-on defense“).130 Hierbei geht es um die Frage, inwieweit das beklagte Unternehmen dem Schadensersatzanspruch seines Abnehmers wegen überhöhter Preise den Einwand entgegenhalten kann, dass der Kläger in der Lage gewesen ist, den kartellbedingten Mehrpreis auf seine Vertragspartner (teilweise) abzuwälzen. Im Zusammenhang mit kartellrechtlichen Sachverhalten haben sich die Gemeinschaftsgerichte bisher nicht näher mit dieser Frage auseinandergesetzt. Aufschluss hierzu gibt aber die Rechtsprechung des EuGH zum gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruch sowie zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft gemäß Art. 288 Abs. 2 EG, im Rahmen derer der Gerichtshof mehrfach zu dem Problem der Schadensabwälzung Stellung genommen hat. Nach ständiger Rechtsprechung ist hiernach anerkannt, dass das nationale Recht bei einem Erstattungsanspruch des Bürgers gegenüber dem Mitgliedstaat wegen einer gemeinschaftsrechtswidrig erhobenen Abgabe oder Steuer berücksichtigen kann, dass es dem rechtswidrig zu einer Abgabe herangezogenen Unternehmen
fredi; Schlussanträge des GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 50 – Banks. Vgl. auch Gilsdorf/Niejahr, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 288 EG Rdnr. 70. 129 EuGH, Rs. 217/91, Slg. 1993, I-4367, Rdnr. 31 – Marshall II. Vgl. hierzu auch C. Jones, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 95 (103 f.). Eine Zuerkennung von Verzugszinsen ab dem Tag der Urteilsverkündung ergibt sich bereits aus EuGH, Rs. 238/78, Slg. 1979, 2955, Rdnr. 20 – Ireks-Arkady (Quellmehl); verb. Rs. C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Rdnr. 35 – Mulder I. 130 Vgl. hierzu eingehend auch unten, S. 357 ff.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
gelungen ist, die Mehrkosten an den Markt weiterzureichen. 131 Der Schutz der aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden subjektiven Rechte verlangt keine Erstattung unter solchen Umständen, die zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würden. Auch im Rahmen der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft gemäß Art. 288 Abs. 2 EG stellt nach Ansicht des Gerichtshofs eine Schadensabwälzung den Betroffenen schadlos und ist deshalb grundsätzlich anzurechnen.132 Die Berücksichtigung der Schadensabwälzung erfährt gleichwohl einige Einschränkungen. Zunächst ist eine Minderung des Erstattungsanspruchs nur insoweit möglich, wie eine Abwälzung auf die Folgeabnehmer nachweislich stattgefunden hat.133 Bei einer nur teilweisen Abwälzung muss der verbleibende Rest erstattet werden.134 Beweisvorschriften, die einem Betroffenen die Erlangung eines Erstattungsanspruchs praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig machen, wie etwa gesetzliche Vermutungen, dass eine Abwälzung stattgefunden hat,135 oder Beweisregeln, die dem Betroffenen die Beweislast dafür auferlegen, dass keine Abwälzung stattgefunden hat,136 sind nicht mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren.137 Nationale Gerichte müssen somit im Lichte des jeweiligen Einzelfalls beurteilen, ob eine Schadensabwälzung vorliegt.138 Des Weiteren hebt der Gerichtshof hervor, dass es sich bei der Berücksichtigung der Schadensabwälzung um eine restriktiv zu handhabende Ausnahme handelt.139 Dabei ist zu beachten, dass eine Abwälzung nicht automatisch zu einer unge131 EuGH, Rs. C-147/01, Slg. 2003, I-11365, Rdnr. 94 – Weber’s Wine World; verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Slg. 1997, I-167, Rdnr. 27 f. – Société Comateb; Rs. 199/ 82, Slg. 1983, 3595, Rdnr. 13 – San Giorgio; Rs. 826/79, Slg. 1980, 2559, Rdnr. 14 – Mireco; Rs. 61/79, Slg. 1980, 1205, Rdnr. 26 – Denkavit; Rs. 68/79, Slg. 1980, 501, Rdnr. 26 – Hans Just. 132 EuGH, verb. Rs. 64 u. 113/76, 167 u. 239/78, 27, 28 u. 45/79, Slg. 1979, 3091, Rdnr. 15 – Dumortier Frères (Gritz); Rs. 238/78, Slg. 1979, 2955, Rdnr. 14 – IreksArkady (Quellmehl); verb. Rs. 241, 242, 245 bis 250/78, Slg. 1979, 3017, Rdnr. 15 – DGV; verb. Rs. 261, 262/78, Slg. 1979, 3045, Rdnr. 17 – Interquell. Vgl. hierzu auch Gilsdorf/Niejahr, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 288 EG Rdnr. 77 sowie Rudden/Bishop, E.L.R. 1981, S. 243 ff. 133 EuGH, verb. Rs. C-441/98 u. C-442/98, Slg. 2000, I-7145, Rdnr. 33 – Michaïlidis; verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Slg. 1997, I-167, Rdnr. 27 f. – Société Comateb. 134 EuGH, Rs. C-147/01, Slg. 2003, I-11365, Rdnr. 94 – Weber’s Wine World; verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Slg. 1997, I-167, Rdnr. 27 f. – Société Comateb. 135 EuGH, verb. Rs. 331/85, 376/85 u. 378/85, Slg. 1988, 1099, Rdnr. 11 f. – Bianco und Girard. 136 EuGH, Rs. 199/82, Slg. 1983, 3595, Rdnr. 14 – San Giorgio. 137 EuGH, verb. Rs. C-441/98 u. C-442/98, Slg. 2000, I-7145, Rdnr. 36 – Michaïlidis. 138 EuGH, verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Slg. 1997, I-167, Rdnr. 23 – Société Comateb. 139 EuGH, Rs. C-147/01, Slg. 2003, I-11365, Rdnr. 95 – Weber’s Wine World.
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rechtfertigten Bereicherung führen muss. Aufgrund möglicher Absatzrückgänge ist nämlich denkbar, dass trotz einer Schadensweitergabe nicht sämtliche wirtschaftlichen Auswirkungen des Rechtsverstoßes aufgehoben werden.140 Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt somit, dass dieser die Möglichkeit einer „passing-on defense“ grundsätzlich anerkennt. Gleichzeitig gibt er jedoch eine äußerst restriktive Haltung bezüglich der Voraussetzungen für eine Anrechnung vor.141 Im Lichte dieser Rechtsprechung liegt es zunächst nahe, in kartellrechtlichen Sachverhalten die Problematik der Schadensabwälzung entsprechend zu handhaben. Eine Übertragbarkeit auf das Kartelldeliktsrecht ist jedoch in der Literatur mehrfach angezweifelt worden.142 Die Erwägung des effet utile spricht hiergegen. Die Verteilung des Schadens über die verschiedenen Marktstufen ist äußerst schwierig zu bestimmen und würde somit die Komplexität von Kartellzivilverfahren erhöhen. Gleichfalls würden die Anreize für unmittelbare Abnehmer zur Erhebung von Schadensersatzklagen gemindert. Ebenfalls ist zu bedenken, dass die Rechtsprechung i. R. d. Art. 288 Abs. 2 EG und des gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruchs auch vom Aspekt geleitet ist, legislatives Handeln zu schützen und öffentliche Haushalte zu sichern. Diese Erwägungen kommen im Kartelldeliktsrecht nicht zum Tragen. Auch spielt der Präventionsgedanke im Rahmen der Staatshaftung bzw. des Erstattungsanspruchs keine Rolle. Dennoch hat der Gerichtshof im Courage-Urteil die Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung auf die Wettbewerbsregeln ausdrücklich bejaht und klargestellt, dass das Gemeinschaftsrecht die nationalen Gerichte nicht daran hindert, „dafür Sorge [zu tragen], dass der Schutz der gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Rechte nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führt“.143 Die Haltung des Gerichtshofs mag dadurch motiviert gewesen sein, dass in den Augen des Gerichtshofs ein strikter Ausschluss der „passing-on defense“ Auswirkungen auf die Klagebefugnis mittelbarer Abnehmer hätte.144
140 EuGH, Rs. C-147/01, Slg. 2003, I-11365, Rdnr. 99 ff., 101 – Weber’s Wine World; verb. Rs. C-441/98 u. C-442/98, Slg. 2000, I-7145, Rdnr. 34 – Michaïlidis; verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Slg. 1997, I-167, Rdnr. 27 ff. – Société Comateb; Rs. 68/79, Slg. 1980, 501, Rdnr. 26 – Hans Just. 141 So bereits Röhrig, S. 204. 142 C. Jones, S. 194 f.; Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (488); Norberg, 32 Fordham Corp. L. Inst., S. 243 (250 ff.) [2005]; Wahl, S. 366 ff.; Wurmnest, in: Behrens/Braun/ Nowak, S. 213 (244). Vgl. auch Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 159 ff. Anders hingegen in seinen Schlussanträgen GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 51 – Banks. Auch die Europ. Kommission spricht sich nunmehr in ihrem Weißbuch für die Zulassung der „passing-on defense“ aus, um so eine Mehrfachhaftung zu vermeiden, vgl. dies., Weißbuch, Ziff. 2.6. 143 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 30 – Courage. 144 So Roth, FS-Huber, S. 1133 (1151).
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Die Haltung des EuGH erweist sich für Kartelldelinquenten nur vordergründig als vorteilhaft. Die Courage-Entscheidung kann nämlich nicht dahingehend verstanden werden, dass nach dem Gemeinschaftsrecht eine Schadensabwälzung stets zum Ausschluss eines Schadensersatzbegehrens führen muss. Sie besagt schließlich nicht, dass die Zulassung der „passing-on defense“ einem gemeinschaftsrechtlichen Prinzip entspräche und deshalb gemeinschaftsrechtlich vorgegeben sei. Vielmehr ist ihr nur zu entnehmen, dass das EG-Recht einer Berücksichtigung im nationalen Recht nicht entgegensteht.145 Das Gemeinschaftsrecht weist dem nationalen Recht somit einen Gestaltungsspielraum bei einer Regelung zur Schadensabwälzung zu, ohne hinsichtlich des „ob“ Vorgaben zu machen.146 Ebenso muss die nationale Rechtsordnung im Falle einer Berücksichtigung der Schadensabwälzung in zweierlei Hinsicht dem Europarecht genügen: Zunächst darf die Tatsache der Abwälzung nicht allein für den Ausschluss eines Ersatzanspruchs ausreichen, sondern es muss darüber hinaus eine ungerechtfertigte Bereicherung des Anspruchstellers vermieden werden. Letztere ist nicht automatisch mit einer Schadensabwälzung verknüpft. Das Zivilgericht muss somit feststellen, dass der Anspruchsteller auch nicht durch einen Umsatzrückgang geschädigt ist. Schließlich unterliegt der nationale Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Beweisvorschriften Einschränkungen durch den Effektivitätsgrundsatz. Im Ausgangspunkt hat somit der Beklagte sowohl Abwälzung als auch die ungerechtfertigte Bereicherung zu beweisen. Sofern das nationale Recht eine „passing-on defense“ zulässt, wird diese restriktive Haltung des Gerichtshofs dem Schädiger Schwierigkeiten bereiten, den Einwand der Schadensabwälzung in der Praxis erfolgreich geltend zu machen.147 g) Folgerungen Im Ergebnis zeigt sich, dass die gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln aufgrund ihrer unmittelbaren Geltung subjektive Rechte zugunsten des Einzelnen begründen, deren Schutz den nationalen Gerichten obliegt. Im Ausgangspunkt gilt hier der Grundsatz der Verfahrensautonomie, wonach es dem einzelnen Mitgliedstaat überlassen bleibt, welche konkreten Maßnahmen er trifft, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Der hieraus erwachsende Gestaltungsspiel145 So auch in seinen Schlussanträgen GA Slynn, verb. Rs. 331/85, 376/85 u. 378/ 85, Slg. 1988, 1099 (1109) – Bianco und Girard sowie die Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 168. Vgl. hierzu etwa EuGH, Rs. 68/79, Slg. 1980, 501, Rdnr. 26 – Hans Just; Rs. 199/82, Slg. 1983, 3595, Rdnr. 13 – San Giorgio; Rs. 130/ 79, Slg. 1980, 1887, Rdnr. 13 – Express Dairy Foods. 146 Roth, FS-Huber, S. 11133 (1151); Bulst, S. 240. 147 Die Europ. Kommission gelangt deshalb zu der Einschätzung, „the Court itself has placed such conditions on the operation of the passing on defence that it could be argued that when it exists such a defence is in practice redundant“, vgl. dies., Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 166.
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raum unterliegt jedoch in vielerlei Hinsicht Beschränkungen durch das Europarecht, die sich auf die Modalitäten des Schadensersatzanspruchs und seiner praktischen Durchsetzung auswirken können. Hierbei ist insbesondere der in der Rechtsprechung des EuGH entwickelte Effektivitätsgrundsatz zu nennen. Dieser verlangt u. a., dass das nationale Recht zugunsten der Betroffenen einen Anspruch auf Schadensersatz bereithält. 3. Autonome gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzpflicht? Während heutzutage als unstreitig gelten kann, dass detaillierte Haftungsmodalitäten und insbesondere die prozessuale Ausgestaltung der Zivilrechtsfolgen bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht dem nationalen Recht unterliegen, wird seit geraumer Zeit im Schrifttum diskutiert, ob der Haftungsgrund und die wesentlichen Haftungsvoraussetzungen bereits unmittelbar dem (ungeschriebenen) Primärrecht zu entnehmen sind.148 Die Auseinandersetzung über eine autonome gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzhaftung ist eine Entwicklung der letzten 15 Jahre. Unmittelbar nach Inkrafttreten des EG-Vertrags ging man davon aus, dass in Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung eine Schadensersatzhaftung allein aus dem nationalen Recht erfolgen könne.149 Im Jahre 1974 stärkte dann der EuGH in der Entscheidung BRT/SABAM den Individualschutz im europäischen Kartellrecht und hob hervor, dass Artt. 81 Abs. 1, 82 EG unmittelbare Wirkung zwischen Einzelnen erzeugen und zugunsten der Betroffenen unmittelbar Rechte entstehen lassen.150 In den Augen mancher legte der Gerichtshof bereits hiermit den Grundstein für einen europarechtlich begründeten Schadensersatzanspruch.151 Ihren eigentlichen Beginn fand die Diskussion jedoch mit der Francovich-Entscheidung152 des EuGH und insbesondere mit den Schlussanträgen des früheren Generalanwalts van Gerven in der Rechtssache Banks.153
148 Vgl. hierzu insbes. Heine-Mernik, Die Entwicklung eines autonomen europäischen Kartelldeliktsrechts, 2002. Siehe nun auch Bulst, S. 187 ff. 149 Vgl. hierzu etwa die im Auftrag der Kommission im Jahr 1966 vorgelegte Studie Coing/Kronstein/Schlochauer (für Deutschland), S. 7; Europ. Kommission, Antwort auf die Anfrage Nr. 519/72 von Herrn Vredeling, ABl. EG 1973, C 67/55; Europ. Kommission, Dreizehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, Tz. 217 sowie im Schrifttum Ullrich, S. 30 ff.; Gleiss/Hirsch (3. Aufl.), Art. 85 (2) Rdnr. 441. Siehe auch Wurmnest, in: Behrens/Braun/Nowak, S. 213 (217) m. w. N. 150 EuGH, Rs. 127/73, Slg. 1974, 51 – BRT/SABAM. 151 Stillfried/Stockenhuber, wbl. 1995, S. 345 (346); Tilmann, ZHR 141 (1977), S. 32 (55). 152 EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich. 153 GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209 – Banks. Zuvor bereits Smith, ECLR 1992, S. 129 (132).
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
a) Staatshaftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht („Francovich“) Im Francovich-Verfahren hatte der Gerichtshof über die Schadensersatzpflicht von Mitgliedstaaten für die Nichtumsetzung einer Richtlinie zu entscheiden. Italien hatte es versäumt, rechtzeitig eine Richtlinie umzusetzen, die Arbeitnehmern einen Mindestschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers gewährleisten sollte. Die Kläger verlangten daraufhin von Italien Schadensersatz für infolge eines Konkurses ausgebliebene Arbeitsentgelte. Der EuGH entschied in der Sache, dass Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem Einzelnen durch dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen.154 Hierbei stellte er maßgeblich auf den Effektivitätsgrundsatz ab. Die Haftung des Staates folge zum einen „aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung,“155 zum anderen aus der allgemeinen Loyalitätspflicht gemäß Art. 10 EG.156 An späterer Stelle im Urteil stellt der Gerichthof sodann ausdrücklich klar, dass es sich hierbei um einen Ersatzanspruch handelt, „der unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründet ist“.157 In der Entscheidung Brasserie du Pêcheur158 wandte der EuGH diese Grundsätze der Amtshaftung auch auf Verletzungen des Primärrechts an. Voraussetzung für einen gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch ist demnach, dass (1) die verletzte Norm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, (2) dass der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und (3) dass zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht.159 Durch diesen „Francovich-Vorbehalt“160 hatte der Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie auf dem Gebiet der Staatshaftung eine wichtige Einschränkung erfahren. Ebenso wurde erstmals festgestellt, dass sich Ersatzansprüche unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben können. b) Die Rechtsprechung zur Haftung bei Verletzungen des EG-Kartellrechts Im Anschluss an die Francovich-Entscheidung stellte sich nun die Frage, inwieweit diese auch Auswirkungen auf die Haftung für Gemeinschaftsrechtsverletzungen im horizontalen Verhältnis zwischen Privatpersonen entfalten würde. 154
EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 37 – Francovich. EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 35 – Francovich. 156 EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 36 – Francovich. 157 EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 41 – Francovich (ohne Hervorhebung). 158 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III). 159 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 51 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III). 160 Vgl. C. Jones, S. 72. 155
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Die Gemeinschaftsgerichte haben zur Frage der Übertragbarkeit dieser Grundsätze auf das Kartelldeliktsrecht bislang nicht explizit Stellung genommen. Rund ein Jahr nach dem Francovich-Urteil vermied das EuG in der Rechtssache Automec II 161 eine diesbezügliche Auseinandersetzung. Vielmehr bekräftigte es, dass es vorbehaltlich Art. 81 Abs. 2 EG „Sache des nationalen Rechts [sei], die übrigen mit einer Verletzung des Artikels 85 EWG-Vertrag verbundenen Rechtsfolgen wie etwa die Verpflichtung zum Ersatz des einem Dritten zugefügten Schadens oder gegebenenfalls eine Verpflichtung zum Vertragsschluß festzulegen“.162 Ohne das Urteil Francovich zu erwähnen, hielt es an dem bisher gültigen Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fest. Auch die jüngsten Entscheidungen Courage und Manfredi des EuGH brachten nicht die erhoffte Klärung in dieser Frage.163 In der Courage-Entscheidung machte der Gerichtshof zwar deutlich, dass eine Schadensersatzhaftung bei Verletzungen des EG-Kartellrechts unerlässlich ist.164 Aber zur Frage, ob der Rechtsgrund dieses Schadensersatzanspruches unmittelbar im Gemeinschaftsrecht oder im nationalen Recht zu verorten ist, besagt das Urteil – anders als die Francovich-Entscheidung – hingegen nichts. Vielmehr nimmt der Gerichtshof im Weiteren Bezug auf die Rewe-Rechtsprechung,165 mit welcher er maßgeblich den Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie begründet hatte: „Mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung ist es jedoch Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sofern diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die entsprechender innerstaatlicher Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).“166
Die gewählte Formulierung („Verfahrensmodalitäten“) deutet auf den ersten Anschein zwar darauf hin, dass die nationale Verfahrensautonomie nur noch auf reine Verfahrensfragen beschränkt ist und die materiellrechtlichen Vorraussetzungen dementsprechend bereits im Primärrecht geregelt werden. Ein solches Verständnis ist jedoch keineswegs zwingend, wenn man den Wortlaut der zitier161
EuG, Rs. T-24/90, Slg. 1992, II-2223 – Automec II. EuG, Rs. T-24/90, Slg. 1992, II-2223, Rdnr. 50 – Automec II. 163 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 – Courage; EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619 – Manfredi. 164 Vgl. hierzu bereits oben, S. 102 ff. 165 EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rdnr. 5 – Rewe/Landwirtschaftskammer Saarland. Ausdrücklich nimmt der EuGH nur Bezug auf die Entscheidung Palmisani, Rs. C-261/95, Slg. 1997, I-4025. Der zitierte Grundsatz geht jedoch auf die ReweEntscheidung zurück. 166 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 29 – Courage. 162
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ten Entscheidung Palmisani sowie die Schlussanträge des Generalanwalts Mischo („materielle und formelle Voraussetzungen“) berücksichtigt.167 Des Weiteren führt der Gerichtshof hinsichtlich der „Verfahrensmodalitäten“ weiter aus, dass das Gemeinschaftsrecht die nationalen Gerichte nicht daran hindert, dafür Sorge zu tragen, dass ein Ersatzanspruch nicht zu einer „ungerechtfertigten Bereicherung“ zugunsten des Anspruchstellers führt. Bei dem hierbei in Betracht kommenden Aspekt der Vorteilsausgleichung handelt es sich jedoch zweifelsohne um eine Frage des materiellen Rechts.168 In jedem Fall hat die CourageEntscheidung zumindest in der Entscheidungspraxis des EuG zu keiner Veränderung geführt. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entscheidungen Courage und Automec II bekräftigte das Gericht erster Instanz wenig später in der Rechtssache Atlantic Container Line, dass „die mit einer Verletzung des [Art. 81 EG] verbundenen zivilrechtlichen Folgen, wie etwa die Verpflichtung zum Ersatz des einem Dritten zugefügten Schadens“ Sache des nationalen Rechts sei.169 Für die Existenz eines unmittelbar aus Artt. 81, 82 EG fließenden Anspruchs lassen sich jedoch die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs im Verfahren AOK Bundesverband anführen.170 Dort führt dieser aus, dass nach seiner Auffassung „jeder, dem durch dieses Verhalten ein Schaden entstanden ist, vorbehaltlich nationaler Verfahrensvorschriften, die den Grundsätzen der Äquivalenz und Effizienz entsprechen, nach dem Gemeinschaftsrecht sowohl Schadensersatz als auch Beseitigung verlangen kann.“171 Auch die Manfredi-Entscheidung scheint zunächst darauf hinzudeuten, dass der EuGH nun von einem ungeschriebenen gemeinschaftsrechtlichen Ersatzanspruch ausgeht. Im zweiten Leitzsatz des Urteils heißt es dazu: „Artikel 81 EG ist dahin auszulegen, dass jeder [. . .] Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen kann, wenn zwischen diesem und dem Kartell oder Verhalten ein ursächlicher Zusammenhang besteht.“172 Ebenso geht der Gerichtshof näher auf die materiellen Vorraussetzungen hierfür ein. Notwendig sei lediglich, dass eine Wettbewerbsbeschränkung zu einem kausalen Schaden geführt hat. Eine ausdrückliche Bezugnahme auf die FrancovichGrundsätze oder die Schlussanträge des Generalanwalts van Gerven in der Rechtssache Banks fehlt indes. Auch erscheint der genannte Leitsatz in einem anderen Licht, wenn man die Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed hin167 Vgl. EuGH, Rs. C-261/95, Slg. 1997, I-4025, Rdnr. 27 – Palmisani sowie Schlussanträge des GA Mischo, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 47 – Courage. 168 So auch Bulst, S. 205. 169 EuG, T-395/94, Slg. 2002, II-875, Rdnr. 298 – Atlantic Container Line. 170 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C-355/01, Slg. 2004, I-2493 – AOK Bundesverband. 171 Schlussanträge des GA Jacobs, verb. Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C355/01, Slg. 2004, I-2493, Rdnr. 104 – AOK Bundesverband (ohne Hervorhebung). 172 EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619 – Manfredi.
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zuzieht.173 Dieser schlug nämlich dem Gerichtshof die Beantwortung der Vorlagefrage mit exakt derselben Formulierung vor, die sich im zweiten Leitsatz des späteren Urteils findet, differenzierte aber in den Ausführungen ausdrücklich zwischen der Nichtigkeitsfolge und den anderen zivilrechtlichen Folgen von Wettbewerbsverstößen. Nur der Nichtigkeitsaspekt ergebe sich unmittelbar aus dem EG-Vertrag, hinsichtlich der Geltendmachung von Schadensersatz sei hingegen grundsätzlich das nationale Recht heranzuziehen.174 Hierbei unterliege es aber den europarechtlich gebotenen Rahmenbedingungen. Festzuhalten ist damit zunächst, dass sich die Gemeinschaftsgerichte – auch nach den Entscheidungen Courage und Manfredi – nicht ausdrücklich zur Existenz eines autonomen gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruchs für Verletzungen der europäischen Wettbewerbsregeln bekannt haben. c) Ansatz einer im Gemeinschaftsrecht begründeten Schadensersatzhaftung Insbesondere in den letzten Jahren ist die Existenz einer unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründeten Schadensersatzhaftung für EG-Kartellrechtsverstöße vertreten worden.175 Hiernach legt das europäische Recht unmittelbar selbst den Haftungsgrund sowie die wesentlichen materiellen Haftungsvoraussetzungen fest.176 Dabei könnten die Einzelheiten der Haftungsmodalitäten der Rechtsprechung zur Staatshaftung entlehnt werden.177 Maßgeblich stützt sich diese Ansicht auf die Schlussanträge des Generalanwalts van Gerven in der Rechtssache Banks,178 einem Verfahren, in dem der EuGH selbst nicht über diese Frage entscheiden musste. 173 Schlussanträge des GA Geelhoed, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619 – Manfredi. 174 Schlussanträge des GA Geelhoed, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 53 ff. – Manfredi. 175 Weiß, in: Calliess/Ruffert, Art. 81 Rdnr. 149; v. Gerven, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 53 (58); Heine-Mernik, S. 178 ff. (unter Rückgriff auf Art. 17 EG, S. 184 ff.); C. Jones, S. 71; ders., W. Comp. 2004, S. 13 (15); Keßler, WRP 2006, S. 1061 (1065); Köhler, GRUR 2004, S. 99 (100); Komninos, CMLRev. 2002, S. 447 (466 ff.); Mäsch, EuR 2003, S. 825 (841 f.); Norberg, 32 Fordham Corp. L. Inst., S. 243 (243, 246) [2005]; Nowak, EuZW 2001, S. 717 (718); Reich, CMLRev. 2005, S. 35 (38); Röhrig, S. 143 ff. (153); Smith, ECLR 1992, S. 129 (132); Stillfried/Stockenhuber, wbl. 1995, S. 345 (347 ff.); Waelbroeck, in: Heukels/McDonnell, S. 311 (318 ff.); Weyer, ZEuP 2003, S. 318 (318); Winterstein, ECLR 1995, S. 49 (50 ff.). So wohl jetzt auch die Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 16 ff. (20); anders aber zu verstehen in ihrem Grünbuch, S. 4. 176 So Röhrig, S. 154. 177 v. Gerven, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 53 (61 f.); Reich, CMLRev. 2005, S. 35 (62), Röhrig, S. 156. 178 Schlussanträge von GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 36 ff. – Banks.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Die Vertreter dieses Ansatzes verstehen die Existenz eines europarechtlichen Schadensersatzanspruchs als eine konsequente Fortführung der FrancovichRechtsprechung im Lichte der europarechtlichen Grundsätze der unmittelbaren Anwendbarkeit und des Effizienzgebots (effet utile). Die vom EuGH anerkannte (gemeinschaftsrechtliche) Schadensersatzhaftung von Mitgliedstaaten für Verletzungen des Gemeinschaftsrechts beruhe in erster Linie darauf, dass nur durch eine Kompensation der verursachten Schäden die „volle Wirksamkeit“ der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen gewährleistet werden könne und demgemäß der Ersatzanspruch unmittelbar aus dem Wesen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung folge. Diese allgemeine Haftungsgrundlage – so van Gerven – beanspruche genauso Geltung gegenüber dem Einzelnen, sofern dieser gegen Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht verstoße.179 „Auch dann würde die volle Wirkung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt, wenn der [Einzelne] nicht die Möglichkeit hätte, Schadensersatz von der Partei zu erlangen, der die Verletzung des Gemeinschaftsrechts zuzurechnen ist.“180 Es sei nämlich in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte anerkannt, dass der Einzelne ebenso wie die Mitgliedstaaten ein Rechtssubjekt der gemeinschaftlichen Rechtsordnung sei und diesem aus unmittelbar geltenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts gleichermaßen Rechte und Verpflichtungen erwüchsen. Wie der EuGH bereits festgestellt habe, stelle der Entschädigungsanspruch die notwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung dar.181 Da im Rahmen der Staatshaftung und der Privathaftung die Aspekte des effet utile und der unmittelbaren Wirkung gleichermaßen betroffen seien, sei kein zwingender Grund erkennbar, zwischen diesen beiden Konstellationen zu differenzieren.182 Der Vorteil eines genuin gemeinschaftsrechtlichen Anspruchs wäre nach dieser Ansicht, dass sich die negativen Effekte einer Vielzahl von nationalen Regelungen auf die einheitliche und effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts vermeiden ließen.183 Die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sei nach Ansicht des Gerichtshofes in seinem Urteil Zuckerfabrik Süderdithmarschen „ein Grunderfordernis der gemeinschaftlichen Rechtsordnung“.184 Sofern sich der Schadensersatzanspruch für Verletzungen der Wettbewerbsregeln unmit179 Schlussanträge von GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 43 – Banks. 180 Schlussanträge von GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 43 – Banks. 181 EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rdnr. 20 – Brasserie du Pêcheur (Factortame III). 182 Komninos, CMLRev. 2002, S. 447 (454); C. Jones, S. 71 f.; Röhrig, S. 148 f.; Smith, ECLR 1992, S. 129 (132); Waelbroeck, in: Heukels/McDonnell, S. 311 (318). 183 Schlussanträge von GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 47 – Banks; zustimmend: Mäsch, EuR 2003, S. 825 (842). 184 EuGH, verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89, Slg. 1991 I-415, Rdnr. 26 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen.
I. Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes
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telbar aus dem Primärrecht ergäbe, wäre allein der EuGH zu seiner Auslegung berufen;185 die Gefahr „nationaler Eigenbrötelei“186 wäre somit ausgeschlossen. Weiterhin wird für einen gemeinschaftsrechtlich verankerten Schadensersatzanspruch die Untrennbarkeit von subjektivem Recht und Ansprüchen zu dessen Wahrung angeführt (ubi ius ibi remedium).187 Hiernach erstarke eine Rechtsposition erst dann zu einem subjektiven Recht, wenn sie in Form von Ansprüchen mit einer Durchsetzungsmacht ausgestattet ist, die dem Inhaber der Rechtsposition erlaubt, gegen Beeinträchtigungen des Rechts vorzugehen.188 Subjektives Recht und Anspruch stellten demnach zwei Seiten einer Medaille dar. Da seit dem Urteil BRT/SABAM feststehe, dass die Artt. 81, 82 EG auch individuelle Rechte verleihen, ergebe sich hieraus auch, dass die notwendigen Ansprüche zu ihrer Gewährleistung unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründet sind.189 Einen weiteren Impuls hat der Ansatz eines europarechtlichen Schadensersatzanspruchs schließlich durch die Courage-Entscheidung190 des EuGH erhalten. Das Urteil wurde vielfach als Bestätigung der von Generalanwalt van Gerven vorgezeichneten Linie verstanden. Zum einen weise es in der Argumentation starke Parallelen zur Francovich-Entscheidung auf.191 Ebenso wie in Francovich habe der EuGH die Befugnis einer geschädigten Partei, Schadensersatz zu verlangen, aus der notwendigen Gewährleistung der „vollen Wirkung“ gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen abgeleitet.192 Schließlich überlasse der Gerichtshof dem innerstaatlichen Recht ausdrücklich nur noch die Regelung der „Verfahrensmodalitäten“.193 Hierin werde deutlich, dass die materiellrechtlichen
185 Schlussanträge von GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 46 – Banks; Mäsch, EuR 2003, S. 825 (843). 186 So Mäsch, EuR 2003, S. 825 (843). 187 Mäsch, EuR 2003, S. 825 (845 f.); zuvor bereits v. Gerven, CMLRev. 2000, S. 501 (511); Komninos, CMLRev. 2002, S. 447 (480). van Gerven differenziert gleichwohl zwischen „konstitutiven“ und „exekutiven“ Elementen eines Anspruchs. Letztere würden durch das nationale Recht bestimmt. Vgl. v. Gerven, CMLRev. 2000, S. 501 (527 f.) 188 Vgl. Mäsch, EuR 2003, S. 825 (845). 189 In letzter Konsequenz würde diese Sichtweise im gesamten Europarecht zu einer Abkehr vom Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie für die materiellrechtliche Ausgestaltung von Rechtsbehelfen zum Schutz subjektiver Gemeinschaftsrechte führen. 190 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 – Courage. 191 Vgl. Komninos, CMLRev. 2002, S. 447 (467 ff.); Nowak, EuZW 2001, S. 717 (718). 192 Komninos, CMLRev. 2002, S. 447 (468); Nowak, EuZW 2001, S. 717 (718). Vgl. hierzu EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 Rdnr. 25 f. – Courage und EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rdnr. 32 f. – Francovich. 193 Unter Verweis auf EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 Rdnr. 29 – Courage. Siehe hierzu bereits oben, S. 120 ff.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Voraussetzungen bereits unmittelbar im Gemeinschaftsrecht selbst geregelt seien.194 d) Ansatz einer im nationalen Recht begründeten Schadensersatzhaftung Nach der im – zumindest deutschen – Schrifttum noch vorherrschenden Meinung kann sich der Schadensersatz für Verletzungen der Artt. 81, 82 EG nur nach nationalem Recht ergeben.195 Zunächst einmal wird der Gegenansicht entgegengehalten, dass sich in der Rechtsprechungspraxis der Gemeinschaftsgerichte kein hinreichender Beleg für eine solche Rechtsfortbildung finde.196 Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Staatshaftung lasse sich nicht ohne weiteres auf eine Schadensersatzhaftung im horizontalen Verhältnis übertragen, da der EuGH in der Entscheidung Francovich den Haftungsanspruch mit dem Verweis auf Art. 10 EG begründete. Die hierin statuierten Loyalitätspflichten bänden jedoch ausschließlich die Mitgliedstaaten, nicht jedoch den einzelnen Bürger. Sprachliche Parallelen in der Rechtsprechung seien zu vage, um als Rechtsgrundlage dienen zu können. Ebenfalls fehle es – auch nach der CourageEntscheidung – für einen autonomen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch an einer nötigen Präzisierung bezüglich der konkreten Haftungsvoraussetzungen.197 So seien viele Fragen, wie etwa hinsichtlich des Schadens (insb. des Umfangs, der Schadensabwälzung und der Schadensminderung), der notwendigen Kausalität und eines möglichen Verschuldenserfordernisses bislang nicht geklärt. Ein Rückgriff auf die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zu vergleichbaren 194
So etwa Röhrig, S. 153; Nowak, EuZW 2001, S. 717 (718). Baur/Weyer, in: FK, Art. 81 (Zivilrechtsfolgen) Rdnr. 95; Bunte, in: Langen/ Bunte, Art. 81 (Gen. Prinzip.) Rdnr. 221; Jaeger, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 81 Abs. 2 Rdnr. 32; IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 2, 13; Baur, EuR 1988, S. 257 (259); Basedow, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 137 (137); Brinker, in: Schwarze, S. 107 (109); Brinker/Balssen, FS-Bechtold, S. 69 (72 f.); Bulst, S. 187 ff.; ders., in: ZEuP 2008, S. 178 (185 f.); Fuchs, Stellungnahme i. R. d. Beratung zur 7. GWB-Novelle, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 50 (Fn. 86); Hempel, S. 99; Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (476); Lübbig, in: MünchKomm, GWB, § 33 Rdnr. 59; Mestmäcker/Schweitzer, § 22 Rdnr. 4 f.; Tilmann, ZHR 140 (1977), S. 32 (55); Weyer, ZEuP 1999, S. 424 (439); Wurmnest, RIW 2003, S. 896 (897). So auch die Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten (alte Fassung), ABl. EG 1993, C 39/6, Tz. 11; offener formuliert jedoch in der Fassung von 2004, wonach sich die Sanktionen „weitestgehend“ aus nationalem Recht ergeben, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 9. 196 Wahl, S. 185. 197 Baur/Weyer, in: FK, Art. 81 (Zivilrechtsfolgen) Rdnr. 95; Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (476); Weyer, ZEuP 1999, S. 424 (438); Wurmnest, RIW 2003, S. 896 (897). Vereinzelt wird jedoch aus der Courage-Entscheidung abgeleitet, dass der EuGH einem Ersatzanspruch drei Haftungsvoraussetzungen (Verletzung der Wettbewerbsregeln, Schaden und Kausalität) zugrunde gelegt habe, so Nowak, EuZW 2001, S. 716 (718). 195
I. Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes
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Fragen in anderen Rechtsgebieten ließe häufig keine eindeutige Antwort zu, weshalb eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für ein europäisches Kartelldeliktsrecht notwendig sei.198 Auch das Courage-Urteil könne nicht als Beleg für einen autonomen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch verstanden werden. In der Entscheidung habe der Gerichtshof trotz einiger Parallelen zu den Urteilsgründen in der Sache Francovich in entscheidender Hinsicht von dieser abgewichen und darauf verzichtet, in ähnlich eindeutiger Formulierung eine Verortung des Anspruchs unmittelbar im Gemeinschaftsrecht zu begründen.199 Stattdessen habe der Gerichtshof auf seine Rewe-Rechtsprechung200 verwiesen, mit welcher er maßgeblich den Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie begründet hatte.201 Hierin werde gerade deutlich, dass er weiterhin an der Maßgeblichkeit des nationalen Rechts für den zu gewährleistenden Rechtsschutz festhalte. Schließlich wird gegen einen ungeschriebenen primärrechtlichen Anspruch vorgebracht, dass eine derartige Rechtsfortbildung die dem EuGH zukommende Kompetenz zur Auslegung des EG-Vertrages überschreiten würde.202 Eine Befugnis des Gerichts sei vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 EG) deshalb dogmatisch nur schwer zu begründen.203 e) Stellungnahme Angesichts der bewussten Zurückhaltung des Gerichtshofs, explizit zur Existenz eines autonomen gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruchs Stellung zu nehmen, steht jede Bewertung unter dem Vorbehalt eines klärenden Urteils in dieser Frage. Im Ergebnis erscheint jedoch der Ansatz eines nationalen Anspruchs vorzugswürdig. Im Ausgangspunkt der Fragestellung muss der Grundsatz gelten, dass nach ständiger Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte das nationale Recht berufen ist, den notwendigen Rechtsschutz zu gewähren, um den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und den hieraus resultierenden Individualrechten im Falle ihrer Verletzung volle Wirksamkeit zu verschaffen. Dies galt zunächst auch unstreitig für die europäischen Wettbewerbsregeln. Eine Abkehr vom Grundsatz der Verfahrensautonomie in Hinblick auf die materiellrechtlichen Voraussetzungen eines Ersatzanspruchs lässt sich 198
Weyer, ZEuP 1999, S. 424 (439). Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81 Rdnr. 251; Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (476); Bulst, S. 209; ders., ZEuP 2008, S. 178 (185 f.); Wurmnest, RIW 2003, S. 896 (897); ders., in: Behrens/Braun/Nowak, S. 213 (221). 200 EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rdnr. 5 – Rewe/Landwirtschaftskammer Saarland. 201 Wurmnest, RIW 2003, S. 896 (897). 202 Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (476); Weyer, ZEuP 2003, S. 318 (339). 203 Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (476). 199
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
(aa) weder anhand der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte eindeutig belegen (bb) noch besteht hierfür ein zwingendes Bedürfnis. (aa) Gegen einen genuin europarechtlichen Anspruch spricht zunächst, dass sich dessen Existenz und Ausformung auch weiterhin nur auf bloße Vermutungen und vermeintliche Parallelen zur Staatshaftung stützen lässt. Eine Anwendung durch die nationalen Gerichte ist derzeit kaum möglich, fehlt hierfür doch jede gesicherte Grundlage. Der Europäische Gerichtshof hatte mehrfach die Gelegenheit, diesbezüglich die notwendigen Klarstellungen zu geben, sah hiervon jedoch ab. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man die seit der FrancovichEntscheidung204 vorherrschende Diskussion berücksichtigt, die nicht zuletzt beim Gerichtshof selbst, nämlich in den Schlussanträgen des Banks-Verfahrens,205 ihren Ausgang nahm. Weder in der Courage- noch in der Manfredi-Entscheidung findet sich eine Bestätigung für die Ausführungen des früheren Generalanwalts van Gerven. Diese Zurückhaltung ist ein Beleg dafür, dass der Gerichtshof eine Entscheidung (vorerst) nicht treffen wollte. Bloße Ähnlichkeiten des Courage-Urteils mit der Francovich-Rechtsprechung oder dessen vereinzelte Zitierung reichen ebenso wenig für die Annahme einer Rechtsfortbildung aus wie der Hinweis auf die „Verfahrensmodalitäten“ des nationalen Rechts. Weder trennt der EuGH zwischen materiellrechtlichen und prozessualen Regelungen in der im deutschen Rechtskreis üblichen Schärfe, noch erscheint es plausibel, dass der Gerichtshof in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung ein eingeschränktes, rein prozessuales Verständnis der Verfahrensautonomie vertreten wollte, gleichzeitig aber zur Stützung seiner Ansicht die bisherige Rechtsprechung zitiert. Vielmehr legt die Entscheidung Atlantic Container Line206 des EuG – von der sich der EuGH nicht distanziert – nahe, dass derzeit nicht von der Existenz eines europarechtlichen Anspruchs ausgegangen werden kann. (bb) Des Weiteren erscheint eine Abkehr vom Prinzip der nationalen Verfahrensautonomie auch nicht weiterführend. Zunächst ist in praktischer Hinsicht anzuführen, dass die Statuierung bzw. „Aktivierung“ eines dem EG-Vertrag immanenten Anspruchs zu keinen wesentlichen Veränderungen führen würde.207 Wie bereits dargelegt, wird das nationale Recht bei der Ausgestaltung von Sanktionen für Verletzungen des Gemeinschaftsrechts in vielerlei Hinsicht durch europarechtliche Vorgaben überlagert und modifiziert.208 Eine „Europäisierung“ des Schadensersatzanspruchs wäre nur dann von Vorteil, wenn das na-
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EuGH, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich. EuGH, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209 – Banks. 206 EuG, Rs. T-395/94, Slg. 2002, II-875 – Atlantic Container Line. 207 Vgl. auch Baur/Weyer, in: FK, Art. 81 (Zivilrechtsfolgen) Rdnr. 95; Wagner, AcP 206 (2006), S. 352 (420). 208 Vgl. hierzu oben, S. 96 ff. 205
I. Das europäische Kartellrecht und die Sanktion des Schadensersatzes
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tionale Recht keinen Schadensersatz vorsähe.209 Dieser Vorgabe werden aber mittlerweile alle nationalen Rechtsordnungen gerecht. Genau hier besteht der entscheidende Unterschied zur Francovich-Rechtsprechung, die maßgeblich von dem Bemühen des EuGH getragen war, eine auf nationaler Ebene bestehende Rechtsschutzlücke bei legislativem Unrecht zu schließen.210 Ob sich die Rechtsgrundlage nun unmittelbar aus dem Europarecht oder aus dem nationalen Recht ergibt, macht ansonsten jedoch keinen maßgeblichen Unterschied. Auch hinsichtlich der wesentlichen Anspruchsvoraussetzungen – für Detailregelungen ist ein Rückgriff auf nationale Bestimmungen ohnehin unvermeidlich – ist nicht ersichtlich, zu welchen Ergebnissen eine europarechtliche Regelung führen würde, die nicht auch im Wege einer Korrektur durch das Effizienzgebot zu erzielen wären. Des Weiteren ist zu bedenken, dass aus Sicht des Gemeinschaftsrechts allein entscheidend ist, die „volle Wirksamkeit“ der europarechtlichen Bestimmungen zu gewährleisten. Soweit dieses bereits über das nationale Recht erreicht wird, besteht für eine Rechtsfortbildung kein Bedarf. Vielmehr ist fraglich, ob eine Rechtsfortbildung auf diesem Gebiet der Wirksamkeit der privaten Kartellrechtsdurchsetzung nicht abträglich wäre. Die ungelösten Fragen und Schwierigkeiten des nationalen Rechts im Rahmen des Kartelldeliktsrechts würden sich ebenso im „neuen Gewand“ eines europarechtlichen Anspruchs stellen. Hinzu kämen jedoch die bislang im Europarecht ungeklärten Punkte, deren Behandlung im nationalen Schadensersatzrecht keine Schwierigkeiten bereiten. Der Rechtssicherheit wäre damit sicher nicht gedient. Für Kartellzivilverfahren ebenso wenig förderlich wäre, dass künftig zwischen den zivilen Rechtsfolgen für Verletzungen des europäischen und des nationalen Rechts unterschieden würde. Insgesamt steht daher zu befürchten, dass die private Kartellrechtsdurchsetzung durch eine „Europäisierung“ des Anspruchs an Handhabbarkeit verlöre. Schließlich ist hinsichtlich einer Übertragung der Francovich-Rechtsprechung auf das Kartelldeliktsrecht bereits deshalb Zurückhaltung geboten, weil diese konsequenterweise zu einer generellen horizontalen Schadensersatzhaftung im Europarecht führen müsste.211 Eine Begrenzung allein auf das Gebiet der Wettbewerbsregeln ist schwerlich zu begründen. Vorzugswürdiger erscheint es deshalb, weiterhin von einem nationalen Anspruch auszugehen, der seinerseits europarechtlichen Vorgaben unterliegt. 209 Dieser Aspekt wurde u. a. als Argument für einen europarechtlichen Anspruch vorgetragen, vgl. GA van Gerven, Schlussanträge in der Rechtssache Banks, Rs. C128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 44; Winterstein, ECLR 1995, S. 49 (50). Siehe hierzu aber Bulst, S. 201 ff., der im Lichte des Effektivitätsgrundsatzes selbst für den Fall, dass das nationale Recht gar keine Ansprüche für Kartellopfer vorsähe, einen Ersatzanspruch nach nationalem Recht befürwortet. 210 So auch Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81 Rdnr. 251; Wurmnest, in: Behrens/Braun/Nowak, S. 213 (222). 211 So auch Lettl, ZHR 167 (2003), S. 472 (476).
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass trotz einer intensiven Diskussion im Schrifttum derzeit nicht von der Existenz eines unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Schadensersatzanspruchs auszugehen ist. Ein solcher lässt sich weder der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte entnehmen noch besteht hierfür ein zwingendes Bedürfnis. Gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich der EuGH künftig für einen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch aussprechen wird. Ebenso kann die geführte Diskussion in Kürze durch eine gesetzliche Regelung im Anschluss an das Weißbuch von 2008 obsolet werden.212
II. Schadensersatzpflicht bei Verletzungen europäischen Kartellrechts in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle Die Betrachtung des Gemeinschaftsrechts hat gezeigt, dass den Artt. 81, 82 EG ein privatrechtlicher Geltungsanspruch zukommt. Die aus Perspektive des Gemeinschaftsrechts durchaus gewünschten und im Einzelfall sogar vorgegebenen zivilrechtlichen Sanktionen für Kartellrechtsverstöße richten sich jedoch – ungeachtet der Nichtigkeitsanordnung gem. Art. 81 Abs. 2 EG – nach nationalem Recht. In Deutschland konnten vor der 7. GWB-Novelle Schadensersatzansprüche wegen Verletzungen europäischen Kartellrechts nicht auf die kartellrechtliche Spezialnorm des § 33 GWB a. F. gestützt werden, da diese ausdrücklich die Verletzung einer Bestimmung des GWB voraussetzte. Als mögliche Anspruchsgrundlage für solche Ansprüche kam jedoch die deliktische Generalklausel des § 823 Abs. 2 BGB in Betracht. In der Sache ergaben sich hieraus keine Unterschiede, so dass das gemeinschaftsrechtliche Äquivalenzgebot gewahrt blieb. Ebenso wie i. R. d. § 33 GWB a. F. war somit für einen Schadensersatzanspruch Voraussetzung, dass eine Verletzung der Artt. 81 oder 82 EG als ein Verstoß gegen ein Schutzgesetz qualifiziert werden konnte. Die Vorfrage, ob die Wettbewerbsregeln auch den Schutz des Einzelnen bezwecken, konnte nicht nach nationalem Recht, sondern allein nach Gemeinschaftsrecht entschieden werden.213 Vergleichbar der in Deutschland während der 1950er und 1960er Jahre geführten Diskussion um einen Individualschutz oder einen ausschließlichen Institutionenschutz durch das deutsche Kartellrecht war der Schutz von Einzelinteressen durch die europäischen Wettbewerbsregeln zunächst ebenfalls umstritten.214 Noch bis in die 1970er Jahre war die Schutzgesetzeigenschaft der 212 Sofern eine sekundärrechtliche Regelung geschaffen wird, kommt der Frage nach einer ungeschriebenen Haftung aus dem Primärrecht nur noch eine akademische Relevanz zu. 213 Schröter, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 81 Rdnr. 261. 214 Vgl. hierzu Koch, S. 29 ff.; Mestmäcker (1. Aufl.), S. 574 ff.; Baur, EuR 1988, S. 257 (257 ff.).
II. Schadensersatzpflicht in Deutschland vor der 7. GWB-Novelle
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Artt. 81, 82 EG bestritten worden.215 Neben den Erwägungen, die auch für einen reinen Institutionenschutz des GWB angeführt worden waren,216 wurde hierbei der Zwischenstaatlichkeitsklausel der Artt. 81, 82 EG eine entscheidende Bedeutung zugemessen. Man ging davon aus, dass die europäischen Wettbewerbsregeln ausschließlich der Verwirklichung der Ziele der Europäischen Gemeinschaft, speziell der Marktintegration, nicht aber der nationalen Wettbewerbsordnung dienten.217 Ebenso wurde geltend gemacht, dass den europäischen Wettbewerbsregeln keine Vorstellung von der persönlichen Freiheit zugrunde liege.218 Diese ablehnende Haltung konnte sich zunächst noch auf eine Entscheidung des BGH zum Diskriminierungsverbot des Art. 60 EGKSV219 stützen. In dieser hatte der BGH abgelehnt, dem Montanrecht einen privatrechtlichen Geltungsanspruch beizumessen.220 Er begründete seine Auffassung insbesondere damit, dass das Montanrecht für den wirtschaftlichen Teilbereich Kohle und Stahl eine hoheitlich geleitete Integration verfolge und die maßgebenden Bestimmungen deshalb einer Konkretisierung durch die Montanunionorgane erforderten.221 Des Weiteren spreche die Gefahr einer unterschiedlichen Interpretation des Gemeinschaftsrechts durch die mitgliedstaatlichen Gerichte und eine hierdurch bedingte Ungleichheit dagegen, dem Diskriminierungsverbot privatrechtliche Wirkungen zuzusprechen.222 Die Unklarheiten über einen bewirkten Individualschutz wurden spätestens in den 1970er Jahren durch die Rechtsprechung des EuGH ausgeräumt. Bereits zuvor in der Entscheidung van Gend & Loos223 hatte der Gerichtshof ausgeführt, dass die Verfolgung von Verstößen gegen Bestimmungen des EG-Vertrags nicht allein den Gemeinschaftsorganen zufällt. In der Rechtssache Générale Sucrière stellte er sodann klar, dass die gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften nicht allein das einwandfreie Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, sondern auch den Schutz der einzelnen Marktteilnehmer bezwecken.224 Schließlich bestätigte der EuGH in BRT/SABAM und weiteren Folgeentscheidungen die
215 So etwa Gleiss/Hirsch (2. Aufl.), Art. 85 Anm. 104 u. Art. 86 Anm. 27; Schumacher, WuW 1971, S. 165 (168). Kritisch auch die Studie von Coing/Kronstein/ Schlochauer, S. 22 f. Vgl. auch Koch, S. 29 m. w. N. 216 Siehe hierzu oben, S. 61 ff. 217 Schumacher, WuW 1971, S. 165 (168). 218 Coing/Kronstein/Schlochauer, S. 22. 219 BGHZ 30, 74. Vgl. hierzu Mestmäcker (1. Aufl.), S. 569; Coing/Kronstein/ Schlochauer, S. 14 ff.; Koch, S. 31 ff. 220 BGHZ 30, 74 (81 ff.). 221 BGHZ 30, 74 (82). 222 BGHZ 30, 74 (84). 223 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 1 – van Gend & Loos. 224 EuGH, verb. Rs. 41/73, 43–48/73, 50/73, 111/73, 113/73, 114/73, Slg. 1973, 1465, Rdnr. 7 – Générale Sucrière.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
unmittelbare Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln, die dazu führt, dass auch dem Einzelnen unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht Rechte erwachsen können.225 Seitdem war sowohl im deutschen Schrifttum226 sowie in der Rechtsprechung227 anerkannt, dass Artt. 81, 82 EG Schutzgesetze i. S. d. § 823 Abs. 2 EG waren und somit grundsätzlich auch Schadensersatzklagen auf Verletzungen des EG-Kartellrechts gestützt werden konnten. Mit der generellen Qualifizierung als Schutzgesetze war jedoch noch keine Aussage über den geschützten Personenkreis getroffen. Ebenso wie im Rahmen des § 1 GWB a. F. nahm der BGH auch bei der Anwendung des Art. 81 EG eine sehr restriktive Haltung hinsichtlich des persönlichen Schutzbereichs ein und erkannte einen Anspruch gem. § 823 Abs. 2 BGB nur in solchen Fällen an, in denen sich das wettbewerbsbeschränkende Verhalten unmittelbar gegen den Betroffenen gerichtet hatte.228 Aus der vom BGH gewählten Formulierung („jedenfalls“) ließ sich jedoch nicht entnehmen, dass dieser damit den persönlichen Schutzbereich abschließend definiert hatte. Auch hinsichtlich der näheren Einzelheiten zum Schutzbereich sowie der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen eines Anspruchs gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. Art. 81 oder 82 EG ergaben sich keine wesentlichen Abweichungen vom Anspruch gem. § 33 GWB a. F., so dass auf die Ausführungen zum deutschen Kartellrecht verwiesen werden kann.229 Schließlich galten die verfahrensrechtlichen Sondervorschriften imKartellrecht (§ 87 ff. GWB) gem. § 96 GWB a. F. auch für das europäische Kartellrecht. Ebensowenig wie im Rahmen des § 33 GWB hatte der (auf Geldersatz gerichtete) kartellrechtliche Schadensersatz wegen Verletzung des europäischen
225 EuGH, Rs. 127/73, Slg. 1974, 51, Rdnr. 15/17 – BRT/SABAM. Vgl. auch EuGH, Rs. 155/73, Slg. 1974, 409, Rdnr. 18 – Sacchi; Rs. 37/79, Slg. 1980, 2481, Rdnr. 13 – Estée Lauder. Zuletzt EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 23 – Courage. 226 Schröter: in v. d. Groeben/Schwarze, Art. 81 Rdnr. 261; Bunte, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), Art. 81 Rdnr. 226; IM/K. Schmidt, EG-WettbR (1. Aufl.), Art. 85 Abs. 2 Rdnr. 76; Dieckmann, in: Wiedemann, § 40 Rdnr. 22; Stockenhuber, in: Grabitz/Hilf, Art. 81 Rdnr. 244; Mestmäcker (1. Aufl.), S. 576; Baur, EuR 1988, S. 257 (260 f.). Zuvor bereits Koch, S. 29 ff.; Ullrich, S. 30 ff. 227 BGH WuW/E BGH 1643 (1645) – BMW-Importe; WuW/E BGH 2451 (2457) – Cartier-Uhren; WuW/E DE-R 206 (207) – Depotkosmetik; OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 143 (146) – Global One; OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 233 (240) – Inkontinenzhilfen; OLG München WuW/E OLG 5760 (5763) – Graumarkt-Parfümerie; LG Mainz WuW/E DE-R 1349 (1351) – Vitaminpreise Mainz (für Art. 81 EG); OLG Stuttgart WuW/E OLG 2018 ff.; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 2325 (2326) (für Art. 82 EG). 228 BGH WuW/BGH 1643 (1645) – BMW-Importe; WuW/E BGH 2451 (2457) – Cartier-Uhren; a. A.: OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 143 (146) – Global One; OLG Düsseldorf WuW/E DE-R 233 (240) – Inkontinenzhilfen. 229 Vgl. hierzu oben, S. 60 ff.
III. Schadensersatzpflicht in den anderen Mitgliedstaaten der EU
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Kartellrechts eine nennenswerte praktische Bedeutung erlangen können.230 Ein Drittschutz wurde in erster Linie im Wege der behördlichen Aufsicht erreicht. Neben den bereits im Zusammenhang mit dem deutschen Recht erörterten Gründen (insb. den Informationsdefiziten, materiellrechtlichen Hürden, Beweisschwierigkeiten und einem nicht zu unterschätzenden Kostenrisiko)231 kann dies auf zwei weitere Umstände zurückgeführt werden: War der Anwendungsbereich des europäischen Kartellrechts eröffnet, erwies sich als Problem, dass die nationalen Zivilgerichte aufgrund des Freistellungsmonopols der Kommission nach der VO 17/62 nicht zur Anwendung der Freistellungsvoraussetzungen gemäß Art. 81 Abs. 3 EG befugt waren.232 Dies konnte zu Verzögerungen des Zivilverfahrens führen. Teilweise nahmen die Unternehmen das Genehmigungssystem der Kommission gezielt in Anspruch, um Verfahren vor den Zivilgerichten zu blockieren.233 Erfolgte eine Freistellung, konnte dem Kläger im letzten Moment der Anspruch wieder entfallen und er hätte darüber hinaus noch die Verfahrenskosten zu tragen gehabt.234 Diese Unsicherheit hatte sicherlich für potentielle Kläger einen abschreckenden Effekt. Als weiterer Grund ist anzuführen, dass die deutschen Instanzgerichte dazu neigten, kartellrechtliche Sachverhalte möglichst unter Anwendung des deutschen Kartellrechts zu entscheiden, um eine nähere Auseinandersetzung mit dem europäischen Recht und langwierige Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH zu vermeiden.235
III. Schadensersatzpflicht bei Verletzungen europäischen Kartellrechts in den anderen Mitgliedstaaten der EU Die Kommission hat seit 1966 wiederholt Studien über die Rechtspraxis und die Bedingungen für Schadensersatzansprüche in den nationalen Rechtsordnungen durchführen lassen.236 Ebenfalls hat man sich in der Literatur mehrfach 230 Monopolkommission, SG Nr. 32, Tz. 66; IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 1; Bechtold, ZHR 160 (1996), S. 660 (660); Roth, FS-Gerhardt, S. 815 (818). 231 Vgl. hierzu auch Monopolkommission, SG Nr. 32, Tz. 66 ff. Vgl. bereits oben, S. 89 ff. 232 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 47; Bechtold, ZHR 160 (1996), S. 660 (661); Wurmnest, in: Behrens/ Braun/Nowak, S. 213 (224); Wils, S. 150. 233 Vgl. Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 100. 234 So C. Jones, S. 96. 235 Vgl. Canenbley/Klingbeil, in: Braakman, S. 223; Bechtold, ZHR 160 (1996), S. 660 (660); ähnlich Roth, in: Basedow, S. 61 (62). 236 Vgl. Europ. Kommission, Schadensersatzansprüche bei einer Verletzung der Artikel 85 und 86 des Vertrages zur Gründung der EWG, 1966; Germer, Schadensersatzansprüche bei Verletzung der Art. 85 und 86 des Vertrages zur Gründung der EWG,
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
(z. T. rechtsvergleichend) mit dieser Thematik auseinandergesetzt.237 Die rechtlichen Bedingungen für kartellrechtliche Schadensersatzansprüche sind in den verschiedenen Jurisdiktionen naturgemäß sehr unterschiedlich. Eine Auseinandersetzung mit den materiellen Voraussetzungen und Verfahrensregeln der 26 anderen Rechtsordnungen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Hierfür sei etwa auf den Braakman-Bericht,238 die Ashurst-Studie239 oder die umfassenden Darstellungen bei Behrens240 verwiesen. An dieser Stelle soll nur kursorisch auf die Bedeutung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung und insbesondere des Schadensersatzes in der Rechtspraxis der Mitgliedstaaten eingegangen werden. Die im Jahre 1966 durchgeführte Studie war zu dem Ergebnis gelangt, dass die Rechtsordnungen aller (damals: sechs) Mitgliedstaaten den Schadenseratzanspruch als möglichen Rechtsbehelf für Verletzungen des EG-Kartellrechts vorsahen. Jedoch waren der Kommission bis zu diesem Zeitpunkt und auch in den späteren Jahren keine Fälle bekannt geworden, in denen Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der heutigen Artt. 81 und 82 EG geltend gemacht worden wären.241 Bis Anfang der 1980er Jahre trat diesbezüglich keine wesentliche Änderung ein. Nach Ansicht von Jacobs hatte die bisherige Rechtspraxis gezeigt, dass die Sanktion des Schadensersatzes nur theoretischer Natur war.242 In ihrem 13. Wettbewerbsbericht äußerte die Kommission ihr Bedauern über die zurückhaltende Anwendung und folgerte hieraus einen gesteigerten Informationsbedarf auf Seiten der Geschädigten.243 Auch eine Untersuchung von Temple Lang bestätigte diese Einschätzung.244 Hiernach waren bis 1984 lediglich acht Zivilverfahren im Gebiet der Europäischen Gemeinschaft bekannt geworden, in denen eine Unterlassung oder
Dok. IV 292/85, 1985 (unververöffentlicht); Braakman, Die Anwendung der Artikel 85 und 86 des EG-Vertrags durch die Gerichte der Mitgliedstaaten, 1997; zuletzt Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules, 2004 (sog. Ashurst-Studie). 237 Temple Lang, 10 Fordham Corp. L. Inst., S. 219 ff. [1984]; Jacobs, 82 Mich. L. Rev., S. 1364 ff. [1984]; Steindorff, 12 Fordham Corp. L. Inst., S. 409 ff. [1986]; Bourgeois, 20 Fordham Corp. L. Inst., S. 475 ff. [1994]. Für eine rechtsvergleichende Darstellung siehe Behrens (Hrsg.), E(E)C Competition Rules in National Courts, Bd. 1: UK and Italy, 1992, Bd. 2: Benelux and Ireland, 1994; Bd. 3: Germany, 1996; Bd. 4: France, 1997; Bd. 5: Spain, Portugal and Greece, 2000; Bd. 6: Denmark, Sweden, Finland and Austria, 2001. 238 Vgl. Fn. 236. 239 Vgl. Fn. 236. 240 Vgl. Fn. 237. 241 Vgl. Europ. Kommission, Antwort auf die Schriftliche Anfrage Nr. 519/72 von Herrn Vredeling, ABl. EG 1973, C 67/55 Tz. 2. 242 Jacobs, 82 Mich. L. Rev., S. 1364 (1367) [1984]. 243 Europ. Kommission, Dreizehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, Tz. 217. 244 Temple Lang, 10 Fordham Corp. L. Inst., S. 219 ff. [1984].
III. Schadensersatzpflicht in den anderen Mitgliedstaaten der EU
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ein Schadensersatzanspruch geltend gemacht wurde.245 Gleichwohl sah er ebenso wie Steindorff Anzeichen für einen baldigen Beginn einer verstärkten privaten Durchsetzung.246 Dieser blieb jedoch in den Folgejahren aus. Bei den meisten Zivilverfahren handelte es sich um Klagen, in denen die Wettbewerbsregeln rein defensiv geltend gemacht wurden.247 Schadensersatzklagen blieben hingegen selten. Mitte der 1990er Jahre veröffentlichte Bourgeois Daten, die im Rahmen einer Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Gerichtshofs ermittelt wurden, wonach im Zeitraum von 1989–1993 die europäischen Wettbewerbsregeln gemeinschaftsweit in insgesamt 157 Zivilverfahren „durchgesetzt“ wurden.248 Welche Form der Durchsetzung Gegenstand der Verfahren war, wird hieraus jedoch nicht ersichtlich. Über die Kartellrechtsdurchsetzung vor den nationalen Gerichten war – so Bourgeois – weiterhin wenig bekannt. Der sodann 1997 vorgestellte Braakman-Bericht zeigte umfassend die in den nationalen Rechtsordnungen vorgesehenen möglichen Rechtsbehelfe und Verfahrensregeln bei Verstößen gegen das europäische Wettbewerbsrecht auf.249 Eine länderübergreifende Analyse der Praxisrelevanz der privaten Kartellrechtsdurchsetzung findet sich hierin jedoch nicht. Die Gesamtschau der Länderberichte macht aber deutlich, dass Schadensersatzklagen weiterhin selten blieben. Die bislang letzte Untersuchung ließ die Kommission im Jahre 2004 im Rahmen der sog. Ashurst-Studie250 durchführen. Diese bestätigte das Bild der zurückliegenden Jahrzehnte. Die Untersuchung der rechtlichen Rahmenbedingungen für Schadenseratzklagen bei Verletzungen des EG-Kartellrechts habe – so das Ergebnis der Studie – erhebliche Unterschiede der Rechtsordnungen und eine „völlige Unterentwicklung“ im Bereich der kartellrechtlichen Schadensersatzklagen aufgezeigt.251 Insgesamt seien bisher in den 25 Mitgliedstaaten nur 60 gerichtlich entschiedene Fälle bekannt geworden, in denen ein Schadensersatzanspruch geltend gemacht wurde.252 Hiervon sei in rund der Hälfte der Verfahren (28) ein Schadensersatz zugesprochen worden. Diese ernüchternden 245
Temple Lang, 10 Fordham Corp. L. Inst., S. 219 (225) [1984]. Temple Lang, 10 Fordham Corp. L. Inst., S. 219 (302) [1984]; Steindorff, 12 Fordham Corp. L. Inst., S. 409 (409) [1986]. 247 Steindorff, 12 Fordham Corp. L. Inst., S. 409 (413) [1986]. 248 Bourgeois, 20 Fordham Corp. L. Inst., S. 475 (476) [1994]. Eine maßgebliche Anzahl unveröffentlichter Urteile sei jedoch in diesen Zahlen nicht enthalten. 249 Braakman, Die Anwendung der Artikel 85 und 86 des EG-Vertrags durch die Gerichte der Mitgliedstaaten, 1997. 250 Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules, 2004. 251 Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, S. 1; Europ. Kommission, Grünbuch, S. 4. 252 Hiervon seien jedoch in nur 18 Verfahren die europäischen Wettbewerbsregeln zur Anwendung gelangt. 246
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Ergebnisse der Ashurst-Studie sind vielfach angezweifelt worden.253 Zum einen wurde darauf hingewiesen, dass sich die Studie ausschließlich auf gerichtliche Entscheidungen stützte und Verfahren unberücksichtigt ließ, die im Vergleichswege beendet wurden. Diese hätten aber in der Vergangenheit oftmals zu signifikanten Schadensersatzzahlungen geführt. Zum anderen seien Schiedsverfahren gänzlich aus der Untersuchung ausgeklammert worden, obwohl dem Schiedsverfahren im Kartelldeliktsrecht eine hohe Bedeutung zukomme. Schließlich dürfe nicht die Dynamik der letzten Jahre außer Acht gelassen werden, da insbesondere Großbritannien, Deutschland und Schweden das nationale Kartelldeliktsrecht reformiert hätten. Ein Rückschluss von bisherigen Erfahrungen auf die künftige Rechtspraxis sei deshalb nicht möglich und unterschätze das Potential, das Schadensersatzklagen auch in Europa zukomme.254 Zusammenfassend lässt sich derzeit feststellen, dass sich die Anwendung der Wettbewerbsregeln durch die Gerichte der Mitgliedstaaten bislang im Wesentlichen auf den Nichtigkeitseinwand beschränkte.255 Die offensive Geltendmachung der Artt. 81, 82 EG, insbesondere durch Schadensersatzansprüche, ist hingegen selten geblieben. Die Gründe256 hierfür unterscheiden sich nicht von jenen in der deutschen Rechtspraxis und sind ebenso in der Informationsasymmetrie,257 den Beweisschwierigkeiten hinsichtlich Verstoß, Schaden und Kausalität,258 den unzureichenden verfahrensrechtlichen Instrumenten,259 den Kostenrisiken, der Rechtsunsicherheit260 durch fehlende Präzedenzfälle und der günstigeren Alternative eines öffentlich-rechtlichen Drittschutzes261 zu suchen. Als originär europarechtliches Hemmnis hat sich ferner das Freistellungsmonopol der Kommission unter der VO 17/62 erwiesen.262 Die geringe Fallpraxis im Zu253 Stellungnahme des European Competition Law Forum (unveröffentlicht); Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 4. 254 Vgl. Stellungnahme des European Competition Law Forum (unveröffentlicht). 255 Mäsch, EuR 2003, S. 825 (828); Lenaerts/Gerard, W. Comp. 2004, S. 313 (315); v. Gerven, in: Liber Amicorum Mestmäcker, S. 393 (409); Jacobs/Deisenhofer, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 187 (189); Bornkamm, Die Rolle des Zivilrichters, S. 21. 256 Vgl. Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 28 ff. 257 Vgl. hierzu auch Kommissarin Kroes, Rede v. 17.10.2005, SPEECH/05/613, S. 3. 258 Vgl. hierzu auch Kommissarin Kroes, Rede v. 17.10.2005, SPEECH/05/613, S. 3; Lenaerts/Gerard, W. Comp. 2004, S. 313 (315); v. Gerven, in: Liber Amicorum Mestmäcker, S. 393 (409). 259 Temple Lang, 10 Fordham Corp. L. Inst., S. 219 (239) [1984]; Waelbroeck, in: Heukels/McDonnell, S. 311 (319). 260 Mäsch, EuR 2003, S. 825 (833); C. Jones, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 95 (97); Temple Lang, 10 Fordham Corp. L. Inst., S. 219 (239) [1984]. 261 Temple Lang, 10 Fordham Corp. L. Inst., S. 219 (239) [1984]. 262 Kommissarin Kroes, Rede v. 17.10.2005, SPEECH/05/613, S. 3; Jacobs/Deisenhofer, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 187 (195); C. Jones, S. 96; ders., in: Ehlermann/ Atanasiu, S. 95 (95 f.); Bechtold, ZHR 160 (1996), S. 660 (661). Vgl. hierzu bereits oben, S. 133.
IV. Private Durchsetzung des EG-Kartellrechts nach der VO 1/2003
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sammenhang mit – unter keinem Fall freistellungsfähigen – Hardcore-Kartellen oder im Rahmen des Art. 82 EG kann hiermit jedoch nicht erklärt werden.
IV. Die private Durchsetzung des EG-Kartellrechts im wettbewerbspolitischen Wandel – Die VO 1/2003 1. Die Ausgangslage Wie bereits dargelegt, war die Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln mit der VO 17/62 in erster Linie in die Hände der Kommission gelegt worden. Sie schuf ein zentral gesteuertes Genehmigungssystem für alle freistellungsbedürftigen Vereinbarungen, um so eine einheitliche Rechtsanwendung in der Gemeinschaft zu gewährleisten. Die gemäß Art. 81 Abs. 1 EG verbotenen Wettbewerbsbeschränkungen konnten durch die Kommission für anwendbar erklärt werden, sofern die Vereinbarungen angemeldet wurden und die Voraussetzungen des Freistellungstatbestandes des Art. 81 Abs. 3 EG erfüllten. Nationale Behörden und Gerichte konnten lediglich die Bestimmungen des Art. 81 Abs. 1 und 2 EG anwenden. Im Laufe der Zeit zeigte sich jedoch, dass dieses zentralisierte Durchsetzungssystem zunehmend Defizite aufwies, die eine Reform der Kartellverfahrensverordnung notwendig machten. Hierbei handelte es sich zum einen um Faktoren, die unmittelbar in der VO 17/62 selbst begründet lagen, zum anderen aber auch um solche, die der Veränderung des wirtschaftlichen und politischen Kontextes geschuldet waren. Recht bald führte das Anmeldungs- und Genehmigungssystem zu einer Flut von Anmeldungen und dementsprechend zu einer Arbeitsüberlastung der Kommission. Bereits fünf Jahre nach Inkrafttreten der VO 17/62 war die Kommission mit 37.450 Fällen befasst, die unmöglich im Wege einer förmlichen Entscheidung beendet werden konnten.263 Dieses sog. „Massenproblem“ war auf die beschränkten Ressourcen der Generaldirektion Wettbewerb und insbesondere auf die recht komplexe Ausgestaltung des Entscheidungsverfahrens zurückzuführen. Seit Anfang der 1970er Jahre ging die Kommission deshalb dazu über, die Anmeldungen vornehmlich durch informelle Verwaltungsschreiben (sog. „comfort letters“) zu bearbeiten.264 Ebenso versuchte sie, die Flut von Anmeldungen durch Bekanntmachungen, Leitlinien und Gruppenfreistellungsverordnungen einzudämmen.265
263 Vgl. Temple Lang, W. Comp. 1999, Heft 4, S. 3 (3). Vgl. auch Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 25. 264 Ende der 1990er Jahre wurden über 90% der Anmeldungen informell durch Verwaltungsschreiben oder Verfahrenseinstellungen geregelt, vgl. Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 34. 265 Vgl. hierzu auch Sura, in: Langen/Bunte, Art. 1 VO 1/2003 Rdnr. 1.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Das Arbeitsaufkommen wurde jedoch durch die sukzessive Erweiterung der Gemeinschaft von ursprünglich sechs auf 15 Mitgliedstaaten gegen Ende der 1990er Jahre zunehmend erhöht. Zusätzlich dazu wurde die territoriale Zuständigkeit der Kommission im Zuge der Begründung des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) erweitert. Schließlich war absehbar, dass das Problem der Arbeitsbelastung angesichts der bevorstehenden Osterweiterung der EU um zehn weitere Mitgliedstaaten nicht ohne eine Veränderung des Durchsetzungssystems bewältigt werden konnte. Die Kommission sah sich einem Vollzugsdefizit ausgesetzt, das sie daran hinderte, schweren Fällen von Wettbewerbsbeschränkungen im hierfür nötigen Umfang nachzugehen.266 Die Kommission erblickte in der Tatsache, dass nur rund 13% aller Verfahren von Amts wegen eingeleitet wurden, einen deutlichen Hinweis dafür, dass sie „nach und nach dazu verurteilt wurde, auf die Flut der Anmeldungen und Beschwerden nur noch zu reagieren statt zu agieren“.267 In Zukunft wollte sie deshalb ihr Augenmerk verstärkt auf die schweren Formen von Wettbewerbsbeschränkungen richten können. Ein weiterer Grund für die Modernisierung des Kartellverfahrensrechts lag in der gewandelten Rolle der Kommission seit Inkrafttreten der Wettbewerbsregeln. Sah sie zunächst ihre vornehmliche Aufgabe darin, die Marktintegration in der Gemeinschaft voranzutreiben, wollte sie sich nach Vollendung des Binnenmarktes stärker auf die Gewährleistung eines wirksamen Wettbewerbs konzentrieren. Neue Herausforderungen ergaben sich insbesondere durch die beschleunigte Globalisierung der Märkte sowie die fortschreitende Wirtschafts- und Währungsunion.268 Insgesamt erwies sich das Durchsetzungssystem der VO 17/62 zuletzt als ineffizient, da zu viele Ressourcen der Kommission für die Bearbeitung der Anmeldungen gebunden wurden. Eine effektive Durchsetzung unter Beibehaltung des bisherigen Systems hätte die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für die Kommission erforderlich gemacht. Aus diesem Grunde war die Kommission Ende der 1990er Jahre entschlossen, das Kartellverfahrensrecht grundlegend zu reformieren.
266 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 40. Vgl. auch Erwägungsgrund 3 der VO 1/2003. So auch Schaub/Dohms, WuW 1999, S. 1055 (1056). Ein solches „Massenproblem“ ist im Schrifttum mehrfach angezweifelt worden, vgl. hierzu Emmerich, WuW 2001, S. 3 (3); Möschel, JZ 2000, S. 61 (61). Vgl. auch Monopolkommission, SG Nr. 28, Tz. 57 ff. 267 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 44. 268 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 5 f.
IV. Private Durchsetzung des EG-Kartellrechts nach der VO 1/2003
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2. Ziele der Modernisierung der Kartellrechtsdurchsetzung Im Jahr 1999 stellte die Kommission ein Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der jetzigen Artt. 81 und 82 EG vor. Ziel der Reformbestrebungen war es, durch eine Dezentralisierung der Anwendung der Artt. 81, 82 EG und Neufokussierung der Aufsichtstätigkeit der Kommission ein effizienteres Durchsetzungssystem der Kartellrechtsdurchsetzung zu schaffen und die Verwaltungskontrolle zu vereinfachen ohne hierbei die kohärente Anwendung der Wettbewerbsregeln zu gefährden. Im Vordergrund der Überlegungen stand ein System der dezentralen Kartellrechtsdurchsetzung, das die nationalen Kartellbehörden und die nationalen Gerichte stärker in die Kartellrechtsdurchsetzung einbinden sollte.269 Das Freistellungsmonopol des Art. 9 Abs. 1 VO 17/62 hatte einer effektiven Anwendung der Wettbewerbsregeln durch die nationalen Behörden und Gerichte im Wege gestanden. Neben der bereits erwähnten Arbeitsüberlastung der Kommission kam hierbei zum Tragen, dass die maßgeblichen Gründe, die bei der Ausarbeitung der VO 17/62 zu einer Zentralisierung geführt haben, inzwischen entfallen waren. Hatte sich ein zentral gesteuertes Genehmigungssystem für die einheitliche Durchsetzung der Wettbewerbsregeln und die Marktintegration auf dem Gebiet der Gemeinschaft am Anfang als notwendig erwiesen, war die Sachlage 35 Jahre nach Inkrafttreten der VO 17/62 nicht mehr dieselbe. Inzwischen hatten die Mitgliedstaaten nationale Kartellrechte eingeführt, die in weiten Teilen dem EG-Recht entsprachen, und effektive Kartellbehörden zur Durchsetzung des nationalen und europäischen Wettbewerbsrechts geschaffen.270 Ebenso war der Regelungsgehalt der Artt. 81, 82 EG durch die Fallpraxis der Kommission und der Gemeinschaftsgerichte sowie durch den Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen, Bekanntmachungen und Leitlinien über die Jahre präzisiert worden. Schließlich war man der Ansicht, dass nationale Behörden in vielen Fällen besser für die Anwendung der Artt. 81, 82 EG geeignet seien, weil sie über die nötige Kenntnis der lokalen Märkte und Marktteilnehmer verfügten und für Beschwerdeführer näher und schneller erreichbar seien.271 Zivilgerichte hingegen könnten Beschwerdeführern etwa durch die Gewährung von Schadensersatzansprüchen oder einstweiliger Verfügungen einen umfassenderen Rechtsschutz bieten als die Kommission.
269 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Einl. Tz. 11. Vgl. auch Erwägungsgründe 6 ff. VO 1/2003. 270 Temple Lang, W. Comp. 1999, Heft 4, S. 3 (3); ders., FIDE-Kongress 1998, S. 265 (267). Kritisch hingegen Mestmäcker, EuZW 1999, S. 523 (525) mit Verweis auf die Lage in den neuen Mitgliedstaaten Osteuropas. 271 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 46.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem effektiveren Durchsetzungssystem sollte die neue Ausrichtung der Kommissionsarbeit auf die Verfolgung schwerwiegender Formen von Wettbewerbsbeschränkungen sein.272 Mit einem Wegfall des bisherigen Anmelde- und Genehmigungssystems sollten die freigewordenen Ressourcen dazu verwandt werden, insbesondere auf den konzentrierten und liberalisierten Märkten gegen Vereinbarungen und missbräuchliche Verhaltensweisen vorzugehen, die den Fortbestand eines wirksamen Wettbewerb tatsächlich bedrohen. Auch sollte das zum Teil recht komplexe Verfahren der VO 17/ 62 vereinfacht werden.273 Das Anmeldeverfahren stellte nicht nur für die Kommission eine Belastung dar, sondern war auch für die betroffenen Unternehmen mit erheblichen Kosten verbunden. Das Ausfüllen des Anmeldeformulars und die Zusammenstellung der hierfür notwendigen Daten bedeutete einen erheblichen Arbeitsaufwand, so dass die Unternehmen in ihrer Geschäftspraxis behindert wurden. Statt der bisherigen ex ante-Prüfungen sollte künftig ein stärkeres Gewicht auf die nachherigen Kontrollen gelegt werden. Hierzu sollten die Untersuchungsbefugnisse der Kommission erweitert, die Bedeutung von Beschwerden aufgewertet und die Sanktionen verschärft werden.274 Schließlich musste auch im Rahmen eines modernisierten, dezentralisierten Kartellverfahrensrechts die kohärente Anwendung der Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet der Gemeinschaft gewährleistet bleiben.275 Entscheidend hierbei war, dass die Vorschrift des Art. 81 EG nach langjähriger Anwendungspraxis klarer und in der Auslegung vorhersehbar geworden war und somit auch bei einer dezentralisierten Anwendung die nötige Kohärenz möglich erschien. Weiterhin sollte einer unterschiedlichen Anwendung in den Mitgliedstaaten durch einen verstärkten Informationsaustausch zwischen den Zivilgerichten und der Kommission vorgebeugt werden.276 Schließlich sollten auch präventive Instrumente wie etwa Präzedenzfälle oder amtliche Texte (Gruppenfreistellungsverordnungen, Bekanntmachungen und Leitlinien) eine einheitliche Rechtsanwendung durch die Gerichte sicherstellen.277
272 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 74. 273 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 48. 274 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 108 ff. 275 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 101 ff. 276 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 104 ff.; kritisch hierzu Möschel, JZ 2000, S. 61 (65). Vgl. auch Erwägungsgrund 21 der VO 1/2003. 277 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 84.
IV. Private Durchsetzung des EG-Kartellrechts nach der VO 1/2003
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Die im Weißbuch unterbreiteten Vorschläge wurden schließlich in einem Entwurf für eine neue Durchführungsverordnung aus dem Jahr 2000 mit einigen Modifikationen konkretisiert.278 Schließlich führten die Reformbemühungen zum Erlass der VO 1/2003.279 3. Die private Kartellrechtsdurchsetzung in der VO 1/2003 Die wettbewerbspolitische Bedeutung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung wurde durch das Durchsetzungssystem der VO 1/2003 erheblich gestärkt. Sie stellt einen grundlegenden Pfeiler der Modernisierung des Kartellverfahrensrechts dar.280 Durch die Dezentralisierung verlagert die VO 1/2003 die Durchsetzungsfunktion zu gewissen Teilen auf die nationalen Behörden und Gerichte und schafft so ein System paralleler Zuständigkeiten auf Gemeinschafts- und mitgliedstaatlicher Ebene. Während die Wettbewerbsaufsicht der Behörden weiterhin im öffentlichen Interesse erfolgt, sollen die Zivilklagen im Interesse Einzelner die behördliche Arbeit sinnvoll ergänzen.281 Durch die verstärkte Beteiligung soll es der Kommission ermöglicht werden, sich von der Befassung mit Verhaltensweisen, denen keine allgemeine wettbewerbliche Bedeutung zukommt, zurückzuziehen und sich stattdessen auf schwerwiegende Fälle zu konzentrieren. Der privaten Kartellrechtsdurchsetzung kommt deshalb die zentrale Bedeutung zu, diese Neuausrichtung der Kommissionstätigkeit ohne Einbußen an Wettbewerbsschutz zu vollziehen. Letzteres ist allerdings mehrfach angezweifelt worden.282 So ist den Modernisierungsvorschlägen der Kommission die Befürchtung entgegengehalten worden, dass eine private Kartellrechtsdurchsetzung aufgrund der in der Praxis bestehenden Hürden eine Schwächung der behördlichen Durchsetzung nicht auszugleichen vermöge. Ebenso dürfe die Gefahr missbräuchlicher Klagen nicht unterschätzt werden.283
278 Europ. Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln vom 27.09.2000, KOM(2000) 582 endg., ABl. EG 2000, C 365E/284. 279 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln vom 16.12.2002, ABl. EG 2003, L 1/1. 280 Monti, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 3 (3). So auch Monopolkommission, SG Nr. 32, Tz. 64; Frieß, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Einf. VerfVO Rdnr. 12; Reich, CMLRev. 2005, S. 35 (35); Roth, FS-Gerhardt, S. 815 (820 f.); Wurmnest, in: Behrens/Braun/Nowak, S. 213 (213). Vgl. hierzu auch Erwägungsgrund 7 der VO 1/ 2003. 281 Monopolkommission, SG Nr. 32, Tz. 64. 282 Monopolkommission, SG Nr. 28, Tz. 40; dies., SG Nr. 32, Tz. 66; Mestmäcker, EuZW 1999, S. 523 (528). 283 Monopolkommission, SG Nr. 32, Tz. 66. Siehe hierzu auch Möschel, WuW 2006, S. 115.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Ungeachtet dieser Kritik bestehen die Bestrebungen auf europäischer Ebene, Schadensersatzklagen zu fördern, unvermindert fort. In ihrem im Dezember 2005 veröffentlichten Grünbuch stufte die Kommission die private Wettbewerbsdurchsetzung als ein „wichtiges Instrument zur Schaffung und Erhaltung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft“284 ein und schlägt mit ihrem Weißbuch von April 2008 weitere Maßnahmen vor, um Privatklagen künftig zu erleichtern. Hiermit liegt die Kommission in einer Linie mit der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Courage, mit welcher private Schadensersatzklagen eine entscheidende wettbewerbspolitische Aufwertung erhalten hatten.285 Hiernach dürfen Schadensersatzansprüche nicht allein unter dem Gesichtspunkt des Opferausgleichs bewertet werden, sondern ihnen kommt im Europarecht gleichermaßen eine Abschreckungsfunktion zu, die im Interesse der Allgemeinheit zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs beiträgt. Die Entwicklung in der Wettbewerbspolitik zeigt somit, dass der kartellrechtliche Schadensersatz im Laufe der Zeit und insbesondere durch die VO 1/2003 einen Bedeutungswandel erfahren hat. Während er zunächst als wünschenswertes Instrument zur Kompensation der Opfer, jedoch ohne maßgebliche Bedeutung für die Durchsetzung des EG-Kartellrechts angesehen wurde, stellt er nun eine gestärkte zweite Säule im Durchsetzungssystem dar. Ihm kommt nun eine wichtige und notwendige Ergänzungsfunktion zu der – weiterhin primären – behördlichen Wettbewerbsaufsicht zu. 4. Änderungen der VO 1/2003 für den Bereich der privaten Durchsetzung Die VO 1/2003 regelt weiterhin in erster Linie das Verfahren und die möglichen Sanktionen für die behördliche Aufsicht durch die Kommission.286 Aus diesem Grunde haben auch nur einzelne Regelungen des neuen Kartellverfahrensrechts Auswirkung auf die private Kartellrechtsdurchsetzung. Hierunter fällt zunächst die Umstellung im Rahmen des Art. 81 EG auf ein System der Legalausnahme (Art. 1). Ebenso enthält die VO 1/2003 nun eine Beweislastregelung, die auch in Kartellzivilverfahren zur Anwendung kommt (Art. 2). Schließlich enthält die Verordnung Regelungen, um auch in einem System der dezentralen Durchsetzung der Wettbewerbsregeln eine kohärente Rechtsanwendung auf dem Gebiet der Gemeinschaft zu gewährleisten. Zum einen ist die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten erstmals gesetzlich ge284
Europ. Kommission, Grünbuch, S. 3. EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 26 f. – Courage. 286 Ergänzt werden diese Regelungen durch die näheren Bestimmungen der VO (EG) Nr. 773/2004, vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag durch die Kommission, ABl. EG 2004, L 123/18. 285
IV. Private Durchsetzung des EG-Kartellrechts nach der VO 1/2003
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regelt (Art. 15), zum anderen wird sichergestellt, dass Feststellungen der Kommission über die Vereinbarkeit einer konkreten Verhaltensweise mit dem EGKartellrecht gemeinschaftsweit Beachtung finden (Art. 16 Abs. 1). a) Übergang zum System der Legalausnahme, Art. 1 VO 1/2003 Die zentrale Änderung, die das Kartellverfahrensrecht durch die VO 1/2003 erfahren hat, stellt der Wechsel im Rahmen von Art. 81 EG vom bisherigen System eines Kartellverbots mit Administrativvorbehalt auf ein System der Legalausnahme dar. Bedurfte es früher für eine Freistellung vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG eines gestaltenden Verwaltungsaktes der Kommission, sind freistellungsfähige Verhaltensweisen mit Wirkung zum 1.5.2004 ipso iure freigestellt (Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003). Dieser Systemwechsel ist insbesondere für die Anwendung der EG-Wettbewerbsregeln durch die Zivilgerichte von entscheidender Bedeutung. Anders als unter der alten Rechtslage ist nun auch Art. 81 Abs. 3 EG ebenso wie Art. 81 Abs. 1 und Art. 82 EG unmittelbar anwendbar.287 Die Gerichte haben erstmals Art. 81 EG in seiner Gesamtheit zu prüfen. Die Freistellungsvoraussetzungen fungieren nun als negative Tatbestandsmerkmale zum Kartellverbot. Die Einführung der Legalausnahme führt ebenfalls zum Wegfall des früheren Anmelde- und Genehmigungssystems. Wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen unterliegen somit nicht mehr einer ex ante-Kontrolle seitens der Behörde, sondern die Gewährleistung eines wirksamen Wettbewerbs wird mittels Abschreckung durch eine Durchsetzung ex post durch behördliche und zivilrechtliche Sanktionen erreicht.288 Hierfür stehen der Behörde erweiterte Ermittlungsbefugnisse zur Verfügung. Für die betroffenen Unternehmen bedeutet dies zunächst eine Befreiung von z. T. aufwendigen und kostspieligen Anmeldeverfahren. Gleichzeitig ist hiermit jedoch eine erhöhte Eigenverantwortung verbunden. Nach dem neuen System müssen Unternehmen ihr Verhalten selbständig auf eine Freistellungsfähigkeit untersuchen. Angesichts der für eine Beurteilung nötigen, sich stets verändernden Marktdaten und der weiten und unbestimmten Formulierung des Art. 81 Abs. 3 EG sind hiermit unweigerlich Schwierigkeiten verbunden, die hinsichtlich der zu gewährleistenden Rechtssicherheit nicht ganz unbedenklich sind.289 Zu beachten ist aber, dass Unternehmen auch schon früher hinsichtlich einer Vereinbarkeit mit Gruppenfreistellungsverordnungen, aber auch im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 und 82 EG eine Selbstveranlagung abverlangt wurde.290 287
Vgl. Erwägungsgrund 5 der VO 1/2003. Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 69; Möschel, JZ 2000, S. 61 (66). 289 Weiß/Creus, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 1 VerfVO Rdnr. 9. 290 Sura, in: Langen/Bunte, Art. 1 VO 1/2003 Rdnr. 10. 288
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Der Systemwechsel ist insbesondere in Deutschland auf z. T. deutliche Kritik gestoßen.291 Die Diskussion kann hier nicht im Einzelnen aufgenommen werden. Zum einen wurde eine Unvereinbarkeit der sekundärrechtlichen Neuausrichtung mit dem Primärrecht geltend gemacht.292 Eine Legalausnahme widerspreche dem Wortlaut des Art. 81 Abs. 3 EG, der einen Administrativvorbehalt enthalte,293 und die Unbestimmtheit des Freistellungstatbestandes erschwere – so wurde befürchtet – die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 81 Abs. 1 EG erheblich.294 Zum anderen sei eine Abkehr vom Genehmigungssystem auch wettbewerbspolitisch nicht wünschenswert gewesen, da der Kommission hierdurch eine wichtige Informationsbasis verloren ginge, einem System der Legalausnahme die nötige Transparenz für Wettbewerber und die Marktgegenseite fehle und eine Selbstveranlagung nicht das öffentliche Interesse an einem Wettbewerbsschutz hinreichend gewährleisten könne.295 Auch sprächen eine verminderte Rechtssicherheit sowie rechtsvergleichende Erfahrungen mit Systemen der Legalausnahme gegen einen Systemwechsel.296 Der Wegfall des Freistellungsmonopols führt zunächst einmal dazu, dass beklagten Unternehmen die theoretische Möglichkeit genommen wird, ein Kartellzivilverfahren durch einen missbräuchlich gestellten Freistellungsantrag bei der Kommission blockieren und somit ggf. eine Aussetzung des Verfahrens erreichen zu können.297 Im Weiteren wirft das System der Legalausnahme hinsichtlich der praktischen Anwendung durch die Zivilgerichte einige Schwierigkeiten auf. Die hinzugewonnene Prüfungskompetenz der nationalen Gerichte für den gesamten Art. 81 EG ist mit komplexen Beurteilungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht verbunden, die für den Zivilrichter in mancher Hinsicht eine Herausforderung darstellen werden. Allerdings darf die Komplexität der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG nicht überbewertet werden. Eine dezidierte Prüfung der Freistellungsvoraussetzungen ist oftmals entbehrlich. Zunächst bereitet sie dann keine Probleme, sofern es sich bei dem festgestellten Verhalten um eine 291 Vgl. etwa Monopolkommission, SG Nr. 28; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, WuW 2000, S. 1096 ff.; Deringer, EuZW 2000, S. 5 ff.; Mestmäcker, EuZW 1999, S. 523 ff.; Möschel, JZ 2000, S. 61 ff. 292 Vgl. hierzu Monopolkommission, SG Nr. 28, Tz. 14 ff.; Möschel, JZ 2000, S. 61 (62); Mestmäcker, EuZW 1999, S. 523 (525 f.); Mestmäcker/Schweitzer, § 13 Rdnr. 9 ff. Vgl. hierzu Sura, in: Langen/Bunte, Art. 1 VO 1/2003 Rdnr. 6; Weiß/Creus, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 1 VerfVO Rdnr. 8; IM/K. Schmidt, EGWettbR II, Art. 1 VO 1/2003 Rdnr. 9 f.; Klees, § 2 Rdnr. 6 ff. 293 Möschel, JZ 2000, S. 61 (62); Mestmäcker, EuZW 1999, S. 523 (525 f.). 294 Mestmäcker, EuZW 1999, S. 523 (526 f.). 295 Möschel, JZ 2000, S. 61 (63). Vgl. zur Kritik auch Schaub/Dohms, WuW 1999, S. 1055 (1065 ff.). 296 Monopolkommission, SG Nr. 28, Tz. 22 ff. 297 Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 100. Nach Ansicht der Monopolkommission jedoch hat es ein derartiges Problem sog. Obstruktionsanmeldungen nicht gegeben, SG Nr. 28, Tz. 31.
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sog. Hardcore-Beschränkung handelt, da in diesen Fällen eine Ausnahme vom Kartellverbot in der Regel nicht in Betracht kommen wird.298 Auch ansonsten ist eine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG nicht nötig, wenn die Beteiligten nur über geringfügige Marktanteile verfügen, da die Vereinbarung hier entweder unterhalb die Spürbarkeitsschwelle i. R. d. Art. 81 Abs. 1 EG liegt oder aber in den Anwendungsbereich einer Gruppenfreistellungsverordnung fällt. Die Tatbestandvoraussetzungen im Rahmen einer Gruppenfreistellungsverordnung sind im Gegensatz zu Art. 81 Abs. 3 EG wesentlich präziser formuliert, so dass hier die Beurteilung über eine Freistellung leichter fällt. Liegen die Marktanteile der Unternehmen jedoch über den Schwellenwerten, die einen Rückgriff auf eine Gruppenfreistellungsverordnung ausschließen, und ist auch kein Fall eines Hardcore-Verstoßes gegeben, wird die Beurteilung über die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG Schwierigkeiten bereiten. Die geringe Regelungsdichte der Norm führt in gewissem Maße zu einer Rechtsunsicherheit. Allerdings ist auch hier zu bedenken, dass die frühere Verwaltungspraxis mit den üblichen „comfort letters“ ebenfalls keine (rechtliche) Klarheit geschaffen hatte, da die formlosen Verwaltungsschreiben die Gerichte in ihrer Beurteilung nicht binden konnten.299 Zudem bieten die Leitlinien der Kommission bei der Auslegung der Freistellungsvoraussetzungen Hilfestellung, wenngleich auch diese keinerlei Bindungswirkung für die Gerichte entfalten.300 Dennoch ist davon auszugehen, dass von den Leitlinien ein starker Einfluss ausgehen wird, da sich die Gerichte vermutlich dankbar jeder Normauslegung durch die Kommission anschließen werden.301 Angesichts der Unbestimmtheit des Art. 81 Abs. 3 EG stellt sich im neuen System die Frage, inwieweit den Zivilgerichten bei ihrer Entscheidung über die Freistellungsfähigkeit ein Beurteilungsspielraum zukommt. Unter der Geltung des Freistellungsmonopols hatten die Gemeinschaftsgerichte eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolldichte bei der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG durch die Kommission angenommen.302 Ein Beurteilungsspielraum wurde mit den komplexen wirtschaftlichen Zusammenhängen, den Unwägbarkeiten im Rahmen 298
Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, Art. 1 Rdnr. 9. Weiß/Creus, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 1 VerfVO Rdnr. 11; Weiß, in: Calliess/Ruffert (2. Aufl.), Art. 81 Rdnr. 25. 300 Europ. Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG 2004, C 101/97, Tz. 4; Sura, in: Langen/Bunte, Art. 1 VO 1/2003 Rdnr. 14. Allgemein für Bekanntmachungen und Leitlinien: Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, S. 213 (230); Kirchhoff, WuW 2004, S. 745 (750). 301 Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, S. 213 (230). 302 EuGH, verb. Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, 321 (396) – Consten und Grundig; Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875, Rdnr. 50 – Metro I; Sura, in: Langen/Bunte, Art. 1 VO 1/ 2003 Rdnr. 18; Fuchs, ZWeR 2005, S. 1 (18); Baron, WuW 2006, S. 358 (362); Koch, ZWeR 2005, S. 380 (380). 299
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
der zu treffenden Prognoseentscheidungen sowie den außerwettbewerblichen Zielen der Gemeinschaftspolitik begründet.303 Ob dies auch in einem System der Legalausnahme aufrechterhalten werden kann, ist fraglich, da neben der Kommission nun auch gleichberechtigt nationale Behörden und Gerichte zur Anwendung berufen sind. Im Rahmen dieser parallelen Zuständigkeit muss eine einheitliche gerichtliche Überprüfung stattfinden.304 Überwiegend wird heute die Auffassung vertreten, das neue System der Legalausnahme biete für einen Beurteilungsspielraum keinen Platz mehr.305 Ebenso wird dieser in der Literatur zugunsten der Zivilgerichte abgelehnt, da hierdurch die kohärente Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG auf dem Gebiet der Gemeinschaft erheblich gefährdet wäre.306 M.E. ist jedoch bereits die Fragestellung nicht korrekt. Von einem Beurteilungsspielraum kann nur im Rahmen von Verwaltungshandeln gesprochen werden. Hier ist entscheidend, ob die Beurteilung einer Behörde über die Bejahung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Norm in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar ist. Diese Frage stellt sich bei einer Normanwendung durch den Richter jedoch nicht. Dieser hat die aus seiner Sicht allein „richtige Entscheidung“ zu treffen, ohne hierbei ein „Ermessen“ auszuüben.307 Diese Würdigung ist selbstverständlich in der Berufungsinstanz in vollem Umfang überprüfbar.308 Auch sind die Behörden oder andere Zivilgerichte nicht an die Würdigung des Gerichts gebunden. Einen „Beurteilungsspielraum“ kann es demgemäß nicht geben. b) Beweislastregel, Art. 2 VO 1/2003 Eine weitere Neuerung mit Auswirkung auf Kartellzivilverfahren309 stellt Art. 2 VO 1/2003 dar. Dieser regelt die Verteilung der Beweislast hinsichtlich 303
Vgl. hierzu Fuchs, ZWeR 2005, S. 1 (18). Weitbrecht, EuZW 2003, S. 69 (70). 305 Baron, WuW 2006, S. 358 (362 ff.). Vgl. hierzu auch Koch, ZWeR 2005, S. 380 (382) m. w. N. 306 Fuchs, ZWeR 2005, S. 1 (21); Sura, in: Langen/Bunte, Art. 1 VO 1/2003 Rdnr. 21; Baron, WuW 2006, S. 358 (364). 307 So auch Hirsch, ZWeR 2003, S. 233 (239). 308 Hingegen spricht sich Jäger für eine eingeschränkte revisionsrichterliche Überprüfung aus, die lediglich untersucht ob der Tatrichter einen „offensichtlichen Beurteilungsfehler“ begangen hat, WuW 2000, S. 1062 (1074). 309 In den Anwendungsbereich der Norm fallen sowohl Kartellzivilverfahren wie auch alle Verwaltungs- und Bußgeldverfahren der Kommission oder nationaler Behörden, Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 3; IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Art. 2 VO 1/2003 Rdnr. 16 ff.; Klees, § 8 Rdnr. 28. Im Hinblick auf den im Bußgeldverfahren geltenden Grundsatz in dubio pro reo ist dies nicht ganz unbedenklich, vgl. hierzu: Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 4; Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, Art. 2 Rdnr. 12 f. Demgegenüber lehnt Schütz die Anwendbarkeit des Art. 2 VO 1/2003 auf nationale Zivilrechtsstreitigkeiten gänzlich ab, ders., in: GK, Art. 2 VO 1/2003 Rdnr. 7. 304
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der Voraussetzungen der Artt. 81, 82 EG. Danach obliegt die Beweislast für eine Zuwiderhandlung gegen Artt. 81 Abs. 1 und 82 EG der Partei, die diesen Vorwurf erhebt, während die Beweislast für die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG die Partei trifft, die sich auf eine Freistellung beruft. Eine vergleichbare Bestimmung sah die VO 17/62 nicht vor. Eine inhaltliche Veränderung zur alten Rechtslage ist hiermit gleichwohl nicht verbunden, da diese Verteilung der Beweislast der ständigen Rechtsprechung des EuGH entspricht.310 Das Weißbuch hatte noch einen Ansatz verfolgt, der wohl zu dem Ergebnis geführt hätte, dass der Kläger sämtliche Voraussetzungen des Art. 81 EG einschließlich der Freistellungsvoraussetzungen hätte beweisen müssen.311 Die nun getroffene Regelung gewährleistet nach Ansicht der Kommission eine „ausgewogene Behandlung beider Parteien“, da derjenige, der sich auf die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG beruft, „in der Regel am besten in der Lage [ist], die Informationen beizubringen, mit denen gezeigt werden kann, dass die Voraussetzungen [. . .] vorliegen.“312 Im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG muss also die den Kartellverstoß geltend machende Partei den Nachweis über das Vorliegen eines Kartellrechtsverstoßes, eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels sowie die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung erbringen.313 Unklarheiten bestehen hinsichtlich der Ausnahmen vom Kartellverbot unter dem Gesichtspunkt des Immanenzgedankens.314 Da diese Einschränkungen bereits im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 EG erfolgen, spricht der Wortlaut des Art. 2 VO 1/2003 zunächst dafür, auch hinsichtlich des Nichtvorliegens solcher Ausnahmetatbestände dem Kläger die Beweislast aufzuerlegen. Dem Regel-Ausnahme-Prinzip des Art. 81 EG lässt sich jedoch eine generelle Vermutung für die Unzulässigkeit von Wettbewerbsbeschränkungen entnehmen. Art. 2 VO 1/2003 wiederum lässt erkennen, dass Ausnahmen und Rechtfertigungen von demjenigen nachzuweisen sind, der sich auf die Umstände beruft, so dass auch hinsichtlich Immanenzgesichtspunkten
310 EuGH, Rs. C-42/84, Slg. 1985, Rdnr. 45 – Remia; EuG, Rs. T-66/89, Slg. 1992, II-1995 Rdnr. 69 – Publishers Association; Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/ Miersch, Art. 2 Rdnr. 1; Bunte, in: Langen/Bunte, Art. 81 (Gen. Prinz.) Rdnr. 147; Klees, § 5 Rdnr. 20. 311 Hiernach gäbe es im Rahmen des Art. 81 EG keine Vermutung der Nichtigkeit von Vereinbarungen, vgl. Europ. Kommission, Weißbuch (Kartellverfahrensreform), ABl. EG 1999, C 132/1, Tz. 78. Kritisch hierzu Fikentscher, WuW 2001, S. 746 (747 ff.). 312 Europ. Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln vom 27.09.2000, KOM(2000) 582 endg., S. 16, ABl. EG 2000, C 365E/284. 313 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 9. A. A. in Bezug auf das Spürbarkeitskriterium wohl Fikentscher, WuW 2001, S. 746 (748). 314 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 9. Vgl. auch Fikentscher, WuW 2001, S. 746 (749).
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
entsprechend zu verfahren ist.315 Die Beweislast für das Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG und ebenso für die positiven und negativen Voraussetzungen einer Gruppenfreistellungsverordnung liegen ebenfalls bei demjenigen, der sich hierauf beruft.316 In Fällen des Art. 82 EG muss der Kläger sowohl eine marktbeherrschende Stellung, deren missbräuchliche Ausnutzung, sowie eine spürbare Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels nachweisen, während Rechtfertigungsgründe von der anderen Partei zu beweisen sind.317 Unberührt von Art. 2 VO 1/2003 bleiben jedoch die nationalen Rechtsvorschriften über die Beweislastverteilung hinsichtlich der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen i. R. d. Schadensersatzhaftung, über das Beweismaß und über die gerichtliche Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung.318 Ebenfalls richtet sich die Frage nach den zulässigen Beweismitteln weiterhin nach nationalem Recht.319 Der Anwendungsbereich der Regelung beschränkt sich ausschließlich auf die (materielle und formelle320) Beweislast und kommt somit erst dann zum Tragen, wenn der zugrundeliegende Sachverhalt nicht zur Überzeugung des Gerichts aufzuklären ist und endgültig ein non liquet vorliegt.321 Sieht das nationale Recht Beweiserleichterungen vor, so ist dies gemeinschaftsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden. So führte der EuGH in der Rechtssache Aalborg Portland hinsichtlich der Beweislastverteilung des Art. 2 VO 1/2003 aus: „Auch wenn die Beweislast nach diesen Grundsätzen entweder der Kommission oder dem betreffenden Unternehmen oder Verband obliegt, können die tatsächlichen Gesichtspunkte, auf die sich eine Partei beruft, die andere Partei zu einer Erläuterung oder Rechtfertigung zwingen, da sonst der Schluss zulässig ist, dass
315 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 9; Fikentscher, WuW 2001, S. 746 (749). Vgl. hierzu auch EuGH, verb. Rs. 100 bis 103/80, Slg. 1983, Rdnr. 90 – SA Musique diffusion Francaise hinsichtlich des Vorliegens eines Notstandes. 316 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 12. 317 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 10. 318 Erwägungsgrund 5 Satz 4 VO 1/2003. Sura, in: Langen/Bunte, Art. 2 VO 1/2003 Rdnr. 10; Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 13. 319 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 13. 320 Im Rahmen von Kommissionsverfahren ist Art. 2 VO 1/2003 wohl nicht als formelle Beweislastregelung zu verstehen, da bereits nach altem Recht die Kommission verpflichtet war, nach den Grundsätzen einer guten Verwaltungsführung mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Aufklärung des rechtserheblichen Sachverhalts beizutragen, vgl. hierzu Klees, § 5 Rdnr. 20 f. So auch Hirsch, ZWeR 2003, S. 233 (241); Weitbrecht, EuZW 2003, S. 69 (72); Sura, in: Langen/Bunte, Art. 2 VO 1/2003 Rdnr. 5 sowie Schütz, in: GK, Einf. VO 1/2003 Rdnr. 13 (der allerdings eine Anwendbarkeit des Art. 2 VO 1/2003 in nationalen Kartellzivilverfahren ablehnt). Für Kartellzivilverfahren regelt Art. 2 VO 1/2003 jedoch sowohl die materielle wie die formelle Beweislast, vgl. Sura, in: Langen/Bunte, Art. 2 VO 1/2003 Rdnr. 9 m. w. N. 321 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 112 Rdnr. 33, § 114 Rdnr. 1 ff.
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den Anforderungen an die Beweislast genügt wurde.“ 322 Die Pflicht zu einem substantiierten Bestreiten oder einer Rechtfertigung der Verhaltensweise kann – soweit das nationale Verfahrensrecht dies vorsieht – somit insbesondere in Fällen der Informationsasymmetrie zwischen den Parteien in Betracht kommen, sofern der Kläger zumindest Anhaltspunkte für einen Kartellrechtsverstoß vorbringen kann.323 In Deutschland wurde eine solche Beweiserleichterung für Umstände, die in der Sphäre der gegnerischen Partei liegen, von der Monopolkommission angeregt.324 Ebenso erschiene eine Anwendung der Regeln über den Anscheinsbeweis europarechtlich unbedenklich, da der prima facie-Beweis die Beweislastverteilung unberührt lässt.325 Dem nationalen Gesetzgeber ist allerdings durch die Regelung des Art. 2 VO 1/2003 verwehrt, die Beweiserleichterungen so auszugestalten, dass sie zu einer Umkehr der Beweislast führen.326 Auch hinsichtlich des anzuwendenden Beweismaßes bleibt es bei dem nationalen Maßstab.327 In Deutschland muss somit das Vorliegen oder Fehlen eines bestimmten Tatbestandsmerkmals zur Überzeugung des Richters gelangen. Mit Bezug auf die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG ist im Schrifttum problematisiert worden, ob der Wechsel zum System der Legalausnahme und der nun anwendbare zivilprozessuale Beweismaßstab möglicherweise zu einer materiellrechtlichen Verschärfung der Freistellungsmöglichkeiten geführt haben.328 Diese Überlegung stützt sich darauf, dass die Kommission sowohl in ihrer bisherigen Praxis als auch in den Leitlinien zur Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG zu erkennen gegeben hat, dass sie hinsichtlich der Feststellung der Freistellungsvoraussetzungen einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab anwendet.329 Das gesetzliche Regelbeweismaß i. S. d. § 286 ZPO erfordert hingegen eine (sehr) hohe Wahrscheinlichkeit.330 Eine nur überwiegende Wahrscheinlichkeit reicht nicht aus. Vor diesem Hintergrund steht zu befürchten, dass ökonomische Sachverständigengutachten, die ein Unternehmen für den schwierigen Nachweis
322 Vgl. hierzu EuGH, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 79 – Aalborg Portland. 323 Vgl. Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 84. 324 Monopolkommission, SG Nr. 32, Tz. 71. 325 So auch Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 2 VerfVO Rdnr. 14; IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Art. 2 VO 1/2003 Rdnr. 22. 326 Die Europ. Kommission scheint hingegen davon auszugehen, dass u. U. auch eine Beweislastumkehr möglich ist, vgl. Optionen 8 bis 10 des Grünbuchs, S. 7. 327 IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Art. 2 VO 1/2003 Rdnr. 22. 328 Kirchhoff, WuW 2004, S. 745 (749). Vgl. auch Sura, in: Langen/Bunte, Art. 2 VO 1/2003 Rdnr. 10. 329 Vgl. Kirchhoff, WuW 2004, S. 745 (750) unter Verweis auf die Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG 2004, C 101/97, Tz. 51, 56, 76, 79, 90–92, 96, 98, 107, 113, 115, 116. Für Nachweise zur Fallpraxis der Kommission, vgl. Kirchhoff, WuW 2004, S. 745 (746 f.). 330 Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 112 Rdnr. 13.
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der Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG meist vorbringen muss, nur dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab der Kommission standhalten können, nicht jedoch die nötige Gewissheit nach den Beweisanforderungen der ZPO vermitteln können.331 Nach Ansicht Kirchhoffs sollte zum Schutz einer kohärenten Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG sowie unter Berücksichtigung des effet utile künftig auch im Kartellzivilverfahren der Wahrscheinlichkeitsstandard für die Prüfung des Art. 81 Abs. 3 fruchtbar gemacht werden.332 Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass das europarechtliche Effizienzgebot zugunsten beider Parteien vorgebracht werden kann. So muss auch stets die Gewährleistung der subjektiven Rechte des Betroffenen im Auge behalten werden. Sicherlich dürfen aber an den Nachweis für die Freistellungsvoraussetzungen keine überspannten Anforderungen gestellt werden. c) Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden mit den Gerichten, Art. 15 VO 1/2003 Des Weiteren sind für Kartellzivilverfahren die verfahrensrechtlichen Regelungen des Art. 15 VO 1/2003 von Bedeutung. Diese legen die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten in ihren wesentlichen Zügen fest. Hiernach können die Gerichte zum einen die Kommission um in ihrem Besitz befindliche Informationen und um Stellungnahmen zur Anwendung der Wettbewerbsregeln ersuchen (Art. 15 Abs. 1). Zum anderen sind die Gerichte gehalten, eine Kopie des gefassten Urteils an die Kommission zu übersenden (Art. 15 Abs. 2). Schließlich besteht für die Kommission die Möglichkeit, sich als sog. amicus curiae am Zivilverfahren zu beteiligen und Stellungnahmen abzugeben (Art. 15 Abs. 3). Diese Regelungen, die durch die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit mit den Gerichten333 und – im deutschen Recht – durch den neuen § 90a GWB ergänzt werden, dienen zwei Zwecken: Zum einen soll hierdurch die Zusammenarbeit verstärkt werden, um somit auch in einem System der dezentralen Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln die notwendige Kohärenz in der Rechtsanwendung zu ermöglichen.334 Zum anderen soll aber mit Art. 15 Abs. 1 VO 1/2003 auch die private Kartellrechtsdurchsetzung gefördert werden, indem die Kommission 331
Kirchhoff, WuW 2004, S. 745 (749). Kirchhoff, WuW 2004, S. 745 (750); so auch Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, Art. 2 Rdnr. 11. 333 Europ. Kommission, Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Artikel 81 und 82 des Vertrags (Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten), ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 15 ff. 334 Europ. Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln vom 27.09.2000, KOM(2000) 582 endg., S. 24, ABl. EG 2000, C 365E/284 und Erwägungsgrund Nr. 21 der VO 1/2003. 332
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mit den ihr zur Verfügung stehenden Informationen und mit ihrem Sachverstand den Gerichten als objektive und neutrale Instanz bei der Anwendung der Artt. 81, 82 EG behilflich wird,335 ohne dabei die Interessen der am Verfahren beteiligten Parteien zu verfolgen.336 Die VO 17/62 hatte noch keine vergleichbaren Regelungen enthalten. Da aber auch schon unter der alten Rechtslage ein Bedürfnis für eine Zusammenarbeit bestanden hatte, hatte die Kommission in ihrer ersten Bekanntmachung über die Zusammenarbeit von 1993 nähere Leitlinien hierzu aufgestellt.337 Diese konnte sie auf die Rechtsprechung des EuGH stützen, der klargestellt hatte, dass die Kommission gemäß Art. 10 EG gehalten ist, mit den Justizbehörden der Mitgliedstaaten loyal zusammenzuarbeiten.338 Ein Informationsrecht der nationalen Gerichte im Sinne des Art. 15 Abs. 1 VO 1/2003 bestand somit auch nach der alten Rechtslage. Hiervon ist jedoch nur wenig Gebrauch gemacht worden.339 Zwischen 1993 und 2003 wurden nur 56 Anfragen von insbesondere erstinstanzlichen Gerichten berichtet.340 Die Zahl der Vorlagefragen an den EuGH war wesentlich höher. Ein Grund mag hierbei gewesen sein, dass es nicht dem Selbstverständnis der Gerichte entspricht, eine Behörde um Rechtsrat zu fragen.341 Gemäß Art. 15 Abs. 1 VO 1/2003 können die Gerichte der Mitgliedstaaten die Kommission um die Übermittlung von Informationen, die sich in ihrem Besitz befinden, oder um Stellungnahmen zu Fragen bitten, die die Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft betreffen. Die Bandbreite der in Betracht kommenden Arten von Informationen ist recht weit. Sie umfasst nicht nur Statistiken, Marktstudien und Auskünfte über einen möglichen Verfahrensstand bei der Kommission, sondern auch Beweismittel, die die Kommission in einem Verfahren aufgrund ihrer Ermittlungsbefugnisse (Art. 17 ff. VO 1/2003)342 335
Klees, § 8 Rdnr. 42. Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 19. 337 Vgl. Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten (alte Fassung), ABl. EG 1993, C 39/6, Tz. 33 ff. 338 EuGH, Rs. C-2/88 Imm., Slg. 1990, I-3365, Rdnr. 17 f. – Zwartveld; Rs. C234/89, Slg. 1991, I-935, Rdnr. 53 – Delimitis. Vgl. ebenso EuGH, Rs. C-39/94, Slg. 1996, I-3547, Rdnr. 50 – SFEI; Rs. C-275/00, Slg. 2002, I-10943 Rdnr. 49 – First und Franex. 339 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 4; Sura, in: Langen/Bunte, Art. 15 VO 1/2003 Rdnr. 10; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 90a GWB Rdnr. 15; Riley, ECLR 2003, S. 657 (665). 340 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 4. 341 So Riley, ECLR 2003, S. 657 (666). 342 EuG, Rs. T-353/94, Slg. 1996, II-921, Rdnr. 64 – Postbank; Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 11; Dalheimer, in: Dalheimer/ Feddersen/Miersch, Art. 15 Rdnr. 5. 336
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oder aber im Rahmen des Informationsaustausches mit anderen Wettbewerbsbehörden (Art. 12 VO 1/2003) erlangt hat.343 Notwendig ist jedoch, dass sich die Unterlagen im Besitz der Kommission befinden; diese ist nicht zur Beschaffung von Informationen gehalten.344 Eine Übermittlung von Informationen ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Unterlagen vertraulichen Inhalts sind und Berufsgeheimnisse enthalten (Art. 287 EG). Vielmehr geht nach Rechtsprechung des EuG die Aufgabe der Wahrung des Berufsgeheimnisses in diesem Fall auf das anfragende Gericht über.345 Ebenso nimmt Art. 28 Abs. 1 VO 1/ 2003 die Informationsübermittlung im Rahmen des Art. 15 VO 1/2003 ausdrücklich vom Verwertungsverbot von Berufsgeheimnissen aus.346 Problematisch ist allerdings, dass nach deutschem Zivilprozessrecht solche Dokumente, die den Parteien nicht zugänglich gemacht werden, einer Urteilsfindung nicht zugrunde gelegt werden können, so dass Geschäftsgeheimnisse in aller Regel nicht verwertbar sein dürften.347 Eine Informationsübermittlung seitens der Kommission hat jedoch nicht unter allen Umständen zu erfolgen. So kann die Kommission die Übermittlung aus Gründen der Wahrung der Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der Gemeinschaft oder zur Sicherung von Gemeinschaftsinteressen ablehnen.348 Dementsprechend hat die Kommission bereits erklärt, dass sie Informationen, die ihr freiwillig von einem Kronzeugen im Rahmen des Kronzeugen-Programms zur Verfügung gestellt wurden, nicht ohne dessen Einverständnis weiterleiten wird.349 Neben Informationen kann die Kommission auch um Stellungnahmen ersucht werden. Diese sollen den Gerichten im konkreten Einzelfall Hilfestellung bei der Anwendung der Artt. 81, 82 EG bieten.350 Stellungnahmen können zum einen in rechtlicher Hinsicht erbeten werden. In diesem Fall hat das Verfahren nach Art. 15 Abs. 1 VO 1/2003 den Charakter eines „kleinen Vorlageverfahrens“, das sich gegenüber der Vorlage zum EuGH gemäß Art. 234 EG als we343
Klees, § 8 Rdnr. 52. Klees, § 8 Rdnr. 53; Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 11; Sura, in: Langen/Bunte, Art. 15 VO 1/2003 Rdnr. 7. 345 EuG, Rs. T-353/94, Slg. 1996, II-921, Rdnr. 89 f. – Postbank; kritisch hierzu Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 11. 346 Nach Ansicht Zubers muss die Kommission allerdings dem betroffenen Unternehmen vorher eine Gelegenheit zur Stellungnahme geben, Zuber, in: Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 14. 347 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 11; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 90a Rdnr. 15. 348 EuGH, Rs. C-275/00, Slg. 2002, I-10943 Rdnr. 49 – First und Franex; Rs. C-2/ 88 Imm., Slg. 1990, I-3365, Rdnr. 24 f.; Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 26. 349 Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 26. 350 Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 27. 344
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niger aufwendig und schneller erweist.351 In Betracht kommen jedoch auch Stellungnahmen zu wirtschaftlichen und sachlichen Aspekten, so dass die Gerichte auch den ökonomischen Sachverstand der Behörde in das Verfahren einfließen lassen können.352 In diesen Fällen wird die Kommission wie ein Wirtschaftsgutachter beratend für das einzelstaatliche Gericht tätig.353 In keinem Fall geht die Kommission jedoch auf den Klagegrund des anhängigen Verfahrens ein, sondern beschränkt sich auf die Erteilung der Sachinformation.354 Eine erteilte Stellungnahme ist für das Zivilgericht nicht bindend und schränkt aus diesem Grunde die Unabhängigkeit des Richters bei seiner Entscheidung über das Verfahren nicht ein.355 Allerdings wird im Falle eines Abweichens von der Stellungnahme in der letzten Instanz meist eine Vorlage an den EuGH unvermeidbar sein, da von einem acte clair nicht mehr ausgegangen werden kann.356 Das Zivilgericht ist ebenso weder gegenüber den Parteien, noch gegenüber der Kommission verpflichtet, sich an die Kommission zu wenden.357 Sofern das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, unterrichtet es die Parteien über das Ersuchen und übermittelt diesen sowie dem Bundeskartellamt eine Kopie der Antwort der Kommission (§ 90a Abs. 3 Satz 2 GWB). Aus Art. 15 VO 1/2003 ergibt sich nicht, inwiefern die gewonnenen Informationen im Prozess verwertet werden können. Beweiswert und Verwertbarkeit ergeben
351 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 15. In ihrer Bekanntmachung hat die Kommission erklärt, dass sie sich bemühen werde, die erbetenen Informationen innerhalb eines Monats und Stellungnahmen innerhalb von vier Monaten zur Verfügung zu stellen, um das Zivilverfahren nicht zu verzögern, Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 22 und 28. 352 Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 27; Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, Art. 15 Rdnr. 5. Vgl. hierzu auch EuGH, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935, Rdnr. 53 – Delimitis; verb. Rs. C-319/93, C-40/94 und C-224/94, Slg. 1995, I-4471, Rdnr. 34 – Dijkstra. 353 EuGH, verb. Rs. C-174/98 P und C-189/98 P, Slg. 2000, I-47, Rdnr. 25 – Niederlande/van der Wal. 354 Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 29. 355 Europ. Kommission, Bekanntmachung: Zusammenarbeit mit nat. Gerichten, ABl. EG 2004, C 101/54, Tz. 19; Klees, § 8 Rdnr. 60; Zuber, in: Loewenheim/Meessen/ Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 23; Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, Art. 15 Rdnr. 8; Sura, in: Langen/Bunte, Art. 15 VO 1/2003 Rdnr. 4; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 90a Rdnr. 20; IM/Ritter, EG-WettbR II, Art. 15 VO 1/2003 Rdnr. 10. 356 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 90a Rdnr. 20. 357 Klees, § 8 Rdnr. 67; Sura, in: Langen/Bunte, Art. 15 VO 1/2003 Rdnr. 4. Allenfalls kann ein Zivilgericht verpflichtet sein, anzufragen, ob von der Kommission ein Verfahren in derselben Sache eingeleitet wurde oder unmittelbar bevorsteht, Klees, § 8 Rdnr. 67.
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sich allein nach dem nationalen Prozessrecht.358 Problematisch hierbei ist, dass die gerichtliche Einholung von Sachinformationen stets mit dem im Zivilprozess vorherrschenden Beibringungsgrundsatz in Einklang zu bringen ist, um nicht als unzulässige Amtsermittlung zu gelten. In Deutschland bietet sich hierfür die Möglichkeit an, dass das Zivilgericht durch Verfügung gemäß § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Kommission um eine amtliche Auskunft ersucht.359 Ein solches Vorgehen kann auch von Amts wegen erfolgen. Idealiter geht der Verfügung jedoch ein entsprechender Beweisantrag einer Partei voraus.360 Tatsachen, die die Kommission vorträgt, können nur dann Berücksichtigung finden, wenn sich eine Partei diese zu eigen macht und sich in ihrem Parteivortrag auf die Auskünfte bezieht.361 Eine Neuerung durch die VO 1/2003 ist die Möglichkeit der Kommission, sich an kartellzivilrechtlichen Verfahren als sog. amicus curiae unmittelbar zu beteiligen. Gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 3 VO 1/2003 kann die Kommission aus eigener Initiative den Gerichten der Mitgliedstaaten schriftliche Stellungnahmen übermitteln, sofern die kohärente Anwendung der Artikel 81 oder 82 dies erfordert. Ein entsprechendes Mitwirkungsrecht des Bundeskartellamtes war auch früher schon in § 90 Abs. 2 GWB vorgesehen und hat für die Regelung des Art 15 Abs. 3 VO 1/2003 Modell gestanden. Soweit das Gericht eine Erlaubnis erteilt, kann die Kommission auch mündlich Stellung nehmen. Letzteres hat der deutsche Gesetzgeber im Zuge der 7. GWB-Novelle dahingehend erweitert, dass der Kommission diese Möglichkeit stets gegeben ist (§ 90a Abs. 2 Satz 5 GWB). Für die Ausarbeitung ihrer (nicht bindenden) Stellungnahme kann die Kommission das Gericht ersuchen, alle zur Beurteilung des Falls notwendigen Schriftstücke zu übermitteln (Art. 15 Abs. 3 Satz 5 VO 1/2003). Das Mitwirkungsrecht beschränkt sich jedoch allein auf die Abgabe von Stellungnahmen. Die Kommission ist weder antrags- noch rechtsmittelbefugt. 362 Das Beteiligungsrecht der Kommission gemäß Art. 15 Abs. 3 VO 1/2003 sowie die zwingende Unterrichtung der Kommission über ergangene Urteile gemäß Art. 15 Abs. 2 stellen nach der Konzeption der dezentralisierten Anwendung der Wettbewerbsregeln ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung einer einheitlichen Anwendung innerhalb der Gemeinschaft dar. Hierdurch wird die 358 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 24; Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, Art. 15 Rdnr. 8; Schütz, in: GK, Art. 15 VO 1/2003 Rdnr. 2. 359 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 9; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 90a Rdnr. 11. 360 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 9. 361 Sura, in: Langen/Bunte, Art. 15 VO 1/2003 Rdnr. 6; Klees, § 8 Rdnr. 62; Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 9; Hirsch, ZWeR 2003, S. 233 (240). 362 Klees, § 8 Rdnr. 78.
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Kommission zum einen über die in den Mitgliedstaaten geübte Rechtspraxis informiert und diese kann zum anderen – sofern das Verfahren für sie von besonderem Interesse ist – im Rechtsmittelverfahren auftreten, um durch die Darlegung ihrer Rechtsauffassung einen aus ihrer Sicht „richtigen“ Verfahrensausgang herbeizuführen. Gleichzeitig wird durch das Mitwirkungsrecht erreicht, dass in Zivilprozessen nicht nur Individual-, sondern auch Allgemeininteressen berücksichtigt werden. Da die Kommission nur dann auf die Zivilgerichtsbarkeit einwirken wird, wenn dies erforderlich erscheint, ist davon auszugehen, dass sie – wie auch das Bundeskartellamt bisher im Rahmen des § 90 Abs. 2 GWB – ihre Beteiligung auf letztinstanzliche Gerichte konzentrieren wird.363 d) Einheitliche Anwendung der Wettbewerbsregeln, Art. 16 VO 1/2003 Eine weitere Regelung mit Auswirkung auf die private Kartellrechtsdurchsetzung stellt Art. 16 VO 1/2003 dar. Nach dessen Absatz 1 dürfen die Gerichte der Mitgliedstaaten bei Anwendung der Artt. 81, 82 EG auf Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission waren, keine Entscheidungen erlassen, die der behördlichen Entscheidung zuwiderlaufen. Gleiches gilt hinsichtlich noch bevorstehender Entscheidungen der Kommission, die diese in einem eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Hintergrund dieser Regelung ist, dass ein System der parallelen Zuständigkeit, in dem sowohl Kommission als auch nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte für die Anwendung der Wettbewerbsregeln berufen sind, Mechanismen zur Gewährleistung einer kohärenten Anwendung des materiellen Kartellrechts vorsehen muss. Die Möglichkeit einer divergierenden Anwendung bestand zwar auch vor der Reform des Kartellverfahrensrechts, wurde jedoch im System der Legalausnahme durch die erweiterte Kompetenz der nationalen Behörden und Gerichte als besondere Gefahr erkannt. Anders als im Verhältnis zu nationalen Wettbewerbsbehörden kann die Kommission die nationalen Gerichte nicht ihrer Zuständigkeit entheben und das anhängige Verfahren an sich ziehen (Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003). Bei der Reform des Kartellverfahrensrechts entschied man sich deshalb für eine Bindung der Gerichte an ergangene oder beabsichtigte Kommissionsentscheidungen, um Divergenzen zu vermeiden und Rechtssicherheit zu gewährleisten.364 Gleichzeitig wird hierdurch der Kommission die Rolle eines primus inter pares bei der Anwendung des EG-Kartellrechts zuteil.365 Eine entsprechende Regelung hatte die VO 17/62 noch nicht vorgesehen. Allerdings bestand auch damals schon nach Art. 10 EG eine Verpflichtung der 363 364 365
Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 15 VerfVO Rdnr. 6. Vgl. Erwägungsgrund 22 VO 1/2003. Sura, in: Langen/Bunte, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 3.
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Zivilgerichte, Kommissionsentscheidungen zu berücksichtigen. Der EuGH hatte in der Rechtssache Delimitis entschieden, dass nationale Gerichte keine Entscheidungen erlassen dürfen, die einer beabsichtigten Kommissionsentscheidung zuwiderlaufen würden.366 Im Jahr 2000 und somit bereits während des Gesetzgebungsverfahrens der VO 1/2003 stellte der Gerichtshof sodann in der Masterfoods-Entscheidung klar, dass eine solche Sperrwirkung auch hinsichtlich bereits ergangener Kommissionsentscheidungen besteht.367 Die jetzige Fassung des Art. 16 VO 1/2003 stellt im Wesentlichen eine Kodifizierung dieser Rechtsprechung dar. Im deutschen Recht wird Art. 16 VO 1/2003 durch die Bindungswirkung des neuen § 33 Abs. 4 GWB flankiert.368 Die Bindungswirkung gilt nur, sofern das Gerichtsverfahren und das Verfahren vor der Kommission ein und denselben Sachverhalt betreffen.369 Eine Erstreckung auf ähnlich gelagerte Sachverhalte ist hierin nicht enthalten. Eine Bindung ist auch dann anzunehmen, wenn gegen die Kommissionsentscheidung Rechtsmittel eingelegt wurden und diese somit noch nicht bestandskräftig geworden ist.370 Gelangt das Gericht zu der Ansicht, dass die Kommission Art. 81 oder 82 EG nicht richtig angewendet hat, kann es die behördliche Entscheidung nicht eigenständig verwerfen. Ihm bleibt nur die Möglichkeit, die Frage im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens i. S. d. Art. 234 EG durch den EuGH klären zu lassen (Art. 16 Abs. 1 Satz 4 VO 1/2003). Dem Art. 16 VO 1/2003 nicht unmittelbar zu entnehmen ist, welche Arten von Entscheidungen der Kommission für eine Bindungswirkung in Betracht kommen können. Während eine abschließende Klärung hierüber bislang aussteht, fallen nach h. M. sowohl Verbotsentscheidungen (Art. 7), als auch einstweilige Maßnahmen (Art. 8) und eine Feststellung der Nichtanwendbarkeit (Art. 10) in den Anwendungsbereich der Norm.371 Nicht erfasst hingegen ist eine Zusagenentscheidung nach Art. 9.372 Die Annahme einer Bindungswirkung für Nichtanwendbarkeitsfeststellungen gemäß Art. 10 ist allerdings nicht unbe366
EuGH, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935, Rdnr. 47 – Delimitis. EuGH, Rs. C-344/98, Slg. 2000, I-11369, Rdnr. 52 – Masterfoods Ltd./HB Ice Cream Ltd. 368 Vgl. hierzu unten, S. 245 ff. 369 Sura, in: Langen/Bunte, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 9; Dalheimer, in: Dalheimer/ Feddersen/Miersch, Art. 16 Rdnr. 5; Klees, § 8 Rdnr. 112; Hirsch, ZWeR 2003, S. 233 (248); Bornkamm, ZWeR 2003, S. 73 (84). 370 Sura, in: Langen/Bunte, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 9. 371 Vgl. Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 16 VerfVO Rdnr. 13; Sura, in: Langen/Bunte, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 9; IM/Ritter, EG-WettbR II, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 3; Schütz, in: GK, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 1; Klees, § 8 Rdnr. 110; a. A. hinsichtlich Art. 10: K. Schmidt, BB 2003, S. 1237 (1241 f.). 372 Vgl. hierzu die Erwägungsgründe 13 und 22 der VO 1/2003; ebenso Bechtold/ Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Art. 16 Rdnr. 5; IM/Ritter, EG-WettbR II, Art. 16 VO 1/ 2003 Rdnr. 3. 367
IV. Private Durchsetzung des EG-Kartellrechts nach der VO 1/2003
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denklich, weil sie sich hier zulasten einer Partei auswirken würde, die selbst nicht am Kommissionsverfahren teilgenommen hat.373 Auch in anderer Hinsicht wird die Reichweite der Sperrwirkung des Art. 16 VO 1/2003 diskutiert. Nach dem Wortlaut der Norm darf eine gerichtliche Entscheidung einer Kommissionsentscheidung nicht „zuwiderlaufen.“ Vorwiegend wird dies im Sinne einer rechtlichen und tatsächlichen Bindung an die behördliche Feststellung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung verstanden.374 Nach einer anderen Ansicht jedoch ist die Sperrwirkung wesentlich enger zu fassen: Sie soll hiernach nur solche Fälle betreffen, in denen durch Kommissionsentscheidung und Gerichtsurteil zwei sich widersprechende Verhaltensweisen gefordert würden.375 Das Gericht dürfe hiernach bspw. nicht zu einem Verhalten verurteilen, das die Kommission untersagt hat. Legte man dem Art. 16 VO 1/2003 ein solches Verständnis zugrunde, so hätte dieser nur Auswirkung auf den Schadensersatz in Form der Naturalrestitution. Dieser Ansicht kann jedoch nicht gefolgt werden. Sinn und Zweck des angeordneten Geltungsvorrangs von Kommissionsentscheidungen ist es nicht, behördlichen Entscheidungen zu einer unbeeinträchtigten Durchsetzung zu verhelfen, sondern geht darüber hinaus. Ziel der Regelung ist vielmehr die Gewährleistung einer kohärenten Anwendung der Wettbewerbsregeln. Die Kohärenz ist immer dann gefährdet, wenn ein und derselbe Sachverhalt hinsichtlich der kartellrechtlichen Zulässigkeit unterschiedlich bewertet wird.376 Der Kohärenzgedanke kommt so373 In der Literatur ist umstritten, ob auch Nichtanwendbarkeitsentscheidungen eine Bindungswirkung zukommt: befürwortend äußern sich Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 16 Rdnr. 7; de Bronett, VO 1/2003, Art. 16 Rdnr. 4; ablehnend hingegen Bornkamm, Die Rolle des Zivilrichters, S. 19 ff.; Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, S. 213 (221 f.), weil eine solche Bindung zulasten desjenigen ginge, der sich auf einen Verstoß beruft, obwohl dieser weder am Kommissionsverfahren beteiligt, noch in der Lage war, die Kommissionsentscheidung anzufechten. Nach Ansicht der Kommission finden auch Nichtanwendbarkeitsentscheidungen i. R. d. Art. 16 Anwendung, vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln v. 27.09.2000, KOM (2000) 582 endg., S. 22 u. 26. 374 Sura, in: Langen/Bunte, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 9; Klees, § 8 Rdnr. 108 ff.; Schütz, in: GK, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 1. 375 Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 16 VerfVO Rdnr. 13; Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, S. 213 (220); Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 117; kritisch ebenfalls Roth, FS-Huber, S. 1133 (1153) (Fn. 100). 376 Dies wird auch in dem gesetzlichen Hinweis auf die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens deutlich (Art. 16 Abs. 1 Satz 4 VO 1/2003). Diente Art. 16 nur dem Geltungsanspruch von Kommissionsentscheidungen, hätte die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nur insoweit möglich sein dürfen, wie die Kommissionsentscheidung noch nicht bestandskräftig geworden ist. Nach dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers stand aber im Vordergrund, durch die Bindungswirkung Kohärenz der Anwendung und Rechtssicherheit zu gewährleisten, um so ein „reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes“ zu ermöglichen, Europ. Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
mit bei jeder Form der Anwendung der Artt. 81, 82 EG zum Tragen. Ebenso stünde eine solche restriktive Handhabung des Art. 16 VO 1/2003 im Widerspruch zum erklärten Ziel der Kartellverfahrensreform, die private Kartellrechtsdurchsetzung zu fördern: Nur bei einem weiten Verständnis könnte die Bindungswirkung für den schwierigen Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes im Rahmen zivilrechtlicher Follow-on-Verfahren von den Geschädigten nutzbar gemacht werden. Aus diesem Grunde ist die Regelung des Art. 16 Abs. 1 VO 1/ 2003 im Sinne einer generellen Bindungswirkung hinsichtlich der Feststellung über eine Verletzung des EG-Kartellrechts zu verstehen. e) Bewertung In rechtlicher Hinsicht werden die genannten Änderungen durch die VO 1/ 2003 sicherlich nicht ausreichen, um der privaten Kartellrechtsdurchsetzung zu einer verstärkten Anwendung zu verhelfen. Zwar stellt der Wechsel zu einem System der Legalausnahme einen wichtigen Schritt für die Anwendung des Art. 81 EG durch die nationalen Gerichte dar. Im Schrifttum wurde diese Änderung aber zu recht nur als ein erster Schritt für die Entwicklung eines „private enforcement“ im europäischen Wettbewerbsrecht gewertet.377 Unverändert verbleiben nämlich die faktischen Schwierigkeiten und die rechtlichen Hürden, die sich aus dem nationalen Recht ergeben. Wesentlich entscheidender ist hingegen die wettbewerbspolitische Dimension der Reform des europäischen Kartellverfahrensrechts. Die private Kartellrechtsdurchsetzung und insbesondere der kartellrechtliche Schadensersatz haben durch die VO 1/2003 wichtige Impulse erhalten. Die Reform des Kartelldeliktsrechts in Deutschland durch die 7. GWB-Novelle geht maßgeblich auf die Veränderungen im europäischen Recht zurück. Auch in anderen Mitgliedstaaten, wie etwa in Großbritannien und in Schweden, wurde die private Kartellrechtsdurchsetzung durch gesetzliche Veränderungen aufgewertet. Schließlich hat das neue System der dezentralen Anwendung auch auf europäischer Ebene die Diskussion über den kartellrechtlichen Schadensersatz neu angestoßen. In dieser Hinsicht führte die VO 1/2003 zu einer Stärkung der privaten Durchsetzung des EG-Wettbewerbsrechts. Der entschiedene Wille der Kommission, auf diesem Gebiet Verbesserungen herbeizuführen, um eine effektive zivilrechtliche Durchsetzung zu ermöglichen, führte nun erstmals zu konkreten Maßnahmen: Die Kommission hat sowohl ein Grün- wie auch ein Weißbuch herausgebracht, das sich ausschließlich mit dem kartellrechtlichen Schadensersatz befasst.
und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln vom 27.09.2000, KOM(2000) 582 endg., S. 26, ABl. EG 2000, C 365E/284. 377 Vgl. Jacobs/Deisenhofer, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 187 (213); Monti, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 3 (4).
V. Das Weißbuch der Kommission
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V. Das Weißbuch der Kommission Das zunächst im Dezember 2005 von der Kommission veröffentlichte Grünbuch378 wie auch das im April 2008 veröffentlichte Weißbuch379 über die Regelung von Schadensersatzklagen wegen Verletzungen der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln bauen maßgeblich auf den Änderungen und Zielsetzungen der jüngsten Reform des EG-Kartellverfahrensrechts auf. Das von der VO 1/2003 verfolgte Ziel einer verstärkten privaten Durchsetzung des Kartellrechts machte weitere Maßnahmen auf dem Gebiet der Schadensersatzklagen notwendig. Der nötige Handlungsbedarf wurde durch die Ashurst-Studie380 offenbar, deren ernüchternde Ergebnisse die Kommission zu einem raschen Handeln veranlassten. Während die Kommission in ihrem Grünbuch zunächst bestrebt war, die derzeitigen Hindernisse im Zusammenhang mit der kartellrechtlichen Schadensersatzklage zusammenzutragen und unterschiedlichste Optionen zur Effektivierung des Kartelldeliktsrechts aufzuzeigen, enthält das aktuelle Weißbuch ein konkretes Maßnahmepaket. Darin wird das grundlegende Anliegen der Kommission deutlich, kartellrechtliche Schadensersatzklagen innerhalb der Gemeinschaft durch die Schaffung eines EU-weiten Mindeststandards zu harmonisieren und bestehende Rechtsunsicherheiten zu verringern.381 Nach den Vorstellungen der Kommission soll die private Kartellrechtsdurchsetzung (sowohl in Gestalt von Follow-on-Klagen wie auch isolierten Verfahren) in der Rechtspraxis an Bedeutung gewinnen, um so die behördliche Durchsetzung der Artt. 81, 82 EG sinnvoll zu ergänzen. Als maßgebliche Leitprinzipien werden dabei zum einen die Gewährleistung einer vollständigen Entschädigung der Betroffenen und zum anderen aber auch eine verstärkte präventive Ausrichtung des Kartelldeliktsrechts postuliert.382 Das Weißbuch hält dazu Maßnahmen sowohl für den Bereich des materiellen Schadensersatzrechts wie auch des Verfahrensrechts bereit. Aus dem Bündel der 378 Europ. Kommission, Grünbuch, KOM(2005) 672 endg. Gleichzeitig hiermit erschien das Arbeitspapier z. Grünbuch [SEC(2005) 1732], das detaillierte Erläuterungen zum Grünbuch enthält. Eine deutsche Fassung des englischen Dokuments wurde im Februar 2006 veröffentlicht. Vgl. hierzu Diemer, ECLR 2006, S. 309 ff.; Pheasant, ECLR 2006, S. 365 ff. sowie Eilmansberger, CMLRev. 2007, S. 431 ff. 379 Europ. Kommission, Weißbuch, KOM(2008) 165 endg. Zugleich erschien ein begleitendes Arbeitspapier z. Weißbuch [SEC(2008) 404] mit näheren Erläuterungen der Vorschläge sowie ein Folgenabschätzungsbericht [SEC(2008) 405], der eine Untersuchung der zu erwartenden Vorteile und Kosten von verschiedenen rechtspolitischen Optionen enthält. Vgl. hierzu auch Ritter, WuW 2008, S. 762 ff.; Weidenbach/Saller, BB 2008, S. 1020 ff. sowie Zöttl, DB 2008, S. 1200 ff. 380 Siehe hierzu oben, S. 135. 381 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 1.1. 382 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 1.2.
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Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
bestehenden Klagehindernisse greift es neun Problempunkte heraus. Auch wenn die Kommission stets betont, einen „genuin europäischen Rechtsrahmen“ mit „ausgewogenen Maßnahmen“ schaffen zu wollen, die sich auf die europäische Rechtskultur und -tradition stützen,383 ist bei Betrachtung des Grün- und Weißbuches nicht zu verkennen, dass sich die Kommission oftmals an der Ausgestaltung des „private enforcement“ im US-amerikanischen Antitrust-Recht orientiert hat. Hervorzuheben gilt es jedoch gleich zu Beginn, dass sich insbesondere ein kontroverser Vorstoß des Grünbuchs nicht im neuen Weißbuch wiederfindet: Angesichts der zum Teil heftigen Kritik im Rahmen der Stellungnahmen384 hat die Kommission den Plan, in Anlehnung an die „treble damages“ des USRechts für horizontale Kartelle eine Verdopplung der Schadensersatzleistung einzuführen, vorerst zurückgestellt.385 In materiellrechtlicher Hinsicht hält das Weißbuch aus deutscher Sicht durchaus Bekanntes bereit. Viele der gemachten Vorschläge haben bereits mit der 7. GWB-Novelle Einzug in das deutsche Recht erhalten oder entsprechen seit jeher den Grundsätzen des allgemeinen Delikts- und Schadensrechts. So stimmt die befürwortete Bindungswirkung von bestandskräftigen Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden für die Zivilgerichte weitestgehend mit § 33 Abs. 4 GWB n. F. überein.386 Ferner führt das Weißbuch die europarechtlichen Vorgaben zum Umfang der Ersatzleistung auf, wie sie sich aus der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs ergeben. Darüber hinaus findet sich im Zusammenhang mit der in der Praxis recht schwierigen Schadensbestimmung der Vorschlag, einen für die Gerichte unverbindlichen Orientierungsrahmen auszuarbeiten, der u. a. „approximative Methoden der Schadensberechnung“ enthalten soll.387 Schließlich schlägt das Weißbuch eine § 33 Abs. 5 GWB n. F. entsprechende Verjährungsregelung vor. Anders als im deutschen Recht soll nach Vorstellungen der Kommission ein behördliches Verfahren den Ablauf der Verjährung jedoch nicht nur hemmen, sondern mit seiner Beendigung zu einem Neubeginn einer mindestens zweijährigen Verjährungsfrist führen.388 Mehr Aufmerksamkeit im materiellen Bereich verdienen die Ausführungen der Kommission zur Problematik der Schadensabwälzung, zu der das deutsche 383
Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 1.2. Vgl. für Deutschland nur etwa die Stellungnahmen von BDI und DIHK zum Grünbuch, beide abrufbar im Internet unter: http://ec.europa.eu/comm/competition/an titrust/actionsdamages/green_paper_comments.html (zuletzt: 20.08.2008). 385 Europ. Kommission, Grünbuch, Option 16. 386 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.3 und Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 134 ff. Näheres zur Bindungswirkung nach § 33 Abs. 4 GWB siehe unten, S. 245 ff. 387 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.3. Zu möglichen Quantifizierungsmethoden vgl. unten, S. 422 ff. 388 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.7 und Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 226 ff. Näheres zu § 33 Abs. 5 GWB siehe unten, S. 257 ff. 384
V. Das Weißbuch der Kommission
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Recht auch nach der 7. GWB-Novelle nur in beschränktem Umfang Regelungen bereithält.389 In ihrem Grünbuch hatte sich die Kommission in dieser Hinsicht noch recht offen gezeigt.390 Nunmehr spricht sie sich unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH in den Entscheidungen Courage und Manfredi ausdrücklich für eine Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer aus.391 Gleichzeitig soll zur Vermeidung einer als unbillig empfundenen Mehrfachentschädigung dem Rechtsverletzer bei Schadensersatzklagen von Erstabnehmern der Einwand der Schadensabwälzung ermöglicht werden.392 Im Ergebnis werden also abgewälzte Schäden nach dem Modell der Kommission der Endabnehmerbzw. Endverbraucherebene zugewiesen. In diesem Zusammenhang sind zudem die rechtspolitisch nicht unumstrittenen verfahrensrechtlichen Vorschläge zu sehen. So soll sowohl im Rahmen von Klagen von Erstabnehmern wie auch von mittelbaren Abnehmern jeweils dem Rechtsverletzer die Beweislast für eine Schadensabwälzung obliegen. Mittelbare Abnehmer kämen in den Genuss einer widerleglichen Vermutung der vollständigen Abwälzung der rechtswidrigen Preisaufschläge auf ihre Marktstufe.393 Ferner hält das Weißbuch Vorschläge zur Förderung des kollektiven Rechtsschutzes bereit, um so das auf Endabnehmerebene bestehende Problem der Streuschäden anzugehen. Ein kollektiver Rechtsschutz soll zum einen in Gestalt von Verbandsklagen durch (ggf. ad hoc gebildete) qualifizierte Einrichtungen zugunsten von „bezeichneten“ oder „identifizierbaren“ Einzelpersonen erfolgen. Zum anderen sollen sich die Geschädigten in Gruppenklagen zusammenschließen können.394 Diese sollen auf einer Opt-in-Basis erhoben werden, d.h. ein Anspruchsberechtigter muss sich im Gegensatz zu den US-amerikanischen Sammelklagen ausdrücklich für eine Beteiligung an der Gruppe entscheiden. Es verbleibt jedoch die Frage, ob mit der Verbandsklage für „identifizierbare“ Opfer nicht im Ergebnis doch ein Instrument geschaffen wird, das in seiner Reichweite einer US-amerikanischen Sammelklage auf Opt-out-Basis sehr nahe kommt.395 Fraglich ist zudem, wie die Verbandsklage im Zusammenspiel mit Einzel- oder Gruppenklagen zu sehen ist. Nach den Plänen der Kommission soll der Einzelne seine Ansprüche nicht verlieren. Wie aber in der Praxis auftretende Konfliktfälle zu lösen sind, verbleibt noch unklar.396
389 390 391
Vgl. hierzu die näheren Ausführungen unten, S. 281 ff. Europ. Kommission, Grünbuch, Optionen 21 bis 24. Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.1 und Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz.
24 ff. 392 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.6 und Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 201 ff. 393 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.6. 394 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.1 u. Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 38 ff. 395 Vgl. hierzu auch Weidenbach/Saller, BB 2008, S. 1020 (1022). 396 Vgl. hierzu Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 61.
162
Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
Auch die weiteren verfahrensrechtlichen Vorschläge würden zum Teil erhebliche Veränderungen im deutschen Recht herbeiführen. An erster Stelle sei hierbei die geplante Regelung zur Offenlegung von Beweismitteln genannt. Nach dem Vorbild des angloamerikanischen Discovery-Verfahrens und in Fortführung des Ansatzes der Richtlinie 2004/48/EG zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums397 sollen Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen befugt sein, die Prozessparteien oder Dritte anzuweisen, genau bezeichnete Kategorien von relevanten Beweismitteln offenzulegen, und bei Nichtbefolgen Sanktionen zu verhängen.398 Ferner sieht das Weißbuch eine Beweislastregelung zum Verschuldenserfordernis vor, wonach der Rechtsverletzer für einen Ausschluss der Haftung nachzuweisen hat, dass der (erwiesene) Kartellverstoß auf einem „genuin entschuldbaren Irrtum“ beruht.399 Im Grünbuch war zunächst noch erwogen worden, gänzlich auf ein Verschuldenserfordernis im Kartelldeliktsrecht zu verzichten.400 Darüber hinaus widmet sich die Kommission der Problematik des erhöhten Kostenrisikos in Wettbewerbsprozessen. So schlägt sie vor, dass das nationale Verfahrensrecht die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten im Vergleichswege fördern und Gerichtskosten durch Festlegung von Obergrenzen verringern sollte. Darüber hinaus soll den Gerichten die Möglichkeit gegeben werden, im Einzelfall vom Grundsatz der Kostentragung durch die unterlegene Partei abzuweichen.401 Schließlich finden sich im Weißbuch Vorschläge zu einer besseren Abstimmung von behördlicher und privater Kartellaufsicht. Neben dem Schutz vor Offenlegung von „Corporate Statements“ im Rahmen von Kronzeugenprogrammen der Wettbewerbsbehörden regt die Kommission eine Begrenzung der zivilrechtlichen Haftung von Kronzeugen dahingehend an, dass diese – vergleichbar der jüngst eingeführten Regelung im US-Recht402 – von der gesamtschuldnerischen Haftung ausgenommen bleiben und nur noch Ansprüchen ihrer direkten und indirekten Vertragspartner ausgesetzt sind.403
397 Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04. 2004, ABl. EG 2004, L 157/45. Die Richtlinie wurde durch das Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums v. 07.07.2008, BGBl. I 2008, 1191, umgesetzt. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere § 101a UrhG, § 140c PatG, § 24c GebrMG, §§ 19a, 128 und 135 MarkenG, § 9 Halbleiterschutzgesetz, § 46a GeschmMG, § 37c Sortenschutzgesetz. 398 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.2 und Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 65 ff. 399 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.4 und Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 163 ff. 400 Europ. Kommission, Grünbuch, Optionen 11 und 12. 401 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.8 und Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 241 ff. 402 Näher zum Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Reform Act 2004 siehe unten, S. 207 ff.
V. Das Weißbuch der Kommission
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Gerade die einschneidenden Veränderungen im verfahrensrechtlichen Bereich sind auf eine kontroverse Diskussion in den Mitgliedstaaten gestoßen und haben die Befürchtung ausgelöst, Systembrüche in den nationalen Rechtsordnungen zu verursachen. Insbesondere die Vorschläge zur Einführung von Verbands- und Gruppenklagen sowie zur Offenlegung von Beweismitteln haben in Deutschland weitgehend Ablehnung erfahren.404 Zudem ist auch nach Ergehen des Weißbuchs die weitere Entwicklung der angestoßenen Reform unklar. Die Kommission unterstreicht in ihrem Arbeitspapier ihr Bestreben, den gewünschten gemeinschaftsweiten einheitlichen Rechtsrahmen durch eine sekundärrechtliche Regelung in diesem Bereich zu schaffen.405 Bezüglich deren Umfang und Inhalt gibt die Kommission aber zu erkennen, dass sie einige Bereiche des Weißbuchs hiervon ausnehmen möchte. So sind einige Vorschläge wie etwa derjenige zur Minimierung des Kostenrisikos als bloße Anregungen an die Mitgliedstaaten formuliert.406 Andere Vorschläge, wie etwa die Handhabung der Schadensabwälzung, die Bindungswirkung von kartellbehördlichen Entscheidungen oder die Offenlegung von Beweismitteln, sind hingegen sehr viel konkreter gefasst, so dass eine Normgebung im Gemeinschaftsrecht durchaus denkbar erscheint.407 Entsprechend schlägt die Kommission eine Sekundärregelung vor, die zum einen den acquis communautaire, wie er sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt, kodifiziert und zum anderen einige der vorgeschlagenen Maßnahmen länderübergreifend verbindlich vorgibt. Anzumerken ist hierbei, dass vielfach die dafür nötige Gesetzgebungskompetenz der Gemeinschaft angezweifelt wird.408 Eine Alternative zu legislativen Maßnahmen wäre es, auf andere Weise auf eine Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen und auf die Schaffung 403 Europ. Kommission, Weißbuch, Ziff. 2.9 und Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 268 ff. 404 Vgl. etwa die Stellungnahmen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie u. a., des Deutschen Richterbundes, des BDI oder der Studienvereinigung Kartellrecht, abrufbar im Internet unter: http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/ actionsdamages/white_paper_comments.html (zuletzt: 20.08.2008). 405 Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 317 ff. 406 Im Weißbuch finden sich Formulierungen wie „regt an“, „ermutigt“ oder „sollten überdenken“. 407 Ferner sollen die Möglichkeiten der kollektiven Rechtsdurchsetzung, die Beweiserleichterung bezüglich des Verschuldens, die Verjährungsregelung, der Schutz von „Corporate Statements“ vor der Offenlegung sowie die Ausnahme von Kronzeugen von der gesamtschuldnerischen Haftung auf EU-Ebene geregelt werden, vgl. hierzu Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 322. 408 Vgl. etwa die Stellungnahme des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie u. a., S. 2; der Studienvereinigung Kartellrecht, S. 2 sowie des BDI, S. 6, abrufbar im Internet unter: http://ec.europa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdama ges/white_paper_comments.html (zuletzt: 20.08.2008). Die Kommission sieht sich hingegen in ihrer Kompetenz durch den EuGH bestätigt, vgl. dies., Arbeitspapier z. Weißbuch, Tz. 319 (Fn. 164).
164
Kap. 2: Schadensersatz bei Verstößen gegen das EG-Kartellrecht
eines EU-weiten Mindeststandards hinzuwirken („soft harmonization“). Wie die jüngsten Entwicklungen in zahlreichen Mitgliedstaaten gezeigt haben, sind auch die nationalen Gesetzgeber nicht untätig geblieben. Denkbar erscheint es daher, es dabei zu belassen, einen „Wettbewerb der Rechtsordnungen“ mit dem Ziel der Effektivierung des nationalen Kartelldelikts- und Verfahrensrechts anzustoßen. Für letzteres spricht, dass gerade Regelungen im Bereich des Prozessrechts in den Mitgliedstaaten als Eingriff in die nationale Autonomie gewertet werden dürften. Ebenfalls lassen sich effektive Verbesserungen des Verfahrensrechts nicht isoliert von der jeweiligen Rechtsordnung bestimmen, da sich die Änderungen stets in das nationale Prozessrecht einfügen müssen. Darüber hinaus ist fraglich, ob die Schaffung eines prozessualen Sonderrechts angloamerikanischer Prägung allein für den Bereich des Kartellrechts tatsächlich zu Erleichterungen bei der Anwendung des EG-Kartellrechts durch die Gerichte führen wird oder nicht vielmehr das Gegenteil bewirkt. Im Ergebnis ist jedoch das Bestreben der Kommission, Änderungen im nationalen Verfahrensrecht, insbesondere hinsichtlich des kollektiven Rechtsschutzes, anzustoßen, zu begrüßen, da nur so das Problem der Streuschäden sinnvoll in den Griff zu bekommen ist. Eine gemeinschaftsrechtliche Regelung erscheint gleichwohl zum jetzigen Zeitpunkt (noch) nicht sachgerecht. Strebt man eine Verbesserung und Vereinheitlichung der Regelungen über Schadensersatzklagen wegen Verletzungen des EG-Kartellrechts an, sollte man sich zunächst über die „richtigen“ Maßnahmen, d.h. tatsächliche Verbesserungen, klar werden und erst im nächsten Schritt diese europaweit vereinheitlichen. Vieles spricht dafür, zunächst die ersten Erfahrungen nach der Reform des Kartellverfahrensrechts und insbesondere die Entwicklung in jenen Mitgliedstaaten abzuwarten, die jüngst das Kartelldeliktsrecht reformiert haben.409 Ebenso dürften die von dem Weißbuch ausgehenden Impulse die nationalen Gesetzgeber der anderen Länder auf den Plan rufen, eigene Konzepte zu entwickeln, die bei einer europäischen Lösung berücksichtigt werden sollten. Eine zu frühe Harmonisierung könnte der Entwicklung der letzten Jahre ihre Dynamik nehmen und einen unausgereiften Ansatz für viele Jahre festschreiben.
VI. Ergebnis Festzuhalten ist somit, dass das Europarecht (noch) keine Regelung über eine Schadensersatzpflicht für Verletzungen der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln enthält. Dem EG-Vertrag und der Rechtsprechungspraxis der Gemeinschaftsgerichte lässt sich auch ein ungeschriebener Schadensersatzanspruch nicht entnehmen. Vielmehr richten sich die zivilrechtlichen Folgen einer Verletzung des EG-Kartellrechts nach dem nationalen Recht. Hierbei unterliegt die 409
So auch Basedow, ZWeR 2006, S. 294 (298 f.).
VI. Ergebnis
165
einzelstaatliche Rechtsordnung jedoch europarechtlichen Vorgaben, die einen effektiven Rechtsschutz der in den Wettbewerbsregeln enthaltenen subjektiven Rechte erfordern. Unter anderem ergibt sich hieraus, dass Betroffenen die Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs für kartellbedingte Einbußen offenstehen muss. Dessen materiellrechtliche Voraussetzungen sowie die prozessualen Rahmenbedingungen für die gerichtliche Geltendmachung müssen des Weiteren den europarechtlichen Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsätzen genügen. Insbesondere der Effektivitätsgrundsatz kann Auswirkungen auf die einzelnen Haftungsmodalitäten haben und muss deshalb bei der Auslegung des nationalen Rechts stets berücksichtigt werden. Ebenso wie der Schadensersatzanspruch für Verletzungen des deutschen Kartellrechts hat der Schadensersatzanspruch im EG-Kartellrecht – sowohl in Deutschland wie auch in der Rechtspraxis der anderen Mitgliedstaaten – bislang kaum eine signifikante Bedeutung erlangt. Seit Ende der 1990er Jahre ist jedoch ein Bedeutungswandel des Schadensersatzes in der europäischen Wettbewerbspolitik zu verzeichnen. Wesentliche Impulse gingen von der Courage-Entscheidung des EuGH sowie der Reform des Kartellverfahrensrechts aus. Die VO 1/2003 hat durch die Einführung eines Systems der Legalausnahme im Rahmen des Art. 81 EG den Weg für eine dezentrale Anwendung der Wettbewerbsregeln geebnet. Künftig kommt der privaten Kartellrechtsdurchsetzung eine wichtige Ergänzungsfunktion zur behördlichen Aufsicht zu. Des Weiteren haben Grün- und Weißbuch der Kommission die Diskussion über die Bedeutung des Kartelldeliktsrechts auf europäischer Ebene angestoßen. Die genaue weitere Entwicklung ist derzeit noch nicht abzusehen. Sicher ist jedoch, dass die Betrachtung des kartellrechtlichen Schadensersatzes mehr denn je eine Auseinandersetzung mit dem Gemeinschaftsrecht und den von ihm ausgehenden Vorgaben erforderlich macht.
Kapitel 3
Der kartellrechtliche Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht Im Vergleich zu Deutschland und der EU spielt die private Durchsetzung des Kartellrechts im US-amerikanischen Antitrust-Recht seit langem eine maßgebliche Rolle. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich hierzu eine umfassende Judikatur entwickelt und auch die amerikanische Literatur hat sich mit dieser Thematik bereits intensiv auseinandergesetzt.1 In der in Europa vorherrschenden Diskussion über eine Stärkung des privaten Rechtsschutzes kommt dem Antitrust-Recht deshalb eine wichtige Vorbildfunktion zu. Die Regelungen und Erfahrungen im Antitrust-Recht können vielfach zur Lösung von Problemen herangezogen werden, die sich in Deutschland und Europa neu stellen. So hat der deutsche Gesetzgeber bereits bei der Neufassung des Kartelldeliktsrechts einige der Neuregelungen dem US-Recht entlehnt. Andererseits offenbart der Blick in die USA auch, welche Probleme mit einer verstärkten privaten Durchsetzung des Kartellrechts einhergehen können. Im Folgenden soll zunächst das kartellrechtliche Durchsetzungsregime in den USA skizziert werden. Im Anschluss daran wird die große praktische Bedeutung des privaten Rechtsschutzes im Antitrust-Recht aufgezeigt. Die Gründe hierfür liegen in den materiellrechtlichen Voraussetzungen und insbesondere den prozessualen Rahmenbedingungen im US-Recht, die in ihren wesentlichen Zügen darzustellen sind.2 Abschließend sollen die im Antitrust-Recht bestehenden Anreize für Schadensersatzklagen zusammengefasst werden.
I. Allgemeines Im Wesentlichen setzt sich das materielle Kartellrecht in den USA aus nur wenigen Normen zusammen, die sich über drei verschiedene Gesetze verteilt finden:3 Der 1890 in Kraft getretene Sherman Act4 verbietet zum einen Ver1 Für eine umfassende Darstellung sei insbesondere auf Floyd/Sullivan, P. Jones, C. Jones und Areeda/Hovenkamp, ¶¶ 300 ff. verwiesen. 2 Eine Darstellung der Privatklage im US-amerikanischen Antitrust-Recht findet sich in der deutschen Literatur auch in den Untersuchungen von Mailänder, Linder, Hempel sowie Bulst. 3 Näher hierzu etwa Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 5 ff. 4 15 U.S.C. §§ 1–7; vom 02.07.1890, c. 617, 25 Stat. 209.
I. Allgemeines
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träge, Vereinigungen und vereinbartes Zusammenwirken, die den Handel zwischen den einzelnen Bundesstaaten oder den Außenhandel der USA beschränken (Sec. 15). Zum anderen untersagt er die versuchte oder vollendete Monopolisierung des Handels zwischen den Bundesstaaten oder des amerikanischen Außenhandels (Sec. 26). Der 1914 erlassene Clayton Act7 hingegen regelt Preisdiskriminierungen (Sec. 28), Ausschließlichkeitsvereinbarungen und Kopplungsverträge (Sec. 39) sowie Zusammenschlüsse und Gemeinschaftsunternehmen (Sec. 710). Schließlich untersagt die Generalklausel der Sec. 511 des Federal Trade Commission Act (FTC Act) von 191412 „unlautere Methoden des Wettbewerbs“. Schon vor Inkrafttreten des Sherman Act im Jahre 1890 gab es im Common Law das Verbot eines „restraint of trade“13 sowie seit den 1880er Jahren in den einzelnen Bundesstaaten gesetzliche Regelungen gegen Wettbewerbsbeschränkungen.14 Im Laufe der schnellen Industrialisierung in den USA nach Ende des Bürgerkriegs traten in einigen Industrien zunehmend Überkapazitäten auf. In Reaktion hierauf bildeten sich Kartelle, die dazu dienen sollten, Produktionsmengen und Preise besser regulieren zu können. Im Jahre 1882 entstand erstmals mit „Standard Oil“ eine Zusammenarbeit in Form sog. „trusts“. Die beteiligten Unternehmer bzw. Aktionäre übertrugen dazu ihre Unternehmensbeteiligungen treuhänderisch an einen Ausschuss und erhielten im Gegenzug Zertifikate am Trust, die ihnen einen bestimmten Anteil am ausgeschütteten Gewinn zusicherten.15 Um der zunehmenden Konzentration einiger Industrien entgegenzuwirken und die Verbraucher vor überhöhten Preisen besser zu schützen, erließ der Kongress mit dem Sherman Act auch auf Bundesebene ein Kartellrecht,16 welches im Wesentlichen auf den Prinzipien des Common Law basierte.17 Parallel hierzu sind bis heute die einzelstaatlichen Kartellgesetze mit vergleichbaren Verboten bestehen geblieben.18 Sie sind stark an die Bundesge-
5
15 U.S.C. § 1. 15 U.S.C. § 2. 7 15 U.S.C. §§ 12–27, 29 U.S.C. §§ 52–53; vom 15.10.1914, c. 323, 38 Stat. 730. 8 15 U.S.C. § 13; neugefasst durch den Robinson-Patman Act von 1936. 9 15 U.S.C. § 14. 10 15 U.S.C. § 18. 11 15 U.S.C. § 45. 12 15 U.S.C. §§ 41–51; v. 26.09.1914, c. 311, 38 Stat. 717. 13 Waller, 78 Chi.-Kent L. Rev., S. 207 (207) [2003]. 14 Vgl. Jones, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 409 (409) [2004]; Hempel, S. 173. 15 C. Jones, S. 7; I. Schmidt, S. 253. 16 Vgl. Timmins, 84 Mich. L. Rev., S. 1579 (1579) [1986]. 17 Areeda/Kaplow, S. 43; vgl. auch Areeda/Hovenkamp, ¶ 301a. 18 Vgl. Hempel, S. 173. 6
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
setze angelehnt und haben deshalb im Verhältnis zu diesen nur eine geringe Bedeutung.19 Die Durchsetzung des Antitrust-Rechts erfolgt durch vier verschiedene Akteure: Für die behördliche Durchsetzung sind auf Bundesebene zunächst einmal das Justizministerium sowie die Federal Trade Commission zuständig. Auch die Justizminister der Bundesstaaten wachen nicht nur über die Einhaltung des einzelstaatlichen Kartellrechts, sondern verfolgen ebenfalls Verstöße gegen Bundesrecht. Im Unterschied zum europäischen oder deutschen Kartellrecht kommt in den USA schließlich auch Privatpersonen eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung des Kartellrechts zu.
II. Behördliche Durchsetzung 1. U.S. Department of Justice Das Justizministerium der Vereinigten Staaten (Department of Justice) wird durch die für das Kartellrecht zuständige Antitrust Division unter Leitung des Assistant Attorney General tätig.20 Die Zuständigkeiten des Justizministeriums überschneiden sich teilweise mit jenen der Federal Trade Commission.21 Das Justizministerium ist jedoch als einzige Behörde für die Einhaltung der strafbewehrten Verbotsnormen zuständig. Dies sind sämtliche Verbote des Sherman Act,22 Sec. 3 Robinson-Patman Act23 sowie Sec. 1424 Clayton Act.25 Der FTC Act hingegen wird ausschließlich durch die Federal Trade Commission durchgesetzt.26 Eine Doppelzuständigkeit der beiden Behörden besteht hinsichtlich der Regelungen des Clayton Act (Sec. 2, 3, 7 und 8).27 Insbesondere im Rahmen der Fusionskontrolle ergehen die Anmeldungen an beide Behörden. Jede von ihnen hat sich auf gewisse Industriezweige spezialisiert, was maßgeblich 19 Vgl. Hempel, S. 173; Wahl, S. 141; eine große Bedeutung kommt dem einzelstaatlichen Kartellrecht jedoch im Zusammenhang mit Klagen mittelbarer Abnehmer zu, sofern dieses sog. „Illinois Brick repealer statutes“ vorsieht, vgl. dazu unten, S. 188 ff. 20 C. Jones, S. 15. 21 Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 15; Hawk/Veltrop, in: Slot/ McDonnell, S. 21 (21); Bauer, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 303 (306) [2004]. 22 Beachte jedoch die Möglichkeit der FTC zur mittelbaren Durchsetzung der Vorschriften des Sherman Act über die Generalklausel der Sec. 5 FTC Act. Siehe hierzu FTC v. Brown Shoe, 384 U.S. 316, 86 S.Ct. 1501 (1966). 23 15 U.S.C. § 13a. 24 15 U.S.C. § 24. 25 Sullivan/Hovenkamp, S. 65; Areeda/Hovenkamp, ¶ 303; Areeda/Kaplow, S. 54; Hylton, S. 47. 26 Ausnahmsweise wird Sec. 12 FTC Act durch das Department of Justice durchgesetzt, vgl. Sullivan/Hovenkamp, S. 65. 27 Sullivan/Hovenkamp, S. 65.
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Einfluss auf die Verfahrensverteilung nimmt.28 Dieses historisch bedingte Nebeneinander der Zuständigkeiten von Department of Justice und Federal Trade Commission ist oftmals als ineffizient kritisiert worden.29 Befürworter verteidigen jedoch das jetzige System der dualen Aufsicht mit dem Hinweis darauf, dass die Durchsetzung durch die Antitrust Division als Teil der Exekutive stärker den politischen Einflüssen seitens der Regierung ausgesetzt sei als die Arbeit der Federal Trade Commission, die rein administrativ unter der Aufsicht des Kongresses tätig wird.30 Die duale Aufsicht vermindere deshalb die politische Beeinflussbarkeit der Wettbewerbsaufsicht. Anders als die Federal Trade Commission bedient sich die Antitrust Division keines Verwaltungsverfahrens, sondern wird nur im Rahmen eines Zivil- oder Strafverfahrens tätig.31 Die Aufgabenwahrnehmung erfolgt ausschließlich in gerichtlichen Verfahren.32 Die strafrechtliche Verfolgung von Kartellverstößen bildet seit langem den Schwerpunkt der Arbeit.33 Im Jahre 2006 waren rund 75% der eingeleiteten Verfahren Strafverfahren.34 Die Strafverfolgung richtet sich vornehmlich gegen Hardcore-Verstöße wie Preis-, Gebiets- oder Submissionsabsprachen,35 bei denen die Feststellung der Rechtswidrigkeit des vorgeworfenen Verhaltens keine Schwierigkeiten bereitet. Bei weniger eindeutigen Verstößen ist es hingegen für die Behörde günstiger, nur ein Zivilverfahren anzustrengen, da hier ein geringerer Beweismaßstab gilt.36 Die Entscheidung über das anzuwendende Verfahren steht im Ermessen der Behörde; gleichwohl kann über eine Anklage im Strafverfahren letztlich nur eine Anklagejury („grand jury“) entscheiden.37 Die Strafandrohungen im US-Kartellrecht sind recht drastisch. Erst kürzlich wurden die Strafen durch den Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Re-
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Hawk/Veltrop, in: Slot/McDonnell, S. 21 (22). Vgl. Hawk/Veltrop, in: Slot/McDonnell, S. 21 (22). 30 Bauer, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 303 (320) [2004]. 31 Sullivan/Hovenkamp, S. 65. 32 C. Jones, S. 19. 33 Vgl. Areeda/Kaplow, S. 55. 34 Im Jahr 2006 wurden 34 Strafverfahren und 12 Zivilverfahren eingeleitet, vgl. Antitrust Division Workload Statistics, FY 1997–2006 unter http://www.usdoj.gov/atr/ public/workstats.htm (zuletzt: 20.08.2008). 35 Rund 30% der behördlichen Ressourcen werden für die strafrechtliche Verfolgung von Preiskartellen aufgewendet, Connor, in: Kwoka/White [Hrsg.], S. 252 (254). Siehe ferner Areeda/Kaplow, S. 55; Spratling, in: Slot/McDonnell, S. 76 (76); Koob/ Kazanoff, in: Global Counsel Competition Law Handbook 2004/05, S. 30; Bauer, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 303 (307) [2004]; Waller, 78 Chi.-Kent L. Rev., S. 207 (210) [2003]; Hempel, WuW 2005, S. 137 (138). 36 Vgl. Areeda/Kaplow, S. 55; Waller, 78 Chi.-Kent L. Rev., S. 207 (216) [2003]. 37 Hempel, S. 180. 29
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form Act 200438 erhöht. Bei Verstößen gegen den Sherman Act drohen natürlichen Personen Geldstrafen von bis zu 1 Mio. US-Dollar und Freiheitsstrafen von bis zu 10 Jahren.39 Die verhängten Haftstrafen betragen im Durchschnitt 21 Monate.40 Vor Haftstrafen bleiben auch Manager von ausländischen Unternehmen nicht verschont. Selbst wenn Auslieferungen an die USA eher eine Seltenheit sein dürften, kommt der Strafverfolgung eine sehr hohe Abschreckungswirkung zu.41 Unternehmen drohen Geldbußen von bis zu 100 Mio. US-Dollar. Alternativ hierzu kann die Geldbuße nach dem Criminal Fines Improvements Act von 198742 auch den zweifachen Verletzergewinn bzw. erlittenen Schaden betragen.43 Dieser wird üblicherweise mit 20% des Umsatzes des Unternehmens auf dem betroffenen Markt veranschlagt.44 Die genaue Bemessung des Strafmaßes orientiert sich an den „U.S. Sentencing Guidelines“ der United States Sentencing Commission.45 Ein Strafurteil hat auch zivilrechtliche Folgen. Gemäß Sec. 5 (a) Clayton Act46 entfaltet ein Urteil eine prima facie-Beweiswirkung in nachfolgenden Schadensersatzklagen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, diese Wirkung durch einen so genannten „nolo contendere plea“ zu vermeiden,47 bei welchem der Angeklagte unter Zustimmung des Gerichts auf eine Verteidigung verzichtet.48 Hinsichtlich Verstößen gegen den Clayton Act besteht nur die Möglichkeit eines Zivilverfahrens. Der Behörde stehen hierbei zwei Wege zur Verfügung: Zum einen kann sie gemäß Sec. 4A Clayton Act49 eine Klage auf dreifachen Schadensersatz erheben, soweit die Vereinigten Staaten selbst aufgrund des Verstoßes einen Schaden erlitten haben. Zum anderen kann sie gemäß Sec. 4 Sher38
Pub. L. No. 108–237, 118 Stat. 665. Vgl. 15 U.S.C. § 1 u. 2; bei einem Verstoß gegen Sec. 3 Robinson-Patman Act drohen hingegen nur Geldstrafen bis zu 5.000 US-Dollar und Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr, vgl. 15 U.S.C. § 13a. 40 So im Jahr 2003, vgl. Magney/Anderson, W. Comp. 2004, S. 101 (102). Siehe auch Davidow, W. Comp. 2004, S. 407 (409), welcher von einem Durchschnitt von mindestens 18 Monaten spricht. 41 Magney/Anderson sprechen von einem nicht zu unterschätzenden „harassment value“, vgl. W. Comp. 2004, S. 101 (102). 42 Pub. L. No. 100–185. 43 18 U.S.C. § 3571 (e). Hierauf gestützte Geldbußen werden jedoch meist mit den Unternehmen ausgehandelt, da sie aus Sicht der Behörde den Nachteil haben, dass sich nicht eindeutig vorhersehen lasse, ob sie einer späteren gerichtlichen Überprüfung standhalten, vgl. Davidow, W. Comp. 2004, S. 407 (412). 44 Vgl. Spratling, in: Slot/McDonnell, S. 76 (78 ff.); Lande, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 329 (340) [2004]. 45 18 U.S.C. § 3553 (b); vgl. Spratling, in: Slot/McDonnell, S. 76 (78 ff.). 46 15 U.S.C. § 16. 47 Hempel, WuW 2005, S. 137 (138). 48 Vgl. Hempel, S. 180. 49 15 U.S.C. § 15a. 39
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man Act50 bzw. Sec. 15 Clayton Act51 ein sog. equity-Verfahren anstrengen, das auf die Erlangung einer gerichtlichen Verfügung gerichtet ist. Equity-Verfahren haben die Besonderheit, dass den Gerichten ein sehr weites Ermessen bei der Ausgestaltung der zu erlassenden Verfügung zukommt. So kommen neben reinen Untersagungsanordnungen auch die Anordnung einer Entflechtung oder Zerschlagung des Unternehmens in Betracht.52 Bereits vor Klageerhebung kann sich das Department of Justice eines besonderen Instruments zur Sachverhaltsaufklärung bedienen, das Privatklägern nicht zur Verfügung steht. Mit Hilfe eines sog. „civil investigative demand“ 53 kann es von den betroffenen Unternehmen und natürlichen Personen, aber auch von Dritten Informationen erlangen, indem sie diesen auferlegt, schriftlich Fragen zu beantworten, unter Eid auszusagen oder näher bezeichnete Dokumente vorzulegen.54 Sobald Klage vor Gericht erhoben wurde, steht der Behörde zur zusätzlichen Informationserlangung auch die allgemein im Zivilprozess übliche „pre-trial discovery“55 zur Verfügung.56 Rund 70% der Zivilverfahren des Department of Justice werden durch einen „consent decree“ beendet. Hierbei handelt es sich um eine Verfügung des Gerichts, durch die ein außergerichtlicher Vergleich der Parteien für verbindlich erklärt wird.57 Mit dieser Vereinbarung gesteht der Beklagte weder einen Kartellrechtsverstoß ein, noch bestreitet er ihn. Gleichwohl verpflichtet er sich, die ausgehandelte Vereinbarung zu befolgen.58 Besonderer Vorteil einer solchen Verfahrensweise ist zum einen, dass hierdurch Verfahrenskosten gespart werden; für den Beklagten jedoch wesentlich entscheidender ist, dass – ähnlich einem „nolo contendere plea“ im Strafverfahren – die gerichtliche Verfügung nicht die prima facie-Beweiswirkung gemäß Sec. 5 (a) Clayton Act in späteren Schadensersatzklagen Dritter entfaltet.59 2. Die Federal Trade Commission Im Jahre 1914 wurde die behördliche Aufsicht um die Federal Trade Commission (FTC) ergänzt. Hierbei handelt es sich um eine unabhängige Bundesbe50
15 U.S.C. § 4. 15 U.S.C. § 25. 52 Vgl. Hovenkamp, S. 587; Areeda/Hovenkamp, ¶ 325a; Hempel, S. 181; Wahl, S. 152. 53 15 U.S.C. § 1312. 54 Vgl. 15 U.S.C. § 1312 (a); Sullivan/Hovenkamp, S. 66; Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 152. 55 Vgl. Rule 26 ff. Fed. R. Civ. P. 56 Sullivan/Hovenkamp, S. 66. 57 Areeda/Kaplow, S. 63; Areeda/Hovenkamp, ¶ 327; Hempel, WuW 2005, S. 137 (138). 58 Hempel, S. 182. 59 Areeda/Kaplow, S. 63; näher hierzu siehe: Kauper, in: Slot/McDonnell, S. 104 ff. 51
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hörde unter Aufsicht des Kongresses,60 an deren Spitze fünf Kommissare stehen.61 Diese werden für eine Amtszeit von sieben Jahren vom Präsidenten ernannt und vom Senat bestätigt.62 Die FTC wird von Amts wegen, auf Anzeige Privater oder auf Antrag anderer Behörden, des Kongresses oder des Präsidenten tätig. Die Aufgabe der FTC liegt weniger in der Überwachung des Wettbewerbs, als vielmehr in der Gewährleistung, dass die Verbraucherinteressen im Wettbewerb gewahrt bleiben.63 In den Zuständigkeitsbereich der FTC fällt die Durchsetzung der Vorschriften des FTC Act und des Clayton Act.64 Innerhalb der Behörde erfolgt die kartellrechtliche Aufsicht über das Bureau of Competition.65 Zentrale Norm des FTC Act ist die Generalklausel der Sec. 5 (a),66 die „unlautere Methoden des Wettbewerbs“ („any unfair method of competition“) untersagt. Von den Gerichten wird diese Vorschrift sehr weit ausgelegt. Sie umfasst u. a. sämtliche Verbote des Antitrust-Rechts, so dass die FTC hierüber mittelbar auch die Einhaltung der Vorschriften des Sherman Act durchsetzen kann.67 Darüber hinaus werden von der Norm auch solche Verhaltensweisen erfasst, die zwar nicht unter die Antitrust-Gesetze fallen, jedoch wirtschaftlich gesehen wettbewerbsbeschränkende Wirkung entfalten.68 In der Regel wird das Bureau of Competition der FTC in einem justizförmigen Verwaltungsverfahren tätig. Bei Verdacht einer wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweise leitet es durch den Erlass von Beschwerdepunkten („complaint“) das Kartellverfahren ein.69 Sowohl das betroffene Unternehmen als auch die Behörde selbst werden daraufhin Parteien eines vor einem behördeninternen „Administrative Law Judge“ stattfindenden Verfahrens. Dieser kann am Ende gemäß Sec. 5 (b) FTC Act70 einen vorläufigen „cease and desist order“ erlassen, der zusätzlich der Bestätigung durch die Kommission bedarf.71 Diese Verfügung kann neben einer reinen Unterlassung auch weitergehende Anord60
Hempel, S. 182. Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 9. 62 Areeda/Kaplow, S. 69. 63 Wahl, S. 142. 64 C. Jones, S. 14; Sullivan/Hovenkamp, S. 65; Areeda/Hovenkamp, ¶ 302b; Wahl, S. 141. 65 Hylton, S. 48; Sullivan/Hovenkamp, S. 69. 66 15 U.S.C. § 45 (a). 67 Vgl. FTC v. Brown Shoe, 384 U.S. 316 (1966); siehe auch: Areeda/Kaplow, S. 69; Areeda/Hovenkamp, ¶ 302b u. ¶ 302h; Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 119. 68 Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 119. 69 Hylton, S. 48; Sullivan/Hovenkamp, S. 69. 70 15 U.S.C. § 45 (b); bei Verstößen gegen Vorschriften des Clayton Act erfolgt ein ähnliches Verfahren gemäß Sec. 11 Clayton Act (15 U.S.C. § 21). 71 Hovenkamp, S. 589; Areeda/Kaplow, S. 68. 61
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nungen wie etwa Entflechtungen oder Kontrahierungszwänge zum Gegenstand haben.72 Das Verwaltungsverfahren kann vorzeitig durch einen sog. „consent order“ beendet werden, wenn sich der Betroffene (wie bei einem „consent decree“) verpflichtet, einer ausgehandelten Vereinbarung Folge zu leisten, ohne aber einen Verstoß anzuerkennen.73 Die prima facie-Beweiswirkung des Sec. 5 (a) Clayton Act findet in diesem Fall keine Anwendung. Alternativ zum Verwaltungsverfahren kann die FTC auch ein Zivilverfahren anstrengen, das auf den Erlass einer gerichtlichen Verfügung gemäß Sec. 13 (b) FTC Act74 gerichtet ist.75 Hierdurch kann die FTC weitergehende Rechtsfolgen erzielen. Neuerdings nutzt sie diese Möglichkeit etwa zur Abschöpfung des kartellrechtswidrig erlangten Mehrerlöses („disgorgement“).76 3. State Attorneys General Als weitere Behörden sind auch die Justizminister der Einzelstaaten (Attorneys General) zur Durchsetzung des Bundesrechts berufen. Diese ergänzen die Tätigkeit der Bundesbehörden. Eine besonders wichtige Rolle in der Durchsetzung des Kartellrechts spielten diese insbesondere während der Reagan-Ära, die durch eine verminderte kartellrechtliche Verfolgungspolitik der Bundesbehörden gekennzeichnet war.77 Die Attorneys General können somit politisch bedingte Durchsetzungsdefizite der Bundesbehörden durch eine aktivere Verfolgungspolitik kompensieren. Die Durchsetzung der Antitrust-Bundesgesetze durch die Attorneys General kann in zwei Varianten erfolgen: Zum einen können diese im Namen des jeweiligen Einzelstaates vor Bundesgerichten Klage auf dreifachen Schadensersatz gemäß Sec. 4 Clayton Act bzw. auf Erlass einer gerichtlichen Verfügung gemäß Sec. 16 Clayton Act erheben, soweit der Staat selbst durch die Zuwiderhandlung betroffen ist.78 Hierbei handelt es sich um ein reguläres Zivilverfahren, in welchem dem Staat dieselbe Stellung zukommt wie jedem anderen privaten Kläger. Zum anderen aber können die Attorneys General auch gemäß Sec. 4C – Areeda/Hovenkamp, ¶ 302e; Hempel, S. 182. Areeda/Hovenkamp, ¶ 302d. 74 15 U.S.C. § 53 (b). 75 Wood, 29 Fordham Corp. L. Inst., S. 399 (401) [2002]; Calkins, 39 Ariz. L. Rev., S. 413 (432) [1997]; Areeda/Hovenkamp, ¶ 302e. 76 Vgl. FTC v. Mylan Lab., Inc., et al., 62 F. Supp. 2d 25, 37 (1999); siehe hierzu: Pitofsky, 91 Geo. L. J., S. 169 (173 ff.) [2002]; Waller, 78 Chi.-Kent L. Rev., S. 207 (218) [2003]. Eine solche Abschöpfung hat keine Auswirkung auf Schadensersatzansprüche Dritter, vgl. in re Lorazepam & Clorazepate Antitrust Litigation, 202 F.R.D. 12, 20 (D.D.C. 2001). 77 C. Jones, S. 16; Hawk/Veltrop, in: Slot/McDonnell, S. 21 (23). 78 Vgl. California v. American Stores Co. et al., 495 U.S. 271, 110 S.Ct. 1853 (1990); C. Jones, S. 16; Hovenkamp, S. 590. 72 73
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4H Clayton Act79 Klagen im Namen der Einwohner des Bundesstaates erheben, die durch mögliche Kartellrechtsverstöße geschädigt wurden (sog. parens patriae-Klagen).80 Diese Klageform wurde 1976 durch den Hart-Scott-Rodino Antitrust Improvements Act81 eingeführt, da die Justizminister als besonders geeignete Vertreter der Öffentlichkeit angesehen wurden.82 Im Rahmen dieser Klageform können sowohl Ansprüche auf dreifachen Schadensersatz wie auch Ansprüche auf Erlass einer gerichtlichen Verfügung geltend gemacht werden.83 Die Attorneys General können jedoch nur im Namen von Verbrauchern und auch nur bei Verstößen gegen die Regelungen des Sherman Act tätig werden.84 Unternehmen hingegen müssen ihre Ansprüche eigenständig durchsetzen.85 Wie bei einer Sammelklage soll durch parens patriae-Verfahren insbesondere die Kompensation solcher Geschädigter ermöglicht werden, für die eine Klageerhebung angesichts eines geringen Schadens wirtschaftlich sinnlos wäre.86 Auch diese Klageform stellt dem Grunde nach eine reguläre Privatklage dar. Jedoch wird der Schadensnachweis dadurch erleichtert, dass der Schaden nicht für jeden Geschädigten individuell, sondern nur für die Gruppe insgesamt dargelegt werden muss.87 Ferner wird die Schadensersatzsumme zunächst direkt an den Staat geleistet, bevor sie dann in einem Verteilungsverfahren an die einzelnen Geschädigten weitergereicht wird.88 Gelangt das Verfahren zu einem rechtskräftigen Urteil, so erwächst das Urteil für und gegen alle Geschädigten in Rechtskraft.89 Jeder Verbraucher hat jedoch das Recht, seinen Ersatzanspruch aus dem parens patriae-Verfahren herauszulösen („opt out“).90 Trotz der hohen Bedeutung der parens patriae-Verfahren in der Praxis, ist der Nutzen für die einzelnen Geschädigten vergleichsweise gering. Die individuelle Ersatzleistung wird durch die hohen Verwaltungskosten geschmälert und mitunter sprechen die Gerichte die Ersatzleistung auch wohltätigen Einrichtungen zu.91
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15 U.S.C. § 15 c–h. C. Jones, S. 16; Hovenkamp, S. 590. Vgl. hierzu auch Grossmann, AG 1977, S. 177 ff. Die parens patriae-Klagen basieren auf einer frühen Verfahrensart englischen Rechts, nach der die Krone die Möglichkeit hatte, für rechtlich nicht handlungsfähige Untertanen zu handeln, vgl. Calkins, 39 Ariz. L. Rev., S. 413 (433) [1997]. 81 Pub. L. No. 94–435. 82 Vgl. Calkins, 39 Ariz. L. Rev., S. 413 (434 f.) [1997]. 83 Hempel, S. 183. 84 Vgl. Sec. 4 C (a) Clayton Act, 15 U.S.C. § 15 (c). 85 Linder, S. 148. 86 Sullivan/Hovenkamp, S. 145; Hempel, S. 183. 87 Sec. 4 D Clayton Act, 15 U.S.C. § 15 (d). 88 Sec. 4 E Clayton Act, 15 U.S.C. § 15 (e). 89 Sec. 4 C (b) (3) Clayton Act, 15 U.S.C. § 15 (c). 90 Sec. 4 C (b) (2) Clayton Act, 15 U.S.C. § 15 (c). 91 Calkins, 39 Ariz. L. Rev., S. 413 (436 f.) [1997]; Lang, W. Comp. 2001, S. 285 (300). 80
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III. Private Durchsetzung des Antitrust-Rechts 1. Entwicklung und Bedeutung der privaten Durchsetzung Bereits bei Inkrafttreten des Sherman Act entsprach es der Konzeption des Antitrust-Rechts, dass die Durchsetzung der Vorschriften nicht allein den Behörden zufallen sollte.92 Von Beginn an wurden Privatpersonen Rechtsbehelfe gewährt, um eigenständig gegen Wettbewerbsverstöße vorgehen zu können. Private sollten ihre Rechte vor den Zivilgerichten durchsetzen und so die Behörden in ihrer Arbeit unterstützen. Ein Blick auf die Zahlen der jährlichen Gerichtsverfahren zeigt hingegen, dass die private Durchsetzung nicht bloß unterstützenden Charakter hat. Heutzutage sind über 90% aller Gerichtsverfahren mit kartellrechtlichem Schwerpunkt von Privatpersonen initiiert.93 Die Privatklage hat sich somit zum wichtigsten Instrument zur Durchsetzung des US-Kartellrechts entwickelt.94 In den USA wird der Privatkläger dementsprechend als „private attorney general“ betrachtet,95 weil er mit der Geltendmachung seiner Ansprüche nicht nur die Kompensation seiner Schäden betreibt, sondern auch öffentliche Interessen verfolgt.96 Hierdurch werden Ressourcen der Regierungsbehörden gespart und oftmals verfügt der Privatkläger als Abnehmer oder Konkurrent des betroffenen Unternehmens über eine bessere Kenntnis vom Markt und der in Frage stehenden Verhaltensweise.97 Aufgrund der hervorgehobenen Bedeutung der Privatklage im Antitrust-Recht haben die Kartellbehörden in den USA bei weitem nicht den Einfluss auf die Wettbewerbspolitik wie beispielsweise die Europäische Kommission in der EU.98 Hierin ist auch eine Schutzfunktion zu sehen, die die private Durchsetzung erfüllt: Die 1980er Jahre während der Präsidentschaft Reagan haben gezeigt, dass Unternehmen durch massive Lobbyarbeit die behördliche Durchsetzung erheblich einschränken können. Das Instrument der Privatklage kann die Geltungskraft der Wettbewerbsordnung vor solchen politischen Beeinflussungen schützen.99 Die große praktische Bedeutung kam der Privatklage nicht von Anfang an zu, sondern ist vielmehr das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung. Während der ersten fünfzig Jahre nach Inkrafttreten des Sherman Act war die An92
Bauer, 62 U. Pitt. L. Rev., S. 437 (437) [2001]. Salop/White, 74 Geo. L. J., S. 1001 (1003) [1986]; C. Jones, S. 16; Hylton, S. 58; Hovenkamp, S. 593; Hawk/Veltrop, in: Slot/McDonnell, S. 21 (27). 94 Hovenkamp, S. 593; Cavanagh, 61 Tul. L. Rev., S. 777 (783) [1987]; Rodino, in: White, S. 419 (423). Vgl. auch R. Buxbaum, S. 25. 95 Vgl. C. Jones, S. 80; Bauer, 62 U. Pitt. L. Rev., S. 437 (438) [2001]; Buxbaum, 26 Yale J. Int’l L., S. 219 (219) [2001]. 96 Vgl. Buxbaum, 26 Yale J. Int’l L., S. 219 (219) [2001]. 97 C. Jones, S. 80. 98 C. Jones, S. 19. 99 C. Jones, S. 80. 93
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zahl der Privatklagen vergleichsweise gering. Für den gesamten Zeitraum geht man von nur etwa 175 bis 400 Verfahren aus, von denen lediglich 13 aus Klägersicht erfolgreich endeten.100 Der Grund hierfür war insbesondere in der von den Gerichten extensiv angewendeten „rule of reason“101 zu sehen.102 Für Kläger erwies es sich oftmals als unüberwindbare Hürde, neben einer Wettbewerbsbeschränkung als solcher zusätzlich die „Unverhältnismäßigkeit“ der Verhaltensweise nachweisen zu müssen. Dieses Hemmnis wurde jedoch in den 1940er Jahren mit der Ausweitung der Lehre von der per se-Rechtswidrigkeit teilweise entschärft.103 Ebenso trugen hierzu auch die Leitentscheidungen Eastman Kodak, Story Parchment und Bigelow104 bei, in denen der Supreme Court die Anforderungen an den Schadensnachweis lockerte.105 Spätestens seit den 1960er Jahren kam es dann zu einem rasanten Anstieg der Privatklagen im Bereich des Kartellrechts.106 Unter anderem kann dieser Anstieg auch auf die Rechtsprechung des Supreme Court zur Problematik der Schadensabwälzung zurückgeführt werden.107 Ihren Höhepunkt erreichten die Privatklagen 1977 mit 1.611 Verfahren.108 Mit einem Anteil von rund 95% an allen kartellrechtlichen Gerichtverfahren stellte die private Durchsetzung die behördliche Verfolgung weit in den Schatten. Seitdem sind die Privatklagen in absoluten Zahlen – nicht aber prozentual – gesunken und liegen derzeit bei etwa 600 bis 1.000 Klagen jährlich. Im Jahr 2006 waren 967 von 986 vor Bundesgerichten eingeleiteten Kartellzivilverfahren von Privatleuten initiiert.109 Dies entspricht einem Anteil von rund 98%.
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Vgl. C. Jones, S. 79; ders., 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 409 (411) [2004]. Hiernach erfüllt eine Wettbewerbsbeschränkung erst dann den Verbotstatbestand, wenn die fragliche Handlung den Wettbewerb „unverhältnismäßig“ („unreasonable“) einschränkt. Bei der Anwendung der „rule of reason“ soll der Blick darauf gerichtet werden, ob die angegriffene Beschränkung ausschließlich wettbewerbsbeschränkende oder auch wettbewerbsfördernde Auswirkungen auf die marktweiten Wettbewerbsbedingungen hat, vgl. Board of Trade of City of Chicago v. United States, 246 U.S. 231, 238, 238 S.Ct. 242, 244 (1918); Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 66 ff. 102 Jacobson/Greer, 66 Antitrust L. J., S. 273 (275) [1998]. 103 Jacobson/Greer, 66 Antitrust L. J., S. 273 (275) [1998]. 104 Eastman Kodak Co. of New York v. Southern Photo Materials Co., 273 U.S. 359, 47 S.Ct. 400 (1927); Story Parchment Co. v. Paterson Parchment Paper Co. et al., 282 U.S. 555, 51 S.Ct. 248 (1931); Bigelow v. RKO Radio Pictures, 327 U.S. 251, 66 S.Ct. 574 (1946). 105 Vgl. Buxbaum, in: Basedow, S. 41 (44); C. Jones, S. 200. Näher hierzu siehe unten, S. 445 ff. 106 Vgl. Hovenkamp, S. 593; Calkins, in: White, S. 185 (186); Jacobson/Greer, 66 Antitrust L. J., S. 273 (276) [1998]; Waller, 78 Chi.-Kent L. Rev., S. 207 (216) [2003]. 107 So legen etwa Landes/Posner dar, dass im Anschluss an die Entscheidung Hanover Shoe die Zahl der Zivilklagen um rund 27 Prozent gestiegen ist, vgl. 46 U. Chi. L. Rev., S. 602 (628 f.) [1979]. 108 Vgl. Salop/White, 74 Geo. L. J., S. 1001 (1003) [1986]. 101
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Empirische Erkenntnisse über die private Kartellrechtsdurchsetzung in den USA hat insbesondere die in den 1980er Jahren durchgeführte „Georgetown Study“110 hervorgebracht. Unter anderem zeigte sich, dass mit 36,5% die meisten Privatklagen von Wettbewerbern angestrengt werden. Danach folgen Vertragshändler (27,3%), gewerbliche Abnehmer (12,5%) und Endverbraucher mit lediglich 8,7%.111 Weiterhin wurde festgestellt, dass sich die Privatklagen am häufigsten gegen horizontale Preisabsprachen (15,7%), Lieferverweigerungen (12,0%) sowie Kopplungs- und Ausschließlichkeitsvereinbarungen (9,6%) richten.112 Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug damals rund 25 Monate113 und rund 70 bis 88% der Verfahren endeten im Vergleichswege.114 Bis heute ist sehr umstritten, welche Zwecke die private Durchsetzung (insbesondere der Schadensersatz) nach der Konzeption des Antitrust-Rechts verfolgt. Der Supreme Court hat mehrfach klargestellt, dass die private Kartellrechtsdurchsetzung grundsätzlich mehrere Ziele verfolgt und sowohl der Kompensation der geschädigten Opfer als auch der Abschreckung dient.115 Dies hat in der Literatur weitgehend Anerkennung gefunden.116 Als weitere Zwecke werden auch die Bestrafung des Schädigers und die Abschöpfung zu Unrecht erlangter Gewinne genannt.117 Uneinigkeit besteht hingegen, in welchem Rang109 Vgl. Administrative Office of the United States Courts, Judicial Business of the United States Courts 2006, Tabelle C-2, S. 163; abrufbar im Internet unter http:// www.uscourts.gov/judbus2006/appendices/c2.pdf (zuletzt: 20.08.2008). 110 Georgetown Study of Private Antitrust Litigation vom 8. und 9. November 1985 in Airlie House, Virginia, USA. Auf der Konferenz wurden die empirischen Daten ausgewertet, die in Kooperation mit dem Cambridge Research Center gesammelt wurden. In die Datensammlung gehen über 2.300 Gerichtsverfahren ein, die im Zeitraum 1973–1983 in den fünf District Courts New York City, Chicago, San Francisco, Atlanta und Kansas City anhängig waren. Die Vorträge und Diskussionsbeiträge wurden später von White veröffentlicht. Einige Beiträge wurden auch separat publiziert (vgl. etwa: Salop/White, 74 Geo. L. J., S. 1001 ff. [1986] und Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 ff. [1986]). 111 Vgl. Salop/White, 74 Geo. L. J., S. 1001 (1008) [1986]; dies., in: White, S. 3 (8). Hinsichtlich der Endverbraucher ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese meist indirekte Abnehmer und deshalb vor Bundesgerichten nicht klageberechtigt sind. Von der Georgetown Study nicht erfasst sind Klagen vor Gerichten der Einzelstaaten nach den sog. „Illinois Brick repealer statutes“, vgl. hierzu unten, S. 188 ff. 112 Vgl. Salop/White, 74 Geo. L. J., S. 1001 (1006) [1986]; dies., in: White, S. 3 (6). 113 Vgl. Salop/White, 74 Geo. L. J., S. 1001 (1009) [1986]. 114 C. Jones, S. 82; Salop/White, in: White, S. 3 (11); Hempel, S. 228. 115 Illinois Brick Co. et al. v. Illinois et al., 431 U.S. 720, 746, 97 S.Ct. 2061, 2075; Brunswick Corp. v. Pueblo Bowl-O-Mat, Inc., 429 U.S. 477, 485–486, 97 S.Ct. 690, 696. 116 Sullivan/Hovenkamp, S. 70; Buxbaum, in: Basedow, S. 41 (44); C. Jones, S. 20; Wahl, S. 153. Siehe ferner Bauer, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 303 (310) [2004]; Cavanagh, 61 Tul. L. Rev., S. 777 (788) [1987]. 117 Vgl. Cavanagh, 61 Tul. L. Rev., S. 777 (783) [1987]; Waller, 78 Chi.-Kent L. Rev., S. 207 (212) [2003].
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
verhältnis diese Ziele zueinander stehen. Insbesondere die Vertreter der sog. Chicago School sind der Ansicht, dass das vorherrschende Ziel des kartellrechtlichen Schadensersatzes in der Abschreckung zu sehen sei, weil das alleinige Ziel der Wettbewerbspolitik in der Maximierung der Konsumentenwohlfahrt im Sinne einer optimalen Allokation der volkswirtschaftlichen Ressourcen liege.118 Die Kompensation sei von untergeordneter Bedeutung, da sie gänzlich überflüssig werde, sobald die Abschreckungskomponente des Schadensersatzes erfolgreich funktioniere. Bei der Verabschiedung des Sherman Acts überwog jedoch nicht die ökonomische Funktion, sondern die gesellschaftspolitische Motivation der demokratischen Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Unkontrollierte Machtpositionen wurden als Gefährdung der verfassungsrechtlich garantierten individuellen Freiheitsrechte gesehen.119 Andere sehen hingegen in der Entstehungsgeschichte des Sherman Act Hinweise darauf, dass in erster Linie den Geschädigten von Wettbewerbsbeschränkungen eine Ausgleichsmöglichkeit gewährt werden sollte.120 Auch habe der Kongress insbesondere den monopolbedingten Wohlfahrtstransfer zu Lasten der Konsumenten verhindern wollen.121 Hieran zeige sich, dass auch das Interesse der Verbraucher an niedrigen Preisen Berücksichtigung gefunden hat und nicht lediglich Gesichtspunkte volkswirtschaftlicher Effizienz im Vordergrund gestanden haben. 2. Die Rechtsbehelfe zur privaten Durchsetzung Einem privaten Kläger stehen mehrere Wege offen, Verletzungen des Antitrust-Rechts geltend zu machen. Der zentrale Rechtsbehelf ist dabei die Klage auf dreifachen Schadensersatz gemäß Sec. 4 Clayton Act122 [vgl. unter a)]. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, eine gerichtliche Verfügung gemäß Sec. 16 Clayton Act123 zu erwirken [vgl. unter b)]. Schließlich kann der Betroffene vertraglichen Ansprüchen den Einwand der Nichtigkeit entgegenhalten. Letzterer hat in der Praxis keine große Bedeutung erlangen können.124 Eine Art. 81 Abs. 2 EG vergleichbare explizite Nichtigkeitsanordnung sieht das AntitrustRecht nicht vor, da nach dem Willen des Kongresses die Handhabung des Nichtigkeitseinwandes der Rechtsprechung überlassen bleiben sollte.125 Nach Com118 Page, 37 Stan. L. Rev., S. 1445 (1451) [1985]; Benston, 55 Antitrust L. J., S. 213 (216 ff.) [1986]. Zum Konzept der Chicago School vgl. etwa I. Schmidt, S. 19 ff. 119 I. Schmidt, S. 253; Thorelli, S. 180, 225 ff., 227. 120 So Justice Brennan in seinem Minderheitsvotum in Illinois Brick Co. et al. v. Illinois et al., 431 U.S. 720, 754, 97 S.Ct. 2061, 2079. 121 Lande, 54 Ohio St. L. J., S. 115 (123) [1993]. 122 15 U.S.C. § 15. 123 15 U.S.C. § 26. 124 Mailänder, S. 25; Hempel, S. 185. 125 Vgl. Mailänder, S. 25 m. w. N.
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mon Law sind jedoch Verträge mit rechtswidrigem Inhalt gerichtlich nicht durchsetzbar.126 Die Wirksamkeit von Folgeverträgen ist allerdings weitaus schwieriger zu beurteilen und kann nur unter Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls bestimmt werden.127 a) Klage auf dreifachen Schadensersatz gemäß Sec. 4 Clayton Act Die Klage auf dreifachen Schadensersatz wird wegen ihrer herausragenden Bedeutung als „Bollwerk“ im Vollzugssystem des US-Kartellrechts umschrieben.128 Diese Bewertung lässt sich leicht anhand von zwei spektakulären Kartellverfahren der jüngsten Zeit veranschaulichen. Nach Aufdeckung des weltweiten Vitaminkartells der 1990er Jahre mussten die Kartellmitglieder allein in den USA Schadensersatz i. H. v. über einer Milliarde US-Dollar leisten.129 Ebenso erstritten Geschädigte im Anschluss an das Microsoft-Verfahren vom Softwaregiganten über 1,5 Milliarden US-Dollar Schadensersatz wegen eines Missbrauchs der Marktstellung.130 Sec. 4 Clayton Act sieht hierzu folgende Regelung vor: „[A]ny person [. . .] injured in his business or property by reason of anything forbidden in the antitrust laws may sue [. . .] and shall recover three-fold the damages by him sustained and the cost of suit, including a reasonable attorney’s fee“.131 Hinsichtlich der Anforderungen für einen Anspruch auf Schadensersatz ist zwischen den gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen und den richterrechtlich begründeten Voraussetzungen zu differenzieren. Die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale (1) Vorliegen eines Kartellverstoßes, (2) Beeinträchtigung von „Unternehmen oder Eigentum“, (3) Kausalität (4) und der „jedermann“-Begriff als Merkmal der Anspruchsberechtigung sind äußerst weit gefasst und gelten verschuldensunabhängig. In der Praxis wird in aller Regel nur der Nachweis des Kartellverstoßes einen gewissen Aufwand bereiten. Der weite Wortlaut und die rasante Zunahme von Privatklagen nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben jedoch die Rechtsprechung dazu veranlasst, zusätzliche, ungeschriebene Tatbestandsmerkmale zu entwickeln, die insbesondere dazu dienen, den Kreis der Anspruchsberechtigten und die ersatzfähigen Schäden näher zu konkretisieren. Die hiermit verbundenen Einschränkungen werden allgemein mit den Schlagworten „antitrust injury“, „standing to sue“ und „indirect purchaser rule“ um-
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McMullen v. Hoffman, 174 U.S. 639, 654, 19 S.Ct. 839, 845 (1899). Näher hierzu Hempel, S. 185 f. sowie Mailänder, S. 25 ff. Cavanagh, 61 Tul. L. Rev., S. 777 (783) [1987]. Jones, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 409 (412) [2004]. Jones, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 409 (412) [2004]. 15 U.S.C. § 15.
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
schrieben. Ihre Anwendung bereitet in der Praxis z. T. erhebliche Schwierigkeiten [hierzu Näheres unter bb)]. aa) Gesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen (1) Vorliegen eines Kartellverstoßes Ein Anspruch gemäß Sec. 4 Clayton Act setzt zunächst voraus, dass der Beklagte mit einer bestimmten Verhaltensweise gegen das Antitrust-Recht verstoßen hat. Dazu muss die verletzte Regelung eine „Kartellnorm“ i. S. d. Sec. 1 (a) Clayton Act132 darstellen. Privatkläger können somit Verletzungen der Sec. 1 bis 3 Sherman Act sowie der Sec. 2, 3, 7 und 8 Clayton Act geltend machen und damit gegen nahezu jede Form von Wettbewerbsbeschränkung vorgehen.133 Hierunter fallen zunächst einmal horizontale und vertikale Vereinbarungen sowie die vollendete oder versuchte Monopolisierung. Ebenso kommen aber auch Preisdiskriminierungen, Ausschließlichkeits- und Kopplungsverträge und – im Unterschied zum deutschen Kartelldeliktsrecht – sogar unzulässige Zusammenschlüsse in Betracht. Nur auf einen Verstoß gegen den FTC Act (insbes. auf die Generalklausel der Sec. 5) kann eine Schadensersatzklage nicht gestützt werden.134 Diese Vorschriften unterliegen ausschließlich der behördlichen Aufsicht. (2) Verletzung von Unternehmen oder Eigentum des Anspruchstellers Weiterhin muss der Anspruchsteller geltend machen, dass er in seinem Unternehmen oder Eigentum („business or property“) verletzt und hierdurch geschädigt worden ist. Hieraus ergeben sich in der Praxis keine wesentlichen Einschränkungen: Beide Begriffe sind nach der Rechtsprechung nämlich sehr weit auszulegen. So umfasst der Unternehmensbegriff jedes gewerbliche Interesse bzw. jeden Geschäftsbetrieb einschließlich eines Berufes.135 Nicht ausreichend hingegen ist es, wenn ein Bundesstaat allgemeine Nachteile zulasten der Wirtschaft in seinem Gebiet als Verletzung geltend macht.136 Auch der Eigentums-
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15 U.S.C. § 12. Vgl. Sullivan/Hovenkamp, S. 71. 134 Vgl. Areeda/Kaplow, S. 68; vgl. auch Holloway et al. v. Bristol-Meyers Corp., 485 F.2d 986, 997 (D.C. Cir. 1973). Ferner kommt ein Verstoß gegen Sec. 3 RobinsonPatman Act (15 U.S.C. § 13a) für eine Schadensersatzklage nicht in Betracht. 135 C. Jones, S. 157; Areeda/Hovenkamp, ¶ 336; P. Jones, S. 326; vgl. hierzu: Hawaii v. Standard Oil Co. of California et al., 405 U.S. 251, 264, 92 S.Ct. 885, 892 (1972) sowie Hennessey v. National Collegiate Athletic Ass’n, 564 F.2d 1136, 1148 (5th Cir. 1977). 136 Hawaii v. Standard Oil Co. of California et al., 405 U.S. 251, 265, 92 S.Ct. 885, 892 (1972). 133
III. Private Durchsetzung des Antitrust-Rechts
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begriff hat eine sehr extensive Auslegung in der Spruchpraxis erfahren. Im Ausgangspunkt sind hierzu die Grundsätze des Common Law heranzuziehen, wonach als Eigentum jede Position zu verstehen ist, an der ein rechtlich anerkanntes Inhaberinteresse vorgewiesen werden kann.137 In der Entscheidung Reiter v. Sonotone Corp. stellte der Supreme Court zudem klar, dass auch Verbraucher, die etwa infolge einer Preisabsprache zu überhöhten Preisen Güter erwerben, eigentumsrelevant betroffen sind.138 Allein in Kartellsachverhalten schwer vorstellbare Personenschäden werden somit vom Eigentumsbegriff ausgeschlossen.139 Diese weite Rechtsprechung hat dazu geführt, dass das Tatbestandsmerkmal „business or property“ nahezu immer erfüllt ist.140 (3) Kausalität Der Kartellverstoß muss weiterhin ursächlich für den eingetretenen Schaden gewesen sein.141 Zunächst einmal setzt dies eine Kausalität im Sinne einer conditio sine qua non voraus. Soweit mehrere Umstände für den Schadenseintritt ursächlich waren, schließt dies die notwendige Kausalität nicht ohne weiteres aus.142 Auch ist nicht notwendig, dass die Verletzung der Antitrust-Gesetze im Verhältnis zu den weiteren Ursachen überwiegt.143 Nach der Zenith-Rechtsprechung des Supreme Court ist erforderlich, dass der Normverletzung eine „erhebliche Ursächlichkeit“ („material cause“) für den entstandenen Schaden zukommt.144 Hiervon sei bereits auszugehen, wenn die Handlung signifikant zum Schadenseintritt beigetragen habe, selbst wenn die übrigen Ursachen zusammengenommen schwerwiegender waren.145 Einige Gerichte haben später das
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C. Jones, S. 157. Reiter v. Sonotone Corp., 442 U.S. 330, 339, 99 S.Ct. 2326, 2331. 139 Reiter v. Sonotone Corp., 442 U.S. 330, 339, 99 S.Ct. 2326, 2331. 140 Areeda/Hovenkamp, ¶ 336. Zusätzlich zur individuellen Betroffenheit musste der Kläger früher eine Verletzung öffentlicher Interessen („public injury“) geltend machen (Areeda/Hovenkamp, ¶ 330c; Sullivan/Hovenkamp, S. 111). In zwei Entscheidungen aus den Jahren 1959 und 1961 hat der Supreme Court dieses Erfordernis mit der Begründung fallengelassen, dass Kartellverstöße stets auch öffentliche Interessen berührten, Klor’s, Inc., v. Broadway-Hale Stores et al., 359 U.S. 207, 211; 79 S.Ct. 705, 709 (1959); Radiant Burners, Inc., v. Peoples Gas Light & Coke Co. et al., 364 U.S. 656, 660; 81 S.Ct. 365, 367 (1961). 141 Perma Life Mufflers, Inc., et al. v. International Parts Corp. et al., 392 U.S. 134, 143, 88 S.Ct. 1981, 1987 (1968); Zenith Radio Corp. v. Hazeltine Research, Inc., et al., 395 U.S. 100, 114, 89 S.Ct. 1562, 1572 (1969). 142 Areeda/Hovenkamp, ¶ 338a. 143 Hovenkamp, S. 600. 144 Zenith Radio Corp. v. Hazeltine Research, Inc., et al., 395 U.S. 100, 114, 89 S.Ct. 1562, 1572 (1969). 145 Areeda/Hovenkamp, ¶ 338a; C. Jones, S. 155. 138
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
leicht strengere Kriterium der „wesentlichen Ursächlichkeit“ herangezogen.146 Die Grenzen zwischen diesen beiden Ansätzen sind jedoch fließend.147 (4) „any person“ i. S. d. Sec. 4 Clayton Act Der Wortlaut von Sec. 4 Clayton Act scheint für die Frage der subjektiven Reichweite der Schadensersatzhaftung den denkbar weitesten Ansatz zu Grunde zu legen. Hiernach kann potentiell jedermann („any person“) anspruchsberechtigt sein. Nennenswerte Einschränkungen ergeben sich über dieses gesetzliche Tatbestandsmerkmal nicht. Nach allgemeiner Auffassung sind hiervon natürlichen Personen ebenso erfasst wie juristische Personen, Personengesellschaften, und andere gesetzlich anerkannte Unternehmensformen.148 Ferner kommen sogar Gebietskörperschaften (Gemeinden, Bundesstaaten) und auch ausländische Staaten als mögliche Anspruchsinhaber in Betracht.149 Ausgenommen von Sec. 4 Clayton Act sind überraschenderweise nur die Vereinigten Staaten selbst.150 Soweit die USA Opfer einer Wettbewerbsbeschränkung werden, richten sich mögliche Ersatzansprüche deshalb nach Sec. 4A Clayton Act.151 bb) Richterrechtliche Einschränkung des Schadensersatzanspruchs Beließe man es bei dem weiten Verständnis des gesetzlichen „jedermann“Kriteriums hätte dies zur Folge, dass die zivilrechtliche Haftung für Kartellverstöße in ihrer Reichweite nahezu unbegrenzt wäre und i. E. jeder Ersatzansprüche gelten machen könnte, der aufgrund der Zuwiderhandlung einen kausalen Schaden erlitten hat. Noch in der Mandeville-Entscheidung aus dem Jahre 1948 schien der Gerichtshof genau diese Auffassung von der Reichweite der Sec. 4 Clayton Act zu vertreten. Der Gerichtshof betonte in der Entscheidung, der Sherman Act sei „comprehensive in its terms and coverage, protecting all who are made victims of the forbidden practices by whomever they may be perpetrated.“152 Mit dem Anstieg der Privatklagen in den folgenden Jahren mussten 146 Vgl. Motive Parts Warehouse v. Facet Enterprises, 774 F.2d 380, 389 (10th Cir. 1985); Port Terminal & Warehousing Co. v. John S. James Co. et al., 695 F.2d 1328, 1331 (11th Cir. 1983). 147 Hovenkamp, S. 601. 148 Vgl. 1 (a) Clayton Act, 15 U.S.C. § 12; C. Jones, S. 156 f.; Hovenkamp, S. 604. 149 P. Jones, S. 326; vgl. Georgia v. Pennsylvania Railroad Co. et al., 324 U.S. 439, 447, 65 S.Ct. 716, 721 (1945); Chattanooga Foundry & Pipe Works v. City of Atlanta, 203 U.S. 390, 396, 27 S.Ct. 65, 66 (1906). Hinsichtlich ausländischer Staaten ist allerdings die Begrenzung auf den einfachen Schadensersatz gemäß Sec. 4 (b) (1) Clayton Act, 15 U.S.C. § 15 (b), zu berücksichtigen. 150 Vgl. C. Jones, S. 157. 151 15 U.S.C. § 15 a. 152 Mandeville Island Farms, Inc. et al. v. American Crystal Sugar Co., 334 U.S. 219, 236, 68 S.Ct. 996, 1006 (1948).
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sich die amerikanischen Gerichte jedoch zunehmend mit der Frage auseinandersetzen, wie der Kreis der Anspruchsberechtigten sinnvoll einzugrenzen ist. Die Gerichte befürchteten, dass eine extensive Anwendung von Sec. 4 Clayton Act ruinöse Schadensersatzsummen bzw. ungerechtfertigte Mitnahmeeffekte zu Gunsten einzelner Marktteilnehmer zur Folge haben würde.153 Sie suchten deshalb einen Punkt in der Schadenskette, an dem in rechtspolitisch vertretbarer Weise die Haftung des Schädigers enden sollte.154 Auch der Supreme Court war nunmehr von der Notwendigkeit einer Haftungsbegrenzung überzeugt: „Congress did not intend the antitrust laws to provide a remedy in damages for all injuries that might conceivably be traced to an antitrust violation.“155 Um eine uferlose Haftung zu vermeiden, sah sich die Rechtsprechung daher zur näheren Konkretisierung des Schadensersatzanspruchs durch drei Kriterien veranlasst, die mittlerweile als richterrechtlich ergänzte Tatbestandvoraussetzungen bezeichnet werden können.156 In der Rechtspraxis werden heutzutage die meisten Einschränkungen der Sec. 4 Clayton Act unter Rückgriff auf die Kriterien „antitrust injury“, „standing to sue“ und die „indirect purchaser rule“ vorgenommen.157 Diese Merkmale erlauben eine grobe Skizzierung der nach dem Antitrust-Recht anspruchsberechtigten Personengruppen. (1) Antitrust Injury Die erste Einschränkung der Sec. 4 Clayton Act erfolgt über die „antitrust injury“-Doktrin, die der Supreme Court maßgeblich in der Brunswick-Entscheidung158 aus dem Jahr 1977 entwickelt hat. Die Doktrin befasst sich in der Sache weniger mit der Abgrenzung des anspruchsberechtigten Personenkreises, als vielmehr mit der Eingrenzung des ersatzfähigen Schadens unter Heranziehung von Schutzzweckerwägungen. Hiernach reicht eine bloße kausale Verbindung zwischen Kartellrechtsverstoß und Schaden nicht aus. Ein Ersatzanspruch besteht nur dann, wenn der Schaden unmittelbar durch das rechtswidrige Verhalten des Delinquenten verursacht wurde und das Antitrust-Recht gerade diesen Schaden zu verhindern sucht.159 In dem geltend gemachten Schaden müssen 153
C. Jones, S. 154. Linder, S. 70. 155 Hawaii v. Standard Oil Co. of California et al., 405 U.S. 251, 264, 92 S.Ct. 885, 892 (1972) (ohne Hervorhebung). 156 Hierzu knüpft die Rechtsprechung i. R. d. Sec. 4 Clayton Act an das gesetzliche Merkmal „by reason of“ an. 157 Vgl. Page, 37 Stan. L. Rev., S. 1445 (1446 f.) [1985]. 158 Brunswick Corp. v. Pueblo Bowl-O-Mat, Inc., et al., 429 U.S. 477, 97 S.Ct. 690 (1977). 159 „We therefore hold that for plaintiffs to recover treble damages [. . .], they must prove more than injury causally linked to an illegal presence in the market. Plaintiffs must prove antitrust injury, which is to say injury of the type the antitrust laws were 154
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sich folglich die wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen des gerügten Verhaltens widerspiegeln. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall sah ein Wettbewerber der Beklagten in einer Unternehmensübernahme eine Verletzung von Sec. 7 Clayton Act. Die Beklagte, die landesweit größte Betreiberin von Bowling-Bahnen, hatte ein Bowling-Center aufgekauft, dessen früherer Betreiber in finanzielle Schwierigkeiten geraten war und den Geschäftsbetrieb nicht länger aufrecht erhalten konnte. Die Klägerin machte geltend, dass der bestehende Wettbewerb durch diesen Zusammenschluss erheblich eingeschränkt wurde. Ohne den unzulässigen Zusammenschluss wäre das übernommene Unternehmen aus dem Markt ausgeschieden und die Klägerin hätte deshalb als verbleibende Betreiberin eines Bowling Centers höhere Gewinne erzielt. Der Supreme Court wies die Klage mit der Begründung zurück, dass Verletzungen der Wettbewerbsregeln auch Schäden hervorrufen können, deren Vermeidung gleichwohl nicht Anliegen des Antitrust-Rechts sei.160 Die Klägerin habe nämlich Schäden geltend gemacht, die aus gesteigertem und nicht verringertem Wettbewerb resultierten. Einbußen, die aus der Versagung der Vorteile erhöhter Marktkonzentration resultieren, seien nicht als „antitrust injury“ zu werten.161 In weiteren Entscheidungen stellte der Supreme Court klar, dass die „anitrust injury“-Doktrin nicht nur eine Frage der Zusammenschlusskontrolle darstellt, sondern ebenso bei sämtlichen anderen Verstößen gegen die Antitrust-Gesetze Anwendung findet.162 Die Heranziehung von Schutzzweckerwägungen hat dazu geführt, dass insbesondere Wettbewerber die Privatklage nicht mehr ohne weiteres dazu missbrauchen konnten, unliebsamen Wettbewerb durch die Konkurrenz zu torpedieren.163 Die „antitrust injury“-Doktrin bietet aber auch Anlass für viele heftig umkämpfte Streitfragen im Zivilprozess.164 Dies liegt insbesondere daran, dass die Doktrin im Prozessalltag nicht nur dazu angewandt wird, um eine Schutzintended to prevent and that flows from that which makes defendants’ acts unlawful. The injury should reflect the anticompetitive effect either of the violation or of anticompetitive acts made possible by the violation.“, Brunswick Corp. v. Pueblo Bowl-OMat, Inc., et al., 429 U.S. 477, 489, 97 S.Ct. 690, 698 (1977). 160 Brunswick Corp. v. Pueblo Bowl-O-Mat, Inc., et al., 429 U.S. 477, 487, 97 S.Ct. 690, 697 (1977). 161 Brunswick Corp. v. Pueblo Bowl-O-Mat, Inc., et al., 429 U.S. 477, 488, 97 S.Ct. 690, 697 (1977). 162 Vgl. J. Truett Payne Co., Inc. v. Chrysler Motors Corp., 451 U.S. 557, 101 S.Ct. 1923 (hinsichtlich Preisdiskriminierungen); Cargill, Inc., et al. v. Monfort of Colorado, Inc., 479 U.S. 104, 107 S.Ct. 484 (im Rahmen der Klage auf Erlass einer gerichtlichen Verfügung gemäß Sec. 16 Clayton Act). Vgl. hierzu P. Jones, S. 350 f.; Goetz, 49 Antitrust L. J., S. 125 (134) [1980]. 163 Jacobson/Greer, 66 Antitrust L. J., S. 273 (274) [1998]. 164 Jacobson/Greer, 66 Antitrust L. J., S. 273 (273) [1998].
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würdigkeit der geltend gemachten Schadensposition zu überprüfen. Viele Instanzgerichte nutzen die Doktrin darüber hinaus dazu, komplexe Schadensersatzklagen von vornherein abzuweisen bzw. leiten hieraus die vermeintliche Befugnis ab, mehr oder minder willkürlich über ein „berechtigtes“ Klägerinteresse entscheiden zu können.165 (2) Standing to Sue Eine weitere Haftungsbegrenzung wird durch die Rechtsprechung im Rahmen des sog. „standing to sue“ vorgenommen. Dieser Begriff wird im US-amerikanischen Recht in verschiedenen Kontexten verwendet. Insbesondere in verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Zusammenhängen ist hierunter grundsätzlich die Klagebefugnis zu verstehen.166 Im Kartellrecht hat der Begriff jedoch eine hiervon abweichende Bedeutung erlangt.167 Im Zusammenhang mit der Privatklage ist hierunter ein viel weitergehendes, richterrechtlich entwickeltes Konzept zu verstehen, das sich mit der Reichweite der Haftung bei Kartellrechtsverstößen befasst.168 Im Besonderen dient das Konzept der Eingrenzung des geschützten Personenkreises169 und umfasst eine Reihe von Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um Wettbewerbsschäden geltend machen zu können.170 Das „standing to sue“ ist somit nicht nur eine Klagevoraussetzung, sondern modifiziert unmittelbar den Tatbestand von Sec. 4 Clayton Act und kann deshalb nach deutschem Rechtsverständnis auch als materiellrechtliche Tatbestandsvoraussetzung betrachtet werden. Zweck des Konzeptes ist es, Betroffenen, deren Schäden in keiner engen Verbindung zu der Verletzung des Wettbewerbsrechts stehen, aus dem Anwendungsbereich der Sec. 4 Clayton Act herauszunehmen, um somit Unternehmen und Gerichte vor exzessiven Klagen zu schützen.171 So versagen die Gerichte die Klagebefugnis beispielsweise, wenn der Kläger nicht Teilnehmer desselben Marktes ist, die geltend gemachten Schäden zu spekulativ 165 Jacobson/Greer, 66 Antitrust L. J., S. 273 (274) [1998]; vgl. auch Floyd/Sullivan, S. 634, die sich gegen die Praxis einiger Instanzgerichte aussprechen, Klagen von Geschädigten, die weder Wettbewerber noch Abnehmer sind, kategorisch auszuschließen. 166 C. Jones, S. 159. Gemäß Artikel III der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ist klagebefugt, wer einen bestimmten Schaden oder ein ausreichendes Interesse am Verfahrensausgang vorweisen kann. 167 C. Jones, S. 159. 168 Page, 37 Stan. L. Rev., S. 1445 (1483) [1985]; gleichwohl schließt das „standing to sue“ i. S. d. Antitrust-Rechts die Klagebefugnis im verfassungsrechtlichen Sinne notwendigerweise mit ein, vgl. C. Jones, S. 160. 169 Vgl. Malamud et al. v. Sinclair Oil Corp. et al., 521 F.2d 1142, 1146 (6th Cir. 1975); Sullivan/Hovenkamp, S. 133; C. Jones, S. 165; P. Jones, S. 327; Blair/Harrison, 42 Vand. L. Rev., S. 1539 (1540) [1989]. 170 Wahl, S. 154. 171 Jacobson/Greer, 66 Antitrust L. J., S. 273 (285) [1998].
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erscheinen oder der Kläger nur mittelbar von dem Kartellrechtsverstoß betroffen ist.172 Die Haftungsbeschränkung über das „standing to sue“ unterscheidet sich somit konzeptionell vom „antitrust injury“. Während das eine den Kreis der anspruchsberechtigten Personen einschränkt, begrenzt das andere Kriterium die ersatzfähigen Schäden.173 Bis Anfang der 1980er Jahre haben sich ausschließlich die Berufungsgerichte mit der Ausformung der Klagebefugnis befasst und dabei unterschiedliche Ansätze, sog. „tests“, entwickelt. So begründete der Court of Appeals für den dritten Circuit etwa den „direct injury test“, nach dem die Klagebefugnis ausgeschlossen ist, wenn der Kläger lediglich einen mittelbaren Schaden erlitten hat.174 Sofern er seine Einbußen vom Schaden anderer Opfer ableitet, wie etwa Aktionäre, Lieferanten, Franchisegeber, Vermieter oder Lizenzgeber, ist der Schaden als indirekt zu werten und somit nicht ersatzfähig.175 Der Court of Appeals für den neunten Circuit prägte hingegen den „target area test“. Dieser Test bestimmt die Klagebefugnis nach weniger starren Kriterien und stellt vornehmlich darauf ab, ob der Kläger dem Teil des Marktes zuzurechnen ist, dessen wettbewerbliche Bedingungen unmittelbar durch den Kartellrechtsverstoß gestört sind.176 Personen, die eher „zufällig“ einen Schaden erleiden, sind hiernach nicht klagebefugt.177 Einem weiteren Urteil zufolge seien Betroffene nur dann dem „target area“ zuzurechnen, wenn sie Opfer einer gezielten Schädigung sind.178 Die Notwendigkeit einer solchen Zielgerichtetheit hat der Court of Appeals des zweiten Circuit jedoch später verworfen.179 Die Verschiedenartigkeit dieser und weiterer Tests180 führte zu gegensätzlichen Ergebnissen und hatte eine beträchtliche Rechtsunsicherheit zur Folge.181 172
Vgl. Koob/Kazanoff, in: Global Counsel Competition Law Handbook 2004/05,
S. 28. 173 Page, 37 Stan. L. Rev., S. 1445 (1484) [1985]; Blair/Harrison, 42 Vand. L. Rev., S. 1539 (1540) [1989]; Jacobson/Greer, 66 Antitrust L. J., S. 273 (285) [1998]; Wahl, S. 155. Trotz der unterschiedlichen Ansatzpunkte ist in der Literatur umstritten, ob die „antitrust injury“-Doktrin einen Teil des „standing to sue“ bildet, insbesondere weil die Rechtsprechung die beiden Konzepte oftmals vermischt. Vgl. dazu: P. Jones, S. 339; Page, S. 5 ff.; Hempel, S. 194. 174 Loeb v. Eastman Kodak Co., 183 F 704, 709 (3rd Cir. 1910). 175 Vgl. C. Jones, S. 161. 176 „[A] plaintiff must show more than that [. . .] an act has been committed which harms him. He must show that he is within that area of the economy which is endangered by a breakdown of competitive conditions in a particular industry.“, Conference of Studio Unions v. Loew’s, Inc., 193 F 2d 51, 54 f. (9th Cir. 1951). 177 Conference of Studio Unions v. Loew’s, Inc., 193 F 2d 51, 54 f. (9th Cir. 1951); vgl. auch C. Jones, S. 162. 178 Karseal Corp. v. Richfield Oil Corp., 221 F.2d 358, 363 (9th Cir. 1955); vgl. Linder, S. 121. 179 Wenn jedoch eine absichtliche Schädigung vorliegt, reicht dies für die Klagebefugnis in der Regel aus, vgl. Schwimmer v. Sony Corp. of America, 637 F 2d 41, 47 (2nd Cir. 1980).
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Der Supreme Court befasste sich erstmals 1982 und 1983 in den Leitentscheidungen McCready182 und AGC183 mit der Frage des „standing“ und formulierte hierbei die zu beachtenden Kriterien neu, um so in allen Gerichtsbezirken ein kohärentes System der Klagebefugnis zu etablieren. Die von den Gerichten bisher angewendeten Tests waren hiernach zwar nicht grundsätzlich fehlerhaft, insgesamt aber nicht umfassend genug.184 In McCready betonte der Supreme Court, dass der Schadensersatzanspruch wegen der Gefahr einer mehrfachen Inanspruchnahme der Unternehmen und wegen der weitreichenden Auswirkungen kartellbedingter Schäden auf die gesamte Volkswirtschaft begrenzt werden müsse.185 Die Gerichte hätten deshalb zu prüfen, ob zwischen der Verletzung des Wettbewerbsrechts und dem geltend gemachten Schaden eine hinreichend enge Verbindung besteht. Dies sei in Anlehnung an das im Common Law anerkannte Konzept über die unmittelbare Verursachung („proximate cause“) zu bestimmen.186 Entscheidend komme es zum einen auf eine tatsächliche und wirtschaftliche Verknüpfung zwischen dem Kartellrechtsverstoß und dem Schaden an. Zum anderen müsse die geltend gemachte Schädigung auch dem Schutzzweck der verletzten Norm entsprechen. Der Supreme Court nahm im Weiteren einige Argumentationslinien des „target area tests“ auf. Ausdrücklich stellt er jedoch fest, dass die „proximate cause“-Doktrin keine zielgerichtete Schädigung voraussetzt.187 Im AGC-Urteil führte der Supreme Court sodann weiter aus, dass es angesichts der Verschiedenartigkeit der möglichen Fallgestaltungen unmöglich sei, eine abstrakt-generelle Regelung hinsichtlich der Klagebefugnis zu formulieren.188 Vielmehr seien im Einzelfall eine Vielzahl von Faktoren zur Feststellung der Klagebefugnis zu beachten. Zu berücksichtigen sei insbesondere (1) die kausale Verbindung zwischen der Normverletzung und dem Schaden des Klä-
180
Vgl. hierzu C. Jones, S. 165 ff. Vgl. Hempel, S. 188. 182 Blue Shield of Virginia et al. v. McCready, 457 U.S. 465, 102 S.Ct. 2540 (1982). 183 Associated General Contractors of California v. California State Council of Carpenters, 459 U.S. 519, 103 S.Ct. 897 (1983). 184 Vgl. C. Jones, S. 167. 185 Blue Shield of Virginia et al. v. McCready, 457 U.S. 465, 477, 102 S.Ct. 2540, 2547 (1982). 186 Blue Shield of Virginia et al. v. McCready, 457 U.S. 465, 477, 102 S.Ct. 2540, 2547 (1982). Die „proximate cause“-Doktrin dient im Schadensrecht dazu, in Fällen fahrlässigen Handelns eine Haftung für unvorhersehbare Schäden auszuschließen, vgl. Floyd, 82 Minn. L. Rev., S. 1 (22) [1997]. 187 Blue Shield of Virginia et al. v. McCready, 457 U.S. 465, 479, 102 S.Ct. 2540, 2548 (1982). 188 Associated General Contractors of California v. California State Council of Carpenters, 459 U.S. 519, 103 S.Ct. 897 (1983). So zuvor bereits Cromar Co. v. Nuclear Materials & Equipment Corp., 543 F.2d 501, 506 (3rd Cir. 1976). 181
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gers, (2) die Art des relevanten Schadens, d.h. die Qualifizierung des Schadens als „antitrust injury“,189 (3) eine eventuelle Finalität der Schädigung, (4) die Unmittelbarkeit des Schadens, (5) die Existenz einer Gruppe von Geschädigten, die einen stärkeren Anreiz haben, Schäden geltend zu machen, (6) die Gefahr doppelter Inanspruchnahme bzw. die Notwendigkeit einer Zuteilung der Schäden auf die verschiedenen Marktstufen und (7) der Grad der Spekulation hinsichtlich des entstandenen Schadens.190 Dieser sog. „multiple factor test“191 gewährt den Gerichten i. E. einen weiten Spielraum bei der Bestimmung der Klagebefugnis, hat aber das Problem der Rechtsunsicherheit nicht zu beseitigen vermocht. Auch weiterhin ist es nur schwer abgrenzbar, welche Personengruppen i. R. d. Sec. 4 Clayton Act anspruchsberechtigt sind.192 (3) Indirect Purchaser Rule Die letzte Einschränkung hinsichtlich des geschützten Personenkreises erfolgt über die sog. „indirect purchaser rule“. Diese Regel befasst sich mit Frage, inwieweit im Rahmen von Preisüberhöhungsschäden zu berücksichtigen ist, dass der direkte Abnehmer des Schädigers in der Lage war, den Mehrpreis (teilweise) auf seine Kunden abzuwälzen. Ausführlich soll zu dieser Problematik in Kapitel 5 Stellung genommen werden. Hierbei sollen auch die Handhabung und Erfahrungen im Antitrust-Recht untersucht sowie die rechtspolitische Diskussion in den USA nachgezeichnet werden.193 Im Folgenden soll die „indirect purchaser rule“ deshalb nur in ihren Grundzügen dargestellt werden. Maßgeblich geht sie auf die zwei Leitentscheidungen des Supreme Court Hanover Shoe194 und Illinois Brick195 aus den Jahren 1968 und 1977 zurück. In diesen entwickelte der Gerichtshof den Grundsatz, dass für die Zwecke des Antitrust-Bundesrechts Preisüberhöhungsschäden grundsätzlich nur den Erstabnehmern zuzuordnen sind. In der Entscheidung Hanover Shoe befasste sich der Supreme Court zunächst mit der defensiven Geltendmachung der Schadensab-
189 An dieser Stelle zeigt sich, dass die Rechtsprechung die Konzepte vom „antitrust injury“ und „standing to sue“ nicht streng trennt, vgl. bereits oben, Fn. 173. 190 Associated General Contractors of California v. California State Council of Carpenters, 459 U.S. 519, 545, 103 S.Ct. 897, 912 (1983); zuvor bereits Cromar Co. v. Nuclear Materials & Equipment Corp., 543 F.2d 501, 506 (3rd Cir. 1976) sowie Areeda/Hovenkamp, ¶ 335d; Floyd/Sullivan, S. 684 f.; Bauer, 62 U. Pitt. L. Rev., S. 437 (443) [2001]; Collins/Sunshine, in: Slot/McDonnell, S. 50 (56); Floyd, 82 Minn. L. Rev., S. 1 (39 f.) [1997]. 191 Vgl. P. Jones, S. 337 ff.; C. Jones, S. 167. 192 Vgl. C. Jones, S. 172, Hovenkamp, S. 607 f. 193 Vgl. hierzu unten, S. 315 ff. 194 Hanover Shoe, Inc. v. United Shoe Machinery Corp., 392 U.S. 481, 88 S.Ct. 2224 (1968). 195 Illinois Brick Co. v. Illinois, 431 U.S. 720, 97 S.Ct. 2061 (1977).
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wälzung und stellte hierzu klar, dass diese i. R. d. Sec. 4 Clayton Act keine Berücksichtigung findet.196 Für einen Schadensersatzanspruch eines unmittelbaren Abnehmers ist es daher unbeachtlich, ob es zu einer Weitergabe der Preisüberhöhung an die folgenden Marktstufen gekommen ist. Der Schadensersatzanspruch wird hierdurch nicht gemindert. Vornehmlich stützte das Gericht diese Entscheidung auf Praktikabilitätserwägungen, da es bei einer Berücksichtigung der sog. „passing-on defense“ eine erhebliche Verkomplizierung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung befürchtete. In der Entscheidung Illinois Brick widmete sich der Supreme Court sodann der spiegelbildlichen Frage des offensiven „passing-on“. Im Bestreben, die Problematik der Schadensabwälzung möglichst einheitlich zu regeln, entschied das Gericht, dass mittelbare Abnehmer, die infolge einer Schadensabwälzung wirtschaftliche Einbußen erleiden, keinen ersatzfähigen Schaden i. S. v. Sec. 4 Clayton Act erleiden, da sie nicht zu dem vom Antitrust-Recht geschützten Personenkreis zählen.197 Preisüberhöhungsschäden sind somit – von einigen Ausnahmen abgesehen198 – ausschließlich auf Ebene der Erstabnehmer geltend zu machen. Bis heute ist die „indirect purchaser rule“ rechtspolitisch hoch umstritten.199 Beachtenswert ist ferner, dass diese Regelung des Supreme Court ausschließlich das Antitrust-Bundesrecht betrifft und das einzelstaatliche Kartellrecht hiervon unberührt bleibt. Dies hatte zur Folge, dass etwa die Hälfte der Bundesstaaten in Reaktion auf die Einschränkung des Bundesrechts das einzelstaatliche Kartellrecht durch sog. „Illinois Brick repealer“ ergänzte. Diese sehen nun ausdrücklich auch Schadensersatzansprüche zugunsten mittelbarer Abnehmer vor.200 Im Ergebnis müssen Unternehmen somit heutzutage auf zwei verschiedenen Ebenen mit Schadensersatzklagen bei Verletzungen der Wettbewerbsregeln rechnen: Zum einen drohen ihnen Schadensersatzansprüche von Erstabnehmern nach Sec. 4 Clayton Act. Zum anderen können mittelbare Abnehmer Ersatzansprüche auf das einzelstaatliche Kartellrecht stützen. 196 „We think it sound to hold that when a buyer shows that the price paid by him for materials purchased for use in his business is illegally high and also shows the amount of the overcharge, he has made out a prima facie case of injury and damage within the meaning of § 4. If in the face of the overcharge the buyer does nothing and absorbs the loss, he is entitled to treble damages. [. . .] We hold that the buyer is equally entitled to damages if he raises the price for his own product. As long as the seller continues to charge the illegal price, he takes from the buyer more than the law allows. At whatever price the buyer sells, the price he pays the seller remains illegally high, and his profits would be greater were his costs lower“, Hanover Shoe, Inc. v. United Shoe Machinery Corp., 392 U.S. 481, 489, 88 S.Ct. 2224, 2229 (1968). 197 Illinois Brick Co. v. Illinois, 431 U.S. 720, 729, 97 S.Ct. 2061, 2066 (1977). 198 Näher hierzu unten, S. 316 ff. 199 Beachte hierzu auch die Vorschläge der Antitrust Modernization Commission, die „indirect purchaser rule“ aufzugeben, dies., Report and Recommendations, S. 265 ff. 200 Siehe hierzu unten, S. 321 ff. m. w. N.
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(4) Der bevorzugte Kläger im Kartelldeliktsrecht des Antitrust-Rechts Die in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien haben nur begrenzt zu einer Rechtssicherheit hinsichtlich des geschützten Personenkreises i. R. d. Sec. 4 Clayton Act beitragen können. Insbesondere wegen des weiten Beurteilungsspielraums der Gerichte bei Anwendung des „standing“-Konzeptes ist es nur schwer vorhersehbar, welchen Personenkreisen die Klagebefugnis gewährt wird.201 Allgemein gültige Aussagen lassen sich vor diesem Hintergrund kaum treffen. Gleichwohl geben die aufgezeigten Kriterien zu erkennen, dass insbesondere Wettbewerber und Abnehmer in den Schutzbereich von Sec. 4 Clayton Act fallen.202 Nicht in den Anwendungsbereich werden regelmäßig rein mittelbar Geschädigte, wie z. B. Aktionäre, Lieferanten, Franchisegeber, Vermieter oder Lizenzgeber, fallen.203 Auch potentielle Wettbewerber204, Abnehmer von Wettbewerbern außerhalb des Kartells (sog. „umbrella plaintiffs“)205 und Verbraucher, die aufgrund der überhöhten Preise auf teurere Substitute ausweichen mussten,206 werden ihre Ansprüche nur mit größten Schwierigkeiten geltend machen können. Oftmals bleibt ihnen die Privatklage nach Sec. 4 Clayton Act verwehrt. cc) Rechtsfolgen (1) Dreifacher Schadensersatz Sind die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, gewährt Sec. 4 Clayton Act dem Anspruchsberechtigten den dreifachen Ersatz des von ihm erlittenen Schadens. Für die vor einer Verdreifachung notwendige Bestimmung des einfachen Schadens gilt auch im Common Law der Grundsatz, dass der Geschädigte in die Position zu versetzen ist, in der er sich ohne die schädigende Handlung befände.207 Vergleichbar der deutschen Differenzhypothese ist somit die Differenz zwischen der tatsächlichen Vermögenslage des Geschädigten und der hypothetischen Entwicklung unter Wettbewerbsbedingungen zu bestimmen. Als mögliche Schadensarten sind im Antitrust-Recht (1) Preisüberhöhungsschäden der Marktgegenseite, d.h. die Preisdifferenz zwischen dem erhöhten Marktpreis und dem wettbewerbsanalogen Preis (sog. „overcharge damages“), (2) entgangene Ge-
201
Vgl. C. Jones, S. 172; Hovenkamp, S. 607 f. Vgl. C. Jones, S. 180; Hovenkamp, S. 608. 203 Hovenkamp, S. 605; vgl. auch P. Jones, S. 328. 204 Sullivan/Hovenkamp, S. 170; C. Jones, S. 209. 205 Areeda/Hovenkamp, ¶ 347; Floyd/Sullivan, S. 666 ff.; Hovenkamp, S. 622; Lande, 54 Ohio St. L. J., 115 (147) [1993]; näher hierzu unten, S. 237 ff. 206 C. Jones, S. 180. 207 Hovenkamp, S. 602. 202
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winne sowie (3) der Verlust zukünftiger Gewinne bzw. der Unternehmenswertverlust anerkannt.208 Auch in den USA bereitet der Schadensnachweis (insbes. die Bezifferung des Schadens) den Geschädigten besondere Schwierigkeiten.209 Gerade in den Anfangsjahren des Antitrust-Rechts taten sich die Gerichte mit der Bemessung der hypothetischen Marktentwicklung noch recht schwer. Insbesondere die Geltendmachung entgangenen Gewinns sahen sie oftmals als zu spekulativ an.210 Die geringe praktische Bedeutung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung bis in die 1940er Jahre kann insbesondere auf überhöhte Beweisanforderungen durch die Rechtsprechung zurückgeführt werden. Der Supreme Court lockerte daraufhin in den Leitentscheidungen Eastman Kodak, Story Parchment und Bigelow den Beweismaßstab und differenziert seitdem zwischen dem Nachweis der kausalen Schädigung und dem Nachweis der Schadenshöhe.211 Für ersteren gilt weiterhin der reguläre Beweismaßstab der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ („preponderance of evidence“).212 Hinsichtlich des Nachweises der Schadenshöhe gilt ein gelockerter Beweismaßstab, der angesichts der praktischen Schwierigkeiten sich bereits mit einer billigen und verständigen Schätzung („just and reasonable inference“) durch das Gericht begnügt.213 Nach der Rechtsprechung soll der Schädiger keinen Vorteil daraus ziehen können, dass die von ihm verursachten Schäden nur schwer zu bemessen sind. Der Kläger muss deshalb die Schadenshöhe nicht exakt nachweisen.214 Hinsichtlich der Bestimmung der Schadenshöhe zieht die Rechtsprechung unterschiedliche Bemessungsmethoden heran. Für eine nähere Darstellung der möglichen Ansätze sei auf die eingehende Behandlung der Schadensbestimmung in Kapitel 6 verwiesen.215 Im Einzelfall kommt es entscheidend darauf an, ob die jeweilige Methode mit Rücksicht auf die konkreten Umstände und die geltend gemachten Schäden eine adäquate Schätzung ermöglicht. Neben dem gesenkten Beweismaßstab sieht die Rechtsprechung noch weitere Erleichterungen vor. Diese ergeben sich insbesondere durch den Einsatz von Anscheinsbeweisen, eine ausgewogene Verteilung der Substantiierungslast und einen weiten Spielraum bei der Schadensschätzung. 208 P. Jones, S. 459; C. Jones, S. 201 ff.; Sullivan/Hovenkamp, S. 171; näher hierzu: Floyd/Sullivan, S. 998 ff. 209 Vgl. hierzu auch unten, S. 445 ff. 210 C. Jones, S. 202. 211 Eastman Kodak Co. of New York v. Southern Photo Materials Co., 273 U.S. 359, 47 S.Ct. 400 (1927); Story Parchment Co. v. Paterson Parchment Paper Co. et al., 282 U.S. 555, 51 S.Ct. 248 (1931); Bigelow v. RKO Radio Pictures, 327 U.S. 251, 66 S.Ct. 574 (1946). 212 Areeda/Hovenkamp, ¶ 391; Page, S. 31 ff. 213 Story Parchment Co. v. Paterson Parchment Paper Co. et al., 282 U.S. 555, 563, 51 S.Ct. 248, 250 (1931). 214 Näher hierzu unten, S. 445 ff. 215 Vgl. unten, S. 422 ff.
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Insgesamt lässt sich daher beobachten, dass der Schadensnachweis in den USA heutzutage keine unüberwindbare Hürde für den Geschädigten darstellt. Im Anschluss an die Schadensquantifizierung wird der ermittelte Schaden verdreifacht. In diesem Punkt unterscheidet sich das Kartelldeliktsrecht wesentlich vom allgemeinen amerikanischen Deliktsrecht. Die Vervielfachung des Schadens hat ihren Ursprung im englischen Recht. Bereits das Statute of Monopolies aus dem Jahre 1623 sah einen dreifachen Schadensersatz für Wettbewerbsschäden vor.216 Über die genauen Motive, warum der Kongress für einen mehrfachen Schadensersatz optierte, wird kontrovers diskutiert.217 Zu Zeiten des Inkrafttretens des Sherman Act stand vermutlich der Gesichtspunkt der Bestrafung des Rechtsbruchs im Vordergrund.218 Diese Motivation hat mit den Jahren jedoch an Bedeutung verloren. Heutzutage wird die Verdreifachung in erster Linie mit der Abschreckungsfunktion des kartellrechtlichen Schadensersatzes, dem Abschöpfungsgedanken und dem Kompensationsinteresse der Geschädigten erklärt.219 Dass aber auch weiterhin der dreifache Schadensersatz einen gewissen Strafcharakter aufweist, zeigt sich insbesondere daran, dass ein darüber hinausgehender Strafschadensersatz („punitive damages“) im AntitrustRecht ausgeschlossen ist.220 Einige spezialgesetzliche Regelungen sehen Ausnahmen vom dreifachen Schadensersatz vor und begrenzen die Haftung etwa für Kooperationen in der Exportwirtschaft221 oder bei Gemeinschaftsunternehmen zu Forschungs- und Produktionszwecken222 auf den tatsächlichen Schaden. Ferner sieht der Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Reform Act von 2004223 eine Haftungsbegrenzung auf den tatsächlichen Schaden vor, sofern der Schädiger im Rahmen eines Kronzeugenprogramms sowohl mit der Kartellbehörde als auch in späteren Zivilverfahren mit den Betroffenen kooperiert.224
216
21 Jac. 1, c. 3 (1623). Vgl. etwa Cavanagh, 61 Tul. L. Rev., S. 777 (782) [1987]. 218 Hovenkamp, S. 654; Cavanagh, 61 Tul. L. Rev., S. 777 (782) [1987]. Laut Buxbaum hingegen sollte Klägern ein stärkerer Anreiz zur Geltendmachung von Ansprüchen gegeben werden, vgl. dies., in: Basedow, S. 41 (43). 219 Vgl. hierzu nur Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 246. 220 Brown v. Presbyterian Healthcare Services, 101 F.3d 1324, 1332 (10th Cir. 1996); McDonald v. Johnson & Johnson, 722 F.2d 1370, 1381 (8th Cir. 1983); Clark Oil Co. v. Phillips Petroleum Co., 148 F.2d 580, 582 (8th Cir. 1945). Vgl. hierzu auch Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 246. 221 Export Trading Companies Act von 1982, Pub. L. No. 97-290, 96 Stat. 1233. 222 National Cooperative Research Act von 1984, Pub. L. No. 98-462, 98 Stat. 1815 novelliert durch die National Cooperative Production Amendments von 1993, Pub. L. No. 103-42, 107 Stat. 117. 223 Pub. L. No. 108-237, 118 Stat. 665. 224 Sec. 213 (a) u. (b); vgl. auch unten, S. 207 ff. 217
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Die Verdreifachung des Schadensersatzes hat insbesondere seit den 1980er Jahren viel Kritik erfahren.225 Kritiker sehen hierin einen Anreiz für missbräuchliche Klagen und weisen darauf hin, dass beklagte Unternehmen selbst bei unberechtigten Klagen oftmals einem Vergleichsschluss zustimmten, um die Gefahr einer kostspieligen Verurteilung zu vermeiden. Insgesamt werde dadurch eine Überabschreckung bewirkt. Zugunsten des mehrfachen Schadensersatzes wird auf der anderen Seite vorgebracht, dass dieser einen Ausgleich dafür biete, dass Kartellrechtsverstöße nur unvollkommen aufgedeckt würden und der einfache Schadensersatz die verursachten Wohlfahrtsverluste nicht berücksichtige.226 Des Weiteren hat Lande aufgezeigt, dass auch im derzeitigen System nicht ohne weiteres von einer Verdreifachung gesprochen werden kann, da in der Regel nur etwa der einfache Schadensersatz zu leisten sei.227 Insbesondere der Umstand, dass für Ansprüche nach Sec. 4 Clayton Act grundsätzlich keine Verzinsungspflicht vor Urteilsverkündung besteht,228 aber auch die Verjährung von Ansprüchen, die hohen Kosten für das Gerichtssystem, die Außerachtlassung des entstandenen Wohlfahrtverlustes und die sog. Preisschirmschäden229 trügen dazu bei, dass die zugesprochenen Schadensersatzsummen auch nach Verdreifachung im Ergebnis nur die tatsächlich verursachten Schäden widerspiegeln.230 Erst kürzlich hat die Antitrust Modernization Commission vorgeschlagen, weiterhin an der Verdreifachung des Schadensersatzes festzuhalten.231
225 Vgl. Areeda/Hovenkamp, ¶ 330b; Collins/Sunshine, in: Slot/McDonnell, S. 51 (52); Cavanagh, 61 Tul. L. Rev., S. 777 (780) [1987]; Salop/White, 74 Geo. L. J., S. 1001 (1001) [1986]; Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 (1163) [1986]; Turner, in: White, S. 407 (407); Millstein, in: White, S. 399 (404). Neben der Forderung nach einem sog. „detrebling“ des Schadensersatzes wird in der Literatur ebenfalls das Modell des sog. „decoupling“ diskutiert. Hiernach erhält der Kläger nicht automatisch den Betrag, den der Beklagte zu zahlen verpflichtet ist, sondern beispielsweise nur einen Betrag in Höhe des tatsächlichen Schadens, während die restliche Summe dem Staat zufällt, vgl. Polinsky, in: White, S. 87 ff. Vgl. allgemein zur Kritik an der obligatorischen Schadensverdreifachung Buxbaum, in: Basedow, S. 41 (52 ff.). 226 Vgl. Collins/Sunshine, in: Slot/McDonnell, S. 51 (52); Benston, in: White, S. 271 (271). 227 Lande, 54 Ohio St. L. J., S. 115 ff. [1993]. 228 Vgl. 28 U.S.C. § 1961; aber ausnahmsweise gibt es eine Verzinsungspflicht ab Zustellung der Klage gemäß Sec. 4 (a) Satz 2 Clayton Act, 15 U.S.C. § 15. Hierzu bereits Brodley, in: White, S. 252 (252); Page, S. 43. Nach dem Recht der Einzelstaaten ist aber teilweise eine Verzinsungspflicht gegeben, Fisher, W. Comp. 2006, S. 383 (386 f.). Vgl. auch Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 248 ff. 229 Vgl. hierzu unten, S. 237 ff. 230 Lande, 54 Ohio St. L. J., S. 115 (118) [1993]; ders., 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 329 (330) [2004]; zustimmend: Jones, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 409 (422) [2004]. 231 Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 245 ff.
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(2) Kostenerstattung Die Klage auf dreifachen Schadensersatz gem. Sec. 4 Clayton Act ist für die Kläger mit einem minimalen Kostenrisiko verbunden. Im Ausgangspunkt beruht dies auf den üblichen Erfolgshonoraren und der im US-amerikanischen Zivilprozess geltenden sog. „American rule“, wonach die Parteien unabhängig vom Ausgang des Verfahrens für ihre Kosten des Rechtsstreits selbst aufkommen müssen.232 Im Kartelldeliktsrecht wird das Kostenrisiko zusätzlich gemindert. In Abweichung von der „American rule“ spricht Sec. 4 Clayton Act den Geschädigten einseitig im Erfolgsfalle den Ersatz der Kosten des Rechtsstreits, einschließlich „angemessener“ Anwaltskosten zu. Der Beklagte trägt hingegen in jedem Falle seine Kosten des Rechtsstreits.233 Nach dem Zweck dieser Regelung soll die im Prozess erstrittene Summe nicht durch die hohen Anwaltshonorare gemindert werden, um so einen Anreiz für die private Kartellrechtsdurchsetzung zu schaffen.234 Bei der Bestimmung der „angemessenen“ Anwaltsgebühren kommt dem Gericht ein großer Ermessensspielraum zu.235 Obwohl die Klägeranwälte meist auf Erfolgshonorarbasis arbeiten, richtet sich die Angemessenheit des Anwaltshonorars nicht nach der Honorarvereinbarung.236 Während die Gerichte früher die Anwaltsgebühren prozentual an die erstrittene Schadensersatzsumme koppelten und hierbei gewöhnlich einen Prozentsatz von 20 bis 25 Prozent zugrunde legten,237 ist die heute vorherrschende Methode der sog. „lodestar approach“.238 Hiernach werden zur Bemessung der zu erstattenden Anwaltsgebühren die aufgewendeten Stunden mit einem angemessenen Stundenhonorar multipliziert. In einem zweiten Schritt wird dieser Betrag unter Berücksichtigung des Einzelfalls angepasst.239
232 Vgl. Alyeska Pipeline Service Company v. Wilderness Society et al., 421 U.S. 240, 245, 95 S.Ct. 1612, 1615 (1975); Floyd/Sullivan, S. 1048; Cavanagh, 57 Fordham L. Rev., S. 51 (54) [1988]. 233 Eine Kostenerstattung für den Beklagten ist jedoch bei missbräuchlichen und willkürlichen Klagen möglich, vgl. hierzu Hempel, S. 222. 234 Floyd/Sullivan, S. 1051. 235 Cavanagh, 57 Fordham L. Rev., S. 51 (54) [1988]; Sullivan/Hovenkamp, S. 174. 236 Sullivan/Hovenkamp, S. 176. 237 Cavanagh, 57 Fordham L. Rev., S. 51 (76) [1988]. 238 Sullivan/Hovenkamp, S. 176; P. Jones, S. 547; Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 250. Vgl. hierzu Lindy Brothers Builders, Inc. of Philadelphia v. American Radiator & Standard Sanitary Corp. et al., 487 F.2d 161, 167 f. (3rd Cir. 1973). 239 Vgl. Cavanagh, 57 Fordham L. Rev., S. 51 (77) [1988]; Sullivan/Hovenkamp, S. 176. Für Einzelheiten siehe Floyd/Sullivan, S. 1047 ff.; Cavanagh, 57 Fordham L. Rev., S. 51 ff. [1988].
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(3) Gemeinschaftliche Haftung und Ausschluss der Regressnahme Bereits nach englischem Common Law war anerkannt, dass bei einer Mehrheit von Schädigern jeder von ihnen für den entstandenen Schaden in voller Höhe haftet („joint and several liability“).240 Dieser Grundsatz der gemeinschaftlichen Haftung fand auch Eingang in das US-amerikanische Recht und wurde von der Rechtsprechung frühzeitig im Antitrust-Recht angewendet.241 Kartellopfer können somit gegen jedes der Kartellmitglieder vorgehen und dabei den gesamten Schaden geltend machen.242 Der Grad der Beteiligung findet keine Berücksichtigung. Zugunsten des Beklagten können daher (nach der Verdreifachung) nur die Zahlungen angerechnet werden, die der Kläger zuvor bereits von einem anderen Schädiger erhalten hat.243 Eine zusätzliche, folgenschwere Haftungsverschärfung ist darin zu sehen, dass nach der Rechtsprechung des Supreme Court ein in Anspruch genommenes Unternehmen nicht bei den anderen Mitgliedern des Kartells anteilig Regress nehmen kann.244 Die Möglichkeit der Regressnahme sei weder in den Antitrust-Gesetzen noch im amerikanischen Common Law vorgesehen.245 Vielmehr habe der Gesetzgeber hiervon bewusst abgesehen, um eine größtmögliche Bestrafung und Abschreckung zu erzielen.246 Die fehlende Regressmöglichkeit stellt in der Praxis ein nicht zu unterschätzendes Druckmittel dar, sich mit dem Kläger außergerichtlich zu einigen. Die drohende Haftung kann somit den erlangten Nutzen des einzelnen Kartellmitgliedes um ein vielfaches übersteigen. Diese Rechtsprechung des Supreme Court ist wiederholte Male mit der Begründung kritisiert worden,247 auch über eine pro rata-Haftung lasse sich eine ausreichende Abschreckung erzielen. Gesetzesinitiativen zur Einführung einer Regressregelung blieben bislang jedoch ohne Erfolg. Im April 2007 hat die Anti240
Vgl. Floyd/Sullivan, S. 973 ff. City of Atlanta v. Chattanooga Foundry & Pipe Works et al., 127 F. 23, 26 (6th Cir. 1903). 242 Sullivan/Hovenkamp, S. 184. 243 Waller, 78 Chi.-Kent L. Rev., S. 207 (217) [2003]. Vgl. hierzu auch Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 250 ff. 244 Texas Industries, Inc. v. Radcliff Materials, Inc. et al., 451 U.S. 630, 646, 101 S.Ct. 2061, 2070 (1981); auch bereits Union Stock Yards Co. of Omaha v. Chicago, Burlington & Quincy Railroad Co., 196 U.S. 217, 228, 25 S.Ct. 226, 229 (1905); vgl. Floyd/Sullivan, S. 979 ff.; Areeda/Kaplow, S. 75. Eine Ausnahme von der gemeinschaftlichen Haftung sieht der Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Reform Act von 2004 vor, näher hierzu unten, S. 207 ff. 245 Texas Industries, Inc. v. Radcliff Materials, Inc. et al., 451 U.S. 630, 646, 101 S.Ct. 2061, 2070 (1981). 246 Vgl. Hempel, S. 202. 247 Vgl. etwa Millstein, in: White, S. 399 (402 ff.). Näher hierzu Hovenkamp, S. 677 sowie Areeda/Hovenkamp, ¶ 330e (Supp. 2005); siehe ferner Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 251 ff. 241
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
trust Modernization Commission nun den Kongress zu einer Gesetzesänderung aufgefordert, um künftig den Innenregress unter den Gesamtschuldnern zu ermöglichen.248 In der Praxis behilft man sich bislang mit sog. „sharing agreements“, die eine Haftungsverteilung zwischen den beteiligten Unternehme bereits im Vorhinein regeln.249 (4) Verjährung Der Anspruch auf Schadensersatz verjährt gemäß Sec. 4B Clayton Act250 vier Jahre nach der zum Schaden führenden Handlung.251 Unter gewissen Umständen wird die Verjährung jedoch gehemmt. So wird bspw. die Verjährungsfrist für Follow-on-Verfahren gehemmt, um ein Abwarten des Ausgangs des behördlichen Verfahrens zu ermöglichen.252 Ebenfalls kommt eine Verjährungshemmung in Betracht, wenn der Beklagte die Schädigung verschleiert hat („fraudulent concealment“)253 oder ein Gericht über die Zulassung einer Sammelklage verhandelt.254 b) Klage auf Erlass einer gerichtlichen Verfügung gemäß Sec. 16 Clayton Act Ein weiterer Rechtsbehelf im Rahmen der privaten Durchsetzung des USKartellrechts ist die Klage auf Erlass einer gerichtlichen Verfügung („injunction“) gemäß Sec. 16 Clayton Act.255 Diese Klageform erreicht nicht die praktische Bedeutung der Schadensersatzklage, kann jedoch insbesondere bei Zusam248 Ausgenommen bleiben sollen jedoch Kartelltäter, die einem Vergleich zugestimmt haben, vgl. Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 251 ff. 249 Hempel, S. 202 m. w. N. 250 15 U.S.C. § 15b. 251 Näher hierzu: Areeda/Hovenkamp, ¶ 320; P. Jones, S. 379 ff. Sec. 4B Clayton Act gilt nicht für den Anspruch auf Erlass einer „injunction“ gemäß Sec. 16 Clayton Act, jedoch besteht hier die Möglichkeit einer Verwirkung („laches“), für die die Vierjahres-Frist von Sec. 4B Clayton Act als Richtwert gilt, vgl. International Telephone & Telegraph Corp. v. General Telephone & Electronics Corp., 518 F.2d 913, 928 (9th Cir. 1975); Floyd/Sullivan, S. 597 ff.; Sullivan/Hovenkamp, S. 74. 252 Näher dazu unten, S. 205 f. 253 Siehe hierzu P. Jones, S. 385 f.; Page, S. 74 ff. 254 Vgl. ausführlich hierzu: Floyd/Sullivan, S. 600 ff.; Sullivan/Hovenkamp, S. 74 f. 255 15 U.S.C. § 26: „Any person, firm, corporation, or association shall be entitled to sue for and have injunctive relief [. . .] against threatened loss or damage by a violation of the antitrust laws [. . .] when and under the same conditions and principles as injunctive relief against threatened conduct that will cause loss or damage is granted by courts of equity [. . .]“. Ausführlich hierzu: Floyd/Sullivan, S. 1037 ff.; Areeda/Hovenkamp, ¶ 326.
III. Private Durchsetzung des Antitrust-Rechts
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menschlüssen ein wirkungsvolles Instrument für den Privatkläger darstellen.256 Anders als die Schadensersatzklage richtet sich die „injunction“ nicht gegen vergangenes Verhalten; bei ihr steht im Vordergrund, dass ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten für die Zukunft unterbunden werden und ein funktionierender Wettbewerb wiederhergestellt werden soll.257 Dies geschieht meist in Form eines sog. „cease and desist order“, der dem Beklagten ein bestimmtes Verhalten untersagt oder vorschreibt.258 Für die beklagten Unternehmen wesentlich einschneidender erweist sich jedoch, dass insbesondere bei unrechtmäßigen Zusammenschlüssen oder bei Monopolisierungen, auch strukturelle Maßnahmen, wie etwa eine Entflechtung oder eine Zerschlagung, angeordnet werden können.259 Den Gerichten kommt bei der Ausgestaltung der Verfügung ein weiter Ermessensspielraum zu.260 Die Anforderungen, die ein privater Kläger für die Erlangung einer „injunction“ erfüllen muss, sind geringer als im Rahmen der Schadensersatzklage.261 Der Kläger muss lediglich geltend machen, dass ihm aufgrund eines Kartellrechtsverstoßes ein Schaden droht. Dieser muss noch nicht eingetreten sein. Ferner sind die Anforderungen an die Klagebefugnis („standing to sue“) geringer, da im Rahmen einer „injunction“ die Gefahr einer mehrfachen Inanspruchnahme nicht gegeben ist.262 Ebenfalls gilt die Einschränkung der „indirect purchaser rule“ nicht, so dass auch mittelbare Abnehmer klagebefugt sind.263 Bei dem befürchteten Schaden muss es sich jedoch ebenso wie im Rahmen des Schadensersatzes um einen „antitrust injury“ handeln.264 Neben einer endgültigen Verfügung kann ein Privatkläger auch eine einstweilige Verfügung erwirken.265 Bis zur Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz kann der status quo durch den Erlass eines „temporary restraining order“266 gesichert werden.
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Vgl. Hempel, S. 202. Areeda/Hovenkamp, ¶ 325c; Floyd/Sullivan, S. 1042 ff. 258 Sullivan/Hovenkamp, S. 178. 259 Vgl. California v. American Stores Co. et al., 495 U.S. 271, 275, 110 S.Ct. 1853, 1856 (1990); Sullivan/Hovenkamp, S. 178; Areeda/Kaplow, S. 62; Timmens, 84 Mich. L. Rev. 1579, 1594 [1986]. 260 Zum möglichen Inhalt einer „injunction“ vgl. Areeda/Kaplow, S. 61. 261 Floyd/Sullivan, S. 1037. 262 Vgl. Cargill v. Monfort of Colo., 479 U.S. 104, 111 (Fn. 6), 107 S.Ct. 484, 490 (1986). Siehe hierzu: Areeda/Hovenkamp, ¶ 335b; P. Jones, S. 343. 263 Mid-West Paper Products Co. v. Continental Group, Inc., et al., 596 F.2d 573, 590 f. (3rd Cir. 1979) u. in re Warfarin Sodium Antitrust Litigation, 214 F.3d 395, 399 (3rd Cir. 2000). Vgl. auch Areeda/Kaplow, S. 79; C. Jones, S. 179. 264 Vgl. Cargill v. Monfort of Colo., 479 U.S. 104, 111, 107 S.Ct. 484, 490 (1986). 265 Zu den Voraussetzungen siehe: Floyd/Sullivan, S. 1039 ff.; Areeda/Hovenkamp, ¶ 325b. 266 Rule 65 (b) Fed. R. Civ. P. Vgl. etwa Hay, in: Assmann/Bungert, 8. Kap., Rdnr. 224. 257
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
3. Der Privatkläger im Zivilprozess Ein maßgeblicher Grund für die große Bedeutung der Privatklage im Antitrust-Recht liegt auch in den Ausformungen des US-amerikanischen Zivilprozessrechts. Eine eingehende Darstellung der zivilprozessualen Rahmenbedingungen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Im Folgenden soll aber kurz auf einige der im Kartellrecht relevanten Besonderheiten eingegangen werden.267 a) Zuständigkeiten Hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung nach Antitrust-Bundesrecht ergeben sich zunächst einmal keine Besonderheiten. Sachlich zuständig für Klagen gemäß Sec. 4 und 16 Clayton Act sind unabhängig vom Streitwert die Bundesgerichte.268 Erstinstanzlich entscheidet der District Court durch einen Einzelrichter.269 In den weiteren Instanzen entscheidet der Court of Appeals und gegebenenfalls der Supreme Court. Die allgemeinen Regelungen hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit werden im Kartellrecht durch die Sec. 4 und 12 Clayton Act erweitert, so dass im Vergleich zum allgemeinen Zivilprozessrecht die örtliche Zuständigkeit recht klägerfreundlich ausgestaltet ist.270 Beachtenswert erscheint vielmehr die in der Praxis häufig zu beobachtende Zersplitterung von Gerichtsverfahren, die insbesondere bei staatenübergreifenden Wettbewerbsbeschränkungen auftreten kann. Beklagte Unternehmen haben in den USA oftmals damit zu kämpfen, dass sie wegen ein und desselben Vorwurfs von einer Vielzahl von Klägern vor unterschiedlichen Bundesgerichten sowie einzelstaatlichen Gerichten verklagt werden. Eine Verbindung dieser Verfahren ist nur sehr eingeschränkt möglich. Der Multidistrict Litigation Act271 sieht für Verfahren vor Bundesgerichten lediglich eine Möglichkeit der Klageverbindung zur Durchführung der „pre-trial discovery“ vor. Zur weiteren Verhandlung und Entscheidung werden die Verfahren aber zwingend wieder an die Ausgangsgerichte zurückverwiesen.272 Für Kartellzivilverfahren, die auf das Kartellrecht eines Einzelstaates gestützt vor einem einzelstaatlichen Gericht erhoben werden, fehlt im Grundsatz sogar jegliche Möglichkeit zur Klageverbindung mit parallel laufenden Verfahren vor Bundesgerichten oder Gerichten anderer Einzelstaaten.273 Der 267
Für Einzelheiten hierzu vgl. bereits Hempel, S. 206 ff. Vgl. Sullivan/Hovenkamp, S. 72; P. Jones, S. 360; Floyd/Sullivan, S. 2. 269 28 U.S.C. § 132 (c). 270 Vgl. Sullivan/Hovenkamp, S. 72; P. Jones, S. 362. 271 28 U.S.C. § 1407. 272 Vgl. auch Lexecon, Inc. et al. v. Milberg Weiss Bershad Hynes & Lerach et al., 523 U.S. 26, 40 f. 118 S.Ct. 956, 964 (1998); Sullivan/Hovenkamp, S. 73; eingehend Floyd/Sullivan, S. 769 ff. 273 Koob/Kazanoff, in: Global Counsel Competition Law Handbook 2004/05, S. 29. 268
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Class Action Fairness Act274 von 2005 hat diesbezüglich zumindest für Sammelklagen die Rechtslage geändert.275 b) Discovery-Verfahren Eine große Hilfestellung in der im Kartellrecht häufig anzutreffenden Beweisnot der Geschädigten bietet das Vorverfahren im US-amerikanischen Zivilprozess (sog. „pre-trial discovery“).276 Nach Rechtshängigkeit der Klage sind die Parteien in diesem Verfahrensstadium zur Vornahme ausführlicher Sachverhaltsermittlungen berechtigt. Hierbei handelt es sich um ein sich selbst regulierendes Verfahren, das fast unter alleiniger Verantwortung der Parteien stattfindet.277 Im Kartellrecht ist das Discovery-Verfahren für den Kläger von besonderem Vorteil, da ihm bei verdeckten wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen (wie etwa bei Preiskartellen) meist die für den Nachweis des Kartellverstoßes nötigen Informationen fehlen. Auch der Nachweis des Schadens und des Kausalzusammenhangs ist schwierig. Die Discovery-Regeln erlauben den Parteien unter anderem die Vorlage sämtlicher verfahrensrelevanter, nicht privilegierter Urkunden („production of documents and things“), eine formelle schriftliche Parteibefragung („interrogatories“) und eine mündliche Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen oder der Gegenpartei unter Eid im Beisein eines gerichtlichen Protokollführers („depositions“).278 Bereits zu Beginn des DiscoveryVerfahrens müssen die Parteien unaufgefordert eigenes Beweismaterial der Gegenpartei zugänglich machen („initial disclosures“).279 Bei aller Erleichterung für die Sachaufklärung, die von den Möglichkeiten des Discovery-Verfahrens ausgeht, darf nicht vergessen werden, dass diese Vorzüge zum Preis eines recht aufwendigen Verfahrens erkauft werden. In der Regel gestaltet sich das Vorverfahren nämlich äußerst zeitintensiv und kostspielig für die beteiligten Parteien. Ein schlanker, überschaubarer Zivilprozess gerät daher manches Mal aus dem Blickfeld. c) Class Actions Eine wichtige Bedeutung im Rahmen der privaten Durchsetzung des Antitrust-Rechts hat auch die US-amerikanische Sammelklage („class action“)280 274
Pub. L. 109-2, 119 Stat. 4. Siehe hierzu auch unten, S. 208 ff. 276 Rule 26 bis 37 Fed. R. Civ. P., vgl. Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 152. 277 Vgl. Schack, S. 45. 278 Vgl. hierzu Schack, S. 47 ff. 279 Rule 26 (a) (1)–(3) Fed. R. Civ. P. 280 Vgl. Rule 23 Fed. R. Civ. P. 275
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
erlangt.281 Bei Kartellen, deren Abnehmer Endverbraucher sind, tritt häufig das Problem sog. Streuschäden auf: Hiervon ist die Rede, wenn die verursachten Gesamtschäden insgesamt zwar relativ hoch sind, der individuell erlittene Schaden der Betroffenen aber so geringfügig ist, dass für diese eine Durchsetzung ihrer Ansprüche wirtschaftlich sinnlos wäre. Über Sammelklagen lässt sich dieses Problem teilweise beheben. Hiernach kann ein Kläger – ähnlich wie bei den parens patriae-Verfahren282 – eine Klage im Interesse einer Gruppe von Beteiligten erheben. Er klagt somit nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch als Repräsentant aller Personen, die sich in einer ähnlichen Rechtslage befinden, soweit diese nicht von der Möglichkeit eines „opt out“ Gebrauch machen.283 Da die Repräsentanten nicht mehr als ihren eigenen Schaden ersetzt bekommen, sind die Klägeranwälte, die auf ein lukratives Honorar hoffen, meist die treibende Kraft von Sammelklagen.284 Die Erhebung einer Sammelklage wird durch das Gericht zugelassen, wenn es feststellt, dass (1) eine Streitgenossenschaft aller Betroffenen praktisch unmöglich ist („numerosity“), (2) hinsichtlich der Gruppe gemeinsame Rechts- und Tatsachenfragen relevant sind („commonality“), (3) die Ansprüche der Kläger repräsentativ für die Gruppe sind („typicality“) und (4) und die Repräsentanten in der Lage sind, die Interessen der Gruppe angemessen zu vertreten („adequacy“).285 Etwa zwanzig Prozent der Privatklagen sind heutzutage Sammelklagen,286 die sich überwiegend gegen horizontale Preisabsprachen richten.287 Den Sammelklagen kommt wegen der Höhe des von der Gruppe erlittenen Gesamtschadens eine große abschreckende Wirkung zu. Vielfach werden sie deshalb aber auch als legale Form der Erpressung betrachtet.288 Angesichts der im Antitrust-Bundesrecht geltenden „indirect purchaser rule“ werden sehr viele Sammelklagen von mittelbaren Abnehmern auf die Verletzung einzelstaatlichen Kartellrechts gestützt und vor einzelstaatlichen Gerichten erhoben.289 281 Vgl. Calkins, 39 Ariz. L. Rev., S. 413 (413) [1997]; Areeda/Hovenkamp, ¶ 331; eingehend hierzu: Lang, W. Comp. 2001, S. 285 ff. sowie Floyd/Sullivan, S. 790 ff. 282 Vgl. hierzu oben, S. 173 ff. 283 Blechman/Bernstein, in: FK, Ausland-USA, Rdnr. 17. 284 Lang, W. Comp. 2001, S. 285 (289); Schack, S. 81; vgl. auch Areeda/Hovenkamp, ¶ 331a. 285 Vgl. Rule 23 (a) Fed. R. Civ. P. Weiterhin muss die Klage eine der in Rule 23 (b) Fed. R. Civ. P. genannten Voraussetzungen erfüllen. 286 Jones, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 409 (427) [2004]. Im Jahr 2004 wurden 116 kartellrechtliche Sammelklagen vor den Bundesgerichten erhoben, vgl. Office of the United States Courts, Judicial Business of the United States Courts 2004, Tabelle X-5, S. 405; abrufbar im Internet unter http://www.uscourts.gov/judbus2004/appen dices/x5.pdf (zuletzt: 20.08.2008). 287 Calkins, 39 Ariz. L. Rev., S. 413 (449) [1997]. Weitere häufig geltend gemachte Verstöße sind Monopolisierungen und Absatzbeschränkungen. 288 Vgl. Calkins, 39 Ariz. L. Rev., S. 413 (437) [1997]. 289 Calkins, 39 Ariz. L. Rev., S. 413 (419) [1997].
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d) Geschworenenprozess Nach dem 7. Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung haben die Parteien vor Bundesgerichten bei Ansprüchen nach Common Law (und damit auch i. R. d. Schadensersatzklage nach Sec. 4 Clayton Act290) das Recht auf einen Geschworenenprozess („jury trial“). In diesen Fällen entscheidet der Richter nur über die Rechtsfragen (so z. B. über Fragen des „standing to sue“),291 die Geschworenen hingegen über die Tatfragen. Der Richter unterweist die Geschworenen dazu über die Anwendung des Rechts. In kartellrechtlichen Zusammenhängen ist der Geschworenenprozess nicht unbedenklich. Da die Geschworenen weder in wirtschaftlicher noch in kartellrechtlicher Hinsicht besonders geschult sind, ist es Aufgabe der Parteien, ihnen die für die Entscheidung in der Sache notwendigen Kenntnisse zu vermitteln. Teilweise sind die Geschworenen aber mit ihrer Aufgabe hoffnungslos überfordert.292 Dies kann dazu führen, dass die Geschworenen ihre Entscheidung nicht allein nach rechtlichen Gesichtspunkten treffen.293 Der Ausgang des Verfahrens ist vor diesem Hintergrund besonders schwer vorhersehbar. Ferner sind Geschworenenprozesse auch mit höheren Kosten verbunden, da die Verfahrensdauer in der Regel erheblich länger ist.294 e) Summary Judgment Die Prozessparteien haben gemäß Rule 56 der Federal Rules of Civil Procedure die Möglichkeit, das Verfahren abzukürzen und durch einen Antrag auf Erlass eines „summary judgment“ zu beenden.295 Dieser Verfahrensweg ist bei der kartellrechtlichen Schadensersatzklage insbesondere für den Beklagten von Interesse, da er eine schnelle Urteilsfindung bei unbegründeten oder missbräuchlichen Klagen ermöglicht.296 Im abgekürzten Verfahren wird ohne Ver-
290 Fleitmann v. Welsbach Street Lighting Co., 240 U.S. 27, 29, 36 S.Ct. 233, 234 (1916). Ein solches Recht besteht nicht für Klagen auf Erlass einer „injunction“ gemäß Sec. 16 Clayton Act. Vgl. Areeda/Kaplow, S. 93; C. Jones, S. 22. 291 C. Jones, S. 156. 292 Wegen der besonderen Komplexität kartellrechtlicher Sachverhalte haben die Gerichte teilweise eine Ausnahme vom Grundsatz des Geschworenenprozesses erwogen, in re Japanese Electronic Products Antitrust Litigation, 631 F.2d 1069, 1086 (3rd Cir. 1980); vgl. auch Ross v. Bernhard et al., 396 U.S. 531, 538 (Fn. 10), 90 S.Ct. 733, 738 (1970). Hierzu: Floyd/Sullivan, S. 851 ff.; Areeda/Hovenkamp, ¶ 306e. 293 Areeda/Hovenkamp, ¶ 306; Turner, in: White, S. 407 (408). 294 Im Durchschnitt liegt diese um 60% höher, vgl. Elzinga/Wood, in: White, S. 107 (139). 295 Vgl. Areeda/Hovenkamp, ¶ 308a; Floyd/Sullivan, S. 854 ff. Siehe auch Hay, in: Assmann/Bungert, 8. Kap., Rdnr. 241 ff.; Bulst, S. 41 ff. 296 Vgl. Areeda/Hovenkamp, ¶ 308a; Bauer, 16 Loy. Consumer L. Rev., S. 303 (323) [2004]; Hempel, S. 209.
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
handlung nach Aktenlage entschieden. Ein „summary judgment“ ergeht grundsätzlich nur dann, wenn nach dem bisherigen Erkenntnisstand die entscheidungserheblichen Tatsachen unstreitig sind.297 Als „unstreitig“ können Tatsachen aber auch dann gelten, wenn die von einer Partei vorgebrachten Beweise aus Sicht des Gerichts unzureichend sind.298 Während sich der Supreme Court anfangs noch wegen der Komplexität kartellrechtlicher Streitigkeiten skeptisch gegenüber der Anwendung eines „summary judgment“ in Kartellzivilverfahren zeigte,299 bestätigte er später dessen grundsätzliche Anwendbarkeit. Der Kläger müsse die Sachumstände dafür vortragen und beweisen, dass ein wettbewerbskonformes Verhalten des Beklagten unwahrscheinlich erscheint.300 Das „summary judgment“ hat im Kartellrecht inzwischen eine große Bedeutung erlangt, da die Gerichte dieses Instrument zunehmend dazu nutzen, um einen exzessiven Gebrauch der dreifachen Schadensersatzklage einzudämmen.301 Die Geschworenen sind an einem solchen Urteil nicht beteiligt, da hier formell nicht über Tatsachen entschieden wird.302 Insgesamt lassen sich somit über die Abkürzung des Verfahrens erhebliche Kosten sparen und missbräuchliche Klagen abwehren. Das aufwendige und kostspielige Discovery-Verfahren kann aber auch hierdurch nicht vermieden werden. f) Beweislast und Beweismaß Auch nach dem US-amerikanischen Prozessrecht muss jede Partei die für sie günstigen Tatsachen beweisen. Im Rahmen der Schadensersatzklage gemäß Sec. 4 Clayton Act trifft somit den Kläger die Beweislast für sämtliche Voraussetzungen. Soweit der Kläger dem Beklagten ein wettbewerbswidriges Verhalten zur Last legt, dass nicht dem per se-Verbot unterfällt, reicht nicht nur der Nachweis einer Wettbewerbsbeschränkung, sondern er muss zusätzlich darlegen und nötigenfalls beweisen, dass diese ein „verständiges“ Maß übersteigt („unreasonable“). Per se-Verbote stellen vor diesem Hintergrund eine Beweiserleichterung zugunsten des Klägers dar.303 Weitere Beweiserleichterungen können sich für Follow-on-Verfahren aus den Feststellungen von Gerichtsurteilen im Rahmen der behördlichen Aufsicht ergeben.304 297 Vgl. Rule 56 (c) Satz 3 Fed. R. Civ. P. („no genuine issue as to any material fact“). 298 Hay, in: Assmann/Bungert, 8. Kap., Rdnr. 242. 299 Poller v. CBS, 368 U.S. 464, 473, 82 S.Ct. 486, 491 (1962). 300 Matsushita Electric Industrial Co., Ltd., et al. v. Zenith Radio Corp. et al., 475 U.S. 574, 588, 106 S.Ct. 1348, 1356 (1986). 301 Calkins, in: White, S. 185 (200). 302 Floyd/Sullivan, S. 854. 303 Hempel, S. 214. 304 Siehe hierzu sogleich unten, S. 204 ff.
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Hinsichtlich des nötigen Beweismaßes bestehen in kartellrechtlichen Verfahren keine Unterschiede zu anderen Zivilverfahren. Maßgeblich ist die überwiegende Wahrscheinlichkeit („preponderance of evidence“).305 Hierbei handelt es sich um einen geringeren Maßstab als im Strafprozess, in welchem eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit erforderlich ist.306 Eine Ausnahme gilt jedoch für die Schadensquantifizierung. Laut Rechtsprechung genügt es hier, dass der Kläger lediglich eine vernünftige Schadensschätzung erbringt.307 4. Follow-on-Verfahren im System der privaten Durchsetzung Eine große Rolle in der privaten Kartellrechtsdurchsetzung spielen sog. Follow-on-Verfahren. Hierbei handelt es sich um Privatklagen, die im Anschluss (teilweise auch bereits während) eines behördlichen Verfahrens gegen den Beklagten erhoben werden.308 Die Ergebnisse der in den 1980er Jahren durchgeführten „Georgetown Study“ zeigen, dass es sich bei einem Viertel der in den USA erhobenen Zivilklagen um solche Anschlussverfahren handelt.309 Während der Anfänge der Privatklage im Antitrust-Recht bis Ende der 1950er Jahre war der Anteil mit rund 75% noch wesentlich höher.310 Der Durchbruch in der privaten Kartellrechtsdurchsetzung beruhte somit in großem Maße auf diesen „Huckepack“-Verfahren. Über 70% der Follow-on-Verfahren betreffen Preiskartelle,311 da hier der Nachweis der Wettbewerbsbeschränkung für den Kläger besonders schwierig ist. Ein weiterer Grund dürfte aber auch darin liegen, dass sich die behördliche Durchsetzung auf Hardcore-Verstöße konzentriert. Zum weit überwiegenden Anteil sind Follow-on-Verfahren Abnehmerklagen.312 Follow-on-Verfahren bieten dem Privatkläger in den USA mehrere Vorteile.313 Zunächst einmal werden Geschädigte häufig erst durch das Verwaltungsverfahren über die Kartellrechtsverletzung in Kenntnis gesetzt. Weiterhin bieten sich dem Kläger gesetzliche und richterrechtliche Erleichterungen im Prozess, die die Förderung des privaten Rechtsschutzes bezwecken. Schließlich kann ein
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Schack, S. 67. Schack, S. 67. 307 Vgl. bereits oben, S. 190 ff. 308 Hempel, WuW 2005, S. 137 (137). 309 Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 (1221) [1986]. 310 Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 (1221) [1986]. Vgl. auch Mailänder, S. 48. 311 Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 (1213) [1986]. 312 Follow-on-Klagen werden zu 60,4% von Abnehmern, zu 15,8% von Wettbewerbern und 14,4% von Händlern erhoben, vgl. Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 (1186) [1986]. 313 Vgl. hierzu Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 (1166 ff.) [1986]. 306
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
Kläger auf zahlreiche Informationen, Daten und Dokumente zurückgreifen, die im Laufe des Verwaltungsverfahrens gesammelt wurden. a) Beweiserleichterungen Sec. 5 (a) Clayton Act314 gewährt dem Kläger eine erhebliche Beweiserleichterung. Hiernach kann ein rechtskräftiges Urteil gegen den Beklagten in einem früheren Zivil- oder Strafverfahren, das von den Kartellbehörden in derselben Sache angestrengt wurde, dem Kläger als prima facie-Beweis dienen. In diesem Fall werden die im vorherigen Verfahren festgestellten Tatsachen, insbesondere der oft schwierig nachzuweisende Verstoß gegen die Antitrust-Gesetze, widerlegbar vermutet.315 Diese Wirkung gilt nur, soweit ein Verstoß gegen den Sherman Act, Clayton Act oder Wilson Tariff Act, nicht aber den FTC Act festgestellt wurde.316 Umfasst sind somit sämtliche Verfahren des Justizministeriums. Vom Wortlaut nicht unmittelbar erfasst sind Entscheidungen, die durch die FTC im Verwaltungsverfahren ergehen.317 Gleichwohl haben die Gerichte auch hier die Wirkung von Sec. 5 (a) Clayton Act anerkannt.318 Ganz bewusst entfalten hingegen sog. „consent decrees“ im Zivilverfahren bzw. „nolo contendere pleas“ im Strafverfahren keine prima facie-Beweiswirkung.319 Hierdurch soll Unternehmen ein Anreiz gegeben werden, mit den Kartellbehörden zusammenzuarbeiten und das behördliche Verfahren möglichst einvernehmlich zu beenden.320 Eine für den Kläger noch viel wichtigere Beweiserleichterung ist die richterrechtlich begründete Bindungswirkung von Präjudizien („collateral estoppel“).321 Tatsachen, über die bereits in einem anderen Urteil gegen den Beklagten rechtskräftig entschieden wurde, werden hiernach nicht mehr neu verhandelt.322 Voraussetzung der Präklusionswirkung ist, dass (1) der Beklagte Partei 314
15 U.S.C. § 16. Vgl. Areeda/Hovenkamp, ¶ 319b; P. Jones, S. 436. 316 P. Jones, S. 435. 317 Vgl. Areeda/Hovenkamp, ¶ 319a. Hier entscheidet weder ein Gericht im Zivilverfahren, noch klagt die FTC im Namen der Vereinigten Staaten. Vom Gesetzeswortlaut ausdrücklich ausgeschlossen ist nur die Anwendbarkeit der Präklusionswirkung („collateral estoppel“). 318 Purex Corp. v. Procter & Gamble Co., 453 F.2d 288, 289 (9th Cir. 1971); Farmington Dowel Prods. Co. v. Forster Mfg. Co. et al., 421 F.2d 61, 76 (1st Cir. 1970). Vgl. auch P. Jones, S. 435; Floyd/Sullivan, S. 1231. 319 Vgl. hierzu oben, S. 168 ff. 320 Sullivan/Hovenkamp, S. 152; Hempel, WuW 2005, S. 137 (138). 321 Näher hierzu: P. Jones, S. 437 ff.; Floyd/Sullivan, S. 1202 ff.; Areeda/Hovenkamp, ¶ 318; allgemein zum „collateral estoppel“ im Zivilprozess: Hay, in: Assmann/Bungert, 8. Kap., Rdnr. 281 ff. 322 Hovenkamp, S. 637; Areeda/Hovenkamp, ¶ 318a. 315
III. Private Durchsetzung des Antitrust-Rechts
205
des Vorprozesses war, (2) die gegenständliche Frage im aktuellen wie im vorherigen Verfahren identisch ist und (3) die Frage nicht nur von geringer Bedeutung für den Ausgang des Vorprozesses gewesen ist.323 Bis in die 1970er Jahren war ferner notwenig, dass beide Parteien am vorigen Verfahren beteiligt waren. 1971 gab der Supreme Court dieses Gegenseitigkeitserfordernis auf.324 In der Parklane Hosiery-Entscheidung325 bekräftigte der Gerichtshof diese Entscheidung, setzte jedoch einer einseitigen Präklusion Grenzen. Ein Kläger kann sich dann nicht auf eine „estoppel“-Wirkung berufen, wenn (1) er dem Vorprozess leicht hätte beitreten können, (2) der Beklagte angesichts der niedrigen Schadenshöhe im Vorprozess nur ein geringes Interesse hatte, sich umfassend zu verteidigen, (3) das Urteil im Vorprozess in Widerspruch zu weiteren Urteilen steht oder (4) dem Beklagten im aktuellen Prozess prozessuale Möglichkeiten offenstehen, die im Vorprozess noch nicht zur Verfügung standen.326 Die Präklusion ist für den Kläger vorteilhafter als die prima facie-Beweiswirkung des Sec. 5 (a) Clayton Act, da sie nicht entkräftet werden kann und auch nicht auf Verfahren beschränkt ist, die von den Kartellbehörden initiiert wurden, sondern auch Privatklagen erfasst (nicht hingegen Verwaltungsentscheidungen der FTC327). Schließlich muss nicht zwingend ein Verstoß gegen Antitrust-Bundesrecht Verfahrensgegenstand im Vorprozess gewesen sein, sondern es genügt u. U. auch eine Verletzung sonstigen Bundesrechts oder eines einzelstaatlichen Kartellrechts.328 b) Hemmung der Verjährung Eine weitere Erleichterung in Follow-on-Verfahren stellt die Verjährungshemmung gem. Sec. 5 (i) Clayton Act329 dar. Hiernach wird die Verjährung eines Schadensersatzanspruchs durch die Einleitung eines behördlichen Zivil- oder Strafverfahrens für den Zeitraum dieses Verfahrens und des darauf folgenden Jahres gehemmt.330 Der Betroffene erhält somit die Gelegenheit, den Ausgang des behördlichen Verfahrens abzuwarten, ohne seinen eigenen Anspruch zu gefährden. Nach der Rechtsprechung gilt die Verjährungshemmung nicht nur für 323
P. Jones, S. 439. Blonder-Tongue Laboratories, Inc. v. University of Illinois Foundation et al., 402 U.S. 313, 350, 91 S.Ct. 1434, 1453 (1971). 325 Parklane Hosiery Co., Inc., et al. v. Shore, 439 U.S. 322, 99 S.Ct. 645 (1979). 326 Parklane Hosiery Co., Inc., et al. v. Shore, 439 U.S. 322, 331 ff., 99 S.Ct. 645, 652 ff. (1979). Vgl. auch Hovenkamp, S. 637. 327 Vgl. Sec. 5 (a) Clayton Act. 328 Areeda/Hovenkamp, ¶ 319c. 329 15 U.S.C. § 16(i). 330 Ebenso wird der Ausschluss möglicher parens patriae-Klagen i. S. d. Sec. 4C Clayton Act gehemmt. Zur Verjährungshemmung siehe insbes. Areeda/Hovenkamp, ¶ 321. 324
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
Verfahren, die vom Justizministerium eingeleitet werden, sondern ebenso für Verwaltungsverfahren der FTC.331 Die gegenständliche Reichweite der Vorschrift wird sehr weit ausgelegt.332 So reichen bereits Überschneidungen zwischen den Gegenständen des behördlichen Verfahrens und der Follow-on-Klage aus. Ferner gilt die Hemmung nicht nur gegenüber den Beklagten der behördlichen Verfahren, sondern auch gegenüber allen anderen Teilnehmern der Wettbewerbsbeschränkung.333 Der deutsche Gesetzgeber hat mit § 33 Abs. 5 GWB nun eine vergleichbare Regelung in das deutsche Kartelldeliktsrecht eingeführt.334 c) Zugriff auf Unterlagen der Behörden Ein letzter wichtiger Vorteil der Follow-on-Klagen ist die Möglichkeit, Zugriff auf die von den Behörden erlangten Informationen und Unterlagen zu nehmen. Einen Anspruch hierauf kann der Privatkläger grundsätzlich aus dem Freedom of Information Act335 ableiten.336 Dieses Recht gilt jedoch nicht ausnahmslos.337 Die Gerichte berücksichtigen bei ihrer Entscheidung insbesondere, dass die Einsichtnahme ein andauerndes behördliches Kartellverfahren nicht beeinträchtigen darf.338 Des Weiteren können Privatkläger auch von den Bundesbehörden – wie von jedem anderen Dritten – im Rahmen des Discovery-Verfahrens Informationen und Auskünfte erlangen.339 Schließlich führen auch die Transparenzvorgaben im Zusammenhang mit dem Abschluss eines „consent decrees“ dazu, dass Informationen und Unterlagen aus dem behördlichen Verfahren Privatpersonen zugänglich werden.340 Die Gerichte schränken diese Veröffentlichungspflichten aber teilweise ein, damit Unternehmen nicht vor einer Kooperation mit den Behörden zurückschrecken.341 Aus Sicht der Kartellbehörden 331 Minnesota Mining & Mfg. Co. v. New Jersey Wood Finishing Co., 381 U.S. 311, 321, 85 S.Ct. 1473, 1479 (1965). Vgl. auch P. Jones, S. 383; Page, S. 79. 332 P. Jones, S. 384. 333 Zenith Radio Corp. v. Hazeltine Research, Inc., 401 U.S. 321, 335, 91 S.Ct. 795, 804 (1971). 334 Vgl. hierzu unten, S. 257 ff. 335 5 U.S.C. § 522. 336 Vgl. Winterscheid, in: Slot/McDonnell, S. 177 (177); Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 (1168) [1986]; P. Jones, S. 443 f. 337 Vgl. 5 U.S.C. § 522 (b). 338 Vgl. Solar Sources, Inc. and Amax Coal Co. v. U.S., 142 F.3d 1033, 1041 (7th Cir. 1998). Vgl. auch 5 U.S.C. § 522 (b) (7) (A). 339 Kauper/Snyder, 74 Geo. L. J., S. 1163 (1168) [1986]; P. Jones, S. 443 f. 340 Vgl. Sec. 5 (b) Clayton Act; 15 U.S.C. § 16 (b). Hiernach muss das Department of Justice den Vergleichsentwurf sowie entscheidende Unterlagen und Dokumente bei Gericht zugänglich machen. Ferner muss es im Federal Register ein sog. „competitive impact statement“ veröffentlichen. 341 Massachusetts School of Law at Andover, Inc. v. U.S., 118 F.3d 776, 784 f. (DC Cir. 1997).
III. Private Durchsetzung des Antitrust-Rechts
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ist ein solcher Zugriff auf behördliche Informationen und Unterlagen problematisch, da hierdurch laufende Verfahren beeinträchtigt und die generelle Bereitschaft einer Zusammenarbeit mit den Behörden gemindert werden kann. Insbesondere im Rahmen des Kronzeugenprogramms sind die Unternehmen aus Sorge vor einem Zugriff durch Dritte dazu übergegangen, nur mündliche Stellungnahmen gegenüber dem Justizministerium abzugeben. 5. Aktuelle Entwicklungen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung In jüngster Zeit hat der Gesetzgeber einige gesetzliche Änderungen herbeigeführt, die die private Kartellrechtsdurchsetzung sowohl in materieller wie prozessualer Hinsicht modifizieren. Weitere Reformen wurden jüngst durch die Antitrust Modernization Commission vorbereitet. a) Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Reform Act 2004 Eine weitreichende Veränderung hat das US-Kartellrecht durch den Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Reform Act342 im Jahre 2004 erfahren. Im Wesentlichen modifiziert dieser das Antitrust-Recht in drei Bereichen: Zum einen wurde das strafrechtliche Sanktionssystem verschärft, indem die Strafrahmen für Geld- und Freiheitsstrafen für Verstöße gegen Vorschriften des Sherman Act erheblich angehoben wurden. Für natürliche Personen beträgt die maximale Geldstrafe anstatt 350.000 nunmehr 1 Mio. US-Dollar. Ebenfalls kann eine Freiheitsstrafe von bis zu 10 Jahren (statt bisher drei Jahren) verhängt werden. Die maximale Geldbuße für Unternehmen wurde auf 100 Mio. US-Dollar verzehnfacht.343 Als zweiten Bereich schaffte das Gesetz leichte Änderungen hinsichtlich des Verfahrens zur Erlangung eines „consent decrees“ im Rahmen der behördlichen Durchsetzung durch das Justizministerium.344 Von entscheidender Bedeutung für die private Rechtsdurchsetzung ist die Neuregelung durch Sec. 213 des Gesetzes. Mit dieser Regelung soll die Teilnahme am Kronzeugenprogramm („corporate leniency policy“) des Justizministeriums gefördert und somit die Kartellrechtsdurchsetzung insgesamt erhöht werden. Bisher hatte die Teilnahme am Kronzeugenprogramm keine Auswirkungen auf die zivilrechtliche Haftung gegenüber den Geschädigten. Von nun an aber kommen die Teilnehmer in den Genuss einer beschränkten zivilrechtlichen Haftung. Zum einen sieht Sec. 213 für Kronzeugen ein sogenanntes „detrebling“ vor, d.h. diese haften nur noch für den tatsächlich entstandenen 342 343 344
Pub. L. No. 108-237, 118 Stat. 665. Sec. 215 des Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Reform Act. Sec. 221 des Antitrust Criminal Penalty Enhancement and Reform Act.
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
Schaden; die sonst übliche Verdreifachung gemäß Sec. 4 Clayton Act findet nicht statt. Unklar ist jedoch, inwieweit sich diese Regelung auch bei den in der Praxis häufig geschlossenen Vergleichen auswirkt.345 Weiterhin enthält die Vorschrift eine Ausnahme vom Grundsatz der gemeinschaftlichen Haftung, d.h. die Haftung der Kronzeugen beschränkt sich auf jene Schäden, die durch den Handel mit dem Unternehmen entstanden sind. Schäden, die die anderen Teilnehmer des Kartells verursacht haben, bleiben außen vor. Auch diese Regelung wirft einige Fragen auf. Sie ist primär auf Hardcore-Kartelle, insbesondere Preiskartelle, ausgerichtet. Unklar ist jedoch, wie zu verfahren ist, wenn eine solche Zuordnung nicht so leicht vorzunehmen ist, wie etwa bei Boykotten oder Submissionsabsprachen, wo gerade kein Handel stattgefunden hat.346 Diese Begrenzung gilt ausdrücklich nicht nur für die Haftung bei Verstößen gegen den Sherman Act, sondern auch bei Verletzungen vergleichbarer Kartellgesetze der Bundesstaaten. Dem ersten Anschein nach könnte man meinen, die privatrechtliche Durchsetzung müsse hier zugunsten der behördlichen Durchsetzung zurücktreten. Dies stimmt jedoch nur begrenzt, da die genannten Privilegierungen nicht nur eine Kooperation mit dem Justizministerium, sondern auch eine „zufriedenstellende“ Zusammenarbeit mit dem Privatkläger voraussetzen.347 Dies schließt unter anderem eine vollständige Sachverhaltsaufklärung durch den Kronzeugen und ein Zurverfügungstellen aller für das Zivilverfahren relevanten Unterlagen ein, die sich in dessen Besitz befinden. Das im Privatklageverfahren zuständige Gericht entscheidet, ob diese Voraussetzung erfüllt ist. Somit wird ein Privatkläger aufgrund der gesetzlichen Änderungen künftig wahrscheinlich sogar besser stehen: Zum einen wird das zivilrechtliche Vorgehen gegen den Kronzeugen erleichtert und zum anderen wird sich die Position des Klägers in einem Verfahren gegen die anderen Kartellanten erheblich verbessern. Diese werden vom Kronzeugen förmlich „ans Messer geliefert.“ b) Class Action Fairness Act 2005 Eine weitere Gesetzesänderung, die Auswirkungen auf die private Kartellrechtsdurchsetzung hat, ist der Class Action Fairness Act von 2005 (CAFA).348 Der CAFA enthält zwei Regelungsbereiche: Zum einen erweitert er den Schutz von Gruppenmitgliedern einer Sammelklage vor einem für sie ungünstigen Vergleichsschluss.349 Hierauf soll nicht weiter eingegangen werden. 345
Davidow, W. Comp. 2005, S. 299 (301). Davidow, W. Comp. 2005, S. 299 (300). 347 Vgl. Sec. 213 (b) Criminal Penalty Enhancement and Reform Act. 348 Pub. L. No. 109-2, 119 Stat. 4 (28 U.S.C. § 1711). Vgl. hierzu: Herr/McCarthy, 228 F.R.D., S. 673 ff. [2005]; Simmons/Borden, 20 Antitrust ABA, S. 19 ff. [Fall 2005]. 349 Vgl. Sec. 3 CAFA. 346
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Aus kartellrechtlicher Sicht wichtiger ist der zweite Regelungsbereich, der sich mit der sachlichen Zuständigkeit von Bundesgerichten befasst.350 Dieser Frage kommt im Rahmen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung eine hervorgehobene Bedeutung zu, da insbesondere die „indirect purchaser rule“ und die von den Bundesstaaten erlassenen „repealer statutes“ dazu geführt haben, dass Unternehmen bei Verletzungen des Antitrust-Rechts wegen desselben Verhaltens unzähligen Verfahren vor Bundesgerichten und Gerichten der Einzelstaaten ausgesetzt sind.351 Die damit einhergehenden Probleme von konträren Urteilen und einer mehrfachen Inanspruchnahme können nicht nur über die Konzepte des „standing to sue“ und „antitrust injury“, sondern auch über die gerichtliche Zuständigkeit verringert werden, wenn möglichst alle Verfahren, denen derselbe Sachverhalt zugrunde liegt, miteinander verbunden werden könnten.352 Dies ist derzeit nur sehr eingeschränkt möglich, weil eine Verfahrensverbindung nach dem Multidistrict Litigation Act353 nur für Verfahren vor Bundesgerichten und nach dem Lexecon-Urteil auch nur zur Durchführung des Discovery-Verfahrens möglich ist. Bundesgerichte jedoch haben bisher in Kartellverfahren nur die Zuständigkeit für Ansprüche nach dem Antitrust-Bundesrecht. Für Ansprüche aus dem Kartellrecht der Einzelstaaten besteht nur ausnahmsweise eine Annexzuständigkeit, wenn diese mit Ansprüchen aus Bundesrecht zusammenhängen.354 Ferner kann sich eine Zuständigkeit bei staatenübergreifendem Zusammenhang („diversity“) ergeben, wenn die Parteien nicht demselben Bundesstaat angehören und der Streitwert 75.000 US-Dollar übersteigt.355 Sammelklagen mittelbarer Abnehmer fielen meist nicht in die letzte Kategorie, da die Rechtsprechung verlangte, dass der Anspruch eines jeden Gruppenmitgliedes den Mindeststreitwert erreichen musste,356 Verbraucher jedoch meist nur Kleinstschäden erleiden. Der CAFA erweitert nun die Zuständigkeit der Bundesgerichte für staatenübergreifende Sammelklagen. Bundesgerichte sind auch dann zuständig, wenn (1) einer der Kläger und einer der Beklagten nicht demselben Bundesstaat angehören, (2) der zusammengefasste Streitwert der ganzen Klasse 5 Mio. US-Dollar übersteigt und (3) die Klasse mindestens 100 Mitglieder zählt.357 Soweit die
350
Vgl. Sec. 4 und 5 CAFA. Siehe bereits oben, S. 198 ff. 352 Vgl. Cavanagh, 17 Loy. Consumer L. Rev., S. 1 (44) [2004]. 353 Vgl. auch Lexecon, Inc. et al. v. Milberg Weiss Bershad Hynes & Lerach et al., 523 U.S. 26, 40 f. 118 S.Ct. 956, 964 (1998); Sullivan/Hovenkamp, S. 73; Koob/Kazanoff, in: Global Counsel Competition Law Handbook 2004/05, S. 29. 354 28 U.S.C. § 1367. Von dieser Möglichkeit wurde in den letzten Jahren verstärkt Gebrauch gemacht. 355 28 U.S.C. § 1332 (a). 356 Zahn et al. v. Int’l Paper Co., 414 U.S. 291, 301, 94 S.Ct. 505, 512 (1973). 357 Vgl. 28 U.S.C. § 1332 (d) (2) n. F. Hiervon gibt es jedoch fakultative und obligatorische Ausnahmen, wenn u. a. mehr als ein Drittel bzw. mehr als zwei Drittel der 351
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
Zuständigkeit gegeben ist und die Klage vor einem Gericht eines Einzelstaates erhoben wurde, kann der Beklagte die Verweisung an ein Bundesgericht beantragen.358 Mit Anhängigkeit bei einem Bundesgericht besteht sodann die Möglichkeit einer Verfahrensverbindung nach dem Multidistrict Litigation Act. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass materiellrechtlich weiterhin das Recht des jeweiligen Einzelstaates maßgeblich bleibt. Ob diese Veränderungen dazu führen, dass Unternehmen nicht wegen derselben Sachen vor unzähligen Gerichten verhandeln müssen, bleibt abzuwarten. Einige Experten rechnen damit, dass Klagen mittelbarer Abnehmer künftig überwiegend vor Bundesgerichten verhandelt werden.359 Zumindest solange entsprechend der Lexecon-Rechtsprechung die Verfahrensverbindung nur für das Discovery-Verfahren gilt, besteht aber weiterhin die Gefahr konträrer Gerichtsentscheidungen und einer mehrfachen Inanspruchnahme.360 c) Antitrust Modernization Commission Im Jahre 2002 wurde die Antitrust Modernization Commisson (AMC)361 vom Kongress eingesetzt und damit beauftragt, die Antitrust-Gesetze auf ihre Reformbedürftigkeit zu untersuchen, hierzu Stellungnahmen von Experten einzuholen und schließlich dem Kongress und dem Präsidenten einen Bericht über die zu ergreifenden Maßnahmen vorzulegen. Die Kommission bestand aus zwölf Mitgliedern, die jeweils zu einem Drittel vom Senat, Repräsentantenhaus und vom Präsidenten ernannt wurden.362 Die AMC hatte mehrere Arbeitsgruppen gebildet, die sich mit unterschiedlichen Themenkreisen beschäftigten. Die „Remedies Study Group“ untersuchte insbesondere, ob die Verdreifachung des Schadensersatzes weiterhin Bestand haben soll, bereits eine Verzinsungspflicht vor Urteilsverkündung eingeführt werden soll, wie Klagen mittelbarer Abnehmer gehandhabt werden sollen oder ob Änderungen hinsichtlich Kostenerstattung, gemeinschaftlicher Haftung oder der Klage auf Erlass einer „injunction“ notwendig sind. Die eingereichten Stellungnahmen zeigten, dass eine umfassende Änderung des Antitrust-Rechts von den Experten nicht befürwortet wurKlassenmitglieder demselben Staat angehören, vgl. § 1332 (d) (3)–(4). Vgl. hierzu auch Areeda/Hovenkamp, ¶ 2412. 358 Vgl. 28 U.S.C. §§ 1441, 1446 und 1453 n. F. 359 Simmons/Borden, 20 Antitrust ABA, S. 19 (19) [Fall 2005]. 360 Aus diesem Grunde kritisch Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 272. 361 Vgl. den Antitrust Modernization Commission Act von 2002, Pub. L. No. 107273, 116 Stat. 1856. Kritisch hierzu Sagers, ZWeR 2006, S. 278 ff. 362 Aufgrund der einseitigen Auswahl der Mitglieder, die mehrheitlich den tendenziell industriefreundlichen Großkanzleien entstammten, sah sich die Arbeit der AMC nachhaltiger Kritik ausgesetzt, vgl. Sagers, ZWeR 2006, S. 278 (286 ff.).
IV. Ergebnis
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de.363 Die Arbeitsgruppe Kartellrecht der American Bar Association364 hat jedoch vorgeschlagen, die Illinois Brick-Entscheidung (nicht hingegen Hanover Shoe) aufzuheben und somit auf Bundesebene Klagen mittelbarer wie unmittelbarer Abnehmer zuzulassen. Ein abschließender Bericht der Antitrust Modernization Commission ist im April 2007 vorgelegt worden.365 Hierin spricht sie sich u. a. dafür aus, an der Verdreifachung des Schadensersatzes festzuhalten. Ebenso soll keine generelle Vorschrift zur Verzinsung vor Urteilsverkündung in das Antitrust-Recht aufgenommen werden, da dem Kompensationsinteresse der Geschädigten angesichts der Verdreifachung des Schadens bereits nach bisheriger Rechtslage ausreichend Rechnung getragen werde. Des Weiteren sieht die Kommission keinen Änderungsbedarf hinsichtlich der kartellrechtsspezifischen Abweichung von der sog. „American rule“ i. R. d. Kostenerstattung. Hingegen wird aber vorgeschlagen, die „indirect purchaser rule“ durch eine Klarstellung im Gesetz aufzugeben. Künftig – so der Vorschlag – sollen sowohl mittelbare wie auch unmittelbare Abnehmer potentiell anspruchsberechtigt i. S. d. Sec. 4 Clayton Act sein. Einen generellen Ausschluss der „passing-on defense“ soll es im Gegenzug nicht mehr geben. Des Weiteren soll durch eine Änderung im Bereich des Verfahrensrechts erreicht werden, dass Schadensersatzverfahren in derselben Sache möglichst nur vor einem Gericht verhandelt werden. In Erweiterung der Bestrebungen des Class Action Fairness Act und unter Aufhebung der Lexecon-Rechtsprechung sollen künftig parallele Verfahren vor einzelstaatlichen Gerichten wie auch vor Bundesgerichten für das gesamte Verfahren verbunden und so bei einem Gericht gebündelt werden können. In diesem Verfahren soll das Gericht dann verbindlich über die Verteilung der Schäden über die verschiedenen Marktstufen entscheiden. Es bleibt abzuwarten, inwieweit der Kongress diese Vorschläge aufgreifen und es tatsächlich zu einer Neufassung von Sec. 4 Clayton Act kommen wird.
IV. Ergebnis Der Blick auf das US-amerikanische Antitrust-Recht zeigt, dass ein in der Praxis geübtes Kartelldeliktsrecht durchaus erreicht werden kann und die private Kartellrechtsdurchsetzung eine wichtige öffentliche Funktion wahrnimmt. Die kartellrechtliche Schadensersatzklage gem. Sec. 4 Clayton Act hat heutzu363 Vgl. bspw. die Stellungnahme des American Antitrust Institute, abrufbar im Internet unter: http://govinfo.library.unt.edu/amc/public_studies_fr28902/remedies.htm (zuletzt: 20.08.2008). 364 Vgl. ABA Sec. of Antitrust Law, Report on Remedies, abrufbar im Internet unter: http://www.abanet.org/antitrust/at-comments/2004/reports/RemediesReportCouncil. pdf (zuletzt: 20.08.2008). 365 Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations.
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Kap. 3: Schadensersatz im US-amerikanischen Antitrust-Recht
tage eine überragende Bedeutung in der Durchsetzung des amerikanischen Kartellrechts. Sie dient nicht allein dem Ausgleich individuell erlittener Schäden, sondern erfüllt ebenso eine wichtige Präventivfunktion. Die massiven Unterschiede in der praktischen Bedeutung des kartellrechtlichen Schadensersatzes zwischen den USA und Deutschland bzw. der EU lassen sich durch die zahlreichen Anreize erklären, die das US-amerikanische Recht für Privatkläger bereithält. Zunächst ist in diesem Zusammenhang die Verdreifachung des Schadensersatzes zu nennen. Die Bedeutung der „treble damages“ für die Attraktivität der Privatklage sollte gleichwohl nicht überbewertet werden, da insbesondere die fehlende Verzinsung vor Urteilsverkündung und die beträchtlichen Erfolgshonorare die Ersatzleistung schmälern. Als weiterer Anreiz im US-System ist die gezielte Förderung von Follow-on-Verfahren zu nennen. Diese erfolgt insbesondere über die Anscheinsbeweiswirkung von Urteilen in kartellbehördlich initiierten Gerichtsverfahren bzw. über die Präklusion durch die „collateral estoppel“-Doktrin und die Verjährungshemmung während der Verfahren der kartellbehördlichen Aufsicht. Auch ansonsten sind in den prozessualen Rahmenbedingungen entscheidende Erleichterungen festzustellen. So profitieren Kläger von einer vereinfachten Sachaufklärung durch Discovery-Verfahren und Beweiserleichterungen insbesondere in Hinblick auf den Schadensnachweis. Die typische Beweisnot der Opfer von Wettbewerbsbeschränkungen wird hierdurch gelindert. Ebenso bietet die Möglichkeit der Sammelklage ein schlagkräftiges Instrument zur privaten Durchsetzung in Fällen von Streuschäden auf Ebene der Endverbraucher. Schließlich ist die Schadensersatzklage im Antitrust-Recht wegen der üblichen Erfolgshonorare und einer klägerfreundlichen Kostenregelung mit einem minimalen Kostenrisiko für die Geschädigten verbunden. Die effektive Ausgestaltung der Schadensersatzklage im Antitrust-Recht ist jedoch auch mit negativen Aspekten behaftet. Zum einen zeigt sich, dass ein besonders klägerfreundliches System besondere Mechanismen bereithalten muss, um Missbräuchen und Exzessen begegnen zu können. In den USA wird oftmals kritisiert, dass der Schadensersatzklage (insbesondere in Kombination mit einer Sammelklage) ein hohes Erpressungspotential zukomme, das dazu führe, dass auch zu Unrecht verklagte Unternehmen zu einem Vergleichsschluss gedrängt werden. Im Zusammenhang mit den Sammelklagen darf ebenfalls nicht vergessen werden, dass diese mitunter wenig zum Schadensausgleich zugunsten der Geschädigten beitragen,366 sondern allenfalls eine lukrative Einnahmequelle für die Anwaltschaft darstellen. Die Anwälte und nicht die Geschädigten sind deshalb oftmals die treibende Kraft der „class actions“. Ferner ist auch das Discovery-Verfahren mit Nachteilen verbunden. So kann es durch Wettbewerber zur Ausforschung der Konkurrenz missbraucht werden, in jedem Fall ist es jedoch für die Parteien recht zeit- und kostenaufwendig. Auch der Geschwo366
Antitrust Modernization Commission, Report and Recommendations, S. 273.
IV. Ergebnis
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renenprozess stößt in Kartellzivilverfahren an seine Grenzen. Eine Laienjury ist oftmals mit der Bewertung kartellrechtlicher Zusammenhänge überfordert, lässt sich deshalb z. T. von sachwidrigen Gesichtspunkten leiten und ist manches Mal geneigt, aus Solidarität mit dem in der Regel wirtschaftlich unterlegenen Kläger exorbitante Summen zuzusprechen.367 Schließlich zeigt der Blick ins AntitrustRecht, dass auch dort Schwierigkeiten bestehen, den Kreis der anspruchsberechtigten Personen genau abzugrenzen. Die bisher von der Rechtsprechung unternommenen Versuche, den subjektiven Anwendungsbereich der Sec. 4 Clayton Act einzuschränken, sind vielfach misslungen, weil entweder – wie etwa i. R. d. „standing to sue“ – zu weiche Kriterien entwickelt wurden, die wenig zur Rechtsklarheit beitragen konnten, oder aber eine leicht zu handhabende Grenzziehung – wie etwa durch die „indirect purchaser rule“ – gewählt wurde, die rechtspolitisch fragwürdig erscheint. Im Unterschied zur bisherigen Handhabung i. R. d. § 33 GWB a. F. ist in den USA aber unumstritten, dass insbesondere Wettbewerber und Abnehmer in den Schutzbereich des Kartellrechts fallen.
367 So auch Wagner, 66. Dt. Juristentag, S. A 68 m. w. N. hinsichtlich der Zuerkennung von „punitive damages“.
Kapitel 4
Die 7. GWB-Novelle: Die Änderungen im Bereich des kartellrechtlichen Schadensersatzes I. Einleitung Die rechtlichen Rahmenbedingungen des kartellrechtlichen Schadensersatzes wurden durch die 7. GWB-Novelle1 wesentlich umgestaltet. Die Verbesserung des privaten Rechtsschutzes war ein zentrales Element der Reform. Auf diese Weise setzte sich die mit der Modernisierung des EG-Kartellverfahrensrechts eingeleitete Aufwertung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung nun auch auf nationaler Ebene fort. Im Laufe des Reformprozesses haben sich der Gesetzgeber und die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Sachverständigen immer wieder mit der Ausgestaltung im US-amerikanischen Antitrust-Recht auseinandergesetzt. Ein so weitgehendes zivilrechtliches Haftungsregime hat man für das deutsche Kartellrecht allerdings nicht gewählt. Insgesamt haben die zahlreichen Änderungen aber zu einer Haftungsverschärfung für Kartellverstöße geführt. Im Übrigen wurde durch die Reform nun auch für das deutsche Recht klargestellt, dass die private Durchsetzung des Kartellrechts nicht nur dem Rechtsschutz des Einzelnen dient, sondern angesichts ihrer systemerhaltenden Wirkung zusätzlich eine öffentliche Funktion erfüllt.2 Für die Bewertung der vollzogenen Änderungen ist zunächst ein Blick auf die mit der 7. GWB-Novelle verbundenen Ziele und den späteren Gang im Gesetzgebungsverfahren zu werfen. Hiernach sollen in einem Überblick die Neuerungen im Kartellprivatrecht skizziert und im Anschluss daran im Einzelnen näher beleuchtet werden. Einige der Neuerungen können nur in einem größeren Kontext sinnvoll betrachtet werden. Dies betrifft zum einen die Regelung zur Schadensabwälzung gem. § 33 Abs. 3 Satz 2 GWB (sog. „passing-on defense“) und zum anderen die Vorschrift des § 33 Abs. 3 Satz 3 GWB zur Schadensbemessung. Angesichts der Vielzahl der hierbei zu berücksichtigenden Interessen und Aspekte soll auf diese Problemkreise im Rahmen der Kapitel 53 und 64
1
BGBl. I 2005, 1954. Zur Funktion des Schadensersatzes im neuen Kartelldeliktsrecht siehe ausführlich unten, S. 324 ff. 3 Vgl. unten, S. 281 ff. 4 Vgl. unten, S. 407 ff. 2
II. Ausgangslage und Ziele der Novelle
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ausführlich eingegangen werden. Eine abschließende Bewertung der 7. GWBNovelle erfolgt sodann in Kapitel 7.5
II. Ausgangslage und Ziele der Novelle Der primäre Anlass für die Novellierung des GWB lag zunächst in der Modernisierung des europäischen Kartellrechts, die Ende 2002 zur Verabschiedung der VO 1/2003 geführt hatte und zum 1. Mai 2004 in Kraft treten sollte.6 Kern der europäischen Reformbemühungen war eine verstärkte Dezentralisierung der Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln und eine hierdurch ermöglichte Neufokussierung der Aufsichtstätigkeit durch die Kommission. Gleichzeitig damit wurde der Vorrang des europäischen Rechts gegenüber den nationalen Wettbewerbsordnungen erheblich ausgeweitet, sodass dem deutschen Kartellrecht grundsätzlich nur noch in Fällen von Wettbewerbsbeschränkungen mit rein lokalen oder regionalen Auswirkungen eine eigenständige Bedeutung zukommen würde (vgl. Art. 3 VO 1/2003). Angesichts dieser Neuerungen sah sich der deutsche Gesetzgeber zu einer weitgehenden Anpassung des GWB an das EG-Kartellrecht veranlasst. Dies geschah im Wesentlichen durch eine Überführung des Prinzips der Legalausnahme in das GWB und durch eine Einführung einer dem Art. 81 Abs. 3 EG entsprechenden Generalklausel (§ 2 Abs. 1 GWB), die die bisherigen speziellen Freistellungstatbestände ersetzen sollte. Europäische Gruppenfreistellungsverordnungen finden nun auch im deutschen Recht entsprechend Anwendung (§ 2 Abs. 2 GWB). Ebenso wurde die Differenzierung zwischen horizontalen und vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen in der Systematik des GWB aufgegeben, so dass § 1 GWB künftig auch vertikale Wettbewerbsbeschränkungen erfasst.7 Aus Sicht des Gesetzgebers waren für die Anpassung an das EG-Kartellrecht in erster Linie drei Gründe ausschlaggebend. Zunächst wollte man hiermit vermeiden, dass kleinere und mittlere Unternehmen durch schärfere nationale Wettbewerbsregeln gegenüber Großunternehmen benachteiligt würden, da sie wegen der oftmals fehlenden zwischenstaatlichen Spürbarkeit ihrer Verhaltensweisen im Zweifel nur dem nationalen Recht unterliegen.8 Weiterhin befürchtete man eine Rechtsunsicherheit im Graubereich solcher Wettbewerbsbeschränkungen, bei denen unklar ist, ob sie in den Anwen5
Vgl. unten, S. 475 ff. Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 21. Näheres zur Reform des europäischen Kartellrechts siehe oben, S. 139 ff. 7 Für einen Überblick über die weiteren Änderungen durch die 7. GWB-Novelle siehe Bechtold/Buntscheck, NJW 2005, S. 2966 ff.; Fuchs, WRP 2005, S. 1384 ff.; Hartog/Noack, WRP 2005, S. 1396 ff.; Kahlenberg/Haellmigk, BB 2005, S. 1509 ff.; Lutz, WuW 2005, S. 718 ff. 8 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 21; so auch bereits Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Entwurf von Eckwerten einer 7. GWB-Novelle vom 24.02.2003, WuW 2003, S. 379 (379). 6
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
dungsbereich des europäischen oder des deutschen Kartellrechts fallen.9 Schließlich wollte man mit einer weitgehend parallelen Ausgestaltung der Regeln des GWB mit dem EG-Kartellrecht einen Beitrag zur Schaffung eines einheitlichen Wettbewerbsrechts in Europa leisten.10 Den Unternehmen sollten hierdurch die Vorteile eines sog. „level playing field“ im europäischen Binnenmarkt offenstehen. Ein weiteres grundlegendes Ziel der 7. GWB-Novelle lag in der Aufwertung des Kartellprivatrechts. Dies war zunächst nicht ohne weiteres absehbar. Die vom Wirtschaftsministerium Anfang 2003 erarbeiteten Eckpunkte einer Novelle11 ließen die private Kartellrechtsdurchsetzung noch gänzlich außen vor. Aber bereits in den ersten Referentenentwürfen wurde eine wesentliche Umgestaltung des alten § 33 GWB ins Auge gefasst, um eine verbesserte Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen zu erzielen. Diese Aufwertung des Kartellprivatrechts war zum einen wegen der Umstellung auf ein System der Legalausnahme für nötig erachtet worden. Hiermit verbunden sah man nämlich eine verminderte behördliche Kontrolldichte gegenüber wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen.12 Eine Verschärfung des Kartelldeliktsrechts sollte somit eine Einbuße an Wettbewerbsschutz verhindern helfen. Des Weiteren dürfte hinsichtlich der Neufassung des § 33 GWB aber auch ganz generell die Einsicht eine Rolle gespielt haben, dass die zivilrechtlichen Sanktionen (und dabei insbesondere der kartellrechtliche Schadensersatz) ohne einen Eingriff durch den Gesetzgeber auch weiterhin in der Praxis bedeutungslos geblieben wären. Dies wurde nicht zuletzt im Sommer 2003 durch die erfolglosen Abnehmerklagen vor den Landgerichten Berlin und Mannheim eindrucksvoll vor Augen geführt.13 Ähnliche Entscheidungen ergingen in den Folgemonaten in der weiteren Auseinandersetzung mit dem Vitaminkartell der 1990er Jahre.14 Wirksamer Rechtsschutz auf diesem Gebiet wurde durch die faktischen, gesetzlich bedingten aber eben auch richterrechtlich aufgestellten Hürden blockiert.15 Noch während des Gesetzgebungsverfahrens kam auch die europaweite Ashurst-Studie zu 9
Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 22. Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 23. 11 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Entwurf von Eckwerten einer 7. GWB-Novelle vom 24.02.2003, WuW 2003, S. 379 ff. 12 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 35. Diese Begründung ist in der Literatur als „irreführend“ kritisiert worden, da die mit der Stärkung des zivilrechtlichen Rechtsschutzes primär ins Auge gefassten Fälle von Preis- und Quotenkartelle von der Umstellung auf das System der Legalausnahme nicht betroffen waren, vgl. Lübbig, WRP 2004, S. 1254 (1259); Bechtold, DB 2004, S. 235 (239). 13 Vgl. LG Berlin WuW/E DE-R 1325 ff. – Berliner Transportbeton II; LG Mannheim GRUR 2004, 182 ff. – Vitaminkartell. 14 Vgl. OLG Karlsruhe WuW/E DE-R 1229 ff. – Vitaminpreise; LG Mainz WuW/E DE-R 1349 ff. – Vitaminpreise Mainz; anders aber LG Dortmund WuW/E DE-R 1352 ff. – Vitaminpreise Dortmund. 15 Vgl. hierzu bereits oben, S. 89 ff. 10
II. Ausgangslage und Ziele der Novelle
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dem Schluss, dass das damalige zivilrechtliche Haftungsregime im GWB unzureichend ausgestaltet war und Handlungsbedarf bestand.16 Schließlich wollte der Gesetzgeber vor dem Hintergrund der jüngsten EuGH-Rechtsprechung das nationale Recht europarechtskonform ausgestalten.17 Der Gesetzgeber war nunmehr fest entschlossen, „ein effektives zivilrechtliches Sanktionssystem“ zu entwerfen.18 Hierbei griff er ganz entscheidend auf das US-amerikanische Funktionsverständnis des Schadensersatzes zurück: Der Schadensersatz i. R. d. § 33 GWB sollte nicht mehr allein der Kompensation dienen, sondern von ihm sollte zusätzlich eine „spürbare Abschreckungswirkung“ ausgehen.19 Dieser Vorstoß stieß auf ein geteiltes Echo. Auf Seiten der Industrie hielt man eine Ausweitung der privaten Sanktionen nicht für erforderlich. Eine Anlehnung an das US-amerikanische Recht hielt man für „falsch“ und geradezu „schädlich“.20 Hierzu wies man vornehmlich auf mögliche Systembrüche hin, die sich aus einer Verquickung unserer Rechtsordnung mit Elementen des US-amerikanischen Kartellrechts ergäben. Entscheidend dürfte aber eher die Sorge gewesen sein, mit den gemachten Vorschlägen den drakonischen Haftungsfolgen des US-Rechts Tür und Tor zu öffnen. Weitaus positiver wurde die Initiative zur Verschärfung des Kartelldeliktsrechts vonseiten der Lehre und der Monopolkommission aufgenommen.21 Angesichts der parallelen Entwicklung auf europäischer Ebene, insbesondere der Ankündigung der Kommission, auf dem Gebiet des kartellrechtlichen Schadensersatzes ein Grünbuch ausarbeiten zu wollen, konnte sich die Bundesregierung in ihrem Vorhaben nur bestätigt sehen. Der private Rechtsschutz hatte in wenigen Jahren in der kartellrechtlichen Diskussion einen ernormen Bedeutungszuwachs erhalten. Zahlreiche Gremien und Konferenzen widmeten sich plötzlich dem Thema des „private enforcement“. Dabei ging es nun nicht mehr so sehr darum, ob sondern vielmehr nur in welcher Form eine Verschärfung des Kartelldeliktsrechts erfolgen sollte.
16 Vgl. Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, „Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules“ und den hierfür von Wach/ Epping u. a. erstellten Deutschland-Teil. 17 Vgl. EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 – Courage. Vgl. hierzu Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 35. 18 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 35. 19 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 35. Ablehnend aber etwa die Stellungnahme des BDI zum RegE, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 30 (für eine ausschließliche Kompensation). 20 Vgl. hierzu die Anhörung der Sachverständigen Becher u. Reppelmund vor dem Ausschuss für Wirtschaft u. Arbeit, Prot. 15/67, S. 1108. Siehe ferner die schriftliche Stellungnahme des BDI zum RegE, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 30 ff. 21 Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 36; Stellungnahmen der Sachverständigen Fuchs, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 51; Böge, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 63; Bornkamm, Ausschuss-Drs. 15(9)1359, S. 2. Zustimmend auch Hempel, WuW 2004, S. 362 (374); Schütt, WuW 2004, S. 1124 ff.; skeptisch hingegen etwa: Lübbig, WRP 2004, S. 1254 (1259 f.); Möschel, WuW 2006, S. 115.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
III. Die 7. GWB-Novelle im Gesetzgebungsverfahren Im Gesetzgebungsverfahren der 7. GWB-Novelle kam es zu einigen Verzögerungen und zahlreichen Änderungen. Von der Ergreifung der ersten Reforminitiative bis zum Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle vergingen rund zweieinhalb Jahre. Die Bundesregierung hatte erstmals im Januar 2003 in ihrem Jahreswirtschaftsbericht eine Überarbeitung des GWB angekündigt.22 Ende Februar 2003 stellte das Bundeswirtschaftsministerium hierzu die ersten Eckpunkte der geplanten Reform der Öffentlichkeit vor und forderte die interessierten Kreise zur Abgabe von Stellungnahmen auf.23 Parallel hierzu wurde ebenfalls eine aus Vertretern der Industrie, Anwaltschaft und Wissenschaft bestehende „Expertengruppe 7. GWB-Novelle“ einberufen, die die Ausarbeitung eines Entwurfs fachlich begleiten sollte. Am 17. Dezember 2003 wurde nach einigen Vorentwürfen ein erster Referentenentwurf vorgestellt, zu dem die Monopolkommission im März 2004 im Rahmen eines Sondergutachtens Stellung nahm.24 Der Referentenentwurf sah für den Bereich des Kartelldeliktsrechts weitgehende Änderungen wie etwa eine Neufassung der Anspruchsberechtigung durch die Aufgabe des bisherigen Schutzgesetzprinzips, einen expliziten Ausschluss des Einwands der Schadensabwälzung sowie einen zum Schadensersatz alternativen Anspruch auf Gewinnherausgabe zugunsten des Geschädigten vor. In einem späteren, am 26. Mai 2004 vom Bundeskabinett beschlossenen Entwurf wurden die genannten Neuerungen jedoch wieder zurückgenommen oder wenigstens abgemildert. In dieser Fassung wurde der Regierungsentwurf sodann dem Bundesrat zugeleitet25 und am 12. August 2004 in den Bundestag eingebracht.26 Schon zuvor hatte sich abgezeichnet, dass der ursprünglich ins Auge gefasste Termin eines Inkrafttretens zum 1. Mai 2004, der ein paralleles Wirksamwerden des neuen GWB mit dem modernisierten EG-Kartellrecht ermöglicht hätte, nicht einzuhalten war. Insbesondere die ebenfalls im Rahmen der 7. GWB-Novelle intendierten Sonderregeln im Bereich der Pressefusion sorgten für erhebliche politische Auseinandersetzung und Verzögerungen, die wegen der plötzlich verkürzten Legislaturperiode beinahe zu einem vorläufigen Scheitern der Reform geführt hätten. Schließlich konnte jedoch die 7. GWB-Novelle doch noch mit einer Verspätung von 14 Monaten auf den Weg gebracht werden. Zuvor hatte der Entwurf für § 33 GWB jedoch noch mehrmals Änderungen erfahren. Der im Bundestag federführende Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit hatte nach nochma22 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Jahreswirtschaftsbericht 2003, S. 58. 23 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Entwurf von Eckwerten einer 7. GWB-Novelle vom 24.02.2003, WuW 2003, S. 379 ff. 24 Monopolkommission, SG Nr. 41, Das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, 2004. 25 RegE, BR-Drs. 441/04. 26 RegE, BT-Drs. 15/3640.
IV. Änderungen im zivilrechtlichen Sanktionssystem im Überblick
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liger Anhörung von Sachverständigen27 in seiner Beschlussempfehlung das im Regierungsentwurf wieder vorgesehene Schutzgesetzprinzip abermals durch das Merkmal der „Betroffenheit“ ersetzt und eine ausdrückliche Regelung zur „passing-on defense“ vorgeschlagen.28 In dieser Fassung wurde die 7. GWBNovelle auch am 11. März 2005 vom Plenum angenommen. Im Vermittlungsausschuss wurde schließlich die neu eingeführte Verbandsklagebefugnis zugunsten der Verbraucherschutzverbände gestrichen. Nach Annahme der im Vermittlungsausschuss erarbeiteten Beschlussempfehlung29 durch Bundestag und Bundesrat wurde die 7. GWB-Novelle am 12. Juli 2005 im Bundesgesetzblatt verkündet und trat mit Wirkung zum 1. Juli 2005 in Kraft.30
IV. Die Änderungen im zivilrechtlichen Sanktionssystem im Überblick Die 7. GWB-Novelle hat zu einer grundlegenden Umgestaltung des § 33 GWB geführt.31 Dieser weicht nun in mehrfacher Hinsicht von der Vorgängerregelung ab. In der Sache stellt dabei nicht jede Änderung eine Neuregelung dar. Der Gesetzgeber hat die Reform auch dazu genutzt, um bereits unter der alten Rechtslage anerkannte Ausprägungen des zivilrechtlichen Sanktionssystems ausdrücklich im Gesetz festzuschreiben. Hierzu gehört etwa die in § 33 Abs. 1 Satz 1 GWB erfolgte Klarstellung, dass Verletzungen des Kartellrechts nicht nur Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche, sondern auch Beseitigungsansprüche zugunsten Dritter auslösen können. Ebenfalls neu ist, dass § 33 GWB nun auch auf Verletzungen der europäischen Wettbewerbsregeln Anwendung findet. Letztere konnten bislang nur Ansprüche i. R. d. allgemeinen deliktischen Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB auslösen. Für den Geschädigten waren hiermit keine Nachteile verbunden, da § 33 GWB nichts anderes als eine dem § 823 Abs. 2 BGB nachempfundene Sonderform der deliktischen Haftung darstellte und der Rechtsschutz somit vergleichbar war. Durch die 7. GWB-Novelle wurde diese parallele Ausgestaltung aber aufgehoben, da § 33 GWB nun in mehrfacher Hinsicht vom allgemeinen Deliktsrecht abweicht und in gewissen Punkten über dieses hinausgeht. Eine Einbeziehung von Verletzungen europäi27 Vgl. hierzu die schriftlichen Stellungnahmen, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, 15(9) 1359, 15(9)1360 sowie das Wortprotokoll der Anhörung am 20.09.2004, Prot. 15/67. 28 BT-Drs. 15/5049. 29 BT-Drs. 15/5735. 30 Siebtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 07.07.2005, BGBl. I 2005, 1954 und Bekanntmachung der Neufassung vom 15.07.2005, BGBl. I 2005, 2114. 31 Zum zeitlichen Anwendungsbereich der Neuregelungen i. R. d. § 33 GWB und einer etwaigen Rückwirkung auf sog. „Altfälle“ siehe bereits eingehend Zimmer/Logemann, WuW 2006, S. 982 ff.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
schen Kartellrechts wurde deshalb unumgänglich, um die europarechtlich gebotene strikte Gleichbehandlung nationaler wie europäischer Sachverhalte auch weiterhin zu gewährleisten. Eine der bedeutendsten inhaltlichen Neuerungen im materiellen Kartelldeliktsrecht liegt im Bereich der Anspruchsberechtigung [näher hierzu unter V.]. Nach einigem Hin und Her im Gesetzgebungsverfahren wurde das früher maßgebliche Schutzgesetzprinzip aufgegeben und durch das wesentlich weitere Kriterium der Betroffenheit ersetzt (§ 33 Abs. 1 GWB). Zum anderen lag ein Schwerpunkt der Reform in der Förderung von Klagen im Anschluss an eine Entscheidung einer Kartellbehörde (sog. Follow-on-Klagen). Hier ist eine starke Anlehnung an das US-Recht zu beobachten. Das Gesetz kommt nun potentiellen Klägern in zweifacher Weise entgegen: Einerseits werden die Beweisschwierigkeiten durch eine Bindung der Zivilgerichte an die Behördenentscheidung gemildert (§ 33 Abs. 4 GWB) [näher hierzu unter VI.]. Des Weiteren wird die Verjährung mit Aufnahme eines behördlichen Verfahrens gehemmt, damit Geschädigte das Ende dieses Verfahrens abwarten können und ihnen die neue Bindungswirkung tatsächlich zugute kommen kann (§ 33 Abs. 5 GWB) [näher hierzu unter VII.]. Ebenfalls trifft den Schädiger – allerdings nicht nur im Rahmen von Follow-on-Klagen – eine erweiterte Verzinsungspflicht, die bereits ab Eintritt des Schadens zu laufen beginnt (§ 33 Abs. 3 Satz 4 GWB) [näher hierzu unter VIII.]. Finanzielle Nachteile sind deshalb mit einem Abwarten der behördlichen Entscheidung nicht verbunden. Ferner enthält das Gesetz erstmals eine Regelung zur Frage der Schadensabwälzung (sog. „passing-on defense“, vgl. § 33 Abs. 3 Satz 2 GWB). Hierbei geht es um die Frage, inwieweit ein Kartellant einem Schadensersatzbegehren seines Abnehmers wegen überhöhter Preise den Einwand entgegenhalten kann, dieser habe die Preiserhöhung seinerseits auf seine Vertragspartner (teilweise) abwälzen können. Eng verbunden ist dieser Aspekt mit der Frage, ob auch mittelbare Abnehmer Ansprüche im Rahmen des § 33 GWB geltend machen können. Die Passing-on-Problematik ist derzeit wohl der komplexeste und umstrittenste Themenkreis im Kartelldeliktsrecht. Die Frage nach der Behandlung dieser beiden Ausprägungen der Schadensabwälzung kann nur in einer Gesamtbetrachtung sinnvoll beantwortet werden. Aufgrund der zahlreichen hierbei zu berücksichtigenden Interessen und Aspekte soll ausführlich hierauf im Rahmen des Kapitels 5 eingegangen werden. Ebenso an anderer Stelle zu untersuchen ist die Neuregelung des § 33 Abs. 3 Satz 3 GWB. Erstmalig führt das Gesetz eine Form der gewinnbasierten Schadensbestimmung ein. Das Zivilgericht kann nun i. R. d. Schadensquantifizierung den anteiligen Gewinn berücksichtigen, den das Unternehmen durch den Verstoß erlangt hat. Der Frage der Schadensbestimmung soll im Rahmen des Kapitels 6 näher nachgegangen werden. Schließlich hat die 7. GWB-Novelle einen Anspruch auf Vorteilsabschöpfung in das Kartelldeliktsrecht eingeführt (§ 34a GWB).32 Hiernach kann der Verletzer bei einem vorsätzlichen Kartellverstoß,
IV. Änderungen im zivilrechtlichen Sanktionssystem im Überblick
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durch den dieser zu Lasten einer Vielzahl von Abnehmern oder Anbietern einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt hat, im Wege der Verbandsklage auf Herausgabe des wirtschaftlichen Vorteils in Anspruch genommen werden. Da dieser Anspruch jedoch keine Sonderform des Schadensersatzes, sondern ein eigenständiges (wenngleich subsidiäres) Instrument im zivilkartellrechtlichen Haftungsregime darstellt, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher auf die Vorteilsabschöpfung und die vielen hiermit aufgeworfenen Fragen eingegangen werden. In verfahrensrechtlicher Hinsicht hat die 7. GWB-Novelle ebenfalls zu Änderungen geführt. Zum einen enthält das Gesetz nun eine Regelung, die das Kostenrisiko in Kartellzivilverfahren mindern soll. Dieses hatte sich bislang als ein entscheidendes Hemmnis für eine breit angelegte zivilrechtliche Durchsetzung erwiesen. Das GWB sieht nun in § 89a eine einseitige Streitwertanpassung für Kartellzivilverfahren vor, die das Gericht ermessenshalber zugunsten einer wirtschaftlich unterlegenen Prozesspartei anordnen kann [näher hierzu unter IX.]. Zudem wurde § 90a GWB neu eingeführt, der die Zusammenarbeit der deutschen Gerichte mit der Kommission regelt. In weiten Teilen handelt es sich dabei um eine reine Klarstellung der Beteiligungsrechte, die sich bereits unmittelbar aus Art. 15 VO 1/2003 ergeben. Andere Reformvorschläge, die auch im Zuge der 7. GWB-Novelle diskutiert worden sind, wurden letztlich nicht umgesetzt. Zunächst ist hier die Anspruchsberechtigung im Rahmen der Verbandsklage gem. § 33 Abs. 2 GWB zu nennen. Ursprünglich sahen sowohl die Referentenentwürfe wie auch der Regierungsentwurf – ähnlich wie im Lauterkeitsrecht – eine Ausdehnung der Verbandsklagebefugnis auf Verbraucherschutzverbände vor.33 Hierdurch sollte sich im Gesetz ausdrücklich niederschlagen, dass der Verbraucherschutz eine entscheidende Bedeutung im modernen Wettbewerbsschutz einnimmt. In letzter Minute wurde dieses Vorhaben jedoch im Vermittlungsausschuss gekippt.34 Über die zugrunde liegenden Motive kann man nur mutmaßen. Entscheidend dürfte aber die Sorge der Industrie vor einem missbräuchlichen Gebrauch der Verbandsklage und insbesondere der Vorteilsabschöpfung (!) durch die Verbraucherschutzverbände gewesen sein.35 Des Weiteren hat der Gesetzgeber (vorerst) von der Einführung eines mehrfachen Schadensersatzes abgesehen. Trotz diesbezüglich vereinzelt erhobener Forderungen, die sich maßgeblich auf die Erfahrungen mit den sog. „treble damages“ in den USA sowie auf die Erkenntnisse der ökonomischen Analyse stützen,36 scheute er aus guten Gründen davor zurück. Vor einer solch 32
Vgl. hierzu bereits oben, S. 49 f. Vgl. § 33 Abs. 2 Nr. 2 GWB-E, BT-Drs. 15/3640. 34 BT-Drs. 15/5735. 35 Vgl. hierzu nur die schriftlichen Stellungnahmen des BDI und des DIHK zum RegE, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 30 ff. u. 38 f. 36 Vgl. Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 75 ff.; Hempel, WuW 2004, 362 (371); Basedow, ZWeR 2006, S. 294 (303). Zur Frage des mehrfachen Schadensersatzes 33
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
drastischen Abweichung von den allgemeinen Prinzipien des Schadensersatzrechts war es sachgerecht, zunächst die Erfahrungen mit der neu eingeführten erweiterten Verzinsung und die weitere Entwicklung auf europäischer Ebene abzuwarten. Dieser Überblick soll für einen ersten Eindruck über die Umwälzungen im Kartelldeliktsrecht genügen. Im Weiteren soll nun näher auf die einzelnen Neuregelungen und die sich hieraus ergebenden Folgeprobleme eingegangen werden.
V. Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB Die wohl folgenreichste Änderung im Kartelldeliktsrecht stellt die Neugestaltung der Anspruchsberechtigung im Rahmen des § 33 GWB dar. Bis 2005 entsprach diese im Wesentlichen dem Vorbild des § 823 Abs. 2 BGB. Maßgeblich war somit für einen Anspruch auf Schadensersatz, dass die verletzte Norm des Kartellrechts Schutzwirkung zugunsten des Anspruchsinhabers entfaltete.37 Von diesem Schutzgesetzprinzip löst sich nun das GWB und stellt die privaten Rechtsfolgen auf ein neuartiges, eigenständiges Fundament. Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 GWB erwachsen bei Verstößen gegen nationales oder europäisches Kartellrecht dem „Betroffenen“ Ansprüche auf Beseitigung, Unterlassung und (i. V. m. Abs. 3) Schadensersatz. Denselben Weg ist der Gesetzgeber gleichzeitig auch in anderen Bereichen des Wirtschaftsrechts gegangen: Auch im Telekommunikationsrecht und im Energiewirtschaftsrecht knüpfen die privaten Rechtsfolgen bei Zuwiderhandlungen nunmehr an die Betroffenheit des Einzelnen an (§ 44 Abs. 1 TKG und § 32 Abs. 1 EnWG). Dass das neue Kriterium auch im Rahmen von Schadensersatzansprüchen zum Tragen kommt, ergibt sich nicht ohne weiteres aus dem Gesetz, da § 33 Abs. 3 GWB zunächst nur in Bezug auf den Kartellverstoß auf Absatz 1 verweist. Die Systematik des § 33 GWB gibt aber bereits zu erkennen, dass die privaten Rechtsfolgen im Kartellrecht im Grundsatz parallel laufen sollen. Abweichungen ergeben sich nur, soweit die Besonderheiten der jeweiligen Anspruchsart dies erforderlich machen. Im Rahmen des Schadensersatzanspruchs weiterhin an das alte Schutzgesetzerfordernis anzuknüpfen, käme im Übrigen schon deshalb nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber das Schutzgesetzprinzip gerade im Hinblick auf den Schadensersatzanspruch aufgeben wollte.38 Dementsprechend ging er bei der Neufassung des § 33 GWB auch siehe ferner Bundeskartellamt, Private Kartellrechtsdurchsetzung, S. 27 f., Europ. Kommission, Grünbuch, S. 8 (Option 16) sowie den Tagungsbericht des Arbeitskreises Kartellrecht, WuW 2006, S. 39 (44). 37 Vgl. hierzu oben, S. 60 ff. 38 Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Wirtschaft u. Arbeit, BTDrs. 15/5049, S. 49.
V. Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB
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von einem Gleichlauf im Rahmen der Aktivlegitimation von Unterlassungs-, Beseitigungs- und Schadensersatzanspruch aus. Der dahingehende Hinweis, der sich noch in der Begründung zum Referentenentwurf findet, ging jedoch im Hin und Her des späteren Gesetzgebungsverfahrens unter.39 Im Ergebnis kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die Betroffenheit i. S. d. § 33 Abs. 1 GWB ebenfalls den rechtlichen Rahmen für den berechtigten Personenkreis im Zusammenhang mit Schadensersatzansprüchen bildet.40 Im Einzelnen sind die sich aus der Neufassung ergebenden Konsequenzen für die Aktivlegitimation keineswegs klar. Mit dem Kriterium der Betroffenheit gewinnt das Gesetz im Vergleich zur alten Rechtslage nur wenig an Schärfe. Führt man sich die Vielzahl von Personengruppen vor Augen, die infolge von Wettbewerbsbeschränkungen finanzielle Nachteile erleiden können, verbleibt zunächst unklar, wem Ansprüche aus § 33 GWB erwachsen. Hintergründe und Ziele sowie die nähere Auseinandersetzung der rechtlichen Voraussetzungen der Anspruchsberechtigung zeigen aber, dass die Konsequenzen der Neuerung weitreichend sind. Das Kriterium der Betroffenheit ist paradigmatisch für das gewandelte Verständnis des privaten Rechtsschutzes im Kartellrecht. Es ist richtungweisend für einen umfassenden Opferschutz ebenso wie für eine breit aufgestellte, effektive private Kartellrechtsdurchsetzung an der Seite der staatlichen Wettbewerbsaufsicht. 1. Hintergrund und Ziele der Neuausrichtung Anlass für Änderungen im Bereich der Aktivlegitimation waren in erster Linie die Probleme gewesen, die sich unter der alten Rechtslage im Zusammenhang mit dem Schutzgesetzerfordernis eingestellt hatten. Das alte Recht war noch sehr stark von einer kritischen Haltung gegenüber einer privaten Wettbewerbsaufsicht geprägt. Die (Instanz-)Gerichte hatten die Anspruchsberechtigung im Rahmen des § 33 GWB a. F. gerade unter Hinweis auf das Schutzgesetzerfordernis allzu oft sehr restriktiv gehandhabt, was im Ergebnis zu einer erheblichen Einschränkung des Individualrechtsschutzes geführt hatte.41 Diese restriktive Handhabung war gesetzlich keineswegs vorgegeben. Das Schutzgesetzprinzip nach altem Recht hätte sicherlich auch eine großzügigere Handhabung erlaubt. Angesichts der Grenzen, die ihm von vielen Gerichten beigemessen wurden, hatte sich das Schutzgesetzprinzip aber zu einer Hürde im privaten Rechtsschutz entwickelt. Weder erlaubte es eine umfassende Kompensation der Geschädigten noch konnte es dem Ziel einer effektiven privaten Kartellrechts39
Vgl. Begr.-RefE v. 17.12.2003, S. 51. Vgl. auch Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154); IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 18; a. A.: Bulst, S. 113. 41 Siehe hierzu näher oben, S. 65 ff. 40
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
durchsetzung genügen. Weiterer Handlungsbedarf ergab sich aus dem Europarecht.42 Das Courage-Urteil des EuGH43 hatte noch einmal daran erinnert, dass bei Einschränkungen des Rechtsschutzes auch die gemeinschaftsrechtlichen Schranken zu beachten sind.44 Eine europarechtskonforme Ausgestaltung und Anwendung des § 33 GWB machte somit ebenfalls Änderungen im Bereich der Aktivlegitimation erforderlich. Schließlich war die Neuausgestaltung der Anspruchsberechtigung von dem Bestreben getragen, Verbraucherverbänden ein umfassendes Recht zur Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen zu ermöglichen.45 Letzteres wurde jedoch durch die spätere Rücknahme der Ausweitung der Verbandsklagebefugnis im Vermittlungsausschuss obsolet. Für die Verwirklichung der genannten Ziele bestanden zwei Möglichkeiten. Zum einen hätte der Gesetzgeber prinzipiell am Schutzgesetzprinzip festhalten und sich auf einzelne gesetzliche Klarstellungen beschränken können. Zum anderen bestand die Möglichkeit einer „großen Lösung“ in Form einer völligen Neugestaltung der Anspruchsberechtigung. Beide Varianten wurden erwogen und führten wie erwähnt zu einem Hin und Her im Gesetzgebungsverfahren. Die Referentenentwürfe standen zunächst im Zeichen einer „großen Lösung“ und sahen vor, dass das Schutzgesetzerfordernis durch das Kriterium der „Betroffenheit“ ersetzt werden solle. Der später ins Parlament eingebrachte Regierungsentwurf hielt jedoch wieder am Schutzgesetzprinzip fest. Schließlich entschied sich der zuständige Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit doch noch für eine umfassende Neugestaltung im Sinne der Referentenentwürfe. Diese Entscheidung war sicherlich der erfolgversprechendere Weg zur Verwirklichung der ins Auge gefassten Ziele.46 Es ist zweifelhaft, ob die restriktive Rechtsprechungspraxis der Vergangenheit durch einige wenige Klarstellungen hätte behoben werden können. Durch die nun gefundene Lösung ist jedenfalls einem unreflektierten Anknüpfen an die alte Rechtsprechung der Weg versperrt.47 Vielmehr können und müssen die Gerichte nun – unbelastet von der Diskussion über einen ausschließlichen Institutionenschutz im Kartellrecht48 und der hierdurch geprägten alten Rechtsprechung – neue Antworten auf die Frage der Abgrenzung des anspruchsberechtigten Personenkreises finden. Dabei können die Gerichte das gewandelte Verständnis des Kartellprivatrechts nicht außer Be42 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Wirtschaft u. Arbeit, BT-Drs. 15/5049, S. 49. 43 EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 – Courage. 44 Vgl. hierzu oben, S. 96 ff. 45 Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Wirtschaft u. Arbeit, BTDrs. 15/5049, S. 49. Kritisch hierzu Roth, FS-Huber, S. 1133 (1139). 46 Kritisch hingegen Hempel, WuW 2004, S. 362 (368 f.). 47 Vgl. aber Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 8. 48 Vgl. Begr.-RefE v. 17.12.2003, S. 51; so auch Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 26. Zur Diskussion über einen ausschließlichen Institutionenschutz im Kartellrecht siehe bereits oben, S. 61 ff.
V. Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB
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tracht lassen. Und noch ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der Aufgabe des Schutzgesetzprinzips: Sie führt zu einer gewissen Loslösung vom allgemeinen Deliktsrecht und ermöglicht dadurch, kartellrechtsspezifische Lösungen zu entwickeln, ohne dass diese in das Korsett des klassischen Schadensersatzverständnisses gezwängt werden müssen. 2. Allgemeine Erwägungen zur „Betroffenheit“ Hintergrund und Ziele der Neuausrichtung geben bereits zu erkennen, dass die 7. GWB-Novelle zu einer Ausweitung der Aktivlegitimation im Vergleich zur früheren restriktiven Rechtspraxis führen sollte. Der BGH hat dies inzwischen in der Entscheidung Probeabonnement bestätigt.49 Fraglich erscheint deshalb nur, wie weitreichend die Ausweitung des persönlichen Anwendungsbereichs ausgefallen ist. Im Einzelnen ergeben sich bei der Handhabung des neuen Kriteriums der Betroffenheit eine Reihe von Fragen: Wer ist nach dem neuen Maßstab des § 33 GWB als „Betroffener“ und wer als „Nicht-Betroffener“ zu qualifizieren? Hierzu soll zunächst allgemein auf das Kriterium der Betroffenheit eingegangen werden. Erst im Anschluss daran wird näher auf die verschiedenen in Betracht kommenden Personengruppen einzugehen sein [vgl. V. 3.]. Schon der erste Blick auf das neue Kriterium der „Betroffenheit“ zeigt, dass die Einführung eines bis dato im Deliktsrecht unbekannten Rechtsbegriffs (zumindest vorläufig) zu einem gewissen Verlust an Rechtssicherheit führen wird, da man zur Abgrenzung der Anspruchsberechtigung nur eingeschränkt an bekannte Maßstäbe und tradierte Wertungen des Zivilrechts anknüpfen kann. Bei unbefangener Betrachtung kann man eine „Betroffenheit“ sehr weit verstehen. Jeder, der eine irgendwie geartete negative Auswirkung eines Kartellrechtsverstoßes zu spüren bekommt, ließe sich hierunter subsumieren. Die negativen Folgen von Kartellrechtsverstößen sind aber bekanntlich weitreichend. Sie ziehen sich in unendlichen Verästelungen horizontal wie vertikal durch den gesamten Markt und erfassen mittelbar auch Akteure außerhalb des Marktgeschehens. Unterschiede ergeben sich danach, ob man das Kriterium rein wirtschaftlich oder rechtlich bzw. konkret oder abstrakt versteht. Das Gesetz hält zur näheren Bestimmung der „Betroffenheit“ in § 33 Abs. 1 Satz 3 GWB eine Eingrenzung bereit. Hiernach gilt nur derjenige als betroffen, „wer als Mitbewerber oder sonstiger Marktbeteiligter durch den Verstoß beeinträchtigt ist.“ Eine bloß abstrakte Betroffenheit reicht demnach – anders als im Rahmen der Verbandsklage i. S. d. Absatzes 2 – nicht aus. Ein potentieller Anspruchinhaber muss demnach erstens ein „Marktbeteiligter“ sein [hierzu a)]. Zweitens ist das Vorliegen einer noch näher zu bestimmenden „Beeinträchtigung“ von weiterer Bedeutung [hierzu b)]. 49
BGH WuW/E DE-R 1779 (1780 f.) – Probeabonnement.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
a) „Marktbeteiligter“ i. S. d. § 33 GWB Aus der Gruppe der Marktbeteiligten hebt das Gesetz zunächst die Mitbewerber des Anspruchsgegners explizit hervor. Akteure im Horizontalverhältnis fallen somit unzweifelhaft in den berechtigten Personenkreis. Wettbewerber sind nach dem kartellrechtlichen Verständnis Unternehmen, die auf demselben sachlich und räumlich relevanten Markt wie der Anspruchsgegner tätig sind und denselben potentiellen Abnehmer- oder Lieferantenkreis haben.50 Ergänzend kann auch auf die lauterkeitsrechtliche Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG zurückgegriffen werden,51 wonach Anspruchsinhaber und der Delinquent in einem „konkreten Wettbewerbsverhältnis“ stehen müssen. Nicht erforderlich ist dabei, dass die Unternehmen derselben Wirtschaftsstufe angehören.52 Weniger eindeutig stellt sich die Sachlage im Vertikalverhältnis und in anderen Sachlagen dar, soweit vom „sonstigen Marktbeteiligten“ die Rede ist. Ebenso wie die Betroffenheit erscheint auch dieser Begriff bei unbefangener Lesart sehr weit. Der reine Wortlaut impliziert, dass der Anspruchsinhaber lediglich am Marktgeschehen im Sinne eines Nachfragens oder Anbietens von Waren oder Dienstleistungen teilnehmen muss. Ist dies der Fall, wären etwa sämtliche vor- und nachgelagerten Stufen in der Absatzkette (Lieferanten und Abnehmer) „Marktbeteiligte“ im Sinne des Gesetzes. Auch die Teilnehmer von sog. Komplementär- und Substitutionsgütermärkten könnten unter diesen Wortlaut gefasst werden.53 Eine Marktbeteiligung wäre nur dann abzulehnen, wenn der Geschädigte gänzlich außerhalb des Marktgeschehens steht und daher lediglich Schäden geltend machen kann, die nur mittelbar aus der Verfälschung der Marktbedingungen resultieren.54 Ein derart weites Verständnis unterschiede sich eklatant vom bisherigen Recht. Bedenken hiergegen könnten in Anbetracht des Grundsatzes im allgemeinen Deliktsrecht aufkommen, wonach nicht sämtliche durch Normverstöße adäquat kausal verursachten Vermögensminderungen zu Ersatzansprüchen führen.55 Der Kreis der potentiell anspruchsberechtigten Deliktsgläubiger ist im BGB bewusst enger gewählt worden. Einen Anknüpfungspunkt für eine engere Auslegung des Begriffs des „Marktbeteiligten“ könnte deshalb der Teilbegriff „Markt“ bieten.56 Bei Anwendung der kartellrechtlichen Vorschriften ist die Be50
Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 20; Bechtold, § 33 Rdnr. 9. Lettl, § 11 Rdnr. 34; Emmerich, § 40 Rdnr. 10. 52 Lettl, § 11 Rdnr. 38; Emmerich, § 40 Rdnr. 10. 53 Vgl. hierzu unten, S. 241 ff. 54 Siehe hierzu unten, S. 243 f. mit einigen Beispielen. 55 Vgl. hierzu auch unten, S. 345 f. 56 So wohl Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 16. Vgl. hierzu Bundeskartellamt, Tagungsbericht zum Arbeitskreis Kartellrecht, WuW 2006, S. 39 (43); ablehnend: Roth, FS-Huber, S. 1133 (1141) (Fn. 46). 51
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stimmung des jeweils (in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht) relevanten Marktes von grundlegender Bedeutung. Sogar der Warenaustausch auf den einzelnen Marktstufen kann dabei einen eigenständigen Markt bilden.57 Zieht man das Marktverständnis des materiellen Kartellrechts auch im Rahmen der zivilrechtlichen Sanktionen heran und begreift den Marktbeteiligten somit als den „Beteiligten des relevanten Marktes“, fielen etliche Personengruppen, etwa die Lieferanten und Abnehmer auf weiter entfernten Marktstufen und erst recht Teilnehmer von benachbarten Märkten, aus dem persönlichen Anwendungsbereich des § 33 GWB heraus. Übrig blieben nur die Wettbewerber und die unmittelbare Marktgegenseite. Eine besondere Rolle spielt die Frage nach einem engen oder weiten Verständnis des § 33 Abs. 1 Satz 3 GWB im Zusammenhang mit der Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer, weshalb erst im Kapitel 5 bei der Behandlung der Passing-on-Problematik näher hierauf eingegangen wird.58 An dieser Stelle soll ein Überblick darüber genügen, weshalb eine Orientierung am Bedarfsmarktkonzept oder andere Versuche einer einschränkenden Auslegung der „Marktbeteiligung“ nicht in Betracht kommen können. Soweit das Gesetz vom Marktbeteiligten spricht, ist vielmehr nur der Markt in funktioneller Hinsicht, also als Ebene des Leistungsaustausches von Angebot und Nachfrage,59 angesprochen, nicht aber eine Marktabgrenzung im Sinne des materiellen Kartellrechts intendiert. Hierfür lassen sich folgende Aspekte anführen: 1. Auch im Rahmen des § 33 Abs. 2 GWB ist die Zuordnung zu „demselben Markt“ anerkanntermaßen nicht nach dem Bedarfsmarktkonzept vorzunehmen. 2. Im Lauterkeitsrecht begegnet man dem synonymen Begriff des „Marktteilnehmers“. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 UWG sind neben Mitbewerbern und Verbrauchern hierunter alle Personen zu verstehen, die als Anbieter oder Nachfrager von Waren oder Dienstleistungen tätig sind. Dies schließt alle im Wirtschaftsleben tätigen Akteure ein. Vergleichbare Maßstäbe sollten im Interesse der Einheit der Rechtsordnung auch im Kartellrecht angelegt werden, nicht zuletzt weil sich der Gesetzgeber bei Neufassung des Kartelldeliktsrechts wesentlich am UWG orientiert hat. 3. Auch die Hintergründe, die zu der Aufgabe des Schutzgesetzprinzips geführt haben, machen deutlich, dass dem Gesetzgeber nicht daran gelegen war, ein restriktives Kriterium durch ein neues zu ersetzen. Vielmehr sollten die Barrieren, die die Rechtsprechung im Laufe der Jahre aufgebaut hatte, endgültig beseitigt werden. Die private Kartellrechtsdurchsetzung sollte hierdurch einen 57 58 59
Vgl. IM/Möschel (3. Aufl.), § 19 Rdnr. 25. Vgl. hierzu auch unten, S. 339 ff. Vgl. Tilch/Arloth, Dt. Rechts-Lexikon unter „Markt“.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
Schub erhalten. Dies geht aber nur mit einem Individualrechtsschutz, der grundsätzlich allen beeinträchtigten Wirtschaftsteilnehmern offensteht. 4. Nochmals ist der gemeinschaftsrechtliche Kontext und hierbei insbesondere die Courage-Rechtsprechung in Erinnerung zu rufen, in der der EuGH für einen umfassenden privaten Rechtsschutz gegen Kartellverstöße eingetreten ist. Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln setze voraus, dass „jedermann“ die ihm entstandenen Schäden geltend machen kann.60 Die Beachtung dieser europarechtlichen Vorgaben erfordert ein weitgefasstes Abgrenzungskriterium. 5. Schließlich bleibt anzumerken, dass jede Einschränkung im Rahmen der Aktivlegitimation sich nicht nur auf den Schadensersatzanspruch, sondern aufgrund der Systematik des § 33 GWB auch unmittelbar auf den Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch auswirken würde. Im Rahmen der Abwehransprüche besteht jedoch ein wesentlich geringeres Bedürfnis für eine restriktive Handhabung. Die Abgrenzung des berechtigten Personenkreises darf deshalb niemals die Abwehransprüche aus dem Blick lassen, die ebenfalls für ein weites Verständnis der Marktbeteiligung sprechen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, dem Begriff des „Marktbeteiligten“ tatsächlich die Reichweite beizumessen, die der Wortlaut eröffnet. Unter einem Marktbeteiligten sollten deshalb alle natürlichen und juristischen Personen verstanden werden, die marktbezogen (d.h. durch die Teilnahme am Markt unter verfälschten Bedingungen) einen Verlust erleiden.61 Dies führt dazu, dass in Abkehr vom alten Recht nunmehr nahezu alle denkbaren durch einen Kartellverstoß geschädigten Personen erfasst werden.62 Bereits an dieser Stelle kündigt sich an, dass künftig bei einer kartellbedingten Schädigung im Zweifel von der Anspruchsberechtigung des Betroffenen auszugehen ist. b) Rechtserheblichkeit der Beeinträchtigung? Weitere Voraussetzung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 3 GWB für die anspruchsbegründende Betroffenheit ist das Vorliegen einer Beeinträchtigung. Nähere Anforderungen hierzu nennt das Gesetz nicht. In wirtschaftlicher Hinsicht wird eine Beeinträchtigung ohne weiteres mit dem Vorliegen des für den Schadensersatzanspruch notwendigen Schadens zu bejahen sein.63 Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine rein tatsächliche Beeinträchtigung im Sinne einer Ver60
EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 25 – Courage. So bereits Roth, FS-Huber, S. 1133 (1141). 62 Bechtold, § 33 Rdnr. 9, der jedoch für einen Anspruch nach § 33 Abs. 3 GWB die Aktivlegitimation enger fasst. 63 Die im Rahmen des Beseitigungs- und Unterlassungsanspruchs notwendige Abgrenzung, wann bereits im Vorfeld eines Schadenseintritts von einer Beeinträchtigung 61
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mögensminderung für einen Ersatzanspruch ausreichen kann oder ob zusätzlich eine Rechtserheblichkeit zu fordern ist.64 Ein Bedürfnis hierfür könnte sich aus der typischen Breitenwirkung von Kartellverstößen ergeben, die von der wechselseitigen Abhängigkeit im Wirtschaftsleben herrührt. In aller Regel ist nämlich gleich der gesamte Markt und damit eine Vielzahl unterschiedlichster Personenkreise von einem Kartellverstoß betroffen. Zur Vermeidung einer überbordenden Zivilhaftung könnte deshalb eine Begrenzung der Haftungsfolgen geboten sein wie sie im alten Recht anhand des Schutzgesetzprinzips vorgenommen wurde. Ob und inwieweit der Gesetzgeber mit der Beseitigung des deliktsrechtlichen Schutzgesetzerfordernisses auch die mit ihm verknüpften Schutzzweckerwägungen aufgegeben hat, wird bislang im Schrifttum unterschiedlich beurteilt. Die Bandbreite der hierzu vertretenen Ansichten reicht von der Auffassung, der schwierige Komplex der Anspruchsberechtigung habe mit der Umstellung auf das Betroffenheitskriterium lediglich ein neues Etikett erhalten, sich in der Sache aber kaum verändert65 bis hin zu der Ansicht, dass nunmehr Aspekte des Schutzbereichs keine Rolle mehr spielten.66 Vielfach wurden gegen eine wortgetreue Auslegung des § 33 Abs. 1 GWB Bedenken erhoben.67 Auch weiterhin seien – im Rahmen der Aktivlegitimation oder des Zurechnungszusammenhangs – normative Erwägungen heranzuziehen, da der Gesetzgeber in erster Linie das Merkmal der Zielgerichtetheit des Verstoßes sowie den in pari delicto-Einwand, nicht aber sämtliche Schutzzweckerwägungen ausschließen wollte.68 Im Grundsatz sei deshalb von der Fortgeltung des Schutzgesetzprinzips auszugehen.69 Diese haftungsbeschränkenden Tendenzen sind auf Ebene der Anspruchsberechtigung abzulehnen. Schon in rein praktischer Hinsicht wäre es untunlich, die Anspruchsberechtigung mit normativen Wertungen aufzuladen. Zu groß wäre das Risiko, dass dies in der Rechtsprechung als willkommener Anlass zur Fortsetzung der bisherigen restriktiven Rechtsprechungslinie genommen würde. Alte Strukturen ließen sich so wohl kaum aufbrechen. Auch in rechtlicher Hinsicht kann die Heranziehung zusätzlicher Schutzzweckerwägungen nicht überzeugen. Anders als im alten Recht lässt der jetzige Wortlaut hierfür keinen ausgegangen werden kann, ist im Rahmen des § 33 Abs. 3 GWB entbehrlich. Vgl. für den Beseitigungsanspruch Fritzsche, WRP 2006, S. 42 (47 ff.). 64 Vgl. hierzu IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 18. 65 Hempel, WuW 2004, S. 362 (368 f.) mit der Ausnahme, dass es nun nicht mehr auf eine Finalität des Kartellverstoßes ankommen könne. 66 Lettl, § 11 Rdnr. 32; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1140). 67 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 21 ff. (für Einschränkungen im Rahmen des Zurechnungszusammenhangs); Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 8; K. Schmidt, AcP 206 (2006), S. 169 (198 f.). 68 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 21. 69 IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 18; K. Schmidt, AcP 206 (2006), S. 169 (198).
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
Raum mehr. Das ausschließliche Abstellen auf eine wirtschaftliche Beeinträchtigung ist keineswegs ungewöhnlich: Auch im Lauterkeitsrecht genügt im Rahmen der Aktivlegitimation die Beeinträchtigung wirtschaftlicher Interessen.70 Nichts anderes gilt im öffentlich-rechtlichen Drittschutz, wo die persönliche Reichweite der Beschwerdebefugnis Dritter in Kartellverwaltungsverfahren nach der Rechtsprechung des BGH sehr weitreichend ist. Diese ist bereits dann gegeben, wenn eine nachteilige Berührung wirtschaftlicher Interessen vorliegt.71 Im Deliktsrecht mag eine derart breite Anspruchsberechtigung auf den ersten Blick systemfremd erscheinen. Der Gesetzgeber hat sich jedoch angesichts der in der Vergangenheit aufgetretenen Schwierigkeiten bewusst gegen das Schutzgesetzprinzip entschieden.72 Diese Entscheidung gilt es zu respektieren. An ihr wird deutlich, dass die 7. GWB-Novelle eben nicht nur dem Kartellprivatrecht ein neues Etikett bei gleich bleibendem Inhalt beschert hat, sondern den privaten Rechtsschutz in seinen inhaltlichen Voraussetzungen ganz entscheidend verändert (genauer: erweitert) hat. Seine Rechtfertigung findet dieser Schritt des Gesetzgebers zum einen in den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Eine abschließende Klärung darüber, wem nach dem Gemeinschaftsrecht bei Verletzungen des Kartellrechts Schadensersatzansprüche zustehen, steht zwar noch aus. Die jüngsten Urteile Courage und Manfredi geben aber klar zu erkennen, dass der Gerichtshof diesbezüglich einen sehr extensiven Ansatz verfolgt.73 Maßgeblich für einen Ersatzanspruch ist hiernach die unmittelbare Geltung der verletzten Vorschrift des Gemeinschaftsrechts zugunsten des Geschädigten sowie das Vorliegen eines kausalen Schadens. Weitere Voraussetzungen wie etwa Beschränkungen im Sinne der Schutznormtheorie lässt der EuGH dagegen nicht erkennen. Zum anderen ist die grundlegende Ausweitung der Anspruchsberechtigung im Rahmen des § 33 GWB auch darauf zurückzuführen, dass eine weite Anspruchsberechtigung die grundlegende Voraussetzung für einen funktionierenden Rechtsschutz im Kartellrecht ist. Ziel der 7. GWB-Novelle war eine Stärkung der privatrechtlichen Durchsetzung durch einen verbesserten Opferschutz und eine erhöhte Abschreckung im Kartellprivatrecht. Beides setzt eine breit aufgestellte Anspruchsberechtigung voraus. Die Opfer sind nämlich nicht nur dann schutzwürdig, wenn sie in unmittelbarer Beziehung zum Schädiger stehen. Ebenso ist eine effektive private Durchsetzung des Kartellrechts nur dann zu erwarten, wenn den Personen, die hierzu einen (legitimen) Anreiz haben (und das sind nun einmal die Geschädigten), ein Rechtsschutz offensteht.
70
Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 19. BGHZ 155, 214 (217) = WuW/E DE-R 1163 (1165) – HABET-Lekkerland. 72 Beschlussempfehlung und Bericht d. Ausschusses für Wirtschaft u. Arbeit, BTDrs. 15/5049, S. 49; Begr.-RefE v. 17.12.2003, S. 51. 73 Vgl. EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 – Courage; verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619 – Manfredi. Vgl. näher hierzu oben, S. 106 ff. 71
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Stellt man somit im Rahmen der Anspruchsberechtigung allein auf eine wirtschaftliche Beeinträchtigung ab, schließt dies Haftungsbegrenzungen auf der Ebene der Kausalität nicht zwingend aus.74 Nicht anders als sonst im Bereich des Schadensersatzrechts setzt auch im Rahmen des § 33 GWB der Zurechnungszusammenhang voraus, dass das verletzte Interesse in den sachlichen Schutzbereich der einschlägigen deliktischen Norm fällt, und der Träger zu dem Personenkreis zählt, zu dessen Schutz die verletzte Norm besteht.75 An dieser Stelle ist jedoch größte Zurückhaltung geboten. Falsch wäre es, die Schutzzweckerwägungen nach altem Recht einfach auf die Kausalitätsebene zu transferieren und somit die Wertungen der neuen Anspruchsberechtigung leerlaufen zu lassen.76 Im Rahmen des Zurechnungszusammenhangs sollte man daher keine prinzipiellen Haftungsbeschränkungen für gewisse Personengruppen aufstellen. Vorzugswürdig erscheint es, hinsichtlich der Personengruppen ausschließlich in Bezug auf die nötigen Anforderungen für den Kausalitäts- und Schadensnachweis zu differenzieren.77 In manchen Fällen wird dieser nur sehr schwer bis unmöglich zu erbringen sein. Im Ergebnis ist somit festzuhalten, dass die 7. GWB-Novelle zu einer erheblichen Ausweitung der persönlichen Reichweite des § 33 GWB geführt hat. Notwendig aber auch ausreichend für eine Anspruchsberechtigung ist somit, dass der Marktbeteiligte durch den Kartellverstoß in wirtschaftlicher Hinsicht beeinträchtigt wurde.78 Einschränkungen aufgrund von Schutzzweckerwägungen kommen im neuen Recht nicht mehr in Betracht. Dass der Personenkreis der potentiell Berechtigten durch diese Ausweitung denkbar groß geworden ist, liegt ausschließlich daran, dass Kartellverstöße denkbar viele Geschädigte nach sich ziehen. Dies führt die Schädlichkeit von Kartellverstößen für das Gemeinwesen nachdrücklich vor Augen. Eine uferlose Haftung wird es dennoch nicht geben. In der Praxis ist hiermit nicht zu rechnen, da hinsichtlich bestimmter Personengruppen sehr schnell die Grenze zur Nachweisbarkeit überschritten sein dürfte. Ist aber der Nachweis für eine kausale Schädigung erbracht, kann und sollte an einer Aktivlegitimation i. R. d. § 33 GWB kein Zweifel bestehen. 3. Die verschiedenen Personengruppen im Einzelnen Die allgemeine Betrachtung des § 33 Abs. 1 GWB hat gezeigt, dass der Gesetzgeber in Bezug auf die persönliche Reichweite des § 33 GWB einen radika74 So auch Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 21 ff.; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1155). 75 Vgl. hierzu Wagner, in: MünchKomm, BGB, § 823 Rdnr. 303. 76 So aber Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 21 ff. 77 Siehe hierzu unten, S. 454 ff. 78 So auch Bechtold, § 33 Rdnr. 9; Lettl, § 11 Rdnr. 32 ff.; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154).
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
len Kurswechsel vollzogen hat. Im Weiteren soll nun ein näherer Blick auf die verschiedenen Personengruppen geworfen werden, die für eine Anspruchsberechtigung in Betracht kommen können. Trotz der generellen Weite des § 33 GWB wird im Einzelfall bei der Abgrenzung des berechtigten Personenkreises auch weiterhin auf die im konkreten Fall vorgeworfene Wettbewerbsbeschränkung abzustellen sein. Nur im Lichte der von ihr ausgehenden Marktwirkung lassen sich die einzelnen Adressaten genauer bestimmen. a) Wettbewerber Die potentielle Anspruchsberechtigung von Wettewerbern ergibt sich nun unmittelbar aus § 33 Abs. 1 Satz 3 GWB. Diese war bereits unter der alten Rechtslage anerkannt. Bei horizontalen Wettbewerbsbeschränkungen waren Wettbewerber zumindest dann geschützt, wenn sie hierdurch vom Marktzutritt ausgeschlossen wurden.79 Allerdings stellte die Rechtsprechung auch in diesem Zusammenhang bisweilen auf eine Zielgerichtetheit der Schädigung ab.80 Derlei Einschränkungen kommen nun nicht mehr in Betracht.81 Ausreichend ist es, wenn der Wettbewerber durch den Kartellverstoß in seinen wirtschaftlichen Interessen beeinträchtigt wird.82 Bei vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen etwa können sowohl den Wettbewerbern des bindenden wie des gebundenen Unternehmens Ansprüche erwachsen.83 Schließlich können auch einseitige Verhaltensweisen wie etwa der Behinderungsmissbrauch oder eine Zugangsverweigerung (§ 19 Abs. 4 Nr. 1, 4 GWB), Diskriminierungen und Behinderungen (§ 20 Abs. 1 u. 2 GWB) oder Boykotte (§ 21 GWB) Ersatzansprüche zugunsten der Wettbewerber auslösen.84 Die potentielle Anspruchsberechtigung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei Klagen von Wettbewerbern Vorsicht geboten ist. Die Erfahrungen aus den USA zeigen, dass sich Wettbewerber nicht nur auf das Kartellrecht berufen, um den Wettbewerb zu schützen, sondern bisweilen auch die Konkurrenz hierdurch behindern und von einem zu aggressiven Marktverhalten abhalten wollen.85 Sollte die private Kartellrechtsdurchsetzung in Deutschland an 79 BGHZ 64, 232 (236 f.) = WuW/E BGH 1361 (1364) – Krankenhaus-Zusatzversicherung; BGHZ 86, 324 (330) = WuW/E BGH 1985 (1988) – Familienzeitschrift; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 24. 80 BGHZ 86, 324 (330) = WuW/E BGH 1985 (1988) – Familienzeitschrift. 81 Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 14; Lettl, § 11 Rdnr. 33. 82 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 24. 83 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 44 f.; Rehbinder, in: Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 24. 84 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 51 ff.; Rehbinder, in: Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 28 f. 85 Vgl. Areeda/Hovenkamp, ¶ 348; C. Jones, S. 180.
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Fahrt gewinnen, werden sich auch die Gerichte hierzulande stärker mit missbräuchlichen Klagen auseinandersetzen müssen. Ebenso ist gerade in Bezug auf horizontale Wettbewerbsbeschränkungen an den nötigen Zurechnungszusammenhang zwischen Kartellverstoß und dem geltend gemachten Schaden zu erinnern. Wettbewerber können über das Kartelldeliktsrecht keinen Ausgleich für solche Verluste erlangen, die zwar auf den Kartellverstoß zurückzuführen sind, nicht aber im Zusammenhang mit dem Verbot dieser Verhaltensweise stehen. Erhöht sich etwa der Wettbewerbsdruck, weil zwei Unternehmen (aus anderen Gründen) verbotswidrig zusammenarbeiten und hierdurch Produktionskosten senken können, ist der Gewinnausfall der Konkurrenz nicht als Folge einer Beschränkung, sondern vielmehr der Erhöhung des Wettbewerbs zu qualifizieren. Die Anspruchsberechtigung von Wettbewerbern schließt auch potentielle Wettbewerber mit ein, denen durch die Wettbewerbsbeschränkung etwa der Marktzutritt erschwert oder unmöglich gemacht wird.86 Problematisch hieran ist jedoch, dass bei einer Abschottung von Märkten theoretisch zahllose Unternehmen vorbringen könnten, sie seien am Marktzutritt gehindert und dadurch um ein lukratives Geschäft gebracht worden. Ungeachtet der Schwierigkeiten, in solchen Fällen den Schaden zu bestimmen, wird oftmals unklar sein, ob es wirklich zu einem Eintritt in den Markt gekommen wäre und das Unternehmen dann auch erfolgreich am Markt hätte bestehen können. In den USA scheitern potentielle Wettbewerber aus diesem Grund oftmals mit ihren Klagen.87 Es kann in diesen Zusammenhängen nicht ausreichen, dass ein Unternehmen die Absicht des Markteintritts nur behauptet. Vielmehr muss der Anspruchsteller zumindest konkrete Schritte, finanzielle Mittel und die nötige Erfahrung in der Branche vorweisen können, die einen aussichtsreichen Eintritt in den Markt wahrscheinlich erscheinen lassen.88 b) Abnehmer Streitpunkt bei der Abgrenzung des berechtigten Personenkreises bestand unter der alten Rechtslage insbesondere hinsichtlich der Abnehmerseite. Gerade bei Schädigungen durch horizontale Wettbewerbsbeschränkungen hatte die bisherige Rechtsprechung zu zahlreichen Einschränkungen von Ansprüchen der Abnehmer geführt. Im Einzelnen ist hierbei näher zwischen unmittelbaren und mittelbaren Abnehmern, sog. Nicht- bzw. Wenigerabnehmern und Abnehmern von Nicht-Kartellanten zu differenzieren.
86 87 88
Vgl. nur Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 30. Areeda/Hovenkamp, ¶ 349; Sullivan/Hovenkamp, S. 170; C. Jones, S. 209. Vgl. hierzu Areeda/Hovenkamp, ¶ 349 m. w. N.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
aa) Unmittelbare Abnehmer Unzweifelhaft ist nach dem neuen Recht von einer potentiellen Anspruchsberechtigung unmittelbarer Abnehmer auszugehen.89 Selbst bei Zugrundelegung eines engen Marktverständnisses wären in jedem Fall unmittelbare Abnehmer als „sonstige Marktbeteiligte“ i. S. d. § 33 Abs. 1 Satz 3 GWB zu qualifizieren. Keine Rolle spielt dabei, ob es sich um ein Unternehmen oder einen (End-) Verbraucher handelt.90 Schon im Rahmen des § 33 GWB a. F. war ein Schutz der unmittelbaren Marktgegenseite im Grundsatz anerkannt.91 In dem Bestreben, die Haftungsfolgen in Grenzen zu halten, verlangten einige Gerichte für einen Schutz der unmittelbaren Abnehmer jedoch, dass sich die Wettbewerbsbeschränkung gezielt gegen diese richtete. Auf eine solche Finalität des Kartellverstoßes kommt es nun eindeutig nicht mehr an.92 Auch Preiskartelle oder andere Hardcore-Verstöße, die sämtliche Teilnehmer der Marktgegenseite gleichermaßen schädigen, können somit eine Haftung auslösen. Der Regierungsentwurf enthielt diesbezüglich zunächst noch eine ausdrückliche Regelung.93 Durch die Abkehr vom Schutzgesetzprinzip ist dieser Passus später entfallen, ohne aber hieran in der Sache etwas zu ändern.94 Durch den Verzicht auf die Zielgerichtetheit wurde der offensichtliche Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht endlich beseitigt.95 Aber nicht nur bei horizontalen, auch bei vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen kommen Ersatzansprüche in Betracht. Hierbei ist etwa an die Abnehmer oder Wettbewerber des gebundenen Unternehmens zu denken.96 Schließlich sind Ersatzansprüche der unmittelbaren Abnehmer auch in Fällen eines Behinderungs-, Ausbeutungs- oder Strukturmissbrauchs (§ 19 Abs. 4 Nr. 1–3 GWB), eines Verstoßes gegen das Diskriminierungs- oder Behinderungsverbot (§ 20 Abs. 1 u. 2 GWB) oder eines Boykottes (§ 21 GWB) möglich.97
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Vgl. nur IM/Emmerich, § 33 Rdnr. 28. Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 53. 91 Zur Anspruchsberechtigung unter der alten Rechtslage siehe bereits oben, S. 67 ff. 92 So auch Bechtold, § 33 Rdnr. 8; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 35; IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 18; Fritzsche, WRP 2006, S. 42 (50); Fuchs, WRP 2005, S. 1384 (1392); Lutz, WuW 2005, S. 718 (727); Lettl, § 11 Rdnr. 33; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1155 f.). 93 Vgl. § 33 Abs. 1 Satz 3 GWB-E, BT-Drs. 15/3640. 94 Vgl. Begr.-RefE v. 17.12.2005, S. 51. 95 Vgl. hierzu bereits oben, S. 106 ff. 96 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 44, 48 f.; Rehbinder, in: Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 24. Zu möglichen Ansprüchen der gebundenen Partei siehe unten, S. 239 f. 97 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 51 ff. 90
V. Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB
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bb) Mittelbare Abnehmer Äußerst unklar und umstritten zeigt sich die Sachlage hinsichtlich mittelbarer Abnehmer. Die 7. GWB-Novelle hat keine Klarheit darüber geschaffen, ob auch Abnehmer auf weiter entfernten Marktstufen in den Anwendungsbereich des Kartelldeliktsrechts fallen, sofern die wirtschaftlichen Nachteile der Erstabnehmer auf diese abgewälzt wurden (sog. „passing-on“). Eine Antwort auf diese Frage fällt insbesondere deshalb schwer, weil sie in engem Zusammenhang mit der Frage steht, welche Auswirkung eine Abwälzung des Schadens auf die Ansprüche der unmittelbaren Abnehmer hat. Eine eingehende Auseinadersetzung mit der sog. Passing-on-Problematik erfolgt im Rahmen des Kapitels 5. Es wird sich zeigen, dass nach neuem Recht auch mittelbare Abnehmer schadensersatzberechtigt sind. cc) „Nichtabnehmer“ und „Wenigerabnehmer“98 Eine weitere hier hervorzuhebende Gruppe auf der Abnehmerseite sind die Teilnehmer der Marktgegenseite, die aufgrund einer mit der Wettbewerbsbeschränkung (typischerweise einem Preiskartell) verbundenen Preiserhöhung auf den Bezug des kartellbefangenen Gutes verzichten (sog. Nichtabnehmer). In der Sache nicht anders zu bewerten sind diejenigen, bei denen die Preisempfindlichkeit der Nachfrage zwar nicht zu einem völligen Verzicht, immerhin aber zu einer Reduzierung des Warenbezugs geführt hat (sog. Wenigerabnehmer). Der durch die Nichtvornahme von Warenbezügen verursachte Schaden kann darin liegen, dass die Mitglieder dieser Personengruppe statt der eigentlich gewünschten Ware ein teureres Substitut beziehen mussten oder aber ihnen die sonst zu erzielende Handelsspanne beim Weiterverkauf der Ware entgangen ist.99 Kann nun dieser erbrachte Mehraufwand bzw. der entgangene Gewinn Schadensersatzansprüche auslösen? Eine Haftung für derartige Schäden wirft weniger deshalb Bedenken auf, weil die Schäden keinem Nutzen gegenüberstehen, die der Kartelltäter aus dem Wettbewerbsverstoß erzielen konnte. Dies ist im Rahmen des Schadensersatzes ohnehin nicht erforderlich. Vielmehr stimmt bedenklich, dass eine Haftung ungeahnte Ausmaße annehmen kann, weil sehr viele Personen versucht sein könnten, Ansprüche zu erheben. Es wäre äußerst schwierig, unter den Anspruchstellern die tatsächlich Berechtigten zu identifizieren. In den meisten Fällen wären die behaupteten Schäden äußerst spekulativ. Viele Fragen gälte es zu beantworten: Hätte der Anspruchsteller ohne das Vorliegen eines Kartells tatsächlich Waren bezogen? Wenn ja, in welcher Größenordnung? Wie groß wäre die Handelsspanne ausgefallen? 98 So die Terminologie bei Dreher, Stellungnahme Ausschuss für Wirtschaft u. Arbeit, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 85. 99 Vgl. hierzu auch unten, S. 419 ff.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
Wegen der spekulativen Natur dieser Schäden sind Schadensersatzklagen von Nichtabnehmern in den USA wenig erfolgversprechend.100 Nichtabnehmern wird im Regelfall keine Klagebefugnis („standing to sue“) zugesprochen. Seit der 7. GWB-Novelle wird man im deutschen Recht aber wohl eine Anspruchsberechtigung i. S. d. § 33 Abs. 1 GWB bejahen müssen.101 Nichtabnehmer wie auch Wenigerabnehmer erleiden zweifelsohne aufgrund der Verfälschung der Marktbedingungen einen unmittelbaren Schaden und sind somit „Marktbeteiligte“ im hier verstandenen Sinne. Bei Nichtabnehmern ließe sich dies zwar anzweifeln, da diese letztlich auf eine Teilnahme am Markt verzichtet haben. Diese Sichtweise erscheint aber zu formalistisch und wäre im Übrigen dann nicht zutreffend, wenn der Nichtabnehmer auf ein teureres Substitut ausgewichen ist. Der Themenkreis rund um die Haftungsfolgen bei unterlassenen Warenbezügen ist deshalb keine Frage der Anspruchsberechtigung, sondern nur ein Problem der Kausalität und des Nachweises im Prozess. Im Rahmen des Zurechnungszusammenhangs ist zu thematisieren, ob Ersatzansprüche von Nichtoder Wenigerabnehmern den Zielen der kartellrechtlichen Verbotsnorm entsprechen. Im Grundsatz kann hieran aber kein Zweifel bestehen, da ja gerade die nichtbefriedigte Nachfrage den Wohlfahrtsverlust (sog. „deadweight loss“) ausmacht, der durch das Kartellverbot verhindert werden soll.102 Auch unterscheidet sich die Interessenlage nicht von derjenigen tatsächlicher Abnehmer. Während bei letzteren der Kartellverstoß zu einem Mehraufwand beim Bezug des kartellbefangenen Gutes geführt hat, erleidet der Nichtabnehmer einen Mehraufwand durch den Wechsel zu einem Substitut. Da der Preis für das Substitut regelmäßig unterhalb des Kartellpreises liegt, könnte man den Wechsel zum Substitut sogar als (überobligatorische) Schadensminderung begreifen. Normative Erwägungen sprechen somit ebenfalls nicht gegen eine Haftung. In der Praxis ist aber zu erwarten, dass Ansprüche von Nicht- oder Wenigerabnehmern meist an dem nur schwer zu erbringenden Nachweis der Kausalität und des Schadensumfangs scheitern werden.103 Angesichts der spekulativen Natur der vorliegenden Schäden erscheint es aus rechtspolitischer Sicht auch nicht dringlich, den Klägern mit Beweiserleichterungen entgegenzukommen. Kann aber der Nicht- bzw. Wenigerabnehmer, bspw. anhand der früheren Geschäftsbeziehung, einen kausalen Schaden hinreichend substantiiert belegen, kann und sollte ihm auch ein Rechtsschutz über § 33 GWB offenstehen. Montreal Trading Ltd. v. Amax, Inc., 661 F.2d 864, 867 f. (10th Cir. 1981) (allerdings sind Ansprüche bei hinreichendem Nachweis möglich). Vgl. auch C. Jones, S. 180; Hovenkamp, 88 Mich. L. Rev., S. 1 (30 f.) [1989]; ders., 103 Harv. L. Rev., S. 1717 (1722) [1990]; Hylton, S. 61; Page, S. 195 ff.; ders., 37 Stan. L. Rev., S. 1445 (1490) [1985]. 101 I. E. so wohl auch Bulst, S. 345 f. 102 So auch Hellwig, in: Basedow, S. 121 (133 f.). Näher zum kartellbedingten Wohlfahrtsverlust unten, S. 415 ff. 103 So auch Basedow, ZWeR 2006, S. 294 (301). 100
V. Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB
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dd) Abnehmer von Nicht-Kartellanten (sog. „umbrella plaintiffs“) Fragen wirft auch die Haftung für Schäden auf, die die Abnehmer von nicht am Kartell partizipierenden Wettbewerbern (sog. „umbrella plaintiffs“104) erleiden können. Vereinbaren die Kartellanten eine Verknappung ihres Outputs oder eine Anhebung der Preise, können die außerhalb des Kartells stehenden Wettbewerber hierauf unterschiedlich reagieren. Zum einen können sie ihr Output im Gegenzug erhöhen, um den Rückgang der Gesamtgütermenge auszugleichen. Der Marktpreis für das fragliche Gut bliebe dann unverändert und das Kartell schlüge fehl. In der Regel sind die nicht am Kartell teilnehmenden Wettbewerber aber nur kleine Akteure am Markt, die zu einem Ausgleich des Absatzrückgangs gar nicht in der Lage sind. Erhöhen sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Output, hat dies nur geringfügige Auswirkungen auf den Gesamtmarkt. Das Kartell bewirkt deshalb aus Sicht der Wettbewerber eine allgemeine Preissteigerung (sog. Preisschirm), die diese zu einer (moderaten) Erhöhung des Outputs und zur Anpassung ihrer Preise an den Kartellpreis nutzen.105 Ein solches Trittbrettverhalten führt dazu, dass Abnehmer unabhängig davon beeinträchtigt werden, ob sie ihre Waren von den Kartellanten oder von deren Wettbewerbern beziehen.106 Im Gegensatz zu den Delinquenten verhalten sich die autonom handelnden Trittbrettfahrer aber nicht kartellrechtswidrig. Schadensersatzansprüche gegen sie scheiden somit aus. Fraglich ist deshalb, inwieweit die Delinquenten i. R. d. § 33 GWB auch für diese sog. Preisschirmschäden einzustehen haben, die die Abnehmer der Wettbewerber erleiden. Ebensowenig wie bei den Nichtabnehmern kann in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein, dass der Delinquent aus den Preisüberhöhungen zulasten der „umbrella plaintiffs“ keinen Nutzen ziehen konnte. Ein entsprechender Nutzen des Schädigers ist eben nicht Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch. Auch zeigt die gesamtschuldnerische Haftung, dass Kartelltäter nicht nur Ansprüchen ihrer eigenen Abnehmer ausgesetzt sein können. In den USA stehen die Gerichte Ansprüchen von „umbrella plaintiffs“ dennoch mehrheitlich skeptisch gegenüber.107 Ausschlaggebend ist insbesondere die Sorge vor allzu
104 Diese Bezeichnung erklärt sich dadurch, dass die Abnehmer von Nicht-Kartellanten Opfer des sog. Preisschirms werden, der durch ein Preiskartell hervorgerufen wird. 105 Vgl. hierzu Blair/Maurer, 1982 Utah L. Rev., S. 763 (783 ff.) [1982]. 106 Siehe zum Phänomen der Preisschirmschäden: Blair/Maurer, 1982 Utah L. Rev., S. 763 ff. [1982]; Clark/Hughes/Wirth, S. 14; Areeda/Hovenkamp, ¶ 347. 107 Vitamins Antitrust Litigation, 2001-2 Trade Cases P 73,339 (2001); FTC v. Mylan Lab., Inc., et al., 62 F. Supp. 2d 25, 37–39 (1999); Mid-West Paper Products Co. v. Continental Group, Inc., et al., 596 F.2d 573, 583 ff. (3rd Cir. 1979) (alle gegen Ansprüche für Preisschirmschäden); a.A.: United States Gypsum Co. v. Indiana Gas Co., Inc., 350 F.3d 623, 627 (7th Cir. 2003) und in re Beef Industry Antitrust Litigation, 600 F.2d 1148, 1166 (Fn. 24) (5th Cir. 1979) (für Ansprüche von „umbrella
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
spekulativen Kartellschäden und einer Überfrachtung der Kartellzivilverfahren mit komplexen Schadensberechnungen, die einer effektiven Kartellrechtsdurchsetzung abträglich wären. Eine höchstrichterliche Rechtsprechung fehlt aber bislang. Im Lichte des neuen § 33 GWB spricht vieles für eine Anspruchsberechtigung von „umbrella plaintiffs“. Die Abnehmer der Nicht-Kartellanten sind ebenso Teil der Marktgegenseite wie die Abnehmer der Delinquenten. Eine „Marktbeteiligung“ i. S. d. Gesetzes kann sicher nicht davon abhängig gemacht werden, für welchen Anbieter sich die Teilnehmer der Marktgegenseite letztlich entscheiden. Und auch eine wirtschaftliche Beeinträchtigung steht außer Frage, sofern der „umbrella plaintiff“ seine Ware zum Kartellpreis bezogen hat. Schwierigkeiten treten hier erst im Rahmen der Kausalität auf. In der ökonomischen Theorie mag zwar die Preiserhöhung durch die Wettbewerber als typische Folge eines Handelns nach den Gesetzen des Marktes zu erklären und so ein Kausalzusammenhang zwischen Kartellverstoß und Preisschirmschaden herzustellen sein.108 In rechtlicher Hinsicht ist aber eine Auseinandersetzung darüber erforderlich, ob die autonom getroffene Entscheidung des Wettbewerbers zur Anpassung seiner Preise nicht die Kausalkette unterbricht. Hätte er seine Verkaufspreise auf dem Niveau des Wettbewerbspreises belassen, hätten seine Abnehmer keinerlei Einbußen erlitten. Dieser Einwand lässt sich aber nur schwerlich mit den Grundsätzen der Kausalitätslehre in Einklang bringen.109 Hiernach kann nämlich ein mitursächliches Eingreifen Dritter – unabhängig davon, ob das Handeln rechtmäßig oder rechtswidrig ist und auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit beruht – nur in eng begrenzten Fällen zu einem Ausschluss der Haftung führen. Hat das Verhalten des Ersttäters eine besondere Gefahrsteigerung für den Eingriff des Dritten hervorgerufen bzw. diesen „herausgefordert“, was vorliegend zweifelsohne bejaht werden kann, ist eine Zurechnung des Drittverhaltens gegeben.110 Dies ist im Ergebnis auch sachgerecht, da die Kartelltäter ohne ein Trittbrettverhalten der Wettbewerber ihren eigenen Abnehmern gegenüber nicht den überhöhten Kartellpreis durchsetzen könnten. Gälte der Kartellpreis nicht flächendeckend, würden diese nämlich zu den günstigeren Wettbewerbern wechseln. Daran zeigt sich, dass die „umbrella plaintiffs“ nicht anders als die Abnehmer der Delinquenten ihren Schaden wegen der Lückenlosigkeit des implementierten Kartellpreises erleiden. Nur letzteren einen Ersatzanspruch zu gewähren, ist vor diesem Hintergrund kaum begründbar. Nichtsdestotrotz ist nicht zu verhehlen, dass die Opfer sog. Preisschirmschäden in tatsächlicher Hinsicht plaintiffs“). Siehe ferner hierzu Blair/Maurer, 1982 Utah L. Rev., S. 763 (770 ff.) [1982]; Areeda/Hovenkamp, ¶ 347; Floyd/Sullivan, S. 666 ff.; Page, S. 18 u. 188 ff. 108 Vgl. hierzu Blair/Maurer, 1982 Utah L. Rev., S. 763 (779 ff.) [1982]. 109 Vgl. hierzu Lange/Schiemann, S. 142 ff.; Schiemann, in: Staudinger, § 249 Rdnr. 58 ff.; Palandt/Heinrichs, Vorb v § 249 Rdnr. 76. 110 Vgl. Schiemann, in: Staudinger, § 249 Rdnr. 61.
V. Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB
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größere Schwierigkeiten haben werden, den erforderlichen Nachweis für ihre Schäden zu erbringen, da sie zusätzlich den Beweis dafür antreten müssen, dass das Preisverhalten ihres Lieferanten unmittelbar auf den Kartellverstoß zurückzuführen ist. Welche Bedeutung die Gerichte dabei den Erkenntnissen der ökonomischen Theorie beimessen werden, bleibt abzuwarten. Zeigen sie sich hiervon unbeeindruckt, dürfte es schwierig werden, sämtliche anderen Faktoren, die zu einer Verteuerung geführt haben könnten, auszuschließen. c) Lieferanten Neben den Abnehmern können Wettbewerbsbeschränkungen auch die Lieferanten der Kartellanten schädigen. Eine Anspruchsberechtigung ist bei einer horizontalen Wettbewerbsbeschränkung insbesondere in zwei Fallgestaltungen anzunehmen. Liegt etwa ein Preiskartell auf Abnehmerseite vor, werden die Lieferanten genauso geschädigt wie die Abnehmer bei einem Preiskartell auf Anbieterseite. Diese spiegelbildlichen Beeinträchtigungen lösen daher in gleicher Weise Ersatzansprüche aus. Ebenso ist aber auch bei einem Kartell auf Abnehmerseite eine Schädigung der Lieferanten dadurch möglich, dass infolge der Wettbewerbsbeschränkung die Nachfrage nach dem kartellbefangenen Gut sinkt. Die Kartellanten benötigen weniger Rohstoffe und den Lieferanten entstehen durch diesen Umsatzrückgang Verluste.111 Ebenso wie bei den sog. „Wenigerabnehmern“ müssen auch hier bezüglich der nicht abgesetzten Waren die entgangenen Gewinne in Höhe der erzielbaren Handelsspanne kompensationsfähig sein. In der Praxis wird die Geltendmachung dieser Schäden aber deshalb schwer fallen, weil sie äußerst spekulativ sind und ein hinreichender Nachweis kaum gelingen wird.112 Schließlich können Lieferanten auch dann Schadensersatzansprüche i. R. d. § 33 GWB erwachsen, wenn diese Opfer anderer Formen von Wettbewerbsbeschränkungen wie etwa eines Behinderungs-, Ausbeutungsoder Strukturmissbrauchs (§ 19 Abs. 4 Nr. 1–3 GWB), eines Verstoßes gegen das Diskriminierungs- oder Behinderungsverbot (§ 20 Abs. 1 u. 2 GWB) oder eines Boykottes (§ 21 GWB) werden. d) Parteien der Wettbewerbsbeschränkung Auch die Parteien der Wettbewerbsbeschränkung selbst können in bestimmten Fällen Schäden erleiden. Insbesondere ist hierbei an das gebundene Unternehmen bei vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen zu denken. Nach altem Recht bestand gerade in Bezug auf Verstöße gegen § 1 GWB a. F. weitgehend Einigkeit darin, dass die Parteien selbst außerhalb des Schutzbereichs des § 33 GWB 111 112
Vgl. hierzu Clark/Hughes/Wirth, S. 15. Vgl. hierzu oben, S. 235 ff.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
a. F. lagen.113 Mit dem Courage-Urteil des EuGH im Jahr 2001 konnte diese Rechtsauffassung jedoch nicht mehr uneingeschränkt gelten. Der EuGH hatte in dieser Entscheidung klargestellt, dass der Delinquent nicht ohne weiteres den Einwand erheben darf, der Geschädigte sei selbst Partei der rechtswidrigen Vereinbarung gewesen (in pari delicto). In gewissen Fällen müsse auch eine Vertragspartei eines unzulässigen vertikalen Vertriebssystems Anspruch auf Schadensersatz haben.114 Die nationale Rechtsordnung könne solche Ansprüche nur bei einer erheblichen Verantwortung für die Wettbewerbsverzerrung ausschließen. Diese Rechtsprechung kann grundsätzlich auch auf horizontale Absprachen übertragen werden.115 § 33 Abs. 1 GWB n. F. schließt Ansprüche der Parteien der Wettbewerbsbeschränkung nicht von vornherein aus. Auch diese sind Marktbeteiligte i. S. d. Gesetzes und können somit u. U. als Betroffene gelten.116 Unzweifelhaft ist aber, dass auch weiterhin solche Ansprüche der Vertragsparteien ausgeschlossen sind, durch die die kartellrechtliche Verbotsnorm umgangen würde (bspw. Ansprüche auf ordnungsgemäße Vertragserfüllung).117 Ebenso sollte kein Zweifel daran bestehen, dass der Drahtzieher einer Wettbewerbsbeschränkung nicht auch noch Ansprüche aus seinem rechtswidrigen Handeln ableiten kann. Bei der Abgrenzung, wann eine Vertragspartei als nicht anspruchsberechtigter „Täter“ und wann als anspruchsberechtigtes „Opfer“ der Vereinbarung anzusehen ist, bietet sich ein Rückgriff auf die vom EuGH aufgestellten Kriterien an. Entscheidend ist somit, ob der Partei eine erhebliche Verantwortung für den Kartellverstoß zukam. Bei horizontalen Wettbewerbsbeschränkungen wird dies in der Regel der Fall sein. Ausnahmsweise können nur dann Ansprüche in Betracht kommen, wenn die Partei in ihrer Verhandlungsposition wesentlich unterlegen war und die Vereinbarung nur auf Druck des anderen zustande kam.118
113
Vgl. hierzu oben, S. 69 f. EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rdnr. 17 ff. – Courage. 115 Vgl. Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 32; Stockenhuber, in: Grabitz/ Hilf, Art. 81 EGV Rdnr. 252; Lettl, ZHR 167 (2003), S. 473 (479); Koch, WuW 2005, S. 1210 (1211); Mäsch, EuR 2003, S. 825 (837 f.); Mestmäcker/Schweitzer, S. 522; Weyer, ZEuP 2003, S. 318 (331 f.); wohl auch v.Geven, in: Basedow, S. 19 (32). 116 Bechtold, § 33 Rdnr. 9; Emmerich, § 40 Rdnr. 9; a. A.: IM/K. Schmidt, EGWettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 20. 117 Lettl, § 11 Rdnr. 86. 118 Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 14; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 33. Weiterhin ablehnend gegenüber Ansprüchen von Kartellvertragspartnern bei horizontalen Wettbewerbsbeschränkungen hingegen IM/K. Schmidt, EG-WettbR II, Anh. 2 VO 1/2003, Rdnr. 20. 114
V. Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB
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e) Teilnehmer auf Komplementär- und Substitutionsgütermärkten Neben den Schäden im Horizontal- und Vertikalverhältnis kann eine Wettbewerbsbeschränkung auch Auswirkungen auf benachbarte Märkte haben. Beeinträchtigungen sind auf Märkten von sog. Komplementär- und Substitutionsgütern zu erwarten. Komplementärgüter sind solche Güter, die gemeinsam nachgefragt werden, weil sie sich in ihrem Nutzen ergänzen, wie etwa Computerhardware und Computersoftware oder Automobile und Kraftstoff.119 Die Erhöhung des Preises eines Gutes führt deshalb zu einem Rückgang der nachgefragten Menge des anderen. Aufgrund dieser Interdependenz der Märkte erleiden bei einer Wettbewerbsbeschränkung insbesondere die Lieferanten auf den Komplementärmärkten Verluste. So kann beispielsweise den Herstellern von Automobilen ein Schaden entstehen, weil ihre Umsätze in Folge eines Preiskartells auf dem Benzinmarkt zurückgegangen sind. Das entsprechende Pendant hierzu bilden die sog. Substitutionsgüter. Hierbei handelt es sich um Güter, bei denen die Erhöhung des Preises eines Gutes zu einer Erhöhung der nachgefragten Menge des anderen Gutes führt.120 Hier sind vorrangig die Abnehmer der Substitutionsgüter betroffen, die auch ohne den Kartellverstoß das Substitutionsgut bezogen hätten, nun aber hierfür einen höheren Preis bezahlen müssen.121 Steigen etwa aufgrund eines Kartellverstoßes die Preise für Rindfleisch, werden die Konsumenten ihre Käufe auf Hühnchenfleisch verlagern. Die gestiegene Nachfrage führt infolgedessen zu einem Preisanstieg von Hühnchenfleisch. Können nun die Automobilhersteller und die Hühnchenfleischkonsumenten der genannten Beispiele Schadensersatzansprüche gegen die Kartelltäter geltend machen? Eine Haftung für Schäden auf benachbarten Märkten würde die größtmögliche Ausweitung der zivilrechtlichen Haftungsfolgen im Kartellrecht bedeuten. Es ist fraglich, ob mit der 7. GWB-Novelle tatsächlich ein Haftungsregime etabliert werden sollte, das dem Verantwortungsbereich des Delinquenten sämtliche Schäden zuweist, die aufgrund der Interdependenz der Märkte verursacht werden können. Zweifel hieran sind weniger aus Rücksichtnahme gegenüber dem Schädiger angebracht. Wer ein Verhalten an den Tag legt, dass typischerweise eine Unzahl von Personen schädigt, muss auch damit rechnen, für die Gesamtheit der Schäden zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Vermeidung einer uferlosen Haftung erscheint vielmehr im Interesse eines funktionsfähigen Rechtssystems notwendig. Eine zu großzügige Abgrenzung des persönlichen 119
Vgl. hierzu Pindyck/Rubinfeld, S. 52; Clark/Hughes/Wirth, S. 16. Pindyck/Rubinfeld, S. 52. 121 Hingegen sind hiermit nicht diejenigen Abnehmer gemeint, die ursprünglich das Kartellgut kaufen wollten und aufgrund des Preisanstiegs nun zum Substitutionsgut überschwenken. Letztere können den Schaden i. H. d. Preisdifferenz als sog. Nichtbzw. Wenigerabnehmer geltend machen. Vgl. hierzu oben, S. 235 ff. 120
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
Anwendungsbereichs des § 33 GWB könnte eine Klagewelle nach sich ziehen, die das Kartellprivatrecht lähmen und das eigentliche Ziel der 7. GWB-Novelle, nämlich die Schaffung eines effektiven Sanktionssystems, letztlich verfehlen würde. Überlegenswert erscheint daher, die nur schwer identifizierbaren Geschädigten auf benachbarten Märkten (mit ihren meist nur geringfügigen Schäden!) aus dem Anwendungsbereich herauszunehmen und sich auf die primär Geschädigten, nämlich die Wettbewerber und die Marktgegenseite, zu konzentrieren. Einen möglichen Anknüpfungspunkt für einen Haftungsausschluss können auch hier die Anspruchsberechtigung, d.h. die Marktbeteiligung i. S. d. § 33 Abs. 1 GWB, und der Zurechnungszusammenhang bieten. Eine Anspruchsberechtigung der Geschädigten auf Nachbarmärkten könnte angezweifelt werden, weil sie nur Teilnehmer der Komplementär- bzw. Substitutionsgütermärkte, nicht aber desselben Marktes sind, der unmittelbar von dem Kartell betroffen ist. Sicherlich darf man § 33 Abs. 1 GWB nicht das enge Bedarfsmarktkonzept zugrunde legen,122 denkbar wäre es aber, die Rechtsschutzmöglichkeiten auf das Horizontal- und Vertikalverhältnis im betroffenen Gütermarkt zu begrenzen. Die bewusst weit gewählte Formulierung des Gesetzes spricht jedoch gegen eine solche Einschränkung. So ist nach Ansicht Roths die Verantwortlichkeit für Schäden auf benachbarten Märkten vielmehr i. R. d. Zurechnungszusammenhangs zu diskutieren. Es sei zu prüfen, ob diese Schäden nicht „primär auf autonomen Entscheidungen der jeweiligen Nachfrager beruhen, die den sich wettbewerbswidrig verhaltenden Unternehmen im Wege wertender Betrachtung nicht zugerechnet werden können.“123 Auf das Verhalten der Nachfrager wird man hierbei aber kaum abstellen können. Ähnlich wie im Rahmen der Diskussion um die sog. Preisschirmschäden muss man auch an dieser Stelle einwenden, dass die zwischen der schädigenden Handlung und dem Schaden liegende autonome Handlung Dritter nur selten die Zurechenbarkeit ausschließt.124 Das mitursächliche veränderte Nachfrageverhalten ist aus ökonomischer Sicht eine nur natürliche und vorhersehbare Reaktion auf die Wettbewerbsbeschränkung. Im Rahmen der wertenden Betrachtung ist deshalb in erster Linie auf das bereits erwähnte Interesse an einem effektiven Sanktionssystem abzustellen. Die Sorge vor einer uferlosen Haftung spräche dafür, den Schutzbereich der verletzten Kartellrechtsnorm nicht auch auf Schäden zu erstrecken, die allein auf der Interdependenz der Märkte beruhen.125
122
Vgl. hierzu bereits oben, S. 226 ff. Roth, FS-Huber, S. 1133 (1155). 124 Vgl. hierzu oben, S. 238. 125 I.E. auch gegen Ansprüche von Teilnehmern von Substitutions- und Komplementärgütermärkten: Bulst, S. 281. 123
V. Die neue Anspruchsberechtigung gem. § 33 Abs. 1 GWB
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Letztlich stellt sich jedoch die Frage, ob für eine Verneinung des Zurechnungszusammenhangs tatsächlich ein Bedürfnis besteht. Zu bedenken ist nämlich, dass die Zuerkennung von Schadensersatzansprüchen zugunsten von Teilnehmern auf benachbarten Märkten nur deshalb Bauchschmerzen bereitet, weil die Schäden höchst spekulativ sind. Unterstellt man aber eine Situation, in der das Vorliegen und die Höhe eines Schadens unstreitig sind, dürften die meisten Bedenken schnell schwinden. Die hinreichende Nachweisbarkeit ist somit der entscheidende Punkt. In der Praxis muss der Geschädigte stets den Kausalitätsnachweis erbringen. Der Nachweis über den Zusammenhang zwischen dem Kartell und den Veränderungen auf dem Nachbarmarkt und die Quantifizierung der hieraus resultierenden Schäden dürften aber so gut wie nie dem gerichtlichen Beweisstandard genügen. In den von der Literatur aufgemalten Horrorszenarien einer uferlosen Haftung wird dies nicht hinreichend berücksichtigt. Die Eindämmung der Haftungsfolgen muss somit nicht zwingend auf materiellrechtlicher Ebene erfolgen. Geht es allein um den Ausschluss spekulativer Schäden, kann auch der Beibringungsgrundsatz des Verfahrensrechts die nötige Selektionsaufgabe wahrnehmen. Festzuhalten ist somit, dass eine Ausweitung der zivilrechtlichen Haftung auf sämtliche negativen Folgen in Nachbarmärkten den zivilrechtlichen Rechtsschutz zu überlasten droht. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob ein Zurechnungszusammenhang zwischen Wettbewerbsbeschränkung und wirtschaftlichen Verlusten, die außerhalb des vom Kartell betroffenen Gütermarktes liegen, aus normativen Gründen abgelehnt werden muss. In der Praxis ist die Gefahr einer uferlosen Haftung jedoch gering, weil die hiervon betroffenen Schäden in aller Regel vor Gericht nicht nachweisbar sind. f) Mittelbar Geschädigte Als letzte Gruppe der potentiell beeinträchtigten Personen sind die nur mittelbar Geschädigten zu nennen. Hierbei handelt es sich um Personen, die einen wirtschaftlichen Verlust erleiden, weil ein anderer, d.h. eine Person aus den Gruppen a)–e), durch eine Wettbewerbsbeschränkung einen unmittelbaren Schaden erlitten hat. Hierbei ist etwa an die Arbeitnehmer oder Gesellschafter eines betroffenen Unternehmens, Familienangehörige oder aber Geschäftspartner, wie Franchisegeber, Lizenzgeber oder Vermieter zu denken. Sie erleiden u. U. Schäden, weil ein Betroffener nicht mehr in der Lage ist, Löhne, Dividende und Unterhalt zu zahlen oder seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Hieraus lassen sich jedoch i. R. d. § 33 GWB keine Schadensersatzansprüche ableiten. Rein mittelbar geschädigten Personen fehlt es an der nötigen Anspruchsberechtigung, da sie nicht selbst am Wirtschaftleben teilnehmen. Marktbeteiligter i. S. d. § 33 GWB ist nur, wer unmittelbar aus der kartellbedingten Verfälschung der Marktbedingungen einen Schaden erleidet. An einer solchen
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
marktvermittelten Schädigung fehlt es bei dieser Personengruppe.126 Das Kartellrecht schützt nur den Wettbewerb und seine (unmittelbar betroffenen) Teilnehmer, nicht aber Dritte. Auch in den USA sind aus diesem Grunde mittelbare Schäden nicht kompensationsfähig.127 Ein Ausschluss mittelbarer Schäden aus dem Anwendungsbereich des § 33 GWB ist auch gemeinschaftsrechtlich unbedenklich. Die Wettbewerbsregeln der Artt. 81, 82 EG richten sich nämlich nur an die Marktteilnehmer und verleihen nur diesen subjektive Rechte. Im Übrigen ist zu bedenken, dass eine andere Sichtweise den Anwendungsbereich des Privatrechtsschutzes im Kartellrecht weit überdehnen würde. 4. Bewertung Die 7. GWB-Novelle hat die Anspruchsberechtigung i. R. d. § 33 GWB auf eine neue Basis gestellt. Die Aufgabe des Schutzgesetzprinzips war notwendig geworden, weil die Rechtsprechung hieran zu viele Einschränkungen des privaten Rechtsschutzes geknüpft hatte. Hierin lag ein wesentliches Hemmnis für die bisherige Entwicklung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung. Die Einführung des Kriteriums der Betroffenheit gibt nun Gelegenheit, die Anspruchsberechtigung im Lichte der Ziele einer verbesserten Kompensation und Abschreckung neu zu definieren. Die sprachliche Loslösung vom allgemeinen Deliktsrecht hilft dabei, kartellrechtsspezifische Lösungen zu finden. Die nähere Auseinandersetzung mit § 33 Abs. 1 n. F. zeigt dabei, dass die 7. GWB-Novelle zu einer erheblichen Ausweitung des persönlichen Anwendungsbereichs geführt hat. Anders als noch im alten Recht kann nunmehr nahezu allen denkbaren, durch einen Kartellverstoß unmittelbar geschädigten Personen ein Anspruch auf Schadensersatz erwachsen. Notwendig, aber auch ausreichend für eine Anspruchsberechtigung ist, dass der Geschädigte seinen Schaden marktbezogen, also durch Teilnahme am Markt unter verfälschten Bedingungen, erlitten hat. Einschränkungen aufgrund von Schutzzweckerwägungen kommen i. R. d. § 33 Abs. 1 GWB nicht mehr in Betracht. Die Haftungsfolgen können aber gegebenenfalls i. R. d. Zurechnungszusammenhangs begrenzt werden. Eine uferlose Haftung ist auch künftig nicht zu befürchten, da in der Praxis sehr häufig die Grenze zur Nachweisbarkeit überschritten sein dürfte. Einen ausreichenden Schutz vor rein spekulativen Schäden bietet der Beibringungsgrundsatz im Zivilverfahren.
126 So auch Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154 f.). I.E. gegen Ansprüche mittelbar Geschädigter auch Lettl, § 11 Rdnr. 104, der dabei jedoch auf eine fehlende haftungsausfüllende Kausalität abstellt. 127 Hovenkamp, S. 605; Areeda/Hovenkamp, ¶¶ 339c, 351 ff. m. w. N.
VI. Die Bindungswirkung gem. § 33 Abs. 4 GWB
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VI. Die Bindungswirkung gem. § 33 Abs. 4 GWB 1. Hintergrund Kernelement des mit der 7. GWB-Novelle geschnürten Maßnahmepaketes zur Förderung von Follow-on-Verfahren stellt die neue Bindungswirkung gemäß § 33 Abs. 4 GWB dar. Hiernach ist das Zivilgericht insoweit an die Feststellung eines Kartellverstoßes gebunden, wie sie in einer bestandskräftigen Entscheidung einer deutschen Kartellbehörde, der Europäischen Kommission oder einer nationalen Wettbewerbsbehörde (bzw. eines als solche handelnden Gerichts) eines anderen EU-Mitgliedstaats getroffen wurde. In gleicher Weise entfalten rechtskräftige Gerichtsentscheidungen, die im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der kartellbehördlichen Entscheidung ergehen, eine bindende Wirkung. Hintergrund dieser Regelung sind die immensen, bisweilen unüberwindbaren Probleme, die sich für Geschädigte von Kartellrechtsverstößen im Rahmen der Sachaufklärung und des Nachweises vor Gericht ergeben.128 Die nötige Informationsbeschaffung ist aufwendig und kostspielig; dazu liegt die Beweislast für das Vorliegen des Kartellrechtsverstoßes und eines kausalen Schadens zunächst beim Geschädigten. Die hieraus resultierenden Beweisschwierigkeiten waren einer der entscheidenden Gründe dafür, dass private Schadensersatzklagen im Kartellrecht nie an Fahrt gewonnen haben. Im Rahmen isolierter Privatklagen ließe sich an dieser Problematik kaum etwas beheben, ohne die prozessualen Rahmenbedingungen speziell für Kartellzivilverfahren durch die Einführung einer erleichterten Informationsbeschaffung nach Vorbild der angloamerikanischen „pre-trial discovery“ sowie durch Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr entscheidend zu modifizieren. Die Einführung eines Sonderprozessrechts für einzelne Rechtsgebiete ist jedoch mit Risiken behaftet, die der Gesetzgeber augenscheinlich aus Sorge vor Systembrüchen und einer Rechtszersplitterung nicht einzugehen bereit war. Für Follow-on-Verfahren stellt sich die Sachlage etwas anders dar: Hier liegen die notwendigen Informationen bereits auf dem Tisch und das festgestellte Verhalten der betroffenen Unternehmen ist durch die Kartellbehörde eingehend auf seine kartellrechtliche Zulässigkeit geprüft worden. Hier wäre dem Kläger entschieden geholfen, wenn er seine Klage auf diese Erkenntnisse stützen könnte. Eine solche Möglichkeit bietet das US-amerikanische Antitrust-Recht Zivilklägern schon seit über 90 Jahren. Gemäß Sec. 5 (a) Clayton Act129 erlangt ein rechtskräftiges Urteil, das in einem von den Kartellbehörden eingeleiteten Zivil- oder Strafverfahren gegen den Beklagten ergangen ist, die Wirkung eines prima facie-Beweises in späteren Schadensersatzklagen der Geschädigten. 128 129
Vgl. hierzu oben, S. 79 ff. 15 U.S.C. § 16.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
Der schwierig nachzuweisende Kartellverstoß wird infolgedessen widerlegbar vermutet.130 Eine vergleichbare Vermutungsregel oder gar eine Bindungswirkung der behördlichen Feststellung eines Verstoßes gegen ipso iure geltende Verbote des Kartellrechts kannte das deutsche Kartellrecht bislang nicht.131 Hierin erblickte man in der Literatur schon vor 30 Jahren ein Defizit und befürwortete eine der Sec. 5 (a) Clayton Act vergleichbare Vorschrift für das GWB.132 Gleichwohl ist das Fehlen einer Bindungswirkung nicht so zu verstehen, dass nach alter Rechtslage kartellbehördliche Entscheidungen gänzlich ohne Bedeutung gewesen wären. Der Kläger konnte sich durchaus hierauf im Zivilverfahren berufen, um den Verstoß substantiiert vorzutragen, und für die Zivilgerichte bestand wenig Anlass, von den Feststellungen der Kartellbehörde abzuweichen. Die von kartellbehördlichen Entscheidungen ausgehende faktische Wirkung war somit nicht zu unterschätzen. Darüber hinaus muss im europäischen Kontext gesehen werden, dass Entscheidungen der Kommission nach der MasterfoodsRechtsprechung des EuGH auch früher schon eine rechtliche Verbindlichkeit zukam.133 Mit der Modernisierung des EG-Kartellverfahrensrechts wurde diese Bindungswirkung in Art. 16 VO 1/2003 noch einmal ausdrücklich festgeschrieben.134 Ungeachtet dieser faktischen Auswirkungen kartellbehördlicher Entscheidungen nach altem Recht wollte der Gesetzgeber im Zuge der 7. GWB-Novelle einen Schritt weiter gehen und eine Beweiserleichterung ausdrücklich im Gesetz festschreiben. Ursprünglich war dabei noch eine stärkere Anlehnung an das USRecht geplant. Vergleichbar mit Sec. 5 (a) Clayton Act war § 33 Abs. 4 GWB-E im Referentenentwurf zunächst noch als Vermutungsregel ausgestaltet.135 Etwa zur gleichen Zeit sah der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem Justizmodernisierungsgesetz auch für das allgemeine Zivilverfahrensrecht eine ähnliche Beweiskraftregel zugunsten rechtskräftiger Urteile in Straf- und Bußgeld-
130
Siehe hierzu oben, S. 204 ff. Vgl. IM/Emmerich (3. Aufl.), § 32 Rdnr. 13; Bornkamm, in: Langen/Bunte (9. Aufl.), § 32 Rdnr. 17, 34; K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 241 ff. (244); Hempel, WuW 2005, S. 137 (140); OLG Düsseldorf OLGZ 1994, 80 (81) (im Falle einer Bußgeldentscheidung), aber offen gelassen OLG Stuttgart WuW/E DE-R 161 (162) – Carpartner II. Der Zivilrichter war aber nicht gehindert, auf die im Bußgeldverfahren getroffenen Feststellungen zu verweisen, BGH WuW/E BGH 690 (692) – Brotkrieg II. 132 Steindorff, ZHR 138 (1974), S. 504 (523 ff.); I. Schmidt, Wettbewerbspolitik gegenüber Marktmacht, S. 389; Soell, FS-Wahl, S. 439 (443); Linder, S. 135 f. Ebenso Monopolkommission, SG Nr. 1, Tz. 66. Kritisch hingegen K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 115 f. 133 EuGH, Rs. C-344/98, Slg. 2000, I-11369, Rdnr. 49 ff. – Masterfoods Ltd./HB Ice Cream Ltd. 134 Siehe hierzu bereits oben, S. 155 ff. 135 Vgl. RefE v. 25.07.2003. 131
VI. Die Bindungswirkung gem. § 33 Abs. 4 GWB
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verfahren vor.136 Während letztere später im Gesetzgebungsverfahren wieder fallen gelassen wurde, da man negative Auswirkungen auf die Bereitschaft zu einvernehmlichen Regelungen im Strafverfahren fürchtete,137 weitete man im GWB-Entwurf die Beweiserleichterung nochmals aus und sah nun sogar eine starre Bindungswirkung vor. Mit der Neuerung soll in erster Linie ein verstärkter Anreiz für die private Kartellrechtsdurchsetzung geschaffen werden.138 Die Bindungswirkung geht weit über die alte Rechtslage hinaus, da das Zivilgericht nun auch rechtlich an die behördlichen Feststellungen gebunden ist, diese von Amts wegen zu berücksichtigen hat und für den Beklagten keine Möglichkeit mehr besteht, diese Feststellungen zu widerlegen. Ein lapidares Leugnen des Rechtsverstoßes wird hierdurch aussichtslos. Ebenso dient die Bindungswirkung der Prozessökonomie.139 Sie verzahnt die private mit der behördlichen Kartellaufsicht in sinnvoller Weise und stärkt somit die Kartellrechtsdurchsetzung insgesamt. Eine Vergeudung der knappen Ressourcen im Justizwesen durch doppelte Prüfungen derselben Sach- und Rechtsfragen wird hierdurch vermieden. 2. Anwendungsbereich und Voraussetzungen Die neue Bindungswirkung findet nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes nur im Rahmen von Schadenersatzansprüchen gemäß § 33 Abs. 3 GWB und der Vorteilsabschöpfung nach § 34a GWB Anwendung. In systematischer Hinsicht verwundert diese eingeschränkte Anwendbarkeit auf einen bloßen Teilaspekt kartelldeliktischer Sachverhalte, da sich die genannten Informationsdefizite und Beweisschwierigkeiten ebenso bei Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen,140 vertraglichen Sekundäransprüchen wie auch der defensiven Geltendmachung des Kartellrechts ergeben. Es handelt sich daher nicht um ein Problem des kartellrechtlichen Schadensersatzes, sondern vielmehr um ein allgemeines Problem im Wettbewerbsprozess.141 Aber auch im Rahmen von Schadensersatzklagen wird eine Bindungswirkung nicht immer in Betracht kommen. Im Einzelnen ist zunächst in sachlicher Hinsicht zwischen den verschiedenen 136
§ 415a ZPO-E, BT-Drs. 15/1508. Vgl. Hempel, WuW 2005, S. 137 (142). Vgl. die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 15/3482, S. 17. 138 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 35. 139 Meyer, GRUR 2006, S. 27 (28). 140 Hinsichtlich Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen ist allerdings zu bedenken, dass diese selten in Follow-on-Verfahren eine Rolle spielen werden, da ja bereits die Kartellbehörde einen Verstoß festgestellt hat und selbst für das Abstellen des regelwidrigen Verhaltens sorgen wird. 141 So zu Recht die Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 45; dies., Hauptgutachten 2002/2003, BT-Drs. 15/3610, S. 103. Ebenso kritisch in diesem Punkt: Fuchs, Sachverständigenanhörung vor dem Ausschuss für Wirtschaft u. Arbeit, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 51; ders., WRP 2005, S. 1384 (1395); Meyer, GRUR 2006, S. 27 (29). 137
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
Verfahren und den jeweiligen Kartellbehörden zu differenzieren. Aber auch in räumlicher und persönlicher Hinsicht ergeben sich einige Einschränkungen. a) Der sachliche Anwendungsbereich – Relevante Verfahren aa) Verfahren der deutschen Kartellbehörden sowie die Rechtsmittelverfahren Die deutschen Kartellbehörden können bekanntlich sowohl im Wege eines Kartellverwaltungsverfahrens (§§ 32 ff. GWB) wie auch eines Bußgeldverfahrens (§§ 81 ff. GWB) ihrer Wettbewerbsaufsicht nachgehen. Beide Verfahrensarten können dabei zu Entscheidungen führen, denen von nun an Bindungskraft für spätere Zivilverfahren zukommt.142 Die Bindungswirkung von Entscheidungen in Bußgeldverfahren berührt nicht das Doppelbestrafungsverbot i. S. d. Art. 103 Abs. 3 GG.143 Auch wenn die Modernisierung des Kartelldeliktsrechts insgesamt zu einer verstärkten Prävention im Bereich des Schadensersatzes geführt hat, reicht dies nicht aus, um die Sperrwirkung des ne bis in idem-Grundsatzes auszulösen. Selbst wenn man hierin eine gewisse „strafähnliche Ahndung“ erblickte, so dient die Bindungswirkung doch in erster Linie einer verbesserten Kompensationsmöglichkeit für die Geschädigten.144 Welche Verfahren hierbei im Einzelnen in den Anwendungsbereich des § 33 GWB fallen, ließ der Gesetzgeber zunächst offen. Näheres muss sich erst in der Rechtspraxis herausstellen. Sinnvoll erscheint es jedoch, im Allgemeinen vier Anforderungen zu stellen: (1) Zunächst sollten alle behördlichen Verfahren einschließlich eventueller Rechtsmittelverfahren in den Anwendungsbereich des § 33 Abs. 4 GWB einzubeziehen sein, in denen die Kartellbehörde (mit welchem Ziel auch immer) zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Kartellrechtsverstoß vorgelegen hat bzw. noch vorliegt. Die genaue Tenorierung der Entscheidung ist dabei nebensächlich.145 (2) Zum anderen ist aber auch zu fordern, dass es sich dabei um eine abschließende Feststellung handelt. Vorläufige Bewertungen hingegen sollten nicht ausreichen. Eine Bindungswirkung kommt somit insbesondere beim Vorliegen einer Bußgeldentscheidung i. S. d. § 81 GWB146 oder einer Abstellungsverfügung i. S. d. § 32 GWB in Betracht. Keine Bindungswirkung hingegen entfalten Verpflichtungsentscheidungen i. S. d. § 32b GWB, da diese
142
Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 54. Kritisch hingegen Emmerich, § 40 Rdnr. 15. 144 Vgl. hierzu Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Rdnr. 213. 145 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 120. Vgl. ebenfalls Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 43. 146 A. A.: IM/Emmerich, § 33 Rdnr. 76 unter Verweis auf den ne bis in idem-Grundsatz. 143
VI. Die Bindungswirkung gem. § 33 Abs. 4 GWB
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nur auf einer „vorläufigen Beurteilung“ der Kartellbehörde fußen.147 In der Regierungsbegründung zu § 32b GWB findet sich hierzu der ausdrückliche Hinweis, dass „Verfügungen nach § 32b [. . .] keine abschließende Aussage der Kartellbehörde darüber [treffen], ob ein Kartellrechtsverstoß vorgelegen hat.“ Entscheidend ist, dass sich die kartellrechtliche Bewertung der Behörde bei einem Vorgehen nach § 32b GWB noch in einem vorläufigen Stadium befinden kann und deshalb auch nicht denselben Prüfungsgehalt aufweist wie Entscheidungen nach § 32 GWB. Nichts anderes kann für einstweilige Maßnahmen nach § 32a GWB gelten.148 Auch hier hat die behördliche Feststellung nur vorläufigen Charakter und steht unter dem Vorbehalt einer endgültigen Prüfung im Hauptverfahren. Schließlich ist auch ein Negativattest i. S. d. § 32c GWB vom Anwendungsbereich des § 33 Abs. 4 GWB auszunehmen.149 Der Gesetzgeber wies hier sogar ausdrücklich darauf hin, dass solche Verfügungen Dritte in ihrem zivilrechtlichen Vorgehen nicht binden können.150 (3) Neben der abschließenden Feststellung einer Zuwiderhandlung ist schließlich noch eine hinreichende Sachnähe zwischen dem kartellbehördlichen Verfahren und dem Zivilverfahren zu fordern. Hierbei kann noch nicht ausreichen, dass die betreffenden Vorgänge ähnlich gelagert sind. Vielmehr muss es sich um denselben Sachverhalt handeln.151 Das bedeutet, dass der Kläger seinen Schaden aus demselben Verhalten ableiten muss, das bereits Gegenstand des behördlichen Verfahrens war und zu der Feststellung der Zuwiderhandlung geführt hat. (4) Die letzte Anforderung wird vom Gesetz ausdrücklich genannt. Eine Bindungswirkung kommt nur dann in Betracht, wenn die fragliche kartellbehördliche Entscheidung Bestandskraft bzw. ein die Entscheidung bestätigendes Gerichtsurteil Rechtskraft erlangt hat. bb) Verfahren der Europäischen Kommission sowie die Rechtsmittelverfahren Auch bei Verfahren der Europäischen Kommission sind ähnliche Maßstäbe wie bei Verfahren nationaler Behörden anzulegen. Hier ist ebenfalls eine abschließende und bestandskräftige Feststellung einer Zuwiderhandlung ebenso 147 Im Ergebnis ebenso Bechtold, § 33 Rdnr. 36; IM/Emmerich, § 33 Rdnr. 76; ders., § 40 Rdnr. 15; Hempel, WuW 2005, S. 137 (142); Meyer, GRUR 2006, S. 27 (31); a. A.: Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 60. 148 Bechtold, § 33 Rdnr. 36; a. A.: IM/Emmerich, § 33 Rdnr. 76; ders., § 40 Rdnr. 15. 149 Bechtold, § 33 Rdnr. 36; IM/Emmerich, § 33 Rdnr. 76; ders., § 40 Rdnr. 15; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154); Hempel, WuW 2005, S. 137 (142); Meyer, GRUR 2006, S. 27 (31). 150 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 52. Allerdings könne das Gericht die Verfügung nach § 32c GWB bei der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung des Falls berücksichtigen. 151 Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 60; Bornkamm/ Becker, ZWeR 2005, S. 213 (220).
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
wie eine konkrete Sachnähe zum Streitgegenstand des Zivilverfahrens zu fordern. In der Praxis werden somit insbesondere Abstellungsverfügungen nach Art. 7 und auch Bußgeldentscheidungen nach Art. 23 Abs. 2 Satz 1 lit. a VO 1/ 2003, nicht hingegen Negativatteste (Art. 5 Satz 3), einstweilige Maßnahmen (Art. 8), Verpflichtungszusagen (Art. 9) und Feststellungen der Nichtanwendbarkeit (Art. 10) im Rahmen des § 33 Abs. 4 GWB zu beachten sein. Im Zusammenhang mit Verfahren der Europäischen Kommission ist jedoch die Besonderheit zu beachten, dass diese bereits nach Gemeinschaftsrecht Bindungswirkung entfalten können. Gemäß Art. 16 VO 1/2003 dürfen nationale Gerichte bei der Anwendung der Artt. 81, 82 EG keine Entscheidungen erlassen, die einer Entscheidung der Kommission in derselben Sache zuwiderlaufen.152 Beiden Normen ist zunächst gemein, dass sie eine Bindung nationaler Zivilgerichte begründen können. Im Hinblick auf Kommissionsentscheidungen ist § 33 Abs. 4 GWB deshalb oftmals nur eine Klarstellung der ohnehin bestehenden Rechtslage.153 Bei näherer Betrachtung zeigen sich jedoch einige Unterschiede der beiden Regelungen, weshalb § 33 Abs. 4 GWB keineswegs nur Gemeinschaftsrecht ins nationale Recht überführt.154 Art. 16 VO 1/2003 geht in seiner Reichweite in mehrfacher Hinsicht über § 33 Abs. 4 GWB hinaus, bleibt in anderen Punkten aber hinter dem deutschen Recht zurück: Zum einen setzt eine Bindung nach Gemeinschaftsrecht nicht die Bestandskraft der Entscheidung voraus, sondern wirkt auch bei einem laufenden Rechtsmittelverfahren. Eine Bindung kann sich sogar schon im Vorfeld einer Kommissionsentscheidung ergeben.155 Zum anderen ist im Rahmen des Art. 16 VO 1/2003 nicht erforderlich, dass die Entscheidung eine abschließende Prüfung der kartellrechtlichen Zulässigkeit einer Verhaltensweise beinhaltet, weshalb auch einstweilige Maßnahmen i. S. d. Art. 8 VO 1/2003 zu beachten sind. Art. 16 VO 1/2003 ist des Weiteren nicht nur im Rahmen von Schadensersatzansprüchen, sondern bei jedweder Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln durch nationale Gerichte maßgeblich. Schließlich muss die Bindung nach Art. 16 VO 1/2003 nicht immer zulasten des betroffenen Unternehmens wirken. Nach überwiegender Ansicht können nämlich auch Feststellungen der Nichtanwendbarkeit der Artt. 81, 82 EG i. S. d. Art. 10 VO 1/2003 Sperrwirkung entfalten.156 § 33 Abs. 4 GWB ist dagegen insofern weitergehend, als auch Bußgeldentscheidungen nach Art. 23 VO 1/2003 erfasst 152
Näher hierzu oben, S. 155 ff. Sura, in: Langen/Bunte, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 6; Emmerich, § 7 Rdnr. 21; Berrisch/Burianski, WuW 2005, S. 878 (882); Lübbig/le Bell, WRP 2006, S. 1209 (1212). 154 So aber anscheinend das Verständnis der Gesetzesverfasser, vgl. Reg.-Begr., BTDrs. 15/3640, S. 54. Zu den Unterschieden siehe Meyer, GRUR 2006, S. 27 (29). 155 Art. 16 Abs. 1 Satz 2 VO 1/2003. 156 Vgl. nur Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 16 VerfVO Rdnr. 13; Sura, in: Langen/Bunte, Art. 16 VO 1/2003 Rdnr. 9; a. A. aber etwa K. Schmidt, BB 2003, S. 1237 (1241 f.). 153
VI. Die Bindungswirkung gem. § 33 Abs. 4 GWB
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sind.157 Ebenso ist bislang nicht ganz geklärt, ob das Verbot „zuwiderlaufender“ Entscheidungen i. R. d. Art. 16 VO 1/2003 tatsächlich eine rechtliche Bindung an die Feststellung über das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen eines Kartellverstoßes begründet.158 Aus diesen Unterschieden ergibt sich keineswegs eine Europarechtswidrigkeit des § 33 Abs. 4 GWB.159 Auch bedarf es keiner Anpassung des Anwendungsbereichs im Wege der europarechtskonformen Auslegung. Art. 16 VO 1/2003 erfordert nämlich keine Umsetzung ins nationale Recht, sondern wirkt auch ohne § 33 Abs. 4 GWB unmittelbar. Eine abweichende Regelung des nationalen Rechts kann somit den Geltungsanspruch des Art. 16 VO 1/2003 nicht ohne weiteres beeinträchtigen. Vielmehr zeigen die Divergenzen, dass beiden Normen ein eigenständiger Regelungsbereich zukommt.160 Dies hat einen einfachen Grund, denn die Regelungen verfolgen unterschiedliche Ziele. Während § 33 Abs. 4 GWB primär der Beweiserleichterung von Kartellopfern in Follow-onVerfahren dient, soll Art. 16 VO 1/2003 in erster Linie die kohärente Anwendung des EG-Kartellrechts im System einer dezentralisierten Wettbewerbsaufsicht gewährleisten. Diese abweichenden Regelungsziele rechtfertigen im Einzelfall auch abweichende Rechtsfolgen. Den eigenständigen Regelungsbereichen ist schlicht dadurch Rechnung zu tragen, dass beide Normen parallel Anwendung finden. Ist somit der Anwendungsbereich des § 33 Abs. 4 GWB nicht eröffnet, kann sich weiterhin eine Bindungswirkung aus Art. 16 VO 1/2003 ergeben. cc) Verfahren ausländischer Wettbewerbsbehörden oder als solche handelnder Gerichte Der sachliche Anwendungsbereich des § 33 Abs. 4 GWB erfasst schließlich auch Entscheidungen ausländischer Wettbewerbsbehörden und als solche handelnder Gerichte161 sowie die Entscheidungen der Rechtsmittelverfahren, soweit hierin ein Verstoß gegen die Artt. 81, 82 EG festgestellt wird. Diese Bindung gilt unabhängig davon, ob Entscheidungen deutscher Kartellbehörden in dem jeweiligen Mitgliedstaat vergleichbare Wirkungen haben. Eine solche pauschale Bindungsvorgabe an ausländisches Verwaltungshandeln ist im deutschen Recht in der Form neuartig und in der Literatur vielfach als zu weitgehend kritisiert 157 Zur fehlenden Bindungswirkung von Bußgeldentscheidungen i. R. d. Art. 16 VO 1/2003 vgl. de Bronett, Art. 16 Rdnr. 4; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Art. 16 Rdnr. 5. 158 So jedoch die überwiegende Ansicht, vgl. hierzu oben, S. 157 f. m. w. N. 159 So aber wohl Meyer, GRUR 2006, S. 27 (32). 160 Siehe auch Roth, FS-Huber, S. 1133 (1153) (Fn. 100). 161 Im Folgenden ist nur noch von „Wettbewerbsbehörden“ die Rede. Das Gesagte gilt jedoch gleichermaßen für als solche handelnde Gerichte.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
worden.162 Insbesondere fürchtet man Anwendungsprobleme, wenn im ausländischen Verwaltungsverfahren keine rechtsstaatlichen Verfahrensstandards (insb. der Grundsatz auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren) eingehalten wurden.163 In der Tat sieht § 33 Abs. 4 GWB weder ein besonderes Anerkennungsverfahren noch eine Inzidentprüfung des anwendenden Gerichts auf etwaige Anerkennungshindernisse vor, wie es etwa bei der Anerkennung von Entscheidungen ausländischer Zivilgerichte vorgesehen ist.164 Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, die Bindung nach § 33 Abs. 4 GWB ungeschriebenen Anerkennungsschranken zu unterwerfen, um auszuschließen, dass Verletzungen von Verfahrensstandards durch das Zivilverfahren perpetuiert werden.165 Diese könnten sich wie bereits vorgeschlagen an den Schranken der Anerkennung ausländischer zivilgerichtlicher Entscheidungen i. S. d. § 328 ZPO sowie der Art. 32 ff. VO 44/2001166 oder an den Schranken für die Anerkennung der Verwaltungsakte ausländischer Behörden nach § 343 Abs. 1 InsO167 orientieren. So berechtigt die Bedenken gegenüber einer pauschalen Bindungsvorgabe im Einzelfall auch sind, ist eine bisweilen anklingende generelle Skepsis gegenüber ausländischen Verwaltungsakten unangebracht. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist die Erstreckung des § 33 Abs. 4 GWB auf ausländische Behördenentscheidungen durchaus sachgerecht. Sie ist Ausdruck des Netzwerkgedankens im europäischen Wettbewerbsrecht, wonach nicht nur die Kommission, sondern auch die verschiedenen nationalen Kartellbehörden zur Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln (gleichermaßen) qualifiziert und berufen sind. Dieser Gedanke muss auch auf nationaler Ebene aufrechterhalten werden. Stellt man die Bindung ausländischer Behördenentscheidungen deshalb unter zu viele Vorbehalte, brächte man den gewünschten Netzwerkeffekt zum Erliegen. Unabhängig davon werden sich die Auswirkungen der Bindungswirkung ausländischer Entscheidungen auch deshalb in Grenzen halten, weil die Bindung in räumlicher Hinsicht begrenzt ist.
162 Bechtold, DB 2004, S. 235 (239); Fuchs, WRP 2005, S. 1384 (1395); Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1131 f.); kritisch auch Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 49; ebenso Fuchs und Böge in der Sachverständigenanhörung vor dem Ausschuss für Wirtschaft u. Arbeit, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 51 und 63. 163 Fuchs, WRP 2005, S. 1384 (1395); Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1131); IM/ Emmerich, § 33 Rdnr. 77. 164 Vgl. § 328 ZPO sowie die Art. 32 ff. VO 44/2001. Näher hierzu Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 51 ff. 165 Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 51; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 122; Emmerich, § 7 Rdnr. 22; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154); a. A.: Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 61, der auf die Möglichkeit eines Vorlageverfahrens an den EuGH verweist. 166 So die Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 51; zustimmend Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1131). 167 So Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154).
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b) Der räumliche Anwendungsbereich Das Gesetz schweigt zur räumlichen Reichweite des § 33 Abs. 4 GWB. Dabei ist diese insbesondere im Zusammenhang mit Entscheidungen ausländischer Wettbewerbsbehörden von erheblicher Bedeutung. Nach der Regierungsbegründung soll die Bindungswirkung nur Wettbewerbsbeschränkungen erfassen, die Auswirkungen im Gebiet der Wettbewerbsbehörden haben.168 In Fällen eines grenzüberschreitenden Kartells kann demnach die ausländische Behörde keine bindende Aussage darüber treffen, ob ein Kartell europaweit, insbesondere aber in Deutschland, stattgefunden bzw. sich ausgewirkt hat. Die Entscheidung bindet das deutsche Zivilgericht ausschließlich an die Feststellung, dass ein Wettbewerbsverstoß im Mitgliedstaat der entscheidenden Behörde stattgefunden hat.169 In der Literatur hat diese einschränkende Auffassung des Gesetzgebers weitgehend Zustimmung gefunden.170 Für Kartellopfer bedeutet dies, dass sie sich nur dann auf eine ausländische Behördenentscheidung stützen können, wenn der Sachverhalt einen konkreten Bezug zu dem jeweiligen Mitgliedstaat aufweist. Dafür ist nicht notwendig, dass der Vermögensschaden ganz oder teilweise in dem Mitgliedstaat entstanden ist.171 Ausreichend, aber auch erforderlich dürfte sein, dass sich der erlittene Schaden des Betroffenen (zumindest auch) auf die dortige Beschränkung der Marktverhältnisse zurückführen lässt. Im Vergleich wesentlich weitgehender sind somit Entscheidungen der Kommission; sie können Bindungswirkung für das gesamte Gebiet der EG entfalten.172 c) Der persönliche Anwendungsbereich Eine Unklarheit ergibt sich auch hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs des § 33 Abs. 4 GWB. Das Gesetz regelt nicht ausdrücklich, zu wessen Lasten die Bindungswirkung eintreten soll. Hierzu lässt sich zunächst sagen, dass die Bindung (anders als im Rahmen des Art. 16 VO 1/2003) immer nur zuungunsten der Kartelltäter, nicht aber zu Lasten der Betroffenen wirken kann. Das ergibt sich ohne weiteres aus dem Zweck des § 33 Abs. 4 GWB, der als Beweiserleichterung zugunsten von Geschädigten konzipiert ist, und wird noch einmal daran deutlich, dass eine Bindung nur durch eine positive Feststellung eines Kartellverstoßes in Betracht kommt. Im Einzelnen stellt sich aber die Frage, ob sich die Bindung gegen sämtliche Kartellanten richten kann. Zweifel 168
Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 54. Bechtold, § 33 Rdnr. 38. 170 Vgl. Bechtold, § 33 Rdnr. 38; Berrisch/Burianski, WuW 2005, S. 878 (883); Roth, FS-Huber, S. 1133 (1153); Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1131); a. A.: Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 61. 171 Roth, FS-Huber, S. 1133 (1153) (Fn. 104); anders aber wohl: Meyer, GRUR 2006, S. 27 (32); Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1131). 172 Bechtold, § 33 Rdnr. 37. 169
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
scheinen zum einen in Bezug auf Unternehmen angebracht, gegen die das behördliche Verfahren zwar aus Gründen der Opportunität eingestellt wurde, die in einer späteren Entscheidung aber als Teilnehmer des Wettbewerbsverstoßes genannt werden. Noch dringlicher erscheint die Frage hinsichtlich Unternehmen, die im kartellbehördlichen Verfahren als Kronzeugen gedient haben. In beiden Fällen ist eine persönliche Bindung schon deshalb problematisch, weil den Unternehmen keine Anfechtungsmöglichkeit gegen die kartellbehördliche Entscheidung zur Verfügung steht und somit der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht hinreichend gewahrt würden. Eine Bindung von Kronzeugen wäre darüber hinaus auch wettbewerbspolitisch nicht wünschenswert, da hierdurch der Anreiz zur Teilnahme an Kronzeugenprogrammen gemindert würde. Behördliche und private Kartellrechtsdurchsetzung würden sich gegenseitig schwächen. Sowohl die Monopolkommission wie auch das Schrifttum sind sich deshalb darüber einig, dass zur Vermeidung dieses Dilemmas die Bindungswirkung auf die unmittelbaren Adressaten der Entscheidung zu beschränken ist.173 Hierdurch fielen Kronzeugen vor dem Bundeskartellamt bei einem vollständigen Erlass der Geldbuße aus dem Anwendungsbereich des § 33 Abs. 4 GWB heraus, da sie nur eine Einstellungsmitteilung, nicht aber eine förmliche Entscheidung über das Vorliegen einer Zuwiderhandlung erhalten. Im Ergebnis ist eine solche Abgrenzung des persönlichen Anwendungsbereichs sinnvoll und zu befürworten. Auf diese Weise lässt sich dennoch eine Beeinträchtigung von Kronzeugenprogrammen nicht völlig vermeiden. Kommt es nämlich nur zu einer Reduktion der Geldbuße, erginge auch dem Kronzeugen gegenüber ein bindender Bußgeldbescheid. Des Weiteren hilft die Einschränkung nicht in Kommissionsverfahren weiter. Hier sind auch die Kronzeugen Adressaten einer Entscheidung und werden somit auch von der Bindung nach § 33 Abs. 4 GWB und Art. 16 VO 1/ 2003 erfasst.174 In der Praxis wird es darüber hinaus auch zu einer faktischen Bindung des Kronzeugen kommen, wenn dieser zusammen mit weiteren Kartellanten verklagt wird. Hier wäre es kaum vorstellbar, dass das Gericht innerhalb ein und desselben Urteils über die Frage des Vorliegens eines Verstoßes zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangte.
173 Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 44; Bechtold, § 33 Rdnr. 39; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 122; Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 60; Böge/Ost, ECLR 2006, S. 197 (199); Fuchs, WRP 2005, S. 1384 (1395); Hempel, WuW 2005, S. 137 (144); Meyer, GRUR 2006, S. 27 (31 f.), Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154); Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1131). 174 So ausdrücklich: Europ. Kommission, Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 229 (in Bezug auf Art. 16 VO 1/2003).
VI. Die Bindungswirkung gem. § 33 Abs. 4 GWB
255
3. Rechtsfolge Liegen die notwendigen Voraussetzungen vor, ist das Zivilgericht in einem Follow-on-Verfahren an die im kartellbehördlichen Verfahren getroffene Feststellung eines Kartellverstoßes gebunden. Die Regierungsbegründung spricht insoweit von einer „Tatbestandswirkung“.175 Diese Terminologie ist missverständlich, weil sie im Verwaltungsrecht uneinheitlich verwendet wird.176 Nach einem engen Verständnis wird hierunter nur die Bindung an die Existenz eines Verwaltungsaktes und seine Wirksamkeit gefasst.177 Sie erlangt nur dann Bedeutung, wenn nach materiellem Recht der Erlass eines wirksamen Verwaltungsaktes als solcher Voraussetzung für den Eintritt von Rechtsfolgen ist.178 Hierauf zielt § 33 Abs. 4 GWB ersichtlich nicht ab.179 Im Gegensatz dazu wird die Bindung von Gerichten und Behörden an rechtliche Beurteilungen oder Sachverhaltsfeststellungen, die zur Begründung eines Verwaltungsakts erforderlich waren, als „Feststellungswirkung“ bezeichnet.180 Genau eine solche Bindung soll durch die Neuregelung statuiert werden. Die Beweiserleichterung wird erst dadurch erreicht, dass die Tatsachen und die kartellrechtliche Bewertung des vorgeworfenen Verhaltens nicht erneut geprüft werden müssen, sondern abschließend im kartellbehördlichen Verfahren geklärt wurden. Die Bindungswirkung wirkt nicht absolut, sondern nur relativ. Sie tritt nur bei einer positiven Feststellung eines Kartellverstoßes ein, nicht aber, wenn das vorgeworfene Verhalten zuvor als kartellrechtlich unbedenklich eingestuft wurde oder es zu einer Einstellung des Verfahrens kam.181 Hier zeigt sich, dass prozessökonomische Erwägungen oder eine höhere Sachkompetenz der Kartellbehörden nur eine zweitrangige Rolle im Rahmen des § 33 Abs. 4 GWB spielen. Primäre Funktion ist die Beweiserleichterung für die Geschädigten, die schnell in ihr Gegenteil umschlagen würde, hätte man eine absolute Bindung begründet. Weiterhin ist das Zivilgericht neben der Tatsache des Kartellverstoßes nicht an weitere Feststellungen der Behörde gebunden. Insbesondere Ausführungen zum
175
Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 54. Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rdnr. 105; Erichsen, in: Erichsen/Ehlers, § 13 Rdnr. 4. 177 Meyer, in: Knack, VwVfG, § 43 Rdnr. 17; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 43 Rdnr. 26. 178 Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rdnr. 154; Meyer, GRUR 2006, S. 27 (29 f.). 179 So bereits Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1131); a. A.: Meyer, GRUR 2006, S. 27 (30). 180 Vgl. hierzu Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 43 Rdnr. 160; Meyer, in: Knack, VwVfG, § 43 Rdnr. 22; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 43 Rdnr. 26. 181 Bechtold, § 33 Rdnr. 36; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 121; Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 60; Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154); Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1132). 176
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
Schadensumfang oder der Kausalität sind ausdrücklich von der Bindungswirkung ausgenommen.182 4. Bewertung Kartellgeschädigte müssen dank der Neuregelung zumindest in Follow-onVerfahren nicht mehr mühsam darlegen und beweisen, dass ein wettbewerbswidriges Verhalten vorgelegen hat. Dies ist nicht nur eine Hilfe für die Kläger, sondern auch für die Justiz, da Kartellzivilverfahren gestrafft und Ressourcen geschont werden. Auch im Schrifttum ist § 33 Abs. 4 GWB deshalb überwiegend positiv aufgenommen worden.183 Zuzugeben ist, dass die Änderung in Bezug auf Entscheidungen des Bundeskartellamtes oder der Kommission gar nicht so gravierend ist, weil auch nach der alten Rechtslage kartellbehördliche Entscheidungen zu (faktischen) Beweiserleichterungen führen konnten. Überflüssig wird die Regelung deshalb aber nicht. Sie dient der Rechtsklarheit und setzt ein deutliches Signal, dass Geschädigte ihre Ansprüche geltend machen sollten und die behördliche und private Kartellrechtsdurchsetzung sich gegenseitig ergänzen.184 Die Beweisprobleme in Wettbewerbsprozessen werden durch die Bindungswirkung aber nur teilweise beseitigt. Weiterhin muss der Geschädigte einen kausalen Schaden darlegen. Ebenso sollte nicht ausgeblendet werden, dass die Bindung in Einzelfällen auch Schattenseiten hat. So muss hingenommen werden, dass etwaige Fehler in der behördlichen Kartellrechtsanwendung nun auch im Zivilverfahren fortwirken.185 Auch ist denkbar, dass das betroffene Unternehmen im behördlichen Verfahren kein Interesse hatte, gegen die behördliche Entscheidung Rechtsmittel einzulegen.186 In Zukunft werden Unternehmen deshalb schon zur Vermeidung einer zivilrechtlichen Haftung verstärkt von ihren Rechtsmitteln Gebrauch machen. Fehl geht allerdings die Kritik, die in der Bindungswirkung einen Systembruch im deutschen Recht zu erkennen glaubt, weil das Gericht in seinem rechtlichen Bewertungsspielraum eingeschränkt werde.187 Ähnliche Bedenken wurden bereits im Zuge der Modernisierung des EG-Kartellrechts gegen die Bindung nach Art. 16 VO 1/2003 vorgebracht.188 182
Vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 54. Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 113; Hempel, WuW 2005, S. 137 (145); Roth, FS-Huber, S. 1133 (1154). Siehe ferner die Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 41. 184 So auch Hempel, WuW 2005, S. 137 (145). 185 Hempel, WuW 2005, S. 137 (143); Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 59; Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, S. 213 (220). 186 Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, S. 213 (220). 187 Vgl. die Stellungnahme des BDI vor dem Ausschuss für Wirtschaft u. Arbeit, Ausschuss-Drs. 15(9)1333, S. 31. Zur Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit vgl. auch Meyer, GRUR 2006, S. 27 (29). 188 Gröning, WRP 2001, S. 83 (89). 183
VII. Die Verjährungshemmung gem. § 33 Abs. 5 GWB
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Die richterliche Unabhängigkeit und die Gewaltenteilung sind aber nicht bereits dadurch verletzt, dass sich Dritte auf die Bestands- bzw. Rechtskraft der Entscheidung des Erstverfahrens berufen können.189 Ein echtes Defizit des § 33 Abs. 4 GWB liegt aber darin, dass mit der jetzigen Fassung noch keine vollständige Verzahnung zwischen der privaten und behördlichen Wettbewerbsaufsicht erreicht wurde. In der Auseinandersetzung mit dem persönlichen Anwendungsbereich der Regelung ist deutlich geworden, dass die Kronzeugenregelungen der Kartellbehörden an Attraktivität verlieren, weil Kronzeugen in vielen Fällen mit einer Bindungswirkung rechnen müssen. Jede Schwächung der Kronzeugenprogramme wirkt sich wiederum auf die private Durchsetzung aus, weil viele Wettbewerbsbeschränkungen erst durch eine Offenlegung gegenüber den Behörden zu Tage treten. Wünschenswert wäre deshalb eine ausdrückliche Ausklammerung von Unternehmen, die mit den Behörden zusammengearbeitet haben.190 Insgesamt ist die Neuregelung ungeachtet einiger Defizite positiv zu bewerten. Die Bindungswirkung wird sich in der Praxis als eine wesentliche Stärkung des privaten Rechtsschutzes im Kartellrecht erweisen. Sie ist eine der wichtigsten Neuerungen im Maßnahmepaket der 7. GWB-Novelle. Der Gesetzgeber ist zu Recht davon ausgegangen, dass eine zunehmende private Kartellrechtsdurchsetzung zunächst nur im Bereich der Follow-on-Verfahren zu erwarten ist. Deshalb bedarf es hier besonderer Anstrengungen, um Schadensersatzklagen endlich zum Durchbruch zu verhelfen. Die Beweiserleichterung ist hierfür ein notwendiger und wichtiger Beitrag, der durch die neue Verjährungshemmung und die erweiterte Verzinsung zusätzlich gestärkt wird.
VII. Die Verjährungshemmung gem. § 33 Abs. 5 GWB Die 7. GWB-Novelle hat ebenfalls die Verjährung von kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen modifiziert. Gemäß § 33 Abs. 5 Satz 1 GWB wird die Verjährung eines Schadensersatzanspruchs nach Absatz 3 gehemmt, wenn die Kartellbehörde wegen eines Verstoßes i. S. d. Absatzes 1 oder die Europäische Kommission oder die nationale Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaates der EU wegen einer Verletzung gegen Art. 81 oder 82 EG ein Verfahren einleitet.
189
So überzeugend Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 113. Momentan erscheint dies allerdings schon in der Konstruktion problematisch, weil die Kronzeugenprogramme nicht auf gesetzlichen Regelungen beruhen. 190
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
1. Allgemeines Die Neuregelung stellt eine kartellrechtsspezifische Ergänzung des allgemeinen Verjährungsrechts dar. Grundsätzlich finden nämlich auch im Kartelldeliktsrecht die allgemeinen Verjährungsregeln des BGB Anwendung. Für Schadensersatzansprüche gilt demnach die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren i. S. d. § 195 BGB. Die Verjährung beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres zu laufen, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. Die nötige Kenntnis bezieht sich hierbei allein auf die Tatsachen, aus denen der Anspruch herzuleiten ist. Das Kartellopfer braucht somit nicht den Anspruch selbst zu kennen.191 Die relevanten Sachumstände treten in Kartellsachverhalten aber nicht immer offen zu Tage. Häufig wird erst durch Insiderinformationen aus der Sphäre des Delinquenten, durch Hinweise in der Presse oder aber aufgrund eigener Marktbeobachtungen ein erster Verdacht entstehen. Solche Verdachtsmomente dürften für das Auslösen der Verjährungsfrist nicht genügen. Eine hinreichende „Kenntnis“ des Geschädigten wird sich aber oftmals dann ergeben, wenn die Kartellbehörden im Rahmen der behördlichen Ermittlung an ihn herantreten oder ein kartellbehördliches Verfahren publik wird.192 Gerade bei Schädigungen durch fortgesetztes unzulässiges Marktverhalten ist zu überlegen, ob die Verjährung hieraus abgeleiteter Schadensersatzansprüche erst mit der Beendigung des Kartellrechtsverstoßes, also etwa mit Beendigung des Kartells, beginnt. Dies wird meist zu verneinen sein. Der strafrechtliche Begriff der fortgesetzten Handlung ist nach ständiger Rechtsprechung auf das Zivilrecht nicht zu übertragen.193 Die Wiederholung einer schädigenden Handlung erzeugt somit immer eine neue Schädigung und einen neuen Schadensersatzanspruch, der jeweils eigenständig zu verjähren beginnt.194 Gleichwohl ist im Zivilrecht ein Aufschub des Verjährungsbeginns bei schädigenden Dauerhandlungen nicht gänzlich unbekannt.195 Die Grenze zwischen Dauerhandlung und wiederholten Handlungen ist fließend und demgemäß schwierig zu bestimmen. Für eine dauernde Beeinträchtigung ist jedoch eine ununterbrochene Verletzungshandlung nötig. Diese kann bspw. bei Boykotten und Marktabschottungen in Betracht kommen. Bei Schädigungen der Marktgegenseite etwa durch ein 191 192 193 194
Vgl. Peters, in: Staudinger, § 199 Rdnr. 47. Bechtold, § 33 Rdnr. 32. RGZ 134, 335 (338 f.); BGHZ 71, 86 (94); 95, 238 (240). RGZ 134, 335 (338 f.); BGHZ 97, 97 (110); Peters, in: Staudinger, § 199 Rdnr.
20. 195 Vgl. BGH NJW 1973, 2285 (2285); Palandt/Heinrichs, § 199 Rdnr. 21; Peters, in: Staudinger, § 199 Rdnr. 21.
VII. Die Verjährungshemmung gem. § 33 Abs. 5 GWB
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praktiziertes Preiskartell wird dies aber eher nicht der Fall sein, da mit jeder Transaktion isolierte, sich wiederholende Verletzungshandlungen vorliegen. Aus europarechtlicher Sicht ist dies nicht zu beanstanden, solange hierdurch dem Geschädigten nicht praktisch unmöglich gemacht wird, seine Ersatzansprüche tatsächlich geltend zu machen.196 Die regelmäßige, dreijährige Verjährungsfrist für Ersatzansprüche i. R. d. § 33 GWB hatte sich bislang nicht als besondere Hürde im Rahmen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung erwiesen. Gerade weil der Verjährungsbeginn nicht allein an die schädigende Handlung, sondern zusätzlich auch an das Kennen bzw. Kennenmüssen des Geschädigten anknüpft, war eine Sonderregelung im Kartellrecht nicht zwingend erforderlich. Als zu kurz konnte sich die Regelverjährung allerdings im Zusammenhang mit sog. Follow-on-Verfahren erweisen. Wollten die Geschädigten zunächst den Ausgang eines kartellbehördlichen Verfahrens abwarten, um im Anschluss daran ihre Zivilansprüche geltend zu machen, standen sie u. U. vor dem Problem, dass die Verjährung ihrer Ansprüche drohte. In komplexen Sachverhalten kann das kartellbehördliche Verfahren durchaus ein bis zwei Jahre in Anspruch nehmen. Legen dann die betroffenen Unternehmen noch Beschwerde gegen die Behördenentscheidung ein, ist die dreijährige Verjährungsfrist schnell abgelaufen. Der Geschädigte hätte deshalb nach der alten Rechtslage gezwungen sein können, noch vor einer rechtskräftigen Entscheidung Klage vor dem Zivilgericht zu erheben. Vor diesem Hintergrund war nun zu befürchten, dass die neue Bindungswirkung gemäß § 33 Abs. 4 GWB in manchen Fällen leer laufen würde. Auch in diesem Punkt konnte sich der Gesetzgeber am US-amerikanischen Antitrust-Recht orientieren, das diese Problematik durch eine Verjährungshemmung behebt. Gemäß Sec. 5(i) Clayton Act197 wird die Verjährung eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs durch eine behördliche Klage- bzw. Anklageerhebung in einem Zivil- oder Strafverfahren für den Zeitraum dieses Verfahrens und des darauf folgenden Jahres gehemmt.198 Der sachliche und persönliche Anwendungsbereich des US-amerikanischen Pendants geht dabei äußerst weit, da dort für eine Verjährungshemmung bereits bloße Überschneidungen zwischen den Gegenständen des „behördlichen“ Verfahrens und der Follow-on-Klage ausreichen und die Verjährungshemmung auch keine Beteiligung
196 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 81 f. – Manfredi. 197 15 U.S.C. § 16(i). 198 Näher hierzu Areeda/Hovenkamp, ¶ 321. Nach der Rechtsprechung gilt die Verjährungshemmung nicht nur für Verfahren, die vom Department of Justice eingeleitet werden, sondern auch für Verwaltungsverfahren der FTC, Minnesota Mining & Mfg. Co. v. New Jersey Wood Finishing Co., 381 U.S. 311, 321, 85 S.Ct. 1473, 1479 (1965).
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
des Delinquenten am Ausgangsverfahren voraussetzt.199 So weit ist der deutsche Gesetzgeber zu Recht nicht gegangen, so dass § 33 Abs. 5 GWB und Sec. 5(i) Clayton Act in ihrer näheren Ausgestaltung durchaus unterschiedlich sind. Die dahinterliegende gesetzgeberische Intention ist gleichwohl dieselbe: Beide Regelungen sollen gewährleisten, dass individuell Geschädigte tatsächlich auf die Erkenntnisse des behördlichen Verfahrens zurückgreifen können.200 2. Anwendungsbereich und Voraussetzungen a) „Wettbewerbsbehörden“ Vom sachlichen Anwendungsbereich der Verjährungshemmung werden verschiedene kartellbehördliche Verfahren erfasst. Zum einen sind hier Kartellverfahren der deutschen Kartellbehörden wegen eines Verstoßes gegen Vorschriften des GWB oder aber der Artt. 81 oder 82 EG zu nennen (sowohl Verwaltungsverfahren i. S. d. §§ 54 ff. GWB wie auch Bußgeldverfahren i. S. d. §§ 81 ff. GWB). Ebenso kommen aber auch Verfahren der Europäischen Kommission und nationaler Behörden anderer Mitgliedstaaten der EU wegen Verletzungen der europäischen Wettbewerbsregeln in Betracht. Eine sprachliche Unklarheit ergibt sich hinsichtlich nationaler Kartellverfahren im europäischen Ausland. Das Gesetz spricht nur von Verfahren durch Wettbewerbsbehörden und stellt diesen – anders als § 33 Abs. 4 Satz 1 GWB – nicht Verfahren durch als Wettbewerbsbehörde handelnde Gerichte gleich. Im Schrifttum ist deshalb noch während des Gesetzgebungsverfahrens eine sprachliche Anpassung an Absatz 4 gefordert worden.201 In der Sache ergeben sich hieraus jedoch keine Einschränkungen. Zunächst ist zu bedenken, dass in den Mitgliedstaaten, in denen Gerichte als Wettbewerbsbehörden fungieren, diese in aller Regel erst auf der zweiten Stufe tätig werden, während die ersten Ermittlungen zunächst durch eine Behörde erfolgen. Die Verjährungshemmung wird dann bereits durch letztere ausgelöst. Ansonsten darf aber § 33 Abs. 5 GWB auch nicht das deutsche Behördenverständnis i. S. d. § 1 Abs. 4 VwVfG zugrunde gelegt werden. Angebracht erscheint eher ein Rückgriff auf die im europäischen Wettbewerbsrecht beigemessene Bedeutung i. S. d. Art. 5 VO 1/2003.202 Nach Art. 35 VO 1/2003 bleibt es den jeweiligen Mitgliedstaaten überlassen, welche Stellen als nationale Wettbewerbsbehörde bestimmt werden. Dabei kommen ausdrücklich auch Gerichte in Betracht.203 Die explizite Erwähnung von als Wettbewerbsbehörde handelnden 199 Vgl. hierzu Zenith Radio Corp. v. Hazeltine Research, Inc., 401 U.S. 321, 335, 91 S.Ct. 795, 804 (1971). 200 Vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 55. 201 Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1132). 202 Bechtold, § 33 Rdnr. 34. 203 Art. 35 Abs. 1 Satz 3 VO 1/2003.
VII. Die Verjährungshemmung gem. § 33 Abs. 5 GWB
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Gerichten in Absatz 4 ist deshalb nicht mehr als eine schlichte Klarstellung. Handeln somit in anderen Mitgliedstaaten Gerichte als Wettbewerbsbehörde, sind auch deren Verfahren vom Anwendungsbereich des § 33 Abs. 5 GWB erfasst. b) Relevante Verfahren Weiterhin spricht das Gesetz etwas vage von einem Verfahren wegen „eines Verstoßes“ gegen nationale und europäische Wettbewerbsvorschriften. Hier sind einige Einschränkungen zu beachten. Natürlich muss sich das kartellbehördliche Verfahren auf denselben Kartellrechtsverstoß beziehen, aus dem der Geschädigte seinen Schadensersatzanspruch ableitet. Ebenso muss es sich um ein „förmliches Verfahren“ handeln, das auf den Erlass einer Verfügung bzw. eines Bußgeldbescheides zielt. Allgemeine Marktüberwachungen und formlose Ermittlungstätigkeiten reichen dagegen nicht aus. Die nötigen Konturen erhält die Norm erst im Lichte ihrer primären Funktion des Schutzes der Bindungswirkung gemäß Absatz 4. Im Grundsatz gilt daher, dass auch nur solche Verfahren zu einer Hemmung der Verjährung führen können, die potentiell geeignet sind, die Bindungswirkung auszulösen.204 Das bedeutet etwa bei Verfahren ausländischer Wettbewerbsbehörden, dass diese nur dann beachtlich sind, wenn die Verfälschung der Marktverhältnisse in dem jeweiligen Mitgliedstaat für den Anspruch des Gläubigers von Relevanz ist. Der tatsächliche Ausgang des kartellbehördlichen Verfahrens ist dagegen im Rahmen der Verjährungshemmung irrelevant. Sie tritt auch dann ein, wenn das Verfahren später eingestellt wird oder zu dem Ergebnis gelangt, dass kein Kartellrechtsverstoß vorgelegen hat. c) Verfahrenseinleitung Maßgeblich für den Beginn der Verjährungshemmung ist die „Einleitung“ des kartellbehördlichen Verfahrens. Hinsichtlich des genauen Zeitpunktes der Verfahrenseinleitung ist in mehrfacher Hinsicht zu differenzieren. Verfahren durch deutsche Kartellbehörden können zum einen in Form eines Verwaltungsverfahrens, zum anderen in Form eines Bußgeldverfahrens erfolgen. Beide Verfahrensarten unterliegen dabei unterschiedlichen Verfahrensregeln. Gemein ist ihnen jedoch, dass der genaue Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung nur sehr schwer abstrakt zu bestimmen ist, da ein förmlicher Akt der Verfahrenseinleitung nicht erforderlich ist.205 Die Grenzen sind mitunter fließend und den entwickelten Ab204
Bechtold, § 33 Rdnr. 34. Für das Verwaltungsverfahren: KG WuW/E OLG 964 (965) – Autoschmiermittel; OLG Celle WuW/E OLG 1387 (1388) – Bauleitplan; Kiecker, in: Langen/Bunte, § 54 Rdnr. 8; IM/K. Schmidt (3. Aufl.), § 54 Rdnr. 6. Für das Bußgeldverfahren: IM/ Dannecker/Biermann (3. Aufl.), Vor § 81 Rdnr. 155. 205
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
grenzungskriterien fehlt es an Schärfe. Reine Vorfeldermittlungen stellen noch keine Verfahrenseröffnung dar.206 Im Verwaltungsverfahren soll es bei Amtsverfahren entscheidend darauf ankommen, ob die Tätigkeit der Kartellbehörde unmittelbare oder mittelbare Außenwirkung entfaltet.207 Das ist dann der Fall, wenn die Behörde „in eine konkrete Prüfung eintritt, welche Tatsachen vorliegen, welche Auswirkungen sie haben und wie sie kartellrechtlich zu beurteilen sind.“208 Spätestens bei einer entsprechenden Mitteilung an das betroffene Unternehmen kann man aber von einer Verfahrenseinleitung ausgehen. Ähnlich weiche Kriterien finden sich im Bereich des Bußgeldverfahrens. Entsprechend den Grundsätzen zum allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht soll eine Verfahrenseinleitung durch die erste Maßnahme der Kartellbehörde erfolgen, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Ordnungswidrigkeit i. S. d. § 81 GWB vorzugehen.209 Bei beiden Verfahrensarten zeigt sich, dass mit Unklarheiten und Auseinandersetzungen zu rechnen ist, sollte es einmal entscheidend auf den exakten Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung ankommen. Die Beweislast für den Beginn der Hemmung liegt letztlich beim Geschädigten.210 Wesentlich konkreter lässt sich der Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung für Verfahren durch die Kommission benennen. Hier richtet sich die Verfahrenseinleitung nach Art. 2 VO 773/2004.211 Im Anschluss an eine Voruntersuchungsphase erfolgt hier die Verfahrenseinleitung durch einen förmlichen Rechtsakt, mit dem die Kommission ihre Absicht anzeigt, eine Entscheidung zu erlassen.212 In der Praxis wird die Verfahrenseinleitung häufig mit der Mitteilung der Beschwerdepunkte verbunden.213 Anhand der Mitteilung an die Parteien lässt sich der Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung somit ohne weiteres bestimmen. Hinsichtlich der Kartellverfahren durch ausländische Kartellbehörden ist auf das maßgebliche nationale Verfahrensrecht zu verweisen.
206
IM/K. Schmidt (3. Aufl.), § 54 Rdnr. 6. Becker, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 54 Rdnr. 1; IM/K. Schmidt (3. Aufl.), § 54 Rdnr. 6. 208 Kiecker, in: Langen/Bunte, § 54 Rdnr. 9. 209 IM/Dannecker/Biermann (3. Aufl.), Vor § 81 Rdnr. 155; vgl. auch Göhler, OWiG, vor § 59 Rdnr. 27. 210 Vgl. allgemein zur Beweislastverteilung bei Verjährungshemmungen: Peters, in: Staudinger, § 209 Rdnr. 7. 211 Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission v. 07.04.2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag durch die Kommission, ABl. EG 2004, L 123/18. 212 Klees, § 5 Rdnr. 11. 213 Klees, § 5 Rdnr. 12. 207
VII. Die Verjährungshemmung gem. § 33 Abs. 5 GWB
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3. Rechtsfolge Mit Einleitung eines relevanten kartellbehördlichen Verfahrens wird die Verjährung des Schadensersatzanspruchs gehemmt. In diesem Punkt erweist sich die gesetzliche Rechtsfolgenanordnung als zu eng. Entsprechendes sollte ebenso für den Verzinsungsanspruch gemäß § 33 Abs. 3 Satz 4 GWB gelten.214 Die Hemmung hat zur Folge, dass der Ablauf der Verjährungsfrist um die Dauer der Hemmung hinausgeschoben wird (§ 209 BGB). Dies betrifft nicht nur den Zeitraum des laufenden kartellbehördlichen Verfahrens, sondern erstreckt sich ebenso auf ein eventuell anschließendes Gerichtsverfahren, das die Überprüfung der kartellbehördlichen Entscheidung zum Gegenstand hat. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Geschädigten stets die Möglichkeit haben, die Bindungswirkung nach § 33 Abs. 4 GWB in Anspruch zu nehmen. Gemäß § 33 Abs. 5 GWB i. V. m. § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB endet die Hemmung sechs Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des eingeleiteten Verfahrens. Aufgrund dieser Nachfrist verbleiben dem Gläubiger unabhängig davon, wann das kartellbehördliche Verfahren eingeleitet wurde, in jedem Fall mindestens sechs Monate, um die Erkenntnisse des kartellbehördlichen Verfahrens zu verwerten und den Zivilprozess vorzubereiten. Fraglich ist, welche Rechtsfolgen sich i. R. d. § 33 Abs. 5 GWB ergeben, wenn es gleich zu mehreren – zeitlich versetzten oder parallelen – Behördenverfahren kommt. Auf europäischer Ebene sind in vertikaler Hinsicht keine parallelen Verfahren möglich, da mit der Einleitung eines Verfahrens durch die Kommission die Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden entfällt (Art. 11 Abs. 6 Satz 1 VO 1/2003). Denkbar sind aber parallele Verfahren durch mehrere nationale Kartellbehörden innerhalb der EU. Im Schrifttum wurde zur Lösung der im Gesetz nicht geregelten Frage bereits vorgeschlagen, hinsichtlich des Beginns der Verjährungshemmung an das zuerst eingeleitete Verfahren und hinsichtlich des Endes der Hemmung i. R. d. § 204 Abs. 2 BGB an das (nicht zwingend identische) zuerst abgeschlossene Verfahren anzuknüpfen.215 In dogmatischer Hinsicht kann eine solche Auffassung nicht überzeugen, sofern sie davon ausgeht, es liege nur eine Hemmung vor. Tatsächlich löst aber jedes kartellbehördliche Verfahren unabhängig von solchen anderer Behörden eigenständig eine Verjährungshemmung aus. Parallele Hemmungstatbestände sind durchaus möglich.216 Zu beachten ist hierbei lediglich, dass die Zeiträume, in denen sich die Hemmungstatbestände überschneiden, am Ende bei der Neubestimmung des Ablaufs der Verjährung nicht addiert werden dürfen. Dies bedeutet zunächst, dass grundsätzlich die Verjährung des Schadensersatzanspruchs erst-
214 215 216
Näher hierzu unten, S. 269 ff. So Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1132). Peters, in: Staudinger, § 203 Rdnr. 3.
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mals mit der Einleitung des ersten Verfahrens gehemmt wird und erst sechs Monate nach Beendigung des letzten noch laufenden Verfahrens wieder zu laufen beginnt. Dies entspräche auch der Rechtslage im US-amerikanischen Antitrust-Recht.217 Unter dem Aspekt der eingeschränkten Rechtssicherheit zulasten des Schuldners ist dies nicht zu beanstanden,218 da sich bereits bei einem einzigen kartellbehördlichen Verfahren nicht vorhersagen lässt, wie viel Zeit es in Anspruch nehmen wird und wann letztlich mit der Verjährung zivilrechtlicher Ansprüche zu rechnen ist. Es ließe sich argumentieren, dass die Gläubigerinteressen hinreichend gewahrt blieben, wenn die Verjährungshemmung nur bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der ersten, einen Kartellverstoß positiv feststellenden rechtskräftigen bzw. bestandskräftigen Entscheidung andauerte. Den Geschädigten wäre es dann durchaus zuzumuten, die Zivilklage einzuleiten. Hiergegen spricht jedoch, dass die Bindungswirkung kartellbehördlicher oder gerichtlicher Entscheidungen in räumlicher Hinsicht auf das Zuständigkeitsgebiet der jeweiligen Behörde begrenzt ist.219 Macht etwa ein Abnehmer geltend, durch ein grenzüberschreitendes Kartell sowohl auf dem britischen wie dem deutschen Markt geschädigt worden zu sein, hilft ihm eine Entscheidung des britischen Office of Fair Trading wenig bei der Realisierung der in Deutschland erlittenen Schäden. Diese enthält keine das Zivilgericht bindende Feststellung darüber, ob die Marktverhältnisse in Deutschland durch den Kartellrechtsverstoß verfälscht wurden. Es besteht somit durchaus ein legitimes Interesse daran, sämtliche, potentiell eine Bindungswirkung auslösenden kartellbehördlichen Verfahren abzuwarten. Zu bedenken ist aber, dass Verfahren nationaler Wettbewerbsbehörden in Mitgliedsländern, in denen die Beschränkung des Wettbewerbs nicht zu dem vom Kläger vorgebrachten Schaden beigetragen hat, ohnehin keine Bindungswirkung bewirken können und demgemäß von vornherein keine Verjährungshemmung auslösen. 4. Bewertung Der Gesetzgeber hat zu Recht das Instrument der Verjährungshemmung als notwendige Ergänzung zur Bindungswirkung aufgegriffen. Die Verjährungsregeln nach altem Recht waren zwar ausreichend, um Ersatzansprüche in unabhängigen Zivilverfahren zu realisieren. Bei Follow-on-Verfahren konnte sich aber die dreijährige Verjährung unter Umständen als Hindernis erweisen. Das alte Verjährungsrecht stand somit einer wirksamen Förderung von Anschlussverfahren im Wege. Bei der Anwendung der neuen Verjährungshemmung können zwar im Einzelfall Schwierigkeiten auftreten, den Beginn der Hemmung 217 Maricopa County v. American Pipe & Constr. Co., 303 F.Supp. 77 (1969). Vgl. auch Areeda/Hovenkamp, ¶ 321a. 218 So aber Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1132). 219 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 54.
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exakt zu bestimmen. Ansonsten wird § 33 Abs. 5 GWB jedoch seinem zugedachten Zweck, die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Bindungswirkung zu gewährleisten, vollumfänglich gerecht. Die Norm ist somit ein weiterer wichtiger Baustein zur Erzielung eines Opferausgleichs bei Kartellverstößen. Die für den Kartelltäter mit der Hemmung verbundene Unsicherheit darüber, wann er endgültig nicht mehr mit zivilrechtlichen Sanktionen für sein wettbewerbsbeschränkendes Handeln zu rechnen braucht, kann unter dem Aspekt einer erhöhten Abschreckung im Kartelldeliktsrecht durchaus als begrüßenswerter Nebeneffekt gesehen werden.
VIII. Die erweiterte Verzinsung gem. § 33 Abs. 3 Satz 4 GWB 1. Allgemeines Eine weitere Neuregelung stellt die erweiterte Verzinsung gem. § 33 Abs. 3 Satz 4 GWB dar. Hiernach sind Geldschulden, die sich im Rahmen der Schadensersatzhaftung nach § 33 Abs. 3 GWB ergeben, bereits ab Eintritt des Schadens zu verzinsen. Der Beginn der Verzinsung wird hierdurch im Vergleich zur alten Rechtslage erheblich vorverlagert. Bisher galten auch im Kartelldeliktsrecht die im allgemeinen Zivilrecht üblichen Verzinsungsregeln, wonach der Schuldner eine Geldschuld erst ab Verzug (§ 288 BGB) bzw. spätestens mit Eintritt der Rechtshängigkeit einer vom Gläubiger erhobenen Klage (§ 291 BGB) zu verzinsen hat. Die nunmehr im Gesetz enthaltene Anknüpfung an den Eintritt des Schadens für den Beginn der Verzinsung stellt gerade für das Kartelldeliktsrecht eine deutliche zeitliche Vorverlagerung dar. Üblicherweise verstreicht nämlich bei Kartellrechtsverstößen weitaus mehr Zeit zwischen der Schädigung und deren Entdeckung durch die Geschädigten als sonst im Bereich der unerlaubten Handlungen, da Kartellrechtsverstöße, insbesondere HardcoreKartelle, in aller Regel verdeckt praktiziert werden und für die Opfer nicht als schädigende Handlung erkennbar sind. Ebenfalls erfordern der Nachweis eines Verstoßes und die Quantifizierung der erlittenen Schäden Zeit und Mühe, so dass auch nach der Kenntniserlangung nicht unmittelbar mit einer Klageerhebung zu rechnen ist. Mit der Neuregelung verfolgte der Gesetzgeber im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen sollte das Kompensationsinteresse der Geschädigten besser geschützt werden. Hiermit sollte der eben genannten kartellrechtlichen Besonderheit Rechnung getragen werden, dass Geschädigte erst sehr spät Ansprüche geltend machen können und eine Zinspflicht nach den allgemeinen Regeln dementsprechend spät ausgelöst wird.220 Schuldet der Delinquent während dieser langen 220
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Entdeckungsphase keine Verzinsung, führt dies zu einer Verzerrung der Kompensation, da der zu leistende Ersatz nicht den tatsächlich entstandenen Schaden in voller Höhe auszugleichen vermag. Insbesondere bei Verstößen gegen Artt. 81, 82 EG ist zu berücksichtigen, dass der Europäische Gerichtshof mehrfach betont hat, dass bei Verletzungen des Europarechts dem Geschädigten „volle Kompensation“ zu leisten ist.221 Diese müsse auch den Umstand einbeziehen, dass der Zeitablauf den tatsächlichen Wert der Wiedergutmachung verringern kann.222 Ob sich hieraus für den nationalen Gesetzgeber ein europarechtliches Gebot zur Vorverlagerung der Verzinsungspflicht auf den Eintritt des Schadens ergibt, kann dahingestellt sein. Zumindest nach Auffassung des Generalanwalts van Gerven ist dies der Fall.223 Dieser Aspekt hat aber bei den Überlegungen des deutschen Gesetzgebers weniger im Vordergrund gestanden. Eine größere Rolle spielte dagegen die beabsichtigte Stärkung von Follow-onVerfahren im Anschluss an Behördenentscheidungen. Mit der Neueinführung der Bindungswirkung behördlicher (bzw. gerichtlicher) Entscheidungen sowie der Verjährungshemmung sollte den Kartellopfern die Möglichkeit gegeben werden, sich die im Rahmen des behördlichen Verfahrens gewonnenen Erkenntnisse für ihr zivilrechtliches Vorgehen zunutze zu machen. Ein Abwarten des Ausgangs dieses Verfahrens wäre jedoch mit einer zusätzlichen zeitlichen Verzögerung verbunden, während derer die Geschädigten keine Verzinsung beanspruchen könnten. Die Neuregelung des § 33 Abs. 3 Satz 4 sollte deshalb in erster Linie sicherstellen, dass mit einem Abwarten des kartellbehördlichen Verfahrens keine finanziellen Nachteile verbunden sind.224 Die erweiterte Verzinsung ist insofern ebenfalls als flankierender Schutz der Bindungswirkung zu verstehen, der die praktische Anwendung § 33 Abs. 4 GWB gewährleisten soll. Neben der vollumfänglichen Kompensation von Kartellopfern bezweckte der Gesetzgeber mit der erweiterten Verzinsungsregelung als weiteres Ziel eine verstärkte Abschreckung im Bereich des Kartellprivatrechts.225 Gerade in Fällen der Follow-on-Verfahren sollte verhindert werden, dass Kartelltäter aus der langen Dauer von behördlichen Ermittlungen finanzielle Vorteile ziehen können, indem sie während dieser Zeit mit der rechtswidrig erlangten Kartellrendite
221 Vgl. nur EuGH, Rs. 217/91, Slg. 1993, I-4367, Rdnr. 26 – Marshall II. Vgl. hierzu bereits oben, S. 113 ff. 222 EuGH, Rs. 217/91, Slg. 1993, I-4367, Rdnr. 31 – Marshall II; verb. Rs. C295/ 04 bis C298/04, Slg. 2006, I-6619, Rdnr. 97 – Manfredi. 223 Vgl. Schlussanträge des GA van Gerven, Rs. C-128/92, Slg. 1994, I-1209, Rdnr. 54 – Banks; siehe insbesondere auch ders., in: Ehlermann/Atanasiu, S. 53 (91), wo er in seinem Entwurf für eine mögliche sekundärrechtliche Regelung für den Bereich des Kartelldeliktsrechts in Art. 4 Abs. 3 Satz 3 VO-E eine Verzinsung für den Zeitraum vom Eintritt des Schadens bis zur Urteilsverkündung vorschlägt. 224 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 54. 225 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 54.
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weiterhin wirtschaften. Dieser Abschöpfungscharakter wird durch den anwendbaren § 288 BGB verstärkt, da dieser angesichts seiner recht hoch angesetzten Zinssätze ohnehin vom Präventionsgedanken getragen ist.226 2. Voraussetzungen und Umfang der Verzinsung Voraussetzung für einen Verzinsungsanspruch gem. § 33 Abs. 3 Satz 4 GWB ist zunächst, dass der Schadensersatzanspruch auf Geldersatz gerichtet ist. Geldschulden sind nur auf Zahlung gerichtete Verbindlichkeiten.227 Schadensersatzansprüche in Form der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) kommen demgemäß nicht in Betracht. Weiterhin ist für den Beginn der Verzinsung der Eintritt des Schadens entscheidend. Bei Schädigungen der Marktgegenseite durch kartellrechtswidrig überhöhte Preise liegt dieser bereits in dem Abschluss des Kaufvertrags bzw. anderweitigen Rechtsgeschäfts zu den überzogenen Konditionen. Der Schaden besteht hier in der Differenz zwischen dem höheren Kartellpreis und dem ansonsten unter Wettbewerbsbedingungen erzielbaren Marktpreis. Ein Schaden der Marktgegenseite setzt daher nicht voraus, dass sich der Wettbewerbsverstoß nachteilig auf das Betriebsergebnis ausgewirkt hat.228 Dies ergibt sich nun auch unmittelbar aus § 33 Abs. 3 Satz 2 GWB. Gemäß § 33 Abs. 3 Satz 5 GWB richtet sich der Umfang der Verzinsung nach den Regelungen der §§ 288, 289 BGB über die Verzugszinsen. Hiernach liegt der Zinssatz grundsätzlich bei jährlich fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz (§ 288 Abs. 1 Satz 2 BGB). Letzterer wird alle sechs Monate an die jüngste Hauptrefinanzierungsoperation der Europäischen Zentralbank angepasst und von der Deutschen Bundesbank bekannt gegeben (§ 247 BGB). Seit dem 1. Juli 2008 beträgt der Basiszinssatz 3,19%.229 Hieraus ergibt sich derzeit eine zu leistende Verzinsung von insgesamt 8,19% p.a. Angesichts des momentan eher moderaten Zinsniveaus ist diese gesetzliche Verzinsung für den Gläubiger äußerst lukrativ. Er braucht nicht nachzuweisen, dass ihm tatsächlich eine Zinseinbuße oder ein sonstiger Schaden in dieser Höhe entstanden ist.230 Ein Verzögerungsschaden in dieser Höhe wird im Rahmen des § 288 BGB gesetzlich fingiert, stellt allerdings bloß einen Mindestschaden dar. Die Möglichkeit der Geltendmachung eines weitergehenden Schadens sowie eines sich aus einem anderen Rechtsgrund ergebenden höheren Zinssatzes bleibt hiervon unbenommen, da über den Verweis des § 33 Abs. 3 Satz 5 GWB auch
226
Vgl. nur Jauernig/Stadler, § 288 Rdnr. 1 f.; Erman/Hager, § 288 Rdnr. 3 f. Vgl. nur etwa K. Schmidt, in: Staudinger, Vorbem. zu §§ 244 ff., Rdnr. C2. 228 Vgl. hierzu unten, S. 419 ff. 229 Vgl. § 247 Abs. 2 BGB i. V. m. der Bekanntmachung der Deutschen Bundesbank v. 26.06.2008, BAnz. 2008, Nr. 94, S. 2232. 230 Löwisch, in: Staudinger, § 288 Rdnr. 23. 227
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§ 288 Abs. 3 und 4 BGB zur Anwendung gelangen.231 Über § 289 BGB ergibt sich darüber hinaus ein Zinseszinsverbot. Fraglich ist, ob im Rahmen des § 33 GWB die erhöhte Verzinsung nach § 288 Abs. 2 BGB Anwendung finden kann, wenn der Geschädigte ein Unternehmer ist. Hiernach beträgt „[b]ei Rechtsgeschäften, an denen ein Verbraucher nicht beteiligt ist“ der Zinssatz für Entgeltforderungen acht Prozentpunkte über dem Basiszinssatz. Insgesamt käme es dann zu einer Verzinsung von über 11 Prozent. Im Ergebnis ist dies zu verneinen.232 Die Anwendbarkeit scheitert nicht bereits daran, dass es sich bei einem Anspruch aus § 33 GWB um einen deliktischen Anspruch handelt und sich dieser somit nicht aus einem „Rechtsgeschäft“ ergibt.233 Die gesetzliche Formulierung „bei Rechtsgeschäften“ ist nämlich weiter zu verstehen, als man zunächst denken mag. Dies zeigt ein Blick auf § 352 HGB, der die Höhe der gesetzlichen Zinsen „bei“ Handelsgeschäften regelt. Anerkanntermaßen sind hiervon nicht nur Erfüllungsansprüche, sondern ebenso Nebenansprüche und Schadensersatzansprüche, die sich aus dem Vertrag herleiten, umfasst.234 Ein – auch im Kartellrecht in Betracht kommender – Schadensersatzanspruch aus culpa in contrahendo wäre demnach durchaus von diesem Tatbestandsmerkmal erfasst. Nach einer verbreiteten Auffassung in der Kommentarliteratur zu § 352 HGB reicht der Anwendungsbereich jedoch noch weiter und umfasst sogar Bereicherungsansprüche und Ansprüche aus Delikt, soweit der Anspruch mit dem Rechtsgeschäft in einem inneren Zusammenhang steht.235 Verwende das Gesetz die Formulierung „bei“ einem Handels- bzw. Rechtsgeschäft, so die Ansicht, sei dies keineswegs i. S.e. „aus“ einem Handelsgeschäft zu verstehen. Entscheidend sei in diesem Fall weniger der Rechtsgrund als vielmehr der konkrete Sachzusammenhang. Eine solche Argumentation ließe sich durchaus auf das Kartelldeliktsrecht übertragen, da es wenig Sinn ergäbe, einen Anspruch aus § 33 GWB mit dem regulären Zinssatz i. S. d. § 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen, einen eventuell konkurrierenden Anspruch aus culpa in contrahendo hingegen mit dem höheren Zinssatz des Abs. 2. Eine Anwendbarkeit des § 288 Abs. 2 BGB i. R. d. § 33 GWB wäre vor diesem Hintergrund durchaus denkbar, wenn Kartelltäter und Geschädigter in Vertragsbeziehung zueinander stehen. Die Heranziehung des erhöhten Zinssat231
Bechtold, § 33 Rdnr. 31. Bechtold, § 33 Rdnr. 31; Rehbinder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 48; a. A. hingegen: Schütt, WuW 2004, S. 1124 (1132); wohl auch Wurmnest, 6 GLJ, S. 1173 (1184) [2005]. 233 So aber Bechtold, § 33 Rdnr. 31. 234 K. Schmidt, in: MünchKomm, HGB, § 352 Rdnr. 7; Heymann/Horn, HGB, § 352 Rdnr. 15. 235 Canaris, in: Staub, HGB, § 352 Rdnr. 12; Roth, in: Roth/Koller/Morck, HGB, § 352 Rdnr. 3; a. A. jedoch die wohl h. L. und Rspr.: vgl. RGZ 96, 53 (57), nach dem ein Handelsgeschäft „den Rechtsgrund des [zu verzinsenden] Anspruchs bilden“ muss, sowie Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB, § 352 Rdnr. 1. 232
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zes nach § 288 Abs. 2 BGB scheitert aber letztlich daran, dass es sich bei einem Schadensersatzanspruch nicht um eine vom Gesetz verlangte „Entgeltforderung“ handelt. Solche sind nämlich ausschließlich Forderungen, die auf Zahlung eines Entgelts für die Lieferung von Gütern oder die Erbringung von Dienstleistungen gerichtet sind.236 Schadensersatzansprüche, Bereicherungsansprüche oder Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag fallen aus dem Anwendungsbereich der Norm heraus. § 288 Abs. 2 BGB diente nämlich allein der Umsetzung der europäischen Zahlungsverzugs-Richtlinie, die ausdrücklich Schadensersatzansprüche von ihrem Geltungsbereich ausnimmt.237 Schadensersatzansprüche im Rahmen des § 33 GWB sind somit unabhängig von einer Verbraucherbeteiligung ausschließlich mit dem regulären Zinssatz nach § 288 Abs. 1 GWB zu verzinsen. 3. Die Anwendbarkeit des § 33 Abs. 5 GWB im Rahmen der Verzinsung Eine Unklarheit im Zusammenhang mit dem Verzinsungsanspruch, die sich nach der Neufassung des § 33 GWB ergibt, stellt sich im Rahmen der Verjährung. Die Verjährung von Verzinsungsansprüchen nach § 288 BGB richtet sich ebenso wie beim Schadensersatzanspruch aus § 33 Abs. 3 GWB grundsätzlich nach der regelmäßigen Verjährung i. S. d. §§ 195, 199 BGB.238 Die Verjährung der Hauptforderung und die der Verzinsung werden somit zunächst parallel laufen. Ein zwingender Gleichlauf ergibt sich hieraus jedoch nicht. Ansprüche auf Nebenleistungen, wie etwa Verzinsungsansprüche, sind nämlich hinsichtlich des Verjährungsbeginns, der Dauer sowie der Hemmung und Unterbrechung von der Verjährung des Hauptanspruchs unabhängig.239 Eine gesetzliche Ungereimtheit tritt nun in Fällen von Follow-on-Verfahren auf. Wie bereits erörtert, hat der Gesetzeber eine Verjährungshemmung sowie den erweiterten Verzinsungsanspruch neu eingeführt, damit die Geschädigten das Behördenverfahren abwarten können, ohne dass ihnen dabei die Verjährung ihrer Schadensersatzansprüche oder finanzielle Nachteile in Form von Opportunitätskosten drohen. Wird somit ein behördliches Kartellverfahren eingeleitet, wird die Verjährung des Schadensersatzanspruchs gehemmt. Hier stellt sich nun die Frage, ob § 33 Abs. 5 GWB ebenfalls auf den Verzinsungsanspruch Anwendung findet. Ist dies nicht 236 Palandt/Heinrichs, § 286 Rdnr. 27; Jauernig/Stadler, § 286 Rdnr. 32; Löwisch, in: Staudinger, § 288 Rdnr. 16. 237 Erwägungsgrund 13 der Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.06.2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. EG 2000, L 200/35. Vgl. auch die Reg.-Begr., BT-Drs. 14/6040, S. 148 sowie den Bericht und die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drs. 14/ 7052, S. 187. 238 Löwisch, in: Staudinger, § 288 Rdnr. 29. 239 Palandt/Heinrichs, § 217 Rdnr. 1; Peters, in: Staudinger, § 217 Rdnr. 4.
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der Fall, könnte der Geschädigte zwar sicher sein, dass er während des behördlichen Verfahrens und eines möglichen Beschwerdeverfahrens eine Verzinsung erhält. Andererseits würden im Einzelfall Verzinsungsansprüche für davor liegende Zeiträume verjähren. Aus dem Blickwinkel des allgemeinen Verjährungsrechts wäre eine Erstreckung der Verjährungshemmung auf die Verzinsung zu verneinen. Der unterschiedliche Verlauf der Verjährung ist nämlich Ausdruck der gesetzlich zugrunde gelegten Unabhängigkeit von Nebenleistungs- und Hauptansprüchen. Trotz der Verjährungshemmung des Schadensersatzanspruchs läuft die Verjährung des Verzinsungsanspruchs fort. Das Gesetz sieht in § 217 BGB lediglich vor, dass Nebenleistungsansprüche spätestens mit dem Hauptanspruch verjähren. Durchaus möglich ist es aber, dass die Verjährung von Verzugszinsen im Einzelfall vor der des Hauptanspruchs vollendet ist.240 Hemmungen der Verjährung der Hauptforderung beeinflussen deshalb die Verjährung der Nebenforderungen nicht.241 Im Ergebnis kann eine solche Lösung jedoch nicht überzeugen und war sicherlich nicht vom Gesetzgeber beabsichtigt. Dem Geschädigten würde auf diese Weise mit der einen Hand gegeben, was ihm sogleich mit der anderen Hand wieder genommen würde. In einer Niedrigzinsphase wären die Verzinsungsansprüche während des behördlichen Verfahrens u. U. sogar geringer, als die der Verjährung unterfallenden Verzinsungsansprüche früherer Jahre. Dies ist insbesondere deshalb unbefriedigend, weil es dem Gesetzgeber im Rahmen der Erweiterung der Verzinsungspflicht ein zentrales Anliegen war, Kartellopfer vor finanziellen Nachteilen durch ein Abwarten des kartellbehördlichen Verfahrens zu bewahren.242 Dass er nicht auch noch den Verzinsungsanspruch in die Verjährungshemmung aufgenommen hat, kann nur auf ein schlichtes Versehen zurückzuführen sein. Sachgerecht erscheint es deshalb, § 33 Abs. 5 Satz 1 GWB extensiv auszulegen und die Verjährungshemmung auch auf mit dem Schadensersatzanspruch zusammenhängende Nebenansprüche wie den Verzinsungsanspruch i. S. d. § 33 Abs. 3 Satz 4 GWB auszudehnen. Nur so ist gewährleistet, dass Geschädigte bedenkenlos die Vorteile eines Follow-on-Verfahrens in Anspruch nehmen können. 4. Auswirkungen und Bewertung Auch wenn Schadensersatzansprüche bei Kartellverstößen nur eine Verzinsung zum regulären Zinssatz auslösen, sind die Auswirkungen durch die Vorverlagerung des Verzinsungszeitraumes beträchtlich. Man würde das Potential 240
Peters, in: Staudinger, § 217 Rdnr. 4. Peters, in: Staudinger, § 217 Rdnr. 9; vgl. hierzu auch BGH NJW 1995, 252 (253 f.). 242 Vgl. Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 54. 241
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der neuen Verzinsungsregelung unterschätzen, wenn man hierin nur einen schlichten Zuschlag auf die Hauptforderung erblickte. Hierzu muss man sich die typischerweise zu verzeichnenden zeitlichen Verzögerungen zwischen Kartellverstößen und der Aufdeckung sowie die durchschnittliche Verfahrensdauer vor den Zivilgerichten vor Augen halten. Empirische Untersuchungen aus Deutschland liegen hierzu nicht vor. Untersuchungen aus den USA243 legen aber nahe, dass die durchschnittliche Dauer eines Kartells sieben bis acht Jahre beträgt. Bei einer gewissen Überschneidung sind weitere zwei Jahre für die Vorbereitung einer Klage zu veranschlagen und sodann wird das Gerichtsverfahren nochmals durchschnittlich viereinhalb Jahre dauern. Kartellrechtliche Schadensersatzansprüche würden im Schnitt schätzungsweise für die Dauer von acht bis neun Jahren verzinst.244 Auch in Deutschland kann die Verfahrensdauer vor den Zivilgerichten vier bis fünf Jahre betragen, soweit der Rechtsweg voll ausgeschöpft wird.245 Der veranschlagte Zeitraum von acht bis neun Jahren lässt sich somit durchaus auch auf Deutschland übertragen. Während eines solchen Zeitraumes würden bei einem Zinssatz von 8,19% zusammengenommen Zinsen in Höhe von 65–74% der Hauptforderung anfallen. Hierbei handelt es sich natürlich nur um eine sehr grobe Schätzung. Selbstverständlich muss Berücksichtigung finden, dass sich der Zinssatz gem. § 288 Abs. 1 alle sechs Monate verändert und somit der Berechnung des Verzinsungsanspruchs für jeden Halbjahreszeitraum der jeweils gültige Zinssatz zugrunde gelegt werden muss. Dennoch wird hieran deutlich, dass durch die zeitlichen Verzögerungen in kartellrechtlichen Sachverhalten beträchtliche Zinsbeträge zusammenkommen, die durchaus 50% der Hauptforderung übersteigen können. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass in Fällen von Follow-on-Verfahren noch die Dauer des behördlichen Kartellverfahrens hinzugerechnet werden muss, und die Zinsbeträge dementsprechend nochmals höher ausfallen. Hardcore-Kartellverfahren, also Ordnungswidrigkeitenverfahren i. V. m. Verstößen gegen § 1 GWB bzw. Art. 81 EG, dauern nach internen Angaben des Bundeskartellamtes derzeit durchschnittlich 22 Monate.246 Auch Missbrauchsverfahren können mitunter mehr als ein Jahr beanspruchen. Weitere mehrjährige Verzögerungen können sich darüber hinaus aus dem anschließenden Beschwerdeverfahren ergeben. Verzinsungszeiträume von über 10 Jahren werden somit durchaus realistisch. 243
Vgl. hierzu Lande, 54 Ohio St. L. J., S. 115 (131 f.) [1993] m. w. N. Lande, 54 Ohio St. L. J., S. 115 (132) [1993]. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Zeiträume nicht einfach addiert werden können, da sie sich zum einen teilweise überschneiden, zum anderen aber auch weil die erlittenen Schäden nicht gleich zu Beginn des Kartells eintreten, sondern während der Dauer des Kartells sukzessive anfallen. 245 Vgl. Wach/Epping u. a., S. 25. 246 Abzuwarten bleibt, ob sich diese Durchschnittswerte mit der Konzentration solcher Verfahren bei der 11. Beschlussabteilung und der neu eingerichteten 12. Beschlussabteilung künftig verringern lassen. 244
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Der erweiterten Verzinsungsregel kommt vor diesem Hintergrund ein nicht zu unterschätzendes Abschreckungspotenzial zu. Gleichzeitig erlangen Geschädigte einen substantiellen Ausgleich für die zusätzlich zum ursprünglichen Schaden entstehenden Verzugsschäden im Anschluss an die Schädigung. Im Ergebnis schafft die Regelung einen eleganten Kompromiss zwischen der wiederholt erhobenen Forderung nach einem mehrfachen Schadensersatz im Kartellrecht247 und der bisherigen Rechtslage. In Extremfällen kann es nämlich nun in Deutschland mit der weit über den reinen Inflationsausgleich hinausreichenden Verzinsung faktisch zu einem „doppelten Schadensersatz“ kommen. Auf diesem Wege vollzieht sich daher eine Annäherung des deutschen Haftungsregimes an die sog. „treble damages“ nach US-amerikanischem Recht, nach dem in der Regel erst ab dem Tag der Urteilsverkündung eine Verzinsung gewährt wird. Im Ergebnis liegen ein einfacher Schadensersatz mit einer umfassenden Verzinsung und ein dreifacher Schadensersatz ohne Verzinsung oftmals gar nicht so weit auseinander.248 Im Vergleich zu einem mehrfachen Schadensersatz ist die vom Gesetzgeber gewählte Variante einer erweiterten Verzinsung aber deshalb vorzugswürdig, weil sie sich problemlos in das hiesige Rechtssystem einfügen lässt, ohne dass dabei systematische Brüche zu befürchten wären.
IX. Die Streitwertanpassung gem. § 89a GWB 1. Hintergrund Die 7. GWB-Novelle hat sich primär mit der materiellrechtlichen Seite des Kartellprivatrechts befasst. Die nötigen Impulse zur Förderung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung sollten in erster Line von der Neugestaltung der §§ 33, 34a GWB ausgehen. In sehr begrenztem Maße hat sie aber auch zu Neuerungen auf prozessualer Ebene geführt. Mit § 89a GWB sieht das Gesetz nun eine Regelung zur Streitwertanpassung vor, nach der das Gericht in Zivilverfahren zugunsten einer wirtschaftlich unterlegenen Prozesspartei einseitig den Streitwert herabsetzen kann. Hintergrund dieser Regelung ist das regelmäßig hohe Kostenrisiko in Kartellzivilsachen, das sowohl aus den Streitwerten wie auch dem Aufwand für die Sachaufklärung resultiert. Im Schrifttum war das Kostenrisiko schon seit längerem als Hemmschuh für eine effektive private Kartell247 Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 75 ff.; Basedow, in: Ehlermann/Atanasiu, S. 137, 144; Wurmnest, in: Behrens/Braun/Nowak, S. 213 (225 f.); Hempel, WuW 2004, S. 362 (371) (für Hardcore-Kartelle). Ebenso schlug das Grünbuch der Kommission für horizontale Kartelle einen zweifachen Schadensersatz vor, vgl. Europ. Kommission, Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts, Option 16 sowie das Arbeitspapier z. Grünbuch, Tz. 150. 248 Vgl. hierzu Lande, 54 Ohio St. L. J., S. 115 ff. [1993], der insb. wegen des Fehlens eines „prejudgment interest“ im Antitrust-Recht der Ansicht ist, dass die gezahlten Schadensersatzsummen oftmals nur dem tatsächlichen Schaden entsprechen.
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rechtsdurchsetzung ausgemacht worden.249 Der deutsche Gesetzgeber teilte nun diese Einschätzung und war erstmals entschlossen, gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen, um auf diesem Gebiet zumindest teilweise Abhilfe zu schaffen.250 Mit der einseitigen bzw. relativen Streitwertherabsetzung griff der Gesetzgeber auf ein durchaus bekanntes Instrumentarium zur Minderung des Kostenrisikos zurück. Entsprechende Regelungen finden sich über das gesamte Wirtschaftsrecht verstreut, namentlich im gewerblichen Rechtsschutz (§ 144 PatG, § 142 MarkenG, § 26 GebrMG, § 54 GeschmMG), im Aktienrecht (§ 247 AktG) und bislang auch im Lauterkeitsrecht (§ 23b UWG a. F.) sowie zwischen 2000 und 2004 im Recht über Allgemeine Geschäftsbedingungen (§ 5 UKlaG a. F.). Gleichzeitig mit § 89a GWB wurde auch im Energiewirtschaftsrecht eine entsprechende Regelung eingeführt (§ 105 EnWG). Die Problematik des wirtschaftlichen Ungleichgewichts und die damit verbundene abschreckende Wirkung des Kostenrisikos auf den Individualrechtsschutz stellt sich fast überall im Wirtschaftsrecht gleichermaßen. Aber anstatt wie lange Zeit im Kartellrecht hieraus den Schluss zu ziehen, dass der Zivilprozess für die Wirtschaftsaufsicht ungeeignet sei,251 hat man sich im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes schon sehr früh daran gemacht, den Individualrechtsschutz zu erleichtern. Bereits 1936 wurde im Zuge der Patentrechtsreform der mit § 89a GWB nahezu identische § 53 PatG a. F. mit der Begründung eingeführt, dass „[d]ie Erfahrung [gelehrt habe], daß beim Streit um die Frage einer Patentverletzung nicht selten das wirtschaftliche Übergewicht der einen über die andere Partei einer gerechten Lösung hinderlich ist, weil es der weniger bemittelten Partei nicht möglich ist, das mit der Einlassung in einen Patentprozeß verbundene Kostenwagnis zu übernehmen. Sie sieht sich infolgedessen zur Preisgabe ihrer Rechte oder bestenfalls zum Eingehen eines ungünstigen Vergleichs genötigt. [. . .] Die vom sozialen Standpunkt unerquicklichen Erscheinungen haben ihren Grund in der außergewöhnlichen Höhe der Kosten gerade der Patentprozesse, die durch die Größe der Streitwerte und die meist gegebene Notwendigkeit der Heranziehung kostspieliger Sachverständigengutachten bedingt ist.“252
In den folgenden Jahren zeigte sich jedoch, dass sich die praktische Bedeutung dieser Neuerung in Grenzen hielt.253 Hiervon unbeirrt überführte der Gesetzgeber die relative Streitwertherabsetzung wegen der vergleichbaren Problematik im Jahre 1965 auch in das UWG, WZG (jetzt: MarkenG), GebrMG so249 Vgl. nur K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 105; Soell, FS-Wahl, S. 439 (443 ff.). Ebenso Hempel, S. 84 f.; Witthuhn, S. 81. Vgl. für Europa Waelbroeck/Slater/Even-Shoshan, S. 12. 250 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 69. Zustimmend: Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 97. 251 Siehe oben, S. 35 ff. 252 Reg.-Begr. zu den Gesetzen über den gewerblichen Rechtsschutz v. 05.05.1936, BlPMZ 1936, S. 103 (115). 253 Zuck, GRUR 1966, S. 167 (168).
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wie das AktG.254 Nur das Kartellrecht sparte er dabei noch aus. Im kartellrechtlichen Schrifttum war deshalb schon in den 1970er Jahren von Soell255 und K.Schmidt256 eine entsprechende Regelung im GWB als mögliche Verbesserung des Kostenrisikos im Kartellprivatrecht vorgeschlagen worden. Erst mit der gewachsenen Bedeutung des privaten Rechtsschutzes seit der Modernisierung des EG-Kartellverfahrensrechts hat der Gesetzgeber diesen Vorschlag aufgegriffen und sich dabei maßgeblich am – aus anderen Gründen 2004 entfallenen257 – § 23b UWG a. F. angelehnt. 2. Die Funktionsweise der Streitwertanpassung Auch bei Anordnung einer Streitwertanpassung bleibt es bei dem Grundsatz der Unterliegendenhaftung gem. § 91 ZPO, nach der die unterliegende Partei die Kosten des Rechtsstreits (Gerichtskosten und außergerichtliche Kosten) zu tragen hat. Der entscheidende Unterschied besteht nun darin, dass bei einer Streitwertanpassung die anfallenden Prozesskosten für die jeweiligen Parteien nach unterschiedlichen Streitwerten bemessen werden. Für die nicht-begünstigte Partei gilt der Regelstreitwert während für die begünstigte Partei der niedrigere Teilstreitwert gilt. Im Einzelnen bedeutet dies: (1) Unterliegt die begünstigte Partei im Verfahren, so ist sie nur zur Zahlung der Gerichtskosten nach dem Teilstreitwert verpflichtet (§ 89a Abs. 1 Satz 1). Ebenso hat sie die Gebühren ihres Rechtsanwalts, des Rechtsanwalts der Gegenpartei und die vom Gegner verauslagten Gerichtsgebühren nur nach dem herabgesetzten Streitwert zu entrichten (Satz 3 und 4). Die nicht-begünstigte Partei ist hingegen im Innenverhältnis weiterhin zur Entrichtung der vollen Rechtsanwaltsgebühren verpflichtet und muss demgemäß die Differenz zu den Gebühren nach dem Teilstreitwert selbst tragen. War sie darüber hinaus Klägerin im Verfahren gilt entsprechendes auch für die Gerichtskosten (vgl. § 22 GKG). Wenn die nicht-begünstigte Partei also gewinnt, wirkt sich die Streitwertanpassung für sie so aus, als hätte sie den Prozess in Höhe des Differenzbetrages verloren.258 (2) Gewinnt hingegen die begünstigte Partei, kann deren Rechtsanwalt von der Gegenpartei seine Gebühren nach dem Regelstreitwert beitreiben. Für die Gerichtskosten kommt der Begünstigte, sofern er Kläger war, allenfalls im Wege der Zweitschuldnerhaftung gem. § 22 GKG (dann aber bemessen nach dem Teilstreitwert) auf. Die Gegenpartei muss hingegen Gerichtskosten, die Gebühren des eigenen Anwalts sowie die Anwaltsgebühren des Begünstigten nach dem vollen Streitwert erbringen. 254
Vgl. hierzu Reg.-Begr., BT-Drs. IV/2217, S. 5 ff. Soell, FS-Wahl, S. 439 (443 ff.). 256 K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 105. 257 § 23b UWG a. F. ist im Zuge der UWG-Reform von 2004 entfallen, da er durch § 23a UWG a. F. (jetzt: § 12 Abs. 4 UWG) seine bisherige Bedeutung weitestgehend verloren hatte, vgl. BT-Drs. 15/1487, S. 15. 258 Pastor, WRP 1965, S. 271 (279). 255
IX. Die Streitwertanpassung gem. § 89a GWB
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Wird somit im Kartellzivilverfahren eine Streitwertanpassung angeordnet, wird die nicht-begünstigte Partei unabhängig vom Ausgang des Verfahrens auf einem Teil ihrer Kosten sitzen bleiben. Nutznießer ist der Begünstigte, dessen Kostenrisiko im Falle des Unterliegens gemildert wird. Für den Anwalt der begünstigten Partei wirkt sich die Streitwertanpassung wie ein Erfolgshonorar aus, da er nur bei Obsiegen seine Gebühren nach dem Regelstreitwert erheben darf.259 3. Rechtspolitische und verfassungsrechtliche Einwände Die Streitwertherabsetzung im wirtschaftsrechtlichen Zivilprozess ist in der Vergangenheit vielfach kritisiert worden. Die Kritik richtete sich weniger gegen das damit verfolgte Ziel, wirtschaftlich unterlegenen Geschädigten Individualrechtsschutz zuteil werden zu lassen. Vielmehr wertete man die vom Gesetzgeber gewählte Lösung – gerade im Lauterkeitsrecht – als rechtspolitisch verfehlt,260 bisweilen sogar als verfassungswidrig.261 Dabei ist die Streitwertanpassung insbesondere zwei Vorwürfen ausgesetzt, nämlich zum einen, dass sie die nicht-begünstigte Partei unbillig belaste, wenn sie zu Unrecht in Anspruch genommen wird, zum anderen, dass die gefundene Lösung zulasten des handelnden Anwalts gehe.262 Verfassungsrechtliche Bedenken bestanden deshalb, weil man hierin zulasten der nicht-begünstigten Partei einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3) und das Gebot der Waffengleichheit im Zivilprozess (Art. 20 i. V. m. Art. 3 GG) sowie zulasten der Anwälte einen Verstoß gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) erblickte.263 Die verfassungsrechtliche Kritik ist mittlerweile verstummt, seitdem das Bundesverfassungsgericht 1991 die Verfassungsmäßigkeit des § 23b UWG a. F. festgestellt hatte.264 Nach Auffassung des Gerichts ist Ungleichbehandlung zwischen begünstigten und nicht-begünstigten Parteien sachlich gerechtfertigt, da der Gesetzgeber im sozialen Rechtsstaat gehalten sei, die prozessuale Stellung von bemittelten und unbemittelten Parteien weitgehend anzugleichen.265 Auch die Waffengleichheit sei hierdurch nicht beeinträchtigt, da
259
Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 69. Baumbach/Hefermehl (22. Aufl.), UWG, § 23b Rdnr. 1a; Ingerl/Rohnke, MarkenG, § 142 Rdnr. 16; Teplitzky, Kap. 50 Rdnr. 4; Berneke, in: Ahrens, Kap. 41 Rdnr. 19 m. w. N. Siehe ferner Zuck, GRUR 1966, S. 167 (168). 261 Graf Lambsdorff/Kanz, BB 1983, S. 2215 ff. Vgl. hierzu auch Traub, FS-Söllner, S. 577 (581 ff.). 262 Vgl. Zuck, GRUR 1966, S. 167 (168 ff.). 263 Vgl. Zuck, GRUR 1966, S. 167 ff.; Graf Lambsdorff/Kanz, BB 1983, S. 2215 (2216 ff.). 264 BVerfG WuW/E VG 392 ff. 265 BVerfG WuW/E VG 392 (393). 260
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
diese gerade erst durch die Angleichung der Kostenrisiken erreicht werde.266 Zu möglichen Verstößen gegen Artt. 12 und 14 GG nahm der Beschluss hingegen keine Stellung. Nichtsdestotrotz wird die Norm nunmehr ganz überwiegend als verfassungsrechtlich unbedenklich gebilligt.267 In rechtspolitischer Hinsicht sind die Bedenken damit nicht ganz ausgeräumt. Die durch die Streitwertanpassung bewirkte Kostenbelastung der zu Unrecht verklagten oder zu Recht klagenden, nicht-begünstigten Partei lässt sich nur schwer mit dem zivilprozessualen Prinzip der Unterliegendenhaftung und dem dahinter liegenden Gerechtigkeitsgedanken in Einklang bringen. Eine gesetzliche Hilfestellung zugunsten wirtschaftlich schwächerer Parteien muss nicht zwingend mit einer Schlechterstellung der Gegenpartei verbunden sein. Diese wird nicht nur im Vergleich zur Kostenbelastung der begünstigten Partei, sondern auch im Vergleich zum allgemeinen Kostenrecht benachteiligt. Fragen wurden deshalb laut, ob finanzielle Barrieren im Individualschutz nicht besser im Wege der Prozesskostenhilfe behoben werden können.268 Aber auch in den USA ist man den Weg einer einseitigen Abweichung von der sog. „American rule“ im Kartelldeliktsrecht gegangen.269 Weiterhin darf im Zusammenhang mit der Streitwertanpassung auch die Gefahr einer missbräuchlichen Inanspruchnahme nicht vergessen werden. Auch bemittelte Kläger werden versucht sein, auf diese Weise Mitnahmeeffekte zu erzielen. Ebenso ist bedenklich, dass die Streitwertanpassung in den anderen Rechtsgebieten bislang weitgehend ein Schattendasein geführt hat.270 Offensichtlich ist man dem erhofften Ziel eines gestärkten Individualrechtsschutzes für wirtschaftlich unterlegene Personen nicht viel näher gekommen. 4. Die Voraussetzungen Eine Streitwertanpassung kommt gleichermaßen für den Kläger wie für den Beklagten in Kartellzivilverfahren in Betracht. Hierbei muss es sich nicht notwendigerweise um den Geschädigten handeln; theoretisch steht die Streitwertanpassung auch Kartelltätern offen.271 Als Instrument zur Förderung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung ist die Norm jedoch in erster Linie auf die Kartell266
BVerfG WuW/E VG 392 (393). Busse, PatG, § 144 Rdnr. 3; Hüffer, in: MünchKomm, AktG, § 247 Rdnr. 21; K. Schmidt, in: Großkomm AktG, § 247 Rdnr. 3; Teplitzky, Kap. 50 Rdnr. 5 m. w. N. 268 So Ingerl/Rohnke, MarkenG, § 142 Rdnr. 16. 269 Vgl. hierzu oben, S. 194 ff. 270 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 89a Rdnr. 2; Traub, FS-Söllner, S. 577 (582); K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 107. So schon Zuck GRUR 1966, S. 167 (168). 271 Bechtold, § 89a Rdnr. 4. Vgl. auch Dicks, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 89a Rdnr. 6. 267
IX. Die Streitwertanpassung gem. § 89a GWB
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opfer zugeschnitten. Entscheidende Voraussetzung für eine Streitwertanpassung ist, dass die beantragende Partei durch die Belastung mit den Prozesskosten nach dem vollen Streitwert in ihrer wirtschaftlichen Lage erheblich gefährdet würde. Hier zeigt sich bereits, dass § 89a GWB eben nur eine teilweise Abmilderung des abschreckenden Kostenrisikos bewirkt. Es werden keine zusätzlichen Klageanreize in Fällen geschaffen, in denen ein Geschädigter allein deshalb auf die Geltendmachung seiner Ansprüche nach §§ 33, 34a GWB verzichtet, weil erwarteter Gewinn und Kostenrisiken außer Verhältnis stehen. Auf eine schlichte Kosten-/Nutzenrechnung kommt es nicht an. Vielmehr sind nur solche Fälle vom Anwendungsbereich erfasst, in denen der Kläger aus Sorge um seine wirtschaftliche Lage von einem weiteren Vorgehen Abstand nehmen würde. Die wirtschaftliche Lage und die voraussichtliche Kostenbelastung sind gegeneinander abzuwägen.272 Hierzu muss zunächst der Regelstreitwert bestimmt werden, da hiervon die Prozesskosten abhängen. Auf dieser Basis ist für den Fall des Unterliegens das volle Kostenrisiko der jeweiligen Instanz (ohne etwaige Rechtsmittelkosten)273 zu ermitteln und zu prüfen, ob diese Belastung die wirtschaftliche Lage erheblich gefährden würde.274 In der Rechtspraxis zu den Parallelvorschriften des § 89a GWB haben sich hierzu einige Leitlinien ergeben. Eine erhebliche Gefährdung ist nicht bereits dann gegeben, wenn die Kostenbelastung eine unangenehm spürbare wirtschaftliche Belastung darstellt.275 Anderseits ist auch nicht erforderlich, dass der Antragsteller gänzlich außerstande wäre, die vollen Prozesskosten zu tragen.276 Notwendig, aber auch ausreichend ist, wenn das Kostenrisiko für die Partei nicht mehr tragbar ist, weil die Beeinträchtigung seines Einkommens und seines Vermögens aus seiner Sicht in keinem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Prozessergebnis steht.277 Bislang hat die Rechtsprechung im Rahmen der Streitwertanpassung tendenziell einen strengen Maßstab angelegt. So wurde etwa ein Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass eine „Gefahr des Zusammenbruchs“ des Unternehmens nicht bestand.278 Ebenso soll es nach der h. M. zumutbar sein, zur Finanzierung des
272 BGH GRUR 1994, 385 (385) – Streitwertherabsetzung; WRP 1998, 958 (958) – Verbandsinteresse (jeweils zu § 23a UWG); Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 89a Rdnr. 8. 273 Teplitzky, Kap. 50 Rdnr. 7 (zu § 23b UWG a. F.); Ingerl/Rohnke, MarkenG, § 142 Rdnr. 21 (zu § 142 MarkenG). 274 Mes, PatG, § 144 Rdnr. 4. 275 Teplitzky, Kap. 50 Rdnr. 7 (zu § 23b UWG a. F.). 276 Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 89a Rdnr. 8. 277 Hüffer, in: MünchKomm, AktG, § 247 Rdnr. 24 (zu § 247 Abs. 2 AktG). Vgl. auch Reg.-Begr. zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb des Warenzeichengesetzes und des Gebrauchsmustergesetzes von 1965, BTDrs. IV/2217, S. 7. 278 OLG Stuttgart WRP 1982, 489 (490) (zu § 23a UWG a. F.).
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
Verfahrens einen Kredit aufzunehmen.279 Eine solch restriktive Anwendung der Streitwertanpassung erscheint in kartellrechtlichen Zusammenhängen nicht sachgerecht, soll § 89a GWB nicht gänzlich sein Ziel verfehlen, die private Kartellrechtsdurchsetzung zu fördern.280 Dies gilt im Rahmen von Schadensersatzansprüchen umso mehr, da diese nicht von Verbänden nach § 33 Abs. 2 GWB geltend gemacht werden können und gerade Verbandsklagen der Auslöser für die gerichtliche Zurückhaltung bei der Streitwertanpassung waren. Ist der Antragsteller unternehmerisch tätig, sollte im Rahmen von Kartellrechtsstreitigkeiten spätestens dann von einer erheblichen Gefährdung der wirtschaftlichen Lage ausgegangen werden, wenn die Belastung mit den vollen Prozesskosten Auswirkungen auf die Wettbewerbssituation der Partei haben würde.281 Die Voraussetzungen der Streitwertanpassung müssen von der beantragenden Partei glaubhaft gemacht werden (§ 294 ZPO). Hierzu ist notwendig, dass sie ihre wirtschaftliche Lage so detailliert darlegt und durch Beweismittel wie etwa Steuerbescheide, Vermögensaufstellung der Bank, Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen oder eine eidesstattliche Versicherung belegt, dass das Gericht eine sachgerechte Anpassung des Regelstreitwerts vornehmen kann.282 Nach § 89a Abs. 1 Satz 2 GWB kann das Gericht die Anordnung davon abhängig machen, dass die Partei glaubhaft macht, dass die Kosten des Rechtsstreits nicht von Dritten übernommen werden. Dies zielt primär auf Verbandsklagen i. S. d. § 33 Abs. 2 GWB ab, kann aber auch in Schadensersatzverfahren zum Tragen kommen, sofern sich der Kläger – wie etwa nach dem Geschäftsmodell der Cartel Damages Claims, S.A. im Zementkartellverfahren283 – die Ersatzansprüche der Kartellopfer abtreten lässt und gebündelt in ihrem Interesse geltend macht. Die Entscheidung über die Vornahme einer Streitwertanpassung steht im Ermessen des Gerichts. Hierdurch soll eine von der Herabsetzung des Streitwerts ausgehende Missbrauchsgefahr ausgeschlossen werden.284 Nach der Rechtsprechungspraxis im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und des Lauterkeitsrechts kann eine Herabsetzung des Streitwerts etwa dann wegen missbräuchlicher Prozessführung versagt werden, wenn (1) die Erfolglosigkeit der Rechts279 Vgl. Busse, PatG § 144 Rdnr. 12; Teplitzky, Kap. 50 Rdnr. 7; Fezer, MarkenR, § 142 Rdnr. 4. 280 So auch Bechtold, § 89a Rdnr. 6; a. A.: Dicks, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, § 89a Rdnr. 4; Lübbig/le Bell, WRP 2006, S. 1209 (1212). 281 Vgl. hierzu auch Schulte/Kühnen, PatG, § 144 Rdnr. 17. 282 Vgl. hierzu Hüffer, in: MünchKomm, AktG, § 247 Rdnr. 25; ähnlich: K. Schmidt, in: Großkomm AktG, § 247 Rdnr. 24 (zu § 247 Abs. 2 AktG). 283 Vgl. hierzu LG Düsseldorf, Az. 34 O (Kart) 147/05. Siehe hierzu die Zusammenstellung der Pressestimmen im Internet unter http://www.cdcag.com/presse.html (zuletzt: 20.08.2008). 284 Reg.-Begr., BT-Drs. 15/3640, S. 69; zustimmend: Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 98.
IX. Die Streitwertanpassung gem. § 89a GWB
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verfolgung oder -verteidigung auf der Hand liegt,285 (2) der Antragsteller gar nicht die Absicht hat, das Verfahren weiter fortzuführen286 oder (3) wenn er selbst dazu beigetragen hat, den Streitwert zu erhöhen.287 Sind die Voraussetzungen für eine Herabsetzung des Streitswertes erfüllt, setzt das Gericht einen Teilstreitwert fest. Dieser soll in einem angemessenen Verhältnis zum vollen Streitwert stehen, um der rechtlichen und wirtschaftlichen Bedeutung der Streitsache zu entsprechen.288 Hierbei kommt es jeweils auf die Umstände des Einzelfalls an, so dass pauschale Kürzungen nicht vorzunehmen sind. Im Lauterkeitsrecht ist jedoch von den Instanzgerichten des Öfteren eine nicht unumstrittene Berechnungsmethode angewandt worden, nach der bei einem über 5.000 EUR liegenden Streitwert der diese Summe übersteigende Betrag um 90% gekürzt wurde.289 5. Bewertung Die Einführung der im sonstigen Wirtschaftsrecht schon seit langem vorgesehenen Streitwertanpassung in das Kartellrecht stellt aus Klägersicht zweifelsohne eine nützliche Ergänzung der prozessualen Rahmenbedingungen dar und ist ungeachtet der rechtspolitischen Bedenken prinzipiell zu begrüßen. Im Einzelfall mag die Schlechterstellung der nicht-begünstigten Partei zwar zu unbilligen Ergebnissen führen, insgesamt erscheint sie jedoch gerade in kartellrechtlichen Zusammenhängen sachgerecht: Mit der Einführung des Systems der Legalausnahme ergibt sich für Unternehmen ein größerer Freiraum bei der Bewertung der rechtlichen Zulässigkeit ihrer Verhaltensweisen. Für den Graubereich des gerade noch zulässigen oder eben nicht mehr zulässigen Marktverhaltens darf die hierdurch bedingte Rechtsunsicherheit aber nicht bedeuten, dass allein die Betroffenen das Kostenrisiko an der gerichtlichen Klärung einer ungewissen Rechtslage zu tragen haben. Eine gewisse finanzielle Beteiligung der Unternehmen ist deshalb auch dann geboten, wenn die gegen sie erhobenen Klagen letztlich erfolglos bleiben.290 So begrüßenswert somit die Neuregelung ist, bleibt allerdings zweifelhaft, ob der hemmende Effekt, der vom Kostenrisi285 RG GRUR 1938, 325 (325) (zu § 53 PatG a. F.); OLG Hamburg WRP 1979, 382 (382) (zu § 23a UWG a. F.); Busse, PatG, § 144 Rdnr. 15; Fezer, MarkenR, § 142 Rdnr. 10. 286 KG GRUR 1939, 346 (346) (zu § 53 PatG a. F.); Fezer, MarkenR, § 142 Rdnr. 10. 287 OLG Hamburg GRUR 1957, 146 (146) (zu § 53 PatG a. F.); Busse, PatG, § 144 Rdnr. 15; Fezer, MarkenR, § 142 Rdnr. 10. 288 Fezer, MarkenR, § 142 Rdnr. 11. 289 Vgl. KG WRP 1977, 717 (717); 1982, 468 (468); OLG Koblenz GRUR 1984, 746 (747) (jeweils zu § 23a UWG a. F.); zustimmend Fezer, MarkenR, § 142 Rdnr. 11. Ablehnend: Ingerl/Rohnke, MarkenG, § 142 Rdnr. 27; Teplitzky, Kap. 50 Rdnr. 21; Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 89a Rdnr. 12. 290 Vgl. hierzu bereits K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 107.
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Kap. 4: Die Änderungen durch die 7. GWB-Novelle
ko im Kartellzivilrecht ausgeht, sich hierdurch tatsächlich wirksam beseitigen lässt.291 Schon in den 1970er Jahren warnte K.Schmidt davor, sich nicht Illusionen darüber hinzugeben, dass eine Streitwertanpassung einen großen Beitrag zur Effektivität im Kartellprivatrecht leisten könne.292 Zweifel sind in diesem Punkt schon deshalb angebracht, weil die Streitwertanpassung nur in einem Bruchteil der Fälle Abhilfe schafft. § 89a GWB verhindert nur, dass Geschädigte auf ihren Rechtsschutz verzichten, um nicht in eine wirtschaftliche Krise zu geraten. Das generelle Problem, dass sich der Aufwand für ein komplexes Verfahren bei geringen Schadenssummen und ungewissem Ausgang des Verfahrens nicht lohnt, bleibt aber unverändert. Kartellopfer mit Streuschäden aber auch Betroffene mit moderaten Schäden werden sich weiterhin zweimal überlegen, ob sich der Aufwand eines Verfahrens wirklich lohnt. Hier kann die Herabsetzung des Streitwertes in keinem Fall helfen, da der Regelstreitwert ohnehin niedrig ist. Zweifel an der Effektivität des § 89a GWB im Rahmen von Schadensersatzklagen rühren auch daher, dass die Streitwertanpassung von der Konzeption her insbesondere auf Verbände ausgerichtet ist.293 Dies spiegelte sich auch bisher in der Anwendungspraxis der Parallelnormen wider. Sollte sich künftig auch im Kartellrecht Ähnliches einstellen, wird von der Neuregelung auch deshalb kein Schub für Schadensersatzklagen ausgehen, da den Verbänden die Zuständigkeit für Schadensersatzansprüche fehlt.
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So auch Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 89a Rdnr. 2. K. Schmidt, Aufgaben und Leistungsgrenzen, S. 107. 293 Vgl. Reg.-Begr. zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb des Warenzeichengesetzes und des Gebrauchsmustergesetzes von 1965, BT-Drs. IV/2217, S. 5 u. 6. Vgl. auch Monopolkommission, SG Nr. 41, Tz. 97. 292
Kapitel 5
Das Problem der Schadensabwälzung im neuen Kartelldeliktsrecht („passing-on“) I. Das Phänomen der Schadensabwälzung Eine besondere Herausforderung im Rahmen des kartellrechtlichen Schadensersatzes stellt die Behandlung einer Schadensabwälzung auf der Marktgegenseite dar (sog. „passing-on“). Die gesteigerte Spezialisierung im Wirtschaftsleben hat zu einer komplexen Struktur der Absatzmärkte geführt. Der Weg vom Hersteller eines Gutes bis zum Endverbraucher ist gewöhnlich durch eine Vielzahl von Akteuren und Transaktionen geprägt. Tritt nun am Anfang einer mehrgliedrigen Absatzkette ein Wettbewerbsverstoß auf, der zu einem erhöhten Verkaufspreis für ein bestimmtes Gut führt, ist im Rahmen von Schadensersatzansprüchen der Marktgegenseite zu erörtern, inwieweit Berücksichtigung finden muss, dass der unmittelbare Abnehmer in der Lage gewesen ist, die Preiserhöhung auf seine Vertragspartner (teilweise) abzuwälzen. Eine solche Schadensabwälzung kann sich je nach Länge der Absatzkette über mehrere Stufen erstrecken, so dass sich ein Schaden mitunter sukzessive über sämtliche Stufen der Marktgegenseite verteilt. Soweit hierbei von einer Abwälzung „des Schadens“ gesprochen wird, handelt es sich immer nur um eine der möglichen Schadenspositionen. Der Schaden des unmittelbaren Abnehmers erschöpft sich nämlich meist nicht in dem kartellbedingten Mehrpreis. Daneben kann ein wirtschaftlicher Verlust in Form von entgangenen Gewinnen treten, den dieser aufgrund des Absatzrückgangs erleidet, der in aller Regel mit steigenden Preisen verbunden ist.1 Letztere Schadensposition bleibt vom Phänomen der Schadensabwälzung unberührt. Die Passing-on-Problematik befasst sich somit allein mit dem kartellbedingten Mehrpreis. Eine Schadensabwälzung kann bei allen Formen von Wettbewerbsbeschränkungen auftreten, die zu überhöhten Preisen führen. Vergleichsmaßstab bildet hierbei der sich ansonsten aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage einstellende Wettbewerbspreis. Paradigmatisch sind hierbei Preiskartelle; ebenso kommen jedoch auch Quotenkartelle, die aufgrund einer Verminderung des Outputs zu höheren Preisen führen, Preisdiskriminierungen oder aber der sog. Ausbeutungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen in Betracht. Der sprachlichen Vereinfachung halber soll im Weite1
Vgl. hierzu unten, S. 419 ff.
282
Kap. 5: Die Schadensabwälzung im neuen Kartelldeliktsrecht
ren aber nur von „Kartellen“ bzw. „Kartellanten“ die Rede sein; die gemachten Ausführungen treffen aber ebenso auf die genannten anderen Arten von Wettbewerbsbeschränkungen zu. In der Rechtspraxis kann das Problem der Schadensabwälzung in zwei verschiedenen Konstellationen auftreten: 1. Zum einen kann ein beklagtes Unternehmen im Rahmen einer Schadensersatzklage durch einen unmittelbaren Abnehmer den Einwand erheben, dass dem Kläger gar kein Schaden entstanden sei, weil dieser den Schaden auf seine Abnehmer abwälzen konnte (Einwand der Schadensabwälzung oder sog. „passing-on defense“). Hier wirkt sich das Phänomen der Schadensabwälzung im Bereich der Schadensbestimmung aus. Je nach rechtlicher Wertung könnte eine Abwälzung dazu führen, dass dem Erstabnehmer von vornherein gar kein Schaden entstanden ist,2 oder aber er sich den wirtschaftlichen Vorteil einer Abwälzung auf seinen Schaden anrechnen lassen muss. 2. In der anderen Konstellation erhebt ein mittelbarer Abnehmer einen Schadensersatzanspruch gegen den Kartellanten und stützt diesen darauf, dass sein Lieferant (d.h. der unmittelbare Abnehmer) einen kartellbedingten Mehrpreis auf ihn überwälzen konnte und er deshalb einen Schaden erlitten habe (sog. „indirect purchaser suits“). In diesem Zusammenhang wird die Schadensabwälzung bereits im Rahmen der Anspruchsberechtigung relevant. Können mittelbaren Abnehmern überhaupt Ersatzansprüche gegen einen Kartellanten erwachsen oder kommen nur Ansprüche auf der ersten Stufe der Marktgegenseite in Betracht? Das Nebeneinander dieser beiden Fallkonstellationen führt bereits vor Augen, dass in beiden Fällen ein und derselbe Mehrpreis von den verschiedenen Stufen der Marktgegenseite zum Gegenstand von Ersatzansprüchen gemacht wird. Die Abgrenzung des Kreises der Anspruchsberechtigten steht somit in engem Zusammenhang mit der Behandlung der „passing-on defense“. Die Problematik der Schadensabwälzung führt zu der Frage, wer auf der Marktgegenseite zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen wegen kartellbedingt überhöhter Preise berufen ist. Eine Lösung des Problems der Schadensabwälzung kann deshalb auch nicht isoliert für die „passing-on defense“ oder die Anspruchsberechtigung mittelbarer Abnehmer entwickelt werden, sondern macht eine ganzheitliche Behandlung der Problematik im Lichte dieser beiden Fallkonstellationen erforderlich. Dem Aspekt der Schadensabwälzung ist seit langem in der kartellrechtlichen Diskussion große Aufmerksamkeit zuteil geworden und dieser war oftmals An-
2 Ungeachtet der eventuell mit einem Absatzrückgang verbundenen entgangenen Gewinne.
I. Das Phänomen der Schadensabwälzung
283
lass für kontroverse Auseinandersetzungen.3 Dies zeigt insbesondere ein Blick auf die US-amerikanische Literatur zum Antitrust-Recht, in welchem sich das Problem der Schadensabwälzung gleichermaßen stellt und erstmals Beachtung gefunden hat. Das besondere Interesse kann nicht allein auf die gesteigerte Komplexität zurückgeführt werden, die die Schadensabwälzung der Handhabung kartelldeliktsrechtlicher Sachverhalte bereitet. Die kontrovers geführte Diskussion lässt sich vielmehr dadurch erklären, dass im Falle einer Schadensabwälzung die – ansonsten meist parallel laufenden – Zwecke des kartellrechtlichen Schadensersatzes (Kompensation und Abschreckung)4 kollidieren und unterschiedliche Lösungen implizieren. Die Handhabung der Passing-on-Problematik ist unweigerlich mit der Wertungsfrage verbunden, ob Effektivität bzw. Effizienz oder vielmehr Gerechtigkeit zum Maßstab der rechtlichen Beurteilung im Kartelldeliktsrecht gemacht werden sollte. Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Passing-on-Problematik blieb bislang in der deutschen Literatur aus, weil die mit der Schadenabwälzung verbundenen Fragen mangels einschlägiger Fallpraxis eher theoretischer Natur blieben.5 Mit den ersten gerichtlichen Auseinandersetzungen mit der „passing-on defense“ im Zuge des Vitaminkartells6 und der Neufassung des § 33 GWB durch die 7. GWB-Novelle hat sich diese Sachlage nun entscheidend verändert. Eine klärende Entscheidung hat der deutsche Gesetzgeber dennoch nicht getroffen. Im Folgenden soll bei der Entwicklung eines Lösungsvorschlags für das deutsche Recht zunächst auf das Phänomen der Schadensabwälzung in der Wirtschaftstheorie eingegangen werden. Anschließend sollen die maßgeblichen Aspekte, die aus wettbewerbs- bzw. rechtspolitischer Sicht bei der Behandlung der Schadensabwälzung eine Rolle spielen, und die möglichen Lösungsmodelle 3 Für die USA vgl. nur etwa Harris/Sullivan, 128 U. Pa. L. Rev., S. 269 ff. [1979]; Landes/Posner, 46 U. Chi. L. Rev., S. 602 ff. [1979]; Darstellungen der Diskussion finden sich bei C. Jones, S. 177 ff., 193 ff.; Hovenkamp, S. 615 ff.; Cavanagh, 17 Loy. Consumer L. Rev., S. 1 ff. [2004]. In der deutschen Literatur siehe Linder, S. 74 ff. und Roth, in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 143 ff. Auch auf europäischer Ebene wird im Anschluss an das Grünbuch der Europ. Kommission vom Dezember 2005 hierüber diskutiert. Die Stellungnahmen hierzu sind im Internet abrufbar unter: http://ec.eu ropa.eu/comm/competition/antitrust/actionsdamages/green_paper_comments.html (zuletzt: 20.08.2008). Auch das Weißbuch von April 2008 enthält hierzu Regelungen (vgl. Ziff. 2.1 und 2.6). 4 Siehe hierzu unten, S. 324 ff. 5 In der früheren Kommentarliteratur setzte sich lediglich Roth näher mit der Thematik auseinander, ders., in: FK, § 33 GWB 1999 Rdnr. 143 ff. Dies hat sich mit der 7. GWB-Novelle schlagartig geändert, vgl. nur etwa Bornkamm, in: Langen/Bunte, § 33 Rdnr. 36 ff., 97 ff.; Bechtold, § 33 Rdnr. 23 ff.; Rehbinder, in: Loewenheim/ Meessen/Riesenkampff, § 33 Rdnr. 15; Koch, WuW 2005, S. 1210 ff.; Röhling, FSHuber, S. 1117 ff.; Roth, FS-Huber, S. 1133 ff. Eine monographische Aufarbeitung fehlte bislang. Siehe jetzt aber auch Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht, 2006. 6 OLG Karlsruhe WuW/E DE-R 1229 ff. – Vitaminpreise; LG Mannheim GRUR 2004, 182 ff.; LG Dortmund WuW/E DE-R 1352 ff. – Vitaminpreise Dortmund.
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Kap. 5: Die Schadensabwälzung im neuen Kartelldeliktsrecht
aufgezeigt werden. Hierbei ist auch auf die Praxis und die Erfahrungen im USamerikanischen Recht einzugehen. Vor der eigentlichen rechtlichen Analyse zum deutschen Kartelldeliktsrecht sollen die Funktionen des Schadensersatzes sowie die europarechtlichen Vorgaben in diesem Zusammenhang aufgezeigt werden. Im Anschluss hieran sollen zunächst im Rahmen einer isolierten Betrachtung die Ansprüche mittelbarer Abnehmer und sodann die „passing-on defense“ anhand des neuen § 33 GWB untersucht werden. Schließlich ist das sich aus den Einzelbetrachtungen ergebende Gesamtbild der Haftungslage zu bewerten. Hierbei stellt sich insbesondere das Problem der Mehrfachhaftung.
II. Die Überwälzung von Kosten in der Wirtschaftstheorie Auf der Suche nach einer sachgerechten Handhabung der Abwälzungsproblematik lohnt vor einer näheren rechtlichen Untersuchung zuvor ein Blick auf die wirtschaftstheoretische Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Sie gibt Aufschluss darüber, bei welchem Marktteilnehmer eigentlich die Schäden letztlich verbleiben und welche Faktoren hierzu beitragen [dazu unter 1. und 2.].7 Zum anderen zeigt sich, wie das Ausmaß einer Abwälzung im Einzelfall bestimmt werden kann [dazu unter 3.]. 1. Das Auftreten einer Schadensabwälzung im Marktprozess Innerhalb der Wirtschaftstheorie befasst sich die sog. Inzidenzlehre mit dem Auftreten von Kostenüberwälzungen im Marktprozess. Unter Heranziehung der Erkenntnisse der Mikroökonomie untersucht in der Finanzwissenschaft die Inzidenzlehre die Wirkungen einer staatlichen finanzpolitischen Maßnahme (z. B. einer Steuererhöhung oder einer Ausgabenveränderung) auf die Einkommensverteilung nach Abschluss von Überwälzungsvorgängen, um so zu bestimmen, welches Wirtschaftssubjekt letztlich die Lasten dieser Maßnahme zu tragen hat.8 Die Auswirkung von Stücksteuern9 auf die Preisbildung ist mit den Folgen kartellbedingt überhöhter Preise vergleichbar, so dass die Erkenntnisse der Steuerinzidenzlehre allgemein zur Analyse des „passing-on“ im Kartelldeliktsrecht herangezogen werden können.10 Die Nutzbarmachung der Inzidenzlehre ist dem
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Siehe hierzu auch Bulst, S. 281 ff. Vgl. Kyrer, Wirtschaftslexikon, S. 281. Zur Überwälzung einer Steuer vgl. etwa Pindyck/Rubinfeld, S. 433 ff.; Varian, S. 305 f. 9 Hierbei handelt es sich im Gegensatz zu einer (proportionalen) Wertsteuer um eine Steuer in Höhe eines bestimmten Geldbetrages pro verkaufter Einheit, vgl. Pindyck/Rubinfeld, S. 434. 10 Vgl. etwa Harris/Sullivan, 128 U. Pa. L. Rev., S. 269 (275 ff.) [1979]; Dubow, ECLR 2003, S. 238 ff.; Hoseinian, W. Comp. 2005, S. 3 (15); Clark/Hughes/Wirth, S. 31 ff. 8
II. Die Überwälzung von Kosten in der Wirtschaftstheorie
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Kartellrecht nicht fremd. So begegnet man dem „passing-on“ etwa auch im Rahmen der Fusionskontrolle und der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG. In diesen Zusammenhängen geht es um die Frage, inwieweit erwartete Effizienzgewinne, also Kostensenkungen, vom betroffenen Unternehmen an die Verbraucher weitergeleitet werden.11 Wenn auch unter anderen Vorzeichen, handelt es sich hierbei aus ökonomischer Sicht um die gleiche Problematik. Auch hierbei wird auf die Erkenntnisse der Inzidenzlehre zurückgegriffen.12 Die wirtschaftstheoretischen Untersuchungen zum „passing-on“ zeigen auf, dass man – entgegen der Auffassung in der bisherigen deutschen Rechtsprechungspraxis13 – nicht pauschal davon ausgehen darf, dass ein unmittelbarer Abnehmer einen kartellbedingten Mehrpreis stets an seine Abnehmer weiterleitet. Vielmehr hängt die Möglichkeit einer Abwälzung im Wesentlichen von fünf Faktoren ab, nämlich 1. von der Marktstruktur, 2. von der Elastizität von Angebot und Nachfrage, 3. von der Dauer der Wettbewerbsbeschränkung, 4. von der individuellen Marktposition des unmittelbaren Abnehmers gegenüber seinen Wettbewerbern und schließlich 5. von der Art der verursachten Kostensteigerungen. Die genannten Faktoren unterliegen einer starken Interdependenz, so dass sich die Auswirkung der Veränderung eines Faktors stets nur in Abhängigkeit zu den anderen Kriterien bestimmen lässt. Dies zeigt sich insbesondere bei den Faktoren der Marktstruktur und der Elastizität von Angebot und Nachfrage, auf die aus diesem Grunde auch nur zusammen eingegangen werden soll. a) Marktstruktur und Elastizität von Angebot und Nachfrage In erster Linie hängt die Möglichkeit, überhöhte Preise an die folgenden Marktstufen – und somit letztendlich an den Endverbraucher – weiterzugeben, von der Marktstruktur und der Elastizität von Angebot und Nachfrage ab. Hierbei ist auf den Absatzmarkt des unmittelbaren Abnehmers abzustellen, auf dem 11 Vgl. hierzu Europ. Kommission, Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EG 2004, C 31/5, Tz. 79–84 sowie dies., Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG 2004, C 101/97, Tz. 95–104. 12 Vgl. hierzu Europ. Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG 2004, C 101/97, Tz. 96. Eingehend im Zusammenhang mit der Fusionskontrolle Stennek/Verboven, European Economy 2001 (Nr. 5), S. 129 (162 ff.). Allerdings besteht hier der maßgebliche Unterschied, dass fusionsspezifische Effizienzgewinne meist nur Kostenvorteile für das zusammengeschlossene Unternehmen erzeugen, nicht aber zu einer Senkung der branchenweiten Grenzkosten führen. Im Modell des vollkommenen Wettbewerbs ist deshalb nicht mit einer Weitergabe der Kostenvorteile an die folgenden Marktstufen zu rechnen, vgl. Yde/Vita, 64 Antitrust L. J., S. 735 (741, 744) [1996]; Stennek/Verboven, European Economy 2001 (Nr. 5), S. 129 (170 ff.). 13 Vgl. OLG Karlsruhe WuW/E DE-R 1229 (1231) – Vitaminpreise; anders aber bereits LG Dortmund WuW/E DE-R 1352 (1354) – Vitaminpreise Dortmund.
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dieser als Anbieter und der mittelbare Abnehmer (erster Stufe) als Nachfrager auftritt. Betrachtet man die Marktstruktur, kommt es entscheidend darauf an, ob sich der unmittelbare Abnehmer in einem Wettbewerbsmarkt befindet oder aber ob dieser über eine gewisse Marktmacht verfügt. Zunächst wäre vielleicht zu vermuten, dass eine Preisüberwälzung umso wahrscheinlicher wird, je stärker die Marktmacht ausfällt, die der unmittelbare Abnehmer genießt. Die Wirtschaftstheorie zeigt jedoch, dass im Allgemeinen gerade das Gegenteil der Fall ist. Genauere Aussagen lassen sich jedoch erst treffen, wenn man zusätzlich in die Betrachtung der Marktstruktur auch die (Preis-)Elastizität14 von Angebot und Nachfrage einbezieht. Die Nachfrageelastizität misst die Empfindlichkeit der nachgefragten Menge im Hinblick auf Änderungen des Preises. Sie gibt somit darüber Aufschluss, welche prozentuale Änderung der nachgefragten Menge eines Gutes eine Veränderung des Preises um ein Prozent nach sich zieht.15 Sofern der prozentuale Rückgang der nachgefragten Menge größer als der prozentuale Anstieg des Preises ist, gilt die Nachfrage gemeinhin als besonders preiselastisch. Die Nachfrager sind in diesem Fall sehr preissensibel. Ist der Nachfragerückgang hingegen prozentual geringer als der Preisanstieg, ist die Nachfrage dementsprechend unelastisch. Die Angebotselastizität wiederum bezeichnet die prozentuale Änderung der angebotenen Menge infolge einer Erhöhung des Preises um ein Prozent.16 Im Weiteren ist zwischen den verschiedenen Marktstrukturen zu unterscheiden. Die Aussagen stehen jedoch stets unter dem Vorbehalt möglicher Abweichungen durch einen der unter II.1.b)–d) aufgeführten weiteren Faktoren. aa) Wettbewerbsmarkt Bei der Untersuchung einer Abwälzung von Kostensteigerung auf einem Wettbewerbsmarkt sind zunächst die Bedingungen eines sog. vollkommenen Wettbewerbs zu Grunde zu legen. Ein solcher ist angesichts seiner eng gefassten Bedingungen17 in der Realität nur selten anzutreffen. Gleichwohl sind im 14 Im Folgenden beziehen sich Verweise auf die Elastizität des Angebots oder der Nachfrage stets auf die Preiselastizität. 15 Vgl. Pindyck/Rubinfeld, S. 63. Die Preiselastizität lässt sich somit durch die Formel EP = (%DQ)/(%DP) darstellen, wobei „%D“ die prozentuale Veränderung benennt und „Q“ bzw. „P“ Menge und Preis angeben. Da die nachgefragte Menge gewöhnlich sinkt, wenn der Preis ansteigt, ist die Preiselastizität der Nachfrage normalerweise eine negative Zahl. 16 Vgl. Pindyck/Rubinfeld, S. 66. 17 Vgl. zu den Bedingungen eines vollkommenen Wettbewerbs Bühler/Jäger, S. 56. Danach muss (1) das gehandelte Gut homogen sein, es muss (2) eine Vielzahl von (atomistischen) Wettbewerbern existieren, (3) alle Marktteilnehmer müssen perfekt informiert sein, (4) alle Anbieter haben Zugang zu derselben Produktionstechnologie und schließlich muss (5) der Marktzutritt frei sein. Siehe ferner zur Theorie des vollkommenen Wettbewerbs Schwalbe/Zimmer, S. 12 ff.
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Wesentlichen vergleichbare Ergebnisse auf einem Markt festzustellen, wenn der Wettbewerb zwar nicht vollkommen, immerhin aber in recht hohem Maße kompetitiv ist. Hinsichtlich eines Wettbewerbsmarktes ist nun zu beachten, dass sich die Anbieter hier als sog. „Preisnehmer“ und „Mengenanpasser“ verhalten. Das bedeutet, dass sie aufgrund ihres geringen Anteils an der Gesamtgütermenge diese nicht durch eine Veränderung ihrer Angebotsmenge (Output) spürbar verändern können und somit keinerlei Einfluss auf den Marktpreis haben. Sie müssen den Preis als gegeben hinnehmen. Dieses Preisnehmerverhalten hat zur Folge, dass der jeweilige Anbieter zur Maximierung seines Gewinns seinen Output so anpasst, dass die Grenzkosten (d.h. der Anstieg der Kosten, die sich aus der Erhöhung des Outputs um eine zusätzliche Einheit ergibt)18 dem gegebenen Marktpreis entsprechen.19 Auf den Gesamtmarkt bezogen bedeutet dies, dass die Angebotskurve der Grenzkostenkurve entspricht. Der Marktpreis im Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage spiegelt im vollkommenen Wettbewerb stets die Grenzkosten wider. Die Anbieter erzielen mit anderen Worten in dieser Situation keinen Gewinn. Preis Nachfrage
Marktpreis pc*
Marktgleichgewicht Abwälzung Δpc*pc = t
t
Marktpreis pc
Angebot mit Mehrpreis
Angebot
Menge
Abb. 1: Abwälzung im vollkommenen Wettbewerb bei konstanten Grenzkosten
Führt nun eine Wettbewerbsbeschränkung dazu, dass sich der Bezugspreis eines bestimmten Gutes für den unmittelbaren Abnehmer um einen gewissen Betrag (t) erhöht, steigen automatisch dessen Grenzkosten für den Weiterverkauf. Die Wettbewerbsbeschränkung führt zu einer Verschiebung der Grenzkos18 19
Vgl. Pindyck/Rubinfeld, S. 301. Vgl. Pindyck/Rubinfeld, S. 363; Bühler/Jäger, S. 57.
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tenkurve (und somit auch der Angebotskurve) um genau diesen Mehrbetrag.20 Ebenso verändert sich nun das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, das den Marktpreis bestimmt. Lässt man zunächst das Wechselspiel von Angebots- und Nachfrageelastizität außer Betracht, findet sich das neu zu bildende Gleichgewicht bei einem Preis (pc*), der sich aus dem ursprünglichen Marktpreis (pc) und dem Mehrpreis (t) zusammensetzt (pc* = pc + t) (vgl. Abb. 1). Dies ist nachvollziehbar, wenn man die Abhängigkeit des Marktpreises im Wettbewerbsmarkt von den Grenzkosten bedenkt: Erhöhen sich diese um einen bestimmten Betrag, so wird dies eine Erhöhung des Marktpreises in gleicher Höhe nach sich ziehen. Im Ausgangspunkt ist somit davon auszugehen, dass kartellbedingte Mehrkosten, die einen unmittelbaren Abnehmer treffen, im Wettbewerbsmarkt vollständig auf den Folgevertragspartner abgewälzt werden. Diese Annahme trifft jedoch nur deshalb zu, weil hier von konstanten Grenzkosten ausgegangen wird. Das in Abb. 1 dargestellte Modell legt somit ein vollkommen elastisches Angebot zu Grunde, das keinen Kapazitätsschranken unterliegt. In diesem Falle hat die Elastizität der Nachfrage ausnahmsweise keinerlei Auswirkung auf die Abwälzungsrate. Dies wird jedoch, insbesondere wenn man kürzere Zeiträume betrachtet, nicht immer der Fall sein. Bezieht man in die Untersuchung nun auch die Elastizitäten von Angebot und Nachfrage mit ein, zeigt sich, dass in der Regel der Abwälzungsanteil entscheidend von dem Verhältnis der Nachfrageelastizität zur Angebotselastizität abhängt.21 Sind die Nachfrager sehr preissensibel und ist damit die Nachfrage sehr elastisch, während das Angebot relativ unelastisch ist, wird nur ein geringer Teil des kartellbedingten Mehrpreises an den mittelbaren Abnehmer weitergeleitet (vgl. Abb. 2). Der Rest des Mehrpreises wird vom unmittelbaren Abnehmer bzw. vom Markt absorbiert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Preiserhöhung zu einem erheblichen Rückgang der Nachfrage führt und die Grenzkosten aufgrund der stark ansteigenden Grenzkostenkurve bei einem Rückgang der Gesamtgütermenge stark abnehmen. Die Anbieter können die reduzierte Nachfrage zu geringeren Kosten bedienen.22 Dieser Kostenrückgang absorbiert nun einen 20 Hierbei wird unterstellt, dass der kartellbedingte Mehrpreis die variablen Kosten des unmittelbaren Abnehmers erhöht (vgl. hierzu näher unten, S. 295 f.). Soweit das kartellbefangene Gut weiterverarbeitet wird, steigen die Grenzkosten jedoch nur prozentual zum Anteil des kartellbefangenen Gutes am Endprodukt, vgl. Stennek/Verboven, European Economy 2001 (Nr. 5), S. 129 (175 ff.). 21 Vgl. Harris/Sullivan, 128 U. Pa. L. Rev., S. 269 (282) [1979]; Pindyck/Rubinfeld, S. 436; Hoseinian, W. Comp. 2005, S. 3 (16); Linder, S. 141 ff. und Stennek/Verboven, European Economy 2001 (Nr. 5), S. 129 (162 ff.). Vgl. hierzu auch Europ. Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EG 2004, C 101/97, Tz. 99. 22 Vgl. hierzu auch Stennek/Verboven, European Economy 2001 (Nr. 5), S. 129 (163) für den entgegengesetzen Fall von Effizienzvorteilen im Rahmen der Fusionskontrolle.
II. Die Überwälzung von Kosten in der Wirtschaftstheorie
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Preis
Nachfrage
Angebot
Marktpreis pc* Marktpreis pc
Angebot mit Mehrpreis
Marktgleichgewicht Abwälzung Δpc*pc < t
Menge
Abb. 2: Abwälzung im Wettbewerbsmarkt bei relativ elastischer Nachfrage und relativ unelastischem Angebot
Großteil des Mehrpreises, so dass die Differenz zwischen altem und neuem Marktpreis (Dpc*pc) erheblich geringer ist als der Mehrpreis (t). In den Extremfällen einer vollkommen elastischen Nachfrage (mit einer horizontal verlaufenden Nachfragekurve) oder einem vollkommen unelastischen Angebot (vertikal verlaufende Angebotskurve) findet sogar überhaupt keine Abwälzung statt. Ist hingegen die Nachfrage sehr unelastisch, während sich das Angebot relativ elastisch zeigt, trägt der mittelbare Abnehmer den Großteil der Mehrkosten (vgl. Abb. 3). Ist die Nachfrage wiederum vollkommen unelastisch (vertikal verlaufende Nachfragekurve), ist unabhängig von der Angebotskurve von einer vollständigen Abwälzung auszugehen. Aufgrund dieser Abhängigkeit einer Abwälzung vom Verhältnis der Elastizitäten von Angebot und Nachfrage ergibt sich, dass der Großteil des kartellbedingten Mehrpreises vom mittelbaren Abnehmer zu tragen ist, wenn das Verhältnis Nachfrageelastizität/Angebotselastizität (Ed /Es) gering ist, während der Großteil auf den Erstabnehmer entfällt, wenn Ed /Es groß ist. Der Überwälzungsanteil lässt sich somit im vollkommenen Wettbewerb anhand folgender Formel bestimmen: Überwälzungsanteil = Es /(Es – Ed).23 Die Untersuchung der Angebots- und Nachfrageelastizitäten zeigt, dass auch bei einer kompetitiven Wettbewerbsstruktur nicht immer von einer vollständigen Abwälzung ausgegangen werden kann, sondern diese von der Preissensibilität 23 Vgl. Pindyck/Rubinfeld, S. 436; Harris/Sullivan, 128 U. Pa. L. Rev., S. 269 (287) [1979]; Hoseinian, W. Comp. 2005, S. 3 (16).
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Kap. 5: Die Schadensabwälzung im neuen Kartelldeliktsrecht Preis Nachfrage
Marktgleichgewicht Angebot mit Mehrpreis
Marktpreis pc* Abwälzung Δpc* pc